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German Pages 267 Year 1997
Beiträge zum Parlamentsrecht
Band 39
Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses Von
Mathias Kühnreich
Duncker & Humblot · Berlin
MATHIAS KÜHNREICH
Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses
Beiträge zum Parlaments recht lIerausgegeben von Werner Kaltefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang lIeyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, lIans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 39
Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses
Von
Dr. Mathias Kühnreich
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kühnreich, Mathias: Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses I von Mathias Kühnreich. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 39) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08739-9 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Betlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-08739-9
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Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1995/96 von der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis zum Januar 1996 berücksichtigt werden. Mein ganz herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Knut Ipsen, an dessen Lehrstuhl ich das von ihm angeregte und betreute Thema unter besten Voraussetzungen bearbeiten konnte. Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Friedrich E. Schnapp für die Übernahme des Zweitgutachtens und für manche weiterführenden Hinweise. Herrn Dr. Volker Epping danke ich für die kritische Auseinandersetzung mit der vorliegenden Arbeit, durch die ich wertvolle Anregungen erhielt. Frau Kathrin Siringhaus danke ich für viele geopferte Stunden bei der Erstellung der Reinschrift des Manuskripts. Dank gebührt auch Herrn Helmut Mohrmann und dem Deutschen Bundestag für die finanzielle Förderung bei der Drucklegung der Dissertation. In Dankbarkeit widme ich die Arbeit meiner Mutter, die mich nach dem frühen Tode meines Vaters mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln stets unterstützte.
Essen, im Juli 1996
Mathias Kühnreich
Inhaltsverzeichnis
Einleitung .......................................................................................................................... 19
A. Beschluß des Bundestages vom 20.06.1991 und seine Umsetzung....................... 22 I.
Beschlußfassung zur Sitzfestlegung ................................................................... 22
11. Umsetzung des Parlamentsbeschlusses ............................................................. 25
B. Entscheidung über den Sitz des Bundesrates ......................................................... 26
c.
Festlegung des Sitzes der Bundesregierung ............................................................ 27
D. Verfassungsrechtliche Verfahren gegen den Hauptstadtbeschluß ...................... 28 E. Gang der Untersuchung ............................................................................................ 30
1. Teil:
Die Begriffe der Organisationsgewalt und des Selbstorganisationsrechts
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt ........................................................ 32 I. Organisation ......................................................................................................... 32 11. Gewalt ................................................................................................................... 34 III. Kombination der Begriffsinhalte ....................................................................... 35 IV. Entstehung und ursprünglicher Umfang der Organisationsgewalt ............... 36 V. Beschränkung der Organisationsgewalt auf die Exekutive ............................ 40 1. Inhaber der Organisationsgewalt ................................................................. 40
2. Organisatorische Kompetenzen außerhalb der Organisationsgewalt ..... 42
8
Inhaltsverzeichnis a) Notwendigkeit .......................................................................................... 42 b)· Selbstorganisationsrecht .......................................................................... 43 3. Notwendigkeit der Übernahme des historischen Begriffsverständnisses ................................................................................................................ 45 a) Grundgesetztextliche Determination ..................................................... 45 b) Festlegung durch Verfassungstradition ................................................. 45 c) Inhaltliche Bestimmung durch die Funktion als juristischer Fachterminus ......................................................................... 46
B. Das Selbstorganisationsrecht des Bundestages ...................................................... 50 I. Aufbauorganisation ............................................................................................. 51 11. Ablauforganisation .............................................................................................. 54 111. Rechtsgrundlage des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts ............. 55 IV. Gründe für die Gestaltung als Recht zur Selbstorganisation ........................ 58 C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages ...................... 60 I.
Geschäftsordnung des Bundestages .................................................................. 61 1. Möglichkeit der Regelung durch eine Geschäftsordnung ........................ 61
2. Rechtsnatur der Geschäftsordnung ............................................................. 61 a) b) c) d) e)
Das Verfahren beim Erlaß der Geschäftsordnung .............................. 66 Diskontinuität ............................................................................................ 68 Abweichung im Einzelfall ........................................................................ 72 Personeller Bindungsumfang................................................................... 74 Standort der Geschäftsordnung in der Hierarchie der geschriebenen Rechtsnormen ................................................................. 79 aa) Verhältnis zu Vorschriften des Grundgesetzes ............................. 79 bb) Beziehung zu Vorschriften förmlicher Gesetze ............................ 80
f) Besonderheiten der Auslegung ............................................................... 85
aa) Auslegung durch das Parlament.. .................................................... 86 bb) Auslegung durch parlamentsexterne Personen ............................. 87 g) Bestimmung der Zulässigkeit einer Verfassungsstreitigkeit ............... 89 3. Zusammenfassende Würdigung und eigene Wertung ............................... 90
Inhaltsverzeichnis
9
11. Schlichter Parlamentsbeschluß ........................................................................... 91 1. Begriffsbestimmung ....................................................................................... 91 2. Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ............................................. 94 a) Notwendigkeit der Rückführung aller staatlicher Machtausübung .......................................................................................................... 94 b) Fehlen einer einheitlichen Rechtsgrundlage ......................................... 95 c) Ermächtigung durch Verfassungsvorschriften ...................................... 96 d) Formelle Gesetze als Rechtsgrundlage .................................................. 96 e) Die Geschäftsordnung des Bundestages als rechtliche Basis.............. 98 f) Bundestagsbeschlüsse ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage in Verfassungsnormen, förmlichen Gesetzen oder Geschäftsordnungsvorschriften .............................................................................. 100 aa) Entschließungen als spezielle schlichte Parlamentsbe-schlüsse ............................................................................................. 100 bb) Umfassender Anwendungsbereich ............................................... 101 cc) Mängel der Diskussion um die Zulässigkeit... ............................. l03 dd) Bestimmung der Rechtsgrundlage ................................................ 104 3. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse..................................... 108 a) Verbindlichkeit der schlichten Parlamentsbeschlüsse mit ausdrücklicher Rechtsgrundlage ........................................................... 109 b) Verbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen ......................... 110 c) Verbindlichkeit durch Zusammenwirken mehrerer Verfassungsorgane .................................................................................. 115 4. Selbstbindung des Bundestages .................................................................. 116 111. Förmliche Gesetze ............................................................................................. 118 1. Gesetzgebungskompetenz ........................................................................... 118 2. Gesetzgeberische Tätigkeit bei parlamentsbezogenen Regelungsmaterien ....................................................................................... 119 3. Zulässigkeit gesetzgeberischer Tätigkeit im Bereich der Selbstorganisation ........................................................................................ 120 a) Übereinstimmende Beurteilung bei einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Ermächtigung .................................................. 121 b) Möglichkeit eines förmlichen Gesetzes bei Fehlen einer ausdrücklichen grundgesetzlichen Ermächtigung............................... 122
10
Inhaltsverzeichnis aa) Meinungsspektrum.......................................................................... 122 bb) Auslegung verfassungsrechtlicher Vorschriften als Entscheidungsgrundlage ................................................................ 123 (1) (2) (3) (4) (5) (6)
Grammatikalische Auslegung ................................................ 124 Systematische Auslegung........................................................ 124 Teleologische Auslegung ........................................................ 125 Zwischenergebnis .................................................................... 131 HistorischeAuslegung ............................................................ 132 Ergebnis der Auslegung von Art.40 Abs.1 S.2 GG ............. 134
c) Begrenzung des dem Bundestag zukommenden Wahlrechts ........... 134 aa) Zustimmungsgesetz ......................................................................... 135 bb) Nichtberuhren des Kerns der Geschäftsordnungsauton0mie ................................................................................................... 136 cc) Gewichtige sachliche Grunde für die Wahl der Gesetzesform ................................................................................................... 139 (1) Konkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht ....... 139 (2) Weitere Fallgruppen ............................................................... 140 (3) Abwägung ................................................................................. 142 d) Zusammenfassung .................................................................................. 143 IV. Ungeschriebene Regelungen parlamentarischer Selbstorganisation .......... 143 1. Gewohnheitsrecht. ........................................................................................ 144 a) Verfassungsgewohnheitsrecht ............................................................... 145 b) Gewohnheitsrecht mit geschäftsordnungsrechtlichem Bezug ........... 146 aa) Besonderheiten der Bildung von Gewohnheitsrecht auf der Stufe der Geschäftsordnung ............................................. 148 bb) Bindungswirkung ............................................................................. 150 ce) Abweichung im Einzelfall .............................................................. 151 dd) Tatsächlich bestehendes Gewohnheitsrecht auf Geschäftsordnungsebene......................................................... 152 2. Informale Parlamentsregeln ........................................................................ 152 a) Parlamentarische Übung........................................................................ 153 b) Präzedenzfälle ......................................................................................... 156 c) Interfraktionelle Vereinbarungen......................................................... 156
Inhaltsverzeichnis
11
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts.................................................................. 157 I.
Vorschriften der Verfassung ............................................................................ 158
11. Demokratieprinzip ............................................................................................. 158 111. Bundesstaatsprinzip ........................................................................................... 160 IV. Rechtsstaatsprinzip ............................................................................................ 160 1. Gewaltenteilungsprinzip .............................................................................. 162 2. Verhältnismäßigkeit ..................................................................................... 165 V. Zusammenfassende Würdigung ....................................................................... 167
2. Teil: Die Entscheidung über den Parlamentssitz und die HauptstadtCrage A. Wird die Sitzentscheidung vom parlamentarischen Selbstorganisationsrecht erfaßt? ...................................................................................................... 169
I.
Verbandskompetenz .......................................................................................... 169
11. Sitz........................................................................................................................ 169 IH. Verfassungsrechtliche Vorgaben bezüglich der Sitzbestimmung des Parlaments.................................................................................................... 171 IV. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Grundlage der Sitzentscheidung ................................................................................................. 173 V. Zuständigkeit des Bundespräsidenten zur Setzung von Staatssymbolen? ................................................................................................. 174 VI. Auswirkungen des Einigungsvertrages auf die Sitzbestimmung des Bundestages ................................................................................................. 177 B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages und der dazugehörigen Protokollerklärung.................................................................................................... 177 I. Rechtliche Qualifizierung des Einigungsvertrages ........................................ 178
1. Völkerrechtlicher Vertrag ........................................................................... 179 2. Staatsrechtlicher Vertrag ............................................................................. 181
12
Inhaltsverzeichnis 3. Formelles Gesetz .......................................................................................... 184 11. Rechtliche Einordnung der Protokollerklärung zum Einigungsvertrag ................................................................................................ 184 III. Bestandskraft des Einigungsvertrages ............................................................. 185 IV. Materieller Gehalt von Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV ..................................... 187 1. Tatbestandsvoraussetzungen ....................................................................... 187 2. Rechtsfolge ................................................................................................... 188 3. Determination durch systematischen Zusammenhang............................ 188 V. Hauptstadt im Sinne von Art.2 Abs.l S.l EinigungsV.................................. 189 1. Grenzen des denkbaren Begriffsumfangs ................................................. 189 2. Meinungsstand .............................................................................................. 189 a) Gründe für die Vielzahl abweichender Stellungnahmen................... 190 b) Sitznahme der obersten Verfassungsorgane als Charakteristika der Hauptstadteigenschaft ......................................... 191 c) Weitere geforderte Eigenschaften einer Hauptstadt ......................... 193 3. Eigene Stellungnahme ................................................................................. 193 a) Wortauslegung ........................................................................................ 194 aal Einzelne Begriffsinhalte ................................................................. 194 bb) Historische Begriffsprägung .......................................................... 195 b) c) d) e)
Systematische Auslegung ....................................................................... 199 Teleologische Auslegung ....................................................................... 201 Zwischenergebnis .................................................................................... 202 Bestätigung durch historische Auslegung ............................................ 202
VI. Resümee.............................................................................................................. 202 C. Wahlfreiheit bezüglich des Ortes des Parlamentssitzes........................................ 203 I. Funktionsfähigkeit des Parlaments ...................................................................... 203
11. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse ........................................................... 204 111. Gemeinsamer Sitz oberster Verfassungsorgane ............................................ 204 IV. Relevanz der Beschlüsse bezüglich Berlins als Hauptstadt und Sitz des Parlaments .................................................................................... 206
Inhaltsverzeichnis
13
V. Vorschriften der DDR Verfassung.................................................................. 208 VI. Ergebnis............................................................................................................... 208 D. Notwendigkeit formalgesetzlicher Festlegung des Parlamentssitzes ................. 208
I.
Zulässigkeit formalgesetzlicher Regelung ...................................................... 209 1. Zustimmungsgesetz ...................................................................................... 210 2. Kern der Geschäftsordnungsautonomie .................................................... 210 3. Gewichtige sachliche Gründe ..................................................................... 211
11. Institutioneller Gesetzesvorbehalt ................................................................... 211 111. Begründung mit der Wesentlichkeit der Entscheidung ................................ 213 1. Grundlegende normative Bereiche ............................................................ 215 2. Gesetzesvorbehalt oder Parlamentsvorbehalt .......................................... 216
a) Rechtsstaatsprinzip ................................................................................. 216 b) Demokratieprinzip .................................................................................. 217 c) Ergebnis ................................................................................................... 218 IV. Formvorgabe durch den Einigungsvertrag oder die Protokollerklärung? ........................................................................................... 219 V. Ergebnis............................................................................................................... 220
3. Teil:
Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane A. Oberste Bundesgerichte........................................................................................... 221 B. Gemeinsamer Ausschuß .......................................................................................... 224 C. Bundesversammlung ................................................................................................ 224 D. Bundespräsident ....................................................................................................... 225 E. Bundesregierung, Ministerialverwaltung und sonstige oberste Bundesbehörden ....................................................................................................... 228
I. Organisatorische Kompetenzen der Regierung unterhalb eigenorganisatorischer Angelegenheiten ........................................................ 228 11. Sitzbestimmung der Regierung ........................................................................ 231
14
Inhaltsverzeichnis
F. Bundesrat ................................................................................................................... 233
Zusammenfassende Thesen .......................................................................................... 235 Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 239
Sachregister......................................................................................................................264
AbkÜl'Zungsverzeichnis aA.
andere Ansicht
a.E.
am Ende
a.M.
amMain
Abs.
Absatz
AdG
Archiv der Gegenwart
Anm.
Anmerkung
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
BauGB
Baugesetzbuch
Bay
Bayern, bayerisch
BayVBI.
Bayerische Verwaltungsblätter
BayOblG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
BGBI.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BR
Bundesrat
BT
Bundestag
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BWG
Bundeswahlgesetz
ders.
derselbe
dies.
dieselben
Diss.
Dissertation
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung
16
Abkürzungsverzeichnis
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
Drs.
Drucksache
DtZ
Deutsch-deutsche Rechtszeitschrift
DVBl.
Deutsches Vetwaltungsblatt
E
Entscheidung
BA
Europa-Archiv
ebd.
ebenda
EinigungsV
Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutsch-
lands EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
ff.
folgende (Seite)
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
f.
fortfolgende (Seiten)
Fn.
Fußnote
GeschO BT
Geschäftsordnung des Bundestages
GeschO GA
Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß
GG
Grundgesetz
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
Habil.
Habilitation
Hrsg.
Herausgeber
HS
Halbsatz
Ld.F.
in der Fassung
LE.
im Ergebnis
i.S.
im Sinne
LV.m.
in Verbindung mit
insbes.
insbesondere
JA
Juristische Arbeitsblätter
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart
JR
Juristische Rundschau
Abkürzungsverzeichnis Jura
Juristische Ausbildung
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristen Zeitung
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
n.F.
neue Fassung
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NWVBl.
N ordrhein-westflilische Verwaltungsblätter
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
OVG
Oberverwaltungsgericht
PlPr.
parlamentarisches Protokoll
PS
Politische Studien
RGBl.
Reichsgesetzblatt
Rn.
Randnummer
Rnrn.
Randnummem
RuP
Recht und Politik
S.
Seite
s.o.
siehe oben
sog.
sogenannt
StGB
Strafgesetzbuch
ThürVBl.
Thüringer Verwaltungsblätter
u.a.
unter anderem
v.
vom I von
VerwArch
Verwaltungsarchiv
VG
Verwaltungsgericht
VGH
Verwaltungsgerichtshof
vgl.
vergleiche
VVdStRl
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
2 Kühnrcich
17
18
Abkürzungsverzeichnis
WP.
Wahlperiode
WRV
Weimarer Reichsverfassung
z.T.
zum Teil
ZaöRV
Zeitschrüt für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZfP
Zeitschrüt für Politik
ZG
Zeitschrüt für Gesetzgebung
ZParl
Zeitschrüt für Parlamentsfragen
ZRP
Zeitschrüt für Rechtspolitik
ZgS
Zeitschrüt für die gesamte Staatswissenschaft
Einleitung Die deutsche Wiedervereinigung hat zahlreiche rechtliche Probleme aufgeworfen, die zuvor kaum von großer theoretischer oder praktischer Relevanz waren. Eine dieser zu lösenden Aufgaben war die Bestimmung der Hauptstadt des vereinigten Deutschlands, wobei diese eng mit der Sitzbestimmung von Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat und des Bundespräsidenten verknüpft wurde. Die Festlegung der Bundeshauptstadt war jedoch nicht die einzige Hauptstadtfrage, die es durch den Vollzug der Wiedervereinigung zu entscheiden galt. In den neuen Bundesländern mußte eine föderale Ordnung hergestellt werden, so daß Streitigkeiten um die Landeshauptstädte und den Sitz der Parlamente entstanden. In Sachsen-Anhalt konkurrierten Halle, Dessau und Magdeburg, in Brandenburg bewarb sich neben Potsdam auch Frankfurt an der Oder um die Hauptstadteigenschaft und in Mecklenburg-Vorpommern waren sowohl Rostock als auch Schwerin als Hauptstädte in der Diskussion.! Auf Bundesebene wirft besonders die Festlegung des Parlaments- und und die des Regierungssitzes Probleme auf. Diese Fragen befinden sich am Schnittpunkt zwischen dem Selbstorganisationsrechts des Parlaments, der Organisationsgewalt der Regierung und der Regelung, die in Art.2 Abs.l EinigungsV2 und der dazugehörigen Protokollerklärung getroffen worden ist? Besonders die Konkretisierung und die Begrenzung der parlamentarischen Macht zur Organisation ist für die Entscheidung dieser grundsätzli-
! W. Rutz/K. Scherf/Wo Strenz, Die fünf neuen Bundesländer, S.109; Speziell zur Diskussion um die Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern vgl.: W. Thieme, Die Hauptstadtfrage als verwaltungswissenschaftliches Problem, Die Verwaltung !land 24 (1991), 1 ff.; P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DOV 1990, 989 (996). Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wählten als Verfahren zur Festlegung der Landeshauptstädte eine Übertragung der Vorauswahl auf die Kreise und kreisfreien Städte; vgl. hierzu: K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.122. 2 BGBl. 11. 1990, S.889 ff. Siehe hierzu erläuternd die Denkschrift zum Einigungsvertrag in: BT-Drucksache 11 /7760 v. 31.08.1990, S.357 ff. 3 BGBl. 11. 1990, S.905 f.
Einleitung
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chen Problematik als Ausgangspunkt und Grundlage der verfassungsrechtlichen Bewertung notwendig. Mit dem Problemkreis des Selbstorganisationsrechts des Bundestages hat sich die 1992 erschienene Göttinger Dissertation von Gerhard BoIlmann "Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages" auseinandergesetzt. Umfangreiche Darstellungen des Parlamentsrechts liegen durch das 1984 von Norbert Achterberg veröffentlichte "Parlamentsrecht", durch die 1986 erschienene Abhandlung von Hans Troßmann "Das Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages" und durch das von Hans Peter Schneider und Wolfgang Zeh 1989 herausgegebene Handbuch "Parlamentsrecht und Parlamentspraxis" vor. Obwohl es sich um den sechsten Teilband einer von Hermann v. Mangold und Friedrich Klein begründeten Grundgesetzkommentierung handelt, kann der 1991 von Norbert Achterberg und Martin Schulte speziell zum Parlamentsrecht herausgegebene Band in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Wenn auch das juristische Schrifttum die vorgenannten umfangreichen Abhandlungen zum Selbstorganisationsrechts des Parlaments bietet, wobei die bei weitem größte Aufmerksamkeit auf die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages gelegt wird, so fehlt es bezüglich der Konkretisierung des Zusammenhangs mit der Festlegung des Parlamentssitzes an ausführlichen wissenschaftlichen Erörterungen. Auch die Durchsicht der zum Grundgesetz erschienenen Kommentierungen zeigt, daß die Festlegung des Parlamentssitzes nicht ausreichend behandelt wird. Soweit Ausführungen überhaupt vorhanden sind, erfolgen diese im Zusammenhang mit dem Hauptstadtbegriff, der wiederum im Zusammenhang mit Art.22 GG als Bundessymbol erörtert wird. So erschöpfen sich die Erläuterungen von Eckard Klein im Bonner Kommentar zum Begriff der Hauptstadt auf dreieinhalb Seiten.4 Auch die Kommentierung von Theodor Maunz besitzt nur einen geringen Umfang und stammt aus dem Jahre 1966.5 Der 1989 von Rudolf Wassermann herausgegebene Altemativkommentar spricht zwar ausdrücklich den Sitz der Bundesorgane im Rahmen der Kommentierung zu Art.22 GG an, widmet der Hauptstadtproblematik aber lediglich eine halbe 4
BGBl. 11. 1990, S.905 f. 5 T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.22
Rnm.33-35.
Einleitung
21
Seite.6 Die übrigen Kommentierungen lassen infolge ihrer beschränkten Grundkonzeption Erörterungen völlig vermissen oder bieten lediglich rudimentäre Ausführungen. So fehlt es an einer juristischen Monographie zu dem Themenbereich der Festlegung des Parlamentssitzes und des Sitzes der anderen obersten Bundesorgane, dem Hauptstadtbegriff und der Auslegung von Art.2 Abs.l EinigungsV mit der dazugehörigen Protokollerklärung. Dieser "weiße Fleck" in der juristischen Literatur findet wohl seinen Grund in dem plötzlichen und unvorhersehbaren Auftreten der "Hauptstadtfrage". Die vorliegende Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, die Rechtsfragen, die im Zusammenhang mit der Festlegung des Sitzes der obersten Verfassungsorgane und dem Begriff der Hauptstadt entstehen, umfassend zu erörtern. Konkrete Ansatzpunkte, aus denen sich die verfassungsrechtliche Relevanz der soeben aufgezeigten Problematik ergibt, sind die Beschlüsse des Bundestages und Bundesrates über ihre Sitzfestlegung, und der von vier Bundestagsabgeordneten erhobene Organstreit gegen die Sitzbestimmung der Bundesregierung.
6
BGBl. 11. 1990, S.905 f.
22
Einleitung
A. Beschluß des Bundestages vom 20.06.1991 und seine Umsetzung I. Beschlußfassung zur Sitzfestlegung
Die öffentlich geführte Diskussion über die FestIegung des Parlamentssitzes gehörte zu den letzten symbolträchtigen, von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen politischen Auseinandersetzungen, die im direkten Anschluß an die Herstellung der deutschen Einheit erfolgten. Dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20.06.1991 ging eine lange, heftige, teilweise emotional geführte politische Auseinandersetzung voraus? Am Entscheid zwischen Bonn und Berlin wurde stellvertretend über das Selbstverständnis des geeinten Deutschlands gestritten, so daß das Ausmaß dieser Auseinandersetzung nur dann zu verstehen ist, wenn es aus dem Blickwinkel der Identität und Identitätssuche der Deutschen betrachtet wird.8 Neben einem hohen Grad an politischer Symbolik bestanden auch materielle Interessenkonflikte zwischen den betroffenen Städten und Regionen. Dabei wurde diese Frage über die eigentliche FestIegung des Parlamentssitzes hinaus allgemein als Hauptstadtentscheidung bezeichnet,9 ohne daß der Tatsache, daß in Art.2 Abs.l S.l EinigungsV Berlin bereits als Hauptstadt Deutschlands festgelegt worden war, hinreichend Rechnung getragen wurde. Die Sitzbestimmung des Parlaments durch den Bundestag war ein Beispiel des freien Parlamentarismus, denn das Lager der Bonn- und der Ber-
7 Zu der vorherigen politischen Kompromißsuche siehe: FAZ v. 17.06.1991, S.1,2; v. 18.06.1991, S.l; v. 19.06.1991, S.1,3; v. 20.06.1991, S.l; Süddeutsche Zeitung v. 19.06.1991, S.1. 8 Mit dem weiteren Hinweis auf den "innere" Einigungsprozeß: P. Massing in: AndersenjWoyke, Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, S.255. Vgl. auch: P.J. Winters, Die Zukunft Berlins, Deutschland Archiv 1991, 785; G. Schulze, Deutschlands Hauptstadt ist Berlin!, Deutschland Archiv 1991, 697 (698). 9 Beispielhar sei hier nur angeführt: "Die Zeit" Nr.26, v. 21.06.1991, S.l; Nr.27, v. 28.06.1991, S.l, S.3; Nr.30, v. 19.07.1991, S.8; Süddeutsche Zeitung v. 21.06.1991, S.4. Vgl. zu dieser Aussage auch die ähnlich betitelten Bücher von: H. Herles Die Hauptstadtdebatte; E. Kohrs, Kontroverse ohne Ende. Der Hauptstadt-Streit.
A. Beschluß des Bundestages vom 20.06.1991 und seine Umsetzung
23
lin-Befürworter rekrutierte sich aus allen Parteien,10 so daß die Abgeordneten unabhängig von jeder Fraktionsdisziplin11 im Bundestag beraten12 und abstimmen konnten. 13 Zur Entscheidung standen zunächst fünf Anträge. 14 Der von Gregor Gysi und der Gruppe der PDS /Linke Liste eingebrachte Antrag,15 wonach Sitz von Parlament und der gesamten Bundesregierung Berlin werden sollte, wurde am Ende der Aussprache von den Antragstellern zurückgezogen.16 Zuerst entschieden17 wurde über den sogenannten "Konsens-Antrag".18
Nach diesem maßgeblich von Heiner Geißler beeinflußten Vorschlag,19 sollte Sitz des Bundestages und des Bundespräsidenten Berlin, Sitz der Bundesregierung und der Ministerien aber Bonn bleiben. Nach Punkt IIi. dieser Regelungsvorstellung sollte mit einer gesetzlichen Festlegung des Sitzes der Bundesregierung und der Ministerien ihre Verlagerung nach Berlin ausgeschlossen werden. Dieser Antrag wurde durch eine klare Entscheidung mit 148 Ja- gegen 489 Nein-Stimmen abgelehnt. 20
Danach wurde über den Antrag "zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie,,2t, der maßgeblich von den Abgeord10 Eine soziologische Untersuchung des Wahlverhaltens verschiedener parlamentarischer Gruppen fmdet sich bei: U. Wengst, Wer stimmte für Bonn, wer für Berlin?, ZParl1991, 329 (330 f.).
11 W. Leininger, The Fatal Vote: Berlin versus Bonn, Fina!1Zarchiv, Neue Folge, 1993 (Band 50),1; V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DÖV 1994, 497 (498). 12 Zur Debatte siehe die ausführliche Dokumentation bei H. Herles, Die Hauptstadtdebatte, S.l ff.; E. Kohrs, Kontroverse ohne Ende, S.l ff.; FAZ v. 22.06.1991, S.2; Süddeutsche Zeitung v. 21.06.1991, S.1, 4, 5, 6; "Die Zeit" Nr.27, v. 28.06.1991,
S.1,3.
13 "Die Zeit" Nr.27, v. 28.06.1991, S.3; zu den Möglichkeiten der Interessentransmission bei der Festlegung des Parlamentssitzes ohne Einschaltung der Parteien vgI.: R. Sitte, Lobbying in der Hauptstadt-Debatte, ZParI1991, 534 ff. 14 BT-Drucksachen v. 19.06.1991: 12/814; 12/815; 12/816; 12/817; 12/818.
15 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/818. 16 BT-PlPr. 12. WP. /34 Sitzung v. 20.06.1991 / S.2845. 17 Zur Planung und Durchführung der Abstimmungsreihenfolge siehe: W. Lei-
ninger, The Fatal Vote: Berlin versus Bonn, Finanzarchiv, Neue Folge, 1993 (Band 50), 1 (2 ff.). 18 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/817.
19 F.U. Pappi, Die Abstimmungsreihenfolge der Anträge zum Parlaments- und Regierungssitz am 20. Juni 1991 im Deutschen Bundestag, ZPar11992, 403. 20 BT-PlPr. 12. WP. /34 Sitzungv. 20.06.1991/ S.2841.
24
Einleitung
neten Peter Conradi und Otto Schily initüert worden war,22 abgestimmt. Er sah keine Sitzfestlegung des Bundestages in Berlin oder Bonn vor, sondern es sollte lediglich festgelegt werden, daß der Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung sich am selben Ort zu befinden haben. Auch dieser Vorschlag fand keine ihn tragende Parlamentsmehrheit und wurde mit 289 Ja- gegen 339 Nein-Stimmen abgelehnt. 23 Über die folgenden beiden letzten Anträge wurde in entsprechender Anwendung des § 50 GeschO BT in der Form einer Kampfabstimmung entschieden.24 Nach dem sogenannten "Bonn-Antrag,,25 sollte eine Aufgabenteilung zwischen der Hauptstadt Berlin und dem Parlaments- und Regierungssitz Bonn durch Bundesgesetz festgelegt werden. Es war nach diesem Vorschlag beabsichtigt, den Bundespräsident und den Bundesrat in Berlin anzusiedeln. Sitz der Bundesregierung und des Bundestages sollte dagegen Bonn bleiben. Geplant war ein Zusammentreten der Bundesversammlung in Berlin und das dortige Abhalten von Bundestagssitzungen bei besonders bedeutsamen politischen Anlässen. Demgegenüber stand der von 173 Abgeordneten unterzeichnete und ausführlich begründete Antrag mit der pathetischen Bezeichnung "Vollendung der Einheit Deutschlands,,26. Danach wurde als Sitz des Bundestages und des Bundespräsidenten Berlin vorgeschlagen, die Bundesregierung sollte den Kernbereich der Regierungsfunktionen in Berlin ansiedeln, dem Bundesrat wurde jedoch empfohlen seinen Sitz in Bonn zu belassen. Um 21.49 Uhr gab die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth das Ergebnis bekannt, nachdem der Antrag "Vollendung der Einheit Deutschlands"
21 BT-Drucksachev.19.06.1991, 12/816.
22 F.U. Pappi, Die Abstimmungsreihenfolge der Anträge zum Parlaments- und
Regierungssitz am 20. Juni 1991 im Deutschen Bundestag, ZParI1992, 403. 23 BT-PlPr. 12. WP. /34 Sitzung v. 20.06.1991 / S.2843. 24 BT-PlPr. 12. WP. /34 Sitzung v. 20.06.1991 / S.2845 für den Bonn Antrag und BT-PlPr. 12. WP. /34 Sitzung v. 20.06.1991 / S.2847 für den Antrag mit der Bezeichnung: "Vollendung der Einheit Deutschlands". Zur Beeinflussung des Abstimmungsergebnisses durch die Wahl der Reihenfolge der Abstimmungen siehe: W. Leininger, The Fatal Vote: Berlin versus Bonn, Finanzarchiv, Neue Folge, 1993 (Band 50),1 (7 ff.); F.U. Pappi, Die Abstimmungsreihenfolge der Anträge zum Parlaments- und Regierungssitz am 20. Juni 1991 im Deutschen Bundestag, ZPar11992, 403. 25 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/814. 26 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/815.
A. Beschluß des Bundestages vom 20.06.1991 und seine Umsetzung
25
mit 338 der abgegebenen 660 Stimmen angenommen wurde.27 Damit hatte der Deutsche Bundestag den Beschluß gefaßt, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. 11. Umsetzung des Parlamentsbeschlusses
Da die Sitzverlegung des Bundestages umfangreiche organisatorische Maßnahmen erforderte, wurde der Ältestenrat als grundsätzlich zuständiges Unterorgan28 beauftragt, die erforderlichen Handlungen vorzunehmen. Dieser setzte drei Unterkommissionen ein,29 deren Arbeitsresultate von der sogenannten Konzeptkommission zusammengeführt wurden. Aufgrund dieser Tätigkeit wurden dem Bundestag drei Zwischenberichte zugeleitet30, welche die Grundlagen für weitere Parlamentsdebatten und das spätere Berlin/Bonn-Gesetz31 bildeten. Der gemeinsam von CDU/CSU, SPD und F.D.P. am 18.01.1994 eingebrachte GesetzentwurP2 bildete die Grundlage für das Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20.06.1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands?3 Berlin wurde als Sitz des Bundestages in § 2 Abs.1 Berlin/Bonn-Gesetz und als Sitz der Bundesregierung in § 3 Abs.1 Berlin/Bonn-Gesetz festgelegt. Durch dieses vom Bundespräsidenten am 06.04.1994 unterzeichnete34 und gemäß § 10 Berlin/Bonn-Gesetz durch Verkündung im Bundesgesetzblatt am 06.05.1994 in Kraft getretene Gesetz wird der Beschluß des Parlaments inhaltlich in die formalgesetzliche Form überführt.
27 BT-PlPr. 12. WP. /34 Sitzung v. 20.06.1991 / S.2847. 28 Vgl.: § 6 Abs.2, 3 Gescho BT.
29 Siehe zur Tätigkeit der Konzept-; der Bau- un!:! Personal- und der SoziaIkommission: V. Busse, lJmzugsplanung Bonn - Berlin, DOV 1994, 497 (499). 30 BT-Drucksache v. 12.12.1991, 12/1832; v. 17.06.199212/2850; v. 17.01.1994, 12/6615. 31 Siehe zu dieser Bezeichnung: BT-Drucksache v. 18.01.1994, 12 / 6614, S.6.; BGBl. 1994 I, 918. 32 BT-Drucksache v. 18.01.1994, 12/6614. 33 BGBl. 1994 I, 918 ff. 34
BGBl. 1994 I, S.921.
Einleitung
26
B. Entscheidung über den Sitz des Bundesrates Bezüglich des Sitzes des Bundesrates wurde durch den Beschluß des Bundestages empfohlen, daß dieser seinen Sitz aufgrund seiner föderalen Tradition in Bonn belassen sollte?5 Direkt nach der Entscheidung reagierte der damalige Präsident des Bundesrates, Hamburgs erster Bürgermeister Voscherau, zurückhaltend. Er betrachtete die Empfehlung lediglich als den Bundesrat nicht bindendes "taktisches Trostpflaster" für Bonn.36 Da alle Länder mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen, Bayern, Rheinland-pfalz und dem Saarland durch Landtagsbeschlüsse oder durch Regierungsentscheidungen deutlich gemacht hatten, daß sie Berlin als Sitz von Regierung und Parlament bevorzugten, erschien es wahrscheinlich, daß der Bundesrat seinen Sitz ebenfalls in Berlin nehmen würde?7 Der Bundesrat verwarf jedoch am 05.07.1991 den von Bayern und Niedersachsen eingebrachten Antrag,38 durch den Berlin zu einem späteren Zeitpunkt Sitz des Bundesrates werden sollte und nahm dagegen mit 38 zu 3039 Stimmen den von Nordrhein-Westfalen, Bremen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Schleswig-Holstein eingebrachten Entschließungsantrag40 an, aufgrund dessen der Bundesrat seinen Sitz in Bonn behielt. Die Entscheidung des Bundesrates wurde nicht als abschließende und endgültige Sitzfestlegung getroffen, sondern es sollte vorerst Bonn als Sitz des Bundesrates beibehalten werden, wobei von vornherein geplant war, diese Entscheidung in einigen Jahren zu überprüfen.41
35
BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/815, Nr.9. 36 FAZ v. 22.06.1991, S.2; zu der Bezeichnung als Trostpflaster vgl: auch die R~ den anläßlich der Sitzbestimmung des Bundesrates vom hessischen Ministerpräsidenten Hans Eichel, Stenographischer Bericht BRat., 633. Sitzung, 05.07.1991, S.289 und vom bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl, Stenographischer Bericht BRat., 633 Sitzung, 05.07.1991, S.293. 37
FAZ v. 22.06.1991, S.2.
38 BR-Drucksache 421/91. 39 Stenographischer Bericht BRat., 633 Sitzung, 05.07.1991, S.293. 40 BR-Drucksache 422/91. 41 Vgl. hierzu die Redebeiträge vom damaligen Fraktionsvorsitzenden der enu im baden-württembergischen Landtag Etwin Teufel, Stenographischer Bericht BRat., 633. Sitzung, 05.07.1991, S.289; dem Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz Rudolf Scharping, Stenographischer Bericht BRat., 633. Sitzung, 05.07.1991, S.291
C. Festlegung des Sitzes der Bundesregierung
27
Als Ergebnis ist somit festzuhalten, daß der Bundesrat lediglich vorläufig seinen Sitz in Bonn behält, somit eine endgültige Sitzfestlegung nicht erfolgt ist. Ob eine vorläufige Sitzfestlegung eines obersten Verfassungsorgans nach der Wiedervereinigung Deutschlands verfassungsrechtlich zulässig ist, wird im Laufe der Untersuchung zu klären sein.
c. Festlegung des Sitzes der Bundesregierung Der Bundestag äußerte durch seinen Beschluß vom 20.06.1991 die Erwartung, daß die Bundesregierung geeignete Maßnahmen treffe um ihre politische Präsenz in Berlin durch Übertragung des Kernbereichs der Regierungsfunktionen zu sichern.42 Zur Umsetzung dieses Beschlusses hat die Bundesregierung mit Kabinettsbeschluß vom 26.06.1991 einen Arbeitsstab Berlin/Bonn unter Vorsitz des Bundesministeriums des Inneren auf Staatssekretärsebene eingesetzt.43 Dieser bestand aus fünf Arbeitsgruppen unter denen die planerischen Aufgaben aufgeteilt wurden.44 Der Arbeitsstab entwarf Zwischenberichte auf deren Grundlage das Bundeskabinett am 03.06.1992 die Gesamtkonzeption der Bundesregierung verabschiedete.45 In der Folgezeit übernahm der Arbeitsstab weitere Konkretisierungsaufgaben bei der Planung des Regierungsumzuges und legte dem Kabinett Berichte vor.46 Diese wurden vom Bundeskabinett angenommen und schlugen sich als Vorarbeiten47 im späteren Gesetzentwurf zum Berlin/Bonn-Gesetz48 und dem Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Johannes Rau, Stenographischer Bericht BRat., 633. Sitzung, 05.07.1991, S.293. 42 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/815;, Nr.3. 43 BT-Drucksache v. 08.02.1994, 12/6854, S.47. Eingehend zu dessen Tätigkeit vgl. P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 19831991, S.1119 ff. 44 Vgl. zu der~n Organisation und Arbeitsaufteilung: V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DOV 1994, 497 (499 f.). 45
Vgl... BT-Drucksache v. 08.02.1994, 12/ 6854, S.47 . . 46 BT-Drucksache v. 18.01.1994, 12 / 6615, S.15 ff.; zum Stand des Umzuges stehe: FAZ v. 15.03.1995, S.4; FAZ v. 19.05.1995, S.14.
47 Dieses wird durch die Präambel des Berlin/Bonn-Gesetzes deutlich, in der ausdrücklich auf die Kenntnisnahme der von der Bundesregierung getroffenen Entscheidungen durch den Bundestag hingewiesen wird. Siehe hierzu: BT-Drucksache v. 18.01.1994, 12/6614, S.6 und Gese~esbegründung S.10, 12. Vgl. auch die Beschlußempfehlung und den Bericht des Altestenrates: BT-Drucksache v. 08.03.1994, 12 / 6993, S.2, B. a). 48 BT-Drucksache v. 18.01.1994, 12 / 6614.
28
Einleitung
nieder. In diesem wurde sowohl in der Präambel als auch in § 3 Abs.1 der Sitz der Bundesregierung in Berlin festgelegt.49
D. Verfassungsrechtliche Verfahren gegen den Hauptstadtbeschluß Vier Abgeordnete des Deutschen Bundestages50 hatten sich in der Form einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG51 und eines Organstreits gemäß Art.93 Abs.1 S.l GG i.V.m. §§ 13 Nr.5, 63 - 67 BVerfGG an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Sie beantragten in beiden Verfahren festzustellen, daß die auf den Beschluß des Bundestages folgenden zwei Beschlüsse der Bundesregierung, vom 11.12.1991 zum Bericht des Arbeitsstabes Berlin/Bonn über die Verlagerung von Teilen der Regierung nach Berlin und die Bildung sogenannter Politikbereiche und vom 03.06.1992 zum Bericht des Arbeitsstabes Berlin/Bonn, sie in ihren verfassungsrechtlich garantierten Abgeordneten Rechten aus Art.38 Abs.1 S.2; 42; 77 Abs.1 GG verletzten. Darüber hinaus begehrten sie die Feststellung, daß die Bundesregierung Mitwirkungsrechte der Abgeordneten verletze, indem sie ohne förmliches Bundesgesetz den Sitz der Bundesregierung ganz oder teilweise von Bonn nach Berlin verlegt, oder durch planerische Maßnahmen vollendete Tatsachen geschaffen habe. Insbesondere wollten die Antragsteller im Verfahren der einstweiligen Anordnung die für den 25. August 1992 vorgesehene Unterzeichnung zweier Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik einerseits und dem Land Berlin sowie dem Land Brandenburg andererseits verhindern.52 Hilfsweise begehrten sie die Feststellung, daß die Bundesregierung ihre Mitwirkungsrechte verletze, wenn sie es unterließe, eine Gesetzesvorlage über die Verlagerung des Sitzes der Bundesregierung einzubringen.53 49 BT-Drucksache v. 18.01.1994, 12/ 6614, S.6. 50 Einerseits Martin Grüner im Verfahren 2 BvE 1/92, und andererseits Ortwin Lowack, Günther Müller und Gerhard Scheu im Verfahren 2 BvE 2/92. Die Verfahren wurden verbunden und einheitlich vom zweiten Senat entschieden. BVerfGE 87, 106 (107). 51 BVerfGE 87,107 (108). 52 Zum materiellen Inhalt der Verträge siehe: BVerfGE 87,107 (109 ff.). 53 Vgl. zum Ganzen: BVerfGE 87,107 ff.; E. Lieser, Die Beratungen zum Einigungsvertrag in: R. Süssmuth, Der Deutsche Bundestag, 92 (98).
D. Verfassungsrechtliche Verfahren gegen den Hauptstadtbeschluß
29
Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts lehnte am 24.08.1992 die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG ab. Zur Begründung führte das Gericht, unabhängig von der materiellrechtlichen Frage der Notwendigkeit eines formellen Gesetzes, aus, daß ein schwerer Nachteil für die Antragsteller nicht vorläge, da die betreffenden Verträge die Möglichkeit der Kündigung und Änderung enthielten. Anderweitige Festlegungen, durch die vollendete Tatsachen geschaffen würden, seien ebenfalls nicht ersichtlich. Insbesondere sei für den Fall, daß für die Bestimmung des Sitzes der Bundesregierung ein Gesetz notwendig sei, und der Bundestag ein Gesetz beschließt, das nicht Berlin zum Sitz der Bundesregierung bestimmt, den oben angesprochenen Verträgen die Geschäftsgrundlage entzogen.54 Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG ab, ohne auf die eigentlichen verfassungsrechtlichen Ausgangsfragen einzugehen. Inwieweit ein formelles Gesetz für die Festlegung des Regierungssitzes notwendig ist, wurde im Rahmen dieses Verfahrens nicht geklärt. In dem nach Art.93 Abs.1 S.l GG i.V.m. §§ 13 Nr.5, 63 ff. BVerfGG eingeleiteten Organstreitverfahren traf das Gericht ebenfalls keine Entscheidung zur materiellrechtlichen Frage der Bestimmung des Umfangs des Erfordernisses gesetzgeberischer Tätigkeit. Da bereits die Zulässigkeit des erhobenen Organstreites höchst zweifelhaft war55 und darüber hinaus zwischenzeitlich das Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet wurde, hatte das erhobene Organstreitverfahren kaum Aussicht auf Erfolg. Aufgrund eines Hinweises des Bundesverfassungsgerichts auf diese Rechtslage zogen die Antragsteller im Juli 1994 ihr Begehren zurück. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Notwendigkeit eines Gesetzes zur Bestimmung des Sitzes eines obersten Verfassungsorganes ist nicht ergangen und ist auch in Zukunft nicht zu erwarten.
54 BVerfGE 87, 107 (112). 55 Siehe hierzu: K. IpsenjV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994,605 (606 ff.); M.-E. Geis, Die Organklage des Bundestagsabgeordneten als "Waffe" gegen Organisationsakte der Bundesregierung, ZG 1993, 148 (149 ff.).
30
Einleitung
E. Gang der Untersuchung Die Festlegung des Tätigkeitsortes eines obersten Bundesorgans ist eine organisatorische Voraussetzung für dessen Funktionsfähigkeit. Ausgangspunkt der Untersuchung müssen daher die Grundlagen des Rechts zur Organisation sein. Die historisch-terminologische Basis für diesen Rechtsbereich findet sich in dem Begriff der Organisationsgewalt, dessen Inhaltsbestimmung und Begrenzung zunächst der Klärung bedarf. Mit dem im öffentlich-rechtlichen Schrifttum stark diskutierten Begriff der Organisationsgewalt ist eine Vielzahl von speziellen Problemkreisen verbunden. Diese werden aus konzeptionellen Gründen nicht umfassend geklärt, so daß die Bereiche der Geschäftsleitungsgewalt,56 der Dienst- oder Personalgewalt,57 der militärischen Organisationsgewalt,58 der Macht zur Organisation der rechtsprechenden Gewalt unterhalb der Ebene des Bundesverfassungsgerichts59 und der Organisation von Verwaltungsfunktionsträgern unterhalb der Regierungsebene60 nicht erörtert werden. Aus dem Ziel dieser Untersuchung ergibt sich auch eine Beschränkung auf den organisationsrechtlichen Bereich im Bunde, so daß grundlegende Erörterungen
56 Zum Begriff siehe nur: F.E. Schnapp, Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 293 (297). 57 Vgl. hierzu: E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.34; H. Kaja, Ministerialverfassung und Grundgesetz, AöR Band 89 (1964), 381 (399 f.); J. Isensee, Der Zugang zum öffentlichen Dienst, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichts, 337 (338); H. Lecheier, Die Personalgewalt öffentlicher Dienstherren, S.74 ff.; HJ. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht 11, § 86 Rn.53; F.E. Schnapp, Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 293 (297 C.); in historischer Hinsicht: E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 111., Bismark und das Reich, S.963 f. 58 Siehe zu diesem Problemkomplex E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.36, insbesondere S.152 ff.; G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.145 f.; A. Dittmann, Die Bundesverwaltung, S.211 ff. 59 Zum Streitstand: H.J. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.4. f. 60 Dieser Problembereich stellt einen Schwerpunkt der Diskussion um den Begriff der Organisationsgewalt dar, so daß sich hierzu Ausführungen in nahezu jedem Verwaltungsrechtsbuch finden, vgl. nur: H. Maurer, Allgemeines VelWaltungsrecht, § 21 Rn.57 ff.
E. Gang der Untersuchung
31
des Landesorganisationsrechts nicht durchgeführt werden.61 Ebenso wird die gesamte Problematik der städtebaulichen Entwicklung Berlins als Hauptstadt ausgespart. 62
61 Vgl. hierzu: E. Schmidt-Assmann, Verwaltungsorganisation zwischen parlamentarischer Steuerung und exekutivischer Organisationsgewalt in: Festschrift für H.P. Ipsen, 333 (339); für Nordrhein-Westfalen siehe: R. Schmidt-De Caluwe, Verwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 3, 143. 62 Vgl. hierzu: W. Hoppe, Berlin oder Bonn, Wer entscheidet über die städtebauliche Entwicklung Berlins als Hauptstadt Deutschlands, DVBl. 1993, 573 ff.; ders., Die Berlinklausel des § 247 BauGB im Gefüge des Baugesetzbuches, DVBl. 1993, 1060 ff.; M. Krautzberger, Das Investititionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, NVwZ 1993, 520 (524); W. Mößle, Die Hauptstadtplanung, ThürVBl. 1993, 193 ff.; K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.77 ff.; G. Schmidt - Eichstaedt, Nochmals: Berlin oder Bonn - Wer entscheidet über die städtebauliche Entwicklung Berlins als Hauptstadt Deutschlands, DVBl. 1993, 1054 ff.
Erster Teil
Die Begriffe der Organisationsgewalt und des Selbstorganisationsrechts A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt Nähert man sich dem Begriff der Organisationsgewalt unter etymologischen Gesichtspunkten, so ist zunächst die Aufteilung in die Worte Organisation und Gewalt möglich. Klärt man als Basis des Begriffsverständnisses den Sinngehalt dieser beiden Begriffe, so wird durch ihre Kombination, ein eingeschränkter Wortinhalt vermittelt. Dieser ist dann mit dem speziellen Sinngehalt, der durch einen juristischen Wortgebrauch determiniert wird, in Einklang zu bringen. I. Organisation
Der Begriff der Organisation wird hier als Arbeitshypothese umfassend verstanden,63 so daß unter diesem Terminus allgemein die Tätigkeiten des zweckmäßigen Gestaltens gesellschaftlicher Gebilde zusammengefaßt werden. Organisation ist demnach Oi:= ordnende Tätigkeit, die sich auf die Bildung eines Systems geltender Regelungen erstreckt, deren Zweck durch die oberste, dauernd zu erfüllende Aufgabe eines Sozialgebildes gegeben ist.64 Das spezifische Merkmal der Organisation kommt im Tatbestand des Strukturierens zum Ausdruck, worunter die Gesamtheit aller verknüpften Beziehungsarten verstanden wird, die zwischen aufeinander angewiesenen und wechselseitig abhängigen Teilen eines Systems bestehen. 65 Insofern bedeutet Organisation von Sozialgebilden eine koordinierende, integrativ-
63 Zu einem anderen historischen Begriffsverständnis vgl. die Nachweise und die Diskussion bei F. Ermacora, Die Organisationsgewalt, WdStRl 16 (1958), 191 (200), der auch selbst einen engen, auf das Funktionieren der Machtausübung und die Ordnung bei der Machtausübung beschränkten Organisationsbegriff vertritt. 64 Brockhaus Enzyklopädie, Band 13, S.790. 65 E. Schmidt-Assmann, Verwaltungsorganisation zwischen parlamentarischer Steuerung und exekutivischer Organisationsgewalt in: Festschrift für H.P. Ipsen, 333 (338), eingehend: W. Thieme Verwaltungslehre, Rn.152 ff.; E. Kosiol Grundlagen und Methoden der Organisationsforschung, S.17 ff.
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
33
strukturierende Tätigkeit, die auf die Regelung des Zusammenwirkens von Personen mit Personen einerseits und Personen mit Sachen andererseits, zur Verbindung zu einem einheitlichen Wirkungszusammenhang, gerichtet ist.66 Diese arbeitsteilige Erledigung sachlicher Aufgaben ist die Vorbedingung und Ermöglichung jeder Staatstätigkeit.67 Der Begriff der Organisation im geisteswissenschaftlichen Sinne ist in einen institutionellen und einen prozeduralen bzw. funktionellen Aspekt zu unterteilen.68 Der institutionelle Teil bezeichnet dabei die statische Organisiertheit im Sinne des Aufbaus der Unternehmung als Gebilde. Unter diese "Aufbauorganisation" fällt beispielhaft die Bildung von Funktionsbereichen, von Leitungssystemen und die Schaffung von Instanzenordnungen.69 Von Interesse sind insoweit Fragen der rechtlichen Ordnung des Binnengefüges, der Organ-, Organisations- und Beziehungsstruktur.1° Der prozedurale Aspekt der Organisation verweist hingegen auf den Ablauf des Geschehens in Form von Aufgabenerfüllung als Arbeitsprozeß und wird als "Ablauforganisation" bezeichnet. Die Maßnahmen dieses Or-
66 F. Ermacora, Die Organisationsgewalt, VVdStRl 16 (1958), 191; Brockhaus Enzyklopädie, Band 13, S.790. 67 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.39; R. Schmidt-De Caluwe, Verwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 1, 77, betont darüber hinaus die Notwendigkeit der Organisation für jedes soziale Gebilde, welches auf Beständigkeit ausgerichtet ist. 68 F.E. Schnapp, Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie der Organisationsgewalt, AöR Band 105 (1980), 243 (256, 260); R. Schmidt-De Caluwe, Verwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 1, 77 (78); für die Organisation des Parlaments fmdet sich eine Unterteilung in Aufbau- und Ablauforganisation bei: G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.ll; ders.: Zwischen Ablauforganisation und Politikberatung in: Der Bundestag im Verfassungsgefü~e der Bundesrepublik Deutschland, Hrsg.: H. Klatt, 105. Bezüglich der Befugnisse emes Bundesministers siehe: J. Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, S.36. 69 F.E. Schnapp, Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie der Organisationsgewalt, AöR Band 105 (1980),243 (256); vgl. auch: A. Freibert in: K-H. Mattem, Allgemeine Verwaltungslehre, Rn.702 f.; Brockhaus Enzyklopädie, Band 13, S.791. Zu den allgemeinen Grundprinzipien der Aufbauorganisation siehe: R. Loeser, Das Bundes-Organisationsgesetz, S.203. 70 R. Schmidt-De Caluwe, Verwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 1, 77 (78); zu den verschiedenen Formen der Aufbauorganisation siehe weiterführend: A. Freibert in: K-H. Mattem, Allgemeine Verwaltungslehre, Rn.712 ff. 3 Kühnreich
34
1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
ganisationsbereichs beziehen sich besonders auf die Regelung zeitlicher und räumlicher Beziehungen zwischen Arbeitsgängen.71 Bei rechtlicher Betrachtung kann zweifelhaft sein, welchem Bereich bestimmte Regelungen zuzuordnen sind, so daß teilweise der Unterscheidung zwischen Aufbau- und Ablauforganisation die Bedeutung abgesprochen wird.72 Die Komplexität der verschiedenen Organisationen sowie die Probleme bei ihrer Abgrenzung und Analyse sind jedoch Gründe für differenzierte, abstrakte und systemtheoretische Betrachtungsweisen von Organisationen. 73 Auch ist an dieser inhaltlichen Aufspaltung in Aufbau- und Ablauforganisation festzuhalten, da der Begriff der Organisation in den meisten Fällen strukturiert, unterteilt und inhaltlich näher bestimmt werden kann.
11. Gewalt
Der Begriff der Gewalt ist in dem vorliegenden Zusammenhang nicht im strafrechtlichen Sinne als rohe verbrecherische Gewalt "violentia" aufzufassen. Vielmehr ist unter dem zugrunde zu legenden staatsrechtlichen Gewaltbegriff, die Innehabung von Herrschaftsbefugnis und Macht, der "potestas" zu verstehen?4 Dieses beinhaltet die Fähigkeit, Herrschaftsverhältnisse einzurichten und aufrechtzuhalten und für den Fall der Herrschaftsverweigerung mit entsprechenden Mitteln die ursprünglichen Machtverhältnisse wieder herzustellen. Die Existenz von Gewalt im Sinne von Herrschaftsmacht ist für ein Gemeinwesen und im speziellen für einen Staat von konstituierendem Gewicht. 75 71 F.E. Schnapp, Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie der Organisationsgewalt, AöR Band 105 (1980), 243 (256); Brockhaus Enzyklopädie, Band 13, S.791. 72 W. Thieme, Verwaltungslehre, Rn.155. 73 A. Freibert in: K.-H. Mattem, Allgemeine Verwaltungslehre, Rn.701. 74 So beginnt F. Ermacora, Die Organisationsgewalt, VVdStRl 16 (1958), 191 seinen mit "Die Organisationsgewalt" betitelten Vortrag mit den Worten: "Die Organisation und die Macht (Hervorhebung des Verfassers) diese zu gestalten... " und stellt somit die Begriffe Gewalt und Macht gleich. Vgl. auch seine Ausführungen zum Begriff der Gewalt auf S.201, wo sich weitere historische Nachweise fmden. 75 Nach der "Drei Elementen Lehre", die von G. Jellinek begründet wurde (Allgemeine Staatslehre, S.394), ist unter anderem die Voraussetzung des Bestehen
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
35
111. Kombination der BegritTsinhalte
Kombiniert man den oben hypothetisch zugrundegelegten Organisationsbegriff mit dem der Gewalt, so kann als Ergebnis die in der Literatur vorherrschende, auf Ernst-Wolfgang Böckenförde zurückgehende76 Definition der Organisationsgewalt genannt werden. Danach erfaßt der Begriff der Organisationsgewalt die Macht beziehungsweise die Herrschaftsbefugnis zur Schaffung, Veränderung, Zusammenordnung, Bestimmung der Aufgaben und inneren Gliederung und Geschäftsregelung von Funktionsträgern, die als Handlungseinheiten einer in ihnen zur Erscheinung und Wirksamkeit kommenden Ganzheit tätig werden. 77 Die soeben dargelegte weit gefaßte Definition der Organisationsgewalt, die als Ausgangsdefinition den weiteren Ausführungen dieser Abhandlung zugrunde gelegt werden soll,18 entsteht lediglich aus der Begriffskombination der Organisation und der Gewalt. Dieser Begriffsinhalt muß sich jedoch nicht mit dem des speziellen Fachausdruckes decken. Ein Fachterminus erhält durch seinen Entstehungszusammenhang, Gebrauch, Zweck und durch ein historisch bedingtes Wortverständnis einen besonderen Inhalt; er wird durch den Kontext determiniert, in dem er gebraucht und für den er
eines Staates das Vorliegen von Staatsmacht. Unter dieser versteht die heutige Lehre die Fähigkeit, eine Ordnung auf dem Staatsgebiet zu organisieren (innere Souveränität) und nach außen selbständig im Rahmen des Völkerrechts zu handeln (äußere Souveränität). Vgl. hierzu nur: V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 5 Rn.6; kritisch: E. Stein, Staatsrecht, S.7. 76 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.29. 77 G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZPar11986, 334 (336); H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Verwaltung Band 27 (1994), 157 (163); G. Lehngut, Die Organisationsgewalt des Bundeskanzlers und das parlamentarische Budgetrecht, DVBl. 1985, 1359 (1360); T. BrandnerjD Uwer, Organisationserlasse des Bundeskanz~~rs und Zuständigkeitsanpassung in gesetzlichen Verordnungsermächtigungen, DOV 1993, 107 (109, Fn.28). 78 Ähnlich definieren H.J. WolffjO. Bachof, Verwaltungsrecht 11., 4. Aufl., S.l28 die Q.rganisationsgewalt als die Kompetenz zur Bildung, Errichtung, Einrichtung und Anderung sowie zur Abschaffung, Aufhebung und Abwicklung von Verwaltungsträgem und ihren Untergliederungen durch die Bestimmung ihrer Zuständigkeiten, Zusammenhänge und ihre innere Ordnung sowie ihrer persönlichen und sachlichen Ausstattung. Siehe hierzu auch: F.E. Schna~p, Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 293 (298); W. Rudolf, in: H.-U. ErichsenjW. Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 56 I, Rn.l; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rn.57.
36
1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
verwandt wird. Diese Einflußnahme auf einen juristischen Terminus ist auch im Falle der Organisationsgewalt festzustellen. Da dieser Begriff schon im neunzehnten Jahrhundert in der staatsrechtlichen Literatur seine Prägung fand und gerade aufgrund der historischen Situation der damaligen Zeit seine inhaltliche Bestimmung erlangte, ist der überkommene Begriff der Organisationsgewalt enger als der Sinn der den Begriff bildenden Worte. 79
IV. Entstehung und ursprünglicher Umfang der Organisationsgewalt
Rechtliche Erörterungen, die den Problemkreis der Organisation des Staates zum Gegenstand haben, besitzen eine Jahrhunderte alte Tradition. Allgemein wird als Keimzelle dieses Problemkreises das königliche oder landesherrliche Recht genannt, "zu Ämtern, Würden oder Ehren zu ernennen".80 Mit der Französischen Revolution bekam die organisatorische Tätigkeit im staatlichen Bereich eine besondere Qualität. Der Staat wuchs über ein auf den absolutistischen Herrscher ausgerichtetes Gebilde zu einer sich letztlich auf das Individuum gründende Funktionsgemeinschaft. Solange die gesamten Kompetenzen in einer Hand vereinigt waren, bedurfte es keiner Zuständigkeitsabgrenzung. Durch die Verteilung der staatlichen Tätigkeit auf eine größere zahlenmäßige Menge von Personen, bedingte sich die gesteigerte Notwendigkeit der Organisation.81 Kompetenzabgrenzungen und staatliche Zuständigkeiten erlangten durch die Entmachtung des absolutistischen Herrschers besonderes Gewicht, so daß sie einer Regelung bedurften.
79 F. Ermacora, Die Organisationsgewalt, VVdStRI 16 (1958), 191 (201); H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Vetwaltung Band 27 (1994), 157 (158). 80 G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.114; E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.22; H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Vetwaltung Band 27 (1994), 157 (158). 81 Zum Nachweis der besonderen organisatorischen Maßnahmen, die durch die französischen Verfassun~en von 1791, 1793 und 1795 getroffen wurden vgl. E.-W. Böckenförde, Die Orgarusationsgewalt im Bereich der Regierung, S.23.
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
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Der spezielle Fachterminus der Organisationsgewalt findet sich aber erst später. Er wird allgemein Romeo Maurenbrecher zugeschrieben,82 der sie als Unterart der gesetzgebenden Gewalt qualifizierte.83 Aus dem Zeitpunkt des ersten Auftretens des Begriffs der Organisationsgewalt ergibt sich, daß dieser eng mit den im neunzehnten Jahrhundert bestehenden Staatsorganisationsformen verbunden ist. Bei dem Regierungssystem der Monarchie, welches als absoluten Inhaber der Macht einen Monarchen besaß, hatte dieser alle Souveränitäts-, Justiz-, Kriminal-, Kultur-, Regierungs- und sonstige allgemeinen Herrschaftsrechte inne, zu denen auch das Recht zur Organisation gehörte.84 Durch den Übergang zum Verfassungsstaat und dem damit verbundenen Wechsel zur konstitutionellen Monarchie, wurde die Machtfülle des Monarchen beschnitten. Erst der gesellschaftliche Zustand der parlamentarischen Monarchie hat aufgrund des in ihm herrschenden natürlichen Gegensatzes von Herrscher und Parlament eine Wandlung im Denken über den Umfang der Herrschergewalt und damit der Organisationsgewalt herbeigeführt.85 Dieser Interessengegensatz zwischen Parlament und Monarch hat den Problemkreis der Organisationsgewalt erst entstehen lassen.86 In der Staatsform der 82 N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S.l1; E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.21; H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Verwaltun~ Band 27 (1994), 157; G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.114. 83 R. Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen Staatsrechts, S.324 führte in dem mit "von der Organisationsgewalt" betitelten Abschnitt dieses 1837 erschienenen Werkes aus: "Auch diese Unterart von gesetzgebender Gewalt üben die deutschen Regenten in den meisten Bundesstaaten ohne Mitwirkung der Landstände aus. Sie umfasst die Rechte: 1) die Staatsbehörden anzuordnen und die sonstigen nothwendigen und nützlichen Anstalten und Einrichtungen im Staat zu treffen 2) über deren Wirkungskreis Instructionen zu erlassen, so wie 3) die Formen ihrer Geschäftsführung zu bestimmen." Hierbei kreierte er aber wohl nicht bewußt einen speziellen Fachterminus, denn in seinem 2.Jahre später veröffentlichten Werk, Die deutschen regierenden Fürsten und die Souveränität, umschrieb er auf S.251 die organisatorischen Befugnisse des Fürsten, ohne den Begriff Organisationsgewalt zu nennen. 84 HA. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Erster Teil, S.72; F. Ermacora, Die Organisationsgewalt, VVdStRl 16 (1958), 191 (203); vgl. auch: N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.42 f. 85 VGH Kassel, NJW 1970, 1388; F. Ermacora, Die Organisationsgewalt, VVdStRl16 (1958), 191 (203); vgl. grundlegend: H.H. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, lAuft., S.3 ff. 86 E. Schmidt-Assmann, Verwaltungsorganisation zwischen parlamentarischer Steuerung und exekutivischer Organisationsgewalt in: Festschrift für H.P. Ipsen, 333; F. Ermacora, Die Organisationsgewalt, VVdStRl16 (1958),191 (203).
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
parlamentarischen Monarchie wurden die Befugnisse des Herrschers durch die Verfassung und die auf sie gegründeten Gesetze eingeschränkt.87 Konkret auf die Organisationsgewalt angewendet, bedeutet dies, daß sie dem Herrscher oblag, soweit nicht Verfassung und Gesetze einen Vorbehalt setzten.88 Die Organisationsgewalt kam daher grundsätzlich dem Monarchen zu.89 Als derjenige, der dem Parlament gegenüber stand, war er Inhaber der vollziehenden Gewalt, so daß seine damalige Stellung als Herr oder Spitze der Exekutive zu bezeichnen war. 90 Ursprünglich war der deutsche Kaiser Inhaber der Organisationsgewalt91 und er konnte durch Organisationsakte alle denkbaren Reichsinstitutionen errichten. Die Legislative hatte nur eine indirekte Einwirkungsmöglichkeit kraft ihrer Budgetgewalt.92 Es stand in ihrer Macht, die Mittel, die zur Finanzierung der aufgrund exekutiver Organisationsgewalt geschaffenen Einrichtungen erforderlich waren, haushaltsrechtlich zur Verfügung zu stellen. Durch Verweigerung der Mittel konnte sie die kaiserliche Organisationsgewalt lähmen.93 87 F.E. Schnapp, Der Vetwaltungsvorbehalt, VVdStRl43 (1985),172 (178). 88 P. Laband, deutsches Reichsstaatsrecht, S.57; A. v. Kirchenheim, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, S.185 f.; K. v. Stengel, Lehrbuch des Deutschen Vetwaltungsrechts, S.158; C. Bornhak, Preußisches Staatsrecht, 1.Band, S.458 f. 89 G. Meyer, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, S.472 (Fn.5); C. Bornhak, Grundriß des Deutschen Staatsrechts, S.87 f.; H. Steiger in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn.5; R. Schmidt-De Caluwe, Vetwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 1, 77 (79); M.-E. Geis, Die Organklage des Bundestagsabgeordneten als "Waffe" gegen Organisationsakte der Bundesregierung, ZG 1993, 148, (151); W. Rudolf, in: H.-U. ErichsenfW. Martens, Allgemeines Vetwaltungsrecht, § 56 I, Rn.3; W.-R. Schenke, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, VetwArch Band 68 (1977),118 (126). 90 E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 111., Bismark und das Reich, S.963, F.E. Schnapp, Grundbegriffe des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 68; ders., Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 293 (296) vgl. auch Art.45 Sol der preußischen Verfassung vom 31 Januar 1850: "Dem König allein steht die vollziehende Gewalt zu." 91 G. Meyer, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, S.494; K. v. Stengel, Lehrbuch des Deutschen Vetwaltungsrechts, S.158 f.; A. Dittmann, Die Bundesvetwaltung, S.36; E.R. Huber Verfassungsgeschichte, Band 111., Bismark und das Reich, S.963.
92 G. Meyer/G. Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, S.670 (Anm.5); J.C. Bluntschli, Deutsche Staatslehre für Gebildete, S.387; zu den daraus entstehenden Konflikten siehe das eindrucksvolle Beispiel bei: G. Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetz~ebenden Gewalt und den Umfang des königlichem Verordnungsrechts nach preussJSchem Staatsrecht, S.151 ff. 93 E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Band I1I., Bismark und das Reich, S.963;
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
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Durch das Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung wurde dem Kaiser auch die Organisationsgewalt entzogen. Gemäß Art.179 WRV i.V.m. § 4 des Übergangsgesetzes vom 04.03.191994 und dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, welches am 10.02.1919 vom Präsidenten der Ratsversammlung verkündet wurde95, gingen die Rechte des Kaisers auf den Reichspräsidenten über. 96 Dieser war nun Inhaber der Organisationsgewalt97 die er durch den Erlaß von Verordnungen ausübte. 98 Aus dieser Zuordnung zur vollziehenden Gewalt ergab sich schlüssig, daß die Organisationsgewalt lediglich der Exekutive zuerkannt wurde, was wiederum zu der Bezeichnung der Organisationsgewalt als Hausgut oder Hausrecht der Exekutive führte. 99
K. v. Stengel, Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts, S.158. 94 RGB11919, Nr.55, S.285. 95 RGB11919, Nr.33, S.169. 96 H.J. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.67; W. Weber, VVdStRl16 (1958), Aussprache, 240 (243); W.-R. Schenke, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, VerwArch Band 68 (1977), 118 (126); G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.171; H. Kaja, Ministerialverfassung und Grundgesetz, AöR Band 89 (1964), 381 (395). G. Robbers, Die Staatslehre der Weimarer Republik, Jura 1993, 69, spricht deshalb von dem Reichspräsidenten als einer Art "Ersatzmonarch". 97 G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.131; H. Kaja, Ministerialverfassung und Grundgesetz, AöR Band 89 (1964), 381 (395); W. Weber, Aussprache, VVdStRl 16 (1958), 240 (243); W.-R. Schenke, VerwArch Band 68 (1977), 118 (126). 98 Für die damalige Praxis des Erlasses von organisationsrechtlichen Verordnungen durch den Reichspräsidenten ohne gesetzliche Festlegung vgl. die zahlreichen Nachweise bei G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art.53 Anm.4. 99 R. Thoma, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, in: G. AnschützjR. Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, § 76, S.228; die Bezeichnung als Hausgut der Verwaltung fmdet sich auch bei: E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.27, 37; N. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S.213; W. Weber, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 240 (243; 246); H. Spanner, VVdStRl18 (1958), Aussprache, 255 (256); H.P. Ipsen, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 257 ( 258); W. Rudolf, in: H.-U. Erichsen/W. Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 56 I Rn.3; kritisch zum Begriff des Hausguts der Exekutive: VGH Kassel, NJW 1970, 1388; H.J. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.54 f.; E. Rasch, Die staatliche Verwaltungsorganisation, S.185; H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Verwaltung Band 27 (1994), 157, nennt den Zweittitel seines Aufsatzes von der historischen Sichtweise ausgehend: Vom "Hausgut" der Exekutive zum Hausgut aller Verfassungsorgane und Autonomieträger?; R. Schmidt-De Caluwe, Verwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 1, 77 (80).
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
V. Beschränkung der Organisationsgewalt auf die Exekutive
Die sich aus der Historie ergebende Begrenzung der Organisationsgewalt auf den exekutivischen Bereich ist von großen Teilen der Literatur bis heute beibehalten und fortdauernd bestätigt wordenYJO Unbestritten ist die Beschränkung dieses Wortinhaltes jedoch nicht geblieben. lOl Bevor auf die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Begrenzung des Topos Organisationsgewalt auf den Bereich der Exekutive eingegangen wird, ist zur Klärung der Diskussionsgrundlage zunächst festzustellen, welchem Bundesorgan in der Ordnung des Grundgesetzes diese Macht zukäme. 1. Inhaber der Organisationsgewalt
Legt man ein Begriffsverständnis zugrunde, demzufolge die Organisationsgewalt auf den exekutivischen Bereich beschränkt ist, so käme in der heutigen staatsrechtlichen Ordnung eine solche Gewalt weder dem Bundestag, noch dem Bundesrat zu. Sie sind die Staatsorgane, welche die Gesetze erlassen und stellen somit die Legislative dar. Ebensowenig ist die Bundesversammlung Inhaberin einer Organisationsgewalt, denn aus Art.54 Abs.7 GG ergibt sich, daß die nähere Organisation durch ein vom Bundestag und Bundesrat erlassenes Gesetz erfolgt. Dem Bundesverfassungsgericht kommt zwar als Hüter der Verfassung eine besondere Stellung innerhalb der Judikative zu, es trifft aber auch als unabhängiger Dritter am Maßstab des Rechts in förmlichen Verfahren Rechtsentscheidungen. Die Tätigkeit des obersten Gerichts ist somit judikativer Art, so daß es nicht Träger einer exekutivischen Organisationsgewalt ist.
100 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.35 f.; A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, VVdStRl 16 (1958), 154; W. Weber,
VVdStRl16 (1958), Aussprache, 240 (246); HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.6; E. Rasch, Die staatliche Verwaltungsorganisation, S.185; T. BrandnerjD. Uwer, Organisationserlasse des Bundeska~ers und Zuständigkeitsanpassung in gesetzlichen Verordnungserrnächtigungen, DOV 1993, 107 (109 Fn.28). 101 H. Spanner, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 255 (257); F. Errnacora, Schlußwort, VVdStRl16 (1958), 266 (267); in neuerer Zeit: H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Verwaltung Band 27 (1994),157 ff.
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
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Da der Reichspräsident der Weimarer Reichsverfassung Inhaber der exekutivischen Organisationsgewalt war,102 könnte ebenfalls dem Bundespräsidenten eine solche Stellung zukommen. Aufgrund der geschichtlichen Erfahrung wurden die Machtbefugnisse des Bundespräsidenten aber sehr stark verkürzt,l03 so daß die Stellung des Reichspräsidenten der Weimarer ReichsverfassunglO4 nicht mit der des Bundespräsidenten gleichzusetzen ist. l05 Die bundespräsidiale Tätigkeit ist keiner der drei Gewalten eindeutig zuzuordnen,106 so daß bei einer Beschränkung der Organisationsgewalt auf den rein exekutivischen Bereich, der Bundespräsident nicht Träger dieser Rechtsmacht wäre. Der Bundesregierung kommt gemäß Art.84 Abs.3; Art.85 Abs.4 GG eine Weisungs- und Aufsichtsfunktion über die Verwaltung zu, um Rechtund Zweckmäßigkeit der administrativen Tätigkeit sicherzustellen. l07 Sie stellt insofern die Leitung der Verwaltung dar l08 und ist schwerpunktmäßiglO9 als exekutivisch tätiges Organ einzuordnen. Beschränkt man den 102 G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.171; HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.67; H. Kaja, Ministerialverfassung und Grundgesetz, AöR Band 89 (1964), 381 (395); W. Weber, Aussprache, VVdStRl 16 (1958), 240 (243); W.-R. Schenke, VerwArch Band 68 (1977), 118 (126). 103 Siehe nur: E. Stein, Staatsrecht, § 8 I; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 30 I 4 b; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.447; U. Scheuner, Das Amt des Bundespräsidenten, S.32 ff. 104 Siehe hierzu: G. Robbers, Die Staatslehre der Weimarer Republik, Jura 1993, S.69. 105 Eingehend im Zusammenhang mit der Or~anisationsgewalt: H. Kaja, Ministerialverfassung und Grundgesetz, AöR Band 89 (1964), 381 (396). 106 Durch das Ausfertigen der Gesetze gemäß Art.82 GG nimmt der Bundespräsident legislative Funktionen wahr. Seine Tätigkeit ist als judikativ zu qualifizieren, soweit er im Einzelfall für den Bund gemäß Art.60 Abs.2 GG das Begnadigungsrecht ausübt. Exekutiv wird der Bundespräsident aber nur in sehr geringem Umfang tätig, indem er gemäß Art.63 Abs.2 S.2, 64 GG den Bundeskanzler und die Bundesminister ernennt. Die Hauptaufgabe der Repräsentation kann keiner der drei Gewalten eindeutig zugeordnet werden. 107 Dieses wird als Weisungs- und Aufsichtsfunktion bezeichnet, E. Stein, Staatsrecht, S.45. 108 BVerfGE 10, 4 (17, 19); C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.444. 109 An dieser Einschätzung ändert der Befund nichts, daß die Bundesregierung einige legislative Befugnisse besitzt. Sie hat nach Art.76 Abs.1 GG die Möglichkeit der Gesetzesinitiative, kann nach Art.77 Abs.2 S.4 GG die Einberufung eines Vermittlungsausschusses verlangen, besitzt gemäß Art.81 Abs.1 GG ein Antragsrecht um den Gesetzgebungsnotstand zu beantragen und kann nach Art.80 Abs.1 GG Rechtsverordnungen erlassen. Bedenkt man die gesamte systematische Eingliede-
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Begriff der Organisationsgewalt auf den Bereich der Exekutive, so wäre lediglich die Bundesregierung als einziges oberstes Bundesorgan Inhaber dieser Macht.
2. Organisatorische Kompetenzen außerhalb der Organisationsgewalt a) Notwendigkeit Wenn die Organisationsgewalt lediglich der Regierung zukäme, stellte sich die Frage nach der Regelungskompetenz hinsichtlich organisatorischer Maßnahmen anderer oberster Organe des Bundes. Daß auch diese einer zur Organisation berechtigenden Kompetenzzuweisung bedürfen, ergibt sich aus der Natur des arbeitsteiligen menschlichen Zusammenwirkens. Für jedes soziale Gebilde ist Organisation die Grundvoraussetzung für eine beständige Existenz, 110 da sie ansonsten einem heillosen Kompetenzstreit anheimfallen würden.lll Die Anwendung materiellen Rechts würde nicht funktionieren, wenn kein differenziertes System von Funktionen, Institutionen und Organen bestände.112 Dieses gilt für Kollektivorgane ebenso wie für ein auf eine einzelne Person ausgerichtetes Amt, wie das des Bundespräsidenten, welches auch des organisatorischen Unterbaus des Bundespräsidialamtes113 bedarf.
rung der Bundesregierung in den Staatsaufbau, so ergeben sich andere, von der Legislative abgesonderte Aufgabenschwerpunkte. 110 R. Schmidt-De Caluwe, Vetwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 1, 77. 111 H.H. Rupp, Grundfragen der heutigen Vetwaltungslehre, lAufl.; S.49.; F.E. Schnapp, GrundbeJUiffe des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 68 (69); ders. Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 293 (299). 112 H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Vetwaltung Band 27 (1994),157 (172); speziell für das Parlament vgl.: H. Steiger in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn.7. 113 Eingehend hierzu: H. Butzer, Der Bundespräsident und sein Präsidialamt, VerwArch Band 82 (1991), 497 (502 ff.); F. Spath, Das Bundespräsidialamt, S.37 ff.
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
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b) Selbstorganisationsrecht Ist nun festgestellt, daß die obersten Verfassungsorgane einer Kompetenz zur Organisation bedürfen und wird dieser Regelungsbereich mit der Ausnahme der Organisation der Regierung begrifflich nicht durch die Organisationsgewalt erfaßt, so stellt sich die Frage nach der systematischen und terminologischen Einordnung bzw. Bezeichnung dieser durch die Organisationsgewalt nicht erfaßten Kompetenz der anderen Bundesorgane. Die Rechtswissenschaft hat sich mit besonderem Interesse den Problemen der Organisation des Parlaments gewidmet. Dort wird die Diskussion um die Grenzen der Macht zur eigenständigen Organisation fast ausschließlich unter dem Stichwort des Selbstorganisationsrechts geführt. 114 Soweit sich das Bundesverfassungsgericht mit diesem Problemkomplex zu befassen hatte, fmdet sich dort der spezielle Begriff der Geschäftsordnungsautonomie,us Hierunter wird aber die sich aus Art.40 Abs.l S.2 GG zur Regelung eigener Angelegenheiten ergebende Kompetenz zum Erlaß einer Geschäftsordnung verstanden,116 so daß durch diesen Begriff nur ein Teilbereich der Eigenorganisation erfaßt wird. Den Topos der Organisationsgewalt meidet das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Macht des Parlaments zur Organisation in eigenen Angelegenheiten. Dies kann bei der Häufigkeit des Auftretens des Begriffs in der staatsrechtlichen Diskussion kaum als Zufall gewertet werden. Dagegen ist vielmehr festzustellen, daß die Karlsruher Richter an anderer Stelle ausdrücklich von dem Recht des Parlaments zur Selbstorganisation sprechen,u7 Es ist daher wohl
114 A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, VVdStRl16 (1958), 154 (158); H. Steiger in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn.7 f.; HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.4; H. Kaja, Ministerialverfassung und Grundgesetz, AöR Band 89 (1964), 381 (389); G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.29 verwendet die Begriffe Geschäftsordnungsautonomie, Eigen- und Selbstorganisationsrecht synonym, wobei er den Begriff der Organisationsgewalt nicht anspricht und somit bewußt ausgrenzt, worauf auch Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Verwaltung Band 27 (1994), 157 (164) Fn.38 hinweist. 115 BVerfGE 44, 308 (314); 70, 324 (360 f.). 116 BVerfGE 44, 308 (314); 70, 324 (360). 117 BVerfGE 80, 188 (220).
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
davon auszugehen, daß das höchste deutsche Gericht die Organisationsgewalt nicht auf organisatorische Kompetenzen des Parlaments erstreckt. Wird in der Literatur auch für die Organisation des Parlaments der Begriff der Organisationsgewalt gebraucht, so ist dies eine Folge der terminologischen Vermischung mit der Bezeichnung als Selbstorganisationsrecht. Werden diese Begriffe ohne jede Begründung deckungsgleich gebraucht,118 oder wird ohne Erläuterung undifferenziert generell von der Organisationsgewalt der obersten Bundesorgane gesprochen, 119 so ist wohl eher auf eine Ungenauigkeit im Umgang mit juristischen Fachtermini, als auf eine gewollte Ausweitung des Wortinhalts der Organisationsgewalt zu schließen. Dieser Befund macht eine Differenzierung derart möglich, daß die organisatorischen Kompetenzen der Exekutive als Organisationsgewalt und die Macht der anderen obersten Verfassungsorgane zur Organisation in eigenen Angelegenheiten als Selbstorganisationsrecht bezeichnet werden können. Diese sich vereinzelt im Schrifttum findende Unterteilung120 strikt einzuhalten ist auch rechtstechnisch sinnvoll. Die Exekutive ist gekennzeichnet von ihrer speziellen Abhängigkeit von der Legislative, so daß sich hierdurch auch besondere Begrenzungsmöglichkeiten der inneren Organisation ergeben. Angeführt sei lediglich die Vorschrift des Art.86 S.l und 2 GG, 118 T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.22 Rn.34; P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes?, ZG 1991, 194 (195); M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBl. 1991,45 (47); J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat 1991, 231 (240 f.); G. Kretschmer, Die Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986, 334 (336); R. Loeser, Das Bundes-Organisationsgesetz, 111. 119 M. Bothe in: Alternativkommentar Art.22 Rn.12; E. Klein in: Bonner Kommentar, Art.22 Rn.102; sowohl U. Repkewitz, Berlin Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands?, ZParl1990, 505 (509), als auch J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat 1991, 231 (240), folgern fehlerhaft unter Berufung auf E.-W. Böckenförde, das Bestehen einer Organisationsgewalt für alle Verfassungsorgane; gerade E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.35 f., begrenzt den Begriff jedoch ausdrücklich auf den Bereich der Regierung. 120 A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, VVdStRl 16 (1958), 154 (158); HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.4; H. Kaja, Ministerialverfassung und Grundgesetz, AöR Band 89 (1964), 381 (389); vgl. auch die differenzierte Benutzung der Termini bei: W. Zeh in: Isenseej IGrchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 42 Rn.26; R. Herzog in: Isenseej Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 45 Rn.40; P. Kirchhof in: Isenseej Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 59 Rn.59.
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
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durch die die Organisationsmöglichkeiten der Regierung durch das Bestehen gesetzlicher Regelungen begrenzt wird. Durch eine Differenzierung zwischen dem Selbstorganisationsrecht und der exekutivischen Organisationsgewalt wird diese systematische Unterscheidung betont und einer begrifflichen Deutlichkeit zugeführt. 3. Notwendigkeit der Übernahme des historischen Begriffsverständnisses
Ist als Ausgangspunkt der Begriffsbestimmung der Organisationsgewalt das historische Verständnis geklärt, und ist dies auf die heutige Verfassungssituation übertragen worden, so ist es nicht zwingend, daß sich dieses hergebrachte Wortverständnis mit dem heutigen decken muß. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob die Organisationsgewalt auch in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes auf den exekutivischen Bereich beschränkt bleibt. a) Grundgesetztextliche Determination Möglichkeiten der Begriffsbestimmung ergäben sich, wenn das Grundgesetz selbst Aussagen zum Topos der Organisationsgewalt enthielte. Dieser ist dort aber nicht ausdrücklich enthalten,121 so daß als Lösungsansatz die Auslegung einer diesen Begriff beinhaltenden verfassungsrechtlichen Norm entfällt. b) j'estlegung durch Verfassungstradition Mit dem Hinweis auf die Verfassungstradition im deutschen Staatsrecht ist eine zwingende Beschränkung der Organisationsgewalt auf den Bereich der Exekutive zu erwägen.122 Eine Berufung allein auf diese Tradition zur 121 Vgl. hierzu die Normen des Grund~esetzes, durch die die Macht zur Organisation der Bundesregierung manifestiert WIrd: Art.86, 87, 87a, 8Th, 87c, 87d, 101, 108 Abs.l und 130 GG. Spezialvorschriften fmden sich in den Art.87a-d, 101, 108 Abs.l GG. 122 E. Forsthoff, Lehrbuch des Vetwaltungsrechts, Band 1.; § 23 S.434; E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.36, führt zur Begründung der Erstreckung der Organisationsgewalt auf die Regierung lediglich aus: Diese (die Organisation der Regierung) wie auch die Organisation der Ministerien, gehört seit je zur Organisationsgewalt und macht die ursprüngliche Zugehörig-
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Bestimmung verfassungsrechtlicher Begriffe im Geltungsbereich des Grundgesetz erscheint problematisch, denn der Verfassungsschöpfer hat sich aufgrund der historischen Erkenntnis des zweiten Weltkrieges gegen die Beibehaltung der Weimarer Verfassungsstruktur ausgesprochen. 123 Aus diesem Umstand wurde sogar konträr gefolgert, daß eine "Vererbung" der Organisationsgewalt an die Exekutive auszuschließen ist. l24 Zu bedenken bleibt jedoch, daß aus dem Fehlen einer Staatstradition nicht gefolgert werden kann, daß keinerlei Übereinstimmung bezüglich exekutivischer Gewalt bestehen darf. Ein diesbezüglicher Hinweis ist Art.130 Abs.l GG zu entnehmen, demzufolge ein Übertragung verwaltungsorganisatorischer Regelungen in die grundgesetzliche Ordnung möglich ist. Aus der fehlenden Staatstradition läßt sich lediglich folgern, daß eine generelle Vermutung für die Aufrechterhaltung verfassungsrechtlicher Traditionen nicht besteht.125 Aus verfassungstraditionellen Erwägungen ergibt sich nicht zwingend, daß die Organisationsgewalt auf die Exekutive beschränkt ist. Es läßt sich aber auch nicht folgern, daß eine solche Begrenzung ausgeschlossen ist.
c) Inhaltliche Bestimmung durch die Funktion als juristischer Fachterminus Ergibt sich aus den oben dargelegten Ausführungen nicht zwingend, daß der Begriff der Organisationsgewalt auf den exekutivischen Bereich zu beschränken ist, so gilt es zu erwägen ihn universell zu verstehen. Diesen Weg beschreitet H. Butzer, wenn er versucht die Unklarheiten, die unzweifelhaft mit dem Begriff der Organisationsgewalt verbunden sind,126 durch ein umkeit der Organisationsgewalt zu einem "exekutiven Imperium" deutlich. Insoweit widersprüchlich die Ausführungen auf S.86, wo er die geringe Tragfähigkeit der Berufung auf die Verfassungstradltion nachweist. 123 Vgl.: E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.86; H.!. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.56. 124 F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S.253; H.J. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.56. 125 HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.56; E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.86; vgl.: W. Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, S.5 ff.; kritisch zur Verfassungstradition auch: A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, VVdStRl16 (1958), 155 (156), der von dem "illigitimen Versuch der Prolongation des monarchischen Beamtenstaates" spricht. 126 Vgl. nur: H.J. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
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fassendes Begriffsverständnis zu lösen. Er regt an, den Begriff über die geschriebenen und ungeschriebenen Organisationskompetenzen von Verwaltung, Regierung und Streitkräften hinaus im Zusammenhang mit der Selbstorganisation von Verfassungsorganen aber auch mit derjenigen von sonstigen Autonomieträgern (z.B. Kirchen, Gemeinden, Hochschulen, Sozialversicherungsträger, Bundesbank, berufständische Einrichtungen) zu nutzen.127 Ein solches Verständnis des Begriffs der Organisationsgewalt entspräche dem Etymon dieses Wortes und es könnte endlich Abstand genommen werden, von der vom Wortsinn her nicht vorgegebenen, allein verfassungshistorisch erklärbaren Verengung des Bedeutungsgehalts auf exekutive Organisationskompetenzen.128 Ob eine solche Begriffserweiterung unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten fruchtbar ist, muß jedoch bezweifelt werden. H. Butzer weist zwar eindrucksvoll die bestehenden Unsicherheiten bezüglich des Problembereichs der Organisationsgewalt nach. Durch ein ausgedehntes Begriffsverständnis werden diese aber keineswegs beseitigt. So bleiben die Fragen nach der Rechtsgrundlage und der Einteilung der auf die Organisationsgewalt sich gründenden Maßnahmen weiterhin ungelöst. Durch ein weites Begriffsverständnis kann somit der "gordische Knoten,,129 keineswegs als entwirrt angesehen werden. Zutreffend weist H. Butzer auch darauf hin, daß Begriffsdeftnitionen immer eine Sache der Verabredung sind. 13o Wenn auch viele Unklarheiten im Zusammenhang mit dem Topos Organisationsgewalt bestehen, so war zumindest die Begrenzung auf den Bereich der Exekutive allgemein aner-
des Gesetzes, S.3; E. Rasch, Die staatliche VelWaltungsorganisation, S.185. 127 H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die VelWaltung Band 27 (1994),157 (172 f.). 128 H. Butzer, a.a.O. 157 (171). 129 Die Bezeichnung als "gordischer Knoten" findet sich bei H.H. Rupp, Grundfragen der heutigen VelWaltungsrechtslehre, S.94 (Fn.212); H. Butzer, a.a.O. 157 (168); E. Schwan, Zuständigkeitsregelungen und Vorbehalt des Gesetzes, S.3. 130 H. Butzer, a.a.O. 157 (172).
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
kannt.131 Stellt man diese Begrenzung nun in Frage, so erreicht man genau das Gegenteil der angestrebten Klarheit. Eine solche Begriffsausdehnung würde dazu führen, daß eine klare Abgrenzung zwischen dem Begriff der Organisationsgewalt und dem des Selbstorganisationsrechts unmöglich wäre. Mit diesen so verstandenen Begriffen würden teilweise die gleichen juristischen Bedingungen beschrieben, so daß es zu Begriffsüberschneidungen und parallelem Gebrauch käme. Diese gedanklich strukturierende Einteilung wäre aufgegeben, so daß für einen juristischen Tatbestand zwei verschiedene Begrifflichkeiten genutzt würden und das Ziel einer einheitlichen Terminologie vereitelt wäre. Gegen die Aufgabe der Unterteilung der in Frage stehenden Begrifflichkeiten spricht auch die spezifische Stellung der Organisationsgewalt der Exekutive im Rechtssystem. Die Möglichkeit und die Begrenzung des gesetzgeberischen Zugriffs bezüglich organisatorischer Regelungen der ausführenden Gewalt sind von ihrer Natur aus Probleme des Spannungsfelds von Legislative und Exekutive,132 so daß in diesem Bereich immer wieder neuer Stoff zu parlamentarisch-exekutivischer Auseinandersetzung steckt.133 Gerade die Festlegung des Regierungssitzes und des dazugehörigen behördlichen Unterbaus, stellt hierfür ein anschauliches Beispiel dar. Zwar räumt die Bundesregierung die rechtliche Möglichkeit der gesetzlichen Festlegung ihres Sitzes ein, verwahrte sich aber entschieden gegen· die gesetzliche Festlegung der Dislozierung der Bundesregierung im einzelnen. 134 Auch dieses Beispiel der Relevanz legislativer Regelungskompetenzen und deren Umfangsbestimmung zeigt, daß der Begriff der Organisationsgewalt erst seine besondere Verwendbarkeit und Bedeutung durch die
131 R. Thoma, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, in: G. Anschütz/R. Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 2, § 76, S.228; W. Weber, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 240 (246); H.P. Ipsen, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 257 (258); H. Spanner, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 255 (256); H.J. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.6; E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.35 f. 132 F.E. Schnapp, Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 293 (295). 133 E. Schmidt-Assmann, Verwaltungsorganisation zwischen parlamentarischer Steuerung und exekutivischer Organisationsgewalt, in: Festschrift für H.P. Ipsen, 333 (335). 134 BT-Drucksachev. 17.06.199212/2850, S.44.
A. Allgemeiner Begriff der Organisationsgewalt
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Begrenzung auf den exekutivischen Bereich erhält.135 Nur durch diese Einschränkung kann er Indikator für verfassungsrechtliche Kompetenzverschiebungen werden. 136 Die Unterteilung der Macht zur Organisation in eine exekutivische Organisationsgewalt und ein Selbstorganisationsrecht der anderen obersten Verfassungsorgane begründet daher erst die spezifische Brauchbarkeit des Begriffs der Organisationsgewalt. Darüber hinaus besitzt eine weite Begriffsauffassung weniger Aussagegehalt und erleidet als Rechtsbegriff einen Verlust an Effektivität. Auslegungsfähige juristische Begriffe137 müssen durch Ausgrenzung so präzisiert werden, daß sie als Kernbegriff eines in sich geschlossenen Problemkreises Anwendung finden können. l38 Dies gilt insbesondere für den abstrakten Rechtsbegriff der Organisationsgewalt. Deutlich wird dieser Verlust an Begriffsklarheit auch durch folgende Erwägung. Faßte man ebenfalls die Organisationskompetenz der Legislative unter den Begriff der Organisationsgewalt, so wären nicht die Exekutive betreffende weitere Normen zu berücksichtigen. Angeführt seien hier lediglich die Vorschriften der Art.40 Abs.l S.2; 52 Abs.3 S.2; und Art.53a Abs.l S.4 GG, durch die entscheidend die Zuständigkeit der Legislativorgane in eigenen Angelegenheiten bestimmt wird. Diese Regelungen stellen spezielle Verfassungsbestimmungen dar, durch die die organisatorischen Kompetenzen der einzelnen Verfassungsorgane festgelegt werden. Durch eine Begriffserweiterung müßten über die schon bestehenden Probleme hinaus auch noch diese Besonderheiten berücksichtigt werden. Die Diskussion um die Organisationsgewalt würde noch um einige Problempunkte erweitert und gerade nicht einer Klärung zugeführt.
135 Diese besondere Bedeutung betonen auch: E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.37; A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, VVdStRl 16 (1958), S.154. W. Weber, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 240 (246), nimmt sogar eine "Selbstauflösung des Begriffs" bei einer Ausweitung an. 136 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.37; ein weiteres Begriffsverständnis macht, im Gegensatz zur Ansicht von H. Butzer, Zum Be~f der Organisationsgewalt, Die Verwaltung Band 27 (1994), 157 (173), gerade rucht die Organisationsgewalt als Strukturprinzip des grundgesetzspezifischen Gewaltenteilungsmodells deutlich. 137 Zur Interpretationsoffenheit des Topos Organisationsgewalt vgl. die überzeugenden Ausführungen von H. Butzer, a.a.O. 157 (169 f.). 138 HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.4. 4 Kühnreich
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß der Begriff der Organisationsgewalt sinnvollerweise auf den Bereich der Exekutive beschränkt bleiben sollte. 139 Er wird im folgenden nur im Zusammenhang mit der Macht zur Organisation der Regierung, gebraucht. Für die anderen obersten Bundesorgane wird diese Kompetenz als Selbstorganisationsrecht bezeichnet. Der Bundestag ist nicht Inhaber der Organisationsgewalt; ihm kommt vielmehr ein Selbstorganisationsrecht zu.
B. Das Selbstorganisationsrecht des Bundestages Der Bundestag ist ein körperschaftlich strukturiertes oberstes Staatsorgan des Bundes140, welches auch als Verfassungsorgan141 bezeichnet wird. Als eigentliche Volksvertretung und alleiniges unmittelbar demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan ist der Bundestag primäres Forum politischer Willensbildung und Auseinandersetzung.142 Durch das Grundgesetz wird das Parlament mit mannigfaltigen Zuständigkeiten versehen. Beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien lediglich Gesetzgebung,143
139 So auch E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S35 f.; A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, VVdStRl 16 (1958), 154 (158); W. Weber, VVdStRl 16 (1958), Aussprache, 240 (246); wohl auch: F.E. Schnapp, Ausgewählte Probleme des öffentlichen Organisationsrechts, Jura 1980, 293 (296); D. Kirschenmann, Zuständigkeiten und Kompetenzen im Bereich der Verwaltung nach dem 8. Abschnitt des Grundgesetzes, JuS 1977, 565 (569); C. Degenhart, Staatsrecht I, wendet den Begriff der Organisationsgewalt nur auf den Bereich der Exekutive an, vgl. Rn.292 (Or~anisationsgewalt der Exekutive) Rn.444 (...steht der Bundesregierung die OrganisatIOnsgewalt zu ...). 140 H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.50; H. Rausch, Bundestag und BundesregIerung, S.76; K. Lohmann, Der Deutsche Bundestag, S.25; H.H. Klein in: IsenseejKirchhof, Band 11, § 40 Rn.1; H.P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art38 Rn.6. 141 Vgl.: § 1 BVerfGG; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn380; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des Parlamentarischen Regierungssystems, S.50. 142 H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.21; H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990,310; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn380; H. Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S.75; K. Lohmann, Der Deutsche Bundestag, S.25; kritisch: S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.159 ff. Es rmdet sich auch die Bezeichnung als oberstes Verfassungsorgan des Bundes, so: H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.2; oder als "erste Gewalt", LA. Verstyl in: v. Münch, Kommentar zum GG, Art.40 Rn.1. 143 Art.76 ff. GG.
B. Das Selbstorganisationsrecht des Bundestages
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Budgethoheit,l44 Wahl des Bundeskanzlers,14S Bestellung von Organwaltern anderer oberster Staatsorgane146 und die Kontrolle der Exekutive, besonders der Regierung,147 angeführt. Einige dieser Zuständigkeiten erschöpfen sich in der Möglichkeit der Geltendmachung von Vorstellungen gegenüber anderen letztlich entscheidenden Organen. 148 Die weitaus größte Zahl erfassen dagegen die verbindliche und abschließende Entscheidungsmöglichkeit durch den Bundestag selbst. Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben bedarf es der internen Organisation des Kollegialorgans Bundestag.149 Seine Ordnung erhält er durch Verfahrensregeln, die Ergebnisse historisch parlamentarischer Entwicklung sind. Diese Regelungen zeigen große Ähnlichkeit mit denen des Reichstages vor dem ersten Weltkrieg und während der Weimarer Republik, wobei dieser Umstand besonders bemerkenswert ist, weil der Bundestag wesentlich andere Funktionen innerhalb des politischen Systems wahrnimmt als seine Vorgänger. ISO Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang nur an die umfangreiche Verschiebung der Entscheidungskompetenzen des Reichspräsidenten auf das Parlament erinnert, wodurch letztgenanntes als zentraler Machtinhaber der grundgesetzlichen Ordnung ausgebildet wird.
144 Art.l09 ff. GG. 14S Art.63 Abs.1 GG. 146 Vgl. für das Bundesverfassungsgericht: Art.94 Abs.l S.2 GG. 147 Diese Kontrollfunktion findet seinen Ausdruck besonders in der ultima ratio des Mißtrauensvotums nach Art.67 GG. 148 Vgl. hierzu die Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme des Bundestages bei Rechtssetzungsakten der Europäischen Union, unter Mitwirkung der Bundesregierung. Die verfassungsrechtliche Grundlage dieses Rechts fmdet sich in Art.23 Abs3 S.l, S.2 GG. 149 Siehe nur: H. RitzeljJ. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung, S.l; H. Steiger in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn.2; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S34. ISO G. Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S.169 f.; vgl.: G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.2 f.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht I. Autbauorganisation151
Da der Bundestag vorbehaltlich der sich aus dem Bundeswahlgesetz ergebenden Abweichungen aus 672152 Abgeordneten besteht, bedarf es zu deren Zusammenwirken organisatorischer Untergliederungen, durch die erst eine geordnete Aufgabenerfüllung ermöglicht wird. Der Bundestag bildet in der grundgesetzlichen Ordnung eine Einheit, die grundsätzlich rechtlich verbindlich nur durch Beschluß des Gesamtorgans handeln kann.153 Das Parlament kann seine Aufgaben nicht immer mit Beteiligung seines gesamten personellen Umfangs lösen, so daß seine Entscheidungen durch kleinere Funktionseinheiten vorbereitet werden müssen. Es bedarf des Aufbaus von Organen und anderen funktionellen Untergliederungen, die unter anderem Parlamentssitzungen vorbereiten, leiten und den Bundestag nach außen vertreten. Diese Organisation des Aufbaus findet zu Teilen im Grundgesetz ihre ausdrückliche Manifestierung. Der Bundestagspräsident, sein Stellvertreter und die Schriftführerl54, der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und der Ausschuß für Verteidigungl55, der Wehrbeauftragte156 und der Petitionsausschuß157 wurden verfassungsunmittelbar als Einrichtungen gebildet. Diese durch die Verfassung selbst festgelegten Organe stellen aber keinen numerus c1ausus der möglichen Einrichtungen dar, was sich schon aus der fakultativen Möglichkeit der Einberufung eines Untersuchungsausschusses158 ergibt. Vielmehr ist die Aufbauorganisation des Bundestages von der Bildung einer Vielzahl weiterer Leitungssysteme und der Schaffung von Instanzenordnungen gekennzeichnet. Genannt seien lediglich die Fraktionen, 151 Zur Unterscheidung zwischen Autbau- und Ablauforganisation vgl. oben auf Seite 33. 152 § 1 Abs.1 BWahlG, aufgrund von Überhangmandaten ist die Mitgliederzahl des Bundestages regelrnäßi~ höher. .So erhielt bei der Bundestagswahl vom 16.10.1994 die eDU 12 und die SPD 4 Überhangmandate. Hierzu: Bulletin der Bundesregierung, Nr.96jS.881 vom 17.10.1994. 153 W. Zeh in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 42 Rn.1. 154 Art.40 Abs.l S.l GG. 155 Art.45a Abs.l GG. 156 Art.45b GG. 157 Art.45cAbs.l GG. 158 Art.44 Abs.l S.1 GG.
B. Das Selbstorganisationsrecht des Bundestages
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die Vielzahl der Sonderausschüsse und hierzu gehörig die Enquete-Kommissionen, sowie der Ältestenrat. Aus dieser umfangreichen Gruppe erfüllen der Bundestagspräsident und der Ältestenrat besonders exponierte organisatorische Funktionen. Dem Bundestagspräsidenten kommen umfassende Kompetenzen zur Leitung der Plenarverhandlungen zu,159 er ist oberster Dienstherr der etwa 1600 Bundestagsbeamtenl60, vertritt den Bundestag161 und führt den Vorsitz in den Führungs- und Lenkungsgremien des Bundestages.162 Die Zahl der ihn vertretenden Vizepräsidenten ist nicht festgelegt und ist seit der Konstituierung des 10. Deutschen Bundestages politisch umkämpft.163 Bei der Konstituierung des 13. Deutschen Bundestages fand eine mit Vehemenz geführte Auseinandersetzung um die Besetzung der Posten der Vizepräsidenten statt,l64 die darin gipfelte, daß die Abgeordnete der Grünen Antje Vollmer mit den Stimmen der CDU-CSU Fraktion und gegen das Votum der SPD und der PDS ins Präsidium gewählt wurde. l65 In diesen Geschehen spiegelt sich die Wichtigkeit eines solchen mit organisatorischen Kompetenzen ausgestatteten Amtes. Der Ältestenrat besitzt seine Aufgabe in der Unterstützung der Tätigkeit des Bundestagspräsidenten166 und ist das eigentliche politische Organisations- und Leitungsgremium des Parlaments.167 Die Hauptaufgaben des ÄI159 Art.40 Abs.2 S.l GG; § 7 Abs.1 S.2 GeschO BT. 160 § 7 Abs.4 S.l GeschO BT. 161 § 7 Abs.l S.l GeschO BT. 162 Vgl. für das Präsidium: § 5 GeschO BT, für den Ältestenrat: § 6 Abs.1 S.l, S.2 GeschO BT und für den Sitzungsvorstand: § 8 Abs.1, Abs.2 S.l GeschO BT. Eingehend zum Ganzen: R. Schick (Hrsg.), Der Bundestagspräsident, S.ll ff. 163 Siehe hierzu die Darstellung bei P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1983 - 1991, S.355 ff. 164 Hierzu: FAZ v. 04.11.1994, S.4; FAZ v. 08.11.1994, S.16; FAZ v. 10.11.1994, S.2.
165 Vgl.: FAZv. 11.11.1994, S.3. 166 Vgl.: § 6 Abs.2 S.l GeschO BT; siehe weiterführend: H. Steiger, Organisatorische Grundlag~n des parlamentarischen Regierungssystems, S.119; R. SchickjW. Zeh, So arbeitet .der Deutsche Bundestag: Organisation und Arbeitsweise, S.21; H. Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S.80; v. Mangold/Klein/Achterberg/ Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.12. 167 LA. Verstyl in: v. Münch, GG Kommentar, Art.40 Rn. 10; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 26 IV 2 b. Es gab schon in der Frankfurter Nationalversammlung ein solches auf innere Abstimmung ausgerichtetes Organ, welches als Seniorenkonvent bezeichnet wurde; siehe zur gesamten
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
testenrates bestehen in der Planung der Plenarsitzungen, der Beteiligung an der Festlegung der Sitzungstage und dem Vorbereiten des Einsetzens der Ausschüsse, sowie in der Verteilung der Stellen der Ausschußvorsitzenden. l68 Aufgrund der Vielzahl der organisatorischen Regelungsnotwendigkeiten, werden regelmäßig Unterausschüsse bzw. Kommissionen des Ältestenrates gebildet,169 deren der Aufgabenstellung entsprechendes Spektrum von einer Kommission für den Haushalt bis zur Kommission für Restaurantangelegenheiten reicht. 170 Zusammenfassend ist die Bedeutung des Ältestenrates als integrierend wirkendes Lenkungs- und Schlichtungsorgan für die Funktionsfähigkeit des Parlaments kaum zu überschätzen. l71 Dieses zeigt sich besonders deutlich in dem Umstand, daß Plenarsitzungen gelegentlich unterbrochen werden, um eine Entscheidung des Ältestenrates Thematik: G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.24 f.; H.-A. Roll in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 28 Rn.2; H. v. Gerlach, Das Parlament, S.45 f.; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.130; W. Zeh, Altersschichten in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, ZParl 1986, 396 (408 f.); F. Schäfer, Der Bundestag, S.96; J. Wermser, Der Bu.~destagspräsident, S.22 ff.; H. Franke, Vom Seniorenkgnvent des Reichstages zum Altestenrat des Bundestages, S.l ff.; A. Maibaum, Der Altestenrat des Deutschen Bundestages, S.l ff.; A. Rummel, Der Bundestagspräsident, S.72. 168 Umfassend zu den Aufgaben des Ältestenrates: H.-A. Roll in: Schneider/ Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentsprwgs, § 28 Rnrn.20-45; N. Achterberg, Parlamentsrecht S.130 f.; A. Maibaum, Der Altestenrat des Deutschen Bundestages, S.1 ff.; H. Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages § 6; H. RitzeljJ. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis mit Kommentar zur GOBT, § 6; G. Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S.247 ff. 169 In § 6 Abs.4 GeschO BT ist der Unterausschuß für das Bibliotheks- und Archivswesen ausdrücklich genannt. H. Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 6, Rn.7.4; F. Edinger, Wahl und Besetzung parlamentarischer Gremien, S.179; siehe auch die Aufstellungen bei: N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.132; H.-P. Schneider in: Altemativkommentar zum GG, Art.40 Rn.7; W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 42 Rn.39; D. Engels in: Graf v. Westphalen, Parlamentslehre, S.226; R. Schick/Wo Zeh, So arbeitet der Deutsche Bundestag, S.25. 170 Eine umfangreiche Darstellung der Kommissionen des Ältestenrates fmdet sich bezüglich der 10. bis 12. Wahlperiode bei: P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1983 - 1991, S.362 ff.; bezüglich der 1. bis 10. Wahlperiode: ders., Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1980 - 1984, S.347 ff. 171 H.-P. Schneider in: BendajMaihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rn.76; V. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Band 6, Art.40 Rn.13; H.-A. Roll in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 28 Rn.l; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeb" Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.53; umfassend zur Bedeutung raxis, § 53 Rn.21; H.G. RitzeljJ. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxts, Einleitung, S.2a; einschränkend H. Trossmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR Neue Folge Band 28 (1979), 1 (42 f.) der jedoch einen Mißbrauch des Rederechts annimmt, wenn die Bundesregierung ohne zwingenden Grund von den Vorschriften der Geschäftsordnung des Bundestages abweicht. Eine Bindung im
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
bedarf es einer Rechtsgrundlage außerhalb der Geschäftsordnung des Bundestages.268 In diesem Zusammenhang ist aber darauf hinzuweisen, daß bezüglich des Zusammenwirkens der verschiedenen Bundesorgane das Gebot des kooperationsfreundlichen Verhaltens eingreift. Diese sich aus dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue269 ableitende Maxime270 fordert von den leitenden Bundesorganen gegenseitiges förderndes Verhalten bei der Erfüllung der jeweiligen übertragenen Staatsfunktion. Geschäftsordnungsvorschriften besitzen aber Bindungswirkung gegenüber parlamentsexternen Personen, wenn auf der Verfassungsebene eine den Art.40 Abs.l S.2 GG ergänzende Rechtsgrundlage besteht.271 Beispielsweise seien die ausdrücklich in Art.40 Abs.2 GG verfassungstextlich festgelegten Kompetenzen des Bundestagspräsidenten genannt, wodurch ihm das Hausrecht als auch die Polizeigewalt zusteht und die Notwendigkeit seiner Genehmigung für Durchsuchungen und Beschlagnahmungen konstituiert wird?72 Finden diese Rechtspositionen in der Geschäftsordnung des Bundestages ihre Konkretisierung,273 so besteht auch eine Bindungswirkung Dritten gegenüber. Als eine weitere ergänzende Rechtsgrundlage wird teilweise ein Satz des Verfassungsgewohnheitsrechts angenommen, nachdem Regierungs- und Bundesratsvertreter der Leitungs- und Ordnungskompetenz des Bundestagspräsidenten in den Grenzen des Art.43 Abs.2 S.2 GG unter1ägenP~ Die engen Rahmen für die im Parlament befmdlichen Regierungsmitglieder nimmt dagegen, ohne weitere Begründung, E. Röper, Ausschüsse zwischen Parlaments- und Gesetzesrecht, ZParl1984, 529 (532) an. 268 S. Magiera in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 52 Rn37. 269 Hierzu grundlegend: W.-R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue; bezüglich der praktischen Bedeutung der Verfassungsorgantreue bei Begrenzungen der Redezeit siehe: M. Schröder in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 53 Rn.21. W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.13, weist in diesem Zusammenhang auf die Herausbildung von Observanzen hin. 270 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.54. 271 K-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.69; H.H. Kasten, Ausschußorganisation und Ausschußruckruf, S.41. 272 Zu den Möglichkeiten des Parlamentspräsidenten auf ungebührliches Verhalten von Regierungsmitgliedern zu reagieren: E. Röper, Parlamentarische Ordnungsmaßnahmen gegenüber Regierungsmitgliedern, ZParl1991, 189 ff. 273 Vgl... § 7 Abs.l, Abs.2 GeschO BT. 274 K-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.69.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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Annahme des Bestehens eines solchen Grundsatzes des Verfassungsgewohnheitsrechts hätte zur Folge, daß die oben aufgezeigte Regel in ihr Gegenteil verkehrt würde275 , und eine umfangreiche Bindung der Regierungsund Bundesratsvertreter an viele Vorschriften der GeschO BT bestünde. Die Annahme einer solchen gewohnheitsrechtlichen Regel unterliegt weiteren gewichtigen Bedenken. Die Entstehung von Gewohnheitsrecht setzt eine ständige Übung und deren Anerkennung als Recht voraus. 276 Mag noch eine ständige Übung existieren, daß Mitglieder der Regierung oder des Bundesrates die regelnden Maßnahmen des Bundestagspräsidenten beachten, so ist jedoch die diesbezügliche Anerkennung als Recht höchst zweifelhaft. Die Zuständigkeit des Bundestagspräsidenten für Leitungs- und Ordnungsangelegenheiten, fmdet seine Grundlage nicht unmittelbar in der Verfassung,277 sondern wird auf § 41 Abs.1 und § 7 Abs.1 S.2 der GeschO BT gestützt.278 Da Art.40 Abs.1 S.2 GG nur davon spricht, daß der Bundestag sich eine Geschäftsordnung gibt, würde die Anerkennung der uneingeschränkten Gültigkeit der Ordnungsmaßnahmen des Bundestagspräsidenten gegenüber der Bundesregierung oder dem Bundesrat einen selbstgewählten Verzicht darstellen. Daß eine freiwillige Preisgabe der Kompetenz zur Organisation eigener Angelegenheiten279 unwahrscheinlich ist, bedarf gerade in dem Fall des vom Bundestag unabhängigen Bundesrates keiner weiteren Begründung. Weitere Zweifel drängen sich durch den Umstand auf, daß keine ausdrückliche Anerkennung als Recht durch die Bundesregierung und den Bundesrat existiert. Vielmehr wird eine solche rechtliche Akzeptanz nur aus dem Umstand hergeleitet, daß Vertreter dieser Staatsorgane sich an die vom Bundestagspräsidenten aufgestellten Regeln halten. Aus diesem Verhalten folgt jedoch keine konkludente Anerkennung 275 So: K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.69. 276 Ständige Rechtsprechung: BVerfGE 22,114 (121); 28, 21 (28 f.); 34, 293 (303 f.); 57, 121 (135); ausführlich zu den Grundlagen des Gewohnheitsrechts: F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S.213 ff.; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S.9 f.; P. SchwackejR. Uhlig, Juristische Methodik, S.44 f. 277 Insbesondere kann die Zuständigkeit des Bundestagspräsidenten zur Leitung der Sitzungen nicht auf das sich aus Art.40 Abs.2 S.1 1 Fall GG ergebenden Hausrecht gestützt werden. 278 In § 7 Abs.1 S.2 GeschO BT ist die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten normiert. Aus § 41 Abs.1 GeschO BT ergibt sich seine Ordnungsgewalt. 279 Für den Bundesrat vgl.: Art.52Abs.3 S.2 GG.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
als gültiges Recht,280 aus der sich eine dauerhafte Bindung ergibt. Vielmehr liegt die Deutung nahe, daß es sich um unverbindliche Vorschläge des Bundestagspräsidenten handelt, die grundsätzlich durch die Vertreter von Bundesregierung und Bundesrat akzeptiert werden. Ein Satz des Verfassungsgewohnheitsrechts, nachdem Regierungs- und Bundesratsvertreter der Leitungs- und Ordnungskompetenz des Bundestagspräsidenten in den Grenzen des Art.43 Abs.2 S.2 GG unterlägen, besteht nicht. Auf diesem Wege erfolgt keine Erweiterung des personellen Bindungsumfanges der Geschäftsordnung. Es bedarf bei der Einbindung anderer Verfassungsorgane in die parlamentarische Tätigkeit einer von den Vorschriften der Geschäftsordnung unabhängigen Einigung.281 Ausnahmsweise kann der Regelungsbereich der Geschäftsordnung sich auch auf Nichtparlamentarier erstrecken. Dies ist dann der Fall, wenn sie nicht von Verfassungs wegen, sondern aufgrund eines eigenen freien Entschlusses im internen Bereich des Parlaments auftreten. 282 Exemplarisch sei die in § 70 GeschO BT geregelte Einbeziehung von Sachverständigen in Sitzungen der Bundestagsausschüsse genannt.283 Hier werden Dritte jedoch nicht unmittelbar durch die Geschäftsordnung gebunden, sondern es fmdet eine freiwillige Unterordnung statt. Über den Verfahrensablauf hinausge-
280 Ähnlich auch: F. Schäfer, Der Bundestag, S.73, der in der Unterwerfung der Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates noch keine Rechtfertigung für die Gültigkeit des § 41 Abs.1 GeschO BT erblickt. 281 Anders: H. Trossmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR Neue Folge Band 28 (1979), 1 (42), der im Ergebnis eine grundsätzliche Anerkennung der Verfahrensordnung verlangt, wie sie in der Geschäftsordnung des Bundestages niedergelegt ist; ähnlich wie hier: J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.24. 282 J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.25; G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986, 334 (341); W. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, S.154. Zu weit ist dagegen die Formulierung bei: G. Sommer/R. Graf v. Westphalen in: Grafv. Westphalen, Parlamentslehre, S.87; die die Bindungswirkung generell auf Nichtparlamentarier erstrecken wollen, welche bei der Parlamentsarbeit mitwirken (vgl. hierzu die oben aufgeführten Erläuterungen zur Rechtsstellung von Bundesrats- und Bundesregierungsmitgliedem). 283 Obwohl seit Anfang 1952, die Möglichkeit zu öffentlichen Anhörungen bestand, wurde zunächst kaum davon Gebrauch gemacht. Ihre Zahl stieg aber kontinuierlich, so daß in der 11. Wahlperiode 235 öffentliche Anhörungen stattfanden. Eine Aufgliederung nach einzelnen Ausschüssen findet sich bei: P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1983 bis 1991, S.717 ff.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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hende, ins Außenverhältnis wirkende Pflichten Dritter, können nicht durch die Geschäftsordnung begründet werden. 284 Da der Bundestag in seiner Gesamtheit seine Geschäftsordnung erläßt, bindet sie alle Abgeordneten, gleich ob sie dem Bundestag bei ihrem Erlaß bereits angehört haben, oder erst später hinzustießen. 285 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß grundsätzlich nur Parlamentarier durch die Geschäftsordnung verpflichtet werden können, es sei denn, es findet sich eine andere verfassungsrechtliche Ermächtigung, die ihre Konkretisierung in der Geschäftsordnung gefunden hat, oder es liegt eine freiwillige Selbstbindung der betreffenden Person vor.
e) Standort der Geschäftsordnung in der Hierarchie der geschriebenen Rechtsnormen Die Frage nach der Wertigkeit der Rechtsnormen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages läßt sich im wesentlichen in zwei Problemkreise unterteilen. Einerseits ist das Verhältnis zur Verfassung zu bestimmen, andererseits gilt es ein Rangverhältnis zwischen förmlichen Gesetz und Vorschriften der Geschäftsordnung des Parlaments zu ermitteln.
aa) Verhältnis zu Vorschriften des Grundgesetzes Bezüglich der Beziehung zu den Vorschriften der Verfassung besteht die einhellige Auffassung, daß die Normen der Geschäftsordnung im Range unterhalb des Grundgesetzes stehen,286 da sich das Recht, eine Geschäfts284 J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.25, führt als Beispiel die Unmöglichkeit der Ladung vor einen Bundestagsausschuß durch Vorschriften der Geschäftsordnung an; aA. für den Fall eines Untersuchungsausschusses nach Art.44 GG: G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZPar11986, 334 (341 f.), der jedoch die Wirkung des Verweises in Art.44 Abs.2 S.l GG auf die Vorschriften der Strafprozeßordnung verkennt, denn gerade aus diesen Normen ergibt sich die Möglichkeit der Vernehmung von Zeugen. 285 J. Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, S.80; T. Maunz in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.40 Rn.18. 286 BVerfGE 1, 144 (148); 44, 308 (315); J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.41; K. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz,
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
ordnung zu erlassen, auf die Verfassung stützt. 287 Diese Wertung wird durch Art.20 Abs.3 GG bestätigt, denn durch diese Normen wird die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Das Parlament als Teil der Gesetzgebung im Sinne von Art.20 Abs.3 GG muß auch in der Eigenschaft als Geschäftsordnungsgeber die Vorschriften der Verfassung wahren und darf nicht durch die Geschäftsordnung gegen die Verfassung verstoßende Regelungen treffen.
bb) Beziehung zu Vorschriften förmlicher Gesetze Stark umstritten ist dagegen das Rangverhältnis zwischen der Geschäftsordnung des Bundestages und einem formellen Gesetz. Denkbar sind dabei drei Konstellationen: entweder die Geschäftsordnung ist höherrangig288 oder sie folgt im Range dem förmlichen Gesetz nach289 S.24 f.; LA. Verstyl in: v. Münch, GG Kommentar, Art.40 Rn.18; N. Achterber~, Parlamentsrecht S327; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentanschen Regierungssystems, S.44; F. Schäfer, Der Bundestag, S.64; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn385; H. FangmannjM. Blank/U. Hammer, GG-Kommentar, Art.40 Rn.5; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.10; B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.40 Rn.5; G. Leibholz/H.-J. Rink/D. Hesselberger, GG Kommentar, Art.40 Rn.21; J. Jekewitz, Bundesverfassungsgericht und Staatsorganisationsrecht des Grundgesetzes, in: Festschrift für R. Wassermann, 381 (385); K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.80. 287 T. Maunz in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.40 Rn.22. 288 Bei J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.41 werden als Vertreter dieser Ansicht E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.124 und N. Achterberg, Parlamentsrecht, S328 f. angeführt. Die Ausführungen von E.-W. Böckenförde beziehen sich jedoch ausdrücklich auf die Geschäftsordnung der Regierung und N. Achterberg vertritt an der angegebenen Stelle eine Gleichordnung zwischen dem förmlichen Gesetz und der Geschäftsordnung des Bundestages; vgl.: N. Achterberg, a.a.O. S328 "Gesetze sind der Geschäftsordnung gegenüber nicht vorrangig, ..."; "Umgekehrt besteht allerdings auch kein Vorrang der Geschäftsordnung vor einem Gesetz...". Momentan fmdet sich kein Vertreter dieser Ansicht. 289 In diesem Sinne: BVerfGE 1, 144 (148); F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVetwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (186); F. Schäfer, der Bundestag, S.64; LA. Verstyl in: v. Münch, GG Kommentar, Art.40 Rn.18; J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.41; C. Arndt in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 50 Rn.4; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn385; T. Maunz in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.40 Rn.22; G. Leibholz/H.-J. Rink/D. Hesselberger, GG Kommentar, Art.40 Rn.21; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG,
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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oder es besteht eine Gleichrangigkeit zwischen der Geschäftsordnung des Parlaments und einem förmlichen Gesetz.290 Als ein aktuelles Beispiele der Relevanz dieser Frage sei der Geltungsumfang des Bundeswahlgesetzes angeführt. 291 Dies enthält in § 46 Abs.3 BWG eine Regelung, nach der ein Verzicht auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag nicht nur gegenüber dem Bundestagspräsidenten abgegeben werden kann. Vielmehr eröffnet diese Norm die Möglichkeit der wirksamen Verzichtserklärung gegenüber einem deutschen Notar oder einem zur Vornahme von Beurkundungen ermächtigten Bediensteten einer deutschen Auslandsvertretung. Diese Regelung widerspricht der Normaussage des § 7 Abs.1 S.l GeschO BT, nach der der Bundestagspräsident die Geschäfte des Bundestages regelt. Erklärt nun ein Abgeordneter vor den oben genannten außerparlamentarischen Stellen seinen Verzicht auf die Mitgliedschaft im Bundestag, so ist die Bestimmung der Wertigkeit der Geschäftsordnung für eine Entscheidung unerläßlich. 292 Ginge das Bundeswahlgesetz der geschäftsordnungsrechtlichen Regelung vor, so wäre der Verzicht wirksam; im entgegengesetzten Falle wäre er unwirksam. Bei unArt.40 Rn.10; ders. in: BendajMaihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rn.70; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 26 111 6 c; K. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, S.24 f.; H. FangmannjM. Blank/U. Hammer, GG-Kommentar, Art.40 Rn.5; G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.42; R. Weber-Fas, Das Grundgesetz, S.144; H.G. Ritzel/J. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitun~, S.2a; L. Kißler, Der Deutsche Bundestag, JöR Neue Folge Band 26 (1977), 39 (46); B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.40 Rn.5; J. Jekewitz, Bundesverfassungsgericht und Staatsorganisationsrecht des Grundgesetzes in: Festschrift für R. Wassermann, 381 (385). 290 Vertreten von: H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.44 f.; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.328; H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310 (313); J. Ziekow, Der Status des fraktionslosen Ab~eordneten - BVerfGE 80, 190, JuS 1991, 28 (29); v. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.42; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.187; G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZPar11986, 334 (340). 291 Umfangreiche weitere Beispiele siehe bei: J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl1986, 324 (326 ff.). 292 Unzureichend sind deshalb diejenige Stellungnahmen, in denen ledi~ch ein genereller Vorrang der formellen Gesetze verneint wird, ohne daß eine positive Bestimmung des Standorts der Vorschriften der Geschäftsordnung in der Hierarchie der Rechtsnormen vorgenommen wird; vgl. zu einem solchen Vorgehen: H. Frost, Die Parlamentsausschüsse, ihre Rechtsgestalt und ihre Funktionen, dargestellt an den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, AöR Band 95 (1970), 38 (51). 6 Kühnreich
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
terstellter Gleichrangigkeit dieser Regelungen ist eine eindeutige Entscheidung nicht möglich, wodurch sich schon Zweifel an der Praktikabilität dieser Sichtweise ergeben. Unproblematisch ist das Rangverhältnis für den Spezialfall, daß die Geschäftsordnung oder ein förmliches Gesetz lediglich den Wortlaut der Verfassung wiederholt. Dieses ist aber nur ein scheinbares Konkurrenzproblem auf der Geschäftsordnungs-/Gesetzesebene, denn tatsächlich liegt eine Abweichung von den Vorschriften der Verfassung vor, die sich unbestritten an der Spitze der innerstaatlichen Normpyramide befmden. 293 In einem solchen Falle schlägt die bestehende Vorrangstellung der Verfassung gegenüber formalgesetzlichen und geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen auf das Konkurrenzverhältnis der beiden zuletzt genannten Rechtsquellen durch. Allgemeine Schlußfolgerungen für das fragliche Rangverhältnis können aufgrund dieser speziellen Konstellation nicht abgeleitet werden. In den rechtswissenschaftlichen Diskussionsbeiträgen wird an einigen Stellen die Behauptung aufgestellt, daß das Kollisionsproblem zwischen eigenständigem Organrecht und förmlichen Gesetz, kein Rang-, sondern ein Kompetenzproblem sei.294 Dies ist insoweit zutreffend, als der Erlaß eines Bundesgesetzes eine grundgesetzliche Ermächtigung voraussetzt, so daß eine gesetzgeberische Tätigkeit ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung unmöglich ist.295 Die zur Entscheidung anstehende Frage auf ein Kompetenzproblem zu reduzieren, setzt jedoch die These voraus, daß ausschließlich die Geschäftsordnung oder ein förmliches Gesetz als Regelungsalternative zulässig ist. Dies erscheint bereits unter Berücksichtigung des Bestehens des gesetzge293 Vgl.
Seite 79.
294 Vgl.: abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (377); H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.44 f.; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.187; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.124; K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.81; für den Fall der Geschäftsordnung der Regierung: E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.124; H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310 (313). 295 Daß die Umfangsbestimmung der gesetzgeberischen Ermächtigung im Schnittpunkt zwischen formellem Gesetz und organisatorischen Regelungen des Bundestages durchaus sehr problematisch sein kann, ist den umfangreichen Beispielen bei J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParI1986, 324 (326 f.), zu entnehmen.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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berischen Ermessens bei Erlaß eines förmlichen Gesetzes höchst fragwürdig. Die Zweifel an dem Verhältnis der Exklusivität zwischen der Geschäftsordnung und einem formellen Gesetz erhärten sich weiter, wenn die Auswirkungen der nachfolgenden Konstellation bedacht werden. Gesetzt den Fall, die zuständigen Bundesorgane erließen ein Gesetz aufgrund einer vorhandenen grundgesetzlichen Kompetenz, wodurch dem Parlament bestimmte Aufgaben übertragen würden, unterließen dabei aber die Bestimmung einer Verfahrensregelung bezüglich der Tätigkeit des Bundestages. Bei einer solchen Konstellation dürften die Verfahrensvorschriften der Geschäftsordnung des Bundestages nicht ergänzend Anwendung finden, da für diese aufgrund der unterstellten Exklusivität keine Regelungskompetenz bestünde. Eine verfahrensrechtliche Regelung der Tätigkeit des Parlaments wäre nicht vorhanden und auch nicht durch die autonome Bestimmung als Geschäftsordnungsregelung gemäß Art.40 Abs.l S.2 GG durch den Bundestag möglich. Die Lösung von Kollisionslagen zwischen eigenständigem Organrecht und förmlichen Gesetz kann somit nicht auf ein Kompetenzproblem reduziert werden. Mit der Festlegung gesetzgeberischer Kompetenzen allein, ist keinesfalls die Einordnung der Geschäftsordnung des Bundestages in die Normenhierarchie bewältigt; vielmehr stellt die Bestimmung des Ranges dieser Normen weiterhin eine eigenständige Aufgabe dar. 296 Die Gleichrangigkeit zwischen der Geschäftsordnung des Bundestages und einem förmlichen Bundesgesetz könnte sich aus dem Umstand ergeben, daß sie ihre Regelungsgrundlagen in Art.40 Abs.l S.2 GG und Art.77 GG fmden, daher beide verfassungsunmittelbar sind und verschiedene vorbehaltlos zugewiesene Sachbereiche betreffen.297 Aus diesen unstreitigen Parallelen ergibt sich jedoch keine Unmöglichkeit andersartiger Unterschiede, so daß allein aus diesem Umstand die Gleichrangigkeit der in Frage stehenden Rechtsquellen nicht gefolgert werden kann. Ähnlich wenig stichhaltig ist das Argument, daß die rangmäßige Unterordnung der Geschäftsordnung unter das Gesetz die Folge haben würde, daß Bundesrat, Bundesregierung und Bundespräsident indirekt auf die 296 Ablehnend auch: J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.41. 297 H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.45; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.187; K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.81.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
funktionale Unabhängigkeit des Bundestages Einfluß nehmen könnten. 298 Dieser Umstand bewirkt einerseits nicht die zwingende Gleichordnung zwischen Geschäftsordnung und förmlichen Gesetz und berücksichtigt zum anderen nicht, daß ein Gesetz ohne maßgebliche Mitwirkung des Bundestages nicht zustandekommen kann. Der Erlaß das Parlament betreffender organisatorischer Regelungen gegen den Willen des Bundestages ist schlechterdings ausgeschlossen, denn dieser muß durch Plenumsentscheidung dem gesamten, in allen Einzelheiten bekannten Gesetzesentwurf zustimmen.299 Auch die Argumentation, daß der Normstufenautbau des Außenrechts nicht auch dem Innenrecht zugrundeliegt und deshalb kein Vorrang abstrakt-genereller vor konkret-individuellen Regelungen bestünde,300 überzeugt nicht. Diese Unterscheidung greift hinsichtlich des Verhältnisses zur Verfassung, die abstrakt-genereller Natur ist, anerkanntermaßen nicht,3Ot und es ist auch bezüglich anderer Kollisionslagen keineswegs zwingend, ein Rangverhältnis zwischen abstrakt-generellen und konkret-individuellen Normen kategorisch abzulehnen. Ist nun insoweit festzustellen, daß keine zwingenden Gründe für eine Gleichrangigkeit zwischen der Geschäftsordnung des Bundestages und einem Bundesgesetz bestehen, so stellt sich jedoch die Frage, ob sich aus den bereits oben angeführten Eigenarten der Geschäftsordnung ihre Qualifizierung als im Range unterhalb des förmlichen Gesetzes stehend ergibt.302 Anzuführen wäre zunächst das Verfahren beim Erlaß der Geschäftsordnung. Dieses unterliegt geringeren Anforderungen303 als das formalisierte Gesetzgebungsverfahren, wie es in den Art.77 ff. GG festgelegt wurde. Beteiligt ist lediglich der Bundestag, wobei beim Erlaß eines förmlichen Gesetzes zusätzlich andere mittelbar demokratisch legitimierte Bundesorgane er298 H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.45; J. Ziekow, Der Status des fraktionslosen Abgeordneten - BVerfGE 80, 190, JuS 1991, 28 (29); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S328. 299 Art.77 Abs.1 S.l GG. 300 V. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.41; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S327. 301 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S327. 302 J. Pitzcker in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.41, vetweist in diesem Zusammenha~ ohne weitere Begründung auf "anerkannte Grundsätz der Rechtsquellenlehre' . 303 Vgl. Seite 66 ff.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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gänzend mitwirken.304 Die demokratische Legitimation eines förmlichen Gesetzes stützt sich auf Bundes- und die die Zusammensetzung des Bundesrates bestimmenden Landtagswahlen und ist größer als die der Geschäftsordnungsvorschriften. Dieser Umstand spricht für eine Dominanz formalgesetzlicher Regelungen im Falle der Kollision gegenüber der Geschäftsordnung. Eine ähnliche Wertung ergibt sich durch die Berücksichtigung des Grundsatzes der Diskontinuität305 • Hierdurch ist die Geschäftsordnung rein rechtlich von einer begrenzten Geltungsdauer und bedarf zumindest der Übernahme durch jeden neugewählten Bundestag, so daß ihr zeitlicher Geltungsumfang geringer ist als der eines formellen Gesetzes. Auch die Möglichkeit der Abweichung im Einzelfall306 läßt die Wertigkeit der Geschäftsordnung als unterhalb eines förmlichen Gesetzes stehend erscheinen. Bedenkt man darüber hinaus, daß grundsätzlich nur der begrenzte Personenkreis der Parlamentarier durch Vorschriften der Geschäftsordnung gebunden werden kann,3°7 so verstärkt sich das soeben gefundene Ergebnis. Weder Bindungsumfang, Bindungsintensität, Bindungsdauer noch die förmlichen Anforderungen an den Erlaß einer geschäftsordnungsrechtlichen Norm entsprechen den an ein förmliches Gesetz gestellten Anforderungen, so daß sich aus der Gesamtschau der aufgeführten Eigenarten der Geschäftsordnung eine unterhalb des formellen Gesetzes liegende Rangposition ergibt. Unterstützt wird dieses Ergebnis durch den Umstand, daß für den Fall, daß das förmliche Gesetz der Geschäftsordnung nicht vorginge, der Bundestag in seiner Geschäftsordnung eine vom Gesetz abweichende Regelung treffen könnte. Er hätte so die Möglichkeit der Neutralisierung der demokratisch legitimierten Tätigkeit der anderen beim Gesetzeserlaß beteiligten
304 Die Bundesregierung kann gemäß Art.76 Abs.l GG Gesetzesvorlagen einbringen, der Bundesrat kann Einspruch erheben oder es kann die Notwendigkeit seiner Zustimmung bestehen und der Bundespräsident hat die Gesetze gemäß Art.82 GG auszufertigen und zu verkünden. 305 Siehe hierzu oben auf der Seite 69 ff. 306 Hierzu siehe Seite 72 ff. 307 Vgl. hierzu Seite 74 ff.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Bundesorgane. Dieses ist jedoch in der auf Aufgabenaufteilung ausgerichteten Ordnung des Grundgesetzes nicht vertretbar. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sowohl im Range unterhalb der Verfassung als auch der förmlichen Gesetze steht.
t) Besonderheiten der Auslegung Bei der Frage der Auslegung geschäftsordnungsrechtlicher Vorschriften sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. Einerseits kann der Bundestag selbst die von ihm erlassenen geschäftsordnungsrechtliche Normen inhaltlich bestimmen. Zum anderen können Normen der Geschäftsordnung des Bundestages durch Gerichte, insbesondere dem Bundesverfassungsgericht, interpretiert werden. aa) Auslegung durch das Parlament Aus dem Umstand, daß sich der Bundestag seine Geschäftsordnung selbst gibt und Normgeber und Normrezipient personenindentisch sind, resu1tiert die grundsätzliche Zuständigkeit des Bundestages zur weitergehenden Konkretisierung dieser Vorschriften. Diese Kompetenz steht dem Gesamtparlament zu, daß mit Mehrheit entscheidet.308 Eine Delegation der Auslegungsbefugnis an parlamentarische Unterorgane ist insoweit möglich, als das Parlament selbst nicht letztverbindlich auf seine Entscheidungsbefugnis verzichtet?09 Erarbeitet der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Auslegungsvorschläge, so sind diese unverbindlich und bedürfen entweder der ausdrücklichen Bestätigung oder der konkludenten Übernahme durch das Parlament.310 Die in § 127 Abs.l der derzeitig 308 F. Schäfer, Der Bundestag, S.67; G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.121. 309 G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.122; H.-A. Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung in: Festgabe für W. Blischke, 93 (98). Vgl. insoweit die parallelen Ausführungen zum Umfang der Beauftragungsmöglichkeiten des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beim Erlaß der Geschäftsordnung auf Seite 66 f. 310 H.-A. Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung in: Festgabe für W. Blischke, 93 (98).
c. Regelungsfonnen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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gültigen Geschäftsordnung des Bundestages getroffene Regelung,311 nach der eine Zuständigkeit zur Einzelfallauslegung des Bundestagspräsidenten und im übrigen eine Zuständigkeit des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung besteht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, denn in § 127 Abs.1 S.2 GeschO BT ist das Recht der Abgeordneten festgelegt, die Auslegung der Geschäftsordnung dem Bundestag zur Entscheidung vorzulegen. Lediglich angemerkt sei in diesem Zusammenhang, daß die Auslegungsbefugnis des Parlamentspräsidenten sich nur auf Entscheidungen der einzelnen Angelegenheit bezieht. Hieraus folgt, daß sie keine Präzedenzfälle darstellen und ihnen keine Regel entnommen werden kann, die auf zukünftige Fälle Anwendung fmdet. 312 Die Interpretation geschäftsordnungsrechtlicher Vorschriften durch das Parlament ist jedoch von einer Abweichung im Einzelfall313 abzugrenzen. Während sich die Auslegung noch im Rahmen des betreffenden Norminhalts befindet, liegt bei der Abweichung von Vorschriften der Geschäftsordnung ein Handeln vor, das nicht vom Regelungsbereich der betreffenden Vorschrift umfaßt wird, oder nicht der Rechtsfolge der Norm entspricht. Darüber hinaus wird bei einer Abweichungen nur Geschäftsordnungsrecht für einen Einzelfall geschaffen, während durch die Auslegung auch Entscheidungen für zukünftige Sachverhalte getroffen werden. 314 Noch zum Bereich der Auslegung gehört daher eine rechtsfortbildende Inhaltsänderung, soweit sie noch im weitesten Sinne vom Normtext erfaßt werden kann.
bb) Auslegung durch parlamentsexterne Personen Bei der Auslegung geschäftsordnungsrechtlicher Vorschriften durch andere Personen als dem Bundestag und seinen Mitgliedern, sind grundsätzlich die allgemein anerkannten Auslegungsmethoden315 anzuwenden. 316 .311 Zu den Vorschriften der Geschäftsordnungen der Länderparlamente vgl.: N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.332. 312 H.-A. Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung in: Festgabe flir W. Blischke, 93 (99). 313 Siehe hierzu oben auf Seite 72 f. 314 V. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.56; H.-A. Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung in: Festgabe für W. Blischke, 93 (96). 315 Zu diesen eingehend: F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbe-
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Teilweise wird die Anwendung dieser Grundsätze uneingeschränkt bejaht.317 Besonderheiten der Geschäftsordnung des Bundestages sind aber im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen. Die Fruchtbarkeit der Wortlautauslegung unterliegt aufgrund der fehlenden begrifflichen Eindeutigkeit und systematischen Durchbildung der geschäftsordnungsrechtlichen Normierungen starken Bedenken?18 Darüber hinaus sind die Begriffe des Geschäftsordnungsrechts seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend gleich geblieben, obwohl ein verfassungsrechtlicher Wandel stattfand, der die Interpretation einzelner Bestimmungen determiniert.319 Diese Unsicherheiten könnten im Einzelfall auch auf die Nutzbarkeit der systematischen Auslegung negative Auswirkungen besitzen. Dies hat aber keineswegs zur Folge, daß diese Auslegungsmethoden nicht zur Anwendung gelangen,320 vielmehr ist auch bei der Auslegung der Geschäftsordnung der Wortlaut als Ausgangspunkt der Inhaltsbestimmung zu wählen.321 Bei dieser Auslegungsmethode ist vom speziellen parlamentarischen und nicht vom allgemeinen Sprachgebrauch auszugehen, was sich aus dem Umstand der Eigenschaft als Recht der spezifisch parlamentarischen Organisation ergibt. Bezüglich der teleologischen Auslegung geschäftsordnungsrechtlicher Vorschriften ist deren besondere Aufgabenzuweisung als selbstorganisationsrechtliche Regelungen zu berücksichtigen. Diese Normen besitzen aufgriff, S.141 ff.; E.-W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S.53 ff.; E. Höhn, Praktische Methodik der Gesetzesauslegung, S.107 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn.49 ff.; D. Schmalz, Methodenlehre, Rn.225 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S.312 ff. 316 G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.118; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.333 f.; v. Mangold/Klein/Achterberg/ Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.57. 317 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.333 f. 318 G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.118 mit Beispielen der terminologischen Ungenauigkeiten; H.-A. Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung in: Festgabe für W. Blischke, 93 (106 f.); so bereits: J. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S.84 f., der feststellt, daß die Begriffe des Parlamentsrechts keine Gattungsbegriffe darstellen und deshalb nicht Subsumtion sondern Analogie der verwertbare Schluß sei. 319 H.-A. Roll, Erläuterungen zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in: Das Deutsche Bundesrecht, JA 18 S.43. 320 G. v. Heiß, Die Behandlung von Fragen zur Fragestunde, die Mitglieder des Bundestages berühren, in: Festgabe für W. Blischke, 211 (224). 321 H.-A. Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung in: Festgabe für W. Blischke, 93 (108).
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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grund des zentralen Zweckes der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments eine geringere Bindungswirkung als formalgesetzliche Gebote. Dies zeigt sich besonders in der Möglichkeit der Abweichung im Einzelfall.322 Im Rahmen der teleologischen Auslegung sind demzufolge die die Funktionsfähigkeit des Parlaments betreffenden Erwägungen stärker zu gewichten, als dies im Rahmen einer Auslegung allgemein formalgesetzlicher Normen der Fall ist. Bei der Bewertung der historischen Auslegung ist zu berücksichtigen, daß die Geschäftsordnung des Bundestages das Funktionieren des Parlaments im Staats- und Verfassungsleben zum Ziel hat. Aus diesen mit der Funktionsfähigkeit des Parlaments gemachten Erfahrungen ergibt sich die Maßgabe, daß für die Auslegung geschäftsordnungsrechtlicher Normen die parlamentarische Tradition und Praxis, geformt durch die historische und politische Entwicklung, besonders zu berücksichtigen ist.323 Losgelöst vom traditionellen Kontext wären die Vorschriften der Geschäftsordnung schwer zu handhaben und zum Teil wohl unverständlich,324 so daß im Rahmen der Auslegung der Geschäftsordnung die historische Interpretation größeres Gewicht besitzt, als ihr bei der Gesetzesauslegung zukommt.
g) Bestimmung der Zulässigkeit einer Verfassungsstreitigkeit Zu den Besonderheiten der Geschäftsordnung des Bundestages gehört es, daß sich die Zulässigkeit verfassungsgerichtlicher Streitigkeiten nach ihren Normen richten kann, trotz der Möglichkeit der Einzelfallabweichung, ihrer beschränkten Bindungswirkung als auch ihrer speziellen Auslegungs322 Hierzu Ausführungen auf Seite 72 f. 323 BVerfGE 1, 144 (148 f.); 44,308 (314); 70, 324 (360 f.); siehe auch: Urteil des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts v. 11.10.1994, -1 BvR 337/92-, S.33; H.A. Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung in: Festgabe für W. Blischke, 93 (106); ders., Erläuterungen zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in: Das Deutsche Bundesrecht, IA 18 S.43; E. Klein in: SchmidtBleibtreu/Klein, GG Kommentar, Art.40 Rn.7; vgl.: v. Mangold/Klein/Achterbergj Schulte, Sonner Grundgesetz, Art.40 Rn.57; T. Maunz in: Maunz/Dürig/Herzog! Scholz, Kommentar zum GG, Art.40 Rn.20; K.-H. Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, S.15; M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, S.249. Eine umfangreiche kritische Auseinandersetzung fmdet sich bei: R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S.410 f. 324 K.-H. Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, S.15.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
grundsätze. Gemäß Art.93 Abs.1 Nr.1 GG, §§ 13 Nr.5, 63 BVerfGG bestimmt sich die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens danach, ob ein Beteiligter durch die Geschäftsordnung des Bundestages mit eigenen Rechten ausgestattet ist.325 Die Vorschriften der Geschäftsordnung des Bundestages können daher unter gewissen Voraussetzungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Organstreitverfahrens entscheiden?26 Auch wenn es sich hierbei nicht um Eigenschaften handelt, die sich unmittelbar in der Rechtsnatur der Geschäftsordnung befmden, kommt diesem Umstand in der verfassungsgerichtlichen Wirklichkeit doch wesentliche Bedeutung zu.
3. Zusammenfassende Würdigung und eigene Wertung Überschaut man die soeben aufgezeigten umfangreichen Besonderheiten der Geschäftsordnung des Bundestages, so ergibt sich die Erkenntnis, daß keine der anerkannten Rechtsquellen diese speziellen Eigenschaften besitzt. Schon bezüglich der Diskontinuität der Geschäftsordnung des Bundestages327 läßt sich feststellen, daß Rechtsverordnungen, Verwaltungsverordnungen, förmliche Gesetze und Satzungen dieses Charakteristikum nicht erfüllen. Ist nun keiner dieser Begriffe in seiner Reinform zutreffend, so besteht die Möglichkeit durch Begriffskombinationen den jeweils unzutreffenden Teil der Defmition abzuändern, und damit den Ausgangsbegriff zu. modifizieren?28 Auf diesem Wege werden zwar Eigenarten der Geschäftsordnung in der Bezeichnung festgelegt, jedoch sind diese nur punktuell und be325 Wesentlich wird dieses für diejenigen Personen, die nicht unmittelbar durch das Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Beispielhaft seien hier genannt: das Präsidium, § 5 i.V.m. § 7 Abs.4 S.4 GeschO BT und die Fraktionen, § 12 i.V.m. § 6 Abs.l S.l GeschO BT. Bezüglich der Parteif"ä/rigkeit der Auschüsse im Organstreitverfahren bedarf es eingehender Differenzierungen. 326 Siehe zu dieser Problematik: H.G. Ritzel/J. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung, S.3; D.C. Umbachtr. Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 63, 64, Rn.24 ff.; C. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, § 7 Rn.13 ff.; E. BendajE. Klein, Lehrbuch des Verfassun~sprozeßrechts, Rn.911 ff.; G.B. Schweitzer, Aktuelle Probleme des parlamentanschen Geschäftsordnungsrechts, NJW 1956, 84 (87); A. Ruch, Das Berufsparlament, S.49 f. 327 Ausführlich hierzu Seite 69 ff. 328 Diesen gedanklichen Weg schlagen die Autoren ein, die die Geschäftsordnung des Bundestages als gemischte Rechts- und Verwaltungsverordnung, interne Rechtsvorschrift ohne Rechtssatzcharakter, Gesetz ohne Publikationszwang, Verfassungssatzung, autonome Satzung, quasi autonome Satzung oder autonome Organsatzung bezeichnen.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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treffen jeweils nur eine Besonderheit dieser Normierung, so daß solche Bemühungen lediglich phänomenologischer Natur sind?29 Durch die Bezeichnung als Normen sui generis wird zwar zutreffend erkannt, daß keine Begrifflichkeit zur Beschreibung der Geschäftsordnung des Bundestages geeignet ist,33O jedoch ist diese Umschreibung isoliert ohne weitere Ausführungen zu spezifischen Eigenschaften inhaltsleer und enthält keine weiteren Erkenntnismöglichkeiten?31 Hier wird dagegen angeregt, die Versuche der Eingliederung der Geschäftsordnung in die bestehende Typologie der Rechtsquellen zu unterlassen. Statt dessen sollte die Geschäftsordnung des Bundestages endlich als eigener Rechtstyp verstanden und akzeptiert werden. Zur inhaltlichen Bestimmung ist daher von den spezifischen Eigenschaften der Geschäftsordnung des Bundestages auszugehen, woraus sich ihre spezielle Natur ergibt. Der Einführung einer anderen Begrifflichkeit als der der Geschäftsordnung bedarf es nicht.
11. Schlichter Parlamentsbeschluß
Fragen der Selbstorganisation werden in der Parlamentspraxis auch durch Bundestagsbeschlüsse geregelt.332 Beispielhaft und für diese Untersuchung von besonderer Relevanz ist der Beschluß des Deutschen Bundestages, seinen Sitz von Bonn nach Berlin zu verlegen,333 welcher unzweifelhaft Fragen mit selbstorganisationsrechtlichem Bezug betrifft.
329 H. Butzer, Die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten im Rechtsquellenkanon des Parlamentsrechts, ZParl1993, 384 (391). 330 G.B. Schweitzer, Aktuelle Probleme des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts, NJW 1956,84 (86). 331 Ähnlich verhält es sich mit den Umschreibungen als parlamentarisches Innenrecht, internes Recht, parlamentarische Innenrechtsnormen, oder rechtssetzende Vereinbarung. 332 Zum organisationsrechtlichen Bezug: G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen B~reich, ZParl 1986, 334 (339); vgl. auch: V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DÖV 1994, 497 (504). 333 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12 / 815.
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1. Teil: Organisationsgewatt und Selbstorganisationsrecht
1. Begriffsbestimmung Auch wenn kein einheitliches Begriffsverständnis in der Rechtswissenschaft besteht, so ist doch der nicht immer explizit genannte Konsens festzustellen, daß ein schlichter Parlamentsbeschluß334 zunächst seiner Natur nach ein Hoheitsakt dieses Staatsorgans335 ist. Die genauere Begriffsbestimmung kann durch negative Abgrenzungen erfolgen. So darf dieser Hoheitsakt nicht im Gesetzgebungsverfahren erlassen worden sein336 und ebenfalls fallen Normierungen der Geschäftsordnung nicht unter diesen Terminus. Die Geschäftsordnung selbst wird dagegen durch Parlamentsbeschluß erlassen?37 Im älteren Schrifttum findet sich vereinzelt die Auffassung, daß unter schlichten Parlamentsbeschlüssen nur solche zu verstehen sind, die weder verfassungsrechtlich noch gesetzlich ausdrücklich vorgesehen wurden. 338 Diese weitere Begriffseingrenzung konnte sich jedoch nicht durchsetzen und 334 Dieser Begriff ~eht auf Richard Thoma zurück, der diesen 1933 in die staatsrechtliche Literatur einführte. Vgl.: G. Anschütz/R. Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 11, S.221. 335 H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtssetzung gehörende Akte der Legislative, S.22 und 24, grenzt zutreffend gegenüber Akten parlamentarischer Unterorgane ab. 336 BVerwGE 12, 16 (20); B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.76 Rn.1; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.738; J. Kratzer, Parlamentsbeschlüsse, ihre Wirkung und Überprüfung, BayVBI. 1966,365 (367); H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, ArtA2 Rn.13; E. Kern, Bundestag und Bundesregierung, MDR 1950, 655 (656); K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.l; K. Arendt, Der parlamentarische Vorbehalt in der Praxis des Wirtschaftsrates. Ein Beitrag zur Frage des schlichten Parlamentsbeschlusses, DRiZ 1949, 29 (30); E.-W. Böckenförde, Der Honnef - Fall, JuS 1968,375 (376); F. Klein, Zur Anwendbarkeit der gemeinsamen Entschließung vom 17.5.1992 auf den Grundlagenvertrag in: Festschrift für W. Weber, 105 (112); ders. Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen, - BVerwGE 12, 16, JuS 1964,181 (185); H.-W. Meier, Zitier und Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem, S.l04; i.E.: P. Lerche, Bundestagsbeschlüsse ohne Gesetzesbefehl über Subventionen, NJW 1961, 1758 (1759); S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.173; H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (67 u. 70 f.). 337 H. Schmetter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.28; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.173. 338 E.-W. Böckenförde, Der Honnef - Fall, JuS 1968,375 (376); H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.42 Rn.13, nimmt lediglich bei Inanspruchnahme bestimmter verfassungsrechtlicher Kompetenzen keinen schlichten Parlamentsbeschluß an, beruft sich hierbei aber auf Autoren, die diese Ansicht nicht vertreten.
C. Regelungsfonnen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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wird dieser auf den umfangreichen Bereich der Selbstorganisation ausgerichteten Bearbeitung nicht zugrunde gelegt.339 Abweichend von diesen Begriffsauffassungen verstehen einige Autoren unter "schlichten Parlamentsbeschlüssen" solche, die keinerlei rechtliche Wirkung besitzen.340 Abgesehen davon, daß dieses keineswegs die allgemeine Ansicht der Staatsrechtswissenschaft ist, wie teilweise behauptet wird,341 würde sich für ein solches Begriffsverständnis die Bezeichnung als "unverbindlicher Parlamentsbeschluß" anbieten. Der Topos des schlichten Parlamentsbeschlusses ergibt sich vielmehr aus der negativen Abgrenzung gegenüber den speziellen Beschlüssen, die das Parlament im Zusammenhang mit dem förmlichen Gesetzgebungsverfahren erläßt.342 Hier wird unter einem schlichten Parlamentsbeschluß ein Hoheitsakt des Parlaments verstanden, der weder im Gesetzgebungsverfahren erlassen worden ist, noch eine Normierung der Geschäftsordnung darstellt. Der Begriff des schlichten Parlamentsbeschlusses wird oftmals deckungsgleich mit
339 Auch die vereinzelt anzutreffende Abgrenzung von einem rein innerparlamentarischen Rechtsakt führt zu einer nicht notwendi~en Einengung und zu undeutlichen Konturen des Begriffsinhaltes. Dieses resultiert aus dem Umstand, daß eine strikte Separierung rein innerparlamentarischer Angelegenheiten unmöglich ist. Dieses wurde bereits im Rahmen der Bestimmung gesetzgeberischer Kompetenzen auf Seite 82 ff. dargelegt. Vertreten wird die Begrenzung auf nicht innerparlamentarische Rechtsakte von N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.738. 340 Ohne Begründung für ihre abweichende Auffassung: LA. Verstyl in: v. Münch, GG Kommentar, Art.42 Rn.16; v. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.42 Rn31.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 26 11 2 b, nimmt völlig unzutreffend F. Klein, H. Schmelter und S. Magiera für seine Rechtsansicht in Anspruch. Zu deren gegensätzlichen Auffassung vgl.: F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (184); H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.21 f.; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.172 f. 341 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 26 11 2 b.
342 H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtssetzung gehörende Akte der Legislative, S.22; H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (66 f.); vgl.: S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.212. In diesem Zusammenhang fmdet sich in den einschlägigen Abhandlungen immer wieder die Zitierung der außergewöhnlichen Fonnulierung von K. Obennayer, Grundzüge des Verwaltungsrechts und des Verwaltungsprozeßrechts, 1. Aufl. 1964, S.22: "Das parlamentarische Beschlußverfahren kennt nicht die umständliche Solennität des Gesetzgebungsverfahrens".
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
dem des einfachen Parlamentsbeschlusses gebraucht343• Zwischen diesen Begriffen wird auch hier nicht differenziert.
2. Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse Die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ist mit der Suche nach ihren Rechtsgrundlagen verbunden. Zunächst gilt es jedoch zu klären, inwieweit diese Beschlüsse überhaupt einer Rechtsgrundlage bedürfen. Hiermit ist die Tür zu dem verfassungsrechtlichen Grundproblem der Notwendigkeit der Begründung aller staatlicher Machtausübung aufgestoßen. a) Notwendigkeit der Rückführung aller staatlicher Machtausübung Normativer Ausgangspunkt der Klärung der soeben aufgeworfenen Frage ist das in Art.20 Abs.2 GG festgelegte Prinzip der Volkssouveränität. 344 Abweichend von den meisten anderen Bestandteilen des Art.20 GG ist die Volkssouveränität nicht nur im "Grundsatz", sondern als Vollregelung verankert. 345 Diese exponierte Stellung ist aus dem Erfahrungshorizont der konstitutionellen Regierungssysteme verständlich. Diese gingen von der bestehenden Machtüberlegenheit des Monarchen aus und erkannten dies~ als
343 F. Klein, Zur Anwendbarkeit der gemeinsamen Entschließung vom 17.5.1992 auf den Grundlagenvertrag in: Festschrift für W. Weber 105 (110); ders. Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVerwGE 12 (16), JuS 1964, 181 (184); S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.173; H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (70); H. Schmelter, Rechtschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.22; anders jedoch: H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.42 Rn.13, der nur insoweit von einem schlichten Parlamentsbeschluß spricht, als "nicht bestimmte verfassungsrechtliche Kompetenzen in Anspruch genommen werden". Der Tätigkeit des Bundestages liegen aber reselmäßig verfassungsrechtliche Kompetenzen zugrunde, so daß diese Eingrenzung rucht zu überzeugen vermag. 344 K. Ipsen, Die Richterwahl in Bund und Ländern, DÖV 1971, 469 (474); B. Pieroth in: Jarass/Pier?th, ~rundgesetz für die Bundesrepub~ Deutschland, Art.20 Rn.4; E.-W. Bockenforde, Staat, Verfassung, DemokratIe, S.291; K.G. Wernicke in: Bonner Kommentar, Art.20 Anm. 11 2; vgl. zum Ursprung dieser Idee im Hochmittelaiter: R. Herzog in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.20 Rn34. 345 R. Herzog in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.20 Rn33.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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weithin prae- und extrakonstitutionell an. 346 Nur die Grenzen der monarchischen Macht wurden in den Verfassungen niedergelegt.347 Diese Grenzziehung fand ihre konkrete Ausformung in der Herrschaft des Volkes über die Gesetzgebung, denn dort, wo die Gesetzgebungskompetenz endete, bestand das Recht des Monarchen bis auf unmittelbare Verfassungsvorgaben unbegrenzt. 348 Durch Art.20 Abs.2 S.l GG wird im Gegensatz zur konstitutionellen Monarchie eindeutig festgelegt, daß die Staatsgewalt nur vom Volk ausgehen darf und andere Legitimationsquellen ausgeschlossen sind. Damit ist die verfassungsgebende Gewalt des Volkes anerkannt,349 wobei hierdurch keinesfalls unmittelbare Machtausübung gefordert wird?50 Eine demokratische Rückbindung der Staatsgewalt kann auch in der Form einer ununterbrochenen Legitimationskette erfolgen,351 wie es beispielsweise bei den vom Parlament als dem unmittelbar vom Staatsvolk gewählten obersten Verfassungsorgan352 festgelegten Gesetzen der Fall ist. Hieraus ergibt sich, daß auch das Handeln des Parlaments in der Form von schlichten Parlamentsbeschlüssen einer demokratischen Legitimation in Form einer Rechtsgrundlage bedarf.353 346 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.33; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.73; D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S.89 f. 347 S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.73. 348 C. Bornhak, Preußisches Staatsrecht, 1.Band, S.458 f.; P. Laband, deutsches Reichsstaatsrecht, S.57; A. v. Kirchenheim, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, S.185 f.; K. v. Stengel, Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts, S.158; D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S.89; F.E. Schnapp, Der Verwaltungsvorbehalt, VVdStRl 43 (1985), 172 (178). 349 B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.4. 350 BVerfGE 77, 1 (40); siehe auch Wortlaut des Art.20 Abs.2 S.2 GG worin Wahlen als mittelbares Legitimationsmittel genannt werden. 351 BVerfGE 47, 253 (275); 77,1 (40); B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.8; F.E. Schnapp in: v. Münch, GGKommentar, Art.20 Rn.30; J. Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, S.91. Weiter differenzierend: E.-W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S.300 ff. 352 Siehe zur Stellung des Parlaments oben Seite 50. 353 S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.213; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.742; vgl.: v. Mangold/ Klein/AchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.53.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
b) Fehlen einer einheitlichen Rechtsgrundlage Eine umfassende, einheitliche Rechtsgrundlage aller schlichten Parlamentsbeschlüsse ist nicht ersichtlich. Es finden sich vielmehr verschiedene Rechtsquellen, aus denen sich die Möglichkeit zum Erlaß solcher Beschlüsse ergibt. In Betracht kommen zunächst Vorschriften des Grundgesetzes, formeller Gesetze oder der Geschäftsordnung des Bundestages. c) Ermächtigung durch Verfassungsvorschriften Das Grundgesetz spricht lediglich in Art.42 Abs.2 S.l ausdrücklich von einem Beschluß des Bundestages. Es enthält aber eine Vielzahl differenzierter Ermächtigungen zum Erlaß schlichter Parlamentsbeschlüsse?54 Teilweise entscheidet der Bundestag allein,355 bei anderen Beschlüssen besteht eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit weiteren Verfassungsorganen.356 Oftmals findet die Beschlußfassung im Rahmen eines Berufungsoder Wahlverfahrens statt?57 Wird der Bundestag zur Abgabe von Stellungnahmen aufgefordert, wie dies aufgrund des neu eingefügten Art.23 Abs.3 S.l GG der Fall sein kann, dienen diese Aufforderungen Informationszwecken und der Ermöglichung effektiver Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsorganen. Der überwiegende Teil dieser Beschlüsse betrifft nicht den Bereich der parlamentarischen Eigenorganisation. Soweit dies aber der Fall ist,358 finden die auf diese Ermächtigungen gestützen Bundestagsbeschlüsse ihre Rechtsgrundlage unmittelbar in der Verfassung. Für den Fall einer solchen Ermächtigung durch Normen des Grundgesetzes ergibt sich die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse unmittelbar aus diesen Vorschriften. 354 Siehe: Art.17; 23 Abs.3 S.l; 39 Abs.3 S.1; 40 Abs.l S.l und S.2; 41 Abs.1; 42 Abs.1 S.2; 43 Abs.l; 44 Abs.1 S.l; 45a Abs.l; 45b; 46 Abs.2, Abs.3 und Abs.4; 53a Abs.1 S.2; 60 Abs.4; 61 Abs.l; 63 Abs.l; 66; 67 Abs.l S.l; 68 Abs.1 S.2; 80aAbs.1 S.1; 87 Abs.3 S.2; 87a Abs.4 S.2; 94 Abs.1 S.2; 95 Abs.2; 115a Abs.1 S.1 GG. 355 Z.B.: Art.17; 23 Abs.3 S.l; 40 Abs.1 S.1 und S.2; 41 Abs.l; 42 Abs.1 S.2; 44 Abs.1 S.l; 46 Abs.2, 3 und 4 GG. 356 Z.B.: Art.87 Abs.3 S.2; 115 Abs.l S.1 GG. 357 Siehe: Art.40 Abs.1 S.1; 45b; 53a Abs.1 S.2; 63 Abs.l; 67 Abs.l S.1; 68 Abs.1 S.2; 94 Abs.l S.2; 95 Abs.2 GG. 358 Anzuführen sind die Beschlüsse aufgrund der Art.40 Abs.l S.l; 42 Abs.l S.2, Abs.2 S.1; 44 Abs.l S.l; 45a Abs.l; 46 Abs.2 und Abs.3 GG.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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d) Formelle Gesetze als Rechtsgrundlage Eine Rechtsgrundlage schlichter Parlamentsbeschlüsse kann sich auch aus formellen Gesetzen ergeben?59 Beispielhaft seien die über die Ermächtigung des Art.93 GG hinausgehenden Vorschriften des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht genannt. So besteht gemäß § 65 Abs.l BVerfGG die Beitrittsmöglichkeit des Parlaments zu einem Organstreitverfahren, worauf ein entsprechender Bundestagsbeschluß gestützt werden kann. Auch die Entscheidung, ob das Äußerungsrecht im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle gemäß § 77 BVerfGG vom Bundestag wahrgenommen wird, kann durch Parlamentsbeschluß erfolgen. Darüber hinaus sind die Vorschriften der §§ 83 Abs.2; 85 Abs.2 BVerfGG anzuführen, aus denen sich ebenfalls eine solche Ermächtigung ergibt. Diese Beschlüsse behandeln aber in den seltensten Fällen Materien mit Bezug zur Eigenorganisation des Parlaments, da die förmlichen Gesetze durch Zusammenwirken mehrerer oberster Verfassungsorgane entstehen360 und dem Bundestag durch Art.40 Abs.l S.2 GG die Regelung seiner Angelegenheiten durch die Einräumung der Kompetenz zum Erlaß der Geschäftsordnung überantwortet worden ist. Eine Ermächtigung zum Erlaß ausschließlich eigenorganisatorischer Beschlüsse durch ein förmliches Gesetz käme einem freiwilligen Kompetenzverzicht des Parlaments während des Gesetzgebungsverfahrens gleich, der wohl nicht ohne das Vorliegen anderer gewichtiger Gründe erfolgen wird. Für den Bereich der Selbstorganisation besitzen schlichte Parlamentsbeschlüsse, deren Rechtsgrundlage sich in formellen Gesetzen findet, nur untergeordnete Bedeutung. Darüber hinaus unterliegt die Ermächtigung zum Erlaß schlichter Parlamentsbeschlüsse durch ein förmliches Gesetz der Grenze der gesetzgeberischen Zuständigkeit..Nur wenn der Gesetzgeber zuständig ist, was sich den Vorschriften des Grundgesetzes entnehmen läßt, ist eine Rückführung der Staatsgewalt auf das Staatsvolk durch eine ununterbrochene Legitimationskette möglich. Dies ändert nichts an der grundsätzlichen Zulässigkeit sol359 Eine Zusammenstellung mehrerer Beispiele findet sich bei: N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.739; H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.30 f. 360 Die Bundesregierung kann gemäß Art.76 Abs.l GG beteiligt sein. Die Mitwirkung des Bundesrats ergibt sich aus Art.77 ff. GG und des Bundespräsidenten aus Art.82 GG. 7 Kühnreich
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
cher Beschlüsse, sondern zeigt die Grenzen der förmlichen Gesetze als diesbezügliche Rechtsgrundlagen auf. e) Die Geschäftsordnung des Bundestages als rechtliche Basis Einige Rechtsgrundlagen einfacher Parlamentsbeschlüsse finden sich in der Geschäftsordnung des Bundestages.361 Da sich das Parlament diese Kodifikation zur Regelung eigener Angelegenheiten selbst gibt, enthalten diese Beschlüsse auch selbstorganisatorische Willensäußerungen des Bundestages.362 Besonders deutlich wird dies an dem Beispiel eines Bundestagsbeschlusses gemäß § 39 S.3 GeschO BT, den das Parlament bei einem Einspruch gegen einen Ordnungsruf oder den Ausschluß von Plenarverhandlungen erläßt. Andere Vorschriften der GeschO BT wiederholen lediglich bereits im Verfassungstext befindliche Rechtsgrundlagen und besitzen insofern keine eigenständige Bedeutung?63 Zusammenfassend ergibt sich das Resultat, daß ein Großteil der selbstorganisatorischen Beschlüsse des Parlaments auf Normen der Geschäftsordnung gestützt werden können. Die Geschäftsordnung des Bundestages stellt eine ausreichende Rechtsgrundlage für die einfachen Parlamentsbeschlüsse dar, da sie ihre verfassungsrechtliche Absicherung unmittelbar in Art.40 Abs.l S.2 GG findet. Aus Gründen der Funktionalität muß dem Bundestag das Recht zustehen, in diesem durch die Ermächtigung getragenen Rahmen umfassend tätig zu werden. Wäre dies nicht der Fall, müßte das Parlament erschöpfende Regelungen in der Form der kodifizierten Geschäftsordnung erlassen. Durch eine solche Verpflichtung würde der Funktionsfähigkeit des Bundestages unter Berücksichtigung der Notwendigkeit flexiblen Handelns nicht ausreichend Rechnung getragen, denn effektives parlamentarisches Handeln bedarf im Einzelfall nicht normierter Regelungsformen. Verfassungsrechtliche 361 §§ 2 Abs.1; 3 Abs.1; 10 Abs.1 S.2; 19 S.2; 20 Abs.3 S.2; 21 Abs.2, Abs.3; 22 S.2; 25 Abs.2 S.l; 26; 39 S.3; 42; 50 Abs.2, Abs.3, Abs.4; 54 Abs.1 S.1; 56 Abs.1 S.l; 80 Abs.1 S.1, Abs.2 S.l, Abs.4 S.2, S.4; 88 Abs.1 S.1, S.2, Abs.2 S.l; 89; 91 S.1; 95 Abs.3; 126 GeschO BT. 362 §§ 3 Abs.1; 19 S.2; 20 Abs.3 S.2; 21 Abs.2, Abs.3; 22 S.2; 25 Abs.2 S.l; 26; 54 Abs.1 S.1; 78 Abs.1; 80 Abs.1 S.l, Abs.2 S.2, S.4; 81 Abs.1, Abs.2 S.2, Abs.3, Abs.4; 86 S.l GeschO BT. 363 §§ 19 S.2; 21 Abs.3; 42; 98 Abs.1 GeschO BT. Bezüglich der erneuten Nennung des Rederechts der Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates siehe § 43 GeschO BT.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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Bedenken gegen die Funktion geschäftsordnungsrechtlicher Normen als Rechtsgrundlagen schlichter Parlamentsbeschlüsse bestehen daher nicht, so daß die hierauf gestützten Beschlüsse grundsätzlich zulässig sind. Daß die einfachen Parlamentsbeschlüsse, die auf Vorschriften der Geschäftsordnung gestützt werden, keine über den innerparlamentarischen Bereich hinausgehende Wirkung entfalten können, ergibt sich aus der beschränkten Wirkungsmöglichkeit der Geschäftsordnung selbst.364 Über den inneren Bereich hinausgehende schlichte Parlamentsbeschlüsse können nicht durch die Vorschrift des Art.40 Abs.l S.2 GG demokratisch legitimiert werden, da insofern keine Legitimationskette der Staatsgewalt existieren kann. Da die Vorschriften der Geschäftsordnung der Diskontinuität unterliegen365 und grundsätzlich ihre Wirkung mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages erlischt, vermögen diese Vorschriften auch keine dauerhafte Rechtsgrundlage für solche Beschlüsse zu bieten. Das gesamte auf die Geschäftsordnung gestützte autonome Parlamentsrecht unterliegt den gleichen rechtlichen Schranken wie die Geschäftsordnung selbst und verliert mit dem Ende der Wahlperiode seine Geltung.366 Da die Geschäftsordnung des Bundestages in der Regel übernommen wird367 und demzufolge entsprechende Rechtsgrundlagen weiterhin existieren, ist es möglich, daß der Bundestag die auf solche Ermächtigungen gestützten Beschlüsse des Parlaments der vorherigen Wahlperiode übernimmt. 368 Dies kann, wie auch bei der Übernahme der Geschäftsordnung selbst, ausdrücklich als auch konkludent geschehen.
364 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.741. Zur beschränkten Wirkung siehe oben auf Seite 74 ff. 365 Vgl. oben auf Seite 69 ff. 366 K.F. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.130. 367 Zur Praxis der Übernahme siehe die Nachweise auf Seite 68. 368 Eine solche Übernahme wird im Zusammenhang mit Beschlüssen des ersten und zweiten Bundestages zur Hauptstadtfrage diskutiert. Siehe hierzu: U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands?, ZParl1990, 505 (510 f.).
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
t) Bundestagsbeschlüsse ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage in Verfassungsnormen, förmlichen Gesetzen oder Geschäftsordnungsvorschriften Über die soeben aufgezählten Beschlüsse hinaus, die auf ausdrückliche Normierungen der Verfassung, förmliche Gesetze oder die Geschäftsordnung des Bundestages gestützt werden können, sind in der Parlamentspraxis jene schlichten Parlamentsbeschlüsse von erheblicher Bedeutung, die keine explizite Normierung als rechtliches Fundament besitzen.
aa) Entschließungen als spezielle schlichte Parlamentsbeschlüsse Schlichte Parlamentsbeschlüsse ohne ausdrücklich normierte Rechtsgrundlage können als Entschließungen bezeichnet werden,369 wobei diese Begrifflichkeit nicht mißverstanden werden darf, denn unter die in Frage stehenden Beschlüsse fallen keineswegs nur die im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahren anfallenden Entschließungsanträge im Sinne von §§ 75 Abs.2 Buchstabe c, 88 Abs.l GeschO BT. Auch andere Begriffe wie Resolutionen37o, parlamentarische Programmbeschlüsse371 und die Bezeichnung als Manifestationen des politischen Willens372 werden in diesem Sinne gebraucht. Sie haben jedoch noch keine umfassende Anerkennung in der 369 So der Wortgebrauch des Bundesverfassungsgerichts im sogenannten "Somaliabeschluß", BVerfGE 89, 38 (46 f.). Ausdrücklich: E. Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVdStRl 12 (1953), 179 (195); K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.15; H.-W. Meier, Zitier- und Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem, S.104; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.74O; vgl. auch: H. Schneider, Aussprache, VVdStRl 12 (1953), S.248; anders: F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1322), der unter Entschließungen "Beschlüsse ohne Regelungswirkung" versteht. 370 H.-W. Meier, Zitier- und Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem, S.104; F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (183); K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.15. 371 H. Schneider, Aussprache, VVdStRl12 (1953), 248. 372 E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVdStRl16 (1958),9 (36); F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (183); H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.32; vgl.: J.-D. Kühne, Replik i.S. Hauptstadt: Nicht nur Papier und Sonntagsreden, ZParl 1990, 515 (519); H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (90).
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Rechtslehre gefunden und besitzen zumeist lediglich beschreibenden Charakter für Teilgruppen der schlichten Parlamentsbeschlüsse ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage. bb) Umfassender Anwendungsbereich Entschließungen erscheinen oftmals als Aufforderungen oder Ersuchen an die Bundesregierung, können jedoch auch weitere Staatsorgane als Empfänger besitzen, oder sogar an andere Staaten gerichtet sein. Für diese Tätigkeit des Bundestages lassen sich unzählige Beispiele aus nahezu jeglichem Themenkreis anführen. Eine inhaltlich umfassende Aufführung mit thematisch weit ausgreifenden Beispielen wurde schon an anderer Stelle geleistet, so daß hier lediglich auf diese Arbeiten verwiesen wird.373 Für diese Untersuchung von besonderem Interesse ist dagegen der Befund, daß solche Entschlüsse des Bundestages zu Teilen auch selbstorganisatorischen Bezug besitzen. Beispielhaft sei der bereits oben angesprochene Beschluß zur Festlegung Berlins als Sitz des Bundestages angeführt.374 Dieser wurde mit Empfehlungen und Erwartungen gegenüber anderen Bundesorganen verbunden,375 so daß dieser Beschluß ein Beispiel für die Vermischung zwischen eigenorganisatorischen und fremden Kompetenzbereichen bietet. Größere Bedeutung für diese Untersuchung besitzen auch die Beschlüsse des Bundestages, durch die dieser seine Position zur Frage der Deutschen Hauptstadt festlegte. Diese Entschließungen fmden sich in der
373 Beachte in diesem Zusammenhang die differenzierte und aktuelle Bestandsaufnahme der Beschlußinhalte bei: H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (73 ff.). Darüber hinaus fmden sich auch noch umfangreichen Aufzählungen bei: N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.740, K.-F. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.18-22; H. Schmelter, Rechtschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.26 ff. 374 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/815. 375 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12 /815; Nr.3 bezüglich der geäußerten Etwartung gegenüber der Bundesregierung; Nr.8 bezüglich des vermuteten zukünftigen Verhaltens des Bundespräsidenten und Nr.9 bezüglich der an den Bundesrat gerichteten Empfehlung.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Parlamentspraxis des Bundestages während mehrerer Wahlperioden. 376 Zur Verdeutlichung seien lediglich einige exemplarisch aufgeführt.
Das Parlament faßte bereits in der ersten Wahlperiode folgende Entschließung: Der Bundestag bekennt sich zu Berlin als dem demokratischen Vorposten Deutschlands. Er erklärt feierlich vor aller Welt, daß nach dem Willen des deutschen Volkes Groß-Berlin Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland und in Zukunft wieder ihre Hauptstadt werden soll.377 In der zweiten Wahlperiode stellte der Bundestag grundsätzlich fest: Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands.378 In der vierten Wahlperiode beschloß das Parlament: Die Bundesregierung wird ersucht, 1. gemeinsam mit dem Berliner Senat und den Regierungen der anderen Länder in der Bundesrepublik dafür zu sorgen, daß Berlin eine der geistigen und kulturellen Metropolen der freien Welt bleibt, seine Aufgaben als Hauptstadt Deutschlands erfüllen ...kann ...379
Aus diesen Beispielen ergibt sich die Relevanz der schlichten Parlamentsbeschlüsse ohne ausdrückliche normative Grundlage für den selbstorganisatorischen Bereich des Bundestages und die Hauptstadtfrage in ihrer Gesamtheit.
376 Umfangreiche Nachweise finden sich in der Dokumentation zur Hauptstadtfrage in: JR 1991, 1 ff. und in der vom wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages 1991 herausgegebenen Dokumentation: Hauptstadt Berlin in Anträgen und Entschließungen des Deutschen Bundestages (1-11. Wahlperiode); Reg-Nummer WF 11 - 64/90. 377 BT-PlPr. 1. WP. / 1. Sitzung v. 30.9.1949 S.244 (B) LV.m. BT-Drucksache 1 / 3 v. 07.09.1949. 378 BT-Drucksache 2 / 3116 v. 11.12.1956; hierzu: BT-PlPr. 2. WP. / 190. Sitzung v. 06.02.1957 / S.10809. 379 BT-PlPr. 4. WP. / 20. Sitzung 15.03.1962 / S.757, Beschlußtext veröffentlicht a.a.O. als Anlage 3 vom 14.03.1962.
C. Regelungsfonnen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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cc) Mängel der Diskussion um die Zulässigkeit Die von der Literatur geführte Diskussion um die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage ist durch Unschärfen gekennzeichnet. So wird teilweise eine Differenzierung zwischen der generellen Zulässigkeit von Entschließungen und deren Grenzen unterlassen.38o Dies führt zu der Schlußfolgerung, daß ein die verfassungsrechtlichen Grenzen überschreitender Beschluß die Unzulässigkeit der Gesamtheit dieser einfachen Parlamentsbeschlüsse begründen kann. Solche aus dem Einzelfall abgeleiteten Folgerungen vermögen jedoch keine überzeugende Grundlage für die Problematik der prinzipiellen Zulässigkeit parlamentarischer Entschließungen oder gar aller schlichten Parlamentsbeschlüsse zu bieten, so daß zunächst die Frage der generellen Zulässigkeit von Entschließungen zu erörtern ist. Eine weitere Ungenauigkeit ergibt sich aus der fehlenden Differenzierung zwischen der Zulässigkeit und der hiervon zu trennenden Frage der Verbindlichkeit solcher Beschlüsse.381 Hierbei muß jedoch die Gefahr eines Zirkelschlusses berücksichtigt werden, wonach schlichte Parlamentsbeschlüsse deshalb zulässig erscheinen, weil sie angeblich rechtlich unverbindlich sind und umgekehrt ihre rechtliche Unverbindlichkeit angenommen wird, weil sie vermeintlich unbeschränkt zulässig sind.382 Demzufolge wird die Frage nach der generellen Zulässigkeit der Entschließungen streng von der Bestimmung ihrer Grenzen separiert. Die
380 Vgl. die Analyse von: K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.23 f.; siehe zusätzlich daß zu der Frage der allgemeinen Zulässigkeit parlamentarischer Entschließungen dargestellte Meinungsspektrum bei: F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVetwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (186 ff.), in dem Ansichten aufgeführt sind, die lediglich spezielle Grenzziehungen beinhalten. 381 So unterstellen W. Grewe, Schlußwort, VVdStRl 12 (1954), S.259 f. und H. Schneider, Diskussion, VVdStRl 12 (1954), S.248, die allgemeine Zulässigkeit und begründen dies mit der fehlenden Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse. Besonders deutlich wird dieser Mangel auch bei J. Linck, Zulässigkeit und Grenzen der Einflußnahme des Bundestages auf die Regierungsentscheidungen, der bei der Meinungsdarstellung lediglich von "Stellungnahmen gegen eine rechtliche Einflußnahme des Bundestages durch schlichten Parlamentsbeschluß" spricht. Zur Notwendigkeit dieser Differenzierung: N. Achterberg, Parlamentsrecht S.741; E.-W. Böckenförde, Der Honnef - Fall, JuS 1968,375 (376). 382 S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.213.
1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Grenzziehung bedarf differenzierter Erörterungen, so daß eine Vermischung mit der Frage der generellen Zulässigkeit parlamentarischer Entschließungen das Ziel einer klaren Darstellung konterkarierte. Auch werden Zulässigkeit und Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage voneinander getrennt beurteilt.
dd) Bestimmung der Rechtsgrundlage Wie oben dargelegt bedarf gemäß Art.20 Abs.2 S.l GG jedes staatliche Hoheitshandeln einer demokratischen Legitimation in der Form einer Rückführung auf das vom Staatsvolk selbst gesetzte Recht. 383 Allein aufgrund der Tatsache, daß die Entschließungen des Bundestages in der Staatspraxis großes Gewicht besitzen,384 kann noch nicht auf deren Zulässigkeit geschlossen werden.385 Darüber hinaus entfallen Rechtssätze des Verfassungsgewohnheitsrechts als normative Grundlage, da diese gerade keine ausdrückliche Normierung darstellen. Die grundgesetzliche Funktionentrennung und im speziellen die Funktionenverschränkung als System der Balance stellen keine hinreichende Rechtsgrundlage dar.386 Aus einem solch globalen Hinweis können keine konkreten Folgerungen für das Handeln von Staatsorganen abgeleitet werden, so daß kein hinreichender Determinationsstrang für die durch die Volkssouveränität gestellten Anforderungen existiert. 383 Siehe hierzu die Ausführungen auf Seite 94 f.
384 H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.32; F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (184); F. Hufen, Entscheidungen über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1323); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.739; K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.16. 385 W. Grewe, Aussprache, VVdStRl12 (1954), 260; so wohl aber im Ergebnis: H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislative, S.31 ff.; F. Hufen, Entscheidungen über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1322), bei denen sich umfangreiche Ausführungen zur Bedeutung von Entschließungen finden, die auf die Frage der Zulässigkeit solcher Beschlüsse jedoch nicht eingehen oder diese nicht weiter begründen. 386 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.742; vgl. auch: E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modemen Staat, VVdStRl16 (1958), 9 (37).
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Auch der Versuch, eine hinreichende Rechtsgrundlage in der These zu erblicken, daß die Staatsleitung Parlament und Regierung zur gesamten Hand zustehe,387 scheitert an der fehlenden normativen Anbindung. 388 Erst recht unterliegt der Hinweis auf eine fortschreitende Demokratisierungstende~9 dem Mangel der Ungenauigkeit und fehlender Ableitung zum manifestierten Volkswillen. Mehr Überzeugungskraft besitzt der Vorschlag von N. Achterberg, der die Zulässigkeit zum Erlaß schlichter Parlamentsbeschlüsse aus der institutionellen Ausformung des Parlaments folgert. 390 Er beschränkt sich dann jedoch, ohne daß einen Nachweis bestimmter Verfassungsnormen erfolgt, auf den Hinweis, daß das Parlament als Organ der Kontrolle und Kreation sich solcher Beschlüsse bedienen können muß.391 Dies überzeugt uneingeschränkt nur hinsichtlich der Rolle als Kreationsorgan, denn Kontrolle wird grundsätzlich nicht durch Entschließungen des Parlaments, sondern vielmehr durch die Inanspruchnahme des Fragerechts und der Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse ausgeübt. 392 Insbesondere gilt es zu berücksichtigen, daß aus dem in Art.43 Abs.l GG normierten Recht des Bundestages die Anwesenheit der Regierung zu verlangen, ebenfalls die Befugnis erwächst, Anfragen an diese zu stellen und damit die korrespondierende Pflicht zur Antworterteilung verbunden ist.393 Beschlüsse, die im Rahmen der Wahrnehmung dieser Kontrollfunktion getroffen werden, finden ihre Rechtsgrundlage unmittelbar in der Verfassung und sind daher keine Entschließungen.
387 E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modemen Staat, VVdStRl16 (1958), 9 (37 f.); vgl.: K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.58. 388 So fordert K.-U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S.385, eine Bezugnahme auf grundlegende Verfassungsprinzipien. 389 E. Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVdStRl 12 (1954), 179 (187). 390 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.743. 391 N. Achterberg, a.a.O. 392 Kritisch auch zur Subsumtion von Kritikmöglichkeit unter den Begriff der Kontrolle: K.-U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S.385. 393 BVerfGE 13, 123 (125); LA. Verstyl in: v. Münch, GG Kommentar, Art.43 Rn.l; M. Schröder in: Bonner Kommentar, Art.43 Rn.43a; B. Pieroth in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.43 Rn.2; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.43 Rn.3; aA. H.-W. Meier, Zitierund Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem, S.l48.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Einzelne Autoren verweisen zur Begründung auf den von der Verfassung geforderten offenen und gegliederten Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß unter den Verfassungsorganen.394 Jedoch bedarf auch diese Aussage der weiterer Konkretisierung in Form der normativen verfassungsrechtlichen Anbindung. Besonders deutlich wird dieser gegliederte Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß an der in Art.43 Abs.2 S.l GG getroffenen Regelung. Hierdurch werden zunächst die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung mit eigenen Informationsrechten ausgestattet. Unter Anwendung der grammatikalischen Auslegung ist dieser Norm keine Berechtigung des Bundestages unmittelbar zu entnehmen. Jedoch gilt es zu berücksichtigen, daß sich Art.43 GG im dritten Abschnitt des Grundgesetzes befindet, welcher die Hauptgruppe der den Bundestag betreffenden Regelungen beinhaltet, so daß eine Berechtigung des Parlaments unter systematischen Erwägungen nicht fern liegt. Aufgrund der teleologische Auslegung des Art.43 Abs.2 S.l GG ergibt sich eine Kompetenz des Bundestages zum Erlaß schlichter Parlamentsbeschlüsse, denn wenn der Bundesrat, die Bundesregierung und ihre Beauftragten ein Recht auf Information besitzen, muß es auch dem Parlament gestattet sein, seine Ansicht zu manifestieren. Das Informationsrecht von Bundesrat und Bundesregierung erlangt erst starkes Gewicht, soweit dem Bundestag ein Mittel zur Meinungsäußerung zusteht. Das probate Mittel der Meinungsfestlegung und -äußerung des Parlaments395 ist der Parlamentsbeschluß, so daß sich die Notwendigkeit der Möglichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ohne ausdrückliche Ermächtigung, aus dem Sinn und Zweck von Art.43 Abs.2 S.l GG ergibt. Neben Art.43 Abs.2 S.l GG existieren weitere Vorschriften.des Grundgesetzes, aus denen die Offenheit der Verfassung für Artikulationen des Bundestages oder Teilen von ihm ableitet werden kann. Zu nennen ist zunächst Art.42 Abs.1 S.l GG, wonach der Bundestag öffentlich verhandelt, 394 S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.214; M. Obermeier, die schlichten Parlamentsbeschlüsse, S.137 f.; H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (69); T. Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem GG, S.87 führt treffend für den speziellen Fall der schlichten Mißbilligungsbeschlüsse des Bundestages gegenüber der Bundesregierung aus, daß ohne eine Kompetenz zur Beschlußfassung die Rechte des Bundestages zur Kritik der Bundesregierung beschnitten wären. 395 Auf diese Funktion weist auch H.H. Klein in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 40 Rn.12 hin.
C. Regelungsfonnen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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die Meinungen der Abgeordneten also nach außen dringen sollen.396 Dieses Recht wird umfassend garantiert, was sich durch die Erstreckung des Schutzes auf wahrheitsgetreue Berichte gemäß Art.43 Abs.3 GG ergibt. Das gilt gemäß Art.44 Abs.1 S.l GG auch für die parlamentarischen Unterorgane der Untersuchungsausschüsse, die grundsätzlich öffentlich verhandeln. Daß im parlamentarischen Bereich umfassende Meinungsäußerungen möglich sein sollen, ergibt sich auch aus der in Art.46 Abs.1 S.l GG garantierten Indemnität der Bundestagsabgeordneten. Dem Bundestag als Kollegialorgan wird durch Art.23 Abs.3 S.l GG ausdrücklich die Gelegenheit zu Stellungnahmen in Angelegenheiten der europäischen Union eingeräumt. Die so geäußerte Ansicht hat die Bundesregierung gemäß Art.23 Abs.3 S.2 GG bei der Durchführung der betreffenden Verhandlungen zu berücksichtigen. Ergibt bereits die Zusammenschau der soeben genannten Normen die positive Einstellung des Verfassungsgebers zu einem umfangreichen Artikulationsrecht des Bundestages und seiner Untergliederungen, so wird dieses Ergebnis unter Berücksichtigung der Abhängigkeit der Bundesregierung von dem Bundestag unterstrichen. Gemäß Art.67 Abs.1 S.l GG kann der Bundestag jederzeit dem Bundeskanzler das Mißtrauen durch die Wahl eines Nachfolgers aussprechen. Hiermit dient Art.67 GG der Realisierung der aus der parlamentarischen Verantwortlichkeit folgenden Regierungskontrolle?97 Grundsätzlich besitzt der Bundeskanzler dann kein Vertrauen des Parlaments mehr, wenn sein Handeln nicht der politischen Vorstellung der Abgeordnetenmehrheit entspricht. Gerade die Entschließungen des Parlaments, die unmittelbar an die Regierung gerichtet sind, oder die allgemeinpolitische Vorstellungen zum Ausdruck bringen, dienen aber dazu, daß der Bundeskanzler sein Handeln nach der Vorstellung des Parlaments ausrichten kann. Aus all den soeben aufgezählten Normen ergibt sich der von der Verfassung geforderte offene und gegliederte Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß, so daß diese Vorschriften in ihrer Gesamtheit eine umfassende Rechtsgrundlage für Entschließungen des Parlaments bieten.
396 Zu der Funktion der Öffentlichkeit und der Notwendigkeit ihrer Förderung siehe: W. Zeh, Parlamentsrefonn als Gesetzgebungsrefonn, ZG 1993, 358 ff. 397 H.C.F. Liesegang in: v. Münch, GG Kommentar, Art.67 Rn.l; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.431; D. Jesch, Gesetz und Vetwaltung, S.95.
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3. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse Die Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse kann als die justitiable Pflicht zur Befolgung durch andere Personen verstanden werden. Nicht zum Bereich der Verbindlichkeit gehört damit die Frage nach der Selbstbindung des Parlaments durch eigene Beschlüsse. Auch können Parlamentsbeschlüsse keine Verbindlichkeit besitzen, die nicht adressiert sind also niemandem unmittelbar Pflichten auferlegen. 398 Zu vermeiden ist die Vorstellung, daß mit der rechtlichen Unverbindlichkeit automatisch die Unerheblichkeit staatlicher Maßnahmen verbunden ist, denn sie können großes politisches Gewicht besitzen?99 Die Diskussion um die Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse leidet unter den sich auswirkenden Unschärfen der Auseinandersetzung der Literatur mit der Frage der Zulässigkeit solcher Beschlüsse, auf die bereits oben hingewiesen wurde.4OO Um diese zu vermeiden wird auch an dieser Stelle eine strenge Trennung zwischen der Verbindlichkeit und der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse vorgenommen. In bezug auf die Frage der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse wird die bereits oben eingeführte Einteilung nach Rechtsgrundlagen übernommen.
398 F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (184); zu dieser Unterscheidung vgl.: H. Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtssetzung gehörende Akte der Legislative, S.32; dagegen als überflüssig ablehnend: N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.745. 399 W. Grewe, Schlußwort, VVdStRl 12 (1953), 259 (260); E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modemen Staat, VVdStRl16 (1958), 9 (36); O. Bachof, Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, JZ 1962, 350 (355); U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands?, ZParl1990, 505 (512); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.747; F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (189 f.); S. Magiera, Parlament un~ Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.215; H.P. Ipsen, Öffentliche Subventionierung Privater, DVBl. 1956, 498, K-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.31 f.; V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DÖV 1994, 497 (504). Hierauf wird auch in der Gesetzesbegründung zum Berlin/Bonn-Gesetz hingewiesen; BTDrucksache v. 18.01.1994, 12/6614, S.ll. 400 Vgl. Seite 87.
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a) Verbindlichkeit der schlichten Parlamentsbeschlüsse mit ausdrücklicher Rechtsgrundlage Soweit schlichte Parlamentsbeschlüsse ihre Rechtsgrundlage unmittelbar in der Verfassung finden40l, sind sie auch verbindlich,402 es sei denn, die Verfassung selbst bestimmt Gegenteiliges. So stellte das Bundesverfassungsgericht die Verbindlichkeit des für einen Einsatz von bewaffneten Streitkräften notwendigen Parlamentsbeschlusses ausdrücklich fest.403 Eine Bestimmung der Unverbindlichkeit ist momentan keiner grundgesetzlichen Ermächtigung zu entnehmen. Selbst für den speziellen Beschluß des Art.40 Abs.l S.2 GG, der zum Erlaß der Geschäftsordnung führt und jederzeit durch einen neuen inhaltlich abgeändert werden kann,404 besteht die Verbindlichkeit der Regelung bis zum Erlaß des ablösenden Beschlusses. Ebenso verhält es sich bei Beschlüssen, die aufgrund einer formalgesetzlichen Ermächtigung ergehen.405 Auch sie besitzen Verbindlichkeit,406 soweit ihre Rechtsgrundlage nichts anderes bestimmt. Eine Besonderheit ergibt sich bezüglich der schlichten Parlamentsbeschlüsse, deren rechtliche Grundlagen in Vorschriften der Geschäftsordnung wurzeln. Eine Rechtsverbindlichkeit über den innerparlamentarischen
401 Art.17; 23 Abs3 S.l; 39 Abs3 S.l; 40 Abs.l S.l und S.2; 41 Abs.1; 42 Abs.l S.2; 43 Abs.l; 44 Abs.l S.l; 45a Abs.l; 45b; 46 Abs.2, Abs.3 und Abs.4; 53a Abs.l S.2; 60 Abs.4; 61 Abs.l; 63 Abs.l; 66; 67 Abs.l S.l; 68 Abs.l S.2; 80a Abs.l S.l; 87 Abs3 S.2; 87a Abs.4 S.2; 94 Abs.l S.2; 95 Abs.2; 115a Abs.l S.l GG. 402 F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (185); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.747; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.212, 216; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.103 f. 403 BVerfGE 90, 286 (388). Neben den Vorschriften der Art.45a, 45b und 87a Abs.1 S.2 GG rekurriert das Gericht ausdrücklich auf die deutsche Verfassungstradition ebd. S383 und 387. 404 Vgl. oben auf Seite 72 f. 405 Siehe hierzu Seite 96 ff. 406 F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (185); S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.212, 216; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.747.
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Bereich hinaus besteht nicht,407 denn nur dort ist die Geschäftsordnung verbindlich408 und kann nur insoweit Bindungswirkung transformieren.409 Werden schlichte Parlamentsbeschlüsse mit parlamentsexterner Wirkung unter Berufung auf die Geschäftsordnung des Bundestages erlassen, sind diese nicht nur unverbindlich, sondern darüber hinaus unzulässig. Eine weitere Begrenzung der Verbindlichkeit einfacher Parlamentsbeschlüsse, die als Rechtsgrundlage Normen der Geschäftsordnung besitzen, ergibt sich aus der beschränkten Geltungsdauer dieser Normen, wobei dieses wiederum aus dem Grundsatz der Diskontinuität der parlamentarischen Geschäftsordnung selbst410 resultiert.411 Unverbindlich sind auch Parlamentsbeschlüsse, die in einer vorhergehenden Wahlperiode ergingen, es sei denn sie wurden durch den aktuellen Bundestag bei Fortbestehen der entsprechenden Rechtsgrundlage übernommen. An die Übernahme solcher Beschlüsse können jedoch nur geringe Anforderungen gestellt werden, da unstreitig die Transformation ihrer Rechtsgrundlagen in formeller Hinsicht ungebunden ist.412
b) Verbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen Inwieweit schlichte Parlamentsbeschlüsse ohne ausdrücklich normierte Rechtsgrundlage verbindlich sind, wird nicht einheitlich beurteilt. Besonders, aber nicht ausschließlich im älteren Schrifttum wird eine Pflicht zur
407 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.747; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.212, 216; beachte dort den Vetweis in Fußnote 249 auf allgemeine Ausführungen zum Geschäftsordnungsrecht; i.E.: F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen BVetwGE 12, 16, JuS 1964,181 (186). 408 Siehe hierzu Erläuterungen auf Seite 74 ff. 409 Dieses übersieht F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVetwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (185), der nicht zwischen Ermächtigungen durch Verfassung, Gesetz oder Geschäftsordnung differenziert, a.a.O. 181 (183). 410 Siehe hierzu Ausführungen auf Seite 68 ff. 411 So wohl auch: L. Kißler, Der Deutsche Bundestag, JöR Neue Folge Band 26 (1977),39 (46), wenn er in dem Zeitraum einer Wahlperiode die zeitliche Grenze für das gesamte autonome Parlamentsrecht sieht. 412 Zu den geringen Anforderungen an die Übernahme der Geschäftsordnung durch das nachfolgende Parlament siehe Erläuterungen auf Seite 66 ff.
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Befolgung angenommen413, wohingegen die heute überwiegende Ansicht von der Unverbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen ausgeht.414 Als Lösungsansatz schlägt K.-A. Sellmann vor, die schlichten Parlamentsbeschlüsse in vom Parlament als verbindlich oder unverbindlich gewollte und in objektiv verbindliche oder unverbindliche zu unterteilen.415 413 J. Heckel in: Ansch~tz(fhoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 11, S.406 f.; H.P. Ipsen, Öffentliche Subventionierung Privater, DVBI. 1956, 498 (500); E. Menzel, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVdStRl12 (1953),
179 (196) vgl. dort auch These Nr.2, S.219; K.-U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 386 f.; H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (90 ff.); G. Schulze, Deutschlands Hauptstadt ist Berlin, Deutschland Archiv 1990, 697; mit Bedenken: G. Cronau, Der Haushaltsplan als Ermächtigungsgrundlage für die sozialgestaltende Verwaltung, S.76 (Fn.l); auf bestimmte Beschlüsse beschränkt: K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.67-69, 74-79; F. Klein, Zur Anwendbarkeit der ~emeinsamen Entschließung vom 17.5.1992 auf den Grundlagenvertrag in: Festschrift für W. Weber 105 (121; 125); nur die Möglichkeit der Verbindlichkeit betonend: P. Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz in: Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Band 11, 50 (77). 414 BVetwGE 12, 11 (14); LA. Verstyl in: v. Münch, GG Kommentar, Art.42 Rn.16; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 26 11 2 c; W. Berg, Staatsrecht, S.82; v. MangOld/Klein/Achterbe~gSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.42 Rn.31; T. Maunz in: Maunz/Dürig/Herzog Scholz, Kommentar zum GG, Art.42 Rn.14; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.7 ; U. Scheuner, Der Bereich der Regierung, in: Festgabe für R. Smend, 253 (284 Fn.82); F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVetwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (189 f.); U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? ZParl 1990, 505 (512); W. Grewe, Aussprache, VVdStRl12 (1954), 259 (260); H. Schneider, Aussprache, VVdStRl12 (1954),248; E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVdStRl 16 (1958), 9 (36); J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, S.330; R. Hermes, Der Bereich der Parlamentsgesetze, S.77; J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat, (29) 1991, 231 (240); W. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, S.489; W. Merk, Kann der Bundestag der Bundesregierung Weisungen erteilen, ZgS 114,705 (708); S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.215; H.H. Klein in: Isensee/Kirchhof, Handbu~h des Staatsrechts, Band 11, § 40 Rn.12; V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DÖV 1994, 497 (504). Für bayerisches Landtagsrecht: H. Nawiasky, Die Verpflichtung der Regierung durch Beschlüsse des Landtages nach bayerischem Verfassungsrecht in: Festschrif.t für W. Apelt, 137 (148). Die fehlende Verbindlichkeit "schlichter konsentierter Außerungen" der Bundesregierung hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt: BVerfGE 90, 286 (375). 415 K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.38; vgl. zu einer. solchen Unterteilung auch: J. Kratzer, Parlamentsbeschlüsse, ihre Wirkung und Überprüfung, BayVBI. 1966, 366 (367); F. Klein, Zur Anwendbarkeit der gemeinsamen Entschließung vom 17.5.1992 auf den Grundlagenvertrag in: Festschrift für W. Weber 105 (116 ff.); E. Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregeln, S.75; T. Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem GG, S.82; H. Weis, Regierungswechsel in den Bundesländern, S.150; H.C.F. Liesegang in: v. Münch, GG Kommentar, Art.67 Rn.9 f.
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Eine Klassifikation in verbindliche oder unverbindliche Entschließungen setzt jedoch bereits die Beantwortung der Frage der Verbindlichkeit solcher Beschlüsse voraus, so daß dieser Ansatz nicht zur Lösung des Problems beiträgt.416 Darüber hinaus kann es im gewaltenverschränkten Ordnungssystem des Grundgesetzes nicht ausschließlich auf den Willen des Parlaments ankommen, ob eine andere Person gebunden wird oder nicht.417 Hierzu bedarf es weiterer verfassungsrechtlicher Kriterien und der umfassenden Berücksichtigung der grundgesetzIich ausgestalteten Funktionenordnung. Auch der isolierte Hinweis auf positive Auswirkungen der rechtlichen Verbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen418 vermag keine Bindungswirkung zu begründen. Einen anderen Lösungsansatz wählt H. Butzer, der von der Fragestellung ausgeht, ob und wieweit eine Substitution des förmlichen Gesetzes durch schlichte Parlamentsbeschlußfassung möglich ist.419 Er betont, daß Recht und Politik in keinem kontradiktorischen Verhältnis zueinander stehen,420 sondern daß das abstrakt nicht näher bestimmbare, politisch strukturelle Gewicht schlichter Parlamentsbeschlüsse zu einer faktischen Verbindlichkeit solcher Beschlüsse führt.421 Dieses starke politisch strukturelle Gewicht leitet er nicht aus dem "unwahrscheinlichen Mittel des Regierungssturzes" her, sondern aus der parlamentarischen "Drohung", den Beschlußinhalt gegebenenfalls auch durch ein förmliches Gesetz zu regeln.422 Abgesehen davon, daß H. Butzer offenbar von einem anderen Begriff der Verbindlichkeit ausgeht, bestehen weitere Zweifel an seiner Sichtweise. Aus der 416 Ebenfalls ablehnend: N. Achterberg, Parlamentsrecht, 8.744 ff. 417 8. Magiera, Parlament und 8taatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 8.215. 418 80 aber die Begründung bei: K.-U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 8.386. 419 H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994),61 (64). 420 Zu diesem Gedanken vgl.: F. Klein, Zur Anwendung der gemeinsamen Entschließung vom 17.5.1972 auf den Grundlagenvertrag, in: Festschrift W. Weber, 105 (113). 421 Für die VerbiJ:ldlichkeit der fraglichen Beschlüsse gegenüber der Regierung ähnlich: H.P. Ipsen, Öffentliche 8ubventionierung Privater, DVBl. 1956, 498 (500), der feststellt, daß Entschließungen sich zu parlamentarischen Willensäußerungen aufgrund ihres politischen Gehalts verdichten können und denen zu entsprechen die Regierung staatsrechtlich verpflichtet sei. 422 H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (93 f.).
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Drohung mit dem Erlaß eines förmlichen Gesetzes die Verbindlichkeit zu folgern setzt voraus, daß der Bundestag in jedem Falle, in dem er einen schlichten Parlamentsbeschluß erläßt, auch die Möglichkeit zum Erlaß eines förmlichen Gesetzes hat, was jedoch oftmals aufgrund fehlender grundgesetzlicher Kompetenzzuweisung unmöglich ist. Darüber hinaus ist der Bundestag an die Mitwirkung des Bundesrates gebunden, so daß die Chance eines solchen Gesetzeserlasses nicht gesichert ist. Die Möglichkeit auf die Verbindlichkeit der "Drohung" kraft der Inaussichtstellung des Erlasses einer verbindlichen Regelung zu schließen, wobei deren Durchführung mit Unsicherheiten behaftet ist, erscheint als höchst zweifelhaft. Daß die Auffassung von H. Butzer darüber hinaus auch weiteren dogmatisch-theoretischen Kritikpunkten unterliegt, räumt er selbst ein.423 Einige Autoren versuchen die Unverbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen durch die Berufung auf das Gewaltenteilungssystem zu begründen.424 Gewaltenteilung bedeutet in der Ordnung des Grundgesetzes jedoch nicht die strikte Trennung der Staatsgewalten, sondern vielmehr, bei zwar grundsätzlicher Unterscheidung, ein System wechselseitiger Verschränkungen und Einflußnahmen.425 Da die Verbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen eine funktionierende Gewaltenverschränkung keineswegs unmöglich macht, vermag eine Berufung auf diesen allgemeinen Grundsatz keine zwingende Begründung für die Unverbindlichkeit der fraglichen Beschlüsse zu bieten.426 Andererseits vermag auch der entgegengesetzte Hinweis, daß die Gesamtführung des Staates nicht nur der Regierung sondern auch dem Parlament zusteht,427 keine Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse zu begründen. 423 H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (91). 424 W. Grewe, Aussprache, VVdStRl12 (1954), 259 (260); W. Merk, Kann der Bundestag der Bundesregierung Weisungen erteilen, ZgS 114 (1958), 705; D. Jesch, Gesetz und Vetwaltung, S.95 f., beschränkt die durch die Exekutive zu befolgenden Maßnahmen auf Gesetze und Konkretisierungen des Gesetzesbefehls. 425 BVerfGE 30,1 (28); 34,52 (59); C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.220; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.777; I. v. Münch, Staatsrecht, Band I, Rn.335. 426 Zur Kritik vgl.: F. Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagsbeschlüssen - BVerwGE 12, 16, JuS 1964, 181 (189); S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.215, (Fn.263); K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.48 ff. 427 F. Klein, Zur Anwendbarkeit der gemeinsamen Entschließung vom 17.5.1992 auf den Grundlagenvertrag in: Festschrift für W. Weber, 105 (124). 8 Kühnreich
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Zweifel an der Möglichkeit umfassender Verbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen ergeben sich unter Berücksichtigung des möglichen Adressatenkreises. Hierunter können sich andere Staaten befinden,428 die aufgrund der ihnen zukommenden Souveränität429 grundsätzlich nicht rechtswirksam verpflichtet werden können.43O Eine Verbindlichkeit solcher schlichter Parlamentsbeschlüsse verstieße, soweit ein Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates bestünde, gegen eine allgemeine Regel des Völkerrechts, die jedoch gemäß Art.25 Abs.l GG Bestandteil des Bundesrechts ist. Ausschlaggebendes Gewicht für die Problematik der Verbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen besitzt auch die Gefahr des Mißbrauchs, denn das Parlament könnte das unter Beteiligung anderer Verfassungsorgane durchzuführende Gesetzgebungsverfahren umgehen, indem es einen Beschluß mit bindender Wirkung erläßt.431 Das in den Art.70 ff. GG diffizil ausgeformte Gesetzgebungsverfahren mit der dazugehörigen umfangreichen Kodifizierung spezieller gesetzgeberischer Zuständigkeiten würde seine verfassungsrechtliche Bedeutung verlieren. Unterstrichen wird die Notwendigkeit der Unverbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen durch den Aussagegehalt ihrer Rechtsgrundlage. Zwar enthält keine der betreffenden Vorschriften des Grundgesetzes eine unmittelbare Aussage zur Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse, jedoch liegt diesen Normen allesamt der Gedanke des offenen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses zwischen den Verfassungsorganen zugrunde.432 Die freie Willensbildung durch parlamentarische Entschließungen als Mittel der Meinungsäußerung und -bildung setzt aber Entschei-
428 Als aktuelles Beispiel sei die Verurteilung Rußlands aufgrund des Vorgehens in Tschetschenien durch einstimmigen Beschluß des Bundestages vom 20.01.1995 genannt. Siehe hierzu: FAZ v. 21.01.1995, S.l, 2. 429 Siehe hierzu nur: V. Epping in: K.. Ipsen, Völkerrecht, § 2 Rn.19 ff. 430 Dieses gilt auch bezüglich der Mitglieder des Staatsvolkes, denn aus dem Prinzip der Gleichheit der Staaten ergibt sich unbestrittenermaßen ihre Personalhoheit so daß weder juristische noch natürliche Personen, die sich im Heimatstaat aufhalten, verpflichtet werden können. Eingehend: C. Gloria, in: K.. Ipsen, Völkerrecht, § 24 Rn.2; V. Epping, Grundgesetz und Kriegswaffenkontrolle, S.160. 431 BVerwGE 12, 11 (14); S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verlassungsordnung des Grundgesetzes, S.215; anders für verschiedene schlichte Parlamentsbeschlüsse: K..-A. Sellrnann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.68 f., 74-79. 432 Ausführlich hierzu Seite 106 ff.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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dungsfreiheit der Adressaten voraus, die nur bei Unverbindlichkeit solcher Hoheitsakte erfüllt sein kann. Auch wenn mit der überwiegenden Ansicht festzustellen ist, daß parlamentarische Entschließungen keine Verbindlichkeit besitzen,433 so bleibt die von ihnen ausgehende große politische Bindungs- und Signalwirkung zu berucksichtigen.434 Diese politische Bindungswirkung wird um so größer sein soweit die Beschlüsse auf einen fraktionsübergreifenden Konsens oder auf qualifizierte Mehrheiten gestützt sind.435 Ebenso wird die moralische Verpflichtung zur Einhaltung der Beschlüsse durch eine vorhergehende öffentlichkeitswirksame und umfangreiche parlamentarische Auseinandersetzung gesteigert.
c) Verbindlichkeit durch Zusammenwirken mehrerer Verfassungsorgane In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist neuerdings die Frage der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse bei gemeinsamen Erlaß übereinstimmender Beschlüsse von Bundesrat und Bundestag aufgeworfen worden.436 Solche sich inhaltlich deckenden Beschlüsse besitzen aber nur 433 Siehe Nachweise auf Seite 111. 434 Hierauf hat schon R. Thoma in: Anschütz/'I'homa, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 11, S.221 (Fn.1) hingewiesen. Siehe auch: W. Grewe, VVdStRl12 (1953), Schlußwort, 259 (260); K.-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.31 f.; U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands?, ZParl1990, 505 (512); E.-W. Böckenförde, Der HonnefFall, JuS 1968, 375 (376); S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.215 f.; E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modemen Staat, VVdStRl 16 (1958), 9 (36); O. Bachof, Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, JZ 1962, 350 (355); F. Klein, Zur Anwendbarkeit der gemeinsamen Entschließung vom 17.5.1992 auf den Grundlagenvertrag in: Festschrift für W. Weber 105 (115); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.747; H.H. Klein in: lsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 40 Rn.12; W. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, S.489; kritisch dagegen: R. Hermes, Der Bereich der Parlamentsgesetze, S.77. 435 V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DÖV 1994, 497 (504). 436 M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBI. 1991, 45 (47); F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991,1321 (1323); vgl. auch: P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und RelPerungssitzes Erforderlichkeit eines Gesetzes?, ZG 1991, 193 (206); zur Zulässigkelt solcher übereinstimmenden Beschlüsse: T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz; Kommentar zum GG, Art.22 Rn.34.
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dann Verbindlichkeit, wenn eine spezielle Ermächtigung zum Erlaß gemeinsamer Beschlüsse bestände, aus denen sich dann die rechtliche Verbindlichkeit ergäbe.437 Existiert eine solche Ermächtigung nicht, so richtet sich die Verbindlichkeit des schlichten Parlamentsbeschlusses isoliert nach den soeben aufgeführten Grundsätzen. Erlassen mehrere Verfassungsorgane gleichlautende Beschlüsse, so kommt eine übereinstimmende Grundüberzeugung zum Ausdruck. Diese stellt einen gesteigerten Vertrauenstatbestand dar, welcher die Basis für eine erhöhte politische Bindungswirkung bildet. Das gemeinsame Handeln der Verfassungsorgane ist trotz des Fehlens der rechtlichen Verbindlichkeit ihrer Beschlüsse keineswegs unwesentlich.
4. Selbstbindung des Bundestages Da hier unter der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse die justitiable Pflicht zur Befolgung durch andere Personen verstanden wird,438 ist die Frage der Selbstbindung des Parlaments durch eigene Beschlüsse getrennt zu behandeln. Diese besitzt besonderes Gewicht, denn für den Fall einer Bindungswirkung wären die Entscheidungsmöglichkeiten des Parlaments bei einem einmal ergangenen Beschluß umfassend eingeschränkt. Eine solche bindende Wirkung müßte sich positiv aus der Verfassungsordnung ergeben.439 Soweit das Parlament selbst Adressat von Beschlüssen ist, die auf Vorschriften der Verfassung oder förmliche Gesetze gestützt werden, besteht auch eine dahingehende Selbstbindung des Parlaments. Diese Selbstbindung resultiert aus den in diesen Normen festgelegten Rechtsfolgen.44O
437 Eine solche Norm existiert zum heutigen Zeitpunkt nicht. 438 Vgl. Seite 108. 439 Allgemein zu schlichten Parlamentsbeschlüssen: H.H. Klein in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 40 Rn.12; konkret für Beschlüsse
im Rahmen der Hauptstadtfrage: M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von
Parlament und Regierung, NWVBl. 1991,45 (47). 440 Beispielhaft sei die Ermächtigung in Art.40 Abs.l S.l GG genannt, wodurch die Rechtsgrundlage zur Wahl des Präsidenten, dessen Stellvertreter und den Schriftführern festgelegt wurde. Bei einer durchgeführten Wahl ergibt sich hieraus unmittelbar die Rechtsfolge, daß solche Personen verbindlich festgelegt sind.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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Aus den oben aufgezählten die Rechtsgrundlage parlamentarischer Entschließungen bildenden Normen, läßt sich aber weder unmittelbar, noch mittelbar das Bestehen einer Selbstbindung entnehmen, denn diese Entschließungen sind ihrer Natur nach nicht auf eine Rechtsfolge, sondern vielmehr auf einen offenen und gegliederten Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß gerichtet.441 Weitere Bedenken ergeben sich durch den Grundsatz der Diskontinuität,442 nachdem der Bundestag nur die beschränkte Möglichkeit besitzt, durch Beschlüsse der Eigenorganisation sich selbst und nicht nachfolgende Parlamente zu binden. Hierdurch kann aber lediglich in Fällen der Eigenorganisation die fehlende Bindungswirkung gegenüber nachfolgenden Parlamenten begründet werden. Aussagefähigkeit zur Frage der Selbstbindung des Parlaments an innerhalb seiner Wahlperiode erlassenen Beschlüsse, besitzt der Grundsatz der Diskontinuität nicht. Dagegen ergibt sich die fehlende Selbstbindung des Parlaments an eigene Beschlüsse aus der besonders einfachen Beseitigungsmöglichkeit. Das Grundgesetz enthält dauerhafte Regelungsmöglichkeiten, Z.B. in der Form des förmlichen Gesetzgebungsverfahrens nach Art.70 ff. GG. Diese kann das Parlament nur auf die gleiche förmliche Art und Weise beseitigen oder abändern, wie sie erlassen wurden. Da ein besonderes Verfahren des Erlasses parlamentarischer Entschließungen nicht ersichtlich ist, können sie auf dem gleichen Wege beseitigt werden, wie sie entstanden. Dies geschieht durch einen neuen Parlamentsbeschluß, der jederzeit im einfachen Verfahren erlassen werden kann. Wenn ein Parlamentsbeschluß auf solch einfache Weise wieder beseitigt werden kann, wäre das Postulat einer Selbstbindung ein bloß gedankliches Konstrukt, so daß parlamentarische Entschließungen keine Selbstbindung des Parlaments bewirken.443 Hindern mag das Parlament nur das Bestreben nach politischer Glaubwürdigkeit, verfassungsrechtlich unzulässig ist eine solche Änderung aber nicht.444 Auch der Hinweis, daß hierdurch in "Grenzgebiete des rechtlichen 441 Vgl. hierzu die Ausführungen auf den Seite 106 ff. 442 U. Repkewitz, Berlin Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines
vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 (510). 443 I.E.: R. Hermes, Der Bereich der Parlamentsgesetze, S.77; aA. H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (94). 444 F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesre-
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1. Teil: Organisationsgewa1t und Selbstorganisationsrecht
Vertrauensschutzes" vorgestoßen wird, vermag keine Bindungswirkung parlamentarischer Entschließungen zu erzeugen.445 Der Rechtsordnung ist ein Bestandsschutz für Manifestationen des politischen Willens nicht zu entnehmen.
III. Förmliche Gesetze
Als Regelungsform parlamentsinterne Angelegenheiten kommen förmliche Gesetze in Betracht. Voraussetzung dazu ist, daß der Bund die diesbezügliche Gesetzgebungskompetenz besitzt. 1. Gesetzgebungskompetenz
Die bundesstaatliche Kompetenzordnung bestimmt die Zuordnung der Staatsfunktionen im Verhältnis von Bund und Ländern. Für die Gesetzgebung ist von der Grundsatznorm des Art.70 GG auszugehen, woraus hervorgeht, daß die Länder die Zuständigkeit zur Gesetzgebung besitzen, soweit sie nicht ausdrücklich dem Bund durch das Grundgesetz verliehen wird. Da für den Bereich der parlamentsinternen Angelegenheiten der Katalog der Art.71 bis 75 GG keine Regelung bereithält und Art.40 Abs.l S.2 GG keine gesetzesbezogenen Maßgaben zu entnehmen sind, bleibt zu erwägen, ob die ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache eine hinreichende Grundlage bietet. Die Bundeskompetenz "aus der Natur der Sache" steht in keinem notwendigen Zusammenhang mit einer geschriebenen Kompetenzzuweisung. Nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich um Sachgebiete, "die ihrer Natur nach eine eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit apriori entrückte Angelegenheit des Bundes darstellen, die vom Bund und nur von ihm geregelt werden können.'0446 Eine Gesetzpublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991,1321 (1323). 445 So aber: J.-D. Kühne, Replik i.S. Hauptstadt, nicht nur Papier und Sonntagsreden, ZParl1990, 515 (520). 446 BVerfGE 11,89 (98 f.); 12,205 (251); 22,180 (217); 26, 246 (257), unter Berufung auf G. Anschütz in: Anschütz!fhoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Erster Band, S.367. Siehe auch: K. tpsenjV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994, 605 (608); H.-J. Wipfelder, Die Theoreme ''Natur der Sache" und "Sachzusammenhang" als verfassungsrechtliche Zuordnungsbegriffe,
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gebungskompetenz des Bundes aus der Natur der Sache ist der Art nach stets eine ausschließliche.447 Die Regelung der inneren Angelegenheiten eines Bundesorganes kann nur durch den Bundesgesetzgeber erfolgen, denn partikulare, gegebenenfalls voneinander differierende ländergesetzliche Regelungen interner Angelegenheiten des Bundesorgans Bundestag, sind als brauchbare Ordnungsmaßnahmen undenkbar. Der Bund muß die Zuständigkeit zur Ausführung der Angelegenheiten seiner Organe besitzen, durch die er handelt. Er besitzt notwendigerweise die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache zur Regelung parlamentsinterner Angelegenheiten.
2. Gesetzgeberische Tätigkeit bei parlamentsbezogenen Regelungsmaterien Daß die Ordnungsmöglichkeit parlamentsinterner Materien durch förmliche Gesetze der parlamentarischen Wirklichkeit entspricht, ergibt sich aus der Existenz der Vielzahl solcher Normierungen mit eigenorganisationsrechtlichem Bezug.448 Bewußt den Anspruch auf Vollzähligkeit einer Aufzählung solcher Regelungen meidend, seien an dieser Stelle lediglich besonders prägnante Kodifizierungen genannt. So enthält das Bundeswahlgesetz Normierungen, die Auswirkungen auf den Abgeordnetenstatus besitzen.449 Das Abgeordnetengesetz bestimmt umfangreich die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Durch § 6 des Gesetz über das Bundesverfassungsgericht wird detailliert festgelegt, auf welche Art die Wahl eines Richters am Bundesverfassungsgericht im Bundestag zu erfolgen hat. Ähnlich differenziert legt die parallele Vorschrift des § 5 des RichterDVBl. 1982, 477 (482 f.); M. Bullinger, Ungeschriebene Kompetenzen im Bundesstaat, AöR Band 96 (1911), 239 (274); A. Bleckmann, Zu den ungeschriebenen Bundeskompetenzen aus der Natur der Sache, NWVBl. 1990, 109 f.; kritisch dagegen: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 37 11 5 b. 447 B. Pieroth in: Jarras/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.70 Rn.8. 448 Siehe hierzu umfangreiche Aufzählungen bei: W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.9 f.; J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZPar11986, 324 (326 ff.); H. Dreier, Regelungsformen und Regelungsinhalte des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310 (314); G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.38. 449 Siehe § 47 BWG.
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wahlgesetzes das diesbezügliche parlamentsinteme Wahlverfahren fest.45o Für diese Untersuchung· von besonderem Interesse ist auch das Berlin/Bonn-Gesetz, mit dem das Parlament seinen Sitz in Berlin festgelegt hat.451 Zusammenfassend ist dem Resümee von J. Bücker zuzustimmen, der das Ergebnis seiner empirischen Erhebung zur Häufigkeit förmlicher Gesetzesregelungen im parlamentarischen Bereich pointiert auf die Formel brachte: "Parlamentsrecht in einfachen Gesetzen wohin man schaut.'0452
3. Zulässigkeit gesetzgeberischer Tätigkeit im Bereich der Selbstorganisation Der soeben dargelegte Befund zeigt auf, daß der Bundestag von der Zulässigkeit ausgeht, daß er als einfacher Gesetzgeber über Einzelheiten des von ihm anzuwendenden Verfahrens besondere Regelungen treffen kann.453 Ob das Parlament sich zur Bewältigung solcher Fragen der Regelungsform eines förmlichen Gesetzes bedienen darf oder ob eine Verpflichtung zur Regelung innerhalb der Geschäftsordnung besteht, wird in der Rechtsprechung und Literatur jedoch unterschiedlich beurteilt. Dabei handelt es sich zu Teilen um ein Scheinproblem. Soweit der Bundestag eine Regelung treffen muß, durch die entweder die Außenbeziehungen zu anderen Verfassungsorganen oder zum Bürger geregelt werden sollen, muß er sich eines formellen Gesetzes bedienen,454 denn die Geschäftsordnung vermag grundsätzlich keine Verbindlichkeit für Nichtparlamenta-
450 Kritisch zu dieser Einschätzung: G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.175. 451 Vgl.: BT-Drucksache v. 18.01.1994, 12/6614. 452 J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986,324 (329). 453 W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.ll. 454 G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.41; W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.1l.; W.'#. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, 236 (239).
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rier oder andere Verfassungsorgane zu erzeugen.455 Für eine solche Materie besteht keinerlei Wahlmöglichkeit. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, daß es sich nicht jedesmal, wenn der Bereich der parlamentarischen Arbeit betroffen ist, um eine Regelung lediglich innerer Parlamentsangelegenheiten handelt, sondern es werden oftmals andere Materien gesetzlich erfaßt, in deren Zusammenhang auch ein Teilbereich der parlamentarischen Arbeit geregelt wird.456 Verfassungsrechtlich allein problematisch sind nur die Normierungen reiner Parlamentsinterna, die durch förmliches Gesetz erfolgen,457 denn nur dort ist eine Wahlmöglichkeit denkbar. Hierunter fallen nicht allein gesetzliche Regelungen, die in ihrer Gesamtheit ausschließlich parlamentsinterne Angelegenheiten beinhalten, sondern auch Normierungen, die im Zusammenhang mit einer formal gesetzlichen Regelung ergehen, deren Inhalt aber abtrennbar in Form der Geschäftsordnung geregelt werden könnte. Der Kreis dieser problematischen Fälle ist bedeutend kleiner als die Gruppe der gesetzlichen Regelungen, die lediglich eigenorganisatorischen, parlamentarischen Bezug besitzen.
a) Übereinstimmende Beurteilung bei einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Ermächtigung Bevor eine differenzierte Darstellung der mannigfaltigen Ansichten erfolgt, ist zunächst ihre Einheitlichkeit für den Fall der verfassungsmäßigen Ermächtigung hervorzuheben. Demzufolge besitzt nach allen Ansichten der Bundestag das Recht, parlamentarische Angelegenheiten durch förmliche Gesetze zu regeln, wenn das Grundgesetz einen diesbezüglichen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt enthält.458 Dies ist beispielsweise bei den Vor455 Vgl. Ausführungen auf Seite 74 ff. 456 Siehe zu dieser Aussage die umfangreiche Untersuchung zu einzelnen gesetzlichen Regelungen bei: G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages S.169 ff. 457 Vgl. auch den Ansatz bei: J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.13 f. 458 BVerfGE 70, 324 (362), abweichende Meinung des Richters Böckenförde, 324 (387); G. Kretschmer in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn.39; H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310 (313); J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.13; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.185; W.W. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
schriften des Abgeordnetengesetzes der Fall, die auf die gesetzliche Ermächtigung des Art.48 Abs.3 S.3 GG gestützt werden. b) Möglichkeit eines förmlichen Gesetzes bei Fehlen einer ausdrücklichen grundgesetzlichen Ermächtigung Im krassen Gegensatz zu der soeben dargestellten einheitlichen Beurteilung der Möglichkeit eines Gesetzeserlasses bei ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Ermächtigung, treffen bei Fehlen einer solchen Grundlage die unterschiedlichen, teilweise extremen Positionen aufeinander. Bei der Beurteilung der Frage der Möglichkeit der Gesetzesform ohne ausdrückliche Ermächtigung in der Verfassung, lassen sich die in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Ansichten in drei Hauptgruppen unterteilen. aa) Meinungsspektrum Einerseits wird die Möglichkeit eines förmlichen Gesetzes zur Regelung selbstorganisatorischer Angelegenheiten nur für den Fall einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung angenommen. Über diesen unbestrittenen Ausnahmefall hinaus kann nach dieser Ansicht die Regelungsform des Gesetzes vom Bundestag nicht wahrgenommen werden.459
Ausschußbesetzung, DÖV 1986, 236 (239); i.E.: W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.8 ff. 459 Abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (377), abweichende Meinung des Richters Böckenförde, BVerfGE 70, 324 (387); K.F. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.l24; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.45; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.185; v. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.48; P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes?, ZG 1991, 193 (210); J. Ziekow, Der Status des fraktionslosen Abgeordneten - BVerfGE 80, 190, 28 (29); B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.40 Rn.6; H. Dreier, Regelungsformen und Regelungsinhalte des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310 (315); wohl auch: C. Arndt in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 50 Rn.4; H. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 63 Rn.16.5; H. Goerlich, IFormenmißbrauch" und Kompetenzverständnis, S.33.
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Die entgegengesetzte Position fordert ein Wahlrecht des Bundestages bei der Behandlung eigenorganisatorischer Materien zwischen den Regelungsformen des förmlichen Gesetzes und der Geschäftsordnung.460 Zwischen diesen beiden Meinungspolen befinden sich vermittelnde Auffassungen. Von ihnen wird dem Parlament eine beschränkte Wahlmöglichkeit eingeräumt. Dabei erfolgt die Bestimmung der Prämissen, unter denen dem Parlament die Regelungsmöglichkeit des förmlichen Gesetzes eröffnet ist, anhand der Mehrheitsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Haushaltsgesetzes von 1984/85.461 Die vermittelnden Ansichten der Literatur belassen es bei einer Rezeption der von dem Gericht aufgestellten Bedingungen,462 lehnen einzelne ab,463 oder fordern engerer Ausnahmen.464 bb) Auslegung verfassungsrechtlicher Vorschriften als Entscheidungsgrundlage Zur Beurteilung der Frage, ob dem Bundestag die Regelungsmöglichkeit eines förmlichen Gesetzes zur Bewältigung ausschließlich eigener Angelegenheiten eröffnet ist, sind zunächst die verfassungsrechtlichen Vorgaben umfassend zu beurteilen. Grundlegende Norm ist hierbei Art.40 Abs.1 S.2 GG. 460 G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl1986, 334 (337 ff.); ders. in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 9 Rn39; J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986, 324 (333); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S325 ff.; F. Schäfer, Der Bundestag, S.74; J. Jekewitz, Die gesetzliche Regelung von Funktion, Finanzierung der Parlamentsfraktionen als kodiftkatorische Herausforderung, ZRP 1993, 344 ff., fordert, ohne auf die konkrete Frage des ßestehens eines Wahlrechts und dessen Begrenzung einzugehen, die Möglichkeit gesetzgeberischer Tätigkeit im innerparlamentarischen Bereich. 461 BVerfGE 70, 324 (361). Zur Genese dieser Streitigkeit aufgrund der Änderung der parlamentarischen Praxis siehe: H.G. Syrbe, Die Sicherung der Vertraulichkeit der Arbeit von Bundestagsausschüssen, S.21 ff. 462 H.G. Ritzel/J. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung, S.2 f.; w..W. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, 236 (239). 463 Für das Kriterium des Nichtbetreffens des Kembereichs: M. Schröder, Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 (473). 464 J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.16.
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(1) Grammatikalische Auslegung Art.40 Abs.1 S.2 GG trifft keinerlei Aussagen über das Gesetzgebungsverfahren, so daß dem Wortlaut nicht zu entnehmen ist, ob eine Verpflichtung des Bundestages besteht, seine ausschließlich inneren Angelegenheiten in der Form der Geschäftsordnung abschließend zu regeln, oder ob er darüber hinaus Regelungen durch förmliche Gesetze treffen kann. Auch kann aus den Worten "er gibt sich" nicht eindeutig gefolgert werden, daß andere Regelungsmöglichkeiten, an denen der Bundestag nicht allein beteiligt ist, ausgeschlossen sind,465 denn für einen solchen Inhalt wäre wohl die Formulierung "ausschließlich er gibt sich" oder "allein er gibt sich" vom Grundgesetzgeber gewählt worden. Eine irgendwie geartete Ausschlußregelung für andere Regelungsformen kann dem Wortlaut des Art.40 Abs.1 S.2 GG zumindest nicht eindeutig entnommen werden.466
(2) Systematische Auslegung Für die zu lösende Ausgangsfrage ist die systematische Auslegung ähnlich uneindeutig.467 Weder aus Art.70 ff. GG noch aus anderen Vorschriften des Grundgesetzes ergibt sich unmittelbar die Verpflichtung zur eingeschränkten gesetzgeberischen Tätigkeit. Auch aus den später eingefügten gesetzlichen Ermächtigungen der Art.45b S.2 und 45c Abs.2 GG kann nicht auf die Notwendigkeit einer speziellen gesetzlichen Ermächtigung geschlossen werden, da durch diese Normen das Parlament Rechte gegenüber der Regierung erwirbt und hierdurch der ausschließlich parlamentsinterne Bereich verlassen ist.468
465 So wohl aber: J. Pietzcker in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.14; H. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 63 Rn.16.5. 466 V. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.45; vgl.: G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986, 334 (338); i.E.: W.W. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, 236 (239). 467 V. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.45. 468 Ähnlich: G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZPar11986, 334 (338 f.).
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Aus der grundgesetzIichen Differenzierung der einzelnen geschäftsordnungsrechtlichen Zuständigkeiten, wie sie in der Systematik der Art.40 Abs.l S.2; 52 Abs.3 S.2; 53a Abs.l S.4; 65 S.4; 77 Abs.2 S.2 GG ihren Ausdruck gefunden hat, kann nicht gefolgert werden, daß die Regelung innerparlamentarischer Angelegenheiten durch ein förmliches Gesetz unzulässig ist,469 denn durch eine solche gesetzgeberische Tätigkeit werden keinerlei Auswirkungen auf geschäftsordnungsrechtliche Regelungen anderer Verfassungsorgane bewirkt.
(3) Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung des Art.40 Abs.l S.2 GG bietet die wesentlichen, dem Streit zugrundeliegenden Aspekte, so daß die Diskussion um die Möglichkeit der Wahl eines förmlichen Gesetzes als Regelungsart ausschließlich parlamentsinterner Materien im wesentlichen unter diesem Gesichtspunkt geführt wird. Von einem Teil der Literatur wird der Sinn des Art.40 Abs.l S.2 GG zutreffend auch in einer Verfahrenserleichterung gesehen.470 Das Parlament besitzt anstelle des schwerfälligen Gesetzgebungsverfahrens die weitere Möglichkeit des Erlasses einer Geschäftsordnung, die sie auf einfache Weise ohne Beteiligung anderer Personen selbständig festlegen kann.471 Aus dieser Privilegierung des Parlaments kann aber kein Ausschluß der Möglichkeit eines förmlichen Gesetzes gefolgert werden. Vielmehr ist in 469 So aber: G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.146 f. 470 "W..W. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, 236 (239); T. Schramm Staatsrecht Band I, § 4 C V, S.78; G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZPar11986, 334 (338); ablehnend: G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.145 und M. Schröder, Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 (473) der in der Geschäftsordnungsautonomie die Sicherung eines von anderen Verfassungsorganen unabhängigen Verfahrensgangs erblickt. 471 Zur Notwendigkeit der Möglichkeit flexiblen Handelns siehe: A. Ruch, Das Berufsparlament, S.5!) f.; E. Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG Kommentar, Art.40 Rn.6; H.-A. Roll, Geschäftsordnungsreform im Deutschen Bundestag, NJW 1981, 23; H. Trossmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR Neue Folge Band 28 (1979),1 (42 f.) spricht von der notwendigen Elastizität.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
einigen Fällen der Erlaß eines förmlichen Gesetzes besonders sinnvoll. Beispielhaft sei an dieser Stelle nur der Bereich angesprochen, bei dem ausschließlich parlamentsinterne Materien geregelt werden, diese aber den ganzen Staat betreffende symbolische Wirkung besitzen, und eine Beteiligung anderer Verfassungsorgane zur gesamtstaatlichen Absicherung dieser symbolischen Entscheidung erfolgt. In einem solchen Falle wird durch das Gesetzgebungsverfahren das Parlament nicht in seinen eigenen Rechten beschränkt, sondern die so getroffenen Entscheidung findet noch darüber hinausgehende Absicherung durch andere Staatsorgane, im speziellen durch den Bundesrat. Einem solchen gemeinsamen und einheitlichen Auftreten der obersten Verfassungsorgane kann politisch wesentliches Gewicht zukommen.472 Hieraus ergibt sich, daß formal gesetzliche Regelung parlamentsinterner Angelegenheiten durchaus im föderativ ausgerichteten Staat der Bundesrepublik sinnvoll sein können.473 Für das Bestehen eines Wahlrechts spricht auch die Überlegung, daß das Grundgesetz für die Handlungsform des Gesetzes in den Art.70 ff. GG einen umfangreichen Anwendungsbereich vorgesehen hat. Da ein funktionsfähiges Parlament eine umfassende Handlungsfreiheit im durch verfassungsrechtliche Vorschriften vorgegebenen Rahmen besitzen muß, besteht zunächst eine Vermutung für die Regelungsmöglichkeit durch ein förmliches Gesetz. Erst wenn zwingende verfassungsrechtliche Gründe gegen das Bestehen eines solchen Wahlrechts vorliegen, ist der Bundestag zur geschäftsordnungsrechtlichen Regelung verpflichtet. Unergiebig ist der Hinweis auf den Schutz parlamentarischer Minderheiten,474 der sowohl zur Begründung eines Wahlrechts475 als auch gegen 472 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S326, spricht insofern von der Möglichkeit eines rechtspolitischen Bedürfnisses, Geschäftsordnungsregelungen nicht autonom vorzunehmen. 473 Dieses wird auch in der Beschlußempfehlung und dem Bericht d~ Ältestenrates zum Gesetzentwurf des Berlin/Bonn-Gesetzes deutlich, in dem der Altestenrat betont: "mit ( ...) dem interfraktionellen Gesetzentwurf eines Berlin/Bonn-Gesetzes werde ein deutlicher, für alle erkennbarer Schlußpunkt unter die Diskussion über die Zweckmäßigkeit und den Zeitpunkt des Umzuges von Parlament und von Teilen der Regierung nach Berlin gesetzt." BT-Drucksache v. 08.03.1994, 12/6993, S.7. 474 Als Begründung hierfür wird vielfach ein Prinzip der Reziprozität genannt, aufgrund dessen bei Erlaß der Geschäftsordnung ein künftiger Machtwechsel antizipiert wird. So bereits: J. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S.17 f. Aus dem neueren Schrifttum: H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310 (316); H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn30 eingehend Rn.76
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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ein solches476 angeführt wird. Die auf diesem Gedanken aufbauenden Argumentationen sind nicht zwingend, da Minderheitenrechte sowohl durch gesetzliche als auch durch geschäftsordnungsrechtIiche Regelungen gewährleistet werden können und die verfassungsrechtIiche Bindung an den Minderheitenschutz für den Gesetz- und für den Geschäftsordnungsgeber gelten.477 Das Argument, daß die begrenzte Geltungsdauer und die verminderte Bindungswirkung des Geschäftsordnungsrechts dieses zum. geeigneten Instrument des Minderheitenschutzes macht,478 überzeugt ebensowenig, da hierdurch auch die Möglichkeiten des Mißbrauchs durch die Parlamentsmajorität vereinfacht werden. Ähnlich wenig fruchtbar für die Frage des Bestehens eines Wahlrechts ist der Hinweis auf eine Gemengelage zwischen rein internen und externen parlamentarischen Angelegenheiten, aufgrund der die säuberliche Aufteilung der Regelungsmaterien auf Gesetze einerseits und die Geschäftsordnung andererseits als unmöglich angesehen wird.479 Zutreffend weist J. Pietzcker darauf hin, daß Abgrenzungsschwierigkeiten prinzipiell kein Grund sein sollen, auf Zuordnungen zu verzichten, sondern in erster Linie Anlaß geben, die Abgrenzungskriterien zu verfeinern.480 Darüber hinaus ist ff.; W. Zeh, Altersschichten in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, ZParlI986, 396 (397). 475 G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParI1986, 334 (338); J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986, 324 (331); vgl.: W."W.. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, 236 (239). 476 Abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (377); J. Scherer, Fraktionsgleichheit und Geschäftsordnungskompetenz des Bundestages, AöR Band 112 (1987), 189 (204 ff.); DJ. Kellner, Parlamentarische Obstruktion, ZPar11986, 423 (433). . 477 W. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, S.155; M. Schröder, Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der FestIegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 (473); vgl.: J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986, 324 (333); G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.153 f.; J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.16 der darüber hinaus auf die geringere Stabilität der Geschäftsordnung hinweist. 478 J. Scherer, Fraktionsgleichheit und Geschäftsordnungskompetenz des Bundestages, AöR Band 112 (1987), 189 (213 f.). 479 J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986,324 (332 f.); W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.11. 480 J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
eine Abgrenzung zwingend notwendig, denn wenn parlamentsexterne Personen in ihrer Rechtsstellung betroffen werden, kommt die Regelungsform der Geschäftsordnung aufgrund ihres beschränkten Bindungsmöglichkeit nicht in Betracht. Selbst für den Fall, daß parlamentsexterne und interne Regelungsgegenstände untrennbar miteinander verbunden sind, besteht kein Wahlrecht, sondern es muß eine Regelung in der Form eines Gesetzes erfolgen. Aus Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen internen und externen parlamentarischen Angelegenheiten kann nicht auf das Bestehen einer Wahlmöglichkeit zwischen formalgesetzlicher und geschäftsordnungsrechtlicher Regelung geschlossen werden. G. Bollmann sieht die Gefahr unwirksamer parlamentarischer Beschlüsse für den Fall, daß bei einem Gesetzesbeschluß des Parlaments Belange des parlamentarischen Verfahrens mitgeregelt werden und bei dieser gesetzlichen Regelung wesentliche Vorschriften der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages übergangen werden.481 Als Beispiel führt er § 126 GeschO BT an, aufgrund dessen für die Einzelfallabweichung von der Geschäftsordnung eine Mehrheit von zwei Dritteln gefordert wird. Würde nun ein Gesetz, welches im Einzelfall von der geschäftsordnungsrechtlich festgelegten Regelung abweicht, mit einfacher Mehrheit erlassen, so wäre die Regelung des § 126 GeschO BT umgangen.482 G. Bollmann übersieht in diesem Zusammenhang aber, daß die Vorschriften der Geschäftsordnung des Bundestages, und somit auch § 126 GeschO BT, jederzeit mit einfacher Parlamentsmehrheit geändert werden können,483 so daß es keinen Unterschied macht, ob das Parlament die Geschäftsordnung mit einfacher Mehrheit ändert oder eine abweichende formalgesetzliche Regelung mit der gleichen Stimmenzahl trifft. Auch wenn Gesichtspunkte für eine Regelung parlamentsinterner Angelegenheiten in einem förmlichen Gesetz soeben dargelegt worden sind, müssen negative Auswirkungen bedacht werden. Ein tragfähiger GesichtsRn.15; zustimmend: v. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.48. 481 G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.155. 482 G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.155 f.; ähnlich auch: J. Ziekow, Der Status des fraktionslosen Abgeordneten - BVerfGE 80, 190, JuS 1991, 28 (29). 483 Siehe hierzu Ausführungen auf Seite 72.
c. Regelungsfonnen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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punkt gegen die Möglichkeit der Regelung parlamentsinterner Angelegenheiten durch förmliches Gesetz besteht in der Regelungsdauer, soweit diese nicht auf die Länge der Legislaturperiode beschränkt ist. Eine solche gesetzliche Normierung überdauert die jeweilige Wahlperiode und bindet spätere Bundestage. Die Geschäftsordnung als primärer Ort der Eigenorganisation entfaltet aufgrund ihrer Diskontinuität lediglich zeitlich begrenzte Wirkung,484 so daß die dauerhafte Regelung in einem förmlichen Gesetz zu "Souveränitätsverletzungen" nachfolgender Parlamente führen kann.485 Diese Beeinträchtigung wiegt umso schwerer, als durch die bei Gesetzesänderungen bestehende Notwendigkeit der Mitwirkung des Bundesrates, nachfolgende Parlamente an der autonomen Neuregelung der bestehenden Gesetzeslage gehindert wären. Daß im Einzelfall ein politisches Bedürfnis nach einer dauerhaften Regelung bestehen kann,486 ändert an dem Befund der Verletzung der parlamentarischen Diskontinuität nichts. Auf ähnlicher Argumentationsebene befindet sich der Hinweis, daß die in § 127 GeschO BT vorgesehene interorganschaftliche Auslegung und Fortbildung des Geschäftsordnungsrechts durch die Justiziabilität der gesetzlichen Regelung ausgehölt würde.487 Auch durch die Beschränkung der Auslegungsmöglichkeiten parlamentsinterner Regelungen werden nachfolgende Bundestage in den Möglichkeiten ihrer Selbstorganisation beschränkt.
484 Vgl. die Darlegung auf Seite 68 ff. 485 H. Dreier, Regelungsfonnen und Regelungsinhalte des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310 (315); J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.14; C. Arndt in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspr3X1s, § 50 Rn.4; KF. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsaut0nomie und autonomes Parlamentsrecht, S.124; DJ. Kellner, Parlamentarische Obstruktion, ZParl 1986, 423 (433); v. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.47; J. Ziekow, Der Status des fraktionslosen Abgeordneten BVerfGE 80, 190, JuS 1991, 28 (29); i.E.: G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.152; J. Scherer, Fraktionsgleichheit und Geschäftsordnungskompetenz des Bundestages, AöR Band 112 (1987), 189 (212); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.326 spricht lediglich von einer Einbuße parlamentarischer Geschäftsordnungsautonomie. 486 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.326; vgl.: J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnonnen, ZPar11986, 324 (331); G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986,334 (337 f.). 487 J. Ziekow, Der Status des fraktionslosen Abgeordneten - BVerfGE 80, 190, JuS 1991, 28 (29). 9 Kühneeich
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Bedenklich ist der Erlaß eines förmlichen Gesetzes zur Regelung ausschließlich eigener Angelegenheiten auch unter dem Gesichtspunkt der Beteiligung anderer Verfassungsorgane. Beim förmlichen Gesetzgebungsverfahren ist der Bundesrat gemäß Art.76 und 77 Abs.2 GG durch Einspruchsund Zustimmungsrechte beteiligt, die Bundesregierung kann nach Art.76 GG Gesetzesvorlagen einbringen, und der Bundespräsident wirkt gemäß Art.82 S.l GG durch Ausfertigung und Betätigung seines formellen und materiellen Prüfungsrechts488 am Gesetzgebungsverfahren mit. Trifft nun der Bundestag eine Regelung ausschließlich eigenorganisatorischen Inhalts in einem förmlichen Gesetz, so räumt er auch anderen Bundesorganen Entscheidungsbefugnisse ein und gibt preis, "Herr im Hause seiner Angelegenheiten" zu sein.489 Diese grundsätzliche Einflußmöglichkeit anderer Verfassungsorgane wird allgemein erkannt,49O aber unterschiedlich bewertet.491 488 Nach überwiegender Ansicht umfaßt das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten sowohl die materielle als auch die formelle Verfassungsmäßigkeit: V. Epping, Das Ausfertigungsverweigerungsrecht im Selbstverständnis des Bundespräsidenten, JZ 1991, 1102 (1105 ff.); KH. Friauf, Zur Prüfungszuständigkeit des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung der Bundesgesetze, in: Festschrift für K Carstens, Band 11, S.545 ff.; zur Häufigkeit der tatsächlichen Verweigerung der Ausfertigung siehe: H. Butzer, Der Bundespräsident und sein Präsidialamt, VerwAreh Band 82 (1991), 497 (507 Fn.40). 489 So ausdrücklich abweichende Ansicht des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (377); G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.149; zustimmend: P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes?, ZG 1991, 193 (210). 490 Allgemein zu dem Gedanken der Einflußnahmemöglichkeit anderer Verfassungsorgane: BVerfGE 70, 324 (361); abweichende Ansicht des Richters Böckenförde, BVerfGE 70, 324 (387 f.); v. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.4; W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.11; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.45; B.Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.40 Rn.6; KF. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.123 f.; J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.14; C. Arndt in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 50 Rn.4; E. Röper, Ausschüsse zwischen Parlaments- und Gesetzesrecht, ZParl 1984, 529 (533); W,W. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, 236 (239); H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990,310 (314 f.); N. Achterberg, Parlamentsrecht, S325 f. 491 Die Einschätzung reicht von der Autonomiepreisgabe: abweichende Ansicht des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (377); G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.149; über eine nach den Einzelumständen differenzierende Ansicht: BVerfGE 70, 324 (361); bis zur Betonung positiver Aspekte dieser Umstände: G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZPar11986, 334 (340).
C. Regelungsfonnen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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Daß hierdurch die Kompetenzordnung des Grundgesetzes als konkrete Ausprägung des Prinzips der Gewaltenteilung aus Art.20 Abs.2 GG mißachtet wird,492 vermag aber nicht zu überzeugen, denn alle Verfassungsorgane werden bei diesen Vorgängen im Rahmen der Legislative tätig, so daß es zu keiner Abgrenzung zu exekutiven oder judikativen Handlungsformen kommen kann.
(4) Zwischenergebnis Als Ergebnis der angewandten Auslegungsmethoden ist zusammenzufassen, daß grundsätzlich eine Vermutung für die Existenz eines Wahlrechts besteht und die Regelung in einem förmlichen Gesetz politisch sinnvoll sein kann. Auf der anderen Seite gilt es zu berücksichtigen, daß der Grundsatz der Diskontinuität der parlamentarischen Geschäftsordnung aus Art.40 Abs.l S.2 GG in der Regel durchbrochen würde. Auch die Beteiligung nicht parlamentarischer Personen bei der Entscheidung über innerparlamentarische Sachverhalte spricht deutlich gegen ein Wahlrecht zwischen der Regelungsmöglichkeit des förmlichen Gesetzes und der der Geschäftsordnung. Aus den letztgenannten Gesichtspunkten ergibt sich, daß bei der Annahme eines uneingeschränkten Wahlrechts zwischen den fraglichen Regelungsformen, wesentliche verfassungsrechtliche Gesichtspunkte außer acht gelassen würden. Im Gegensatz dazu verkennt die Ansicht, die eine Regelung durch förmliches Gesetz außer bei verfassungsrechtlicher Ermächtigung für unzulässig hält, die Tragkraft der zuerst genannten Argumente. Eine angemessene Lösung ergibt sich dann, wenn zwar das Bestehen eines Wahlrechts grundsätzlich angenommen wird, die unzweifelhaft bestehenden Bedenken aber durch Kriterien, die bei einer Regelung durch förmliches Gesetz erfüllt sein müssen, entkräftet werden.
492 So aber: G. BOllmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.143 ff.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
(5) Historische Auslegung Dieses Ergebnis kann gegebenenfalls durch das Resultat der historischen Auslegung gestützt werden. In der deutschen Verfassungsgeschichte fanden sich schon früher gesetzliche Regelungen von Geschäftsordnungsmaterien.493 Dieser Befund kann nicht ohne weiteres zur Stützung der These der heutigen Zulässigkeit einer gesetzgeberischen Tätigkeit fruchtbar gemacht werden, denn aufgrund des seit dem 19. Jahrhundert allmählich eintretenden Verfassungswandels ist die Stellung des Bundestages nicht mit der der vorausgehenden Parlamente gleichzusetzen. Die verfassungsrechtliche Stellung des Reichstages der Weimarer Reichsverfassung und der vorhergehenden Parlamente war nicht so unabhängig wie die des heutigen Bundestages.494 Mit der Geschäftsordnungsautonomie war eine Regelung in einem Gesetz nicht vereinbar, denn das Zustandekommen eines solchen Gesetzes war von der Zustimmung des Souveräns abhängig, der teilweise sogar das allgemeine Gesetzesinitiativrecht inne hatte und auf diesem Wege versuchen konnte, das Parlament der monarchischen Verfügungsmacht unterzuordnen.495 Der damalige Kampf um die Geschäftsordnungsautonomie war der Kampf um die Durchsetzung des Parlamentarismus,496 bei dem es vor allem um das Recht ging, den parlamentarischen Geschäftsgang, die innere Organisation einschließlich der Berufung der eigenen Organe und die par-
493 J. Pietzcker in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.14; v. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.45; M. SChröder, Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 (473); zahlreiche Beispiele aus der Zeit des Konstitutionalismus fmden sich bei: K.F. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.26 f. 494 G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986, 334 (337). 495 K.F. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.123; v. Mangold/Klein/AchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.46; G. SommerjR. Grafv. Westphalen in: Grafv. Westphalen, Parlamentslehre, S.87. 496 H. Dreier, R~elungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990,310 (314); G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986, 334 (337); vgl.: J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, 324 (332); allgemein für das Selbstorganisationsrecht: H. Steiger in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 25 Rn.5.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
133
lamentarische Disziplin selbst regeln zu können.497 Unter diesem Gesichtspunkt ist verständlich, daß J. Hatschek sowohl für den Reichstag des deutschen Reiches als auch den der Weimarer Reichsverfassung formulierte: "...ist der Reichstag stets auf der Hut gewesen, daß nicht andere Staatsorgane mit an seiner Geschäftsordnung arbeiten....Die Regelung durch Gesetz ist seither nicht mehr in Frage gekommen.',498 Der Regelung parlamentsinterner Angelegenheiten durch förmliches Gesetz kommt bei der Machtverteilung im Staatsgefüge unter der heutigen Verfassungsordnung kein vergleichbare Wichtigkeit zu. In der repräsentativen Demokratie wandelt sich das Bild des Parlaments von dem einer monarchischen Staatsmacht angefügten Organs499 zur eigentlichen Volksvertretung und dem primären Forum politischer Willensbildung und Auseinandersetzung,500 so daß der in der Regierungsform des Konstitutionalismus bestehende Interessengegensatz unter der Kompetenzordnung des Grundgesetzes nicht mehr besteht.501 Der Hinweis auf die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes bestehende Praxis vermag keine Rückschlüsse auf die heutige Zulässigkeit der Regelungsform eines förmlichen Gesetzes im rein innerparlamentarischen Bereich zu bieten und kann daher weder zur Bestätigung noch zur Vemeinung des mit den anderen Auslegungsmethoden gefundenen Ergebnisses herangezogen werden.
497 BVerfGE 70, 324 (361); J. Scherer, Fraktionsgleichheit und Geschäftsordnungskompetenz des Bundestages, AöR Band 112 (1987), 189 (204); C. Arndt in: Schneider(Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 50 Rn.4; K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.67. 498 Bezüglich des Reichstages des Deutschen Reiches (1871): J. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S.41; für die Rechtslage zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung: ders./P. Kurtzig, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Band 1, S.505. 499 H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990,310 (314); R. Grawert, Gesetzgebung im Wirkungszusammenhang konstitutioneller Regierung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), 113 (117). 500 H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.21; H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990,310; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.380; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.159 ff.; H. Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S.75. 501 J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986,324 (332); vgl.: G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986, 334 (337).
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
(6) Ergebnis der Auslegung von Art.40 Abs.1 S.2 GG Durch die historische Auslegung ist kein eindeutiges Ergebnis zu erzielen, so daß als Gesamtresultat der Interpretation des Art.40 Abs.1 S.2 GG festgehalten werden kann, daß grundsätzlich dem Bundestag ein Wahlrecht zwischen der Regelungsform des förmlichen Gesetzes und der Geschäftsordnung zusteht. Es bedarf aber weiterer Kriterien, die bei einer Regelung durch ein förmliches Gesetz erfüllt sein müssen, durch die die Bedenken gegen diese Regelungsform entkräftet werden. Zur Beurteilung der einzelnen Fälle ist die Konkretisierung dieser Kriterien notwendig.
c) Begrenzung des dem Bundestag zukommenden Wahlrechts Schranken des dem Bundestag zukommenden Wahlrechts hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts in dem bereits oben angesprochenen Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Haushaltsgesetzes von 1984/85502 niedergelegt. Die überwiegende Anzahl der Verfassungsrichter hat in dieser Entscheidung festgestellt, daß eine Regelung durch förmliches Gesetz jedenfalls dann möglich ist: "wenn das Gesetz -auch seine Aufhebung- nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, der Kern der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages nicht berührt wird und überdies gewichtige sachliche Gründe dafür sprechen, die Form des Gesetzes zu wählen.,,503 Die vermittelnden Ansichten der Literatur rezipieren die von der Rechtsprechung aufgestellten Bedingungen,504 lehnen einzelne ab,505 oder fordern engere Ausnahmen506 , als sie in der Mehrheitsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts formuliert wurden.
502 BVerfGE 70, 324 (361). 503 BVerfGE 70, 324 (361). 504 H.G. RitzeljJ. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung, S.2 f.; w..W. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und AusschuBbesetzung, DÖV 1986, 236 (239). 505 Für das Kriterium des Nichtbetreffens des Kembereichs: M. Schröder, Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 (473). 506 J. Pietzcker in: SchneiderJZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.16.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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aa) Zustimmungsgesetz Die Mehrheit des zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichts hält eine gesetzliche Regelung parlamentsinterner Angelegenheiten dann für unzulässig, wenn ein solches Gesetz -oder seine Authebung- der Zustimmung des Bunderates bedarf.507 Dieses erscheint zunächst als eine sinnvolle Schranke des dem Bundestag zukommenden Wahlrechts, denn ein Einspruchsgesetz kann vom Bundesrat lediglich verzögert,50S ein Zustimmungsgesetz aber verhindert werden.509 Der Bundesrat hat also bei einem Zustimmungsgesetz wesentliche Einflußmöglichkeiten auf den Inhalt der parlamentarischen Entscheidung, dagegen bestimmt bei einem Einspruchsgesetz ausschließlich der Bundestag den materiellen Gehalt.510 Er ist im letzten Falle weiterhin "Herr im Hause seiner Angelegenheiten",511 so daß durch die Beschränkung auf Einspruchsgesetze dieses auf die Autonomie des Bundestages abzielende Argument gegen das Bestehen eines W ahlrechts entkräftet wird. Zustimmungsgesetze müssen eine ausdrückliche Bezeichnung im Grundgesetz gefunden haben,512 da es sich anderenfalls um Einspruchsgesetze handelt.513 Eine Zustimmungspflicht des Bundesrates für gesetzliche Regelungen im rein innerparlamentarischen Bereich, ist dem Grundgesetz
507 BVerfGE 70, 324 (361). 50S Der Bundestages hat die Möglichkeit den Einspruch des Bundesrates gemäß Art.77 Abs.4 GG zurückzuweisen. 509 Für den Erlaß eines Zustimmungsgesetzes bedarf es nach seiner Natur der Zustimmung des Bundesrates, vgl. die Formulierung in Art.77 Abs.2 S.4 GG. 510 Der Einwand von G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.163, daß der Unterschied zwischen einem Einspruchs- und einem Zustimmungsgesetz lediglich ein gradueller sei, überzeugt somit nicht. 511 Anders abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (377), abweichende Meinung des Richters Böckenförde, BVerfGE 70, 324 (387), die pauschal ohne weitere Begründung auf die Möglichkeiten der Einflußnahme des Bundesrates auf zustimmungsfreie Gesetze verweisen; ihnen folgend: G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.163. 512 BVerfGE 1, 76 (79); B.-O. Bryde in: v. Münch, GG Kommentar, Art.77 Rn.20; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.419; A. Bleckmann, Staatsrecht I, Rn.1740. 513 Sogenanntes Enumerationsprinzip; BVerfGE 1, 76 (79); B.-O. Bryde in: v. Münch, GG Kommentar, Art.77 Rn.20.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
nicht ZU entnehmen.514 Die Beschränkung des Wahlrechts für den Fall eines Zustimmungsgesetzes besitzt keine praktische Bedeutung, wenn die gesetzliche Regelung in ihrer Gesamtheit nur parlamentsinterne Angelegenheiten beinhaltet. Relevanz besitzt diese Grenzziehung nur für Normierungen, die im Zusammenhang mit einer formalgesetzlichen zustimmungsbedürftigen Regelung ergehen, deren Inhalt aber abtrennbar in Form der Geschäftsordnung geregelt werden könnte. Eine Ausweitung der Beschränkung auf den Fall, daß für die Aufhebung des Gesetzes nicht die Zustimmung des Bundesrates nötig sein darf, ist überflüssig, denn eine Aufhebung eines Gesetzes bedarf nur dann der Zustimmung des Bundesrates, wenn eine solche auch beim Erlaß notwendig war. Bei der Zustimmungsbedürftigkeit eines Aufhebungsgesetzes greift schon die zuerst genannte Schranke ein, so daß die aufzuhebende Regelung bereits nicht verfassungskonform wäre. Dagegen ist eine Erweiterung der Schrankenziehung für den Fall eines Änderungsgesetzes anzunehmen, welches neue Vorschriften enthält, durch die die Zustimmungsbedürftigkeit erstmalig begründet wird.515 In einer solchen Angelegenheit kann der Bundesrat wesentlichen inhaltlichen Einfluß gewinnen, so daß dem Parlament kein Wahlrecht einzuräumen ist. bb) Nichtberühren des Kerns der Geschäftsordnungsautonomie Von den von der Mehrheit des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Begrenzungskriterien ist besonders die Nichtberührung des Kerns der Geschäftsordnungsautonomie als Grenzziehungsmaßstab auf Kritik gestoßen.516 Der Hauptvorwurf gegen diese Schrankenziehung wendet sich gegen 514 Abschließend werden die Zustimmungsgesetze in den Art.29 Abs.7, 74a Abs.2 - 4; 79 Abs.2; 84 Abs.l, Abs.5 S.l; 85 Abs.l; 87 Abs.3 S.2; 87c; 87d Abs.2; 91a Abs.2; 96 Abs.5; 104a Abs.3, Abs.4; 105 Abs.3; 106 Abs.3, Abs.4; 107 Abs.l; 108 Abs.4, Abs.5; 109 Abs.3, Abs.4; 115c Abs.l; 115k Abs.3 S.2; 1151; 120a; 134 Abs.4; 135a GG aufgeführt. 515 Zur Begründung der Zustimmungsbedürftigkeit bei Änderungsgesetzen siehe: BVerfGE 8, 274 (294 f.); 37, 363 (382); B.-O. Bryde in: v. Münch, GG Kommentar, Art.77 Rn.22; A. Bleckmann, Staatsrecht I, Rn.1741. 516 Siehe hierzu: abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (378), abweichende Meinung des Richters Böckenförde, BVerfGE 70, 324 (387), H.G. RitzeljJ. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung 2a; M. Schröder, Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 (473); G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grund-
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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den Begriff des Kembereichs, der einerseits sehr auslegungsfähig und konkretisierungsbedürftig isf 17 und für den sich andererseits kein Anhaltspunkt dem Grundgesetz entnehmen läßt.518 Der Hinweis auf die Unbestimmtheit dieses Begriffes ist sicherlich zutreffend, jedoch sollten Abgrenzungsschwierigkeiten prinzipiell kein Grund sein, auf Zuordnungen zu verzichten. Dies gilt um so mehr, als der Begriff des Kernbereichs in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und in der Literatur oftmals als probates Mittel zur Beschreibung einer unantastbaren Materie gebraucht wird, ohne daß das Grundgesetz den Terminus "Kernbereich" in diesen Zusammenhängen erwähnt. Beispielhaft sei die Grenzbestimmung des Gewaltenteilungsgrundsatzes genannt, bei der es auf die Bestimmung des Kernbereichs der verschiedenen Gewalten sowohl nach Ansicht der Rechtsprechung519 als auch der Literatur520 ankommt. Ebenso ist der Begriff des Kernbereichs bei der Bestimmung der Betätigungsgarantie der Koalitionen gemäß Art.9 Abs.3 S.l GG521 und bei der Festlegung des unantastbaren Bereichs der kommunalen Selbstverwaltuni22 anerlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.161 ff. 517 Abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (378); H.G. Ritzel/J. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung 2a; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.161 f. 518 Abweichende Meinung des Richters Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (378); G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.161. 519 BVerfGE 9, 268 (280); 34, 52 (59); 67, 100 (139). In der BVerfGE 90, 286 (389) spricht das Gericht von dem: "der Regierung von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewährten Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit" . 520 G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.134; D. Schmalz, Staatsrecht, Rn.83; F.E. Schnapp in: v. Münch, GGKommentar, Art.20 Rn.34; R. Scholz, Parlamentarischer Untersuchungsausschuß und Steuergeheimnis, AöR Band 105 (1980), 564 (598); H.D. Jarass in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.16; C. Meyer-Bohl, Die Grenzen der Pflicht zur Aktenvorlage und Aussage vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, S.loo ff.; T. Kuhl, Der Kembereich der Exekutive, S.141 ff.; R. Loeser, Das Bundes-Organisationsgesetz, S.180. 521 BVerfGE 19,303 (321 f.); 28,295 (304); 38,281 (305); 50, 290 (368); 57, 220 (245 f.); W. Löwer in: v. Münch, GG Kommentar, Art.9 Rn.55 f.; F. FarthmannjM. Coen in: BendajMaihoferjVogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 19 Rnrn.3033. 522 Aktuell hierzu: J. Ipsen, Schutzbereich der Selbstverwaltungsgarantie und Einwirkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers, ZG 1994, S.194 ff.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
kannt. Bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen gemäß Art.44 Abs.l GG ist nach allgemeiner Ansicht eine Änderung von Minderheitsanträgen bei Verletzung des Kerns des Untersuchungsgegenstandes unzulässig.S23 Aus der umfangreichen Begriffsverwendung im verfassungsrechtlichen Auslegungskontext ergibt sich, daß die Notwendigkeit der Inhaltsbestimmung und die fehlende unmittelbare Ableitungsmöglichkeit vom Wortlaut des Art.40 Abs.l S.2 GG keinen zwingenden Ausschluß dieses Kriteriums zu bewirken vermögen. Die rechtliche Ausschaltung gesetzgeberischer Tätigkeit bei Eingriffen in den Kernbereich der Geschäftsordnungsautonomie ist sinnvoll, denn wenn ein Eingriff in die Grundlagen des Selbstorganisationsrechts vorliegt, ist dieses Recht und damit die Unabhängigkeit des Parlaments gefährdet. Auch wenn der Topos des Kernbereichs einer allgemeingültigen Definition nicht zugänglich ist, so kann jedoch konstatiert werden, daß der Wortsinn nur einen kleinen, essentiellen und für unantastbar gehaltenen Bereich erfaßt. Parallel zur Bestimmung des Kernbereichs im gewaltenteilungsrechtlichen Sinne ist eine Verletzung des Kernbereichs der Geschäftsordnungsautonomie jedenfalls dann anzunehmen, wenn die eigentliche Funktion des Selbstorganisationsrechts nicht mehr gewährleistet ist. In einem solchen Falle darf das Parlament keine gesetzliche sondern lediglich eine geschäftsordnungsrechtliche Regelung erlassen. Es bleibt anzumerken, daß aufgrund des engen Begriffsverständnisses eine Verletzung des Kernbereichs der Geschäftsordnungsautonomie in der Praxis kaum vorkommen wird. Denkbar wäre eine solcher unzulässiger Eingriff aber für den Fall einer abschließenden Normierung verfahrens- und organisationsrechtlicher Regelungen in einem Gesetz, das den Erlaß einer Geschäftsordnung erübrigte und diese inhaltlich ersetzte. Daß durch Art.40 Abs.l S.2 GG garantierte Recht auf autonomen Erlaß einer Geschäftsordnung würde hierdurch wesensmäßig aufgehoben, so daß auch der als essentiell angesehene Teil des Selbstorganisationsrechts des Bundestages beeinträchtigt wäre.
523 T. Maunz in: Mau~/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.44 Rn.36; W. Hempfer, Zur Anderungsbefugnis der Parlamentsmehrheit bei Minderheitsanträgen auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, ZParl1979, 295 (298).
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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cc) Gewichtige sachliche Gründe für die Wahl der Gesetzesform Die Majorität des Bundesverfassungsgerichts hält eine gesetzliche Regelung nur dann für zulässig, wenn die soeben aufgeführten Kriterien erfüllt sind und darüber hinaus "gewichtige sachliche Gründe dafür sprechen, die Form des Gesetzes zu wählen".524 Hierdurch wird eine sinnvolle Beschränkung des Wahlrechts zwischen gesetzlicher und geschäftsordnungsrechtlicher Regelung auf besonders begründbare Fälle erreicht. Gegen diese Voraussetzung wird eingewandt, daß unklar bleibt, welche Gründe gewichtig und sachlich sind, die eine gesetzliche Regelung erfordern und auf welchem methodischen Weg ihre Bestimmung zu erfolgen hat.525
(1) Konkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht Dieser Befund ändert nichts an dem rechtswissenschaftlichen Bedürfnis nach weiterer Konkretisierung dieses Kriteriums.526 Soweit der Fall des Haushaltsgesetzes von 1984/85 betroffen ist, läßt sich eine genauere Bestimmung "gewichtiger sachlicher Gründe" dem Urteil des Verfassungsgerichts entnehmen. So erfolgt eine Präzisierung durch die Feststellung, daß das offenkundige Bedürfnis strikter Geheimhaltun~27 einen gewichtigen sachlichen Grund darstellt.528 Allgemeine Rückschlüsse für eine Vielzahl anderer Fälle sind dieser Wertung nicht zu entnehmen.
524 BVerfGE 70, 324 (361). 525 G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.163. 526 Weitere Konkretisierung fordern ebenfalls: H.G. Ritzel/J. Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung, S.2a; J. Pietzcker in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.17. 527 BVerfGE 70, 324 (362). 528 Ob eine gesetzliche Regelung besser geeignet ist Geheimhaltungsinteressen Rechnung zu tragen als geschäftsordnungsrechtliche Normierungen erscheint zweifelhaft. Diese Frage bedarf in diesem Zusammenhang keiner weiteren Erörterung, da lediglich die Feststellung des Bedürfnisses der strikten Geheimhaltung als "gewichtiger sachlicher Grund" Rückschlüsse auf die Zulässigkeit förmlicher Gesetze in diesem Rechtsbereich erlaubt. Zur Frage des effektiveren Schutzes der Geheimhaltungsinteressen durch die Regelungsform des Gesetzes siehe: G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.I64.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Den Versuch einer wenig gelungenen allgemeinen Bestimmung unternimmt das Gericht, indem es auf die "Bedeutung des Gegenstandes,,529 abstellt, wobei die unbestimmten Begriffe der "gewichtigen sachlichen Gründe" durch neue ersetzt werden, ohne daß ein Erkenntnisgewinn zu verzeichnen ist. Offen bleibt weiter, wann "gewichtige sachliche Gründe" vorliegen bzw. in welchem Falle die "Bedeutung des Gegenstandes" als gewichtig anzusehen ist.
(2) Weitere Fallgruppen
J. Bücker vertritt die Ansicht, daß aufgrund der ubiquitären Drittwirkung des Parlamentsrechts530 es geboten sein kann, die Form des Gesetzes zu wählen.531 Wird Außenwirkung des Parlamentsrechts angestrebt, so entfällt die Möglichkeit geschäftsordnungsrechtlicher Regelungen, so daß insoweit kein Wahlrecht bestehen kann532 und dieses für eine gesetzgeberische Tätigkeit streitende Motiv keinen wichtigen Grund darstellt. Einen wichtigen Grund für eine gesetzgeberische Tätigkeit erblickt G. Kretschmer in gesteigerter Rechtssicherheit. Durch den Erlaß dauerhafter Gesetze ließe sich vermeiden, daß ungeregelte Rechtslagen einträten, wenn ein Bundestag Geschäftsordnungsvorschriften nicht übernähme und hierdurch Regelungslücken entstünden.533 Diese gewollte Bindung nachfolgender Parlamente an Rechtsetzungsakte vorhergehender Bundestage widerspricht dem Grundsatz der Diskontinuität der Geschäftsordnung, der sich aus Art.40 Abs.l S.2 GG ergibt.534 Außerdem ist nicht anzunehmen, daß ein Bundestag, der entgegen der parlamentarischen Übung einzelne Vorschriften der Geschäftsordnung nicht übernimmt, der gesetzgeberischen
529 BVerfGE 70, 324 (362). 530 Bezüglich der Kritik an der Behauptung, daß parlamentsinterne Angelegenheiten umfangreich gesetzliche Normierung gefunden haben siehe oben auf Seite 120 f. 531 J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986, 324 (333). 532 Siehe zu diesem Gedankengang bereits oben auf Seite 121. 533 G. Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl1986, 334 (337 f.). 534 Vgl. hierzu die Ausführungen auf Seite 69 ff.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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Weitsicht eines vorhergehenden Parlaments zur Regelung eigener Angelegenheiten bedarf. Zutreffend weist M. Schröder darauf hin, daß ein Bedürfnis nach gesetzgeberischer Tätigkeit dann besteht, wenn die innerparlamentarische Regelungsmaterie in engem sachlichen Zusammenhang mit einer gesetzlichen Normierung steht und sich von daher für die Aufnahme in die Geschäftsordnung nicht eignet.535 Für einen gewichtigen sachlichen Grund reicht jedoch nicht jeder lockere Zusammenhang mit einer gesetzlichen Regelung aus, sondern es muß durch die Trennung zu einer Rechtszersplitterung der betreffenden Materie kommen. Besteht eine solche Gefahr, so kann diese die ausreichende Ursache für die Wahl der Gesetzesform darstellen. N. Achterberg hält ein rechtspolitisches Bedürfnis für die Vermeidung autonom getroffener Geschäftsordnungsregelungen für möglich.536 Dieser allgemeine Hinweis auf das rechtspolitische Bedürfnis kann bezüglich bestimmter Fallgruppen weiter konkretisiert werden. Bereits im Rahmen der teleologischen Auslegung des Art.40 Abs.l S.2 GG wurde auf den Sinn formalgesetzlicher Regelungen hingewiesen, die eine den gesamten Staat betreffende symbolische Wirkung besitzen.537 Durch Beteiligung anderer Verfassungsorgane, speziell des Bundesrates, kann auf diese Weise eine gesamtstaatliche Absicherung erfolgen, die eine umfassende symbolische Handlung der Bundesrepublik ermöglicht. Das politisch gewollte einheitliche Handeln oberster Verfassungsorgane zur Erzeugung einer symbolischen Wirkung kann einen gewichtigen sachlichen Grund für den Erlaß eines Gesetzes darstellen. Ein rechtspolitisches Bedürfnis kann darüber hinaus für den Fall einer Regelungsmaterie bestehen, die zwar keine unmittelbare verpflichtende Wirkung für Nichtparlamentarier hat, die aber mittelbar wesentliche Auswirkungen für diesen Personenkreis besitzt. Besonders sind solche Entscheidungen zu nennen, deren Konsequenzen von großer Dauer sind und aufgrund derer umfangreiche finanzielle Maßnahmen zur Entscheidung anstehen. In einem solchen Falle besteht ein schutzwürdiges Interesse der 535 M. Schröder, Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 (473). 536 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.326. 537 Siehe hierzu bereits oben auf Seite 126.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
parlamentsexternen Personen, welches eine dauerhafte, ausnahmsweise der Diskontinuität nicht unterworfene und somit gesetzesförmige Regelung erfordert. Darüber hinaus kann bei sehr zeitaufwendigen Unternehmungen ein Interesse des Bundestages bestehen, dauerhafte und verläßliche Regelungen zu erzeugen.538 Für dauerhafte und umfangreiche Unternehmungen, wie es beispielhaft bei der Verlegung des Parlamentssitzes der Fall ist, stellt die notwendige Beständigkeit der Regelung einen gewichtigen sachlichen Grund dar. Zu erwägen bleibt, ob nicht für den Fall des Eingreifens der Wesentlichkeitslehre539 von dem Vorliegen eines gewichtigen sachlichen Grundes auszugehen ist. Die Wesentlichkeitstheorie hat eine entgegengesetzte Ausrichtung verglichen mit der vorliegenden Frage, denn bei ihrem Eingreifen besteht eine Verpflichtung zur gesetzgeberischen Tätigkeit und nicht nur die bloße Möglichkeit zu einem solchen Vorgehen. Durch eine Anwendung des "erst-recht Schlusses" könnte diese Theorie für die hier anstehende Problematik fruchtbar gemacht werden, denn wenn eine Verpflichtung zum Gesetzeserlaß besteht, existiert die Möglichkeit, ein Gesetz zu erlassen. Ein solches Vorgehen böte aber keine Vorteile, denn an die Stelle der Festlegung der unbestimmten Begrifflichkeit des gewichtigen sachlichen Grundes träte nun die gleiche Aufgabe bezüglich des Topos "wesentlich", wobei nichtmals Deckungsgleichheit zwischen den Topoi besteht. (3) Abwägung Die soeben aufgeführten Gründe können jedoch nicht losgelöst von anderen Umständen des speziell zu entscheidenden Falles betrachtet werden. Vielmehr sind sie im Verhältnis zu der durch die gesetzliche Regelung entstehenden Nachteile zu beurteilen. An das Gewicht der eine gesetzliche Regelung rechtfertigenden Gründe sind um so geringere Anforderungen zu stellen, als auch die Beeinträchtigungen durch die gesetzgeberische Tätigkeit geringe Relevanz besitzt. Die Gründe, auf denen eine formalgesetzliche Regelung basiert, sind daher immer mit Blick auf die 538 Vgl. hierzu: J. Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, 324 (331). 539 Eingehend hierzu: BVerfGE 34, 165 (192 f.); 40, 237 (249); 45, 400 (417); 49, 89 (126 f.); E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.46; R. Bäumlin/H. Ridder in: Alternativkommentar zum GG, Art.20 Abs.l-III, III Rn.62.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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durch die gesetzliche Regelungsform entstehenden Beeinträchtigungen zu bewerten. Dieses Vorgehen findet sich auch in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Haushaltsgesetz 1984/85.540 Es wird dort zwar nicht ausdrücklich als Abwägungsvorgang bezeichnet, das "offenkundige Bedürfnis strikter Geheimhaltung" wird aber mit der Begründung als rechtfertigend anerkannt, daß das Haushaltsgesetz regelmäßig nur Bestand für die Dauer eines Rechnungsjahres besitzt. Beeinträchtigungen der Autonomie nachfolgender Parlamente entstehen im Falle des Haushaltsgesetzes in der Regel nicht. d) Zusammenfassung Als Gesamtergebnis bleibt festzuhalten, daß dem Bundestag zur Regelung eigenorganisatorischer Sachverhalte ein Wahlrecht zusteht, soweit er bestimmte Bedingungen kumulativ erfüllt. Inwieweit diese vorliegen ist eine Frage des Einzelfalles und letztlich durch eine Abwägung zwischen Gründen für die Wahl der Gesetzesform und den daraus resultierenden Nachteilen zu ermitteln.
IV. Ungeschriebene Regelungen parlamentarischer Selbstorganisation
Organisation und Arbeitsweise des Deutschen Bundestages werden nicht nur durch geschriebene Regeln der Verfassung, der Geschäftsordnung und förmlicher Gesetze geordnet, sondern ebenfalls durch mannigfaltige ungeschriebene Rechtsregeln, deren Spektrum von Verfassungsergänzungen bis zu Akten der Courtoisie reicht. Da die organische Tätigkeit des Parlaments immerzu neue Probleme aufwirft, ist es nicht möglich, eine umfassende und abschließende Normierung der parlamentarischen Verhaltensweisen zu erzeugen, so daß auch ungeschriebene Regelungen unverzichtbar für die Handlungs- und Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages sind. Auch durch ihre Anwendung wird die verfassungsrechtliche Stellung des Parlaments konkretisiert.541 540 BVerfGE 70, 324 (362).
541 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis,
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Hinter der Umschreibung der ungeschriebenen Regelungen parlamentarischer Selbstorganisation verbergen sich voneinander wesentlich abweichende Ordnungsmittel, die sowohl in Bezug auf Entstehung, Verbindlichkeit als auch Einordnungsmöglichkeit in die Normenhierarchie stark diffeneren.
1. Gewohnheitsrecht Als ungeschriebene Rechtsquelle des Parlamentsrechts ist zunächst das Gewohnheitsrecht zu nennen. Seine Sätze besitzen Rechtsverbindlichkeit und befinden sich an der Spitze der Normenhierarchie der ungeschriebenen Regeln des Bundestages. Zur Bildung von Gewohnheitsrechf42 bedarf es einer tatsächlichen Übung,543 denn nur dann kann es sich um eine Gewohnheit handeln. Eine gewohnheitsrechtsbegründende Übung ist dann anzunehmen, wenn die betreffenden Verhaltensweisen von einer gewissen Dauer, Ständigkeit, Gleichmäßigkeit und Verbreitung sind.544 Die regelmäßige Übung selbst ist aber keine Rechtsquelle, sondern sie muß erst als solche anerkannt werden.545 Deshalb bedarf Gewohnheitsrecht der "opinio iuris" als subjektives Element.546 Erst durch diese Anerkennung als Recht wird die Gewohnheit als zunächst nur tatsächliche Erscheinung zur Rechtsquelle. Eine Unterteilung gewohnheitsrechtlicher Sätze kann anhand der Zuordnung der geregelten Materie zu bestehenden Normierungen erfolgen. Im Parlamentsrecht wird deshalb zwischen Verfassungsgewohnheitsrecht und Gewohnheitsrecht auf Geschäftsordnungsrecht unterschieden. § 11 Rn.66.
542 Ausführlich zu den Grundlagen des Gewohnheitsrechts siehe: F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S.213 ff.; P. SchwackejR. Uhlig, Juristische Methodik, S.44 f. 543 BVerfGE 22, 114 (121); 28, 21 (28 f.); 34, 293 (303 f.); 57,121 (135). 544 BVerfGE 22, 114 (121); 28, 21 (28 f.); 34, 293 (303 f.); 57, 121 (135) ; W. Heintschel v. Heinegg in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 16 Rn.6. 545 H. Steiger, Or~anisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.46; F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S.215. 546 Aus dem älteren Schrifttum: M. Gebhard, Verfassung und Vetwaltung des Deutschen Reiches nebst wichtigen Nebengesetzen, S.6. Für die heutige Ansicht siehe nur: R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S.9.
C. Regelungsfonnen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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a) Verfassungsgewohnheitsrecht Unter Verfassungsgewohnheitsrecht ist eine Ergänzung grundgesetzlicher Vorschriften durch tatsächliches Handeln und dessen rechtlicher Anerkennung zu verstehen. Die Zuordnung gewohnheitsrechtlicher Regelungen zur Verfassung kann im einzelnen Fall schwierig sein, denn im Gegensatz zur analogen Anwendung einer Norm setzt Gewohnheitsrecht keine bestimmte Regelungslücke voraus. Verfassungsrechtliches Gewohnheitsrecht liegt dann vor, wenn die ungeschriebene Rechtsregel eine besondere Nähe zu verfassungsrechtlichen Vorschriften besitzt. Gewohnheitsrecht ist immer ein von Verfassungsvorschriften abzugrenzender Regelungsinhalt zueigen, denn andernfalls handelte es sich lediglich um Auslegung dieser Vorschriften.547 Die Möglichkeit der Existenz des Verfassungsgewohnheitsrechts wird unter dem Gesichtspunkt verneint, daß die notwendige Anerkennung als Recht nur durch das Bundesverfassungsgericht erfolgen könne,548 denn diesem sei durch das Grundgesetz die Entscheidungskompetenz über die Verfassungsmäßigkeit eines Rechtssatzes grundsätzlich zugewiesen. Seine Rechtsmeinung genieße absoluten Rang.549 Hiergegen hat Karl-Hans Rothaug zutreffen eingewandt, daß dem Bundesverfassungsgericht nur die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Rechtssatzes zugewiesen ist, die bei Gewohnheitsrecht aber dessen Bestehen voraussetzt.550 Wenn darüber hinaus zur Begründung rechtlicher Anerkennung ausschließlich die richterliche Anwendung berücksichtigt werden könnte, ergäben sich im speziellen Fall des verfassungsrechtlichen Gewohnheitsrechtes tatsächlich schwerwiegende Bedenken, denn richterliche Anerkennung kann nur durch das Bundesverfassungsgericht erfolgen, welches wiederum lediglich bei dem
547 Bedenklich insoweit: K-H. Rothaug, die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.84, der von der Möglichkeit einer Zuordnung des Gewohnheitsrechts zum "Nachverständnis" eines Verfassungsrechtssatzes spricht. Dagegen: P. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR Band 99 (1974), 437 (443 f. Fn.37). Dort und bei: H. Huber, Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts in: Rechtstheorie Verfassungsrecht Völkerrecht, 329 (339 f.) siehe zur Abgrenzung zwischen ungeschriebenen Verfassungsrecht und Verfassungsinterpretation. 548 C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S.141. 549 C. Tomuschat, a.a.O. 550 K-H. Rothaug, die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.83. 10 Kühnreich
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Vorliegen eines bestimmten Streitfalles tätig werden kann.551 Diese Einschätzung entspricht aber nicht der Verfassungsrealität, denn eine Anerkennung als Recht erfolgt in der Regel durch das Verhaltens eines staatsleitenden Organs und der entsprechenden Reaktionen der anderen Verfassungsorgane.552 Läßt sich aus dieser Handlungsweise eine Akzeptanz als Rechtsregel herleiten, so besteht die Möglichkeit des Verfassungsgewohnheitsrechts.553 b) Gewohnheitsrecht mit geschäftsordnungsrechtIichem Bezug Besonders die Ergänzung der geschriebenen Geschäftsordnung durch ungeschriebene Regeln ist in der Parlamentspraxis unerläßlich554 und besitzt hohes Gewicht in der parlamentarischen Praxis. Eine abschließende Kodifizierung würde der Dynamik des Geschäftsordnungsrechts und der notwendigen Flexibilität dieser Regelungsmaterie nicht hinreichend Rechnung tragen.555 Die Herausbildung gewohnheitsrechtIicher Sätze ist darüber 551 Sogenanntes Enumerativprinzip, siehe hierzu: K. Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn.72; E. BendalE. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, Rn.188; B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.93 Rn.1; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.489; D.C. UmbachjT. Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 13 Rn.6. 552 Vgl.: H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.47. 553 Die Existenz von Verfassungsgewohnheitsrecht wird von der überwiegenden Ansicht akzeptiert. BVerfGE 34, 216 (217) für den Fall der clausula rebus sie stantibus; P. Schwacke/R. Uhlig, Juristische Methodik, S.44; N. Achterberg, Soziokonformität, Kompetenzbereich und Leistungsefflzienz des Parlaments, DVBl. 1972,841 (844); H. Huber, Rechtstheorie Verfassungsrecht Völkerrecht, in: Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts, 329 (331); K.-H. Rothaug, die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.83; H. Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S.54; H. Gröpper, Gewohnheitsrecht, Obeservanz, Herkommen und Unvordenkliche Verjährung, DVBl. 1969, 945; J.-F. Staats, Zur Berichtigung von Gesetzesbeschlüssen des Bundestages wegen Redaktionsversehen, ZRP 1974, 183 (185); A. Voi~, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, VVdStRl 10 (1952), 33 (37); H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.5. 554 W. Blischke, Ungeschriebene Regeln im deutschen Bundestag in: Festschrift für H. Schellknecht, 55 (56); H.-A. Roll, Erläuterungen zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in: Das Deutsche Bundesrecht, I A 18 S.44; F. Schäfer, Der Bundestag, S.66, stellt fest: "Eine Geschäftsordnung als abgeschlossenenes Gesetzgebungswerk wäre ein Widerspruch in sich." 555 H.-A. Roll, Geschäftsordnungsreform im Deutschen Bundestag, NJW 1981, 23; A. Ruch, Das Berufsparlament S.50 f.; E. Klein in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG Kommentar, Art.40 Rn.6; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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hinaus oftmals die Vorstufe einer Rezeption in die geschriebene Geschäftsordnung.556 Auch bietet parlamentarisches Gewohnheitsrecht umfangreiche Anhaltspunkte, die zur Auslegung der Geschäftsordnungsvorschriften herangezogen werden können.557 Das der Geschäftsordnung zuzuordnende Gewohnheitsrecht, wird auch als parlamentarisches Satzungsgewohnheitsrecht bezeichnet.558 Dieses ist aber nur soweit zutreffend, als entgegen der hier vertretenen Ansicht559 die Rechtsnatur der Geschäftsordnung des Bundestages als Satzung bestimmt wird. Für das Gewohnheitsrecht auf der Stufe der Geschäftsordnung findet sich in der Literatur auch die Bezeichnung "Observanz".56o Dieser Begriff wird vielschichtig und mit verschiedenen zum Teil konträren Inhalten besetzt. Einige Autoren erkennen in ihm eine Umschreibung örtlichen Gewohnheitsrechts,561 andere dagegen kein Gewohnheitsrecht aber Tatsachen von erheblicher Verbindlichkeit vorrechtlicher Art.562 Vereinzelt wird darund Parlamentspraxis, § 11 Rn.66; K.-U. Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, 167; v. Mangold/KleinjAchterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.38 Rn.26; H. Trossmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR Neue Folge Band 28 (1979),1 (42 f.) spricht von der notwendigen Elastizität. 556 K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.84; A. Maibaum, Der Altestenrat des Deutschen Bundestages, S.81; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.24. 557 H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12; M. Schröder, Grundbl~en und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, S.247 f.; G. Straßberger, Abstunmungspraxis und Abstimmungsgrundsätze in der Bundesrepublik Deutschland, S.9. 558 Vgl.: H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.6; K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.84. 559 Siehe ausführlich zur gesamten Problematik Seite 44 ff. 560 H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12; ders.: Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S.235; K.-H. Mattem, Grundlinien des Parlaments, S.78; K.-H. Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, S.13; für den Reichstag schon: H. Breihold, Die Abstimmungen im Reichstag, AöR Band 49 (1926), 289 (296). 561 C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S.56; H. Gröpper, Gewohnheitsrecht, Observanzen, Herkommen und Unvordenkliche Verjährung, DVBI. 1969, 945; H. Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S.54. 562 G. v. Heiß, Die Behandlung von Fragen zur Fragestunde, die Mitglieder des Bundestages berühren in: Festgabe für W. Blischke 211 (226); W. Blischke, Ungeschriebene Regeln im Deutschen Bundestag in: Festschrift für H. Schellknecht, 55
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
unter Parlamentsbrauch verstanden, der über den internen Bereich des Parlaments hinaus geht.563 Teilweise wird er nur unter einem konstitutionellen Vorverständnis für nutzbar gehalten und deshalb ganz abgelehnt.564 Da die Möglichkeit der effektiven Nutzung des Begriffs der Observanz eine umfangreiche Klärung des Vorverständnisses bedarf, ohne daß damit Erkenntnisgewinne verbunden sind, die nicht auf unmittelbarem Wege erreicht werden könnten, wird an dieser Stelle auf seinen Gebrauch verzichtet.565 aa) Besonderheiten der Bildung von Gewohnheitsrecht auf der Stufe der Geschäftsordnung Das geschäftsordnungsrechtliche Gewohnheitsrecht bedarf grundsätzlich den allgemeinen Voraussetzungen der Übung und Anerkennung als Recht.566 Diese Übung kann nur von einer gewissen Dauer, Ständig- und Gleichmäßigkeit sein, wenn sie den Zeitraum einer Legislaturperiode überschreitet.567 Diese Forderung scheint zunächst mit dem Prinzip der parlamentarischen Diskontinuität nicht vereinbar zu sein, denn das so entstandene Gewohnheitsrecht bindet nachfolgende Parlamente. Hierauf gestützt liegt die Folgerung nahe, daß dieses Gewohnheitsrecht eine längere Geltungsdauer besitzt als das durch sie ergänzte Recht der kodifizierten Geschäftsordnung, (68). Dieses Begriffsverständnis kommt dur~h die Formulierung: "Durch Oberservanz erzeugte Rechtsregel" zum Ausdruck. Ahnlich aus dem älteren Schrifttum: J. Bender, Allgemeines Staatsrecht S.7, M. Gebhard, Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches nebst wichtigen Nebengesetzen, S.6, die unter Observanzen "Gepflogenheiten staatsrechtlicher Natur" verstehen. 563 K-U. Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, 167. 564 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.12; K-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.84.
565 So verweist auch M. Schulte in: v. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.50, lediglich auf die Unklarheit dieses Begriffs und seiner Abgrenzung gegenüber dem parlamentarischen Gewohnheitsrecht. 566 Zu den Voraussetzungen siehe Seite 144. 567 G. Straßberger, Abstimmungspraxis und Abstimmungsgrundsätze in der Bundesrepublik Deutschland, S.8; K-H. Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, S.14; K-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.85; aA. W. Blischke, Ungeschriebene Regeln im Deutschen Bundestag, in: Fest~chrift Schellknecht, S.55 (60), der jedoch nur geringe Anforderungen an Dauer und Übung stellt.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
149
welches nach jeder Legislaturperiode außer Kraft tritt. Hieraus folgert K.F. Amdt die Unmöglichkeit eines solchen Gewohnheitsrechts.568 Besonders deutlich wird nach seiner Ansicht die Unmöglichkeit des Gewohnheitsrechts auf der Stufe der Geschäftsordnung für den Fall der parlamentarischen Angelegenheiten, die in der Regel nur einmal in einer Wahlperiode anstehen.569 Dieser Einwand überzeugt jedoch nicht. Bei der ausdrücklichen oder auch konkludenten Übernahme der Geschäftsordnung durch einen neuen Bundestag wird zugleich das gesamte ungeschriebene Parlamentsrecht rezipiert in dem Umfang, in dem es zum Ende der Wahlperiode bestand.570 Lediglich auf diese Art ist die Funktionsfähigkeit des Parlaments gesichert, da das autonome Parlamentsrecht keiner abschließende Kodiftzierung zugänglich ist.571 Eine ständige Übung kann daher über mehrere Legislaturperioden bestehen, ohne daß der Grundsatz der Diskontinuität verletzt wäre, denn jedes Parlament hat die Möglichkeit durch ausdrücklichen schlichten Parlamentsbeschluß das parlamentarische Gewohnheitsrecht außer Kraft zu setzen.
568 KF. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.131; vgl. auch: H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12. 569 KF. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.131 nennt das Beispiel der Wahl des Bundestagspräsidenten. Gerade aber die Einhaltung des Rechts des ältesten Bundestagsabgeordneten auf die Eröffnungsrede bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages hat sich bei dem ersten Zusammentritt des 13. Bundestages als tragfähig etwiesen. Diese Rede hielt der PDS-Abgeordnete Stefan Heym, obwohl alle anderen Fraktionen Bedenken gegen seine P~rson äußerten. Hierzu FAZ v. 11.11.1994, S.l, 2. Der Nachweis der betreffenden Übung findet sich für die 1. - 9. Wahlperiode bei: P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1949 - 1982, S.230 und für die 10. - 12. Wahlperiode: ders., Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1983 - 1991, S.365. 570 G. v. Heiß, Die Behandlung von Fragen zur Fragestunde, die Mitglieder des Bundestages beruhren in: Festgabe für W. Blischke, 211 (226); W. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, S.154; U. Franke, Ordnungsmaßnahmen der Parlamente, S.117; H. Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 1 Rn.7.7; H. Schulze-Fielit~ in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.8. lediglich zur Ubemahmemöglichkeit: H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12. 571 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.66; H.-A. Roll, Geschäftsordnungsreform im Deutschen Bundestag, NJW 1981, 23; A. Ruch, Das Berufsparlament S.50 f.; E. Klein in: SchmidtBleibtreu/Klein, GG Kommentar, Art.40 Rn.6; K-U. Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, 167; v. Mangold/-Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.38 Rn.26.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Bezüglich der konstitutiven Voraussetzung der Anerkennung als Recht wird man im. Bereich der Selbstorganisation des Parlaments nicht verlangen können, daß die Rechtsüberzeugung eine gesellschaftlich umfassende ist. Vielmehr kommt es in diesem Zusammenhang entscheidend auf die Akzeptanz durch die Abgeordneten als Adressaten der selbstorganisationsrechtlichen Regelung an. 572 Eine solche Achtung als Recht findet im. Einzelfall auch durch den Präsidenten573, durch den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und durch den Ältestenrat statt.574 Die Letztentscheidung verbleibt beim. Plenum, das aber in der Regel durch stillschweigende Zustimmung die Entscheidung der oben aufgeführten Organe akzeptiert.575 bb) Bindungswirkung Das die Geschäftsordnung ergänzende Gewohnheitsrecht kann in seiner Bindungswirkung keine umfassenderen Auswirkungen entfalten als das kodifizierte Geschäftsordnungsrecht.576 Dieses Recht erlangt nur Bindungswirkung gegenüber Parlamentariern und Personen, die aufgrund eines eigenen freien Entschlusses im. Parlament auftreten,577 so daß auch das ergänzende Gewohnheitsrecht auf diesen Personenkreis beschränkt ist.
572 G. Straßberger, Abstimmungspraxis und Abstimmungsgrundsätze in der Bundesrepublik Deutschland, S.8; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.9. Tendenziell auch: K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.85, der partiell auf die Anerkennung durch Regierungs- und Bundesratsvertreter abstellt. 573 H. Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 52 Rn.5.3.1. 574 .. H. Franke, Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Altestenrat des Bundestages, S.100 ff.; v. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.50; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.9; W. Zeh in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 42 Rn.38. 575 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.9. 576 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.16; K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.86; H. Lechner/K. Hülshoff, Parlament und Regierung, S.186. 577 Zur beschränkten Bindungsmöglichkeiten durch die Geschäftsordnung siehe oben auf Seite 74 ff.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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cc) Abweichung im Einzelfall Das Selbstorganisationsrecht des Bundestages ermächtigt diesen, für den Fall der Abweichung von den Vorschriften der Geschäftsordnung eine Regelung zu treffen, durch die eine qualifizierte Parlamentsmehrheit erforderlich wird.578 Dies ist durch die Festlegung einer Zweidrittelmehrheit in § 126 GeschO BT geschehen. Unter Berücksichtigung dieser Besonderheit bedarf es der Klärung, ob Abweichungen vom Gewohnheitsrecht möglich sind und inwieweit dafür eine ebensolche qualifizierte Mehrheit notwendig ist. Da das Gewohnheitsrecht keine umfassendere Bindungswirkung entfalten kann als das zu ergänzende Recht,579 ist eine Abweichung im Einzelfall möglich. Inwieweit eine einfache Mehrheit ausreicht oder ob aufgrund der momentanen Regelung in § 126 GeschO BT zweidrittel der Abgeordneten einer Abweichung zustimmen müssen, wird in der Literatur nicht einheitlich beurteilt.58o Da gewohnheitsrechtliche Regelungen auf dieser Ebene die gleiche Bindungswirkung entfalten wie Normen der Geschäftsordnung, sind gleiche Anforderungen an die Abweichungsmöglichkeit zu stellen. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied, ob das Parlament ausdrücklich Vorschriften erläßt oder diese konkludent durch stetige Übung und Anerkennung als für sich bindend akzeptiert. Bei der gegenwärtigen Regelung bedarf es demzufolge für eine Abweichung vom geschäftsordnungsrechtlichen Gewohnheitsrecht einer Zweidrittelmehrheit. Die Änderung oder Aufhebung des Gewohnheitsrechts kann ausdrücklich und durch das Auftreten entgegenstehender Übung auch konkludent erfolgen.581 Hierzu ist ebenso, wie bei Änderungen von Geschäftsordnungsvorschriften, eine einfache Mehrheit ausreichend.
578 Siehe hierzu Seite 73. 579 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.16; K-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.86.
580 Eine einfache Mehrheit läßt ausreichen: H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12. Eine Zweidrittelmehrheit fordern dagegen: H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.7; H. Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 52 Rn.53.1. 581 Vgl.: H. Gröpper, Gewohnheitsrecht, Observanz, Herkommen und Unvordenkliche Verjährung, DVBl. 1969,945.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Auch wenn auf den ersten Blick die Anforderung verschiedener Mehrheiten für. die Abweichung und die Aufhebung bzw. Änderung des geschäftsordnungsrechtlichen Gewohnheitsrechts wenig überzeugend wirkt, so erhellt sich dieser Zusammenhang durch deren besondere Natur. Bei einer Abweichung besteht der festgelegte Grundsatz weiter fort, wohingegen bei einer Änderung eine dauerhafte neue Manifestierung erfolgt. Durch Einzelfallabweichungen können in der Regel gewährte Rechte, die nicht verfassungsrechtlich verbrieft sind, in speziellen Fällen vorenthalten werden. Hier sind die Mißbrauchsmöglichkeiten ausgeprägter als bei einer dauerhaften Änderung, deren Regelungsbereich zukünftig auch andere Parlamentarier erfassen wird, so daß es konsequent ist, für jegliche Art von Einzelfallabweichungen eine qualifIzierte Mehrheit zu fordern. dd) Tatsächlich bestehendes Gewohnheitsrecht auf Geschäftsordnungsebene Aufgrund des Umstandes, daß wesentliche parlamentarische Übungen in der Regel durch Aufnahme in die geschriebene Geschäftsordnung absorbiert werden, ist die Parlamentspraxis mit der Annahme von Gewohnheitsrecht auf der Ebene der Geschäftsordnung, sehr zurückhaltend. Ebenfalls strittig ist oftmals, ob die konstitutive Voraussetzung der Anerkennung als Recht besteht, wobei der Grund dieses Zustandes in den voneinander abweichenden Beurteilungszeitpunkten liegt. Dies bedingt wiederum die uneinheitliche Einschätzung spezieller Fragen. Ihre Beantwortung bedarf umfangreichen am Einzelfall ausgerichteten Untersuchungen, so daß auf spezielle Darstellungen verwiesen wird.582
2. Infonnale Parlamentsregeln Neben dem parlamentarischen Gewohnheitsrecht im weiteren Sinne bestehen andere ungeschriebene Ordnungsmechanismen, so daß die ungeschriebenen Regeln des Parlamentsrechts in zwei Hauptgruppen unterteilt werden können. Einerseits existiert das Verfassungsgewohnheitsrecht und 582 Überblick bei: H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.10; K-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.85 f.
C. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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das Gewohnheitsrecht auf der Ebene der Geschäftsordnung, welche rechtlich verbindlich sind, und davon abgrenzbar gibt es ungeschriebene Regeln ohne Rechtscharakter, denen lediglich ein politischer Verbindlichkeitsanspruch zukommt, der sie im Rahmen der Parlamentspraxis rechtsähnlich wirksam werden läßt. Diese rechtlich nicht verbindlichen, jenseits der Einteilung von Recht und Politik liegenden Regeln werden als informale Parlamentsregeln bezeichnet.583 Aus dem Umstand, daß sie sich aus der Notwendigkeit der parlamentarischen Funktionsfähigkeit und deren Optimierung ergeben, resultieren stetige Neuerungen, aus denen die Unmöglichkeit einer abschließenden Klassifikation dieser informalen Regelungen fOlgt.584 Es lassen sich aber einzelne Hauptgruppen erkennen:585
a) Parlamentarische Übung Parlamentarische Übung ist eine regelmäßig wiederkehrende, stets wesentlich gleiche, akzeptierte Praxis, die nicht rechtlich bindend als Gewohnheitsrecht, sondern ohne jeglichen Rechtscharakter als grundsätzlich bewahrenswerte Tradition angesehen wird.586 Dieser Sachverhalt wird ebenfalls durch die Bezeichnungen als parlamentarischer Brauch,587 Geschäftsord-
583 D. Engels in: Grafv. Westphalen, Parlamentslehre, S.209 f.; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.14; mit Beispielen ders.: Der informale Verfassungsstaat, S.21 ff.; C. Hanke, Informale Regeln als Substrat des parlamentarischen Verhandlungssystems. Zur Begründung einer zentralen Kategorie der Parlamentarismusforschung, ZParl1994, 410 (420). 584 Hierzu sei auf die neuen Anforderungen an den 13. Deutschen Bundestag verwiesen, der zum ersten Mal vier Fraktionen und die PDS Gruppe enthält. Bei der Zusammensetzung parlamentarischer Gremien muß diesem Umstand Rechnung getragen werden, so daß es hierzu spezieller Lösungen bedarf. 585 Eine umfangreiche Darstellung fmdet sich bei: H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.19 ff. 586 Vgl. ähnliche Ausführungen bei: H.-P. Schneider in: Altemativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.48; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.15; D. Engels in: Graf v. \Vestphalen, Parlamentslehre, S.209; K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.8; K.-H. Kleinschnittger, Die rechtliche Stellung des Bundestagspräsidenten, S.13; K.-U. Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, 167 f.; G. Straßberger, Abstimmungspraxis und Abstimmungsgrundsätze in der Bundesrepublik Deutschland, S.8; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.67 (Fn.l02). 587 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.15.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
nungsbrauch,588 Parlamentsbrauch,589 Herkommen590 oder Konventionalregel591 umschrieben. Im Gegensatz zum parlamentarischen Gewohnheitsrecht muß bei der parlamentarischen Übung keine Anerkennung als Recht vorliegen.592 Die praxisrelevanten Schwierigkeiten hängen meist mit der Bestimmung der Anerkennung als Recht zusammen. Beispielhaft sei die Zulässigkeit von Zwischenrufen trotz Festlegung einer Anmeldepflicht für Zwischenfragen und Zwischenbemerkungen in § 27 Abs.2 S.l GeschO BT genannt. Hält man die Möglichkeit zu Zwischenrufen für rechtlich anerkannt, besteht ein Gewohnheitsrechtssat~93, wohingegen bei Fehlen einer solchen Akzeptanz nur eine Regel der parlamentarischen Übung angenommen werden kann.594 Eine rechtliche Anerkennung eines Zustandes, welcher im Widerspruch zu dem Wortlaut einer Norm steht, erscheint kaum möglich, so daß die Zulässigkeit von Zwischenrufen wohl als parlamentarische Übung zu qualifizieren ist. Ähnlich wie das geschäftsordnungsrechtliche Gewohnheitsrecht ist die parlamentarische Übung oftmals die Vorstufe einer Rezeption in die ge588 G.B. Schweitzer, Aktuelle Probleme des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts, NJW 1956, 84. 589 V. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.51; H.-A. Roll, Erläuterungen zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in: Das Deutsche Bundesrecht I A 18, S.14; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12; H. LechnerjK. Hülshoff, Parlament und Regierung, S.186. 590 C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? , S.57; siehe dort auch die Ausführungen zur unscharfen Begriffskonturierung. 591 M. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVdStRl29 (1971), 46 (72 f.); T. Oppermann, Das Parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VVdStRl 33 (1975), 7 (54); K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.87; H. Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S.55; H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S.243; K.-U. Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, 167; vgl.: H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.48. 592 H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12; v. MangoldjKleinjAchterbergjSchulte, Bonner Grundgesetz, Art.40 Rn.51; K.-U. Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, 167 (168). 593 So: K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.86; H. Trossmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR Neue Folge Band 28 (1979), 1 (174). 594 Diese Ansicht vertreten: W. Zeh in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 43 Rn.35; H. Schulze-Fielitz in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.15.
c. Regelungsformen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages
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schriebene Geschäftsordnung und kann in seltenen Fällen sogar zu einer Verfassungsänderung führen.595 Teilweise verdichtet sich bei diesem Vorgang zunächst der parlamentarische Brauch zum Gewohnheitsrecht.596 Aus dem parlamentarischen Brauch lassen sich wesentliche Anhaltspunkte zur Auslegung der Geschäftsordnung des Bundestages und der diesen betreffenden Grundgesetznormen gewinnen.597 Diese rechtlich nicht verbindliche parlamentarische Übung ermöglicht Experimente und fördert so die Lernbereitschaft des Bundestages.598 Auch wenn dem Parlamentsbrauch die rechtliche Verbindlichkeit fehlt, besitzt er wesentliches politisches Gewicht, so daß sich der Bundestag grundsätzlich an die Regeln der parlamentarischen Übung hält.599 Da der Parlamentsbrauch sowohl für den bestehenden als auch für den nachfolgenden Bundestag keine rechtliche Bindungswirkung entfaltet, be-
595 So schon für den Reichstag: J. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S.22 f.; H. Breihold, Die Abstimmung im Reichstag, AöR Band 49 (1926), 289 (296, Fn.22). Für den Bundestag in b~ug auf Herkommen: BVerfGE 2, 307 (316); speziell für die parlamentarische Übung: v. Mangold/Klein/Achterberg/ Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.38 Rn.26; G. Straßberger, Abstimmungspraxis und Abstimmun~grundsätze in der Bundesrepublik Deutschland, S.8; K.-H. Rothaug, Die LeItungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.87; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.48; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.24; G.B. Schweitzer, Aktuelle Probleme des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts, NJW 1956, 84 (85); P. Häberle, Buchbesprl?chung: Die kontingentierte Debatte, ZRP 1977, 311 (312); A. Maibaum, Der Altestenrat des Deutschen Bundestages, S.81. In diesem Zusammenhang fordert eine fortwährende Anpassung des Parlamentsverfassungsrechts an neuere Entwicklungen: A. Meyer, Parlamentsverfassungsrecht - Anstöße für eine Reform, Aus Politik und Zeitgeschichte Band 43 (1993), B 52-53, 44 (48). 596 N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.67; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.138; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.24; W. Blischke, Ungeschriebene Regeln im Deutschen Bundestag, in: Festschrift für H. Schellknecht, 55 (60); v. Mangold/ Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art.38 Rn.26. 597 H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.48; M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, S.247 f.; G. Straßberger, Abstimmungspraxis und Abstimmungsgrundsätze in der Bundesrepublik Deutschland, S.9; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.40 Rn.12. 598 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.66; ders.: Der informale Verfassungsstaat, S.103 f. 599 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.74.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
stehen weder Bedenken hinsichtlich des Diskontinuitätsprinzips noch bezüglich der Abweichungsmöglichkeit im Einzelfall600. b) Präzedenzfälle Präzedenzfälle sind Ergebnisse von Einzelfallentscheidungen des Bundestagspräsidenten, der Ausschüsse oder des gesamten Hauses.601 Sie können Ausgangspunkt für parlamentarische Bräuche sein, die sich dann wieder zu rechtlich bindenden Regelungen entwickeln können. Auch wird durch diese Einzelfallentscheidungen die Auslegung der Geschäftsordnung immer mehr verfeinert.602 Präzedenzfälle haben bei der Fortentwicklung des Parlamentsrechts seit jeher initiale Wirkung besessen.603 Exemplarisch sei hier die Erteilung der Redemöglichkeit an Mr. Woodburn den Leiter einer Delegation von britischen Parlamentsabgeordneten genannt, der als erster ausländischer Nichtparlamentarier vor dem Bundestag sprach. Aufgrund dieser ersten Entscheidung des Bundestages, wurde später weiteren ausgewählten Gästen eine solche Möglichkeit eingeräumt.604 c) Interfraktionelle Vereinbarungen Wegen ihrer gewichtigen Stellung in der Parlamentsorganisation haben die interfraktionellen Vereinbarungen eine herausgehobene Position innerhalb der Gruppe der informalen Parlamentsregeln.605 Sie sind Ergebnisse 600 K.-U. Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, 167 (168). 601 W. Blischke, Ungeschriebene Regeln im Deutschen Bundestag, in: Festschrift für H. Schellknecht, S.55 (64). 602 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.21.
603 Vgl.: v. Mangold/Klein/Achterberg/Schulte, Bonner Grundgesetz, Art38 Rn.26; W. Blischke, Ungeschriebene Regeln im Deutschen Bundestag, in: Festschrift für H. Schellknecht, S.55 (64). 604 Eine Aufzählung findet sich bei P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1980 - 1984, S.544; ders., Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1983 - 1991, S.574. 605 H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.46; H. Franke Seniorenkonvent S.118 ff. i.V.m. 128 ff.; ARS. Dammholz, Die interfraktionelle Vereinbarung S.3 ff. Beispiele bei: A.R.S. Dammholz, a.a.O; K.F. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parla-
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts
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von informellen Besprechungen zwischen Fraktionen des selben Parlaments und setzen ein diesbezügliches Einvernehmen voraus, soweit Gegenstände geregelt werden, die den allgemeirien Geschäftsgang des Bundestages betreffen. 606 Erst durch das Erstarken der Stellung der Fraktionen haben die interfraktionellen Vereinbarungen, durch die nahezu alle Funktionsbereiche dieser Zusammenschlüsse abgedeckt werden, die ihnen nun zukommende Wesentlichkeit erhalten. Als einprägsames Beispiel sei das Pairing genannt. Hierunter wird eine Absprache verstanden, aufgrund derer eine Verpflichtung besteht, daß Abgeordnete einer Fraktion bei der selben Abstimmung abwesend sein werden, wenn auch solche anderer Fraktionen absent sind. Auf diesem Wege wird die fehlende Abstimmungsteilnahme von Mitgliedern einer Fraktion neutralisiert.607
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts Da das Selbstorganisationsrecht des Bundestages einen Kompetenztitel darstellt, ist mit der inhaltlichen Bestimmung dieses Rechts die Frage nach den Grenzen der daraus resultierenden Macht unmittelbar verbunden. Eine unbegrenzte Regelungsmöglichkeit im organisationsrechtlichen Bereich, würde sich nicht in die durch die Systematik des Grundgesetzes begründete Entscheidungspluralität einpassen. Darüber hinaus würde eine grenzenlose Zuständigkeit zur Regelung sämtlicher organisatorischer Problemfelder faktisch zur Auflösung anderer Verfassungsinstitute oder zur Gefährdung der anderen Verfassungsorgane und ihrer Unabhängigkeit führen. Das Recht zur Selbstorganisation muß in den Staatsautbau eingebunden sein, so daß andere Normen des Grundgesetzes ihre volle Wirkung entfalten können. Schon aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit zur Einschränkung.
mentsrecht, S.96 ff. 606 K.-H. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S.88. 607 Hierzu: H.-E. Röttger, Forum: Die parlamentarsische Stimmrechtsbeschränkungsvereinbarung ("Pairing"), JuS 1977, 7 ff.; H. Schulze-Fielitz in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.50.; C. Arndt, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21 Rn.51; N. Achterberg, Parlamentsrecht, S.646 f.; H. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 54 Anh. B.
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht I. Vorschriften der Verfassung
Evident ist der Grundsatz, daß das Selbstorganisationsrecht des Bundestages nur innerhalb der Grenzen anderen Vorschriften der Verfassung bestehen kann. 608 Dies findet seine Bestätigung in dem unbestrittenen Vorrang der Verfassungsnormen gegenüber denen der Geschäftsordnung. 609 Die Vorschriften des dritten Abschnitts des Grundgesetzes besitzen besonderes Gewicht bei der Begrenzung des Selbstorganisationsrechts. Hier wurden umfangreiche parlamentsorganisatorische Regelungen unmittelbar in der Verfassung festgelegt und sind der Dispositionsmöglichkeit des Bundestages entzogen.610 Aber auch andere Vorschriften des Grundgesetzes ziehen in der Parlamentspraxis der bestehenden Gestaltungsfreiheit des Bundestages Grenzen. 611 Ob ein Verstoß gegen Verfassungsvorschriften vorliegt, ist durch Auslegung der in Frage stehenden Normen zu ermitteln. Mit der Begrenzung durch Verfassungsvorschriften eng verbunden ist die Diskussion um die Einschränkung der Kompetenz zur Eigenorganisation durch Verfassungsprinzipien. Besonders werden in diesem Zusammenhang das Demokratieprinzip, das Bundesstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip in seinen verschiedenen Ausprägungen genannt.
11. Demokratieprinzip
Zu erwägen ist eine Determinierung des Selbstorganisationsrechts des Parlaments durch das Demokratieprinzip. Diese sich aus Art,20 Abs.l und Art,28 Abs.l S.l GG ergebende und durch den Grundsatz der Volkssouveränität aus Art.20 Abs.2 S.l GG bekräftigte Maxime612 ist jedoch nicht als
608 Siehe nur: J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 11 Rn.5. 609 Hierzu siehe Ausführungen auf Seite 79. 610 So besonders die Art.39; 40 Abs.2; 42 Abs.l und Abs.2; 44 Abs.l; 45 a; 45 b GG. 611 Umfangreiche Beispiele finden sich bei: J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.5 f. 612 B. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.l, 4; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.40; E. Stein in: Altemativkommentar zum GG, Art.20 Abs.1-3 11, Rn.10; K. Ipsen/V. Epping, Die erste ge-
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts
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eine umfassende Generalklausel zu verstehen. 613 Vielmehr werden durch dieses Prinzip die im Grundgesetz verstreuten Bestimmungen über die Willensbildung des Volkes und die Grundsätze des parlamentarischen Regierungssystems auf eine Kurzformel gebracht, ohne daß es selbständige Detailregelungen enthält. Demokratie im Sinne von Art.20 Abs.l GG ist deshalb die durch das Grundgesetz in seinen einzelnen Vorschriften verfaßte parlamentarische Demokratie.614 Wenn aber das Selbstorganisationsrecht durch Verfassungsvorschriften unmittelbar begrenzt wird, ist eine darüber hinausgehende Einschränkung durch das Demokratieprinzip, welches ebenfalls auf diesen Verfassungsbestimmungen basiert, grundsätzlich nicht mehr notwendig.615 Ein Rückgriff auf das in seinen Konturen nicht klar abgegrenzte Demokratieprinzip616 ist nicht angezeigt. Vielmehr sind die konkreten verfassungsrechtlichen Ausprägungen zur Grenzbestimmung heranzuziehen.617
samtdeutsche Wahl - Ein Bericht über eine öffentlichrechtliche Hausarbeit, JuS 1991, 1022 (1024). Zum Begriff der Volkssouveränität eingehend: I. v. Münch, Staatsrecht Band I, Rn.l25; P. Badura in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band I, § 23 Rn.27. 613 J. Ipsen, Staatsorganisationsrechtrecht, Rn.40. 614 A. Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S.l72; J~ Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.40; I. v. Münch, Staatsrecht, Band I, Rn.l24. M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, S.152, bezeichnet das Demokratieprinzip lediglich als "kontextbezogen und kontextabhängig" . 615 So aber: BVerfGE 44, 308 (315); B. Pieroth in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.40 Rn.5; H. Fangmann/M. BlankjU. Hammer, GG-Kommentar, Art.40 Rn.5, bezüglich der Begrenzung der Geschäftsordnungsautonornie durch das Demokratieprinzip. 616 Vgl. hierzu grundlegend für mehrere strukturprägende Vepassungsprinzipien: F. Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, DÖV 1980, 545; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.3; S. Magiera in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 52 Rn.45; E. Stein in: Alternativkommentar zum GG, Art.20 Abs.1-31I, Rn.9. 617 Würde beispielsweise der Bundestag eine Regelung treffen, nach der seine Sitzungen grundsätzlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit und nur in Ausnahmefällen frei zugänglich abgehalten würden, so könnte durch diese organisatorische Regelung gegen das Demokratieprinzip verstoßen werden, denn die Tranzparenz parlamentarischer Willensbildungsprozesse als Teil der Volkssouveränität und als Grundsatz eines parlamentarischen Regierungssystems wäre nachhaltig beeinträchtigt. In diesem Falle ist nicht auf den Umfang des Demokratieprinzips abzustellen, sondern vielmehr eine Entscheidung unmittelbar anhand von Art.42 Abs.l S.l GG zu erzielen, aufgrund dessen der Bundestag öffentlich verhandelt.
160
1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
III. Bundesstaatsprinzip
Bei Beeinträchtigungen der bundesstaatlichen Ordnung durch Maßnahmen der Selbstorganisation ist eine Begrenzung durch das Bundesstaatsprinzip zu erwägen. Dieses föderative Prinzip, das sich aus Art.20 Abs.l GG ergibt und ferner in der Präambel und in den Art.23, 30, 70, 83 GG zum Ausdruck kommt, umfaßt als rechtliche Garantie den durch die Vorschriften des Grundgesetzes verfaßten Bundesstaat.618 Unter diesem ist ein Gesamtstaat zu verstehen, der durch den Zusammenschluß mehrerer Gliedstaaten entstanden ist.619 Ähnlich wie bei dem Demokratieprinzip bedarf es keines Rückgriffs auf das Bundesstaatsprinzip, da die Begrenzung der in Frage stehenden Kompetenz schon unmittelbar durch die grundgesetzlichen Normen erfolgt und eine darüber hinausgehende Einschränkung durch diese Maxime nicht stattfindet.
IV. Rechtsstaatsprinzip
Anders verhält es sich jedoch bei der Eingrenzung des Selbstorganisationsrechts des Bundestages durch das Rechtsstaatsprinzip, da sein Regelungsbereich über die Gesamtaddition der einzelnen Verfassungsvorschriften hinausgeht.620 Die Absicherung der Rechtsstaatlichkeit ist in Art.20 GG nicht ausdrücklich genannt. Sie ergibt sich jedoch aus Art.20 Abs.2 S.2 GG, dem Gewaltenteilungsprinzip, und aus Art.20 Abs.3 GG, worin die Bindung an die Verfassung und an Gesetz und Recht festgelegt ist.621 Teilweise wird ergän-
618 C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.81; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.504. 619 BVerfGE 6, 309 (364); F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.8; D. Schmalz, Staatsrecht, Rn.162; zu den im einzelnen unterschiedlichen Definitionen vgl.: O. Kimminich in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatrechts, Band I, § 26 Rn.5 ff.; K Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 19 11 a. 620 K Goeckel, Die Grundsätze des Rechtsstaats in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, S.15; K-H. Seifert/D. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.9. AA. F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.21; ders. Verhältnismäßigkeitsprinzip und Verwaltungsverfahrensrecht in: Festschrift H.U. Scupin (80. Geburtstag), 899 (906). 621 Mit Schwerpunkt auf Art.20 Abs.3 GG: C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.214,
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts
161
zend Art.20 Abs.1 GG als verfassungsrechtliche Grundlage angeführt. 622 Das Bundesverfassungsgericht nennt, sofern es überhaupt einzelne Normen als Grundlage angibt, oft einen gemischten Geltungsgrund und verweist auf Art.20 Abs.3 GG und eine Gesamtschau der Bestimmungen der Art.1 Abs.3, 19 Abs.4 und 28 A b s.l S.l GG.623 Der Begriff des Rechtsstaats besagt zunächst nur, daß der bestimmende Ordnungsfaktor für das Zusammenleben im Staat das Recht ist, das heißt, daß die Ausübung staatlicher Macht umfassend rechtlich gebunden ist.624 Da diese Definition aufgrund ihrer Weite nicht handhabbar ist, wird zwischen dem Rechtsstaatsbegriff im formellen und materiellen Sinne unterschieden.625 Rechtsstaat im formellen Sinne meint, daß jeder Staatsakt auf eine Rechtsnorm rückführbar ist, wodurch Rechtssicherheit geschaffen wird. 626 Der materielle Rechtsstaat ist bestimmt von der Idee der Gerechtigkeit,627 so daß bei einem inhaltlichen Widerspruch zum Wertesystem des Grundgesetzes den materiellen Anforderungen des Rechtsstaatsbegriffs nicht Folge geleistet worden ist.628 allgemein zur grundgesetzlichen Ableitung: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 2011 3; P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S.63 ff. 622 E. Schmidt-Assmann in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band I, § 24 Rn.3. 623 BVerfGE 2, 380 (403), in BVerfGE 35, 41 (47); 39, 128 (143) wird lediglich Art.20 Abs.3 GG angeführt. 624 C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.214; E. Stein, Staatsrecht, § 42 IV 2; E. Schmidt-Assmann in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band I, § 24 Rn.21; K. Doehring, Staatsrecht, S.231. 625 K.A. Schachtschneider, Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, JA 1978, 185; D. ~erten, Re~htsstaat und Gewaltmonopol, S.10 ff.: C. Dege~art, Staatsre~h~ I, Rn.215, I. v. Munch, Staatsrecht, Band r, Rn.326 f., E. Schmidt-Assmann ID. IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band I, § 24 Rn.18 f.; O. Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVdStRl 12 (1954), 37 (38 f.); F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.22; kritisch dagegen: J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.761; G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.61 f. 626 I. v. Münch, Staatsrecht, Band I, Rn.326; F.E. Schnapp in: v. Münch, GGKommentar, Art.20 Rn.22. 627 BVerfGE 7, 194 (196); 20, 323 (331); 21, 378 (388); 28, 264 (277); F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.22; K.A. Schachtschneider, Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, JA 1978, 185. 628 E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, Festschrift für A. Amd, 53 (72); F. HasejK.-H. LadeurjH. Ridder, Nochmals: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, JuS 1981, 794 (796 ff.); I. v. 11 Kühnreich
162
1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Das materiale Element der Gerechtigkeit besteht nicht ein für allemal, sondern muß täglich neu gebildet und bestätigt werden. Rechtsstaatlichkeit ist deshalb zugleich Zustand und Staatszie1.629 Das Rechtsstaatsprinzip ist trotz seines zusammenfassenden Charakters mehr als die Summe seiner Teile630 und stellt somit eine eigenständige Grenze des Selbstorganisationsrechts dar. Dieses in der Verfassung nur zum Teil näher ausgeformte Rechtsstaatsprinzip enthält keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote und Verbote und bedarf daher weiterer Konkretisierung. 631 Eine genauere Bestimmung erfolgt durch gliedernde Unterteilungen. Ihm zugeordnete wichtige Institute632 werden im folgenden untersucht, jedoch nur soweit, als durch sie die Möglichkeit der Begrenzung des Selbstorganisationsrechts des Bundestages besteht.
1. Gewaltenteilungsprinzip
Ausgangspunkt des auf Charles de Montesquieu und sein 1748 erschienenes Buch "De l'esprit des lois" zurückgehenden Gewaltenteilungsprinzips633 ist die Einteilung der staatlichen Aufgabenerfüllung in die drei Münch, Staatsrecht Band I, Rn.327; O. Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, VVdStRl12 (1954), 37 (39). 629 A. Katz, Staatsrecht, Rn.169; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.762. 630 K. Goeckel, Die Grundsätze des Rechtsstaats in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, S.15; K.-H. Seifert/D. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.9; aA. F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.21; ders. Verhältnismäßigkeitsprinzip und Verwaltungsverfahrensrecht in: Festschrift H.U. Scupin (80. Geburtstag), 899 (906). 631 BVerfGE 7, 89 (92 f.); 25, 269 (290); 57, 250 (276); 65, 283 (290); E. SchmidtAssmann in: Isensee Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band I, § 24 Rn.2. 632 Als solche kommen in Betracht: Das Gewaltenteilungsprinzip, die Verfassungsmäßigkeit der LelPslative, die Gesetzesgebundenheit der Verwaltung, der Grundsatz der Verhältrusmäßigkeit, die Garantie des umfassenden Rechtsschutzes und die begrenzte Zulässigkeit der Rückwirkung von Gesetzen im Rahmen von Vertrauensschutzgesichtspunkten; vgl. Aufführungen bei A. Katz, Staatsrecht, Rn.170 ff.; I. v. Münch, Staatsrecht, Band I, Rn.330; H.-J. Papier, Gewaltentrennung im Rechtsstaat in: D. Merten, Gewaltentrennung im Rechtsstaat, S.95; C. Starck, Der Rechtsstaat in der politischen Kontroverse, JZ 1978, 746 (747); F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.23 ff. 633 Teilweise werden die grundlegenden Gedanken des Gewaltenteilungsprinzips auch dem britischen Philosophen John Locke zugeordnet, A. Katz, Staatsrecht, Rn.178. U. Muhlack, Montesquieu in seiner Zeit in: D. Merten, Gewaltentrennung
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts
163
Grundtypen der Exekutive, Legislative und Judikative. Diese Unterteilung wird durch Art.20 Abs.2 S.2 GG verfassungskräftig festgelegt.634 Ihr liegt der Gedanke der Begrenzung staatlicher Macht durch gegenseitige Hemmung und Kontrolle einzelner, voneinander getrennter Staatsfunktionen zugrunde.635 Gewaltenteilung bedeutet in der Ordnung des Grundgesetzes nicht die strikte und scharfe Trennung dieser Funktionen, sondern bei zwar grundsätzlicher Unterscheidung, ein System wechselseitiger Verschränkungen und Einflußnahmen.636 So besteht eine solche Gewaltenverschränkung, wenn ein Staatsorgan bei der Bestimmung eines anderen mitwirkt. Dies ist beispielsweise bei der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag gemäß Art.63 Abs.l GG der Fall. Damit das Gewaltenteilungsprinzip überhaupt verfassungsrechtliche Relevanz besitzt, müssen die Grenzen der Gewaltenverschränkung bestimmt sein. Diese Konkretisierung hat das Bundesverfassungsgericht durch folgende Formulierung getroffen: "Kann somit der Sinn der Gewaltenteilung zwar nicht in einer scharfen Trennung der Funktionen der Staatsgewalt gesehen werden, so muß doch andererseits die in der Verfassung vorgenommene Verteilung der Gewichte zwischen den drei Gewalten bestehen bleiben. Keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhalten. Keine Gewalt darf der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben im Rechtsstaat, 37 betont, daß Montesquieu die Lehre von der Gewaltenteilung
nicht erfunden hat, sie aber zuerst systematisch ausarbeitete. F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.32, führt das Prinzip der Gewaltenteilung auf Kant, Locke und Montesquieu zurück, die nach seiner Ansicht auf antike Vorbilder zurückgreifen konnten. 634 BVerfGE 30, 1 (27 f.); 68, 1 (86); 76, 100 (106); C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.220; G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.134; teilweise wird das Gewaltenteilungsprinzip auch aus Art.20 Abs.2 und Abs.3 GG hergeleitet ~nd als ein Teil des demokratischen Prinzips angesehen, vgl. hierzu: A. Janssen, Uber die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S.l72. 635 BVerfGE 30,1 (28); 34,52 (59); 68, 1 (86); K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rnrn.482, 497; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.220; I. v. Münch, Staatsrecht Band I, Rn.333; A. Katz, Staatsrecht, Rn. 177; R. Scholz, Parlamentarischer Untersuchungsausschuß und Steuergeheimnis, AöR Band 105 (1980), 564 (598). 636 BVerfGE 22, 106 (111); 30, 1 (28); 34, 52 (59); C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.220; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.776 f.; R. Herzog in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.20 11, Rn.8; I. v. Münch, Staatsrecht, Band I, Rn.335; T. Kuhl, Der Kembereich der Exekutive, S.147; eingehend zum Verhältnis zwischen Parlament und Regierung: H.-P. Schneider, Gewaltenverschränkung zwischen Parlament und Regierung in: D. Merten, Gewaltentrennung im Rechtsstaat, 77 ff.
164
1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
erforderlichen Zuständigkeiten beraubt63f'erden. verschiedenen Gewalten ist unveränderbar.
Der
Kembereich
der
Die Annahme einer Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes bei einem Eingriff in den Kernbereich einer anderen Gewalt,- wurde von der Literatur zu großen Teilen übernommen. 638 Eine allgemeingültige DefInition zur Bestimmung des Kernbereichs konnte sich noch nicht durchsetzen. 639 Zu seiner inhaltlichen Begrenzung kommt es aber auf Art und Umfang der Abweichung unter Berücksichtigung der traditionellen Aufgabenverteilung im Staat640 und des Gewichts der für die Abweichung sprechenden Gründe an. 64t Hier kann nicht der Versuch unternommen werden, den jeweiligen unantastbaren Kernbereich der einzelnen Bundesorgane exakt und umfassend zu bestimmen. Es soll daher der Hinweis genügen, daß eine Verletzung dieses Prinzips unzweifelhaft dann vorliegt, wenn ein Staatsorgan nicht mehr funktionsfähig642 ist, denn seiner durch das Grundgesetz zukommenden Aufgabe kann es in einem solche Fall nicht mehr gerecht werden. Durch die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Grenzziehung des Selbstorganisationsrechts ergibt sich die Rechtswidrigkeit organisatorischer Maßnahmen des Bundestages, durch welche ein anderes Organ der Exekutive oder Judikative in dem Kernbereich seiner Staatsfunktion betroffen 637 BVerfGE 34, 52 (59); zu einem Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip bei einer Verletzung des Kembereichs vgl. auch: BVerfGE 9, 268 (280); 67, 100 (139). Zur Ausprägung des Gewaltenteilungsgrundsatzes durch Vorschriften des Grundgesetzes siehe: BVerfGE 90, 286 (364). 638 G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.134; H.D. Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.lO Rn.16; C. Meyer-Bohl, Die Grenzen der Pflicht zur Aktenvorlage und Aussage vor parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, S.l00 ff.; D. Schmalz, Staatsrecht, Rn.83; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn.777; für den Kembereich der Exekutive siehe: R. Scholz, Parlamentarischer Untersuchungsausschuß und Steuergeheimnis, AöR Band 105 (1980), 564 (598); T. Kuhl, Der Kembereich der Exekutive, S.141 Cf. 639 Kritisch zur Möglichkeit praktikable Lösungen zu erlangen, G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutio!lellen Gesetze:.vorbehalts, S.134, W. Leisner, Die quantitative Gewaltenteilung, DÖV 1969, 405 (407 f.); mit umfangreicher Darstellung verschiedener Ansätze der Literatur: F.C. Karsch, Demokratie und Gewaltenteilung, S.54 ff. 640 Vgl ... BVerfGE 76, 100 (106),. D. Schmalz, Staatsrecht, Rn.83. 64t D. Schmalz, Staatsrecht, Rn.83. 642 Das Bundesverfassungsgericht weist ausdrücklich im Rahmen von Abwägungsvorgängen auf das wesentliche Gewicht der FunktionsfähWceit der Verfassungsorgane hin; für den Bundestages vgl.: BVerfGE 80,188 (219, 222).
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts
165
wird. Erst wenn der Kembereich eines Verfassungs organs nicht mehr gewährleistet ist, ist der Regelungsbereich des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts überschritten, so daß bezüglich der Gewaltentrennung unausgewogene Regelungen als solche grundsätzlich noch keinen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip darstellen. Auch wenn der Gedanke befremdlich erscheint, daß durch die Organisation in eigenen Angelegenheiten der Bereich anderer Staatsorgane betroffen sein könnte, ist dieses keineswegs ausgeschlossen. Angeführt sei das fiktive Beispiel der Bildung einer gegenüber der Judikative abgeschlossenen Gerichtsbarkeit des Bundestages bezüglich innere Streitigkeiten. Für den Fall, daß diese keinerlei Kontrollmöglichkeiten durch die Rechtsprechung unterlägen, wäre hierin ein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip zu erblicken. Wie sich aus diesem Beispiel ergibt, ist eine Verletzung des Gebots der Gewaltentrennung zwar auch durch Maßnahmen der Selbstorganisation möglich; aus dem zugrundeliegenden herrschenden Verständnis der fehlenden Notwendigkeit der strikten Trennung der Gewalten643 resultiert jedoch der Umstand, daß eine Verletzung dieses Prinzips nur in Ausnahmefällen zu erwägen ist und in der Praxis kaum der Fall sein wird.
2. Verhältnismäßigkeit
Zur Grenzziehung des Selbstorganisationsrechts des Bundestages ist die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erwägen. Dieser ist nach allgemeiner Ansicht eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips644 und stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts eine "übergreifende Leitlinie allen staatlichen Handelns,,645 dar. Fraglich ist jedoch, ob er überhaupt im Bereich der Selbstorganisation des Bundestages Einsatz finden kann. Erste Zweifel drängen sich durch den 643 Siehe zu Beginn dieses Abschnittes auf Seite 163. 644 BVerfGE 19, 342 (348 f.); 23, 127 (133); H. Schneider, Gesetzgebung, Rn.65; H.D. Jarass in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.56; I. v. Münch in: v. Münch, Grundgesetz Kommentar, Vor. 1-19, Rn.55; A. Katz, Staatsrecht, Rn.174; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.217, teilweise wird er auch aus dem Wesen der Grundrechte abgeleitet: F.E. Schnapp in: v. Münch, GGKommentar, Art.20 Rn.27. Umfassend zur verfassungsrechtlichen Begründung: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 20 IV 7a; R. Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S.83 ff. 645 BVerfGE 23,127 (133).
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1. Teil: Organisationsgewalt und Selbstorganisationsrecht
Befund auf, daß ihm typischerweise im Konfliktfall einer Interessenkollision zwischen Bürgern und dem Staat praktische Bedeutung zukommt.646 Dies resultiert wiederum aus der besonderen Stellung der Grundrechte als "in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat,,647, wodurch sich auch die Notwendigkeit der besonderen Begrenzung der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten ergibt. Die grundrechtlich geschützten Positionen der Bürger sind aber in der Regel durch organisatorische Maßnahmen der Legislative nicht betroffen, so daß der Regelfall der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht erfüllt ist. Darüber hinaus sprechen rechtstechnische Überlegungen entscheidend gegen die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das Selbstorganisationsrecht des Bundestages. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip statuiert die Voraussetzungen der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit bzw. Proportionalität der Regelung. 648 Diese Begriffe bestimmen sich anhand des Verhältnisses zwischen dem eingesetzten Mittel und dem verfolgten Zweck. Grundlegend für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist somit die Möglichkeit der Bestimmung des Mittels und des Zwecks.649 Gerade organisationsrechtliche Regelungen stellen eine komplexe Materie dar, die keine einfachen Zweckgefüge beinhalten.65o Wenn aber aufgrund der multidimensionalen Struktur des Zwecks seine konkrete Bestimmung unmöglich ist, kann dieser auch nicht mit dem eingesetzten Mittel in ein Verhältnis gesetzt werden. Eine konkrete, allgemeine und unscharfe Ausführungen vermeidende Prüfung, wird dann unmöglich. In der Literatur ist angeregt worden, zumindest die Struktur des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Anwendung fmden zu lassen.651 G. 646 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 20 IV 7b; H.D. Jarass in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.58 ff.; vgl. auch: F.E. Schnapp, Die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, JuS 1983, 850 (851 f.). 647 BVerfGE 7, 198; zu weiterer Funktionen der Grundrechte vgl. nur: B. PierothjB. Schlink, Grundrechte Staatsrecht 11., Rn.71 ff. 648 Vgl. nur: C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.326, K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 20 IV 7. 649 Siehe nur: C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.325. 650 Für den Fall der Geschäftsordnung des Bundestages: K. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, S.70 f. 651 G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.93.
D. Grenzen des Selbstorganisationsrechts
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Bollmann führt hierzu aus, daß dieser Grundsatz in seiner hergebrachten Form ein probates technisches Hilfsmittel sei, um Güterabwägungen in einer Weise durchzuführen, durch die weitestgehend sichergestellt wird, daß alle abwägungsrelevanten Gesichtspunkte berücksichtigt werden.652 Wenn aber keine einfache Zweckstruktur vorliegt, sondern ein Konglomerat vieler Gründe und Erwägungen zu dieser organisatorischen Lösung geführt haben, die teilweise im Falle der Geschäftsordnung oder der ungeschriebenen Regeln experimenteller Natur sein können,653 ist gerade der Schwachpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung in dessen struktureller Gestaltung zu sehen, so daß die Übertragung der Prüfungsstruktur unmöglich ist. Darüber hinaus spricht gegen die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Grenze der parlamentarischen Organisationsbefugnis, daß auf diese Befugnis gestützte Maßnahmen oftmals keinerlei Rechtsbeeinträchtigung zur Folge haben, sondern lediglich die internen Beziehungen der Organteile zueinander regeln. Soweit dieses der Fall ist, entfällt eine Beurteilung anhand der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, da diese das Denken in den Kategorien von Freiraum und Eingriff voraussetzt.654 Mit dieser Begründung folgert das Bundesverfassungsgericht655 und Teile der Literatur656, daß im Verhältnis staatlicher Organe zueinander der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz keine Anwendung fmden kann. Aufgrund der oben dargestellten Erwägungen ist diesem Ergebnis zuzustimmen und festzuhalten, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine Tauglichkeit zur Grenzziehung des Selbstorganisationsrechts des Bundestages besitzt.
v. Zusammenfassende Würdigung Als Resultat läßt sich konstatieren, daß das parlamentarische Selbstorganisationsrecht im wesentlichen durch die Verfassungsvorschriften un652 G. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, S.92. 653 Siehe hierzu die Ausführungen auf Seite 72. 654 BVerfGE 79, 311 (341); 81, 310 (338) = DVBl. 1990,763 (768); C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.336. 655 BVerfGE 81, 310 (338) = DVBl. 1990, 763 (768), für das Bund-Länder-VerhäUnis.
656 R.D. Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.ll; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.366.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
mittelbar determiniert wird. Das Demokratieprinzip, das Bundesstaatsprinzip als auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bewirken dagegen keine selbständigen Eingrenzungen. Lediglich der auf das Rechtsstaatsprinzip zurückgehende Gewaltenteilungsgrundsatz fordert das Gebot der Achtung des Kernbereichs der anderen Verfassungsorgane. Ihm kommt in der Parlamentspraxis keine wesentliche Bedeutung zu.
Zweiter Teil
Die Entscheidung über den Parlamentssitz und die Hauptstadtfrage A. Wird die Sitzentscheidung vom parlamentarischen
Selbstorganisationsrecht erfaßt? I. Verbandskompetenz
Zur Regelung der inneren Angelegenheiten eines Bundesorgans besitzt der Bund eine Kompetenz aus der "Natur der Sache", denn partikulare, gegebenenfalls voneinander abweichende ländergesetzliche Regelungen sind als brauchbare Ordnungsmechanismen undenkbar. 657 Der Bund ist Inhaber der entsprechenden Verbandskompetenz, und es steht in seiner Macht, die dazugehörigen Regelungen zu erlassen.
11. Sitz
Da der Bundestag als kollegial verfaßtes Organ aus einer Vielzahl einzelner Abgeordneten besteht, bedarf es für deren Zusammenwirken eines Ortes, an dem sie integrativ tätig werden können. Erst durch die Festlegung einer solchen Lokalität ist die Bildung des Bundestages als aus mehreren Parlamentariern bestehendes Gesamtorgan möglich. Diese Festlegung eines Sitzungsortes, an dem sich die gewählten Volksvertreter versammeln, ist ein grundlegender organisatorischer Akt, der jedoch nicht unmittelbar die Sitzbestimmung bewirkt. Vielmehr ist unter dem Sitz eines Verfassungsorgans der dauerhaft festgelegte Ort seiner Tätigkeit zu verstehen, der durch einzelne auswärtige Zusammenkünfte nicht aufgehoben wird. Seltene Sit-
657 Für den Fall der Sitzfestlegung der Bundesregierung: BVerfGE 3,407 (422). Siehe hierzu ebenfalls die Ausführungen auf Seite 118.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
zungen des Bundestages im Reichstag von Berlin haben daher keinen entscheidenden Einfluß auf die Bestimmung seines Sitzes besessen.658 Auch eine zeitliche Begrenzung der Sitzfestlegung ist möglich. Dies geschieht in der parlamentarischen Praxis durch einen ausdrücklichen Hinweis auf die Vorläufigkeit der Festlegung. So wurde bereits im ersten Beschluß des Bundestages zur Sitzfestlegung vom 03.11.1949659 ausdrücklich die Vorläufigkeit der Bestimmung betont.660 Hierdurch trug man auch dem Selbstverständnis des Grundgesetzes Rechnung, nur eine vorläufige Verfassung zu sein. Eine Sitzbestimmung für die Zukunft kann durch einen Rechtsakt erfolgen, der unter einer "aufschiebenden Bedingung" steht. Für den Fall der Regelung durch einen schlichten Parlamentsbeschluß ist zu berücksichtigen, daß weder nachfolgende Parlamente noch der erlassende Bundestag selbst über eine politische Bindungswirkung hinaus rechtlich verpflichtet werden,661 so daß in diesem Zusammenhang unter einer "aufschiebenden Bedingung", abweichend vom bürgerlichrechtlichen Wortverständnis, nicht das Wirksamwerden eines Rechtsgeschäfts beim Eintritt eines künftigen ungewissen Ereignisses verstanden werden kann. 658 G. Kretschmer in: Bonner Kommentar zum GG, Art39 Rn.23. Eine Auflistung der Plenarsitzungen außerhalb Bonns der 1. bis 12. Wahlperiode fmdet sich bei: P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1983 1991, S.552 f. Zur ersten Sitzung des Bundestages in Berlin nach der Wiedervereinigung siehe: J. Bücker, Der erweiterte Deutsche Bundestag vom 3. Oktober bis 20. Dezember 1990 in: Festschrift für R. Morsey, 979. Auch die Konstituierung des 13. Deutschen Bundestages erfolgte im Reichstag in Berlin, bevor mit seiner umfassende Renovierung begonnen wurde; vld.: FAZ v. 11.11.1994 S.l, 3; bezüldich Plenarsitzungen des Bundestages während des Umbaus des Reichstages siehe: FAZ v. 14.01.1995, S.5. 659 BT-PlPr. 1. WP. 1 14. Sitzung v. 03.11.1949 1S343. 660 BT-PlPr. 1. WP. 1 14. Sitzung v. 03.11.1949 1 S343. Ausführlich zur Genese dieses Beschlusses: T. Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S381 f.; U. Wengst, Wer stimmte für Bonn, wer für Berlin?, ZParl 1991, 339; H.-O. Schembs, "Den besten Ruhm in Teutschland hat" in: BaumunklBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 109 (130 f.); R. Pommerin, Entscheidung über die Bundeshauptstadt 1948/49 in: BaumunklBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 400 ff.; U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aseekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 (S-06); T. Maunz in: Maunz/Düri~/Herzog/Scholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art.22 Rn35. Auch diej·etzige Sltzfestlegung des Bundesrates erfolgte nur vorläuftg, BR-Drucksache 422 91. 661 Siehe zur Bindungswirkung parlamentarischer Beschlüsse die Erläuterungen auf Seite 108 ff.
A. Sitzentscheidung im parlamentarischen Selbstorganisationsrecht
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Ein Beispiel für eine unter einer Bedingung stehende geplante Sitzverlegung des Parlaments, bietet der vom Plenum später angenommene662 Änderungsantrag der SPD Fraktion vom 02.11.1949663 . Durch diesen Beschluß stellte der Bundestag seine Sitzverlegung nach Berlin für den Fall in Aussicht, daß allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt werden. Die Sitzbestimmung des Parlaments ist entgegen der Einigung auf einen Tagungsort nicht konstitutiv für dessen Bestehen als funktionierendes Organ, sondern stellt eine Erklärung grundsätzlicher Art dar, durch die der Haupttagungsort festgelegt wird. Insoweit besitzt die Sitzfestlegung in der Regel nur deklaratorischen Charakter. Da das Parlament als einziges unmittelbar vom Volk legitimiertes Verfassungsorgan eine exponierte Stellung im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik besitzt, kommt dieser Ortsfestlegung im historischen Kontext, als ein Vorgang der stellvertretend für andere Sachverhalte steht, Sinnbild-, Wahrzeichen- und somit Symbolfunktion zu. Diese symbolische Wirkung mag in anderen Staaten, in denen keine echte Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Orten besteht, nicht existieren. Exemplarisch sei hierfür auf Luxemburg verwiesen. In diesem Staat wird durch die Festlegung des Parlamentssitzes in Luxemburg Stadt664 kaum ein weitergehender Gedankeninhalt vermittelt. Im Gegensatz hierzu besitzt in der durch Nationalsozialismus und Teilung geprägten Bundesrepublik die Festlegung des Ortes des Parlaments immer symbolische Wirkung. 665
111. Verfassungsrechtliche Vorgaben bezüglich der Sitzbestimmung des Parlaments
Klärungsbedarf besteht zunächst hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Determinierung der Sitzbestimmung des Bundestages. Bestände eine diesbezüglich Norm des Grundgesetzes, so wäre die Möglichkeit anderweitiger eigenorganisatorischer Gestaltung ausgeschlossen.666 662 BT-PlPr. 1. WP. / 14. Sitzungv. 03.11.1949 / S.347 ff. 663 BT-Drucksache, 1 / 143 v. 02.11.1949. 664 Art.l09 der Verfassung von Luxemburg. 665 Eingehend hierzu: R. v. Weizsäcker, Memorandum zur Hauptstadt, S.l ff. 666 Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen zur Begrenzung durch Verfassungsvorschriften auf Seite 144 f.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
Da Art.39 Abs.2 GG eine den Tätigkeitsort des Parlaments betreffende Regelung enthält, kommt zunächst diese Vorschrift als den Sitz bestimmende Norm in Betracht.667 Eine weiterer Konkretisierungsansatz findet sich in § 1 GeschO BT, in dem das Einberufungsrecht des bisherigen Bundestagspräsidenten festgelegt ist. Art.39 Abs.2 GG beinhaltet aber nicht den Terminus "Sitz", sondern spricht lediglich vom Zusammentritt. Aus der systematischen Zusammenschau des Art.39 Abs.2 mit Art.39 Abs.1 S.2 und Art.39 Abs.3 S.l GG ergibt sich, daß das Grundgesetz vom Zusammentritt des Bundestages nur dann spricht, wenn die erstmalige Zusammenkunft der Abgeordneten zu Beginn einer Wahlperiode eine Regelung finden soll.668 In dieser ersten Versammlung nach einer Neuwahl kommt dem Bundestag zunächst die organisatorische Aufgabe der Konstituierung zu. 669 Diese ist im Regelfall erfolgt, wenn entschieden ist, welche Verfahrensbestimmungen zumindest für eine beschränkte Zeitspanne gelten sollen und wenn der Präsident, sein Stellvertreter und die Schriftführer gewählt sind.67o Aus Art.39 Abs.2 GG ergeben sich daher keine die Sitzbestimmung des Bundestages betreffenden Vorgaben. Für den Fall der späteren Versammlungen spricht das Grundgesetz in Art.39 Abs.3 S.2 GG vom Wiederbeginn der Sitzung.671 Unter einer Sitzung im Sinne dieser Vorschrift versteht man die durch die Tagesordnung fest667 So nennt J. Pietzcker in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 10 Rn.6, Art.39 Abs.2 GG als eine die Parlamentsautonomie einschränkendeNorm. 668 H.P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.39 Rn.18; T. Maunz in: ~aunz/~.ürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.39, Rn.12; L~. Versteyl m: v. Munch, GG-Kommentar, Art.39 Rn.l0. AA. G. Kretschmer m: Bonner Kommentar zum GG, Art.39 Rn.7, der darunter sowohl den Beginn einer Sitzung als auch die gesamte Sitzung selbst versteht. 669 H. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 1 Rn.l1.1.; H.P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.39 Rn.18; J. Bücker, Der erweiterte Deutsche Bundestag vom 3. Oktober bis 20. Dezember 1990 in: Festschrift für R. Morsey, 979. Speziell zur Konstituierung des 12. Deutschen Bundestages siehe: M. Fuchs, Wahl und Konstituierung des gesamtdeutschen Parlaments in: R. Süssmuth, Der Deutsche Bundestag, 111 ff. 670 H. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 1 Rn.ll.2; 11.3. Vgl.: § 1 Abs.4 GeschO BT. Bei der Konstituierung des 13. Bundestages bestand die Besorgnis, daß der Alterspräsident Stefan Heym die in der .Regel auf Integration gerichtete Eröffnungsrede entgegen der parlamentariscl1~n Übung als Forum für eine politische Stellungnahme mißbrauchen würde. Diese Angste realisierten sich jedoch nicht, da der Alterspräsident eine moderate Rede hielt. Vgl.: FAZ v. 11.11.1994, S.1. 671 H.P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.39 Rn.18; T. Maunz in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.39, Rn.12.
A. Sitzentscheidung im parlamentarischen Selbstorganisationsrecht
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gelegte Beratungseinheit.672 Deren Termin wird gemäß § 20 Abs.l GeschO BT grundsätzlich im Ältestenrat und nur ausnahmsweise durch den Bundestag selbst oder den Bundestagspräsidenten festgesetzt. In Art.39 Abs.3 S.2 GG finden sich demzufolge keine Aussagen zur dauerhaften Festlegung des Ortes der parlamentarischen Tätigkeit. Vielmehr hat hierin das Unabhängigkeit garantierende Selbstversammlungsrecht des Bundestages673 in der Form seiner Sitzungsautonomie Manifestation gefunden. 674
IV. Parlamentarisches Selbstorganisationsrecht als Grundlage der Sitzentscheidung
Weder in Art.39 Abs.2, Abs.3 S.2 GG noch in anderen Vorschriften der Verfassung fmdet sich eine Bestimmung des Sitzes des Bundestages. Da die grundsätzliche Festlegung des Tätigkeitsortes eine organisatorische Maßnahme des Parlaments darstellt, scheint es möglich, die eigene Sitzfestlegung des Bundestages auf sein Selbstorganisationsrecht aus Art.40 GG675 zu stützen.676 Weil die Sitzfestlegung des Deutschen Bundestages eine symbolträchtige Handlung darstellt, und nach allgemeiner Ansicht dem Bundespräsidenten 672 B. Pieroth in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.39 Rn.6. 673 Zu den historischen Hintergründen des Selbstversammlungsrechts siehe: J.-D. Kühne in: SchneiderjZeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 2 Rn.100 f.; LA. Versteyl in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.39 Rn.36 f. 674 B. Pieroth in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.39 Rn.6; H.P. Schneider in: Alternativkommentar zum GG, Art.39 Rn.20; K-H. SeifertjD. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.39 Rn.6. 675 Zur verfassungsrechtlichen Herleitung siehe Seite 57 f. 676 K IpsenjV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994, 605 (609); P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (194); M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - verfassungsrechtlich und rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (144); K Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, § 9 11 6; E. Klein in: Bonner Kommentar zum GG, Art.22 Rn.102; T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art.22 Rn.34; U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deuschland und eines vere~ ten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 (509); H.-J. Vogel, Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache, ZG 1992,293 (294); J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat Band 29 (1991), 231 (240); M. Bothe in: Alternativkommentar zum GG, Art.22 Rn.12.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
zumindest eine subsidiäre Kompetenz zur Symbolsetzung zusteht,677 stellt sich die Frage, ob das Selbstorganisationsrecht des Bundestages insoweit eingeschränkt wird. Hierzu müßte dem Bundespräsidenten zunächst in Bezug auf den speziellen Fall der Sitzfestlegung des Parlaments eine diesbezügliche Kompetenz zukommen. Sollte eine solche Kompetenz bestehen, wäre weiter fraglich, in welchem Konkurrenzverhältnis diese zum parlamentarischen Selbstorganisationsrecht steht.
V. Zuständigkeit des Bundespräsidenten zur Setzung von Staatssymbolen?
Grundsätzlich werden in der Bundesrepublik Deutschland die Staatssymbole durch den Bundespräsidenten inhaltlich bestimmt. Unter Anwendung des Art.58 S.l GG erfolgt deren Festlegung durch Gegenzeichnung der Bundesregierung.678 So wurden die Bestimmung des Bundessiegels679, nähere Regelungen über die Flagge und die Dienstflaggen der Bundesbehörden68o, die Festsetzung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland681 und die Festlegung der Nationalhymne682 unter Mitwirkung des Bundespräsidenten erlassen. Diese dem Bundespräsidenten in symbolischen Angelegenheiten zugebilligte Kompetenz, müßte aufgrund des in Art.20 Abs.2 S.l GG festgeleg677 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 30 III 3 aB; G. Hoog in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.22 Rn.19; H. Lechner/K. Hülshoff, Parlament und Regierung, S.52O; K.-H. Seifert/D. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.22 Rn.2; G. Huwar, Der Erlaß von Rechts- und Verwaltungsverordnungen durch den Bundespräsidenten, S.131; M. Hellenthai, Kein Gesetzesvorbehalt für Nationalhymne!, NJW 1988, 1294 (1301); U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deuschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 (513). AA.: K. Hümmerich/K. Beucher, Keine Hymne ohne Gesetz, NJW 1987, 3221 (3230); J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat Band 29 (1991), 231 (234 fi). 678 Weiterführend hierzu: M. Nierhaus, Entscheidung, Präsidialakt und Gegenzeichnung, S.37 ff.; H. Maurer, Die Gegenzeichnung nach dem Grundgesetz in: Festschrift für K. Carstens, 701 ff. 679 BGBI. I, 1950, S.26. 680 BGBI. I, 1950, S.205. 681 BGBI. I, 1951, S.831 ff. 682 Dieses geschah 1952 durch einen Briefwechsel zwischen dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten. Vgl.: M. Hellenthai, Kein Gesetzesvorbehalt für Nationalhymne!, NJW 1988,1294 (1297).
A. Sitzentscheidung im parlamentarischen Selbstorganisationsrecht
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ten Grundsatzes der Volkssouveränität683, der eine demokratische Legitimation der ausgeübten Staatsgewalt durch die Verfassung fordert,684 aus dem Grundgesetz herleitbar sein. Die hierzu gebotenen Begründungsversuche überzeugen jedoch zumindest für den speziellen Fall der Sitzbestimmung oberster Verfassungsorgane nicht. So ist der Versuch, die Kompetenz des Bundespräsidenten zur Festsetzung der Staatssymbole aus einer gemäß Art.129 Abs.l GG erfolgten Übertragung der gewohnheitsrechtlichen Kompetenz des Reichspräsidenten herzuleiten,685 nicht tragfähig. Der organisatorische Teil der Weimarer Verfassung wurde nicht in die grundgesetzliche Ordnung übertragen, so daß insoweit eine Diskontinuität der verschiedenen Verfassungsorgane besteht.686 Darüber hinaus spricht gegen eine Übertragung gemäß Art.129 Abs.l S.l GG, daß eine auf diese Norm bezogene im Einvernehmen mit dem Bundesrat getroffene Entscheidung der Bundesregierung nicht ersichtlich ist, noch, wie Art.129 Abs.l S.2 2. HS GG für eine solche Entscheidung vorschreibt, veröffentlicht wurde. Die Zuständigkeit des Bundespräsidenten zur Setzung von Staatssymbolen wird von anderen Autoren687 mit dem Bestehen nachkonstitutionellem Gewohnheitsrechts begründet.688 Mag für umfassende Bereiche symbolischer Angelegenheiten noch eine Vielzahl eine Übung begründender Beispiele anführbar sein, so begegnet ein die Sitzfestlegung oberster Bundesorgane betreffender Gewohnheits683 K.G. Wernicke in: Bonner Kommentar zum GG, Art.20 Anm. 11 2; B. Pieroth in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.20 Rn.4. 684 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn.133; S. Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, S.77; R. Herzog in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.20 Rn.74. 685 H. LechnerjK. Hülshoff, Parlament und Regierung, S.520; G. Huwar, Der Erlaß von Rechts- und Verwaltungsverordnungen durch den Bundespräsidenten, S.131. 686 C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S.86; zustimmend: K. HümmerichjK. Beucher, Keine Hymne ohne Gesetz, NJW 1987, 3227 (3230); M. Hellenthai, Kein Gesetzesvorbehalt für Nationalhymne!, NJW 1988, 1294 (1301). 687 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 30 111 3 ß; G. Hoog in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.22 Rn.19; ähnlich: K.-H. SeifertjD. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.22 Rn.2, die eine Kompetenz aus "Herkommen" ableiten. 688 Zur uneinheitlichen Beurteilung der Möglichkeit von Verfassungsgewohnheitsrecht siehe die Darstellung der verschiedenen Ansichten auf Seite 130 f.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
rechtssatz durchgreifenden Bedenken. Für den speziellen Fall der Sitzfestlegung anderer Bundesorgane läßt sich kein Beispiel der Bestimmung durch den Bundespräsidenten anführen, so daß keinesfalls von einer diesbezüglichen ständigen Übung ausgegangen werden kann. Vielmehr ist festzustellen, daß solche Festlegungen immer durch andere Bundesorgane erfolgten, so daß auch nicht von der Anerkennung eines solchen Rechtes des Bundespräsidenten ausgegangen werden kann. Eine diesbezüglicher Gewohnheitsrechtssatz existiert daher nicht. Für den Fall der Sitzbestimmung des Bundestages besitzt auch die Ansicht wenig Tragfähigkeit, die von einer Regelungslücke des Grundgesetzes für die Kompetenz in symbolischen Angelegenheiten ausgeht, welche vernünftigerweise vom Bundespräsidenten gefüllt wird, solange nicht der Gesetzgeber die Regelungsmaterie an sich zieht.689 Eine solche Regelungslücke für Fragen der Sitzfestlegung des Bundestages ist aufgrund eines umfangreichen parlamentarischen Selbstorganisationsrechts nicht ersichtlich. Ob überhaupt "vernünftigerweise" der Bundespräsident grundsätzlich die Zuständigkeit zur Bestimmung des Parlamentssitzes besitzt,690 ist nicht nur unter Gesichtspunkten der Gewaltenteilung höchst zweifelhaft, kann aber dahinstehen.
Eine Organkompetenz des Bundespräsidenten zur Festlegung des Parlamentssitzes besteht nicht. 691 Auf eine solche Kompetenz kann auch nicht bei Fehlen einer parlamentarischen Entscheidung hilfsweise zurückgegriffen werden.
689 E. Klein in: Bonner Kommentar zum GG, Art.22 Rn.61 ff.; zustimmend: U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deuschland und eines vere~ ten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParI1990, 505 (513); ~. Hellenthai, Kein Gesetzesvorbehalt für Nationalhymne!, NJW 1988, 1294 (1301). Ahnlich: B. Pieroth in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.54 Rn.2, der eine Kompetenz des Bundespräsidenten aus der Natur der Sache begründet. 690 So aber i.E.: U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deuschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParll990, 505 (513). 691 J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat Band 29 (1991), 231 (236).
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
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VI. Auswirkungen des Einigungsvertrages auf die Sitzbestimmung des Bundestages
Der Vertrag zur Deutschen Einheit692 enthält unmittelbar in Art.2 Abs.l situpeziftsche Aussagen, die durch Erläuterungen im ersten Abschnitt des dazugehörigen Protokolls weitere Konkretisierung finden. Ausdrücklich bestimmt Art.2 Abs.l EinigungsV: Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden. Im ersten Abschnitt des Protokolls zum Einigungsvertrag693 findet sich bei dem Unterpunkt 2. folgende Erläuterung zu Art.2 Abs.l des Einigungsvertrages: Die Vertragsparteien stimmen darin überein, daß die Entscheidung nach Satz 2 der Beschlußfassung der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes nach Wahl des ersten gesamtdeutschen Bundestages und nach Herstellung der vollen Mitwirkungsrechte den in Art.1 Abs.l dieses Vertrages genannten Ländern vorbehalten ist. Die Einordnung in die Normenhierarchie und die Bestimmung des materiellen Gehalts des Einigungsvertrages und der dazugehörigen Protokollerklärung besitzen entscheidendes Gewicht bei der Lösung der mit der Festlegung des Parlamentssitzes verbundenen Probleme und der Hauptstadtfrage als solcher.
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages und der dazugehörigen Protokollerklärung Um den materiellen Gehalt der betreffenden Vorschriften bewerten zu können, bedarf es zunächst der Einordnung des Einigungsvertrages und der dazugehörigen Protokollerklärung in die Rechtsquellenordnung des Grundgesetzes. Hiermit unmittelbar verbunden ist die Frage der Bindungswirkung
692 693
BGBI. 11,1990 S.889 ff. BGBI. 11,1990 S.905 f.
12 Kühnre;ch
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
der entsprechenden Normen, wobei diese unmittelbar den inhaltlichen Bestand der Regelungen mitbestimmt.
I. Rechtliche Qualifizierung des Einigungsvertrages
Der Einigungsvertrag regelt die wesentlichen Fragen der Herstellung der Einheit Deutschlands und stellt das wohl bedeutendste Dokument der deutschen Nachkriegsgeschichte dar. 694 Er ist das staatsrechtliche Kernstück des Einigungsprozesses und wurde mit dem Ziel der Verwirklichung des Wiedervereinigungsgebots geschlossen.695 Soweit der Einigungsvertrag auf die Eingliederungen der DDR in die Bundesrepublik beschränkte Regelungen enthält, verliert er mit dem Vollzug der Vereinigung jede rechtliche Bedeutung. Problematisch sind jedoch diejenigen Regelungsteile, bei denen über diesen Zeitpunkt hinaus ein weitergehender Bestand vereinbart wurde. Trotz der überragenden Bedeutung des Einigungsvertrages ist seine rechtliche Qualifizierung umstritten. In der Literatur finden sich Bezeichnungen als unmittelbar anwendbarer völkerrechtlicher Vertrag,696 staatsrechtlicher Vertrag697 oder Staatsvertrag698, Eingliederungsvertrag699, Ver694 J. Wasmuth, Das Regelungswerk des Einigungsvertrages, DtZ 1990, 294; K.D. Schnapauff, Der Einigungsvertrag, DVBI. 1990, 1249 (1250). 695 W. Heintschel v. Heinegg, Die Mitwirkungsrechte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages und das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, DVBI. 1290, 1270 (1275); V. Busse, Das v~rtragliche Werk der deutschen Einheit und die Anderung von Verfassungsrecht, DÖV 1991,345 (346). 696 E. Bülow in: BendajMaihoferjVogel, Handbuch des Verfassungsrechts, § 30 Rn.16.
697 Für Teile des Einigungsvertrages: H. Wagner, Der Einigungsvertrag nach dem Beitritt, 148. U. Fastenrath, Die lJindungswirkung des Einigungsvertrages am Bei~iel der Richteruberprufung in Mecklenburg-Vorpommern, DtZ 1991, 429 (430), hält in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag auch einen völkerrechtlich-staatsrechtlichen Charakter für möglich, lehnt aber vorher mangels Völkerrechtssubjektivität eine völkervertragsrechtliche Regelung ab. Seine Ausführungen sind in diesem Punkt nicht ohne Widerspruche. 698 W. Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands, ZG 1990, 289 (296); M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBI. 1991, 45. 699 H. Weis, Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, AöR Band 116 (1991), 1 (13). Er beruft sich bei dieser QualifIZierung auf JA. Frowein, Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, ZaöRV Band 30 (1970), S.l, der hierunter Verträge
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
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trag sui generis700 oder Gesamtakt besonderen Ranges,1°1 materielles Verfassungsrecht702, Verfassungsvertrag703 oder als Bundesrecht in der Form eines Bundesgesetzes704 . In diesem Zusammenhang gilt es aber zu berücksichtigen, daß zwischen dem von der DDR und der Bundesrepublik Deutschland geschlossenen Vertragswerk und der Umsetzung in innerstaatliches Recht durch ein förmliches Gesetz705 differenziert werden kann?06 So besteht die Möglichkeit einer Bindungswirkung sowohl aus Vertrag als auch aus dem umsetzenden Gesetz?07
1. Völkerrechtlicher Vertrag Aufgrund der Tatsache, daß sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik Deutschland die Tatbestandsmerkmale eines Staates im Sinne des Völkerrechts erfüllten,1°8 obwohl der Sezessionsvorgang der DDR keinen Abschluß gefunden hatte, war nach der Rechtsprechung des Bundesverfasversteht, durch den ein Staat oder eine sonstige juristische Person des öffentlichen Rechts in eine andere eingegliedert wird. Im Zusammenhang mit der Vereinigung von Coburg und Bayern, gebraucht das Bundesverfassungsgericht diesen Begriff als Unterform eines Staatsvertrages, BVerfGE 22,221 (231). 700 W. Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands, ZG 1990, 289 (297). 701 P. Lerche, Fortgeltung von DDR Recht und Gesetzesvorbehalt in: Festschrift für H. Helmrich, 57. 702 M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991, 207. 703 K. StemJB. Schmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band I, S.43. 704 A.R. Anker, Det:.Einigungsvertrag, seine Rechtsqualität und die Grenzen seiner Abänderbarkeit, DOV 1991, 1062 (1065); A. Spies, Hauptstadt, Amtssitz und das Prinzip der Staatspflege, JA 1991, 195 (196). 705 BGBl. 11, 1990 S.885 ff. Dieses ist aber nicht mit den im Einigungsvertrag enthaltenen Gesetzesaufträgen zu verwechseln. Siehe hierzu die Aufzählung bei: R. NisseI, Rechtsangleichung bei der Herstellung der Einheit Deutschlands, ZG 1990, 333 (334). 706 E. Lieser, Die Beratungen zum Einigungsvertrag in: R. Süssmuth, Der Deutsche Bundestag: Parlament der Deutschen Einheit, 92. 707 Anders die sogenannte Vollzugsthese, die eine Aufspaltung einer Völkerrechtsnorm in völkerrechtliches Orginal und landesrechtliches Gegenstück vermeidet. Zu den einzelnen Theorien siehe: C. Gloria in: K. Ipsen Völkerrecht, § 73 Rn.l ff.; speziell zur Vollzugsthese ebd. § 73 Rn.l0. Zur parallelen Geltungsmöglichkeit eines Vertrages und eines Gesetzes siehe: JA. Frowein, Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, ZaöRV Band 30 (1970), 1 (7). 708 Vgl.: BVerfGE 36, 1 (20 f.); 77, 137 (166).
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
sungsgerichts das Völkerrecht zwischen diesen Vertragspartnern anwendbar?09 Da die DDR keinesfalls gegenüber der Bundesrepublik Deutschland als Ausland bezeichnet werden konnte710 und zwischen ihnen eine Vielzahl von allgemeinen Völkerrechtsregelungen abweichende Beziehungen galten,711 war der Einigungsvertrag ein völkerrechtlicher Vertrag sui generis?12 Bei dieser rechtlichen Qualifizierung ist zu berücksichtigen, daß die DDR durch die Wiedervereinigung ihre Existenz beendete713 und ihre Völkerrechtssubjektivität aufhob. 714 Nach den Grundsätzen völkerrechtlicher Verträge erlöschen die mit einer Partei abgeschlossenen bilateralen Verträge mit dem Untergang eines Vertragsteils als Völkerrechtssubjekt.715 709 BVerfGE 36, 1 (23); 82, 316 (320). 710 BVerfGE 11, 150 (158); 36,1 (17); 82, 316 (320). 711 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf den Beschluß des Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichts vom 21.10.1987 zur deutschen Staatsangehörigkeit eines in der DDR Eingebürgerten, BVerfGE 77, 137 ff. Hiernach folgte aus dem Erwerb der DDR Staatsbürgerschaft aufgrund des Wiedervereinigungsgebots für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen des ordre public die Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit. 712 K. Stern, Der verfassu~sändernde Charakter des Einigungsvertrages, DtZ 1990,289; ders./B. Schmidt-Blelbtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band I, S.52 f.; AR. Anker, D~r Einigungsvertrag seine Rechtsqualität und die Grenzen seiner Abänderbarkeit, DÖV 1991, 1062; U.Fastenrath, Die Bindungswirkung des Einigungsvertrages am Beispiel der Richterüberprüfung in MecklenburgVorpommern, DtZ 1991, 429 f.I.E.: BVerfGE 82, 316 (320). 713 Art.l Abs.l S.l EinigungsV. 714 Denkschrift zum Einigungsvertrag, BT-Drucksache, 11 / 7760 v. 31.08.1990, S.355 (356, 377); R. Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, DVBl. 1990, 1285; AR. Anker, Der: Einigungsvertrag, seine Rechtsqualität und die Grenzen seiner Abänderbarkeit, DÖV 1991, 1062 (1063); U. Drobning, Das Schicksal der Staatsverträge der DDR nach dem Einigungsvertrag, DtZ 1991, 76 (77 f.); JA. Frowein, Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, VVdStRl 49 (1990), 7 (26); J. Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, VVdStRl 49 (1990), 39 (47); K. Heilbronner, Völker- und europarechtliche Fragen der deutschen Wiedervereinigung, JZ 1990, 449 (452); E. Klein, Der Einigungsvertrag, DÖV 1991, 569 (571); M. Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, S.4; H. Wagner, Der Einigungsvertrag nach dem Beitritt, S.32. 715 W. Heintschel v. Heinegg in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn.110; A Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, § 825; F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1., S.260 f.; speziell für den Fall des Einigungsvertrages: U. Fastenrath, Die Bindungswirkung des Einigungsvertrages am Beispiel der Richterüberprüfung in Mecklenburg-Vorpommern, DtZ 1991, 429 (430); H. Wagner, Zur weiteren Verbindlichkeit des Einigungsvertrages, DtZ 1992, 142; ders. (mit Einschränkungen: Fn.15):, Der Einigungsvertrag nach dem Beitritt, 32.
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
181
Selbst wenn eine darüber hinaus dauernde Geltung in engen Grenzen angenommen würde,716 müßte der Wille der Parteien auf fortdauernde völkerrechtliche Bindung gerichtet gewesen sein. Abgesehen von der besseren Regelungsmöglichkeit innerhalb des bundesstaatlichen Rechtskreises,717 ist ein solcher dauerhafter völkerrechtlicher Bindungswille unter Hinweis auf Art.45 Abs.2 EinigungsV zu verneinen, denn diese Norm spricht ausdrücklich von der Weitergeltung als Bundesrecht. Durch diese Vorschrift sollte gerade eine innerstaatliche und keine völkerrechtliche Bindungswirkung erzeugt werden.718 Der Einigungsvertrag besaß als völkerrechtlicher Vertrag keinen dauerhaften Bestand.719 Da bilaterale völkerrechtliche Verträge im zusammengesetzten Verfahren ihre verbindliche Wirkung nicht durch Unterzeichnung sondern durch beidseitige Ratifikation erhalten,720 entwickelte der Einigungsvertrag seine rechtliche Verbindlichkeit durch die Ratiftzierung in den beiden deutschen Parlamenten am 20.09.1990.721 Da der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß ArU Abs.1 S.l EinigungsV erst am 03.10.1990 erfolgte, existierte der Einigungsvertrag als völkerrechtliche Vereinbarung nur für wenige Tage, denn durch den Beitritt zum 03.10.1990 ging die DDR als Völkerrechtssubjekt unter.
2. Staatsrechtlicher Vertrag Da der Einigungsvertrag als eine völkervertragliche Regelung nicht mehr existiert, stellt sich die Frage, ob eine beständige vertragliche Bindung auf 716 Zu dieser Möglichkeit: JA. Frowein, Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, ZaöRV Band 30 (1970),1 (10). Speziell für radizierte Verträge der DDR, ders.: Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, VVdStRl49 (1990), 7 (26). 717 JA. Frowein, Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, ZaöRV Band 30 (1970), 1 (10). 718 W. Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands, ZG 1990, 289 (296 f.). 719 U. Fastenrath, Die Bindungswirkung des Einigungsvertrages am Beispiel der Richterüberprüfung in M;ecklenburg-Vorpommem, DtZ 1991, 429 (430); E. Klein, Der Einigungsvertrag, DÖV 1991, 569 (571). 720 W. Heintschel v. Heinegg in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 10 Rn.7. 721 BT-PlPr. 11. WP. /226. Sitzungv. 20.09.1990 / S.17801 (17896).
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
innerstaatlicher Ebene vorliegt. Als eine solche potentielle Regelungsmöglichkeit kommt ein staatsrechtlicher Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR in Betracht. Damit eine staatsvertragliche Regelung bestehen kann, muß eine solche dauerhafte Bindung überhaupt gewollt gewesen sein. Dies wird einerseits unter Berufung auf Art.44 EinigungsV abgelehnt, denn die dort geregelte Möglichkeit der neuen Bundesländer, Rechte aus dem Einigungsvertrag selbständig geltend machen zu können, hätte nach dieser Ansicht nur dann Sinn, wenn es ihnen nicht schon als Partei eines staatsrechtlichen Vertrages zustünde.722 Aufgrund der Tatsache, daß die neuen Bundesländer nicht eigenständig als Vertragsparteien den Einigungsvertrag unterzeichnet haben, ist ihre Stellung als Vertragsbegünstigte nicht eindeutig. Sie mußten vielmehr mit dem Beitritt als Gebietskörperschaften konstituiert werden,723 so daß Art.44 EinigungsV durch die Festlegung der Aktivlegitimation jedes einzelnen neuen Bundeslandes eine eigenständige auf KlarsteIlung gerichtete Wirkung besitzt?24 Darüber hinaus könnte Art.44 EinigungsVauch nur bestätigende Aussagekraft für ein bereits bestehendes Recht zukommen, wie dies anerkanntermaßen auch bei Art.9 Abs.1 S.l EinigungsV für die Überleitung des Rechts der Europäischen Gemeinschaft der Fall ist?25 Aus Art.44 EinigungsV kann demnach nicht der Ausschluß einer staatsvertraglichen Regelung gefolgert werden. Auch Art.45 Abs.2 EinigungsV, der festlegt, daß der Vertrag als Bundesrecht geltendes Recht bleibt, kann nicht gegen eine QualifIZierung als Staatsvertrag angeführt werden,726 denn ein Staatsvertrag zwischen dem Bund und einzelnen Ländern kann bei extensiver Wortlautauslegung unter den Begriff des Bundesrechts subsumiert werden. Vielmehr ist zu bedenken, daß durch Art.45 Abs.2 EinigungsV nicht nur eine bundesrechtliche Wir722 U. Fastenrath, Die Bindungswirkung des Einigungsvertrages am Beispiel der Richterüberprüfung in Mecklenburg-Vorpommem, DtZ 1991, 429 (430). 723 Denkschrift zum Einigungsvertrag, BT-Drucksache, 11 /7760, v. 31.08.1990,
S.355 (356).
724 H. Wagner, Zur weiteren Verbindlichkeit des Einigungsvertrages, DtZ 1992, 142 f.; W. Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit, ZG 1990, 289 (297). 725 Zu diesem deklaratorischen Charakter von Art.9 Abs.l S.l EinigungsV siehe; H.-W. Rengeling, Das vereinte Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft: Grundlagen zur Geltung des Gemeinschaftsrechts, DVBl. 1990, 1307 (1312). 726 So aber: A.R. Anker, Der. Einigungsvertrag, seine Rechtsqualität und die Grenzen seiner Abänderbarkeit, DÖV 1991,1062 (1065).
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
183
kung als förmliches Gesetz gemeint sein kann,727 denn einerseits ist die tatsächliche Vornahme der innerstaatlichen Umsetzung durch ein förmliches Gesetz für die vertragliche Wirksamkeit unabdingbar und andererseits wäre die Dauerhaftigkeit des Vertrages in einem solchen Falle nicht garantiert, denn dieses Gesetz könnte jederzeit durch den Bundesgesetzgeber beliebig abgeändert werden. Gerade den Vertretern der damaligen DDR ist es aber auf eine dauerhafte Regelung und die Garantie ihrer Rechte angekommen, so daß Art.45 Abs.2 EinigungsV vielmehr den Willen zur Schließung eines Staatsvertrages vermuten läßt?28 In historischer Hinsicht wird diese Vermutung durch einen Bericht des für die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnenden Verhandlungsführers und Bundesministers des Inneren Wolfgang Schäuble gestützt. Dieser legt unter Bezugnahme auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu anderen Staatsverträgen729 dar, daß aufgrund der besonderen Regelungsinteressen der DDR als nicht mehr fortexistierender Vertragsteil, Art.45 Abs.2 EinigungsV ausdrücklich aufgenommen wurde. 73o Der gleiche Gedanke findet sich auch in der Denkschrift zum Einigungsvertrag731, in der bei den Bemerkungen zu Art.44 EinigungsV ebenfalls auf die deutsche Rechtstradition zu Staatsverträgen verwiesen wird?32 Durch beide Quellen wird der auf den Abschluß eines Staatsvertrages gerichtete Wille der Parteien historisch bestätigt,733 so daß unter Beachtung aller Gesichtspunkte der Einigungsvertrag typologisch als staatsrechtlicher Vertrag einzuordnen ist.
727 So aber: A. Spies, Hauptstadt, Amtssitz und das Prinzip der Staatspflege, JA 1991, 195 (196). 728 Ähnlich: E. Klein, Der Einigungsvertrag, DÖV 1991, 569 (571). 729 Siehe hierzu: BVerfGE 3,267 (279); 4, 250 (268); 22, 221 (231). 730 W. Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands,
ZG 1990, 289 (296 f.). 731 BT-Drucksache, 11 / 7760, v. 31.08.1990, S.355 ff. 732 BT-Drucksache, 11 /7760, v. 31.08.1990, S.355 (377).
733 Insofern unzutreffend: A.R. Anker, Der J~inigungsvertrag, seine Rechtsqualität und die Grenzen seiner Abänderbarkeit, DOV 1991, 1062, als er keine Anhaltspunkte für den Willen der Vertragsparteien sieht, unantastbare Rechte begründen zu wollen.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
3. Fonnelles Gesetz Da der Einigungsvertrag ein völkerrechtlicher Vertrag sui generis war, der zwar durch den Untergang eines Vertragsteils erloschen ist, bedurfte es trotzdem zu seinem Wirksamwerden der innerstaatlichen Umsetzung. Weil in ihm auch Änderungen des Grundgesetzes vorgesehen waren, galt für das Zustimmungsgesetz gemäß Art.59 Abs.2 S.l GG die Notwendigkeit der qualifIZierten Mehrheit des Art.79 Abs.2 GG.734 Da es bis zum heutigen Tag keine Änderungen erfahren hat, gilt die Regelungsmaterie des Einigungsvertrages auch als förmliches Gesetz, daß, soweit es Änderungen des Grundgesetzes enthält, auf Verfassungsebene wirkt.
11. Rechtliche Einordnung der Protokollerklärung zum Einigungsvertrag
Bei der Unterzeichnung des Einigungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik gaben die Vertragsparteien eine Protokollerklärung ab. Dieses Protokoll zum Einigungsvertrag735 ist weder unmittelbarer Bestandteil des Vertragstextes noch wurde es durch die Verhandlungsführer als eigener Vertrag unterzeichnet. Eine selbständige staatsvertragliche Verbindlichkeit begründet die Protokollerklärung nicht?36 Vielmehr wird bereits in der vorangestellten Erklärung auf ihren lediglich klarstellenden Charakter hingewiesen,137 so daß sie auf staatsvertraglicher Ebene nur die Vorschriften des Einigungsvertrages als Auslegungshilfe konkretisiert. 738 734 E. Klein, Der Einigungsvertrag, DÖV 1991, 569 (570); A.R. Anker, Der E!nigungsvertrag, seine Rechtsqualität und die Grenzen seiner Abänderbarkeit, DÖV 1991, 1062 (1065); M. Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, S.4 f. Teilweise wird Art.59 Abs.2 S.l GG analog zur Geltung gebracht: K. Stern, Der verfassungsändernde Charakter des Einigungsvertrages, DtZ 1990, 289 (290); K-D. Schnapauff, Der Einigungsvertrag, DVBl. 1990, 1249 (1251). 735 BGBl. 11,1990 S.905 f. 736 AA.: M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBl. 1991,45 (46); KSternjB. ~~hmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band 11, S.77. Ahnlich wie hier: M. Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, S.6, der nur von einem "Errichtungszusammenhang" spricht. 737 BGBl. 11, 1990 S.905 ..... auf diesen Vertrag folgende Klarstellung getroffen: ...... 738 Vgl. für völkerrechtliche Verträge Art.31 Abs.2 lit b der Wiener Konvention über das Recht der Verträge, dessen Rechtsgedanke sich mit der hier vertretenen Ansicht deckt.
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
185
Die Zugehörigkeit zum Einigungsvertrag kann auch nicht aus der gemeinsamen Zustimmung zum Einigungsvertrag und zur Protokollerklärung durch das Einigungsvertragsgesetz vom 23.09.1990739 gefolgert werden,140 denn der Abschluß eines Vertrages ist von der innerstaatlichen Umsetzung durch den entsprechenden Gesetzeserlaß zu differieren. Da die Protokollerklärung aber als förmliches Gesetz erlassen wurde, besitzt sie den gegenüber der staatsvertraglichen Bindungswirkung des Einigungsvertrages geringeren Bestandsschutz eines durch den einfachen Gesetzgeber abänderbaren Gesetzes. In diesem Rahmen kommt ihr eigenständige Bedeutung zu.
III. Bestandskraft des Einigungsvertrages
Soweit der Einigungsvertrag auf die Eingliederungen der DDR in die Bundesrepublik Deutschland beschränkte Regelungen enthält, verliert er mit dem Vollzug der Vereinigung jede rechtliche Bedeutung und ist insoweit unumkehrbar und unveränderlich. Die Vertragsbestandteile, die mittlerweile umgesetzte Regelungsaufträge beinhalteten,141 haben grundsätzlich ihre Erledigung gefunden. Ähnlich wie europarechtliche Richtlinien742 besitzen sie aber als Auslegungshilfe und als Begrenzung späterer Gesetzesänderungen dauerhaftes Gewicht. Die Bestandskraft des Einigungsvertrages ist für diejenigen Regelungsbestandteile von großem Gewicht, bei denen ein über den Zeitpunkt des Abschlusses hinausgehender Bestand vereinbart wurde. Hierbei ist besonders die Regelungsfestigkeit des Staatsvertrages zu berücksichtigen, denn das zur Umsetzung ergangene einfache Bundesgesetz kann jederzeit unter 739
BGBl. 11, 1990 S.885 ff. 740 So aber: U. Fastenrath, die Bindungswirkung des Einigungsvertrages am Beispiel der Richterüberprüfung in Mecklenburg-Vorpommem, DtZ 1991, 429 (431); M. Koopmann, Zur Festlegun~ des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBl. 1991,45(46); K. IpsenjV. Eppmg, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994, 605 (609). Wie hier: P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes?, ZG 1991, 193 (215, Fn.93). 741 Allgemein zu den Regelungsaufträgen siehe: Art.2 Abs.1 S.2; 5; 22 Abs.1; 30 Abs.1; 31 Abs.1, 2, 4; 33 Abs.1; 34 Abs.1 EinigungsV. 742 Zu deren Fortwirkung trotz korrekter Umsetzung siehe nur: G. Nicolaysen, Europarecht I, S.166 f.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
Mitwirkung des Bundesrates und damit auch der neuen Bundesländer geändert werden. Zu der Bindungsfestigkeit von Staatsverträgen hat das Bundesverfassungsgericht in der sogenannten "Coburg-Entscheidung,,743 Stellung bezogen. Nach dieser von den Parteien des Einigungsvertrages berücksichtigten Rechtsprechung,744 sind Staatsverträge zwar grundsätzlich dauerhaft einzuhalten, sie besitzen aber keinen absoluten Bestandsschutz. Vielmehr ist bei einem grundlegenden Wandel der Umstände nach den Grundsätzen der "clausula rebus sic stantibus,,745 eine einseitige Abweichung vom Staatsvertrag durchaus möglich.146 Die Möglichkeit der Aufhebung einigungsvertraglicher Normen besteht aber nicht nur durch einseitige Handlungen, denn grundsätzlich können staatsrechtliche Verträge durch konsensuale Übereinkunft der Parteien in der Gesamtheit, als auch in Bezug auf einzelne Vorschriften, aufgehoben werden. Zwar ist die DDR als Rechtssubjekt durch die Vereinigung untergegangen. Die sich aus dem Einigungsvertrag ergebenden Rechte der ehemaligen DDR sind jedoch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Rechtsnachfolger des untergegangenen Staates übergegangen.147 Diese Kompetenz wird durch die ausdrückliche Festlegung der Aktivlegitimation der fünf neuen Bundesländer in Art.44 EinigungsV bestätigt.148 Soll von Vorschriften des Einigungsvertrages auf konsensualem Wege abgewichen werden, so bedarf der Bundesgesetzgeber der gemeinsamen Zustimmung aller neuen Bundesländer,749 denn vertrag-
743 BVerfGE 22, 221 ff. 744 BT-Drucksache, 11 / 7760, v. 31.08.1990, S.355 (377); W. Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands, ZG 1990, 289 (296 f.). 745 Grundlegend hierzu: W. Heintschel v. Heinegg in: K. Ipsen, Völkerrecht, § 15 Rn.92 ff. 746 Vgl.: BVerfGE 22, 221 (234); für den ähnlich gelagerten Fall eines Eingemeindungsvertrages siehe: OVG Münster, OVGE 21, 287. 747 Bezüglich des Übergangs auf die Rechtsnachfolger vgl.: BVerfGE 3,267 (279 f.); 4, 250 (267 f.); 13, 54 (86); 22, 221 (231). Für Staatsverträge zustimmend: JA. Frowein, Der Eingliederungsvertrag im Völkerrecht und im Staatsrecht, ZaöRV Band 30 (1970), 1 (12). 748 W. Schäuble, Der Einigungsvertrag - Vollendung der Einheit Deutschlands, ZG 1990, 289 (297). 749I.E.: H. Weis, Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, AöR Band 116 (1991),1 (16).
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
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lich nur ein Bundesland betreffende Rechte750 müssen bei Bedarf auch dauerhaft gesichert sein. Dies wäre aber bei der Möglichkeit einer einfachen Mehrheitsentscheidung nicht verbürgt. Wendet man diese Grundsätze auf die problematischen Regelungen des Einigungsvertrages an, so ergibt sich eine grundsätzlich bestehende staatsvertragliche Bindungswirkung, die nur bei grundlegenden, tiefgreifenden und nicht vorhersehbaren Veränderungen entfallen kann. Solche Veränderungen dürften wohl eher die Ausnahme sein, selbst wenn man die umfangreichen gesellschaftlichen Umwälzungen in Ostdeutschland in eine Gesamtbeurteilung einbezieht. Weicht der Bundesgesetzgeber von den im Einigungsvertrag getroffenen Regelungen ab, so bedarf er hierfür der Zustimmung aller neuen Bundesländer. Werden diese Ergebnisse auf die Ausgangsfragen der Sitzfestlegung des Parlaments angewandt, so ist zu konstatieren, daß das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages grundsätzlich durch die Vorschriften des Einigungsvertrages gebunden ist, soweit dessen Normen dauerhafte Wirkung besitzen. Eine Ausnahme von der Bindungswirkung wegen grundlegenden Wandels der Vertragsumstände ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht ersichtlich. Soweit sich aber Regelungen zur Sitz- und Hauptstadtbestimmung im Protokoll zum Einigungsvertrag finden, besteht nur eine Bindungswirkung auf der Ebene eines einfachen Gesetzes, das der jederzeitigen Änderungsmöglichkeit des Gesetzgebers unterliegt. Im übrigen wirken die dort getroffenen Aussagen ergänzend im Rahmen der inhaltlichen Bestimmung der Normen des Einigungsvertrages.
IV. Materieller Gehalt von Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV
1. Tatbestandsvoraussetzungen
Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV behandelt die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung. Der Bundestag als unmittelbar gewählte Volksvertre-
750 Beispielsweise wird das Gebiet Brandenburgs durch Art.l Abs.2 EinigungsV. mitbestimmt.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
tung und primäres Forum der politischen Auseinandersetzung fällt unzweifelhaft unter das Tatbestandsmerkmal des Parlaments?51
2. Rechtsjolge Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV legt keinen bestimmten Ort als Sitz eines Verfassungsorgans fest, sondern beinhaltet eine Regelungsaufforderung für die Zeit nach der Herstellung der Einheit Deutschlands. Dieser Regelungsauftrag wird durch die Protokollerklärung zum Einigungsvertrag752 in zweifacher Hinsicht konkretisiert. Ihr zufolge wird die Einheit Deutschlands nach der Wahl des ersten gesamtdeutschen Bundestages und nach Herstellung der vollen Mitwirkungsrechte der fünf neuen Länder als vollendet angesehen und zum zweiten wird die Beschlußfassung den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes zugewiesen. Diese auf Gesetzesebene bindenden Konkretisierungen führen nur zu einer näheren Bestimmung des Verfahrens der Festlegung des Parlamentssitzes, beinhalten aber keinerlei Vorgaben bezüglich der Wahl des konkreten Ortes.
3. Detennination durch systematischen Zusammenhang Eine Ortsbestimmung enthält Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV, indem er Berlin als Hauptstadt Deutschlands nennt und hierdurch eine staatsvertragliehe und gesetzliche Festlegung konstituiert. An der Bewertung der Deduktionswirkung von Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV auf die Sitzfestlegung gemäß Art.2 Abs.1 S.2 EinigungsV entzündet sich die zentrale "Flamme" des Streits um die Festlegung des Parlamentssitzes. Hält man bei einer Hauptstadt die Anwesenheit des Parlaments für eine konstitutive Notwendigkeit, so wird mit der Bestimmung Berlins als Hauptstadt durch Art.2 Abs.2 S.l EinigungsV gleichzeitig die Notwendigkeit der Sitmahme des Parlaments in
751 Einhellige Ansicht: F. KeilhoferIM. Arnold, Berlin - als Hauptstadt auch Regierungssitz, Politische Studien 42 (1991), 530; F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Re~erungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1322); M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBI. 1991, 45 (46); M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991, 207 (208 f.). 752 BGBI. 11, 1990 S.905.
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
189
Berlin begründet. Die Frage des Parlamentssitzes kann daher nicht losgelöst von der Diskussion des Inhalts des Hauptstadtbegriffs geführt werden.
V. Hauptstadt im Sinne von Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV
1. Grenzen des denkbaren Begriffsumfangs
Die inhaltlichen Bestimmungsmöglichkeiten des Topos Hauptstadt finden ihre Grenzen an zwei extremen "Auffassungspolen" . Einerseits ist es möglich der Bezeichnung lediglich symbolischen Charakter beizumessen,753 so daß besondere Anforderungen tatsächlicher Art an eine solche Stadt nicht gestellt werden. Bestimmte Funktionen im Staatsgefüge müßte eine solche Stadt dann nicht erfüllen. Andererseits kann gerade für eine Hauptstadt die umfassende Eigenschaft als politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt gefordert werden, so daß die Schwerpunkte des gesellschaftlichen Lebens und der staatsleitenden Funktionen in einer solchen Stadt vereinigt sein müßten. Eine deklaratorische Festlegung als Hauptstadt durch Handlungen staatsleitender Organe wäre dann nicht nötig, da sich ihre Eigenschaft als solche durch ihre herausgehobene Stellung im Staate bereits ergäbe.
2. Meinungsstand Eine in der juristischen Literatur anerkannte allgemeine Definition einer Hauptstadt hat sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht herausbilden können. Vielmehr ergibt sich bei der Durchsicht der einzelnen Stellungnahmen das Resultat der Aufzählung einer unübersichtlichen Vielzahl einzelner Kriterien, aufgrund deren keinerlei gemeinsame Defmitionsbasis festgelegt werden kann. 753 Von der ganz herrschenden Meinung wird die Symbolfunktion einer Hauptstadt anerkannt. Anders dagegen: T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 9 11 2, die eine Hauptstadt ausdrücklich nicht zu den Staatssymbolen zählen, sondern sie als repräsentativen Ort bezeichnen. Da Repräsentation untrennbar mit dem Ausdruck eines typischen Wesens und der Vermittlung der spezifIschen Eigenart einer gesamten Erscheinung verbunden ist, besteht Deckungsgleichheit zwischen den Begriffen der Repräsentation und des Symbols, so daß diese Differenzierung nicht überzeugt.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
a) Gründe für die Vielzahl abweichender Stellungnahmen Die Hauptgründe für das weitgespreizte Meinungsspektrum sind einerseits in dem Fehlen gesetzgeberischer Bestimmung754 und verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zum Hauptstadtbegriff755 und andererseits im Zusammenhang mit der großen politischen Bedeutung einer solchen Symbolentscheidung zu erblicken. Weitere Unklarheit ergibt sich durch den Umstand, daß zum Teil zwischen einem allgemeinen juristischen756 bzw. einem Hauptstadtbegriff der deutschen Verfassungstradition757 und dem besonderen des Einigungsvertrages unterschieden wird, wobei die überwiegende Anzahl der Autoren zwischen diesen Begriffen nicht differenziert oder sie ausdrücklich wieder vereint758. Ein weiterer ausschlaggebender Grund für die ungewöhnliche Bandbreite wissenschaftlicher Stellungnahmen ist in dem interdisziplinären Charakter der Hauptstadtfrage zwischen Rechts- Sozial- und Politikwissenschaften zu erblicken. Während Staatsrechtler die Frage der Rechtmäßigkeit entscheiden, beschäftigen sich Politik- und SozialwissenschaftIer primär mit der Zweckmäßigkeit bestimmter Hauptstadtfunktionen. Stellen nun Vertreter der letztgenannten Disziplinen Forderungen bezüglich bestimmter Eigenschaften auf, so müssen diese in der Regel nicht zwingend als Voraussetzung einer Hauptstadt erfüllt sein, so daß anders als bei rein staatsrechtlichen Stellungnahmen diese Forderungen keinen konstitutiven Charakter besitzen. Diese Besonderheit kommt aber nicht immer klar zum Ausdruck, und begründet weitere Unklarheiten durch den Umstand, daß auch anerkannte Staatsrechtler aufgrund der politischen Dimension der 754 Eine gesetzgeberische Bestimmung des Hauptstadtbegriffs kann nicht in dem inzwischen geänderten § 2 S.3 Bundesbankgesetz alter Fassung erblickt werden, da diese Norm in der damaligen Fassung lediglich an die Sitzbestimmung der Bundesregierung anknüpfte. Allgemein hierzu: M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - Verfassungsrechtlich und Rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (137). 755 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG zu Fragen des Sitzes von Parlament und Regierung, BVerfGE 87, 107 ff., enthält keinerlei Aussagen zur materiellen Hauptstadtproblematik. Siehe hierzu die ausführliche Darstellung auf Seite 10 f. 756 M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991, 207; M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - Verfassungsrechtlich und Rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (138 ff.). 757 R. Zuck, Berlin, MDR 1991, 497; kritisch hierzu: M. Wolff, "Warum Berlin?", MDR 1991, 590. 758 R. Zuck, Berlin, MDR 1991, 497.
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
191
Hauptstadtfrage über den thematischen Inhalt rein juristischer Abhandlungen hinausgehende Erörterungen anstellen. Exemplarisch sei die Stellungnahme von WA. Kewenig genannt759, in der er als unverzichtbare760 Hauptstadtfunktion Berlins die Bildung einer Tageszeitung mit nationaler Verbreitung fordert. 761 Hierbei kann es sich aber nur um eine Zweckmäßigkeitsanforderung handeln, denn aufgrund der durch Art.5 Abs.l S.2 1. Fall GG garantierten privatrechtlichen Pressefreiheit, wäre sonst die Bundesrepublik als Staat nicht zur autonomen Bestimmung ihrer Hauptstadt in der Lage.162 Eine erste Meinungsübersicht kann durch die Unterteilung der geforderten Hauptstadtkriterien in zwei Gruppen erreicht werden. Einige sehen die Sitzbestimmung oberster Verfassungsorgane als entscheidendes Hauptstadtkriterium an, wohingegen andere Autoren darüber hinaus weitere rechtliche, soziologische und wirtschaftliche Erwägungen als ausschlaggebend bewerten. b) Sitznahme der obersten Verfassungsorgane als Charakteristika der Hauptstadteigenschaft Auch in Bezug auf die Notwendigkeit der Ansiedlung oberster Verfassungsorgane als konstituierende Merkmale einer Hauptstadt ist das Meinungsspektrum sehr breit. In diesem Zusammenhang fmden neben Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident, Bundesregierung auch das Bundesverfassungsgericht und die Bundesversammlung Berücksichtigung. Das Meinungspanorama bietet die Aufzählung folgender Forderungen:
759 WA. Kewenig, Berlin - Hauptstadt Deutschlands in: Festschrift für W. Wagner, 40 ff. 760 Ebd., 40 (42). 761 Ebd., 40 (44). Am Rande sei angemerkt, daß in Berlin nicht nur eine, sondern "Die Tageszeitung" erscheint, die unbestritten überregionale Verbreitung genießt. Insofern hätte W A. Kewenig seine hauptstadtspezifische Forderung wohl auf die Existenz einer konservativ ausgerichteten überregionalen Tageszeitung konkretisieren sollen. 762 Insofern zutreffend: K. v. Beyme, Hautstadtsuche, S.52, wenn er in diesem Zusammenhang von einem kulturellen Hauptstadtanspruch spricht.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
Ansiedlung aller Verfassungsorgane zumindest zu Teilen in emer Stadt,763 Sitznahme aller Bundesorgane mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts,764 Sitz von Parlament, Staatsoberhaupt und Regierung,165 Anwesenheit der Regierung und der Volksvertretung,766 Sitz der wichtigsten Bundesorgane,167 Anwesenheit zumindest zweier Verfassungsorgane,768 Sitz zumindest eines Verfassungsorgans kombiniert mit weiteren sonstigen Kriterien,769 Sitz der Regierung770 Bestehen der Möglichkeit erfüllter Hauptstadtfunktionen bei Fehlen der Anwesenheit jeglicher Staatsorgane.771
763 M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991, 207 (210); R. Scholz, Die Hauptstadt, Politik und Kultur Heft 4 (1987), S.33. 764 WA. Kewenig, Berlin. - Hauptstadt Deutschlands in: Festschrift für W. Wagner, 40 (42 f.); E. Klem, Bonner Kommentar zum GG, Art.22 Rn.99, "Hauptstadt ...als Sitz der obersten Verfassungsorgane, vor allem von Exekutive und Legislative...". 765 R. Zuck, Berlin, MDR 1991, 497; zustimmend: M. Wolff, "Warum Berlin"?, MDR 1991, 590. Für die Weimarer Reichsverfassung defmierte F. Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art.71 Anm.6, die Reichshauptstadt als den Ort an dem die obersten Reichsstellen (Reichspräsident, Reichstag, Reichsregierung) ihren Sitz nehmen. 766 M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - verfassungsrechtlich und rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 135 (139). 767 T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.22 Rn.33 f.; U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 (512). 1.-D. Kühne, Replik i.S. Hauptstadt: Nicht nur Papier und Sonntagsreden, ZPar1199O, 515 (523), spncht insofern von leitenden Bundesorganen. 768 R. v. Weizsäcker, Memorandum zur Hauptstadt, S.7. 769 P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (996). 770 Dieses war die überwiegende Ansicht zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung: G. Anschütz, Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, Art.71 Anm.1;, A. Arndt, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art.71 (S.205); F. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art.71 11 6. 771 A. Spies, Hauptstadt, Amtssitz und das Prinzip der Staatspflege, JA 1991, 195 (196); i.E.: M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NwVBI. 1991, 45 (46); mit Zweifeln: J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat Band 29 (1991), 231 (232 f.).
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
193
c) Weitere geforderte Eigenschaften einer Hauptstadt Obwohl in der Literatur der Schwerpunkt der Bestimmung des HauptstadtaUributs durch die Sitzfestlegung der Verfassungsorgane erfolgt, fmden sich vereinzelt weitere materielle Anforderungen an eine solche Stadt. Als solche konstitutiven Elemente werden insbesondere genannt: Publikation der Gesetze in der Hauptstadt772 das Bestehen eines Mindestmaßes an kultureller Repräsentanz und Vielfalt der fraglichen Stadtm Legitimationsmöglichkeit aus der geschichtlichen Rolle eines geeinten Europas.774
3. Eigene Stellungnahme
Im Gegensatz zu den meisten Äußerungen der Literatur wird hier nicht von einem Postulat bestimmter Eigenschaften einer Hauptstadt ausgegangen, sondern es wird versucht die Begriffsbestimmung durch konkrete Auslegung der einzigen die Hauptstadt erwähnenden Norm des Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV zu erlangen. Hierbei muß berücksichtigt werden, daß durch erhöhte materielle Anforderungen an den Hauptstadtbegriff auf Art.2 Abs.1 S.2 EinigungsV derart Einfluß genommen wird, daß unter Umständen die Freiheit des Parlaments bezüglich seiner Möglichkeit zur autonomen Sitzfestlegung eingeschränkt ist. Da dem Bundestag ein umfassendes und selbstverantwortliches Recht zur Eigenorganisation aus Art.40 GG zukommt,775 kann eine Beschränkung nur für den Fall einer gesicherten Aus-
m P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (994), der au~gru!ld de~ von ~ vertretenen Möglichkeit mehrerer Hauptstädte ~ie GesetzespublikatIOn rocht fur Jede Hauptstadt fordert. Als Element des Begriffs Hauptstadt ablehnend: A. Spies, Hauptstadt, Amtssitz und das Prinzip der Staatspflege, JA 1991, 195 (197); zum historischen Hintergrund dieses Kriteriums siehe auch: K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.116. m P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (995); kritisch hierzu: K. v. lJeyme, Hauptstadtsuche, S.18, der zutreffend darauf hinweist, daß die kulturellen Funktionen bei Neugründungen wie Madrid und Petersburg erst geschaffen werden mußten. 774 M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - verfassungsrechtlich und rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (145). 775 Siehe zur verfassungsrechtlichen Herleitung Seite 57 f. 13 Kühnrcich
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
sage von Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV angenommen werden. Bestehen hingegen Zweifel an dem Regelungsgehalt des Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV, bleibt der verfassungsrechtlich garantierte Freiraum des Parlaments durch diese Norm unbeschränkt. An diesem Grundsatz ändert der Umstand nichts, daß der Bundestag dem Einigungsvertrag zugestimmt hat, denn von einer Selbstbeschränkung des parlamentarischen Eigenorganisationsrechts kann nur ausgegangen werden, wenn sie sicher feststellbar ist. a) Wortauslegung aa) Einzelne Begriffsinhalte Eine vom Wortlaut geleitete Annäherung an den Begriff der Hauptstadt, ermöglicht eine Aufteilung in die Bestandteile "Haupt" und "Stadt". Unter einem "Haupt" einer Organisation ist deren Zentrale als letztentscheidende Institution zu verstehen, so daß dieser Begriff einen singulären Charakter besitzt. Es kann demzufolge nur ein Ort als Hauptstadt in einem Staat bestehen. Die Anregung mehrere Hauptstädte eines Staates zuzulassen,776 ist bereits vom Wortsinn nicht gedeckt. Der Einwand, daß sich die Notwendigkeit einer Bundeshauptstadt aus dem Gebot der Symbolklarheit ergäbe,m überzeugt dagegen nicht, denn mit jedem dieser erwählten Orte können besondere Gedankeninhalte vermittelt werden, die dann in ihrer Kombination spezielle Sinnbild- und Wahrzeichenfunktion erfüllen. Aus dem Begriffsteil "Haupt" ergibt sich ein gewisser Führungsanspruch. Ob dieser allerdings umfassend staatsleitender, oder auch kultureller und wirtschaftlicher Natur sein kann, ist nicht zu entscheiden. Für den Fall der Abwesenheit jeglicher staatsleitender Organe kann aber nicht von der Führungsrolle einer solchen Stadt ausgegangen werden. Die durch Gewaltenteilung gezeichnete Ordnung des Grundgesetzes kennt kein Machtmonopolisierung eines Staatsorgans, in dem sich der staatliche Leitungsanspruch .. 776 P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 ff. Ahnlich: K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.121, der für den Fall fehlender Sitznahme oberster Verfassungsorgane in Berlin diese zur Nebenhauptstadt herabstufen möchte. m A. Spies, Hauptstadt, Amtssitz und das Prinzip der Staatspflege, JA 1991, 195 (199).
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
195
ausschließlich verwirklicht, so daß unter diesem Gesichtspunkt keine Verpflichtung zur Sitznahme eines bestimmten Organs gefordert werden kann.
bb) Historische Begriffsprägung Aufgrund seiner epochal übergreifenden Bedeutung für deutsche Herrschaftssysteme könnte eine etymologische Untersuchung des Hauptstadtbegriffs Erkenntnisgewinne ermöglichen, die nicht mit der historischen Auslegung einer Norm verwechselt werden darf. Getrübt wird diese Hoffnung jedoch bereits durch die Erkenntnis, daß die frühen deutschen Herrschaftsformen keinen ständigen Sitz des Königs- oder Kaiserhofs kannten, sondern diese Regierungsform durch ein ständiges Umherziehen gekennzeichnet war. Die "ambulante" Form der Regierungsausübung fand ihren Grund in den mangelnden Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen des Mittelalters, aufgrund deren es sich empfahl, daß der König selbst von Zeit zu Zeit seinen Herrschaftsanspruch in seinem Gebiet sicherte.778 Darüber hinaus sprach die elementare wirtschaftliche Notwendigkeit für eine nicht ortsgebundene Regierungsform, denn der Monarch lebte mit seinen Anhängern von den produzierten Erzeugnissen seiner im Reich verstreuten Untergebenen. 779 Auch wenn einzelne Reichsburgen oder Kaiserpfalzen bestanden, so waren dieses nicht mehr als zentrale Orte des Reiches, die auf den "Königswegen" mehrmals besucht wurden. 780 Trotz der Notwendigkeit ständiger Beweglichkeit des Regenten kam es im geschichtlichen Verlauf zu Manifestationen einzelner Staatsfunktionen an bestimmten Orten. Exemplarisch sei lediglich die Stellung Nürnbergs erwähnt, in der seit 1434 die Reichsinsignien aufbewahrt wurden und in der seit 1356 aufgrund der "goldenen Bulle" Karl IV. nach jeder Königswahl der erste Reichstag stattfinden sollte?81 Mit der Entwicklung einer besseren 778 R. Schieffer, Regieren ohne Hauptstadt in: Baumunk/Brunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 25 (26). 779 Ebd.: 25 (28). 780 Ebd.: 25 (31); eine kartographische Erfassung findet sich auf den Seiten 34 f. Die Bedeutung der königlichen und kaiserlichen Besuche für die Stadt Speyer sind bei A. Theissen, "Metropolis Germaniae" in: Baumunk/Brunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 63, umfangreich historisch belegt. 781 Umfassend hierzu: R. Endres, "Carrisima Civitas" in: Baumunk/Brunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, '72 ff.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
Infrastruktur wurde es in späteren Jahrhunderten für die Herrscher möglich, einen Stammsitz zu unterhalten, der allgemein als Residenz bezeichnet wird. 782 Ein feststehender Ort, an dem umfassende staatsleitende Funktionen dauerhaft angesiedelt waren, existierte in Deutschland aber nicht.783 Mit dem Aufkommen des Parlamentarismus im 19. Jahrhundert entwikkelte sich die Notwendigkeit der Festlegung des Sitzes der Versammlungen. Bereits 1815 setzte der Wiener Kongress als einzige Zentralinstanz des Deutschen Bundes einen permanenten Gesandtenkongress ein, der auch als Bundesversammlung oder Bundestag bezeichnet wurde. Durch Art.9 der Bundesakte wurde als Sitz des Bundestages Frankfurt a.M. festgelegt?84 Hier tagte auch die Nationalversammlung 1848/49 in der Paulskirche und der Fürstenkongress von 1863. Die eigentlichen Machtzentren der damaligen Zeit lagen aber in Wien und Berlin, die jedoch aufgrund ihrer exponierten politischen Bedeutung bewußt nicht zum Sitz des Zentralorgans des deutschen Bundes gemacht wurden. 785 Während des Deutschen Staatenbundes wurde hierdurch eine Machtkonzentration in einer Stadt planmäßig verhindert. In Berlin trat im Mai 1848 die aufgrund der Märzrevolution aus allgemeine und freien Wahlen hervorgegangene erste preußische Nationalversammlung zusammen. Diese befand sich zwar in unmittelbarer Nähe zum Stadtschloß des Kaisers; er besaß aber eine zweite Residenz in Potsdam. Die Funktion Berlins als Hauptstadt des damaligen Staates Preußen ist aber anerkannt. 786 Nach den historischen Ereignissen von 1866/71 kam es bezüglich des deutschen Nationalstaats zum weiteren Ausbau der preußischen Vormacht782 K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.19. Hiervon gab es in Deutschland eine Vielzahl bis ins 19 Jahrhundert. Vgl. B.M. Baumunk, Von Arolsen und anderen Hauptstädten in: BaumunkjBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 216 ff. 783 Zur gesamten Entwicklung: T. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S.382. 784 H.-O. Schembs, "Den besten Ruhm in Teutschland hat" in: BaumunkjBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 109 (116). 785 K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.114; H. Wilderotter, Die Wilhelmstraße in: BaumunkjBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 330; M. Wolff, "Warum Berlin", MDR 1991, 590. 786 Vgl. nur: K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.113.
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
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stellung. Infolge dieser politischen Entwicklung wurden das Reichskanzleramt und der Reichstag in Berlin angesiedelt. 787 Wie schon in vorhergehenden Jahrhunderten788 befanden sich die obersten Gerichte in anderen Städten.789 Nach der Niederlage des ersten Weltkrieges wählte man als Tagungsort der Nationalversammlung Weimar und wiederum bewußt nicht Berlin. Diese galt als preußisch-militaristische Stadt, und die in ihr befmdlichen Massen stellten eine Bedrohung der parlamentarischen Freiheit dar?9O Auch während des Kapp-Putsches 1920 trat der Reichstag nicht in Berlin sondern zuerst in Dresden und später in Stuttgart zusammen. Bekanntlich waren die Sitzungen in Weimar, Dresden und Stuttgart nur ein kurzes Intermezzo, so daß sie nach damaliger einhelliger Rechtsansicht den Hauptstadtstatus Berlins nicht beendeten.791 Nach Auflösung der Weimarer Verfassungsstruktur behielten die Nationalsozialisten Berlin als Reichshauptstadt bei,792 obwohl sich ihre Macht auch in anderen Städten symbolisierte, wie dieses besonders bei den Reichsparteitagen in NÜTnberg der Fall war .193 Nach der Niederlage im zweiten Weltkrieg trat der parlamentarische Rat
in Bonn zusammen. Dort kam es in der Folgezeit zur Ansiedlung von Bun787 M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - verfassungsrechtlich und rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (143); M.S. Cullen, Reichstag und Schloß Bellevue in: BaumunkjBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 340 ff. 788 Vgl. zum Reichskammergericht in Wetzlar: H. Schmidt, Das Reichskammergericht in: BaumunkjBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 155 ff. 789 So befand sich beispielsweise das Reichsgericht in Leipzig. Zu den rechtlichen Grundlagen der Festlegung siehe: W. Schubert, Die Deutsche Gerichtsverfassung (1869 - 1877), S.I008 ff. 790 H. Spode, Die Deutsche Nationalversammlung in Berlin in: BaumunkjBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 270. 791 G. Anschütz, Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, Art.71 Anm.1;, A. Arndt, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art.71 (S.205); F. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art.71 11 6; F. Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art.71 Anm.6. 792 Umfassend zu den Veränderungen der Hauptstadt Berlin durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten: O. BüschjW. Haus, Berliner Demokratie 19191985, Band I, Berlin als Hauptstadt der Weimarer Republik, S.238 ff. 793 Hierzu: BA. Rusinek, "Die deutscheste aller deutschen Städte" in: BaumunkjBrunn, Hauptstadt: Zentren, Residenzen, Metropolen in der deutschen Geschichte, 92 ff. Damals wurde Nümberg als "Hauptstadt der Bewegung" bezeichnet.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
destag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung. Das Bundesverfassungsgericht nahm in Karlsruhe seine Arbeit auf. Aus dieser Darstellung ergibt sich, daß in Deutschland, anders als in anderen europäischen Staaten wie Frankreich oder Großbritannien, eine Aufteilung staatsleitender Organe auf mehrere Orte üblich war. 794 Gerade hierin versinnbildlicht sich die unruhige und wechselvolle deutsche Staatsentwicklung.795 Es gab aber auch Zeiten einer Machtballung besonders in Berlin.796 Diese besondere Stellung Berlins wurde nicht durch anderweitige Hauptstadtregelungen des Bundestages beseitigt, sondern vielmehr durch die dauerhaften Bekundungen des Parlaments seit der 1. Wahlperiode verfestigt,797 obwohl der Bundespräsident nur vereinzelt in Berlin residierte und der Bundestag nur zu seltenen Sitzungen dort zusammentrat.798 Die allgemeine Postulation eines Hauptstadtbegriffs der deutschen Verfassungstradition, aufgrund dessen die Ansiedlung oberster Staatsorgane an einem Ort gefordert wird,799 läßt diese Unterschiede unberücksichtigt, so daß im Rahmen der Wortlautauslegung des Art.2 Abs.l S.l EinigungsV keine Aussage zur Sitznahme bestimmter Verfassungsorgane getroffen werden kann. Zwar ergibt sich aus dem Begriffsteil "Haupt" ein gewisser Führungsanspruch. Aus diesem Wortteil kann aber nicht die Sitznahme eines bestimmten Verfassungsorgans abgeleitet werden. Demzufolge kann erst recht nicht auf eine bestehende Verpflichtung zur Ansiedlung aller oberster Staatsorgane geschlossen werden. 794 K. v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.83.
795 T. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S.382. 796 M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - verfassungsrechtlich und rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (143), warnt insofern vor einer Verklärung der Hauptstadtrolle Berlins. 797 Zutreffend weisen in diesem Zusammenhang: K. IpsenjV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994, 605 (610), besonders darauf hin, daß es der parlamentarische Rat und nicht der Bundestag war, der im Mai 1949 geheim über Bonn als vorläufigen Sitz der Bundesorgane abstimmte. 798 Eine Auflistun~ der Plenarsitzungen in Berlin bezüglich der 1. bis 12. Wahlperiode rmdet sich bel: P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1983 - 1991, S.552 f. Zur ersten Sitzung des Bundestages in Berlin nach der Wiedervereinigung siehe: J. Bücker, Der erweiterte Deutsche Bundestag vom 3. Oktober bis 20. Dezember 1990 in: Festschrift für R. Morsey, 979. Die Konstituierung des 13. Deutschen Bundestages erfolgte ebenfalls im Reichstag in Berlin, vgl.: FAZv. 11.11.1994 S.l, 3. 799 Kritisch hierzu auch: K. Ipsen/V. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994, 605 (608).
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b) Systematische Auslegung Im Rahmen der systematischen Auslegung ist besonders auf das Verhältnis zu Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV abzustellen. Da in dieser Norm die Wahl des Sitzes von Parlament und Regierung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt wird, und eine Entscheidung diesbezügliche Alternativen voraussetzt, umfaßt der Hauptstadtbegriff des Art.2 Abs.l S.l EinigungsV nicht die Sitznahme von Parlament und Regierung in einer solchen Stadt.8OO Art.2 Abs.l S.l EinigungsV kann somit keinesfalls in der Art verstanden werden, daß der Parlaments- Regierungs- und Minesterialverwaltungssitz durch Art.2 Abs.l S.l EinigungsV bereits in Berlin festgelegt wurde, und lediglich die Frage des Zeitpunkts der Verlegung dieser Organe durch Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV unsicher bliebe.801 Wäre dies der Wille der Vertragsparteien gewesen, hätten sie wohl die eindeutige und naheliegende Formulierung: "die Frage des Zeitpunkts der Verlegung von Parlament und Regierung..." für den Vertragstext gewählt. Es ist einhellige Ansicht, daß unter den Begriff des Parlaments im Sinne von Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV zumindest der Bundestag zu fassen ist.802 Umstritten ist dagegen ob der Bundesrat unter diese Norm subsumiert werden kann. 803 Dies besitzt aufgrund der Notwendigkeit der Bildung einer dem Führungsanspruch einer Hauptstadt entsprechenden Organisations800 Diese Auffassung fmdet sich auch in der Denkschrift zum Einigungsvertrag BT-Drucksache 11 j 7760 v. 31.08.1990, S.357 (Art.2 Abs.1), in der ausdrücklich festgestellt wird: "Mit der Feststellung, daß Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist, erfolgt noch keine Festlegung zur Frage des Sitzes von Parlament und Regierung.". 801 So aber: M. Wolff, "Warum Berlin?", MDR 1991, 590; i.E.: R. Zuck, Berlin, MDR 1991, 497. 802 Siehe nur: M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBl. 1991,45 (46); M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991, 207 (208); F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1322); F. KeilhoferjM. Amold, Berlin - als Hauptstadt auch Regierungssitz?, Politische Studien 1991, 530. 803 Bejahend: P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (999); F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1322); G. BannasjK. BroichhausenjC.G. Hohenthal/K. Schwenn, der Vertrag zur deutschen Einheit, S.17; F. KeilhoferjM. Amold, Herlin - als Hauptstadt auch Regierungssitz?, Politische Studien 1991, 530; M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBl. 1991,45 (46); i.E.: P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (216). AA.: M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991, 207 (209).
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
struktur zumindest mittelbare Auswirkungen auf die Frage des Parlamentssitzes.
Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV spricht von einer späteren Entscheidung des Parlaments. Unter einem Parlament wird allgemein die Volksvertretung als Staatsorgan verstanden. Sowohl der durch die unmittelbare Wahl seiner Abgeordneten demokratisch legitimierte Bundestag als auch der Bundesrat, dessen Zusammensetzung durch die Wahl der Landtage bestimmt wird, stellen eine Volksvertretung dar. Zweifel an der Eigenschaft des Bundesrates als Parlament ergeben sich durch den Umstand, daß es nur im Bundestag zu einer Auseinandersetzung der unmittelbar durch die Bürger gewählten Abgeordneten kommt, welche darüber hinaus zahlenmäßig die in den Bundesrat entsendeten Ländervertreter bei weitem überwiegen. Der Bundestag ist insoweit das primäre Forum der politischen Willensbildung und Auseinandersetzung804 und als solches auch die oberste Volksvertretung.80S Die nach dem Vorbild des Bundestages einem Parlament zugeschriebenen Funktionen kann der Bundesrat nicht sämtlich erfüllen.806 Ein solches Begriffsverständnis könnte durch die Betonung des Singulars der Formulierung des Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV -"des Sitzes von Parlament"- untermauert werden. Bei der Bestimmung des Parlamentsbegriffs im Sinne dieser Norm ist aber zu berücksichtigen, daß im Rahmen des Grundgesetzes ausschließlich die Formulierung "Bundestag" und nicht "Parlament" gewählt wird, wenn nur das durch Wahl der Bundestagsabgeordneten zusammengesetzte Organ eine Regelung erfahren soll.807 Eine begriffliche Erfassung des Bundesrates durch den Parlamentsbergriff des Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Protokollerklärung zum Einigungsvertrag. 804 H. Rausch, Bundestag und Bundesregierung, S.75; H. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.21; H. Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, 310; K. Lohmann, Der Deutsche Bundestag, S.25. 805 Vgl.: H. Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR Band 119 (1994), 61 (80), der von dem Parlament als "oberstes Organ der politischen Willensbildung" spricht. 806 Demokratie- und verfassungstheoretische Bedenken gegen eine Einordnung des Bundesrates als Parlament fmden sich bei: R. Herzog in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 11, § 44 Rn. 14; T. Maunz in: MaunzjDürigj HerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.52 Rn.1. 807 Art.38 Abs.1; 39 Abs.1, 2, 3; 40 Abs.1, 2; 41 Abs.l, 2; 42 Abs.1, 2, 3; 43 Abs.l, 2; 44 Abs.l; 45a Abs.1; 45b; 46 Abs.1, 2, 3; 48 Abs.1; 54 Abs.3.
B. Regelungsgehalt des Einigungsvertrages
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Diese ist zur Konkretisierung des Einigungsvertrages heranzuziehen und erzeugt als einfaches Gesetz Rechtswirksamkeit. Bezüglich Art.2 Abs.l EinigungsV spricht das Protokoll von einer Beschlußfassung durch die gesetzgebenden Körperschaften.808 Da neben dem Bundestag lediglich der Bundesrat als gesetzgebende Körperschaft in Betracht kommt, wird durch diese Nutzung des Plurals klargestellt, daß auch die Länderkammer unter den Parlamentsbegriff des Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV fällt. 809 Der Hauptstadtbegriff des Einigungsvertrages setzt demzufolge weder den Sitz von Bundestag, Bundesrat noch der Bundesregierung voraus.
c) Teleologische Auslegung Der Sinn des Art.2 Abs.l EinigungsV liegt in seiner einheitsstiftenden Symbolfunktion, die ihren Niederschlag ebenfalls durch die in diesem Artikel getroffene Konstituierung des Feiertags der Deutschen Einheit gefunden hat. Diese Aspekte der inneren Einheit, die auch in der Präambel des Einigungsvertrages zum Ausdruck kommen, sollten in dieser Norm eine Manifestation finden. Da der Einigungsvertrag unter großem zeitlichen Druck entstand,810 ist die Regelung in Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV nur derart zu verstehen, daß entweder die vertragsschließenden Parteien sich nicht die Kompetenz zur Sitzfestlegung von Parlament und Regierung zuschrieben,811 oder eine Entscheidung unter geringerem Zeitdruck befürworteten. Keinesfalls wollten sie aber eine Sitzfestlegung der fraglichen Verfassungsorgane bereits zu diesem Zeitpunkt erreichen. Dies setzt wiederum das Bestehen abweichender Entscheidungsmöglichkeiten von Berlin als Sitz des Parlaments und der Regierung voraus.8l2 Die Ergebnisse der teleologischen 808 BGBI. 11, 1990 S.905.
809 M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBI. 1991, 45 (46); P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (999). 810 Hierauf weist auch die Denkschrift zum Einigungsvertrag ausdrücklich bei den Bemerkungen zu Art.2 Abs.2 EinigungsV hin. BT-Drucksache, 11 j TI60 v. 31.08.1990, S.355 (357).
811 Dieser Gedanke kommt in der Denkschrift zum Einigungsvertrag, BT-Drucksache 11 j 7760 v. 31.08.1990, S.357, (Art.2 Abs.1), zum Ausdruck. Hierin wird betont, daß die Entscheidung noch von den zuständigen Organen zu treffen ist. 812 K. IpsenjV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994,605 (608).
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
Auslegung bestätigen insoweit die unter systematischen Gesichtspunkten erzielten Resultate. d) Zwischenergebnis Weder der Wortlaut des Art.2 Abs.l S.l EinigungsV, noch seine systematischen Stellung, als auch teleologische Erwägungen vermögen die Notwendigkeit der Sitznahme bestimmter Verfassungsorgane als konstitutives Element des Hauptstadtbegriffs zu begründen. Aus dem Begriffsteil "Haupt" ergibt sich ein gewisser Führungsanspruch, von dem aber nicht ausgegangen werden kann, soweit keine staatsleitenden Organe sich in dieser Stadt befmden. e) Bestätigung durch historische Auslegung Das soeben gefundene Auslegungsergebnis der Unabhängigkeit des Hauptstadtbegriffs von der Sitznahme konkret bestimmbarer oberster Verfassungsorgane wird durch die Auswertung der Denkschrift zum Einigungsvertrag813 historisch gestützt. Hier findet sich bei den Bemerkungen zu Art.2 Abs.l EinigungsV14 die ausdrückliche Klarstellung: Mit der Feststellung, daß Berlin die Hauptstadt Deutschlands ist, erfolgt noch keine Festlegung zur Frage des Sitzes von Parlament und Regierung. Hierüber ist nach Herstellung der Einheit Deutschlands von den zuständigen Organen noch zu entscheiden. Die vertragsschließenden Parteien beabsichtigten demzufolge, die Festlegung der Hauptstadt von der Sitzbestimmung von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung zu separieren.
VI. Resümee
Art.2 Abs.l EinigungsV enthält keine Verpflichtung zur Sitznahme des Bundestages in Berlin. Dieser Norm läßt sich lediglich die Aufforderung an 813 BT-Drucksache, 11 /7760 v. 31.08.1990, S.355 ff. 814 BT-Drucksache, 11 /7760 v. 31.08.1990, S.355 (357).
c. Wahlfreiheit des Parlamentssitzes
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das Parlament entnehmen, nach der Herstellung der Einheit Deutschlands seinen Sitz festzulegen. Da diese Aufforderung staatsvertraglich und formalgesetzlich manifestiert wurde, muß das Parlament eine diesbezügliche Entscheidung treffen.
c. Wahlfreiheit bezüglich des Ortes des Parlamentssitzes Da dem Bundestag die Kompetenz zur Festlegung seines Sitzes zukommt, stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Bestehen materieller Grenzen bei der Bestimmung des konkreten Ortes. I. Funktionsfähigkeit des Parlaments
Der zur Begrenzung der parlamentarischen Wahlfreiheit gewählte Anknüpfungspunkt wird meist in der verfassungsmäßig geforderten funktionsfähigkeit des Parlaments gesehen. Dieses Kriterium darf aber nicht in der Art verstanden werden, daß eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Bundestages besteht, den Ort zu wählen, an dem die Funktionsfähigkeit optimal gewährleistet ist, ohne daß die Möglichkeit der Berücksichtigung anderer Faktoren besteht. Vielmehr existiert eine beschränkende Wirkung nur für den Fall, daß der Bundestag seiner durch das Grundgesetz zugewiesenen Funktion zumindest teilweise nicht nachkommen kann. Unter diesem Blickwinkel verlieren die propagierten Anforderungen an Gewicht, aufgrund deren einige Orte als Hauptstadt nicht in Betracht kommen sollen. So vermag die fehlende Zentralität einer Stadt nicht die parlamentarische Funktionsfähigkeit entscheidend zu beeinträchtigen.81S Dies ergibt sich schon aus den Erfahrungen mit dem in peripherer Lage befindlichen Bonn als jahrzehntelangem Sitzungsort des Bundestages. Auch war Ost-Berlin als innerdeutsche Grenzstadt durchaus in der Lage, Staatsleitungsfunktionen der DDR zu erfüllen.816 Ebenfalls ohne Belang ist die 815 Allgemein für eine Hauptstadt ablehnend: W. Thieme, Die Hauptstadtfrage als verwaltungswissenschaftliches Problem, Die Verwaltung Band 27 (1991), 1 (10 f.); offenlassend: M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbehgriff, ZRP 1991, 207 (210 f.). 816 Hierzu: M. Rexin, Ost-Berlin als DDR-Hauptstadt, Deutschland Archiv 1989,
644.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
momentane Größe einer Stadt.817 Daß der Ausbau kleinerer Städte oder sogar Neugründungen als Ort der Staatsleitung in Betracht kommen, ergibt sich durch den rechtsvergleichenden Verweis auf Madrid und Brasilia.818
11. Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
M. Wochner regt an, aus der in den Art.72 Abs.2 Nr.3, 106 Abs.3 Nr.2 GG zum Ausdruck kommenden verfassungsrechtlichen Forderung nach Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet Folgerungen für die Sitzbestimmungen von Verfassungsorganen zu ziehen.819 Da die Sitmahme eines Verfassungsorgans immer einen räumlich singulären Akt darstellt und die Forderung nach Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse keinesfalls als eine Pflicht zur Schaffung umfassender Deckungsgleichheit aller Daseinsumstände aufgefaßt werden kann, überzeugt diese Forderung nicht. Für den Fall des Bestehens regionaler Disparitäten erscheint es nahezu unmöglich, daß diese gerade durch die Ansiedlung des Parlaments ausgeglichen werden müssen. Nur das Bestehen einer solche Pflicht ohne Möglichkeiten zur andersartigen Regelung, könnte aber die diesbezügliche Wahlfreiheit des Parlaments einschränken.
111. Gemeinsamer Sitz oberster Verfassungsorgane
Aus einer Verpflichtung zur gemeinsamen Ansiedlung mehrerer Verfassungsorgane an einem Ort ergäbe sich eine Beschränkung der parlamentarischen Möglichkeiten der autonomen Sitzfestlegung. Hierzu müßte aber zunächst der verfassungsrechtliche Auftrag zur Bildung eines einheitlichen "Bundessitzes" bestehen. Von Teilen der Literatur wird im Ergebnis eine einheitliche Sitznahme oberster Verfassungsorgane unter Berufung auf notwendige Hauptstadteigenschaften gefordert. Dies ist insofern stringent, soweit als Voraussetzung einer Hauptstadt die Ansiedlung bestimmter Verfassungsorgane als deren konstitutives Erfordernis gefordert wird. Die feh-
817 So aber: W. Thieme, Die Hauptstadtfrage als velWaltungswissenschaftliches Problem, Die VelWaltung Band 27 (1991),1 (10 f.). 818 Vgl... K v. Beyme, Hauptstadtsuche, S.13. 819 M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991,207 (212).
c. Wahlfreiheit des Parlamentssitzes
205
lende Tragfähigkeit solcher Deftnitionen wurde bereits dargelegt,820 so daß sich hieraus keine Begrenzung der parlamentarischen Entscheidungsmöglichkeiten ableiten lassen. F. Hufen folgert die Verpflichtung zur Festlegung eines einheitlichen Sitzes von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung aus der Formulierung des Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV, der nur von der Frage "des" Sitzes von Parlament und Regierung spricht.821 Dieser Gebrauch des Singulars kann
und sollte als ein bloßer Hinweis auf die Einmaligkeit des Sitzes jedes Verfassungsorgans verstanden werden. Hätten die Vertragsparteien einen einheitlichen Sitz der fraglichen Verfassungsorgane begründen wollen, so hätten sie wohl als Vertragstext die Formulierung gewählt: "die Frage des gemeinsamen Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden".
Als zweiten Begründungsstrang für einen einheitlichen Sitz der obersten Bundesorgane nennt F. Hufen die vielfältigen Verflechtungen und Formen des Zusammenwirkens und der gegenseitigen Kontrolle, die in einer verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbaren Weise für den Fall der räumlichen Trennung erschwert wären.822 Diese Argumentation stellt entscheidend auf die angeblich nicht mehr bestehende Funktionsfähigkeit des Gefüges der Bundesorgane bei räumlicher Trennung ab, welche beispielsweise in dem Zitierrecht des Bundestages gemäß Art.43 Abs.l GG und den Rederechten der Bundesregierung und des Bundesrates gemäß Art.43 Abs.2 GG zum Ausdruck kommen. Auch wenn Zweckmäßigkeitserwägungen für einen gemeinsamen Sitz oberster Verfassungsorgane angeführt werden können,823 ist keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Festlegung eines einheitlichen Sitzes von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung anzuerkennen.824 Das Postulat fehlender Funktionsfähigkeit bei räumlicher Trennung 820 Siehe hierzu Ausführungen auf Seite 178 ff. Dort finden sich auch die entsprechenden Literatumachweise. 821 F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1322). 822 Ebd.: 1321 (1322). Ähnlich: WA. Kewenig, Berlin - Hauptstadt Deutschlands in: Festschrift ftir W. Wagner, 40 (43). 823 T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.22 Rn.33.
824 P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (205); J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Haupt-
206
2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
der fraglichen Organe läßt sich durch empirische Erfahrungen nicht bestätigen. In den Zeiten moderner Telekommunikation und Verkehrsmitteln mit hoher Geschwindigkeit, kommt der räumlichen Trennung relativ geringes Gewicht zu. So bedarf es aufgrund der politischen Integration im Rahmen der europäische Einigung der Bewältigung weitaus größere Strecken, als dies im innerstaatlichen Verkehr notwendig wäre, ohne daß daraus die fehlende Funktionsfähigkeit europäischer Institutionen gefolgert werden kann. Berücksichtigt man die Erfahrungen anderer Rechtskreise, so scheint keineswegs die örtliche Trennung zwischen Parlament und Regierung die Funktionsfähigkeit eines Staates zu beeinträchtigen. Angeführt sei lediglich das Beispiel Südafrikas, wo sich die Regierung in Pretoria befmdet und das Parlament in Kapstadt tagt. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur gemeinsamen Ansiedlung mehrerer Verfassungsorgane kann nicht festgestellt werden, so daß die Auswahlmöglichkeiten des Bundestages keinen diesbezüglichen Grenzen unterliegen.
IV. Relevanz der Beschlüsse bezüglich Berlins als Hauptstadt und Sitz des Parlaments
Die Diskussion um den Parlamentssitz in einem geeinten Deutschland ist durch die jede Legislaturperiode erfassende Bekenntniswiederhohlung zu Berlin als zukünftiger Hauptstadt und Sitz des Bundestages historisch geprägt. Die Aufzählung der Vielzahl der Beschlüsse des Parlaments und sonstiger Äußerungen wurde bereits an anderer Stelle umfangreich geleistet, so daß zum Nachweis auf diese Dokumentationen verwiesen wird.825 Die in diesem Rahmen getätigten Beiträge einzelner Bundestagsabgeordneter besitzen zwar keinerlei Verbindlichkeit für das Parlament. Ihnen kann aber, stadt, Der Staat Band 29 (1991), 231 (240); M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBl. 1991,45 (47). T. Maunz in: Maunz/Dürig/ Herzo~/Scholz, Kommentar zum GG, Art.22 Rn.33, hält zumindest die Ansiedlung in zwei benachbarte Städte für möglich. 825 Umfangreiche Darstellungen fmden sich bei: Strube-Edelmann, Hauptstadt Berlin in Anträgen und Entschließungen des Deutschen Bundestages (1.-11. Wahlperiode), Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste, WF 11 - 64/90; G. Schulze, Deutschlands Hauptstadt ist Berlin, Deutschland Archiv 1990, 697 ff.; U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 ff.; Lehrgebiet für öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte der Universität Hannover, Der Deutsche Bundestag zu Berlin seit 1949, JR 1991, 1 ff.; P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, 1983 -1991, S.1029 ff.
c. Wahlfreiheit des Parlamentssitzes
207
besonders bei exponierter Stellung des betreffenden Abgeordneten, politische Gewicht zukommen. Zu einer formalgesetzlichen826 oder verfassungsrechtlichen Festlegung der Hauptstadt oder des Sitzes des Bundestages kam es in Westdeutschland nicht. Entscheidenden Einfluß für die Fragen der Festlegung des Parlamentssitzes besitzt die rechtliche Bewertung der parlamentarischen Willensäußerungen, insbesondere der schlichten Parlamentsbeschlüsse. Da sich die schlichten Parlamentsbeschlüsse des Bundestages zur Sitzfestlegung des Parlaments und der Hauptstadtfrage als solcher nicht unmittelbar auf Normen der Verfassung, formalgesetzliche Ermächtigungen oder Vorschriften der Geschäftsordnung gründen lassen, kommt ihnen als Entschließungen keinerlei Verbindlichkeit und auch keine den Bundestag verpflichtende selbstbindende Wirkung zu. 827 Die Berlin betreffenden Parlamentsbeschlüsse beruhten in einer Vielzahl auf einem fraktionsübergreifenden Konsens und sind oftmals besonders öffentlichkeitswirksam abgegeben worden, so daß eine besonders starke moralische Verpflichtung zur Einhaltung dieser Beschlüsse besteht. Ob eine solche Verpflichtung auch für Abgeordnete aus den neuen Ländern existiert, die aufgrund fehlender Möglichkeiten der Teilnahme an vergangenen Parlamentswahlen nicht durch den Bundestag demokratisch legitimiert vertreten wurden, erscheint zumindest fraglich. Da aber zu keiner Zeit eine rechtlich verbindliche Form für die Berlinbekenntnisse des Parlaments gewählt wurde, ist die Wahlfreiheit des Bundestages im Sinne einer rechtlichen Grenzziehung seiner Entscheidungsmöglichkeiten nicht beeinträchtigt.
826 Auch der inzwischen geänderte § 2 Abs.3 Bundesbankgesetze enthielt nur eine mittelbare Aussage zum zukünftigen Sitz der Bundesregierung. Zu seiner schon damals fehlenden verpflichtenden Kraft siehe: M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage verfassungsrechtlich und rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (137). 827 Zur Begründungen der Unverbindlichkeit parlamentarischer Entschließungen siehe Ausführungen auf Seite (?) ff. Zur fehlenden rechtlichen Selbstbindung siehe Seite 95. Eine momentan bestehende rechtliche Verbindlichkeit für den ersten Beschluß des Deutschen Bundestages von 1949 nimmt dagegen: G. Schulze, Deutschlands Hauptstadt ist Berlin!, Deutschland Archiv 1990, 697, ohne weitere Begründung an.
208
2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage V. Vorschriften der DDR Verfassung
Klare Aussagen zur Hauptstadtfrage enthielt sowohl Art.2 Abs.2 der DDR Verfassung von 1949 als auch die nachfolgenden geänderten Verfassungen von 1968 und 1974 in Art.1 Abs.2, in denen Berlin als Hauptstadt der DDR festgelegt wurde.828 Diese Normen haben durch den Untergang der DDR jede rechtliche Relevanz verloren. Sie wurden auch nicht durch Art.9 EinigungsVals fortgeltendes Recht in das gesamtdeutsche Rechtssystem übertragen. Da sich das gesamtdeutsche Parlament nicht als Nachfolger der Volkskammer der DDR qualifizieren läßt, besteht nicht einmal eine politische Bindungswirkung dieser Normen. Die Wahlfreiheit des Bundestages bei der Bestimmung seines Sitzes unterliegt keiner Determinierung durch DDR-Verfassungsrecht.
VI. Ergebnis
Die zur Eingrenzung der Wahlfreiheit des Parlaments bei der Bestimmung seines Sitzes genannten Faktoren bes:tzen keine Überzeugungskraft. Auch die sitzspezifischen parlamentarischen Entschließungen können lediglich über eine moralisch verpflichtende Wirkung auf die Konkretisierung der Entscheidungsmöglichkeiten des Parlaments Einfluß nehmen. Dem Parlament kommt bezüglich des Ortes seines Sitzes ein in rechtlicher Hinsicht unbeschränktes Wahlrecht zu.
D. Notwendigkeit formalgesetzlicher Festlegung des Parlamentssitzes Die Frage der Notwendigkeit formalgesetzlicher Regelung bei der Sitzfestlegung von Parlament und Regierung wurde nach dem Beitritt der DDR im juristischen Schrifttum mit Vehemenz diskutiert.829 Auch in dem Ver828 Eingehend hierzu: M. Rexin, Ost-Berlin als DDR-Hauptstadt, Deutschland Archiv 1989, 644 ff.; M. Heintzen, Die Hauptstadtfrage - verfassungsrechtlich und rechtspolitisch betrachtet, ZfP 1990, 134 (135); zu den e.0litischen Hintergründen: R. Scholz, Die Hauptstadt, Politik und Kultur Heft 4 (198'1), 33 (44 f.). 829 V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DÖV 1994, 490 (502); F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1324 ff.); M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes
D. Formalgesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes
209
fahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Hauptstadtbeschluß des Bundestages wurde eine Verlegung des Sitzes der Bundesregierung ohne förmliches Bundesgesetz von den Antragstellern als verfassungswidrig bezeichnet.83O Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag auf einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG ab,831 ohne die rechtliche Ausgangsfrage einer Lösung zuzuführen. Ob zur Sitzfestlegung eines obersten Bundesorgans und im speziellen des Parlaments die Rechtsform des Gesetzes gewählt werden muß, gehört weiterhin zu den offenen verfassungsrechtlichen Fragen der Wiedervereinigung.
I. Zulässigkeit formalgesetzlicher Regelung
Bevor entschieden werden kann, ob die Sitzfestlegung des Bundestages eines förmlichen Gesetzes bedarf, muß zunächst die Zulässigkeit einer derartigen Regelung festgestellt werden. 832 Die Möglichkeit der fehlende Zulässigkeit formalgesetzlicher Regelung besteht besonders in Fällen der Eigenorganisation.833 Die Festlegung des Parlamentssitzes determiniert in rechtlicher Hinsicht nicht die Sitzmanifestation anderer Verfassungsorgane834 und besitzt auch keine andersartigen unmittelbaren Auswirkungen auf Rechtspositionen Dritter. Der Bundestag wird nur in eigener Person betroffen, so daß eine solche Regelung einen Akt der Selbstorganisation darstellt. Aufgrund des Fehlens einer ausdrücklichen grundgesetzlichen Ermächtigung zur Regelung in einem förmlichen Gesetz, ist die Zulässigkeit einer solchen Regelung parlamentsinterner Angelegenheiten in dieser Form
von Parlament und Regierung, NWVBl. 1991, 45 (47 f.); P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (195 ff.). 830 Siehe hierzu die Darstellung auf Seite 11. 831 Vgl. hierzu die Ausführungen auf Seite 28. 832 Im Schrifttum hat diese Problematik zuerst P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (206 f.) erk!!-nnt, der sie aber unbeantwortet läßt. V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DOV 1994, 497 (502 Fn.32), betont dagegen die Zulässigkeit dieser Regelungsform. 833 Die diesbezüglich Meinungsdarstellung und deren Diskussion befindet sich auf Seite 122 ff. 834 Siehe hierzu die Ausführungen auf Seite 191 ff. 14 Kühnreich
210
2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
keinesfalls eindeutig. Für den Fall des Eingreifens der oben entwickelten Schranken,835 ist eine Regelung durch förmliches Gesetz unzulässig.
1. Zustimmungsgesetz Ein die Eigenorganisation des Parlaments betreffendes Gesetz, ist für den Fall der Notwendigkeit der Zustimmung des Bundesrates unzulässig. Nach ganz herrschender Ansicht bedürfen Zustimmungsgesetze einer ausdrücklichen Bezeichnung im Grundgesetz836 denn andernfalls handelt es sich um Einspruchsgesetze. Eine Erwähnung des sitzfestlegenden Gesetzes in der enumerativen Aufzählung des Grundgesetzes ist nicht ersichtlich, so daß ein solches Gesetz nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf.837
2. Kern der Geschäftsordnungsautonomie Auch ist eine gesetzliche Regelung für den Fall des Eingreifens in den Kern der Geschäftsordnungsautonomie unzulässig. 838 Durch die Festlegung des Parlamentssitzes in einem förmlichen Gesetz wird nur ein eng begrenzter Spezialaspekt der Eigenorganisation geregelt, so daß der als klein und essentiell zu bestimmende Kernbereich839 hierdurch nicht beeinträchtigt ist. Von einer Aufhebung der Funktionsfähigkeit des Selbstorganisationsrechts des Bundestages kann keinesfalls die Rede sein.
835 Zu diesen siehe Seite 134. 836 BVerfGE 1, 76 (79); B.-O. Bryde in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.77 Rn.20; A. Bleckmann, Staatsrecht I, Rn.1740; C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.419; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 27 IV 2 b (S.l44). Teilweise wird es als ausreichend angesehen, wenn die grundgesetzliche Norm in diesem Sinne zu interpretieren ist; vgl.: BVerfGE 28, 66 (79). 837 Soweit ein solches Gesetz für zustimmungsbedürftig gehalten wird, lassen diese Stellungnahmen die Nennung einer verpflichtenden grundgesetzlichen Norm ganz vermissen; vgl.: M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBI. 1991, 45 (48); oder es wird ein Konglomerat einer Vielzahl grundgesetzlicher Normen genannt, aus deren diffusen Gesamtaussage die Zustimmungsbedürftigkeit eines solchen Gesetzes abgeleitet wird; so: F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1326 f.). 838 Siehe hierzu Seite 136 f. 839 Zur Begriffsbestimmung vgl. Ausführungen auf Seite 138.
D. Fonnalgesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes
211
3. Gewichtige sachliche Gründe Darüber hinaus bedarf es für die Zulässigkeit eines förmlichen Gesetzes gewichtiger sachlicher Gründe für die Wahl dieser Form.840 Die Entscheidung über die Bestimmung des Parlamentssitzes und seine etwaige Verlegung ist durch eine die Wahlperioden überschreitende Dauer gekennzeichnet. Für eine beständige, Verläßlichkeit erzeugende und nicht der parlamentarischen Diskontinuität unterliegende Festlegung des Parlamentssitzes, besteht schon aufgrund der mittelbaren fmanziellen und planerischen Auswirkungen ein rechtspolitisches Bedürfnis.841 Die im Rahmen einer Abwägung zu berücksichtigende Beeinträchtigung des Selbstorganisationsrechts des Parlaments, insbesondere durch Beteiligung des Bundesrates am Gesetzgebungsverfahren, wiegt in diesem Kontext nicht schwer. Eine Festlegung des Sitzes gegen den Willen des Bundestages ist ausgeschlossen, da er sich bei einem solchen Einspruchsgesetz sogar gegen das Begehren des Bundesrates durchsetzen kann. Darüber hinaus wird Ablauf und Verfahren der parlamentarischen Verhandlungen durch die Sitzbestimmung nur peripher berührt. Vielmehr kann bei dieser Entscheidung durch die Beteiligung anderer Verfassungsorgane eine gesamtstaatliche Absicherung erfolgen, durch die die symbolische Wirkung im Sinne der Staatspflege bestärkt wird. Das Bestehen gewichtiger sachlicher Gründe für eine gesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes unterliegt keinen Zweifeln. Die die Zulässigkeit der Gesetzesform begründenden Kriterien sind erfüllt, so daß die Regelung im Rahmen eines förmlichen Gesetzes zulässig ist. 11. Institutioneller Gesetzesvorbehalt
Die Frage des Bestehens eines Gesetzesvorbehalts hat eine gegenüber der Ermittlung der Zulässigkeit formalgesetzlicher Regelung entgegengesetzte Ausrichtung. Dies ist aber nur dann der Fall, soweit man unter einem Gesetzesvorbehalt nicht nur die im Grundgesetz enthaltenen speziellen Vorbehalte versteht, die teilweise nur eine gesetzgeberische Tätigkeit ermöglichen.842 Vielmehr greift diese Einordnung nur dann, wenn auch eine 840 Zu diesen siehe Erörterungen auf Seite 139.
841 Ähnlich: V. Busse, Umzugsplanung Bonn - Berlin, DÖV 1994, 497 (502 Fn.32). 842 Solche sind nicht nur in Grundrechten z.B.: Art.2 Abs.1, Abs.2 S.3; 5 Abs.2; 6
212
2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
über die konkreten einzelnen Verfassungsvorschriften hinausgehende allgemeine Verpflichtung zur Regelung durch ein formelles Gesetz besteht. Während im Rahmen der Zulässigkeit einer gesetzlichen Regelung entschieden wird, ob eine solche überhaupt möglich ist, wird bei der Erörterung des so verstandenen Gesetzesvorbehalts das Bestehen einer Verpflichtung zur Regelung durch ein formelles Gesetz beurteilt. In der Literatur wird im Zusammenhang mit der Festlegung des Parlamentssitzes oftmals das Bestehen eines speziellen organisatorischen oder institutionellen Gesetzesvorbehalts postuliert.843 Versteht man unter einer solchen Verpflichtung zum Gesetzeserlaß die Gesamtheit der im Grundgesetz festgelegten Gesetzesvorbehalte in diesem organisatorischen oder institutionellen Bereich,844 so können für die Festlegung des Parlamentssitzes mangels konkreter diesbezüglicher Regelung keine Aussagen abgeleitet werden.
Ein darüber hinausgehender allgemeiner Gesetzesvorbehalt im organisatorischen Bereich, aus dem sich die Notwendigkeit der Regelung diesbezüglicher Materie in einem förmlichen Gesetz ergibt, läßt sich dem Grundgesetz nicht entnehmen.845 Zutreffend weist P. Lerche darauf hin, daß nicht aufgrund bestehender grundgesetzlicher Gesetzesvorbehalte schematisch Abs3; 8 Abs.2; 9 Abs.2; 10 Abs.2; 11 Abs.2; 12 Abs.l S.2, Abs.2; 13 Abs.2 Abs3; 14 Abs.l S.2 GG; sondern auch an anderer Stelle der Verfassung z.B.: Art.24 Abs.l; 28 Abs.2; 38 Abs3; 41 Abs3; 48 Abs3 S3; 59 Abs.2 S.l; 109 Abs3; 110 Abs.2 S.l; 106 Abs3 S3 GG enthalten. Eingehend zu den mit dieser Begrifflichkeit verbundenen Schwierigkeiten: F. Ossenbühl in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 61 Rn.12. 843 F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik. Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1324); U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik. Deutschland und eines vere!nigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 (511); ablehnend: J.-D. Kühne, Replik. LS. Hauptstadt: Nicht nur Papier und Sonntagsreden, ZParl1990, 515 (519 Fn.19); P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (195). 844 Vgl.: hierzu die umfangreiche Aufzählung und Einteilung bei: F. Ossenbühl in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band 111, § 62 Rn.28. 845 P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (195); J.-D. Kühne, Replik. LS. Hauptstadt: Nicht nur Papier und Sonntagsreden, ZParl 1990, 515 (519 Fn.19); aA. U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik. Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 505 (511); M.-E. Geis, Die Organklage des Bundestagsabgeordneten als "Waffe" gegen Organisationsakte der Bundesregierung, ZG 1993, 148 (153); F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik. Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1324).
D. Fonnalgesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes
213
auf die Verpflichtung zu gesetzlicher Regelung anderer bedeutender Fragen geschlossen werden kann. 846 Gerade am Beispiel der Festlegung des Parlamentssitzes wird deutlich, daß ein solches Vorgehen andere Verfassungsvorschriften mißachtet, denn ein allgemeiner organisatorischer Gesetzesvorbehalt würde die sich aus Art.40 GG ergebende Autonomie des Bundestages untergraben. Da sich ein umfangreicher organisatorischer oder institutioneller Gesetzesvorbehalt nicht in die Systematik des Grundgesetzes integrieren läßt, ist sein Bestehen abzulehnen, und es ist unmöglich, hieraus eine Verpflichtung zur Sitzfestlegung durch formelles Gesetz abzuleiten.847
111. Begründung mit der Wesentlichkeit der Entscheidung
Die Notwendigkeit der Festlegung des Parlamentssitzes durch ein förmliches Gesetz wird von Teilen der Literatur mit der Wesentlichkeit der Entscheidung und dem Eingreifen der sogenannten "Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts begründet.848 Unzweifelhaft handelt es sich bei der Festlegung des Parlamentssitzes um eine wesentliche Entscheidung, doch ist mit dieser Feststellung keinesfalls automatisch die Verpflichtung zur Regelung in einem förmlichen Gesetz verbunden. Vielmehr bedarf es eines Rückgriffs auf die dogmatischen Grundlagen dieses Prinzips, um die Tragfähigkeit einer hieraus abgeleiteten Gesetzesforderung zu bewerten. Der Vorbehalt des Gesetzes849 fmdet seine Grundlage im Demokratieprinzip aus den Art.20 Abs.l, 28 Abs.l S.l GG und dem Rechtsstaatsprinzip, das aus Art.20 Abs.2 S.2, Abs.3 GG resultiert.850 Dieser Gesetzesvorbehalt 846 P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (195). 847 So auch: P. Lerche, ebenda., 193 (195); J.-D. Kühne, Replik i.S. Hauptstadt: Nicht nur Papier und Sonntagsreden, ZParll990, 515 (519 Fn.19). 848 F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regier.ungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1324). Ahnlich für die Sitzfestlegung der Bundesregierung: M.-E. Geis, Die Organklage des Bundestagsabgeordneten als "Waffe" gegen Organisationsakte der Bundesregierung, ZG 1993, 148 (152 f.). 849 Die Bezeichnungen Vorbehalt des Gesetzes und Gesetzesvorbehalt werden deckungsgleich verstanden. 850 BVerfGE 33, 125 (158); 45, 400 (417 f.); 47, 46 (78); 58, 257 (268); F. Ossenbühl in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 62 Rn32; C.-E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, 485 (488 f.); K.-U. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S316; P. Badura, VVdStRL 24
214
2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
besitzt seine dogmatischen Wurzeln im frühen 19. Jahrhundert und war mit dem sogenannten Eingriffsvorbehalt in Freiheit und Eigentum des Bürgers identisch.851 Nachdem im Nachkriegsdeutschland mit der Demokratisierung der Staatsform das Parlament zum primären Machtinhaber avancierte, mußte der überkommene Gesetzesvorbehalt unter den neu entstandenen Verfassungsvorgaben zeitgemäß fortentwickelt werden. Dies führte einerseits zur Postulation eines Totalvorbehalts, aufgrund dessen eine gesetzgeberische Festlegung auch für die gesamte Leistungsverwaltung gefordert wurde.852 Diese Lehre konnte sich aber nicht durchsetzen, da ein Totalvorbehalt die Kompetenz der Bundesregierung zur selbständigen Entscheidung auslöscht. Ein Totalvorbehalt ist deshalb nicht in die grundgesetzliche Ordnung integrierbar, sondern kann nur in einem regierungslosen Staat verwirklicht werden.853 Lediglich ergänzend sei bemerkt, daß durch die Realisierung einer solchen Forderung das Parlament in den Möglichkeiten seiner quantitativen Arbeitsleistung überfordert wäre.854 (1965), Aussprache, 210 (213); F. Ossenbühl, Bestand und Erweiterung des Wirkungskreises der Deutschen Bundespost, S.80. Kritisch: H.H. v. Arnim, Zur "Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassun~sgerichts, DVBI. 1987, 1241 (1244); E. Baader, Parlamentsvorbehalt, Wesentlichkeltsgrundsatz, Delegationsbefugnis, JZ 1992,394; R. Loeser, Das Bundes-Organisationsgesetz, S.149. 851 R. Hermes, Der Bereich des Parlamentsgesetzes, S.15 f.; W. Clement, Der Vorbehalt des Gesetzes, insbesondere bei öffentlichen Leistungen und öffentlichen Einrichtungen, S.5; W. Krebs, Zum aktuellen Stand der Lehre von Vorbehalt des Gesetzes, Jura 1979, 304; F. Ossenbühl in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 62 Rn.13; M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (686); K. Vogel, Gesetzgebung und Verwaltung, VVdStRI 24 (1966), 125 (150); C. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S.83; E. Höhn, Gewohnheitsrecht im Verwaltuilgsrecht, S.20; Z. Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, 1. Band, S.250. 852 M. Imboden, Das Gesetz als Garantie rechtsstaatlicher Verwaltung, 5.41 f.; E. Höhn, Gewohnheitsrecht im Verwaltungsrecht, S.21; Z. Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, 1. Band. S.251; D. Jesch, Gesetz und Verwaltung S.33 f. Siehe auch: H.-J. Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundgesetzliche Demokratleprinzip, S.27 ff. 853 F. Ossenbühl in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 62 Rn.21; W. Mössle, Regierungsfunktionen des Parlaments, S.135. Ablehnend auch: BVerfGE 49,89 (124 f.); 68, 1 (109). Die hier vorgetragenen Bedenken erkannte bereits G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S.621, für die Reichsverfassung, indem er schrieb: "Eine nur aufgrund Gesetzes verfahrende Verwaltung wäre nur in einem regierungslosen Staate zu fmden, eine Ausgeburt politischer Methaphysik, der in der Wirklichkeit nichts entspricht." 854 F. Weyreuther, Über die Rechtsnatur und die Rechtswirkung von Verwaltungsvorschriften, DVBI. 1976,853 (857).
D. Formalgesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes
215
Nachdem der Weg einer radikalen Neuorientierung in der Form eines Totalvorbehalts sich als nicht gangbar erwiesen hatte, konzentrierte sich die Diskussion um den Gesetzesvorbehalt auf die Frage nach dessen Intensität und Reichweite. Richtungsweisendes Gewicht besitzen hierbei besonders die seit Anfang der siebziger Jahre mehrfach ergangenen Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die zu einer Konkretisierung des gesetzlichen Vorbehaltsbereichs geführt haben. 855 An diesen Urteilen orientieren sich auch die neueren Stellungnahmen der Literatur. Eine umfangreiche Bestimmung erfolgte durch die vielzitierte856 "erste Kalkarentscheidung" des Bundesverfassungsgerichts.857 Hiernach ist der Gesetzgeber berufen: "in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.,,858
1.
Grundlegende nonnative Bereiche
Unter Berufung auf das soeben genannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird von Teilen der Literatur die Notwendigkeit einer formalgesetzlichen Festlegung des Parlamentssitzes mit dem Hinweis auf den fehlenden normativen Charakter dieser Einzelfallentscheidung verneint.859 In dem 855 Siehe nur: BVerfGE 33, 125 ff.; 34, 165 ff.; 41, 251 ff.; 49, 89 ff.; 58, 257 ff. Speziell zur Entwicklung der Rechtsprechung siehe: R. Hermes, Der Bereich des Parlamentsgesetzes, S.18 ff.; K. Stern, Das Deutsche Staatsrecht, Band 11, § 37 I 4 b (S.571 ff.). 856 R. Hermes, Der Bereich des Parlamentsgesetzes, S.26 f.; P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (196); M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (692); F. Ossenbühl in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, §62 Rn.38; T. Köstlin, Die Kulturhoheit des Bundes, S.1l8; H.-J. Papier, in: GötzjKleinjStarck, Die Öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, S.37; ders., Gewaltentrennung im Rechtsstaat in: D. Merten, Gewaltentrennung im Rechtsstaat, 95 (99); E. Baader, Parlamentsvorbehalt, Wesentlichkeitsgrundsatz, Delegationsbefugnis, JZ 1992, 394 (395); K. IpsenjV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994, 605 (609). 857 BVerfGE 49, 89 ff. 858 BVerfGE 49,89 (126 f.). 859 P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (196 f.); C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.289.
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2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
soeben zitierten Spruch stellt das Bundesverfassungsgericht jedoch nur klar, wann in normativen Bereichen eine gesetzgeberische Entscheidung notwendig ist. Ihm ist nicht zu entnehmen, daß ausschließlich in normativen Bereichen eine gesetzgeberische Regelung notwendig ist. Darüber hinaus erscheint die These kaum begründbar, daß sehr wesentliche, den gesamten Staat ergreifende Entscheidungen eines Einzelfalles niemals der gesetzgeberischen Entscheidung bedürfen.
2. Gesetzesvorbehalt oder Parlamentsvoroehalt Bei der Problematik der selbständigen Bestimmung des Parlamentssitzes drängt sich die Frage auf, ob der allgemeine Gesetzesvorbehalt die Regelung in einem förmlichen Gesetz bedingt, oder ob hierdurch lediglich eine parlamentarische Entscheidung gefordert wird. Im letzteren Fall könnte von einem Parlamentsvorbehalt gesprochen werden. 86O Einem solchen würde auch die Regelung durch schlichten Parlamentsbeschluß genügen. a) Rechtsstaatsprinzip Soweit der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes auf das Rechtsstaatsprinzip gestützt wird, ergibt sich hieraus die Gewährleistung von Rechtssicherheit und Gewaltenteilung.861 Da bei der Festlegung des Parlamentssitzes nicht in Rechte anderer eingegriffen wird, kann die Forderung nach Rechtssicherheit keine Notwendigkeit zur formalgesetzlichen Regelung bewirken. Darüber hinaus bleibt zu bedenken, daß selbst bei einem Gesetz eine jederzeitige Änderungsmöglichkeit besteht, so daß der Begriff der Rechtssicherheit keine Garantie einer unabänderlichen Rechtssituation beinhalten kann. 860 So auch: M. Kloepfer, Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, JZ 1984, 685 (694). P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (199) bezeichnet diesen Sachverhalt als "demokratischen Parlamentsvorbehalt". Mit Hinweis auf die bestehenden terminologischen Ungenauigkeiten findet sich ein völlig anderes Begriffsverständnis bei: F. Ossenbühl in: IsenseejKirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 62 Rn.9. Vgl. hierzu auch: J. Pietzcker, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, JuS 1979, 710 (712); H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S.169; F.E. Schnapp in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.20 Rn.46. ~ C.-E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, D ÖV 1984, 485 (488).
D. Formalgesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes
217
In Bezug auf das Gewaltenteilungsprinzip ist zu berücksichtigen, daß der Vorbehalt des Gesetzes auch zur Abgrenzung der Wirkungsbereiche von Parlament und Exekutive gereicht.862 Diese Kompetenzbestimmung spielt vorliegend aber keine Rolle, da sowohl bei einem schlichten Parlamentsbeschluß als auch bei einem förmlichen Einspruchsgesetz die Entscheidung vom Bundestag gefällt wird. b) Demokratieprinzip Problematischer gestalten sich dagegen die sich aus dem Demokratieprinzip ergebenden Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt. Einerseits wird eine Bundestagsentscheidung unmittelbar durch die demokratisch legitimierten Abgeordneten getroffen. Andererseits ergibt sich aus dem parlamentarischen Verfahren eines förmlichen Gesetzes eine besondere demokratische Legitimation.863 Da sowohl bei einem Parlamentsgesetz als auch bei einem schlichten Parlamentsbeschluß die Abgeordneten entscheiden, besitzt der zuerst genannte Aspekt des Demokratieprinzips in diesem Zusammenhang keinerlei Relevanz. Wird die besondere demokratische Absicherung in dem speziellen Gesetzgebungsverfahren erblickt, so scheint prima fade eine Regelung durch schlichten Parlamentsbeschluß in demokratischer Hinsicht geringwertiger. Diese Vermutung ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens und ihrer vielfältigen Natur zu bezweifeln. Die gesetzlichen Charakteristika zeigen sich an der Beteiligung anderer Verfassungsorgane und der Beratung in mehreren Lesungen. Darüber hinaus bewirken sie die Öffentlichkeit der Verhandlungen des Bundestages und die Zugänglichkeit der als Bundestagsdrucksachen veröffentlichten Materialien und der beschlossenen Gesetze im Bundesgesetzblatt. Auch im Rahmen der Verhandlung über den Inhalt einer parlamentarischen Entschließung kann in sehr öffentlichkeitswirksamen und umfassen862 F. Ossenbühl in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band III, § 62 Rn.7, spricht sogar von einer "Zentralfrage der Gewaltenteilung". 863 C.-E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, 485 (489); H.H. v. Arnim, Zur "Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1987, 1241 (1246).
218
2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
den Parlamentsverhandlungen entschieden werden, wobei gerade die "Hauptstadtdebatte" eine solche parlamentarische Auseinandersetzung exemplifIziert. Anträge zu einfachen Parlamentsbeschlüssen, und diese selbst, können ähnlich wie Gesetzesentwürfe als Bundestagsdrucksachen amtlich veröffentlicht werden. Auch hierfür bietet die Festlegung des Parlamentssitzes praxisnahes Anschauungsmaterial.864 Daß gerade bei eigenorganisatorischen Parlamentsfragen eine Beteiligung anderer Verfassungsorgane eher negativ beurteilt werden muß, hat das Bundesverfassungsgericht in anderem Zusammenhang ausdrücklich betont.865 Sollte eine inhaltliche Beteiligung unter Gesichtspunkten der Organtreue866 dennoch angezeigt erscheinen, so können sowohl Mitglieder des Bundesrates als auch der Bundesregierung gemäß Art.43 Abs.2 S.2 GG jederzeit bei Sitzungen des Bundestages gehört werden, so daß eine auf Meinungskundgabe gerichtete Beteiligung dieser Staatsorgane ebenso wie beim Erlaß von Einspruchsgesetzen auch bei schlichten Parlamentsbeschlüssen möglich ist. Trifft das Parlament durch schlichten Parlamentsbeschluß eine Regelung, so kann darin noch keine verringerte demokratische Legitimation der Entscheidung erkannt werden. c) Ergebnis Sowohl aus dem Rechtsstaatsprinzip als auch aus dem Demokratieprinzip als Grundlage des allgemeinen Gesetzesvorbehalts kann nicht abgeleitet werden, daß eine Verpflichtung zur Regelung in einem förmlichen Gesetz besteht. Vielmehr können auch im Rahmen des Erlasses eines schlichten Parlamentsbeschlusses alle demokratiespezifIschen Bestandteile des Gesetzgebungsverfahrens erfüllt sein. Ist dies wie bei der Festlegung des Parlamentssitzes durch Beschluß vom 20.06.1991 der Fall, ergibt sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes keine Verpflichtung zur Regelung in einem förmlichen Gesetz.
864 Die einzelnen Anträge wurden veröffentlicht in: BT-Drucksachen v. 19.06.1991: 12/814; 12/815; 12/816; 12/817; 12/818. 865 Vgl.: BVerfGE 70, 324 (361). 866 Daß Bundesverfassungsgericht versteht unter Organtreue, den Grundsatz: "... daß oberste Staatsorgane bei der Ausübung ihrer Kompetenzen von Verfassungs wegen aufeinander Rücksicht zu nehmen haben." BVerfGE 90, 286 (337).
D. Formalgesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes
219
IV. Formvorgabe durch den Einigungsvertrag oder die Protokollerklärung?
Teilweise wird in der Literatur die Ansicht vertreten, daß durch Art.2 Abs.l EinigungsV und Ziffer I Nr.2 des Protokolls zum Einigungsvertrag867 eine Verpflichtung zur formalgesetzlichen Regelung besteht.868 Art.2 Abs.l EinigungsV läßt sich eine die Regelungsform betreffende Aussage nicht entnehmen. S.2 dieser Vorschrift fordert lediglich eine Entscheidung, die sowohl bei einem schlichten Parlamentsbeschluß als auch bei einem Gesetz vorliegt. Auch aus dem Hinweis, daß diese Norm eine Entscheidung über den Sitz von Parlament und Regierung fordert, kann kein Ausschluß der Regelungsmöglichkeit bezüglich des Bundestagssitzes durch eine parlamentarische Entschließung gefolgert werden.869 Dies ergibt sich aus dem Umstand, daß ein schlichter Parlamentsbeschluß sehr wohl seine Umsetzung fmden kann und daher diesbezügliche Zweifel an dem Vorliegen einer Entscheidung nicht zu überzeugen vermögen. Ebensowenig überzeugt der Hinweis auf Ziffer I Nr.2 des Protokolls zum EinigungsV, denn dort ist nur von der "Beschlußfassung der gesetzgebenden Körperschaften" des Bundes die Rede. Daß die gesetzgebenden Körperschaften tätig werden sollen, ergibt noch keine Verpflichtung dies in Gesetzesform zu tun. Die Bezeichnung "gesetzgebende Körperschaften" ist vielmehr als bezüglich der Frage der Regelungsform wenig gelungene Umschreibung für die Organe Bundestag und Bundesrat zu verstehen. Daß der Auftrag zur Beschlußfassung mehreren Körperschaften übertragen wurde, bewirkt ebenfalls keine Notwendigkeit einer gesetzlichen Manifestation, da 867 M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierun~, NWVBI. 1991, 45 (47). J. Wieland, Verfassungsrechtliche Probleme der Entscheidung über die künftige deutsche Hauptstadt, Der Staat Band 29 (1991), 231 (239), folgert die Notwendigkeit formalgesetzlicher Regelung ausschließlich aus der Protokollnotiz. 868 Anders dagegen: F. Hufen, Entscheidung über Parlaments- und Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland ohne Gesetz?, NJW 1991, 1321 (1324), der lediglich feststellt, daß die Gesetzesform nicht durch die Regelung des Art.2 Abs.l EinigungsV ausgeschlossen ist. 869 Ähnlich aber: M. Koopmann, Zur Festlegung des Sitzes von Parlament und Regierung, NWVBI. 1991,45 (47), der aufgrund des Fehlens eines gesetzlich feststehenden Instrumentariums für einfache Parlamentsbeschlüsse die Notwendigkeit der Regelung in einem förmlichen Gesetz postuliert. Wie hier ebenfalls ablehnend: P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (217).
220
2. Teil: Entscheidung über Parlamentssitz und Hauptstadtfrage
ein Zusammenwirken dieser Organe auch durch übereinstimmende Beschlüsse erfolgen kann. 87o Somit ergibt sich weder aus dem Einigungsvertrag noch aus der dazugehörigen Protokollerklärung die Notwendigkeit einer formalgesetzlichen Regelung des Parlamentssitzes.871
V.Ergebnis
Aus dem Grundgesetz ergibt sich weder ein umfassender institutioneller Gesetzesvorbehalt, noch besteht eine Verpflichtung zur formalgesetzlichen Regelung unter Berücksichtigung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts. Da auch der Einigungsvertrag und die dazugehörige Protokollerklärung keinerlei diesbezügliche Vorgaben enthalten, kann der Bundestag zwar seinen Sitz durch förmliches Gesetz festlegen, ist zu dieser Formenwahl aber nicht verpflichtet. Das Vorgehen der Festlegung des Parlamentssitzes durch den Parlamentsbeschluß vom 20.06.1991872 und der nachfolgenden Regelung durch ein förmliches Gesetz873 unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
870 Zu deren fehlenden Verbindlichkeit siehe Seite 100. 871 I.E.: P. Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes, ZG 1991, 193 (216). 872 BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12/815. 873 BGBl. 1994 I, 918 ff.
Dritter Teil
Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane Ebenso wie sich Bonn als Parlamentssitz infolge der Wiedervereinigung in Frage stellen lassen mußte, wurde auch die Problematik der Festlegung des Sitzes anderer Bundesorgane durch diese staatsorganisatorische Umwälzung erneut aufgeworfen. Da ein Staat durch seine obersten Verfassungsorgane repräsentiert wird, kommt auch diesen Sitzbestimmungen politisches und symbolisches Gewicht zu, deren erhebliches Gewicht erst durch die Gesamtheit der zu treffenden Entscheidungen entsteht. Die thematische Verknüpfung ergibt sich darüber hinaus aus Stellungnahmen der Literatur, in denen eine gemeinsame Sitmahme der obersten Verfassungs organe gefordert wird.874
A. Oberste Bundesgerichte Eine die organisatorischen Grundsätze festlegende Vorschrift bezüglich der obersten Bundesgerichte findet sich verfassungsunmittelbar in Art.95 Abs.l GG. Hierdurch wird die gesetzgeberische Kompetenz des Bundes zur Errichtung oberster Gerichte für die ordentliche, Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit begründet.875 Diese Errichtungskompetenz umfaßt auch die Möglichkeit der Sitzfestlegung, so daß als oberster Gerichtshof für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit der Bundesgerichtshof in Karlsruhe,876 für die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit das Bundesverwaltungsgericht in Berlin,877 für die Finanzgerichtsbarkeit der Bundesfi874 Siehe zu diesen Stellungnahmen und ihrer fehlenden Tragfähigkeit die Erläuterungen auf Seite 191. 875 Siehe nur: N. Achterberg in: Bonner Kommentar zum GG, Art.95 Rn.104; K.H. Seifert/D. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.95 Rn.1; R. Herzog in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum Grundgesetz,
Art.95 Rn32. 876 § 123 GVG. Zur damaligen Entscheidungsfmdung siehe: R. Wassermann, Karlsruhe oder Leipzig? - Zum Sitz des Bundesgerichtshofes im vereinten Deutschland, NJW 1990, 2530 (2531); ausführlich zu den Hintergründen: H. Maassen/E. Hucko, Thomas Dehler der erste Bundesminister der Justiz, S.19 ff.
877 §2VwGO.
222
3. Teil: Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane
nanzhof in München,878 für die Arbeitsgerichtsbarkeit das Bundesarbeitsgericht in Kassel879 und ebenfalls in Kassel für die Sozialgerichtsbarkeit das Bundessozialgericht880 lokalisiert wurden. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung belebte sich die Diskussion um die Sitzverlegung oberster Bundesgerichte. Da das Reichsgericht seinen Sitz in Leipzig besaß881 und im Rahmen der Vereinigung unter föderativen Gesichtspunkten staatsleitende Funktionsträger in den neuen Bundesländern angesiedelt werden sollten, lag der Gedanke einer Umsiedlung des Bundesgerichtshofes nahe.882 Im Gespräch ist auch eine Verlegung des Bundessozial- und Bundesarbeitsgerichts nach Leipzig oder Erfurt,883 Wohl auch aufgrund der zunächst unterschätzten Vereinigungskosten wurde die Verlegung eines Bundesgerichtes bis jetzt noch nicht realisiert, Die gesetzgeberische Ermächtigung zur Sitzfestlegung des Bundesverfassungsgerichts als oberstes Bundesgericht fmdet in der die allgemeine Vorschrift des Art,74 Nr 1 GG als lex specialis verdrängenden Norm des Art,94 Abs.2 S.l GG884 eine abgesonderte Regelungsgrundlage.885 Das hierzu ergangene BundesverfassungsgerichtsG legt in § 1 Abs.2 Karlsruhe als dessen 878 Siehe hierzu: Art.l08 Abs.6 GG und § 2 der Bundesfinanzgerichtsordnung vom 06.10.1965, BGBl. I, S.1477. 879 § 40 Abs.l Arbeitsgerichtsgesetz vom 03.09.1953, BGBl. I, S.1267. 880 § 38 Abs.1 Sozialgerichtsgesetz vom 09.03.1953, BGBl. I, S.1239. 881 Hierzu: R. Wassermann, Karlsruhe oder Leipzig? - Zum Sitz des Bundesgerichtshofes im vereinten Deutschland, NJW 1990, 2530 (2531); umfangreiche historische Nachweise bezüglich der formalgesetzlichen Sitzfestlegung des Reichsgerichts fmden sich bei: W. Schubert, Die Deutsche Gerichtsverfassung (1869-1877), S.1008 ff. 882 Stellungnahmen in diesem Sinne finden sich bei: R. Wassermann, Karlsruhe oder Leipzig? - Zum Sitz des Bundesgerichtshofes im vereinten Deutschland, NJW 1990, 2530 (2532); M. Wolff, "Warum Berlip.?", MDR 1991, 590; P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (998 Fn.70); siehe auch: FAZ v. 08.04.1995, S.4, Wann Ziehen oberste Gerichtshöfe ostwärts? 883 WA. Kewenig, Berlin - Hauptstadt Deutschlands in: Festschrift für W. Wagner, S.40 (44); eingehend: FAZ v. 08.04.1995, S.4, Wann ziehen oberste Gerichtshöfe ostwärts? 884 Zum Verhältnis von Art.74 Nr.1 und Art.94 Abs.2 GG siehe: K. Stern in: Bonner Kommentar zum GG, Art.94 Rn.97. 885 E. Klein in: Bonner Kommentar zum GG, Art.22 Rn.102; H. Spanner, Das Bundesverfassungsgericht, S.15; T. Maunz in: MaunzjDürig/HerzogjScholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art.22 Rn.33 f.; U. Repkewitz, 13erlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParll990, 504 (509).
A. Oberste Bundesgerichte
223
Sitz fest. 886 Da die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts nur ergänzende Regelungen außerhalb der bereits im Grundgesetz und im BundesverfassungsgerichtsG ergangenen Festlegungen treffen kann,887 ist eine autonome Sitzfestlegung des Bundesverfassungsgerichts bei der momentanen Rechtslage ausgeschlossen. Daß aus der Deklaration Berlins als Hauptstadt in Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV keine Verlegungspflicht des Bundesverfassungsgericht nach Berlin geschlossen werden kann,888 wurde bereits dargelegt.889 Bezüglich der Ortswahl bei der Sitzfestlegung oberster Bundesgerichte ist der Gesetzgeber frei. Aus dem in Art.20 Abs.2 S.2 GG festgelegten Grundsatz der Gewaltenteilung890 ergibt sich keineswegs die Verpflichtung zur Sitznahme an einem anderen Ort, als dem der Legislativ- oder Exekutivorgane. Daß ein eigenständiges gerichtliches Wirken auch bei Anwesenheit anderer Staatsorgane möglich ist, ergibt sich aus den Erfahrungen der Bundesländer, in denen sich Verfassungsgerichte an Parlamentssitzen befinden. 891 Diese Wahlfreiheit schließt jedoch nicht die Möglichkeit der Symbolisierung einer unabhängigen Gerichtsbarkeit durch eine räumliche Trennung der Bundesgerichte von Organen anderer Staatsgewalten aus.892
886 Zur vorherigen die Vorläufigkeit betonende Regelung siehe: H. Spanner, Das Bundesverfassungsgericht, S.15. 887 T. Ritterspach, Die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts, EuGRZ 1976, 57 (58); W. Meyer in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.93 Rn.8; K. Stern in: Bonner Kommentar zum GG, Art.94 Rn.130; vgl. auch: BVerfGE 13, 54 (94); 21, 52 (53). 888 So aber: M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991, 207 (210). 889 Siehe hierzu die allgemeinen Ausführungen zur Notwendigkeit eines "Bundessitzes" auf Seite 191 f. 890 BVerfGE 30, 1 (27 f.); 68, 1 (86); 76, 100 (106); C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.220; G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, S.134. 891 Mit Nachweisen bezüglich e~elner Bundesländer: P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (992 Fn.25 und 993); siehe aber auch ebd. S.998 Fn.70, in der er die "Ausgrenzung der dritten Gewalt in eine NichtHauptstadt als eine unverzichtbare Errungenschaft der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte" ansieht. 892 In der Ortswahl Karlsruhe sieht H. Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, S.28, eine solche Symbolisi~rung. Vgl. hierzu auch: P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, 989 (993, 998 Fn.70).
224
3. Teil: Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane
B. Gemeinsamer Ausschuß Der Gemeinsame Ausschuß ist ein selbständiges Verfassungsorgan, das als eine Art "Notparlament,,893 zwar schon zu Friedenszeiten besteht, zunächst aber nur Informationsrechte besitzt. Gemäß Art.115e Abs.l GG kommen ihm erst im Verteidigungsfalle Entscheidungsbefugnisse zu. Gemäß Art.53a Abs.l S.4 GG bestimmen Bundestag und Bundesrat die genauere Organisation des Gemeinsamen Ausschusses in einer Geschäftsordnung gemeinschaftlich.894 In dieser fmden sich lediglich in § 8 GeschO GA eine die Einberufung betreffende Regelungen. Eine Sitzbestimmung enthält diese Kodifizierung aber nicht. Dies wäre auch widersinnig, da gerade für den Verteidigungsfall es einer variablen Ortsbestimmung bedarf, um sie im Einzelfall von der konkreten Bedrohung abhängig machen zu können. Eine Sitzbestimmung des Gemeinsamen Ausschusses würde seine verfassungsrechtliche Funktionszuweisung konterkarieren.
c. Bundesversammlung Die Funktion der Bundesversammlung erschöpft sich in der Wahl des Bundespräsidenten. Dieses nur zu diesem Zweck sich konstituierende Verfassungsorgan tritt nur alle fünf Jahre zusammen, so daß schon aufgrund seiner temporären Struktur ein feststehender Sitz der Bundesversammlung nicht besteht. Nähere Bestimmungen zum Ort des Zusammentritts enthält der auf die gesetzliche Ermächtigung des Art.54 Abs.7 GG gestützte § 1 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung,895 wonach der Bundestagspräsident Ort und Zeit des Zusammentritts der Bundesversammlung bestimmt. Bei der Lokalisierung der
893 J. Delbrü~k, Kritische Bemerkungen zur Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschusses, DÖV 1970, 229 ff.; B. Pieroth in: JarassjPieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art.53a Rn.1; umfassend zur Genese des Begriffs des Notparlaments: R. Herzog in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art.53 a, Rn.1 (Fn.1). 894 Zu dieser eingehend: J. Delbrück,.Kritische Bemerkungen zur Geschäftsordnung des Gemeinsamen Ausschusses, DÖV 1970, 229 ff.; R. Schick in: Schneiderj Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 58 Rn3 ff. 895 Urspxüngliche Fassung vom 25.04.1959, BGBI I, S.230, geändert durch das Gesetz zur Anderung des Bundeswahlgesetzes vom 24.06.1975, BGBI I, S.1593.
D. Bundespräsident
225
Versammlung besteht eine umfassende Wahlfreiheit.896 Die Ansicht M. Wochners,897 der aus der Festlegung Berlins als Hauptstadt in Art.2 Abs.l S.l EinigungsV die Notwendigkeit des Zusammentritts in dieser Stadt fordert, da anderenfalls der Hauptstadtbegriff sinnentleert sei, überzeugt nicht. Von einer Aufhebung der Hauptstadteigenschaft Berlins bei einem lediglich einmal in fünf Jahren erfolgenden auswärtigen Zusammentritt der Bundesversammlung kann wohl kaum ausgegangen werden. Die erste Wahl des Bundespräsidenten wurde 1949 in Bonn durchgeführt. 1954, 1959, 1964 und 1969 konstituierte sich die Bundesversammlung in Berlin, wodurch deren Hauptstadtcharakter unterstrichen werden sollte.898 In den Jahren 1974, 1979, 1984 und 1989 wurde aufgrund des am 03.09.1971 abgeschlossenen Viermächte-Abkommens von einer Versammlung in Berlin abgesehen und der Bundespräsident in Bonn gewählt.899 Die während der zwölften Wahlperiode amtierende Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth legte 1994 als Ort der Präsidentenwahl Berlin fest. Da die über das Bundesgebiet verstreuten Vertreter der Bundesländer ohnehin größerenteils zum Wahlort anreisen müssen, sprechen reine Zweckmäßigkeitserwägungen für die sich mit dem Parlamentssitz deckende Ortswahl, so daß wohl auch in Zukunft die Wahlversammlungen in Berlin abgehalten werden.
D. Bundespräsident Das Recht des Bundespräsidenten zur Selbstorganisation wird im Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt. Dies resultiert wohl aus dem Umstand, daß das Amt des Staatsoberhauptes von einer einzelnen Person ausgeübt wird und daher eine ausdrückliche Nennung der Kompetenz zur Selbstorganisation entbehrlich schien. Damit der Bundespräsident seine verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben erfüllen kann, muß ihm das
896 R. Herzog in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art.54 Rn.38. 897 M. Wochner, "Hauptstadt" als Rechtsbegriff, ZRP 1991,207 (209 f.). 898 H.J. Winkler, Der Bundespräsident-Repräsentant oder Politiker?, S.22. 899 W. Kessel in: Die Bundesversammlung, S.12. Zum Ganzen: R. Herzog in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum Grundgesetz, Art.54 Rn.38; O. Kimminich in: Bonner Kommentar zum GG, Art.54 Rn.3. 15 Kühnreich
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3. Teil: Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane
Recht zur Organisation in eigenen Angelegenheiten zugebilligt werden.900 Ihm kommen insbesondere bei geminderter Handlungsfähigkeit anderer Verfassungsorgane, eigenständige politische Entscheidungsbefugnisse zu. 901 Die Wahrnehmung eigener Kompetenzen setzt die Befugnis zur diesbezüglichen Eigenorganisation voraus, da sonst die durch das Grundgesetz erfolgte Kompetenzverleihung ausgehölt werden könnte. Soweit seine vom Grundgesetz zugewiesenen Tätigkeiten nur geringe oder keine materiellen Entscheidungszuständigkeiten enthalten, muß ihm aber auch die Kompetenz zustehen, organisatorische Einzelheiten dieser Repräsentations- und Integrationsfunktionen selbst zu bestimmen. Wäre dies nicht der Fall, würden diese Aufgaben letztlich losgelöst von der Person des Bundespräsidenten durch anderen Staatsorganen wahrgenommen. Bezüglich dieses Selbstorganisationsrechts stellt sich die Frage, ob gemäß Art.58 GG seine Sitzbestimmung der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers bedarf und sie insoweit einer Einschränkung unterliegt. Dies wäre dann der Fall, wenn es sich im Sinne dieser Norm um eine Anordnung oder Verfügung des Bundespräsidenten handelte. Unabhängig von dem Streit, ob solche Maßnahmen nur bei rechtlicher Verbindlichkeit vorliegen,902 umfaßt der Wortlaut der Anordnung oder Verfügung nur Maßnahmen mit Außenwirkung,903 so daß der keine andere Person verpflichtende eigenorganisatorische Akt der Sitzfestlegung nicht von der Pflicht zur Gegenzeichnung ergriffen wird. Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Sitzfestlegung 900 I.E.: T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.22 Rn34; U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 504 (509). lIielVon geht wohl auch der Deutsche Bundestag aus wenn er im "Hauptstadtbeschluß" vom 19.06.1991 unter Punkt 8 ausführt: "Der Deutsche Bundestag geht davon aus, daß der Bundespräsident seinen 1. Sitz in Berlin nimmt." Siehe: BT-Drucksache, v. 19.06.199112 j 815, S.2. 901 Solche Befugnisse enthalten: Art.63 Abs.4 S3; 68 Abs.l S.l; 81 Abs.l S.1 GG. 902 Eine Beschränkung auf rechtlich verbindliche Akte vertreten: W.R. Schenke, Bonner Kommentar zum GG, Art.58 RnA2 ff.; M. Nierhaus, Entscheidung, Präsidialakt und Gegenzeichnung, S.141. Ein weiteres Begriffsverständniss vertreten: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 30 11 7 b; T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.68 Rn.2; U. Hemmerich in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.58 Rn.4. 903 D'" "'denten leJerugen Au toren, d'le nur b" el pnvaten Handlungen des Bundesprasl die Gegenzeichnungspflicht entfallen lassen wollen, sind naturgemäß anderer Ansicht. Vgl. nur: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 30 11 1b; U. Hemmerich in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.58 RnA. Zu dem hier vertretenen Ergebniss kommen dagegen auch die Autoren, die vom Wortlaut nur rechtlich verbindliche Maßnahmen erfaßt sehen.
D. Bundespräsident
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des Bundespräsidenten als einem nicht kollegial verfaßten Staatsorgan, durch dauerhaften Aufenthalt an einem bestimmten Ort stattfindet, ergeben sich auch praktische Schwierigkeiten.904 So erscheint es kaum mit der Staatsrealität vereinbar, daß der Bundespräsident für einen Wechsel seines Aufenthaltsortes der "Erlaubnis" des Bundeskanzlers bedarf. Geht man darüber hinaus mit der ganz herrschenden Ansicht davon aus, daß die Gegenzeichnung im nachhinein stillschweigend erfolgen kann,905 so ergeben sich unter Berücksichtigung der Rechtsfolgen bei einer ausdrücklich verweigerten Abzeichnung weitere Bedenken. Da die Gegenzeichnungsverpflichtung gerade den Bundespräsidenten von eigener subjektiver politischer Verantwortung ausschließen soll, wird dieses Ziel durch die nachträgliche Verweigerung gerade konterkariert, denn die Entscheidung des Staatsoberhauptes erhält hierdUrch gerade besonderes eigenständiges politisches Gewicht. Der Bundespräsident kann daher selbständig und ohne Verpflichtung zur Gegenzeichnung den Ort seines Sitzes festlegen. Richard von Weizsäcker hat als bekennender Berlinbefürworter906 sehr früh eine Verlegung seines Haupttätigkeitsortes in diese Stadt betrieben. Dort residierte er im Schloß Bellevue, besaß aber, wie auch der jetzige Amtsinhaber907, noch eine zweite Residenz in der Villa Hammerschmidt in Bonn.908 Das Bundespräsidialamt befindet sich momentan in Bonn, da in Berlin noch keine entsprechenden Räumlichkeiten vorhanden sind. Die Fertigstellung des Neubaus des Bundespräsidialamtes in Berlin wird für 1998 erwartet. Der Bundespräsident Roman Herzog hat immer wieder in 904 Eingehend: W.R. Schenke, Bonner Kommentar zum GG, Art.58 Rn.45; M. Nierhaus, Entscheidung, Präsidialakt und Gegenzeichnung, S.179 ff.; R. Herzog, Entscheidnung und Gegenzeichnung in: Festschrift für G. Müller, 117 (135). Das Bestehen praktischer Schwierigkeiten räumen auch Vertreter einer exzessiven Gegenzeichnungsverpflichtung ein. Siehe hierzu: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 30 11 7 b. 905 Statt vieler: C. Degenhart, Staatsrecht I, Rn.449; R. Herzog, Entscheidnung und Gegenzeichnung in: Festschrift für G. Müller, 117 (134); U. Hemmerich in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.58 Rn.4. 906 G. Scholz, Die Bundespräsidenten, S.436. 907 M. Bissinger (Hrsg.), Roman Herzog, Wahrheit und Klarheit: Reden zur Deutschen Geschichte, S.9. 908 Von dieser Realität geht auch der Deutsche Bundestag aus, wenn er die Erwartung äußert, daß der Bundespräsident seinen 1. Sitz in Berlin nimmt; BT-Drucksache v. 19.06.1991, 12 / 815 S.2. Umfassende Hintergrundinformationen zur Villa Hammerschmidt und zum Schloß Bellevue finden sich bei: F. Spath, Das Bundespräsidialamt, S.141 ff.
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3. Teil: Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane
Interviews betont, daß er an der Entscheidung seines Vorgängers festhält und auch in Zukunft selbst die weitere Verlegung bundespräsidialer Einrichtungen mit Nachdruck betreiben wird.
E. Bundesregierung, Ministerialverwaltung und sonstige oberste Bundesbehörden Die Bestimmung des Sitzes der Bundesregierung ist unmittelbar mit der Frage der Lokalisierung der dazugehörigen Bundesministerien und einiger Bundesämter verknüpft.909 Durch die Ergebnisse des Arbeitsstabes Berlinj Bonn und die darauf bezugnehmenden Beschlüsse der Bundesregierung, in denen umfangreiche Planungen für die Umlegung bundesministerielIer Behörden ihren Niederschlag gefunden haben, wird dies besonders deutlich. 910
I. Organisatorische Kompetenzen der Regierung unterhalb eigenorganisatorischer Angelegenheiten
Als Rechtsgrundlage der Organisationsgewalt der Regierung kommt Art.86 GG in Betracht.911 Nach dessen Wortlaut wird die Einrichtung der Behörden der Bundesverwaltung grundsätzlich der Bundesregierung zugewiesen. Hieraus ergibt sich, daß in Art.86 GG eine umfassende gouvernementale Organisationsgewalt ihre Rechtsgrundlage findet,912 die jedoch 909 Bezüglich der praxisrelevanten Fragen die ein solcher 'Teilumzug" der Bundesverwaltung auslößt siehe: K. KIeff, Verlegung des Parlaments- und Regierungssitzes, Die Bundesverwaltung, Heft 10 (1991),1 ff. Zu den besonderen Schwierigkeiten bei der Sitzfestlegung oberster Behördensitze bereits zu Beginn der fünfziger Jahre siehe: G.B. Schweitzer, Aktuelle Probleme des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts, NJW 1956, 84 (88). 910 Vgl.: BT-Drucksache v. 05.12.1991, 12 / 1832 S30 ff.; Bulletin der Bundesregierung vom 13.12.1991, Nr.141 S.1149; BT-Drucksache v. 17.06.1992 12 / 2850 S32 ff.; BT-Drucksache v. 20.01.1994 12 / 6615 S.15; BT-Drucksache v. 08.02.1994, 12 / 6854 S.47. Vgl. zu Einzelheiten auch die Darstellung auf Seite 27 f. 911 Art.87, 87a-d, 101, 108 Abs.l, 130 GG entfallen aufgrund ihres speziellen Regelungsgehalts als allgemeine Rechtsgrundlage; Art.84 Abs.l, 85 Abs.l, 108 Abs3 GG regeln die Organisation von Landesbehörden und sind somit ebenfalls kein taugliches rechtliches Fundament für eine umfassende Organisationsgewalt der Bundesregierung. 912 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.136; i.E.: A. Dittmann, Die Bundesverwaltung, S.98; R. Schmidt-De Caluwe, Verwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil 2, 115 (119), Teil 3, 143; E. SchmidtAssmann Verwaltungsorganisation zwischen parlamentarischer Steuerung und exe-
E. Sonstige oberste Bundesbehörden
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gemäß Art.86 S.2 GG unter einem Gesetzesvorbehalt steht und demzufolge in ihrem Umfang einschränkbar ist.913 Etwas Gegenteiliges resultiert nicht aus der systematischen Stellung dieser Vorschrift innerhalb des achten Buches des Grundgesetzes, in dem sich die fundamentalen Vorschriften zur Bundesverwaltung finden. 914 Auch wenn ein Blick in die Verfassungen der Bundesländer zeigt, daß die Frage der Organisationsgewalt dort in Zusammenhang mit den die RechtsteIlung der Regierung betreffenden Vorschriften geregelt wird, ergibt sich keine solche Notwendigkeit für die grundgesetzliche Regelungssystematik. 915 Vielmehr spricht die historische Auslegung für das oben festgestellte Ergebnis. Wie E.-W. Böckenförde ausführlich durch Auswertung der stenographischen Berichte der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates nachweist,916 bestimmt das Grundgesetz die Bundesregierung in Art.86 GG zum allgemeinen Inhaber der Organisationsgewalt. Als Resultat ist festzuhalten, daß die Organisationsgewalt der Bundesregierung ihre Rechtsgrundlage in Art.86 GG fmdet. Darüber hinausgehende Begründungsversuche ohne unmittelbare verfassungsrechtliche Legitimation917 sind nicht notwendig. kutivischer Organisationsgewalt in: Festschrift für H.P. Ipsen, 333 (343); D. Schmalz, Staatsrecht, Rn.340; aA.: H. Götz, Der Vorbehaltsbereich der Bundesregierung, S.124 f. und A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, VVdStRL 16 (1958), 154 (165), der in Art.86 GG lediglich ein Akzidenz des voraufgegangenen Organisationsgesetzes sieht. 913 E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.137; HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.70; E. Schmidt-Assmann, Verwaltungsorganisation zwischen parlamentarischer Steuerung und exekutivischer Organisationsgewalt in: Festschrift für H.P. Ipsen,333 (343); E. Schwan, Zuständigkeitsregelungen und Vorbehalt des Gesetzes, S.5; R. Schmidt-De Caluwe, Verwaltungsorganisationsrecht, JA 1993, Teil III., 143. 914 So aber: H. Götz, Der Vorbehaltsbereich der Bundesregierung, S.124; i.E.: P. Lerche in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Kommentar zum GG, Art.86 Rn.96. 915 Vgl. aber: H. Götz, Der Vorbehaltsbereich der Bundsregierung, S.124. 916 E.-W. Böckenförde, die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.134 ff. Darauf umfangreich eingehend: HJ. Baedeker, Die Organisationsgewalt im Bund und der Vorbehalt des Gesetzes, S.59 ff. 917 Nach C. Degenhart, Staatsrecht I, folgt die Organisationsgewalt unmittelbar aus der Stellung der Regierung als Spitze der Exekutive; eine Kompetenz kraft Natur der Sache nimmt W. Weber, VVdStRL 16 (1958), Aussprache, 240 (246) an; F. Ermacora, VVdStRL 16 (1958), Aussprache, 266, führt zusätzlich noch die Begriffe des allgemeinen Verwaltun~sauftrags, der Hausgewalt der Verwaltung und die Umschreibung als inneren Mi~.lon der Verwaltung an; H. Spanner, Organisationsgewalt und Organisationsrecht, DOV 19?7, 640 (642) und ders. Anmerkung zum Urteil des OVG Münster vom 26.6.1957, DÖV 1958, 156 (158 f.) hält einen hilfsweisen Rück-
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3. Teil: Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane
Da die Organisationsgewalt als umfangreiche Herrschaftsbefugnis verstanden wird,918 ist sie von der inneren Organisationskompetenz der Bundesregierung abzugrenzen. Diese kann auf Art.64 Abs.l und Art.65 GG gestützt werden, in denen maßgeblich das Verhältnis zwischen Bundeskanzler und den Bundesministern verfassungsrechtlich festgelegt wird. Art.65 GG kommt nur intra-organrechtliche Wirkung zu,919 so daß diese Vorschrift die Geschäftsverteilung innerhalb der Bundesregierung und nicht zugleich eine Zuständigkeit mit Wirkung gegenüber anderen Verfassungsorganen bewirken kann. Soweit Art.64 Abs.l und Art.65 GG als Grundlage der Organisationsgewalt im Bereich der Regierung angesehen werden,92o überzeugt dies nicht, wenn, wie hier, unter der Organisationsgewalt eine umfassende Befugnis zur Schaffung von Funktionsträgern verstanden wird. 921 Die Festlegung der die Bundesverwaltung betreffenden einzelnen Umzugsmaßnahmen von Bonn nach Berlin konnten daher durch die Bundesregierung beschlossen werden. Da ein Großteil spezieller Regelungen durch das BerlinjBonn-Gesetz922 weiterhin der Entscheidungsgewalt der Bundesregierung überlassen wurde,923 ist mangels Eingriffs in den Kernbereich der griff auf Gewohnheitsrecht für angezeigt; E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S.87 nennt unter Bezugnahme auf die französische Verfassungsrechtslehre den Begriff der "implied powers". 918 Zur DefInition der Organisationsgewalt siehe Seite 35. 919 I.E.: BVerwGE 7, 66 (73); BVerwG in: DÖV 1985,358 (359). Ausdrücklich: K-A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S.61; R. Zuck, Verfassungsrechtliche Probleme eines Rechtspflegeministeriums, NJW 1969, 1099; H. Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S.93; H.C.F. Liesegang in: v. Münch, GG-Kommentar, Art.65 Rn.1. AA dagegen: J. Oebbecke, Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der VelWaltung, ~.24 ff.; J. Lincle, Zum Vorrang des Parlaments gegenüber den anderen Gewalten, DÖV 1979, 165 (166). Offenlassend: A. Janssen, über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts S.67. 920 H. Götz, Der Vorbehaltsbereich der Bundesregierung, S.l25; M. Oldiges, die Bundesregierung als Kollegium, S.237. K IpsenfV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß der Bundesregierung, Jura 1994, 605 (608 f.), nennen Art.65 GG nur im Zusammenhang mit der Organisationsgewalt der Bundesregierung und nicht als deren alleinige Grundlage. 921 Siehe hierzu die DefInition auf Seite 35. 922 BT-Drucksache v. 18.01.1994 12 j 6614, S.1 ff. 923 Vgl.: § 3 Abs.2 des BerlinjBonn-Gesetzes, BT-Drucksache v. 18.01.1994 12 j 6614 S.6. Die im Gesetzentwurf enthaltenen speziellen Regelungen basieren zu größten Teilen auf Vorarbeiten durch den von der Bundesregierung eingesetzen Arbeitsstab BerlinjBonn und stellen demzufolge keine wesentliche Beeinträchtigung gubernativer Regelungsvorstellungen dar.
E. Sonstige oberste Bundesbehörden
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exekutivischen Organisationsgewalt der gesetzgeberische Zugriff ohne Verletzung gewaltenteilungsspezifischer Vorgaben erfolgt. Die von der Bundesregierung im vorhinein vereinzelt geäußerten rechtlichen Bedenken gegen eine umfassende, die Einzelheiten ordnende gesetzliche Regelung, durch die die Organisationsgewalt unzulässig beeinträchtigt wäre,924 entbehren demzufolge einer sie begründenden tatsächlichen parlamentarischen Vorgehensweise. 925
11. Sitzbestimmung der Regierung
Die Sitzbestimmung der Bundesregierung wurde in Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV i.V.m. Abschnitt I Nr.2 des Protokolls zum EinigungsV den "gesetzgebenden Körperschaften" des Bundes überantwortet. 926 Aus dieser Verwendung des Plurals ergibt sich, daß es zur Sitzfestlegung der Regierung einer Entscheidung des Bundestages und des Bundesrates bedarf. Es besteht aber keine Verpflichtung dies in Gesetzesform zu tun. Die Bezeichnung "gesetzgebende Körperschaften" ist vielmehr als bezüglich der Frage der Regelungsform wenig gelungene Umschreibung für die Organe Bundestag und Bundesrat zu verstehen. 927 Übereinstimmende Beschlüsse des Bundesrates und des Bundestages hätten auch "Entscheidungen der gesetzgebenden Körperschaften" im Sinne von Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV i.V.m. Abschnitt I Nr.2 des Protokolls zum EinigungsV dargestellt. Da die dargelegten Ausführungen zur Frage der Notwendigkeit formalgesetzgeberischer Tätigkeit bei der Festlegung des Parlamentssitzes928 parallele Anwendung auf die Festlegung des Regierungssitzes finden, wäre weder unter demokratischen noch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eine Regelung durch sich deckende Beschlüsse des Bundestages und des Bundesrates verfassungsrechtlich unstatthaft gewe924 BT-Drucksache v. 17.06.1992 12 / 2850, S.44 (D I.). 925 Von dieser Einschätzung geht wohl auch die Bundesregierung aus, in dem sie jeden Widerspruch gegen den Gesetzesentwurf eines Berlin/Bonn Gesetzes unterläßt. 926 Zur Bindungswirkung des Protokolls zum EinigungsV siehe Seite 170 f. 927 Zu dieser Qualifizierung vgl. die ähnliche Analyse zur Frage der Formvorgabe durch den Einigungsvertrages und die Protokollerklärung bei der Festlegung des Parlamentssitzes auf Seite 207. 928 Siehe hierzu die Ausführungen auf Seite 195 ff.
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3. Teil: Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane
sen. Bedenken an der Mitwirkung des Bundesrates bei der Festlegung des Regierungssitzes929 vermögen nicht zu überzeugen, soweit wie hier die Organisationsgewalt aus Art.86 GG hergeleitet wird und somit unter einem gesetzgeberischen Zugriffsrecht steht. Eine gemeinsame Entscheidung von Bundestag und Bundesrat erfolgte durch das Berlin/Bonn-Gesetz.930 Die Festlegung Berlins als Regierungssitz durch den schlichten Parlamentsbeschluß vom 20.06.1991 genügte aufgrund fehlender Mitentscheidung des Bundesrates nicht den durch den Einigungsvertrag entstandenen staatsvertraglichen Verpflichtungen. Dieser Ansicht war wohl auch der Bundeskanzler Helmut Kohl, der trotz Bedenken an dem Bestehen einer erneuten parlamentarische Mehrheit zur Festlegung des Regierungssitzes, an der Notwendigkeit einer formalgesetzlichen Regelung festhielt. 931 An der Zulässigkeit der staatsvertraglichen Verpflichtung zur gesetzlichen Festlegung des Regierungssitzes bestehen im Rahmen der Wiedervereinigung keine rechtlichen Bedenken.932 Der Kernbereich der exekutivischen Eigenverantwortlichkeit der Bundesregierung ist durch eine solche Bestimmung nicht betroffen. Implizit hat dies das Bundesverfassungsgericht in einer in diesem Zusammenhang von der einschlägigen Literatur übersehenen frühen Entscheidung festgestellt. Im Rahmen eines Gutachtens zur Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für das Baurecht nennen die Karlsruher Richter ausdrücklich die Festlegung des Regierungssitzes als eine typische bundesgesetzgeberische Maßnahme, die auf eine Kompetenz der Natur der Sache933 gestützt werden kann. 934
929 Verfassungsrechtliche Bedenken äußern dagegen: K. IpsenjV. Epping, Der BerlinjBonn-Beschluß, Jura 1994, 605 (610). 930 BGBI. 1994 I, 918 ff. 931 Siehe hierzu: G. Hofmann, Der Himmel über Berlin, "Die Zeit" vom 19.07.1991, (Nr.30) S.8. 932 Auch die Bundesregierung räumt ausdrücklich eine gesetzgeberische Regelungsmöglichkeit zur Festlegung des Sitzes der Bundesregierung als Verfassungsorgan ein: Irr-Drucksache v. 17.06.199212 j 2850, S.44 (D I.). 933 Eingehend zu dieser Rechtsfigur: K. Harms, Kompetenzen des Bundes aus der "Natur der Sache"?, Der Staat 1994, 409 ff. 934 BVerfGE 3, 407 (422).
F. Bundesrat
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F. Bundesrat Ebenso wie dem Bundestag kommt auch dem Bundesrat ein Selbstorganisationsrecht zu. 935 Seine verfassungsrechtliche Grundlage wird teilweise in der die Geschäftsordnungsautonomie garantierenden Vorschrift des Art.52 Abs.3 S.2 GG erblickt.936 Da jedoch der Öffentlichkeitsausschluß gemäß Art.52 Abs.3 S.4 GG der Entscheidung des Bundesrats überlassen bleibt,937 und auch Art.52 Abs.l und Abs.2 S.l GG eigenorganisatorische Kompetenzen enthalten, ist die Grundlage des umfassenden Selbstorganisationsrechts des Bundesrates in all diesen Normbestandteilen des Art.52 GG zu erblicken.938 Der Bundesrat hat ebenfalls, wie der Bundestag, die alleinverantwortliche Kompetenz zu der organisatorischen Maßnahme der Sitzfestlegung.
In Art.2 Abs.l S.2 des EinigungsV wird vereinbart, daß über die Frage
des Sitzes von Parlament und Regierung nach der Herstellung der Einheit Deutschland entschieden wird. Daß unter den Parlamentsbegriff des Einigungsvertrages auch der Bundesrat zu fassen ist, wurde dargelegt.939 Demzufolge besteht eine staatsvertragliche Verpflichtung zur Festlegung des Bundesratssitzes durch Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV.
Die Festlegung kann nicht beliebig zeitlich aufgeschoben werden, da sonst die getroffene Vereinbarung leer liefe. Indem der Bundesrat lediglich vorläufig seinen Sitz in Bonn beläßt und sich vorbehält, seine Entscheidung
935 K. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art.52 Rn.26; T. Maunz in: Maunzj DürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.52 Rn.1; D. Blumenwitz in: Bonner Kommentar zum GG, Art.52 Rn.1; A. Pfitzer, Die Organisation des Bundesrates in: D.H. Scheuning: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 173 (175). 936 U. Repkewitz, Berlin: Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland und eines vereinigten Deutschlands? Rechtliche Aspekte der Hauptstadtfrage, ZParl 1990, 504 (509). 937 T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.52 Rn.25. 938 K. Reuter, Praxishandbuch Bundesrat, Art.52 Rn.26 erkennt ebenfalls in der Geschäftsordnungsautonomie nur einen Bestandteil des Selbstorganisationsrechts. Vgl. auch: T. Maunz in: MaunzjDürigjHerzogjScholz, Kommentar zum GG, Art.52 Rn.2; D. Blumenwitz in: Bonner Kommentar zum GG, Art.52 Rn.1. 939 Siehe die Ausführungen auf Seite 199 ff.
234
3. Teil: Zuständigkeit zur Sitzfestlegung anderer Bundesorgane
in einigen Jahren zu überdenken,940 erfolgt noch keine endgültige Sitzfestlegung. Da durch Art.2 Abs.l S.2 EinigungsV die Verpflichtung zur Ortsbestimmung lediglich auf einen Zeitpunkt nach der Herstellung der Einheit Deutschlands vereinbart wurde, scheint zunächst dieses Vorgehen Vertragskonformität besitzen zu können, soweit eine Festlegung in nächster Zeit erfolgt. Zieht man aber den Abschnitt I Nr.2 des Protokolls zum EinigungsV zur Vertragsauslegung heran, so sind dort die Zeitpunkte der Wahl des ersten gesamtdeutschen Bundestages und der Herstellung der vollen Mitwirkungsrechte der neuen Bundesländer genannt. Dies sind Termine, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe mit der Schließung des Einigungsvertrages liegen. Die Notwendigkeit einer rasch getroffenen Entscheidung ergibt sich darüber hinaus aus dem Bedarf nach feststehender Planungsklarheit für Berlin und Bonn. Nach der Wahl des zweiten gesamtdeutschen Bundestages kann die vertraglich vereinbarte Frist zur Sitzbestimmung durch den Bundesrat jedenfalls nicht mehr als eingehalten angesehen werden.
940 Zu der diesbezüglichen Beschlußfassung des Bundesrates vgl. die Darstellung auf Seite 8 f.
Zusammenfassende Thesen
1. Der Begriff der Organisationsgewalt sollte auf den Bereich der Exekutive beschränkt bleiben. Eine über das hergebrachte Begriffsverständnis hinausgehendes weiteres Wortverständnis führt zur Aufgabe der sinnvollen terminologischen Abgrenzungsmöglichkeit zu dem den anderen Staatsorganen zukommenden Selbstorganisationsrecht.
2. In Art.40 Abs.l S.2 GG kann nur die Geschäftsordnungsautonomie als Kern des dem Bundestag zukommenden Selbstorganisationsrechts ihre Grundlage finden. Die umfangreiche Kompetenz des Bundestages zur Regelung eigener Angelegenheiten findet ihre Basis in Art.40 GG mit all seinen Einzelregelungen. 3. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist der primäre Ort der Eigenorganisation. Sie besitzt eine Vielzahl spezieller Eigenschaften, die sich mit den Kennzeichen anderer anerkannter Rechtsquellen nicht decken. Der Versuch, sie einer bestimmten Rechtsquellen zuzuordnen, ist unfruchtbar. Die Geschäftsordnung des Bundestages sollte als eigener Rechtstyp anerkannt werden. Zur inhaltlichen Bestimmung ist von den spezifischen Eigenschaften der Geschäftsordnung des Bundestages auszugehen, aus denen sich ihre spezielle Natur ergibt. 4. Schlichte Parlamentsbeschlüsse können nach ihrer Rechtsgrundlage unterteilt werden. Soweit sie nicht auf Vorschriften der Verfassung, förmlicher Gesetze oder der Geschäftsordnung des Parlaments gestützt werden können, ergibt sich ihre Zulässigkeit aus dem von der Verfassung geforderten offenen und gegliederten Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß. Bezüglich der Frage der Verbindlichkeit ist die Unterteilung in einzelne Rechtsgrundlagen fruchtbar zu machen. Schlichte Parlamentsbeschlüsse besitzen Verbindlichkeit, wenn sich eine solche aus den Vorschriften des Grundgesetzes, förmlicher Gesetze oder der Geschäftsordnung ergibt. Die
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Zusammenfassende Thesen
Geschäftsordnung kann aber nur insoweit Verbindlichkeit transformieren, als sie sie selbst besitzt. Als Grenze sind hierbei besonders ihre Geltungsdauer und ihr personeller Bindungsumfang zu berücksichtigen. Parlamentarische Entschließungen sind unverbindlich, können aber wesentliche Bindungs- und Signalwirkungen erzeugen. Durch parlamentarische Entschließungen entsteht keine Selbstbindung des Parlaments. 5. Angelegenheiten der parlamentarischen Eigenorganisation können durch förmliches Gesetz geregelt werden. Dem Bundestag kommt ein grundsätzliches Wahlrecht zu. Zur Regelung innerhalb eines förmlichen Gesetzes müssen aber bestimmte Kriterien erfüllt sein: Das Gesetz darf nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Auch werden von dem Verbot die Zustimmungsbedürftigkeit erzeugende Änderungsgesetze erfaßt. Der Kern der Geschäftsordnungsautonomie darf nicht betroffen sein. Es müssen gewichtige Gründe für die Wahl der Gesetzesform vorliegen. Bei der Konkretisierung dieses Kriteriums hat eine Abwägung zwischen den Beeinträchtigungen durch die formalgesetzliche Regelung und deren Gründen zu erfolgen. 6. Die ungeschriebenen Regelungen der parlamentarischen Selbstorganisation können bezüglich ihrer Verbindlichkeit in zwei Hauptgruppen unterteilt werden. Einerseits das Gewohnheitsrecht, daß auf verschiedenen Ebenen der Normenpyramide wirkt und andererseits informale Parlamentsregeln, denen lediglich ein politischer Verbindlichkeitsanspruch zukommt. 7. Die Begrenzung des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts erfolgt im wesentlichen unmittelbar durch Verfassungsvorschriften. Das Demokratieprinzip, das Bundesstaatsprinzip als auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bewirken dagegen keine selbständige Eingrenzung. Lediglich die Gewaltenteilungsmaxime erzeugt die Verpflichtung zur Achtung des Kernbereichs der anderen Verfassungsorgane. 8. Mangels anderweitiger verfassungsrechtlicher Bestimmungen ist die Sitzfestlegung des Bundestages auf sein Selbstorganisationsrecht aus Art.40 GG zu stützen.
Zu~enf~endeTh~n
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9. Begrenzungen der parlamentarischen Freiheit ergeben sich aus dem Vertrag zur Deutschen Einheit und der dazugehörigen Protokollerklärllng. Der Einigungsvertrag teilt als völkerrechtlicher Vertrag das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik und ist mit ihr untergegangen. Als staatsrechtlicher Vertrag und als formelles Gesetz besteht er aber weiter. Die Protokollerklärung zum Einigungsvertrag ist weder unmittelbarer Vertragsbestandteil des Einigungsvertrages, noch wurde sie durch die Verhandlungsführer als eigenständiger Vertrag abgeschlossen. Sie wurde aber als förmliches Gesetz erlassen und besitzt den gegenüber der staatsvertragliehen Bindungswirkung des Einigungsvertrages geringeren Bestandsschutz eines durch den einfachen Gesetzgeber abänderbaren Gesetzes. 10. Änderungen des Einigungsvertrages durch einen Vertragsteil sind nur bei grundlegenden, tiefgreifenden und unvorhersehbaren Veränderungen möglich. Auf konsensualem Wege bedarf der Bundesgesetzgeber zum Abweichen von vertraglichen Regelungen der gemeinsamen Zustimmung aller neuen Bundesländer. 11. Eine inhaltliche Bestimmung des Hauptstadtbegriffs hat durch Auslegung des Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV zu erfolgen. Es existiert weder ein feststehender allgemeinjuristischer Hauptstadtbegriff, noch einer der deutschen Verfassungstradition. 12. Weder der Wortlaut des Art.2 Abs.1 S.l EinigungsV, noch seine systematischen Stellung, als auch teleologische Erwägungen können die Notwendigkeit der Sitznahme bestimmter Verfassungsorgane als konstitutives Element des Hauptstadtbegriffs begründen. Aus dem Begriffsteil "Haupt" ergibt sich ein gewisser Führungsanspruch einer Hauptstadt, von dessen Vorliegen aber nicht ausgegangen werden kann, wenn sich keine staatsleitenden Organe dort befinden. 13. Eine Verpflichtung zur einheitlichen Sitznahme oberster Verfassungsorgane besteht nicht. 14. Eine formalgesetzliche Festlegung des Parlamentssitzes ist zulässig. Eine Verpflichtung zur Regelung in einem förmlichen Gesetz besteht nicht. Insbesondere greift weder ein institutioneller Gesetzesvorbehalt noch kann aus der ''Wesentlichkeitstheorie'' des Bundesverfassungsgerichts eine solche
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Zusammenfassende Thesen
Verpflichtung abgeleitet werden. Auch dem Einigungsvertrag und den dazugehörigen Vorschriften der Protokollerldärung kann eine Verpflichtung zum Gesetzeserlaß nicht entnommen werden. 15. Der staatsvertraglichen Verpflichtung zur Festlegung des Sitzes des Bundesrates ist dieser durch die lediglich vorläufige Bestimmung nicht nachgekommen.
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Sachregister Ablauforganisation 55 Ältestenrat 53 Antrag zur Vollendung der Einheit Deutschlands 24 Aufbauorganisation 52 BerlinjBonn-Gesetz 25 Bonn-Antrag 24 Bundesbehörden 228 Bundesgerichte 221 Bundespräsident Kompetenz zur Symbolsetzung 174 Organisation in eigenen Angelegenheiten 226 Sitz 226 Bundespräsidialamt 227 Bundesrat Parlament im Sinne des EinigungsV 199 Sitz 26; 233 Bundesregierung Sitz 27; 231 Bundessiegel 174 Bundesstaatsprinzip 160 Bundestagspräsident 52 Bundesversammlung 224 Coburg Entscheidung 186 DDR Verfassung 208 Demokratieprinzip 158; 216 Drittwirkung des Parlamentsrechts 140
Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse 204 Einigungsvertrag Art.2Abs.l S.2 187 Auswirkungen auf Sitz des Bundestages 177 Bestandskraft 185 Protokollerklärung 184 rechtliche Qualifizierung 178 Entschließungen 100 Rechtsgrundlage 101 Zulässigkeit 103 Flagge 174 Förmliche Gesetze Existenz von eigenorganisatorischen 119 Gesetzgebungskompetenz 118 grundlegende normative Bereiche 215 Notwendigkeit für Parlamentssitz 208 Regelungsform von Parlamentsinterna 118 Wahlrecht 131 Wesentlichkeit der Entscheidung 213 Zulässigkeit zur Eigenorganisation 210 Gemeinsamer Ausschuß 224 Gemeinsamer Sitz oberster Verfassungsorgane 204
Sachregister Geschäftsleitungsgewalt 30 Geschäftsordnung Abweichung 72 Auslegung 86 Auswirkungen auf Verfassungsstreitigkeiten 89 Autonomie 58 Bindungsumfang 74 Brauch 153 Diskontinuität 69; 99 Erlaß 66 Flexibilität 146 Gewohnheitsrecht 146 Kern der Autonomie 136; 210 Rechtsnatur 61 Rezeption 154 Übernahme 69 Verhältnis zum Grundgesetz 79 Verhältnis zu förmlichen Gesetzen 80 Gesetzesvorbehalt 216 Gewaltenteilungsprinzip 162; 217 Gewohnheitsrecht 144 Hauptstadt Art.2 Abs.l S.l EinigungsV 189 Begriff 189 Entschließungen 102 Notwendigkeit 195 Hausrecht der Exekutive 39 Herkommen 154 Informale Parlamentsregeln 152 Institutioneller Gesetzesvorbehalt 211 Interfraktionelle Verreinbarungen 156 Kern der Geschäftsordnungsautonomie 136 Konsensantrag 23
265
Konventionalregel 154 Konzeptkommission 25 Landeshauptstädte 19 Legitimationskette 95 Ministerialverwaltung 228 Nationalhymne 174 Natur der Sache 118; 169 Organisation 32 Organisationsgewalt 32 ff. Beschränkung 41 des Kaisers 39 Entstehung 36 Inhaber 40 Übernahme des historischen Begriffes 45 ursprünglicher Umfang 36 Verfassungstradition 45 zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung 39 Parlamentarische Programmbeschlüsse 100 Parlamentarischer Rat 197 Parlamentarische Übung 153 parlamentarischer Brauch 153 Parlamentsvorbehalt 216 Paulskirche 196 Personalgewalt 30 Präzedenzfälle 156 Rechtsstaatsprinzip 160; 216 Reichskanzleramt 197 Reichstag 197 Resolutionen 100 Schlichter Parlamentsbeschluß Begriff 91 Rechtsgrundlage 96 Verbindlichkeit 108 Zulässigkeit 94 Selbstorganisationsrecht 43; 50
266
Grenzen 157 Rechtsgrundlage 95 Regelungsformen 60 Sitz 168 ff. Sitz des Bundestages 169 Funktionsfähigkeit 203 Selbstorganisationsrecht 173 Symbol 174 verfassungsrechtliche Vorgaben 171
Sachregister Wahlfreiheit 203 Verbandskompetenz 169 Verfahren gegen den Hauptstadtbeschluß 28 Verfassungsgewohnheitsrecht 145 Verhältnismäßigkeit 165 Weimar 197 Zustimmungsgesetz 135; 210 Z~chenberichte 25