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German Pages 298 Year 2023
Schriften zum Prozessrecht Band 291
Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Von Matthias Schaum
Duncker & Humblot · Berlin
MATTHIAS SCHAUM
Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand
Schriften zum Prozessrecht Band 291
Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Von
Matthias Schaum
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2021 als Dissertation angenommen.
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© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany
ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-18805-5 (Print) ISBN 978-3-428-58805-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten in der vorliegenden leicht überarbeiteten und aktualisierten Fassung bis Ende Juni 2022 berücksichtigt werden. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Walter Perron für seine engagierte Betreuung, die wertvollen Hinweise und Anregungen sowie den stets wohlwollenden Zuspruch. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens bin ich Herrn Professor Dr. Gerson Trüg zu Dank verpflichtet. Danken möchte ich ferner Herrn Professor Dr. Dr. h. c. mult. Michael Pawlik für die Möglichkeit, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl tätig sein zu dürfen. Die Zeit am Lehrstuhl wird mir stets in bester Erinnerung bleiben. Herrn Professor em. Dr. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frisch danke ich für seine hilfreichen Ratschläge sowie das ein oder andere ermutigende Wort. Des Weiteren möchte ich mich bei all meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sowie den ausländischen Gästen bedanken, die mich während meiner Zeit am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht begleitet haben. Besonders hervorgehoben seien Dr. Egzona Hyseni, Jana Hanke, Harald Rothfuß, Dr. Ivo Coca-Villa, Dr. Jan-Felix Kumkar, Stefan Uhl, Larissa Zacke, Ellen Hönig, Anna Trilken, Friederike Weigl, Magdalena Fauth, Professor Dr. Omar Palermo und Dr. Yuzhou Huang, die durch ihre freundschaftliche Unterstützung, Bereitschaft zur Diskussion und gelegentliche Zerstreuung wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Pia Wolf danke ich für ihre stete Hilfsbereitschaft, die ein oder andere Kaffeepause im Café Moltke sowie die gemeinsamen Rennradtouren. Dr. Julian Sigmund danke ich für seine Freundschaft seit dem ersten Semester unseres gemeinsamen Jurastudiums sowie seine Unterstützung und Motivation während der gesamten Promotionszeit. Größter Dank gilt meiner Familie. Zunächst meinen Großeltern Margarete Schaum und Christine Stey für ihre Unterstützung in allen Lebenslagen. Des Weiteren meinen Geschwistern Dr. Monika Schaum und Maximilian Schaum dafür, dass sie stets an meiner Seite sind und ich mich immer auf sie verlassen kann. Meinem Bruder sowie Nico Schmid bin ich zudem für die kritische Durch-
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Vorwort
sicht und das Korrekturlesen der Arbeit zutiefst dankbar. Von Herzen danken möchte ich schließlich meinen Eltern Martina und Michael Schaum. Sie haben mir alles ermöglicht und mir jede erdenkliche Unterstützung zuteilwerden lassen. Ihnen ist diese Arbeit in Dankbarkeit gewidmet. Freiburg, im Juli 2022
Matthias Schaum
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erstes Kapitel Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
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A. Die Bedeutung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand und dessen Stellung im Gesamtrecht auf ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
B. Der Anwendungsbereich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand . . I. Der persönliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der sachliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einordnung der Vorschrift im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Natur des Vergehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Art und Schwere der angedrohten Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der zeitliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 29 29 30 30 31 32
C. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Mittellosigkeit des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Interesse der Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Schwere des Tatvorwurfs und die Höhe der drohenden Strafe . . . . 2. Die Komplexität des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die persönliche Situation des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 34 37 38 39 41
D. Die Unentgeltlichkeit des Verteidigerbeistands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
E. Die Möglichkeit auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu verzichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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F. Der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand im Ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Beschränkbarkeit des Zugangs zu unentgeltlichem Verteidigerbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Die Auswahl und Bestellung des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
H. Die Dauer der Verteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
47 49
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Inhaltsverzeichnis
I. Die Auswechslung des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 J. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 K. Die Vergütung des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 L. Gesamtergebnis des ersten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Zweites Kapitel Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union A. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta I. Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta . . . . . . . . . . a) Das Recht der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Durchführung des Rechts der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta im nationalen Strafverfahren II. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC . . . . . . . . . . . 1. Der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der persönliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der sachliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der zeitliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . a) Die Mittellosigkeit des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erforderlichkeit der Prozesskostenhilfe für die Gewährleistung eines wirksamen Zugangs zu den Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Verhältnis des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC zum Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der ProzesskostenhilfeRichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . 1. Der persönliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der sachliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der zeitliche Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der situative Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Rechtsbeistand-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 65 65 66 66 66 71 74 76 76 76 76 77 77 77 78 79
82 82 85 85 86 87 89 89
Inhaltsverzeichnis aa) Der Anwendungsbereich der Rechtsbeistand-Richtlinie . . . . . . . bb) Die Voraussetzungen für einen Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß Art. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie . . . . . . . . . . . b) Das Vorliegen einer Situation des Art. 2 Abs. 1 lit. a–c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Entzug der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand ist nach dem Unionsrecht oder dem nationalen Recht zwingend erforderlich cc) Bei Ermittlungs- und Beweiserhebungshandlungen ist die Anwesenheit des Verdächtigen oder der Beschuldigten Person vorgeschrieben oder zulässig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe-Richtlinie . . 1. Die Mittellosigkeit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person . . 2. Das Interesse der Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Auswahl und Bestellung des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Qualität des Systems der Prozesskostenhilfe und der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Qualität des Systems der Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Die Auswechslung des Verteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . . . . IX. Die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Schutzbedürftigen Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf Prozesskostenhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI. Die Vergütung des im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Verteidigers
11 89 90 94 95 96
97 97 98 99 100 101 102 104 105 106 107 108 109 110 111
C. Gesamtergebnis des zweiten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Drittes Kapitel Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in Deutschland
117
A. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. Die Herleitung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG . . . . . . . . 118 II. Die Herleitung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
12
Inhaltsverzeichnis III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
B. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Institut der notwendigen Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die grundsätzliche Vereinbarkeit des Modells der notwendigen Verteidigung mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie . . . . 2. Die Fälle notwendiger Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Katalog des § 140 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) § 140 Abs. 1 Nr. 6 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . hh) § 140 Abs. 1 Nr. 8 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii) § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . jj) § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . kk) § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Schwere der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Unfähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen . . c) Die sonstigen Fälle notwendiger Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § 138c Abs. 3 S. 4 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 231a Abs. 4 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) § 364a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) § 364b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) § 408b StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) § 418 Abs. 4 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 141 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) § 141 Abs. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123 123
125 126 127 127 129 129 130 131 132 133 133 134 134 136 136 137 138 140 142 143 143 144 145 147 148 150 151 151 152 154 155 156 157 159
Inhaltsverzeichnis
II.
c) § 141a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung bei einem Antrag des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung bei einer amtswegigen Bestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zuständigkeit für die Pflichtverteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . aa) Die Bestellung durch ein Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bestellung durch die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Auswahl des Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Auswahl des Pflichtverteidigers durch den Beschuldigten . bb) Die Auswahl des Pflichtverteidigers durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Dauer und Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung . . . . . . . . . . a) Die Dauer der Pflichtverteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Auswechslung des Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen Wahlverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) § 143a Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . 8. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf einen Pflichtverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die finanziellen Aspekte der Pflichtverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kostentragung im Rahmen der Pflichtverteidigung . . . . . . . . . . . b) Die Vergütung des Pflichtverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anspruch auf Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz . . . . . . . 1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Beratungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Umfang des Anspruchs auf Beratungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die finanziellen Aspekte der Beratungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 160 163 163 163 164 164 165 165 166 167 167 170 175 176 176 176 179 179 179 180 181 184 185 187 188 189 190 194 194 196 198 199 201 202
14
Inhaltsverzeichnis 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
C. Gesamtergebnis des dritten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Viertes Kapitel Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in Österreich A. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Institut der Verfahrenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verfahrenshilfe . . . . . . . . . . . a) Die Mittellosigkeit des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Interesse der Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) § 61 Abs. 1 Nr. 1 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) § 61 Abs. 1 Nr. 2 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) § 61 Abs. 1 Nr. 3 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) § 61 Abs. 1 Nr. 4 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) § 61 Abs. 1 Nr. 5 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) § 61 Abs. 1 Nr. 5a öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) § 61 Abs. 1 Nr. 6 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (8) § 61 Abs. 1 Nr. 7 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 öStPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das grundsätzliche Antragserfordernis und die ausnahmsweise Beigebung von Amts wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Zeitpunkt der Beigebung und Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Beigebung und Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers . . . . . . . a) Das Beigebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Bestellungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers durch den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Dauer und Aufhebung der Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
206 206 207 207 208 209 209 210 210 211 211 211 211 212 212 213 213 214 214 215 215 216 216 217 218 223 225 225 226
Inhaltsverzeichnis
II.
a) Die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers durch einen vom Beschuldigten selbst gewählten Verteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers durch einen anderen Verfahrenshilfeverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . 7. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf Verfahrenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die finanziellen Aspekte der Verfahrenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kostentragung im Rahmen der Verfahrenshilfe . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Institut des Verteidigers in Bereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausgestaltung des Instituts des Verteidigers in Bereitschaft . . . . . . 2. Die finanziellen Aspekte des Instituts des Verteidigers in Bereitschaft 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
227 227 228 229 231 231 232 233 234 237 240
B. Gesamtergebnis des vierten Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Fünftes Kapitel Die verschiedenen Lösungsansätze für eine Reform der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand 245 A. Die Möglichkeit einer punktuellen Reform der Vorschriften der notwendigen Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 B. Die Einführung einer Pflichtrechtsschutzversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 C. Die generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch die Staatskasse . . . . . 249 D. Die Einführung eines Prozesskostenhilfesystems nach dem Vorbild der Zivilprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 E. Die Einführung einer begrenzten, subsidiären Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 F. Die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 G. Die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe in Kombination mit einem Prozesskostenhilfesystem nach dem Vorbild der Zivilprozessordnung . . . . . . . . . 261 H. Eigener Reformvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. Abs. AEUV a. F. AG AK ALB Alt. AnwBl AnwK AO ARM Art. Aufl. AUT AZE BayObLG BeckOK BeckRS BEL BerHG BGBl BGH BGHSt BlgNR BORA BRAO BT-Drucks. BtMG BUL BVerfG BVerfGE CD CRO
anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Amtsgericht Alternativkommentar Albanien Alternative Anwaltsblatt Anwaltkommentar Abgabenordnung Armenien Artikel Auflage Österreich Aserbaidschan Bayerisches Oberstes Landesgericht Beck’scher-Online-Kommentar Beck’sche Rechtsprechungssammlung Belgien Beratungshilfegesetz Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Beilagen zu den stenografischen Protokollen des Nationalrates Berufsordnung für Rechtsanwälte Bundesrechtsanwaltsordnung Bundestagsdrucksache Betäubungsmittelgesetz Bulgarien Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Collections of Decisions, Sammlung der Entscheidungen der EKMR bis 1975 Kroatien
Abkürzungsverzeichnis CYP CZE DRiZ EGMR EKMR EL EMRK EnzEuR ERA Forum ErlRV ESP EST EU EuGH EuGRZ EuR EUV e. V. EvBl FAO FG FIN FK Fn. FRA FS GA GBR GeO GER GG GKG GOG GP GRC GRE GS GVG GZ HK HRRS Hrsg.
Zypern Tschechien Deutsche Richterzeitung Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Kommission für Menschenrechte Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention Enzyklopädie Europarecht Zeitschrift der Europäischen Rechtsakademie Erläuterungen zur Regierungsvorlage Spanien Estland Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union eingetragener Verein Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen (in der ÖJZ) Fachanwaltsordnung Festgabe Finnland Frankfurter Kommentar Fußnote Frankreich Festschrift Generalanwalt/in Goltdammers’ Archiv für Strafrecht Großbritannien Geschäftsordnung Deutschland Grundgesetz Gerichtskostengesetz Gerichtsorganisationsgesetz Gesetzgebungsperiode Grundrechtecharta Griechenland Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz Geschäftszahl Heidelberger Kommentar HöchstRichterliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber
17
18 hrsg. Hs. IK insb. IPBPR IRL IStGH-Statut ITA JA JAP JBeitrG JöR JR JRP JSt JuS JZ Kap. KG KK KOM KriPoZ KritV LAT LG lit. LK LR m. abl. Anm. m. Anm. MDA MDR MK m. zust. Anm. NED n. F. NJOZ NJW Nr. NStZ NStZ-RR
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Abkürzungsverzeichnis NVwZ NZV NZWiSt öAnwBl öBGBl OGH ÖJZ OLG öStGB öStPO POL POR RAO RGSt RL Rn. ROU Rpfleger RUS RVG S. SchwarzArbG SGB XII SK StGB StPO StraFo StRR StV SUI SVK SWE TUR u. u. a. UKR v. Var. VerfO-EuG VerfO-EuGH VersR
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20 vgl. VRS VV RVG VwGH WiJ wistra WK YB ZAP ZIS ZJS ZPO ZRP ZSR ZStR ZStW
Abkürzungsverzeichnis vergleiche Verkehrsrechts-Sammlung Vergütungsverzeichnis RVG Verwaltungsgerichtshof Journal der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung e. V. Zeitschrift für Wirtschaft- und Steuerstrafrecht Wiener Kommentar Yearbook oft he European Convention on Human Rights Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für das Juristische Studium Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung Das Recht auf Verteidigerbeistand ist eines der wichtigsten Rechte des Beschuldigten1 im Strafverfahren.2 Der Beschuldigte hat in aller Regel nicht die erforderlichen straf- und strafprozessrechtlichen Kenntnisse, um sich selbst effektiv verteidigen zu können.3 Darüber hinaus fehlt ihm aufgrund seiner eigenen Betroffenheit die notwendige Distanz zum Tatvorwurf.4 Die Beiziehung eines Verteidigers ermöglicht es dem Beschuldigten, diese Defizite auszugleichen und so eine verfahrensrechtliche Waffengleichheit zu den Strafverfolgungsbehörden herzustellen.5 Des Weiteren trägt der Beistand eines Verteidigers zu der Subjektstellung des Beschuldigten,6 der Wahrung der Unschuldsvermutung7 und einem prozessordnungsgemäßen Verfahrensablauf 8 bei. 1 Das deutsche Strafprozessrecht differenziert gemäß § 157 StPO je nach Stadium des Strafverfahrens zwischen den Begriffen Beschuldigter, Angeschuldigter und Angeklagter. Auch das österreichische Strafprozessrecht nimmt gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 1–3 öStPO mit den Begriffen Verdächtiger, Beschuldigter und Angeklagter eine am Verfahrensstadium orientierte Unterscheidung vor. Die Europäische Menschenrechtskonvention verwendet dagegen in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK den Begriff der angeklagten Person und die Grundrechtecharta spricht in Art. 48 Abs. 2 GRC vom Angeklagten und in Art. 47 Abs. 3 GRC schlicht von Person. In der vorliegenden Arbeit wird einheitlich der Begriff des Beschuldigten gebraucht, es sei denn die vom jeweiligen Gesetz verwendete Bezeichnung ist aus Gründen der Klarstellung geboten. 2 BGHSt 38, 372 (374); BGHSt 42, 15 (21). 3 Barton, Einführung in die Strafverteidigung, § 1 Rn. 23; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grundlage der Legal Aid-Richtlinie, S. 9; Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 9; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 398; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 23. 4 Barton, Einführung in die Strafverteidigung, § 1 Rn. 23; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grundlage der Legal Aid-Richtlinie, S. 9; Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 9; Hammerstein, JR 1985, 140 (142); Kindhäuser/ Schumann, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 3; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 23; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 11 Vor Rn. 1. 5 Bernsmann, StraFo 1999, 226 (227); Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 137 Rn. 2; BeckOK/StPO-Wessing, § 137 Vor Rn. 1. 6 Kindhäuser/Schumann, Strafprozessrecht, § 7 Rn. 1; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 397; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, § 11 Rn. 1; SK/StPOWohlers, Vor §§ 137 ff. Rn. 32. 7 Bernsmann, StraFo 1999, 226 (229); Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 1. 8 Barton, Einführung in die Strafverteidigung, § 1 Rn. 28–29; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 504–505; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 398.
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Einleitung
Das Recht auf Verteidigerbeistand wird dem Beschuldigten durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert. Auf Ebene des Unionsrechts ist es in Art. 47 Abs. 2 S. 2 GRC sowie Art. 48 Abs. 2 GRC verankert und wird durch die Richtlinie 2013/48/EU9 konkretisiert. Verfassungsrechtlich wird das Recht auf Verteidigerbeistand durch das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet, welches sich aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ergibt. Als einfachgesetzliche Ausprägung des Rechts auf Verteidigerbeistand normiert § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, dass sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen kann. Das Recht, Verteidigerbeistand in Anspruch zu nehmen, setzt allerdings voraus, dass sich der Beschuldigte die Mandatierung eines Verteidigers finanziell leisten kann,10 was jedoch – bei Kosten von mindestens mehreren hundert Euro – auf viele Beschuldigte nicht zutrifft. Mittellose Beschuldigte sind im Strafverfahren nämlich nicht die Ausnahme, sondern die Regel.11 Damit auch der mittellose Beschuldigte den Beistand eines Verteidigers in Anspruch nehmen kann, steht ihm ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu. So normiert Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, dass Beschuldigte, denen die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers fehlen, ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Eine identische Gewährleistung enthält Art. 48 Abs. 2 GRC. Zusätzlich haben Mittellose gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC ein Recht auf Prozesskostenhilfe, sofern dies für einen wirksamen Zugang zu den Gerichten erforderlich ist. Weitere Vorgaben hinsichtlich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand enthält die Richtlinie (EU) 2016/1919.12 Das Grundgesetz garantiert dem mittellosen Beschuldigten durch das Recht auf ein faires Verfahren ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Einfachgesetzlich wird dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand durch das in der Strafprozessordnung verankerte Institut der notwendigen Verteidigung gewährleistet. Falls dem mittellosen Beschuldigten im Rahmen der notwendigen Verteidigung noch kein Verteidiger bestellt wurde, hat er einen Anspruch auf Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz. Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, ist die Mitwirkung eines Verteidigers am Strafverfahren gesetzlich zwingend vorgeschrieben. Zieht der Beschuldigte in einem solchen Fall keinen Verteidiger bei – überwiegend sind hierfür die
9
ABl. L 294, 06.11.2013, S. 1–12, im Folgenden „Rechtsbeistand-Richtlinie“. LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 728; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 546; AK/StPO-Stern, Vor § 140 Rn. 5, 12. 11 Graalmann-Scheerer, StV 2011, 696 (697). 12 ABl. L 297, 04.11.2016, S. 1–8, im Folgenden „Prozesskostenhilfe-Richtlinie“. 10
Einleitung
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fehlenden finanziellen Mittel des Beschuldigten der Grund13 – wird ihm ein Pflichtverteidiger14 bestellt. Die Bestellung des Pflichtverteidigers erfolgt – außer im Fall des § 364b StPO – unabhängig von den Vermögensverhältnissen des Beschuldigten. Die finanzielle Leistungsfähigkeit des Beschuldigten wird erst im Vollstreckungsverfahren berücksichtigt, indem die Mittellosigkeit des Beschuldigten einer Vollstreckung der Verfahrenskosten entgegensteht. Ist die Verteidigung nicht notwendig, wird dem Beschuldigten kein Pflichtverteidiger bestellt. In diesem Fall bleibt der mittellose Beschuldigte ohne Verteidigerbeistand, da er sich die Mandatierung eines Wahlverteidigers finanziell nicht leisten kann. Zur Umsetzung der Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie hat der Gesetzgeber mit Wirkung vom 13.12.2019 das Institut der notwendigen Verteidigung grundlegend reformiert.15 In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, ob das Institut der notwendigen Verteidigung in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta, der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und dem Grundgesetz bezüglich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand entspricht. Die Untersuchung wird zeigen, dass das Institut der notwendigen Verteidigung in mancher Hinsicht hinter diesen Vorgaben zurückbleibt. Aus diesem Grund wird rechtsvergleichend auf die im österreichischen Strafprozessrecht geltenden Bestimmungen zur Gewährleistung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand eingegangen, um so Ansatzpunkte für eine Reform des deutschen Rechts zu finden. Das österreichische Recht bietet sich aus mehreren Gründen für einen Rechtsvergleich an. Als Mitglied des Europarates und der Europäischen Union ist Österreich – ebenso wie Deutschland – den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Unionsrechts unterworfen. Damit gelten für die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in beiden Staaten dieselben Maßstäbe. Des Weiteren ist das österreichische Strafverfahren – insbesondere nach der am 01.01.2008 in Kraft getretenen Reform des Ermittlungsverfahrens16 – ähnlich ausgestaltet wie das deutsche,17 was zu einer guten
13 Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch – US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 11; Hammerstein, JR 1985, 140 (141). 14 Der Begriff des Pflichtverteidigers bezeichnet einen Verteidiger, der dem Beschuldigten im Rahmen der notwendigen Verteidigung vom Gericht oder in Eilfällen von der Staatsanwaltschaft bestellt wird. Von einem Wahlverteidiger spricht man dagegen, wenn der Beschuldigte selbständig einen Verteidiger mit der Verteidigung beauftragt, vgl. zu den Begriffen Wahlverteidiger und Pflichtverteidiger Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch – US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 9, 11; Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 34. 15 Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019, BGBl. I, S. 2128–2134. 16 Ausführlich zur Reform des Ermittlungsverfahrens Schmoller, GA 2009, 505–528. 17 Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 136; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1309.2.
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Einleitung
Vergleichbarkeit führt und die mögliche Übernahme einer Regelung erleichtert. Hinsichtlich der Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand für mittellose Beschuldigte unterscheiden sich jedoch beide Rechtsordnungen voneinander, weshalb ein Rechtsvergleich lohnenswert erscheint. Während in Deutschland dem mittellosen Beschuldigten unentgeltlicher Verteidigerbeistand durch das Institut der notwendigen Verteidigung und das Beratungshilfegesetz gewährt wird, wird dies in Österreich durch das Institut der Verfahrenshilfe und das Institut des Verteidigers in Bereitschaft geregelt. Vogelsang18 und darauf aufbauend Mehle19 sowie Tipold20 haben bereits das Institut der notwendigen Verteidigung und das Institut der Verfahrenshilfe rechtsvergleichend betrachtet. Seitdem hat sich jedoch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte weiterentwickelt und zudem wurden auf Ebene des Unionsrechts durch das Inkrafttreten der Grundrechtecharta und den Erlass der Prozesskostenhilfe-Richtlinie neue Rahmenbedingungen bezüglich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand geschaffen. Die erneute Befassung mit der Thematik ist deshalb geboten. Im Verlauf der Untersuchung wird zunächst herausgearbeitet, welche Vorgaben sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention für die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand ergeben (Erstes Kapitel). Hierzu wird die zum Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einer eingehenden Analyse unterzogen. Anschließend wird auf die unionsrechtlichen Vorgaben bezüglich der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand eingegangen (Zweites Kapitel). Dabei wird zunächst das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC und das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC sowie die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dargestellt. Des Weiteren wird untersucht, welche Vorgaben die ProzesskostenhilfeRichtlinie bezüglich der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand normiert. Hierauf folgt eine Darstellung der Rechtslage in Deutschland (Drittes Kapitel). In diesem Rahmen wird zunächst auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand eingegangen. Sodann werden das Institut der notwendigen Verteidigung und der Anspruch auf Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz dargestellt und überprüft, inwiefern diese den EMRK-rechtlichen, unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen. Der nächste Teil der Arbeit 18 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht. 19 Mehle, Zeitpunkt und Umfang der notwendigen Verteidigung im Ermittlungsverfahren. 20 Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess.
Einleitung
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hat die Rechtslage in Österreich zum Gegenstand (Viertes Kapitel). Das Institut der Verfahrenshilfe und das Institut des Verteidigers in Bereitschaft werden dargestellt und auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie untersucht. Auf der Basis der vorangegangenen Untersuchung wird dann diskutiert, wie eine an den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta, der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und des Grundgesetzes orientierte Reform der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aussehen könnte (Fünftes Kapitel). In diesem Zusammenhang werden zunächst die in der Reformdiskussion geäußerten Vorschläge zur Gewährleistung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand dargestellt und kritisch bewertet. Sodann wird ein eigener Reformvorschlag unterbreitet.
Erstes Kapitel
Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention Jeder Beschuldigte hat gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK das Recht, sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihm die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Im Folgenden wird das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand umfassend dargestellt. Hierfür wird zunächst auf die Bedeutung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand sowie dessen Stellung im Gesamtrecht auf ein faires Verfahren eingegangen (A.). Anschließend wird der Anwendungsbereich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand skizziert (B.). Sodann werden die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand herausgearbeitet (C.) und es wird der Frage nachgegangen, was konkret unter unentgeltlichem Verteidigerbeistand im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verstehen ist (D.). Danach wird untersucht, unter welchen Voraussetzungen der Beschuldigte auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand verzichten kann (E.), ab welchem Zeitpunkt im Strafverfahren unentgeltlicher Verteidigerbeistand zu gewähren ist (F.), welche Kriterien für die Auswahl und Bestellung des Verteidigers gelten (G.) und für welche Dauer die Verteidigerbestellung zu erfolgen hat (H.). Ferner wird dargestellt, in welchen Konstellationen eine Auswechslung des Verteidigers zu erfolgen hat (I.). Schließlich wird auf die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand (J.) und die Vergütung des Verteidigers (K.) eingegangen.
A. Die Bedeutung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand und dessen Stellung im Gesamtrecht auf ein faires Verfahren Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährt dem Beschuldigten mit dem Recht auf Selbstverteidigung, dem Recht auf einen Verteidiger der eigenen Wahl und dem Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand drei eigenständige Verteidigungs-
A. Die Bedeutung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand
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rechte.1 Gemeinsam zielen die drei Gewährleistungen darauf ab, dem Beschuldigten eine konkrete und wirksame Verteidigung zu garantieren.2 In Bezug auf den mittellosen Beschuldigten kommt dabei dem Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand eine Schlüsselrolle zu. Da die Möglichkeit, sich von einem Verteidiger der eigenen Wahl verteidigen zu lassen, von den finanziellen Mitteln des Beschuldigten abhängt,3 ermöglicht es erst die Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand dem mittellosen Beschuldigten, die Dienste eines Verteidigers in Anspruch zu nehmen.4 Die Möglichkeit wiederum, Verteidigerbeistand zu erhalten, versetzt den Beschuldigten erst in die Lage, die übrigen Verteidigungsrechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK effektiv ausüben zu können.5 Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand ist – wie auch die übrigen Mindestrechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK – eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Rechts auf ein faires Verfahren.6 Allerdings regelt Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht die Ausübung dieses Rechts.7 Die Wahl der Mittel, mit denen ein Konventionsstaat sicherstellt, dass sein Rechtssystem den Anforderungen des Art. 6 EMRK genügt, bleibt grundsätzlich diesem überlassen.8 Der Europäische 1 Radtke/Hohmann-Ambos, Art. 6 EMRK Rn. 44; Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 252. 2 MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 168; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 119. 3 LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 728; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 546. 4 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 46–47. 5 EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 78; EGMR, 20.10. 2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 101 = NJOZ 2017, 514 (517); EGMR, 16.02. 2017, Artur Parkhomenko ./. UKR, Nr. 40464/05, Rn. 79; EGMR, 06.07.2017, Sadkov ./. UKR, Nr. 21987/05, Rn. 128; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 46–47; MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 179; Trechsel, ZStR 96 (1979), 337 (354). 6 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 32 = EuGRZ 1980, 662 (664); EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 27; EGMR, 25.09.1992, Pham Hoang ./. FRA, Nr. 13191/87, Rn. 39 = EuGRZ 1992, 472 (473); EGMR, 23.11.1993, Poitrimol ./. FRA, Nr. 14032/88, Rn. 34 = ÖJZ 1994, 467 (468); EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 46 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 41; EGMR, 27.03.2007, Talat Tunc ./. TUR, Nr. 32432/96, Rn. 55; EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, 36391/02, Rn. 51 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 20.10.2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 76 = NJOZ 2017, 514 (515); EGMR, 06.10.2016, Jemeljanovs ./. LAT, Nr. 37364/05, Rn. 75; Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 189; Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. RaumerMeyer-Ladewig/Harrendorf/König, Art. 6 Rn. 221; Frowein/Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 278. 7 EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, 36391/02, Rn. 51 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 66. 8 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 30; EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 51 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 66; EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 113.
28 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Gerichtshof für Menschenrechte prüft lediglich, ob die vom Konventionsstaat gewählte Methode mit den Anforderungen an ein faires Verfahren übereinstimmt.9 Ob das Recht auf ein faires Verfahren oder eines seiner Teilrechte verletzt ist, ermittelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anhand einer Gesamtbetrachtung.10 Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung werden alle Umstände des Verfahrens einschließlich des Ermittlungs- und Rechtsmittelverfahrens berücksichtigt.11 Entscheidend ist, ob die Verletzung der Verteidigungsrechte so schwerwiegend ist, dass das Verfahren insgesamt als unfair anzusehen ist.12
B. Der Anwendungsbereich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Der persönliche, sachliche und zeitliche Anwendungsbereich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird vom Begriff der angeklagten Person („everyone charged with a criminal offence“ beziehungsweise „tout accusé“) bestimmt. Damit eine Person zum Angeklagten im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. c
9 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 30; EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 51 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 66; EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 113. 10 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 46 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 06.10.2016, Jemeljanovs ./. LAT, Nr. 37364/05, Rn. 77; EGMR, 13.09. 2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 251 = NJOZ 2018, 508 (509); EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 121 = NJW 2019, 1999 (2000); die Gesamtbetrachtung als gebotenes Prüfungsinstrument des Rechts auf ein faires Verfahrens ansehend Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 442–446; kritisch zur vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgenommenen Gesamtbetrachtung Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 860–861; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 103–104; Schroeder, GA 2003, 293 (295); Walther, GA 2003, 204 (218); ebenfalls kritisch zur Gesamtbetrachtung Ambos, ZStW 115 (2003), 583 (613), der aber darauf hinweist, dass diese auch zugunsten des Beschuldigten wirken kann; differenzierend auch Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 51–53. 11 EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 46 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 12.05.2005, Öcalan ./. TUR, Nr. 46221/99, Rn. 135; EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, 36391/02, Rn. 52 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 251 = NJOZ 2018, 508 (509); EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 121 = NJW 2019, 1999 (2000); Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 266; Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer-Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, Art. 6 Rn. 92. 12 EGMR, 08.02.1996, John Murray ./. GBR, Nr. 18731/91, Rn. 63 = EuGRZ 1996, 587 (592); EGMR, 12.05.2005, Öcalan ./. TUR, Nr. 46221/99, Rn. 135; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 56.
B. Der Anwendungsbereich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand 29
EMRK wird, bedarf es einer strafrechtlichen Anklage. Der Begriff der strafrechtlichen Anklage ist autonom auszulegen.13
I. Der persönliche Anwendungsbereich Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gilt nur für Personen, gegen die sich die strafrechtliche Anklage richtet.14 Dies können sowohl natürliche als auch juristische Personen sein.15 Andere Verfahrensbeteiligte – wie beispielsweise Opfer, Sachverständige, Verteidiger oder Zeugen – können sich dagegen nicht auf die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK berufen.16
II. Der sachliche Anwendungsbereich Ob eine Anklage strafrechtlicher Natur und damit der sachliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK eröffnet ist, ermittelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anhand dreier Kriterien, die er in der Entscheidung Engel17 aufgestellt hat. Bereits das Vorliegen eines der drei Kriterien genügt, um den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 3 EMRK zu eröffnen.18 Daneben lässt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jedoch auch eine kumulative Anwendung des zweiten und dritten Kriteriums genügen, wenn jedes für sich zu keinem eindeutigen Ergebnis führt.19 13 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Nr. 81 = EuGRZ 1976, 221 (231); EGMR, 26.03.1982, Adolf ./. AUT, Nr. 8269/78, Rn. 30; EGMR, 23.09. 1998, Malige ./. FRA, Nr. 27812/95, Rn. 34 = ÖJZ 1999, 654 (655); EGMR, Meftah u. a. ./. FRA, 32911/96 u. a., Rn. 40; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 68; IK-Vogler, Art. 6 Rn. 191. 14 LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 69; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 14; BeckOK/ StPO-Valerius, Art. 6 EMRK Rn. 3. 15 EGMR, 24.09.1997, Garyfallou AEBE ./. GRE, Nr. 18996/91, Rn. 29–35; MK/ StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 38–39; Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer-MeyerLadewig/Harrendorf/König, Art. 6 Rn. 4; Frowein/Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 4. 16 EKMR, 11.12.1976, X. und Y. ./. GER, Nr. 7641/76; EKMR, 12.10.1978, X. und Y. ./. AUT, Nr. 7909/77; Bock, in: FS-Scheuing, S. 263 (277); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 69; Peukert, EuGRZ 1980, 247 (251). 17 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 80–85 = EuGRZ 1976, 221 (231–233). 18 EGMR, 25.08.1987, Lutz ./. GER, Nr. 9912/82, Rn. 55 = EuGRZ 1987, 399 (402); EGMR, 02.09.1998, Lauko ./. SVK, Nr. 26138/95, Rn. 57; EGMR, 23.07.2002, Janosevic ./. SWE, Nr. 34619/97, Rn. 67; Bock, in: FS-Scheuing, S. 263 (269); MK/ StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 41; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 33. 19 EGMR, 24.02.1994, Bendenoun ./. FRA, Nr. 12547/86, Rn. 47; EGMR, 23.07. 2002, Janosevic ./. SWE, Nr. 34619/97, Rn. 67; EGMR, 09.10.2003, Ezeh u. Connors ./. GBR, Nr. 39665/98 u. a., Rn. 86; EGMR 01.02.2005, Ziliberberg ./. MDA, Nr. 61821/00, Rn. 31; EGMR, 23.11.2006, Jussila ./. FIN, Nr. 73053/01, Rn. 31; LREsser, Art. 6 EMRK Rn. 70; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 173–174; Grabenwarter/ Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 25; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 33.
30 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
1. Die Einordnung der Vorschrift im nationalen Recht Den Ausgangspunkt der Prüfung bildet die Einordnung der Vorschrift im nationalen Recht.20 Unterfällt die Zuwiderhandlung nach dem nationalen Rechtsverständnis dem Strafrecht, so ist der sachliche Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 3 EMRK ohne Weiteres eröffnet.21 Jedoch soll den Konventionsstaaten durch die Einordnung der Vorschrift im nationalen Recht nicht die Möglichkeit eingeräumt werden, selbst den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 3 EMRK zu definieren.22 Es kann sich daher auch um eine strafrechtliche Anklage handeln, wenn das nationale Recht den Sachverhalt nicht als strafrechtlich einstuft.23 Insgesamt kommt dem ersten Kriterium in der Praxis keine große Bedeutung zu.24 2. Die Natur des Vergehens Demgegenüber ist das zweite Kriterium – die Natur des Vergehens – von erheblich größerer Relevanz.25 Weist der Sanktionstatbestand einen abschreckenden und punitiven Charakter auf, ist die Natur des Vergehens strafrechtlicher Art.26 Richtet sich die Sanktionsnorm nicht nur an einen bestimmten Personenkreis, sondern wenigstens potenziell an die Allgemeinheit, deutet dies ebenfalls
20 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 82 = EuGRZ 1976, 221 (232); Bock, in: FS-Scheuing, S. 263 (269). 21 EGMR, 25.03.1983, Minelli ./. SUI, Nr. 8660/79, Rn. 28; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 168; Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 62; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 475. 22 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 81 = EuGRZ 1976, 221 (232); EGMR, 28.06.1984, Campbell u. Fell ./. GBR, Nr. 7819/77 u. a., Rn. 68 = EuGRZ 1985, 534 (538); EGMR, 09.10.2003, Ezeh u. Connors ./. GBR, Nr. 39665/98 u. a., Rn. 83; Bock, in: FS-Scheuing, S. 263 (270); SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 34; Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer-Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, Art. 6 Rn. 25; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 10. 23 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 81–82 = EuGRZ 1976, 221 (231–232); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 168–169; Satzger/Schluckebier/ Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 10. 24 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 82 = EuGRZ 1976, 221 (232); Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, Kap. 14 Rn. 22; Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 62. 25 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 82 = EuGRZ 1976, 221 (232); EGMR, 22.05.1990, Weber ./. SUI, Nr. 11034/84, Rn. 32 = NJW 1991, 623 (624); EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 56 = ÖJZ 1996, 915 (916); Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 62. 26 EGMR, 21.02.1984, Öztürk ./. GER, Nr. 8544/79, Rn. 53 = NJW 1985, 1273 (1274); EGMR, 25.08.1987, Lutz ./. GER, Nr. 9912/82, Rn. 54 = EuGRZ 1987, 399 (402); EGMR, 24.02.1994, Bendenoun ./. FRA, Nr. 12547/86, Rn. 47; EGMR, 02.09. 1998, Kadubec ./. SVK, Nr. 27061/95, Rn. 52; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 169; Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 63; Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 26; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 476.
B. Der Anwendungsbereich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand 31
auf ihren strafrechtlichen Charakter hin.27 Darüber hinaus kann für einen strafrechtlichen Charakter sprechen, dass die persönliche Schuld Voraussetzung für die Verhängung einer Sanktion ist.28 Ferner kann von Bedeutung sein, ob die Vorschrift besonders wichtige Gemeinschaftsinteressen schützt, die üblicherweise mithilfe des Strafrechts geschützt werden,29 wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rechtsvergleichend berücksichtigt, ob in den Rechtsordnungen der anderen Konventionsstaaten vergleichbare Regelungen als strafrechtlich qualifiziert werden.30 Schließlich berücksichtigt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, ob an dem Verfahren, das zur Ahndung des Verstoßes durchgeführt wird, Strafverfolgungsbehörden oder Strafgerichte mitwirken.31 3. Die Art und Schwere der angedrohten Sanktion Ist keines der beiden vorherigen Kriterien einschlägig, ist als Drittes die Art und Schwere der angedrohten Sanktion zu prüfen.32 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt dabei auf die mögliche Höchststrafe und nicht auf die tatsächlich verhängte Sanktion ab.33 Besteht die angedrohte Sanktion in einer Freiheitsentziehung, geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grund27 EGMR, 21.02.1984, Öztürk ./. GER, Nr. 8544/79, Rn. 53 = NJW 1985, 1273 (1274); EGMR, 24.02.1994, Bendenoun ./. FRA, Nr. 12547/86, Rn. 47; EGMR, 02.09.1998, Kadubec ./. SVK, Nr. 27061/95, Rn. 52; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 73; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 21; Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 63; Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 26; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 476. 28 EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 56 = ÖJZ 1996, 915 (916); SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 35; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 73. 29 EGMR, 27.09.2011, Menarini Diagnostics S.r.l. ./. ITA, Nr. 43509/08, Rn. 40; EGMR, 04.03.2014, Grande Stevens ./. ITA, Nr. 18640/10, Rn. 96; Karpenstein/MayerMeyer, Art. 6 Rn. 26. 30 EGMR, 21.02.1984, Öztürk ./. GER, Nr. 8544/79, Rn. 53 = NJW 1985, 1273 (1274); SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 35; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 476. 31 EGMR, 01.02.2005, Ziliberberg ./. MDA, Nr. 61821/00, Rn. 34; SK/StPO4-Paeffgen, Art. 6 EMRK Rn. 30; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 11. 32 EGMR, 21.02.1984, Öztürk ./. GER, Nr. 8544/79, Rn. 54 = NJW 1985, 1273 (1274); EGMR, 28.06.1984, Campbell u. Fell ./. GBR, Nr. 7819/77 u. a., Rn. 72 = EuGRZ 1985, 534 (539); EGMR, 23.03.1994, Ravnsborg ./. SWE, Nr. 14220/88, Rn. 35 = ÖJZ 1994, 706 (708); EGMR, 22.02.1996, Putz ./. AUT, Nr. 18892/91, Rn. 34 = ÖJZ 1996, 434 (435); EGMR, 02.09.1998, Kadubec ./. SVK, Nr. 27061/95, Rn. 52; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 171; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 477. 33 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 85 = EuGRZ 1976, 221 (233); EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 56 = ÖJZ 1996, 915 (916); EGMR, 09.10.2003, Ezeh u. Connors ./. GBR, Nr. 39665/98 u. a., Rn. 120; EGMR, 19.11.2015, Mikhaylova ./. RUS, Nr. 46998/08, Rn. 61; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 78; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 171; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 22; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 36.
32 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
sätzlich von einer strafrechtlichen Sanktion aus, es sei denn, die Freiheitsentziehung ist nach ihrer Art und Dauer oder der Art und Weise ihrer Vollstreckung mit keinem wesentlichen Nachteil für den Betroffenen verbunden.34 Darüber hinaus kann auch finanziellen Sanktionen ein strafrechtlicher Charakter zukommen.35 Allerdings lässt sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kein konkreter Betrag entnehmen, ab dem dies der Fall ist.36 Bei der Beurteilung, ob eine finanzielle Sanktion einen strafrechtlichen Charakter aufweist, kann von Bedeutung sein, dass diese ersatzweise in eine Entziehung von Sachwerten oder einen Freiheitsentzug umgewandelt werden kann.37 Auch ist zu berücksichtigen, ob die finanzielle Sanktion in ein Strafregister eingetragen wird.38 Sonstige Sanktionen, beispielsweise ein Berufsverbot39 oder auch die Ahndung eines Verkehrsverstoßes mit Punkten, die zum Verlust des Führerscheins führen kann,40 können ebenfalls strafrechtlichen Charakter aufweisen.
III. Der zeitliche Anwendungsbereich In zeitlicher Hinsicht ist der Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 3 EMRK eröffnet, sobald eine Anklage vorliegt. Der Europäische Gerichtshof für Menschen34 EGMR, 08.06.1976, Engel u. a. ./. NED, Nr. 5100/71 u. a., Rn. 82 = EuGRZ 1976, 221 (232); EGMR, 09.10.2003, Ezeh u. Connors ./. GBR, Nr. 39665/98 u. a., Rn. 126; EGMR, 28.10.1999, Escoubet ./. BEL, Nr. 26780/95, Rn. 36; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 61–62; Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 63; Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer-Meyer-Ladewig/Harrendorf/ König, Art. 6 Rn. 28. 35 EGMR, 21.02.1984, Öztürk ./. GER, Nr. 8544/79, Rn. 53 = NJW 1985, 1273 (1274); EGMR, 22.05.1990, Weber ./. SUI, Nr. 11034/84, Rn. 34 = NJW 1991, 623 (624); EGMR, 24.02.1994, Bendenoun ./. FRA, Nr. 12547/86, Rn. 47; EGMR, 24.09. 1997, Garyfallou AEBE ./. GRE, Nr. 18996/91, Rn. 34. 36 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 24; Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 63–64; Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 27. 37 EGMR, 22.05.1990, Weber ./. SUI, Nr. 11034/84, Rn. 34 = NJW 1991, 623 (624); EGMR, 24.02.1994, Bendenoun ./. FRA, Nr. 12547/86, Rn. 47; EGMR, 23.03.1994, Ravnsborg ./. SWE, Nr. 14220/88, Rn. 35 = ÖJZ 1994, 706 (708); EGMR, 24.09.1997, Garyfallou AEBE ./. GRE, Nr. 18996/91, Rn. 34; EGMR 01.02.2005, Ziliberberg ./. MDA, Nr. 61821/00, Rn. 34; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 172; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 12; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 477. 38 EGMR, 23.03.1994, Ravnsborg ./. SWE, Nr. 14220/88, Rn. 35 = ÖJZ 1994, 706 (708); EGMR, 22.02.1996, Putz ./. AUT, Nr. 18892/91, Rn. 37 = ÖJZ 1996, 434 (435); EGMR, 02.09.1998, Kadubec ./. SVK, Nr. 27061/95, Rn. 52; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 172–173; Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer-Meyer-Ladewig/Harrendorf/ König, Art. 6 Rn. 28. 39 EGMR, 30.05.2006, Matyjek ./. POL, Nr. 38184/03, Rn. 54–57; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 78. 40 EGMR, 23.09.1998, Malige ./. FRA, Nr. 27812/95, Rn. 39 = ÖJZ 1999, 654 (655); Krausbeck, Konfrontative Zeugenbefragung, S. 64; Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 32.
C. Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand
33
rechte definiert den Begriff der Anklage als jede offizielle Mitteilung der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm eine Straftat zur Last gelegt wird.41 Darüber hinaus können auch andere behördliche Maßnahmen, die den Vorwurf enthalten, eine Straftat begangen zu haben, als Anklage angesehen werden, sofern diese den Betroffenen ebenso beeinträchtigen wie eine offizielle Mitteilung.42 Solche behördlichen Maßnahmen können beispielsweise eine Beschlagnahme, eine Durchsuchung oder eine Festnahme sein.43 Die strafrechtlichen Gewährleistungen des Art. 6 EMRK finden bereits im Ermittlungsverfahren Anwendung44 und gelten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens, sodass sie auch im Rechtsmittelverfahren zu beachten sind.45 Für das deutsche Recht folgt aus der weiten Auslegung des Begriffs der Anklage, dass die Rechte des Art. 6 EMRK nicht erst einem Angeklagten im Sinne des § 157 StPO, sondern bereits einem Beschuldigten zustehen.46
C. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Der Beschuldigte hat gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand, wenn er mittellos und der Beistand eines Verteidigers im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Beide Voraussetzungen müs41 EGMR, 27.02.1980, Deweer ./. BEL, Nr. 6903/75, Rn. 46 = EuGRZ 1980, 667 (672); EGMR, 10.12.1982, Foti u. a. ./. ITA, Nr. 7604/76 u. a., Rn. 52 = NJW 1986, 647 (648); EGMR, 21.02.1984, Öztürk ./. GER, Nr. 8544/79, Rn. 55 = NJW 1985, 1273 (1274); EGMR, 18.02.2010, Aleksandr Zaichenko ./. RUS, Nr. 39660/02, Rn. 42; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 119 = NJW 2019, 1999 (2000); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 93; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 26; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 14. 42 EGMR, 10.12.1982, Foti u. a. ./. ITA, Nr. 7604/76 u. a., Rn. 52 = NJW 1986, 647 (648); EGMR, 21.02.1984, Öztürk ./. GER, Nr. 8544/79, Rn. 55 = NJW 1985, 1273 (1274); Frowein/Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 42; MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 56; BeckOK/StPO-Valerius, Art. 6 EMRK Rn. 4. 43 EGMR, 27.06.1968, Wemhoff ./. GER, Nr. 2122/64, Rn. 19 = JR 1968, 463 (466); EGMR, 15.07.1982, Eckle ./. GER, Nr. 8130/78, Rn. 72–75 = EuGRZ 1983, 371 (379– 380); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 93; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 68; MeyerLadewig/Nettesheim/v. Raumer-Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, Art. 6 Rn. 31. 44 EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 36 = ÖJZ 1994, 517 (517–518); Ambos, ZStW 115 (2003), 583 (595); MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 61; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 69. 45 EGMR, 26.07.2002, Meftah u. a. ./. FRA, Nr. 32911/96 u. a., Rn. 40; SK/StPOMeyer, Art. 6 EMRK Rn. 69; Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer-Meyer-Ladewig/ Harrendorf/König, Art. 6 Rn. 31; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 14. 46 Jahn, JuS 2017, 177 (178); Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 47–49; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPOSatzger, Art. 6 EMRK Rn. 14.
34 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
sen kumulativ vorliegen.47 Dies kann bereits zu Beginn des Strafverfahrens, aber auch erst in dessen Verlauf der Fall sein.48 Die Gerichte sind daher verpflichtet, permanent zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für unentgeltlichen Verteidigerbeistand gegeben sind.49
I. Die Mittellosigkeit des Beschuldigten Die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand setzt voraus, dass der Beschuldigte mittellos ist. Dem Konventionstext selbst lassen sich keine Kriterien zur Feststellung der Mittellosigkeit des Beschuldigten entnehmen.50 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Tatbestandsmerkmal der Mittellosigkeit in seiner Rechtsprechung bisher kaum konkretisiert, weil es in den zu entscheidenden Fällen bislang lediglich eine untergeordnete Rolle gespielt hat.51 Dies ist insbesondere auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen richtet sich die Mittellosigkeit des Beschuldigten primär nach dem nationalen Recht, weshalb es grundsätzlich auch den nationalen Gerichten obliegt festzustellen, ob ein Beschuldigter über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um einen Verteidiger bezahlen zu können.52 Zum anderen prüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Mittellosigkeit des Beschuldigten, wenn diese unstreitig ist oder im nationalen Strafverfahren bereits bejaht wurde, nicht erneut, sondern geht vielmehr von ihrem Vorliegen aus.53 Lediglich wenn die nationalen Instanzen die 47 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 34 = EuGRZ 1980, 662 (665); EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 41; EGMR, 17.12.2009, Shilbergs ./. RUS, Nr. 20075/03, Rn. 120; Bischofberger, Die Verfahrensgarantien der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 5 und 6) in ihrer Einwirkung auf das schweizerische Strafprozessrecht, S. 150; IKKühne, Art. 6 Rn. 555; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 427; Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 56. 48 Vgl. EGMR, 28.03.1990, Granger ./. GBR, Nr. 11932/86, Rn. 46; SK/StPOMeyer, Art. 6 EMRK Rn. 430. 49 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 480–481. 50 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 475. 51 Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (7); Dörr/Grote/Marauhn-Grabenwarter/Pabel, Kap. 14 Rn. 154; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 72; Stavros, The Guarantees for Accused Persons under Article 6 of the European Convention on Human Rights, S. 208; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 438. 52 EGMR, 18.12.2001, R.D. ./. POL, Nr. 29692/96 u. a., Rn. 45; EGMR, 16.10.2012, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 3), Nr. 21124/04, Rn. 51; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 438. 53 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 34 = EuGRZ 1980, 662 (665); EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 42; EGMR, 27.03.2007, Talat Tunc ./. TUR, Nr. 32432/96, Rn. 56; EGMR, 17.12.2009, Shilbergs ./. RUS, Nr. 20075/03, Rn. 120; EGMR, 12.01.2012, Dovzhenko ./. UKR, Nr. 36650/03, Rn. 59; EGMR, 26.03.2015, Volkov u. Adamskiy ./. RUS, Nr. 7614/09 u. a., Rn. 56; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 264.
C. Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand
35
Mittellosigkeit des Beschuldigten verneint haben54 oder eine diesbezügliche Prüfung aus Gründen des nationalen Rechts nicht erforderlich war,55 geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte näher auf die Mittellosigkeit des Beschuldigten ein. In einem solchen Fall berücksichtigt er sämtliche Umstände des Einzelfalls. Ist der Beschuldigte arbeitslos, verfügt er über keine feste Anstellung oder hat er aus anderen Gründen kein regelmäßiges Einkommen, deutet dies auf eine Bedürftigkeit hin.56 Gleiches gilt für den Fall, dass der Beschuldigte vermögenslos57 oder finanziell von anderen Personen abhängig ist.58 Des Weiteren kann von Bedeutung sein, dass der Beschuldigte bereits in einem früheren Verfahrensstadium unentgeltlichen Verteidigerbeistand erhalten59 oder ihm eine humanitäre Organisation einen Verteidiger zur Verfügung gestellt hat.60 Ferner ist zu beachten, dass sich der Beschuldigte mehrfach über die Möglichkeit erkundigt hat, unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu erhalten.61 Schließlich lässt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seine Prüfung auch einfließen, dass dem Beschuldigten für das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Prozesskostenhilfe bewilligt wurde.62 Ob der Beschuldigte seine finanzielle Situation selbst verschuldet hat, ist für die Beurteilung der Mittellosigkeit unerheblich.63 Den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Beurteilung der Mittellosigkeit herangezogenen Kriterien lässt sich keine einheitliche Vermögensgrenze entnehmen, ab der der Beschuldigte als mittellos anzusehen ist. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in den einzelnen Konventionsstaaten teilweise recht unterschiedlich 54 EGMR, 18.12.2001, R.D. ./. POL, Nr. 29692/96 u. a., Rn. 46; EGMR, 13.09.2011, Wersel ./. POL, Nr. 30358/04, Rn. 46. 55 EGMR, 25.04.1983, Pakelli ./. GER, Nr. 8398/78, Rn. 33 = EuGRZ 1983, 344 (347). 56 EGMR, 26.09.2000, Biba ./. GRE, Nr. 33170/96, Rn. 28; EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 42; EGMR, 22.10.2009, Raykov ./. BUL, Nr. 35185/ 03, Rn. 58; EGMR, 20.12.2011, Maksimenko ./. UKR, Nr. 39488/07, Rn. 26; EGMR, 16.10.2012, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 3), Nr. 21124/04, Rn. 51; EGMR 06.11.2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 16, 39. 57 EGMR 06.11.2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 16, 39. 58 EGMR, 16.10.2012, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 3), Nr. 21124/04, Rn. 51. 59 EGMR, 18.12.2001, R.D. ./. POL, Nr. 29692/96 u. a., Rn. 46; EGMR, 14.01.2010, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 2), Nr. 2376/03, Rn. 39; EGMR, 13.09.2011, Wersel ./. POL, Nr. 30358/04, Rn. 46; EGMR, 20.12.2011, Maksimenko ./. UKR, Nr. 39488/07, Rn. 26; EGMR, 16.10.2012, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 3), Nr. 21124/04, Rn. 51. 60 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 51 = ÖJZ 1999, 390 (391). 61 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 51 = ÖJZ 1999, 390 (391). 62 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 51 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 26.09.2000, Biba ./. GRE, Nr. 33170/96, Rn. 28. 63 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 475; Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 230; Wohlers, StV 2007, 376 (377).
36 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
sind, sodass ein einheitlicher Maßstab für alle Konventionsstaaten nicht praktikabel wäre.64 Allgemein wird von einer Mittellosigkeit des Beschuldigten ausgegangen werden müssen, wenn er nicht in der Lage ist, die Kosten eines Verteidigers zu tragen, ohne auf Mittel zurückgreifen zu müssen, die für seinen Unterhalt oder den seiner Familie notwendig sind.65 Mittellos in diesem Sinne sind nicht nur Beschuldigte, denen die finanziellen Mittel zur Beauftragung eines Verteidigers gänzlich fehlen, sondern auch solche Beschuldigte, denen nur teilweise die Mittel fehlen, um einen Verteidiger beauftragen zu können.66 Ist der Beschuldigte nicht völlig mittellos, kann die Bestellung eines Verteidigers im nationalen Recht von einer Selbstbeteiligung abhängig gemacht werden.67 Noch nicht vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschieden wurde, ob der Beschuldigte auch dann als mittellos anzusehen ist, wenn er nur deshalb nicht über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, weil sein Vermögen vorläufig beschlagnahmt wurde.68 Mit Blick auf die Unschuldsvermutung und die generelle Subsidiarität der Verfahrenshilfe kann es sachgerecht sein, dem Beschuldigten einen ausreichenden Geldbetrag zu belassen, damit er sich des Beistands eines Verteidigers bedienen kann.69 Erfolgt die Beschlagnahme des Vermögens dagegen lediglich zu dem Zweck, das Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger seiner Wahl einzuschränken, stellt dies eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK dar.70 Für das Vorliegen der Mittellosigkeit trägt der Beschuldigte die Darlegungsund Beweislast.71 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist allerdings darauf hin, dass es Jahre später praktisch unmöglich sei zu beweisen, dass 64
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 59. Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 229–230; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 438; Wohlers, StV 2007, 376 (377). 66 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 58–59. 67 EGMR, 26.02.2002, Morris ./. GBR, Nr. 38784/97, Rn. 88–89; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 264–265. 68 IK-Kühne, Art. 6 Rn. 557; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 269. 69 Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 269; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 557. 70 EKMR, 17.12.1970, X ./. AUT, Nr. 4338/69 = CD 36, 79 (82); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 263; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 59; Stavros, The Guarantees for Accused Persons under Article 6 of the European Convention on Human Rights, S. 209 Fn. 657. 71 EGMR, 25.09.1992, Croissant ./. GER, Nr. 13611/88, Rn. 37 = EuGRZ, 1992, 542 (547); EGMR, 17.02.2011, Ognyan Asenov ./. BUL, Nr. 38157/04, Rn. 47; EGMR, 21.06.2011, Orlov ./. RUS, Nr. 29652/04, Rn. 114; EGMR, 24.04.2012, Gennadiy Medvedev ./. RUS, Nr. 34184/03, Rn. 31; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 556; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 272; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 438. 65
C. Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand
37
der Beschuldigte damals nicht über die finanziellen Mittel verfügt habe, um sich einen Verteidiger leisten zu können.72 Deshalb geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von der Mittellosigkeit des Beschuldigten aus, wenn Hinweise auf seine Bedürftigkeit bestehen und gegenteilige Anhaltspunkte fehlen.73 In diesem Sinne hat es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausreichen lassen, dass der Beschuldigte die Vorlage eines Mittellosigkeitszeugnisses angeboten hatte.74 Sogar die Versicherung des Beschuldigten, sich keinen Verteidiger leisten zu können, wurde als ausreichender Beleg angesehen.75 Die Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an den Nachweis der Mittellosigkeit stellt, sind mithin nicht besonders hoch.76
II. Das Interesse der Rechtspflege Neben der Mittellosigkeit des Beschuldigten setzt die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand voraus, dass diese im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Dieses im Englischen mit „interests of justice“ und im Französischen mit „intérêts de la justice“ umschriebene Tatbestandsmerkmal kann sowohl mit „im Interesse der Rechtspflege“ als auch „im Interesse der Gerechtigkeit“ übersetzt werden.77 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte orientiert sich bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals am Sinn und Zweck der Vorschrift, dem Beschuldigten eine effektive Verteidigung zu gewährleisten und stellt damit die Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Beschuldigten und nicht die Interessen der Justiz in den Vordergrund.78 Entscheidend ist, ob der Beschul72 EGMR, 25.04.1983, Pakelli ./. GER, Nr. 8398/78, Rn. 34 = EuGRZ 1983, 344 (347); EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 51 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 14.01.2010, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 2), Nr. 2376/03, Rn. 39. 73 EGMR, 25.04.1983, Pakelli ./. GER, Nr. 8398/78, Rn. 34 = EuGRZ 1983, 344 (347); EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 51 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 14.01.2010, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 2), Nr. 2376/03, Rn. 39. 74 EGMR, 25.04.1983, Pakelli ./. GER, Nr. 8398/78, Rn. 34 = EuGRZ 1983, 344 (347). 75 EGMR, 14.01.2010, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 2), Nr. 2376/03, Rn. 39; EGMR, 20.12.2011, Maksimenko ./. UKR, Nr. 39488/07, Rn. 26. 76 LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 737; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 438. 77 Bischofberger, Die Verfahrensgarantien der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 5 und 6) in ihrer Einwirkung auf das schweizerische Strafprozessrecht, S. 149; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 52; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 73. 78 EGMR, 18.12.2001, R.D. ./. POL, Nr. 29692/96 u. a., Rn. 49; Demko, in: HRRSFG-Fezer, S. 1 (9–10); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 476; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 265; Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 230; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 52; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskon-
38 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
digte sich selbst effektiv verteidigen kann.79 Die deutsche Übersetzung des Konventionstextes ist daher zumindest missverständlich.80 Ob unentgeltlicher Verteidigerbeistand im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, ermittelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anhand der Schwere des Tatvorwurfs und der Höhe der drohenden Strafe, der Komplexität des Falles sowie der persönlichen Situation des Beschuldigten.81 Unter zusätzlicher Berücksichtigung der weitreichenden Befugnisse der Rechtsmittelgerichte gelten diese Kriterien auch in der Rechtsmittelinstanz. 82 Die Kriterien sind weit auszulegen und nicht abschließend.83 Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zumeist auf mehrere Kriterien abstellt, um das Interesse der Rechtspflege zu begründen, reicht es bereits aus, wenn eines der Kriterien erfüllt ist.84 1. Die Schwere des Tatvorwurfs und die Höhe der drohenden Strafe Zumeist als erstes prüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, was für den Beschuldigten auf dem Spiel steht, und stellt hierbei auf die Schwere des Tatvorwurfs und die Höhe der drohenden Strafe ab.85 Dabei orientiert sich der vention, S. 73–74; Weigend, StV 2000, 384 (385); Wohlers, in: FS-Rudolphi, S. 713 (725). 79 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 36 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 28.10.1994, Boner ./.GBR, Nr. 18711/91, Rn. 41 = ÖJZ 1995, 273 (273– 274); EGMR, 18.12.2001, R.D. ./. POL, Nr. 29692/96 u. a., Rn. 49; EGMR, 06.11. 2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 40; Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (10); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 739. 80 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 476; Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 230; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 52; Weigend, StV 2000, 384 (385); Wohlers, in: FS-Rudolphi, S. 713 (725). 81 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 33–35 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 60; EGMR, 09.06. 1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 52–53 = ÖJZ 1999, 390 (391–392); EGMR, 14.01.2003, Lagerblom ./. SWE, Nr. 26891/95, Rn. 51; EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 43; EGMR, 22.10.2009, Raykov ./. BUL, Nr. 35185/03, Rn. 59; EGMR 06.11.2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 38; EGMR, 06.10.2016, Jemeljanovs ./. LAT, Nr. 37364/05, Rn. 89; EGMR, 02.11.2018, D.L. ./. GER, Nr. 18297/03, Rn. 28 = NJW 2019, 2005 (2006). 82 EGMR, 26.06.2008, Shulepov ./. RUS, Nr. 15435/03, Rn. 34; EGMR, 17.12.2009, Shilbergs ./. RUS, Nr. 20075/03, Rn. 121; EGMR, 19.06.2014, Shekhov ./. RUS, Nr. 12440/04, Rn. 44, 46; EGMR, 26.03.2015, Volkov u. Adamskiy ./. RUS, Nr. 7614/ 09 u. a., Rn. 53; EGMR, 19.11.2015, Mikhaylova ./. RUS, Nr. 46998/08, Rn. 80; LREsser, Art. 6 EMRK Rn. 742. 83 Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (9); MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 209; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 435. 84 Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (8); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 739. 85 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 33 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 28.10.1994, Boner ./. GBR, Nr. 18711/91, Rn. 44 = ÖJZ 1995, 273 (274); EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 60; EGMR, 22.07.
C. Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand
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Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht an der im konkreten Einzelfall zu erwartenden Strafe, da diese nur schwer prognostizierbar sei und eine gesetzlich zulässige strengere Bestrafung nicht ausschließe, sondern an der zulässigen Höchststrafe.86 Droht dem Beschuldigten eine Haftstrafe, ist der Beistand eines Verteidigers grundsätzlich erforderlich.87 Unerheblich ist, ob die Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann.88 Kommt ein Bewährungswiderruf in Betracht, kann dies eine Verteidigerbestellung im Interesse der Rechtspflege erforderlich machen.89 Die Beiordnung eines Verteidigers ist nicht nur bei einer drohenden Freiheitsstrafe erforderlich, sondern kommt auch in Betracht, wenn dem Beschuldigten lediglich eine Geldstrafe droht.90 Gerade einen mittellosen Beschuldigten kann eine Geldstrafe ebenso hart treffen wie eine Freiheitsstrafe,91 vor allem wenn sie in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden kann. 2. Die Komplexität des Falles Ferner kann unentgeltlicher Verteidigerbeistand aufgrund der Komplexität des Falles – die sich sowohl aus tatsächlichen als auch aus rechtlichen Gesichtspunkten ergeben kann92 – im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein.93 Der Euro2010, Samoshenkov u. Strokov ./. RUS, Nr. 21731/03 u. a., Rn. 69; Demko, in: HRRSFG-Fezer, S. 1 (11); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 477–478. 86 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 33 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 61 = ÖJZ 1996, 915 (916); EGMR, 20.12.2011, Maksimenko ./. UKR, Nr. 39488/07, Rn. 28; Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (11–12); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 478; kritisch Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 274. 87 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 33 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 61 = ÖJZ 1996, 915 (916); EGMR, 27.03.2007, Talat Tunc ./. TUR, Nr. 32432/96, Rn. 56; EGMR, 22.10.2009, Raykov ./. BUL, Nr. 35185/03, Rn. 59; EGMR, 20.12.2011, Maksimenko ./. UKR, Nr. 39488/07, Rn. 28; EGMR, 06.11.2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 38; Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (13); MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 210; Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 203. 88 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 33 = ÖJZ 1991, 745 (746); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 739. 89 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 34 = ÖJZ 1991, 745 (746). 90 EGMR, 25.09.1992, Pham Hoang ./. FRA, 13191/87, Rn. 40 = EuGRZ 1992, 472 (473); EGMR, 06.11.2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 39; Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (13); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahren, S. 486. 91 Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (13); Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 435. 92 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 54; Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (14); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 266; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 436; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 597.
40 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
päische Gerichtshof für Menschenrechte stellt bei der Auslegung dieses Kriteriums maßgeblich darauf ab, ob der Beschuldigte aufgrund der tatsächlichen oder rechtlichen Komplexität des Falles nicht in der Lage ist, sich ohne anwaltlichen Beistand im gesamten Verfahren effektiv zu verteidigen.94 Dies kann selbst dann zu bejahen sein, wenn der Fall nicht besonders kompliziert ist und der Beschuldigte in der Lage ist, das Verfahren zu verstehen.95 Von einer tatsächlichen Komplexität des Falles ist beispielsweise auszugehen, wenn sich Schwierigkeiten bei der Feststellung des Sachverhalts ergeben, etwa weil der Beschuldigte ein Teilgeständnis widerruft96 oder der Beschuldigte eine Tatbeteiligung bestreitet und ein Mitbeschuldigter sein Geständnis zurücknimmt.97 Eine rechtliche Komplexität des Falles hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bejaht, wenn über den Widerruf der Bewährung98 oder das Vorliegen mildernder oder erschwerender Umstände99 zu entscheiden war. Hiervon ist ferner auszugehen, wenn eine schuldhafte Unterlassung des Beschuldigten100 oder die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit der Konvention101 zu prüfen ist. Aufgrund der Komplexität eines Rechtsmittelverfahrens kann unentgeltlicher Verteidigerbeistand im Interesse der Rechtspflege ebenfalls erforderlich sein.102 Dies gilt nicht nur für die Durchführung der Hauptverhandlung,103 sondern auch für die Einlegung des Rechtsmittels.104 Die Gewährung
93 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 34 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 43; EGMR, 17.12.2009, Shilbergs ./. RUS, Nr. 20075/03, Rn. 122. 94 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 34 = EuGRZ 1980, 662 (665); EGMR, 25.04.1983, Pakelli ./. GER, Nr. 8398/78, Rn. 38 = EuGRZ 1983, 344 (348); EGMR, 28.03.1990, Granger ./. GBR, Nr. 11932/86, Rn. 47; EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 33 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 25.09.1992, Pham Hoang ./. FRA, 13191/87, Rn. 40 = EuGRZ 1992, 472 (473); EGMR, 28.10. 1994, Boner ./. GBR, Nr. 18711/91, Rn. 41 = ÖJZ 1995, 273 (273–274); EGMR, 17.12.2009, Shilbergs ./. RUS, Nr. 20075/03, Rn. 122; EGMR, 06.11.2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 40; Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (14–17). 95 EGMR, 28.10.1994, Boner ./. GBR, Nr. 18711/91, Rn. 41 = ÖJZ 1995, 273 (273– 274); EGMR, 06.11.2012, Zdravko Stanev ./. BUL, Nr. 32238/04, Rn. 40. 96 EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 44. 97 EGMR, 22.10.2009, Raykov ./. BUL, Nr. 35185/03, Rn. 60. 98 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 34 = ÖJZ 1991, 745 (746). 99 EGMR, 17.12.2009, Shilbergs ./. RUS, Nr. 20075/03, Rn. 122; EGMR, 14.03. 2013, Krylov ./. RUS, Nr. 36697/03, Rn. 46. 100 EGMR, 10.06.1996, Benham ./. GBR, Nr. 19380/92, Rn. 62. 101 EGMR, 25.09.1992, Pham Hoang ./. FRA, 13191/87, Rn. 40 = EuGRZ 1992, 472 (473). 102 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 53 = ÖJZ 1999, 390 (391–392); EGMR, 14.01.2010, Tsonyo Tsonev ./. BUL (Nr. 2), Nr. 2376/03, Rn. 40. 103 EGMR, 25.04.1983, Pakelli ./. GER, Nr. 8398/78, Rn. 35–40 = EuGRZ 1983, 344 (347–348); EGMR, 28.10.1994, Boner ./. GBR, Nr. 18711/91, Rn. 37–44; EGMR,
C. Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand
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von unentgeltlichem Verteidigerbeistand darf nicht von den Erfolgsaussichten des Rechtsmittels abhängig gemacht werden.105 3. Die persönliche Situation des Beschuldigten Schließlich bezieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch die persönliche Situation des Beschuldigten in die Beurteilung des Interesses der Rechtspflege mit ein.106 Er stellt dabei sowohl auf die persönlichen Umstände des Beschuldigten als auch auf dessen individuelle Fähigkeiten ab.107 So können die soziale Herkunft des Beschuldigten,108 seine Drogenabhängigkeit,109 seine Minderjährigkeit oder Jugend,110 sowie die fehlende Vertrautheit mit dem Rechtssystem111 zu berücksichtigen sein. Darüber hinaus können auch fehlende oder mangelhafte Sprachkenntnisse die Bestellung eines Verteidigers erforderlich machen,112 allerdings sind diese vorrangig über die Beiziehung eines Dolmetschers auszugleichen.113 28.10.1994, Maxwell ./. GBR, Nr. 18949/91, Rn. 34–41; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 483. 104 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 53 = ÖJZ 1999, 390 (391–392); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 482. 105 EGMR, 28.03.1990, Granger ./. GBR, Nr. 11932/86, Rn. 42–48; EGMR, 28.10. 1994, Boner ./. GBR, Nr. 18711/91, Rn. 37–44; EGMR, 28.10.1994, Maxwell ./. GBR, Nr. 18949/91, Rn. 33–41; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 487; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 267; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 554; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 597; a. A. EGMR, 02.03. 1987, Monnell u. Morris ./. GBR, Nr. 9562/81 u. a., Rn. 67; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 276, hält es grundsätzlich für akzeptabel, dass unentgeltlicher Verteidigerbeistand nicht gewährt wird, wenn ein Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat. 106 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 35 = ÖJZ 1991, 745 (746); EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 53 = ÖJZ 1999, 390 (392). 107 Demko, in: HRRS-FG-Fezer, S. 1 (18); Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 597. 108 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 35 = ÖJZ 1991, 745 (746); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 479. 109 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 35 = ÖJZ 1991, 745 (746). 110 EGMR, 24.05.1991, Quaranta ./. SUI, Nr. 12744/87, Rn. 35 = ÖJZ 1991, 745 (746); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 739; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 57–58; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 437. 111 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 53 = ÖJZ 1999, 390 (392); EGMR, 26.09.2000, Biba ./. GRE, Nr. 33170/96, Rn. 29; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 276. 112 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 53 = ÖJZ 1999, 390 (392); EGMR, 26.09.2000, Biba ./. GRE, Nr. 33170/96, Rn. 29; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 276. 113 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 479; Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 232; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 559; Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK,
42 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
D. Die Unentgeltlichkeit des Verteidigerbeistands Ist der Beschuldigte mittellos und die Bestellung eines Verteidigers im Interesse der Rechtspflege erforderlich, hat er nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Anspruch auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert allerdings nur die Unentgeltlichkeit der Verteidigung und nicht die Unentgeltlichkeit des gesamten Strafverfahrens.114 Ob der Begriff der Unentgeltlichkeit („free“ beziehungsweise „gratuitement“) im Sinne einer endgültigen115 oder lediglich einer vorübergehenden116 Kostenbefreiung zu verstehen ist, ist umstritten. Während die erstgenannte Auffassung zur Folge hätte, dass der mittellose Beschuldigte die Verteidigerkosten dauerhaft nicht tragen muss, wäre der Beschuldigte – sofern sich seine Vermögensverhältnisse verbessern – nach der letztgenannten Ansicht im Nachhinein zur Übernahme der Verteidigerkosten verpflichtet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diese Frage bisher noch nicht entschieden.117 Die Befürworter einer endgültigen Kostenbefreiung stützen ihre Ansicht unter anderem auf einen systematischen Vergleich zu Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK, welcher die unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zum Gegenstand hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte legt den Begriff der Unentgeltlichkeit im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK dahingehend aus, dass weder ein bedingter Erlass noch eine vorläufige Freistellung noch ein Aufschub gemeint sei, sonS. 59; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 436–437; kritisch Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 268, der darauf hinweist, dass das Recht auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher (Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK) nach Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keine vollständige Übersetzung gewährleistet. 114 Antonopoulos, La jurisprudence des organes de la Convention Européenne des Droits de l’Homme, S. 150. 115 OLG Düsseldorf NStZ 1982, 339; OLG Düsseldorf NStZ 1985, 370 (371) m. abl. Anm. Schikora; AG Dortmund StV 1985, 100; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 498–499; Jung, StV 1990, 509 (515); Schmidt, NJW 1974, 90; Schubarth, Die Rechte des Beschuldigten im Untersuchungsverfahren, besonders bei Untersuchungshaft, S. 263; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 86–90. 116 BVerfG NJW 2003, 196; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 283; Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 265, 569–570; Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, S. 233–234; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 569–570; Frowein/Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 307; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, Art. 6 EMRK Rn. 21; Trechsel, ZStR 96 (1979), 337 (362); Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 596. 117 EGMR, 28.11.1978, Luedicke, Belkacem und Koc ./. GER, Nr. 6210/73 u. a., Rn. 44 = EuGRZ 1979, 34 (39–40); EGMR, 25.09.1992, Croissant ./. GER, Nr. 13611/ 88, Rn. 34 = EuGRZ 1992, 542 (546); EGMR, 21.06.2011, Orlov ./. RUS, Nr. 29652/ 04, Rn. 111–114; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 569; Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 62–63; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 278.
D. Die Unentgeltlichkeit des Verteidigerbeistands
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dern vielmehr eine endgültige Befreiung oder Entlastung garantiert werde.118 Der Begriff der Unentgeltlichkeit müsse im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand ebenfalls in diesem Sinne verstanden werden.119 Dieser Schluss ist allerdings keineswegs zwingend,120 zumal der Gerichtshof explizit klargestellt hat, dass seine Entscheidung ausschließlich die Auslegung des Begriffs der Unentgeltlichkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK betrifft.121 Für eine unterschiedliche Auslegung des Begriffs der Unentgeltlichkeit in Art. 6 Abs. 3 lit. c und lit. e EMRK spricht, dass die Gewährung unentgeltlichen Verteidigerbeistands von der Mittellosigkeit des Beschuldigten abhängt, während das Recht auf unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher nicht an diese Bedingung geknüpft ist.122 Des Weiteren ist es wenig überzeugend, einem mittellosen Beschuldigten, dessen finanzielle Situation sich nachträglich so verbessert, dass er die Verteidigerkosten bezahlen kann, diese nicht aufzuerlegen, da ihn dies gegenüber einem Beschuldigten, der ausreichende Mittel für einen Verteidiger zur Verfügung hatte, bevorteilt und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK lediglich auf eine Gleichstellung – und nicht eine Besserstellung – des unbemittelten Beschuldigten gegenüber dem bemittelten Beschuldigten abzielt.123 Dagegen wird eingewandt, dass eine lediglich vorübergehende Kostenfreistellung den Beschuldigten aus Furcht, später doch noch die Kosten tragen zu müssen, davon abhalten könnte, von seinem Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Gebrauch zu machen.124 Diese Befürchtung dürfte jedoch eher theoretischer Natur sein, da der mittellose Beschuldigte in den wenigsten Fällen zu Vermögen kommen wird und eine solche Erwägung daher, wenn überhaupt, lediglich eine untergeordnete Rolle spielen dürfte.125 Alles in allem ist festzuhalten, dass der Begriff der Unentgeltlichkeit in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK durchaus im Sinne einer lediglich vorläufigen Kostenfreistellung verstanden werden kann; insbesondere, wenn durch Vollstreckungsschutzmaßnahmen sichergestellt ist, dass die Verteidigerkosten nicht beigetrieben werden, solange die Mittellosigkeit fortbesteht.126
118 EGMR, 28.11.1978, Luedicke, Belkacem und Koc ./. GER, Nr. 6210/73 u. a., Rn. 40 = EuGRZ 1979, 34 (39). 119 OLG Düsseldorf NStZ 1982, 339. 120 IK-Kühne, Art. 6 Rn. 569. 121 EGMR, 28.11.1978, Luedicke, Belkacem und Koc ./. GER, Nr. 6210/73 u. a., Rn. 44 = EuGRZ 1979, 34 (39–40); EKMR, 06.05.1982, X. ./. GER, Nr. 9365/81. 122 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 165–166; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 569; Peukert, EuGRZ 1980, 247 (266); Trechsel, ZStR 96 (1979), 337 (362). 123 Peukert, EuGRZ 1980, 247 (266). 124 OLG Düsseldorf NStZ 1985, 370 (371); Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 87–88. 125 Schikora, NStZ 1985, 372. 126 EKMR, 06.05.1982, X. ./. GER, Nr. 9365/81; Frowein/Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 307.
44 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
E. Die Möglichkeit auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu verzichten Der Beschuldigte kann ausdrücklich oder stillschweigend auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand – wie auch auf alle sonstigen Garantien eines fairen Verfahrens – verzichten.127 Jeder Verzicht auf Rechtsbeistand muss allerdings dem Standard des „wissentlichen und verständigen Verzichts“ („knowing and intelligent waiver“) genügen.128 Der Europäische Gerichtshof stellt hieran strenge Anforderungen.129 Grundvoraussetzung für einen Verzicht ist, dass der Beschuldigte um sein Recht auf Verteidigerbeistand weiß.130 Damit der Verzicht gültig ist, muss er zudem freiwillig erfolgen und eindeutig erklärt werden.131 Außerdem muss der Beschuldigte Kenntnis von den Folgen eines Verzichts haben.132 Darüber hinaus muss der Verzicht von Mindestgarantien begleitet sein, die seiner Bedeutung entsprechen.133 Schließlich darf der Verzicht keinen wichtigen öffentlichen Interessen zuwiderlaufen.134 Die Beweislast für einen wirksamen Verzicht liegt bei den Strafverfolgungsbehörden.135 Lehnt der Beschuldigte den ihm bestellten Verteidiger – etwa aufgrund dessen Passivität oder weil er dessen Mitwirkung am Verfahren als reine Formalität an127 EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00 Rn. 47; EGMR, 15.10.2009, Prezec ./. CRO, Nr. 48185/07, Rn. 26; EGMR, 22.10.2009, Raykov ./. BUL, Nr. 35185/ 03, Rn. 63; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 736; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 465. 128 EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 77; EGMR, 20.10. 2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 101 = NJOZ 2017, 514 (517); EGMR, 06.07. 2017, Sadkov ./. UKR, Nr. 21987/05, Rn. 128. 129 SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 465; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 410. 130 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 272 = NJOZ 2018, 508 (512); EGMR, 11.12.2018, Rodionov ./. RUS, Nr. 9106/09, Rn. 151. 131 EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00 Rn. 47; EGMR, 15.10.2009, Prezec ./. CRO, Nr. 48185/07, Rn. 26; EGMR, 22.10.2009, Raykov ./. BUL, Nr. 35185/ 03, Rn. 63; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 61; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 736. 132 EGMR, 27.03.2007, Talat Tunc ./. TUR, Nr. 32432/96, Rn. 59; EGMR, 11.12. 2008, Panovits ./. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 68; EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 77; EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 115; EGMR, 06.10.2016, Jemeljanovs ./. LAT, Nr. 37364/05, Rn. 84; EGMR, 16.02.2017, Artur Parkhomenko ./. UKR, Nr. 40464/05, Rn. 79; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 62; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 465; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 410. 133 EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 77; EGMR, 15.10. 2009, Prezec ./. CRO, Nr. 48185/07, Rn. 26; EGMR, 20.10.2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 100 = NJOZ 2017, 514 (517). 134 EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00 Rn. 47; EGMR, 15.10.2009, Prezec ./. CRO, Nr. 48185/07, Rn. 26; EGMR, 22.10.2009, Raykov ./. BUL, Nr. 35185/ 03, Rn. 63. 135 Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 410.
E. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu verzichten
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sieht – ab, kann dies nicht als Verzicht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gewertet werden.136 Ferner stellt allein der Umstand, dass es der Beschuldigte unterlässt, einen staatlich bestellten Verteidiger zu fordern, keinen Verzicht auf das Recht auf Verteidigerbeistand dar.137 Schließlich liegt auch kein Verzicht vor, wenn der Beschuldigte, nachdem er um Rechtsbeistand ersucht hat, auf weitere polizeilich veranlasste Fragen antwortet, selbst wenn er ordnungsgemäß belehrt wurde.138 Hat der Beschuldigte zunächst wirksam auf den Beistand eines Verteidigers verzichtet, ist dieser Verzicht nicht mehr gültig, wenn er später ausdrücklich Zugang zu einem Verteidiger begehrt.139 Der Beschuldigte kann nicht stets zugunsten des Rechts auf Selbstverteidigung auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand verzichten. Eine gesetzliche Regelung, die normiert, dass ein Beschuldigter in einem Strafverfahren von einem Verteidiger verteidigt werden muss, ist nicht per se unvereinbar mit der Konvention.140 Nach ständiger Rechtsprechung garantiert Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c EMRK, dass das Verfahren gegen den Beschuldigten nicht ohne angemessene Vertretung für die Verteidigung stattfindet, gibt dem Beschuldigten aber nicht zwingend das Recht, selbst zu entscheiden, wie seine Verteidigung sichergestellt werden soll.141 Welche der beiden Alternativen – das Recht des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen oder sich von einem Verteidiger seiner Wahl oder unter bestimmten Umständen von einem gerichtlich bestellten Verteidiger verteidigen zu lassen – anzuwenden ist, hängt von den anwendbaren Rechtsvorschriften oder der Verfahrensordnung des Gerichts ab.142 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte räumt den Konventionsstaaten hinsichtlich der Frage, ob es einem Beschuldigten gestattet wird, sich ohne Beistand eines Verteidigers selbst zu verteidigen, oder ob ihm ein Verteidiger bestellt wird, einen Ermessenspielraum ein, da diese besser als der Gerichtshof in der Lage sind, die angemessenen Mittel zu wählen, mit denen in ihrem Rechtssystem das Recht auf Verteidigung garantiert wird.143 Die notwendige Verteidigung ist eine Maßnahme, die im Interesse des 136 EGMR, 02.11.2010, Sakhnovskiy ./. RUS, Nr. 21272/03, Rn. 91; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 736. 137 Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 410. 138 EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 79. 139 EGMR, 16.02.2017, Artur Parkhomenko ./. UKR, Nr. 40464/05, Rn. 81. 140 EGMR, 14.01.2003, Lagerblom ./. SWE, Nr. 26891/95, Rn. 50; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 411; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 723. 141 EGMR, 20.01.2005, Mayzit ./. RUS, Nr. 63378/00, Rn. 65; EGMR, 21.07.2011, Breukhoven ./. CZE, Nr. 44438/06, Rn. 60; EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 122 = NJW 2019, 3627 (3629). 142 EGMR, 20.01.2005, Mayzit ./. RUS, Nr. 63378/00, Rn. 65; EGMR, 21.07.2011, Breukhoven ./. CZE, Nr. 44438/06, Rn. 60; EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 122 = NJW 2019, 3627 (3629). 143 EGMR, 03.07.2012, X. ./. FIN, Nr. 34806/04, Rn. 182; EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 123 = NJW 2019, 3627 (3629).
46 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Beschuldigten getroffen wird und die angemessene Verteidigung seiner Interessen im Strafverfahren sicherstellen soll.144 Die nationalen Gerichte sind daher berechtigt zu prüfen, ob das Interesse der Rechtspflege die zwingende Bestellung eines Verteidigers erfordert.145 Der den Konventionsstaaten eingeräumte Ermessenspielraum ist allerdings begrenzt.146 Es müssen zum einen relevante und ausreichende Gründe für die gesetzgeberische Entscheidung bestehen und wenn dies der Fall ist, muss zum anderen bei der Gesamtbeurteilung der Fairness des Strafverfahrens geprüft werden, ob die nationalen Gerichte bei der Anwendung des Gesetzes ebenfalls relevante und ausreichende Gründe für ihre Entscheidungen angegeben haben.147 Im Rahmen der Beurteilung der Gesamtfairness ist unter anderem von Bedeutung, ob es dem Beschuldigten ermöglicht wurde, sich effektiv am Verfahren zu beteiligen;148 etwa durch die Möglichkeit an den Verhandlungen teilzunehmen und einzuschreiten sowie seine Sicht der Dinge dem Gericht zu schildern.149
F. Der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung Ab welchem Zeitpunkt im Strafverfahren dem mittellosen Beschuldigten unentgeltlicher Verteidigerbeistand zu gewähren ist, hängt zunächst maßgeblich davon ab, ob Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK bereits im Ermittlungsverfahren Anwendung findet. Des Weiteren ist für den Zeitpunkt der Verteidigerbestellung relevant, ob das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand im Ermittlungsverfahren eingeschränkt werden kann. Bisher existieren keine Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die sich mit der Verweigerung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand auseinandersetzen.150 Die in den Urteilen zur Einschränkung des Rechts auf Verteidigerbeistand aufgestellten Maßstäbe lassen sich jedoch ohne Weiteres auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand übertragen, vor allem weil der mittellose Beschuldigte von seinem Recht auf Verteidigerbeistand nur durch die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand Gebrauch machen kann.151 144 EGMR, 03.07.2012, X. ./. FIN, Nr. 34806/04, Rn. 182; EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 124 = NJW 2019, 3627 (3629). 145 EGMR, 03.07.2012, X. ./. FIN, Nr. 34806/04, Rn. 182; EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 124 = NJW 2019, 3627 (3629). 146 EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 125 = NJW 2019, 3627 (3629). 147 EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 143 = NJW 2019, 3627 (3631). 148 EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 143 = NJW 2019, 3627 (3631). 149 EGMR, 04.04.2018, Correia de Matos ./. POR, Nr. 56402/12, Rn. 163; vgl. auch EGMR, 08.02.2000, Voisine ./. FRA, Nr. 27362/95, Rn. 25–34. 150 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 122. 151 So auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 122–123.
F. Der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung
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I. Die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand im Ermittlungsverfahren Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Art. 6 EMRK, sofern Strafsachen betroffen sind, in erster Linie ein faires Verfahren vor einem Gericht garantiert, das über eine Anklage entscheidet.152 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Vorschrift nicht auch im Ermittlungsverfahren gilt.153 Die Gewährleistungen des Art. 6 EMRK – insbesondere die in Art. 6 Abs. 3 EMRK genannten Rechte – können bereits im Ermittlungsverfahren von Bedeutung sein, wenn und soweit durch eine anfängliche Nichtbeachtung dieser Grundsätze die Fairness des weiteren Verfahrens ernsthaft in Frage gestellt wird.154 Allerdings hängt die Art und Weise, wie Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK im Ermittlungsverfahren Anwendung findet, von den Besonderheiten des Verfahrens und den Umständen des Einzelfalles ab.155 Normalerweise verlangt Art. 6 EMRK, dass der Beschuldigte bereits zu Beginn der ersten polizeilichen Vernehmung den Beistand eines Verteidigers in Anspruch nehmen
152 EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 36 = ÖJZ 1994, 517; EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, 36391/02, Rn. 50 = NJW 2009, 3707; EGMR, 11.12.2008, Panovits ./. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 64; EGMR, 19.02.2009, Shabelnik ./. UKR, Nr. 16404/03, Rn. 52; EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 65; EGMR, 20.04.2010 Laska u. Lika ./. ALB, Nr. 12315/04 u. a., Rn. 62; EGMR, 20.10.2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 76 = NJOZ 2017, 514 (515). 153 EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 36 = ÖJZ 1994, 517; EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, 36391/02, Rn. 50 = NJW 2009, 3707; EGMR, 11.12.2008, Panovits ./. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 64; EGMR, 19.02.2009, Shabelnik ./. UKR, Nr. 16404/03, Rn. 52; EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 65; EGMR, 20.04.2010 Laska u. Lika ./. ALB, Nr. 12315/04 u. a., Rn. 62; EGMR, 20.10.2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 76 = NJOZ 2017, 514 (515). 154 EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 36 = ÖJZ 1994, 517 (517–518); EGMR, 08.02.1996, John Murray ./. GBR, Nr. 18731/91, Rn. 62 = EuGRZ 1996, 587 (592); EGMR, 12.05.2005, Öcalan ./. TUR, Nr. 46221/99, Rn. 131; EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 50 = NJW 2009, 3707 (3707–3708); EGMR, 11.12.2008, Panovits ./. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 64; EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 65; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 171; EGMR, 20.10.2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 76 = NJOZ 2017, 514 (515); EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 253 = NJOZ 2018, 508 (510); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/ 04, Rn. 114; Ambos, ZStW 115 (2003), 583 (611); MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 188; Wohlers, in: FS-Rudolphi, S. 713 (729). 155 EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 08.02.1996, John Murray ./. GBR, Nr. 18731/91, Rn. 62 = EuGRZ 1996, 587 (592); EGMR, 12.05.2005, Öcalan ./. TUR, Nr. 46221/99, Rn. 131; EGMR, 11.12. 2008, Panovits ./. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 64; EGMR, 19.02.2009, Shabelnik ./. UKR, Nr. 16404/03, Rn. 52; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 171; EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 253 = NJOZ 2018, 508 (510).
48 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
kann.156 Dies ergibt sich bereits daraus, dass der unverzügliche Zugang zu einem Verteidiger die besondere Verletzlichkeit des in Polizeigewahrsam befindlichen Beschuldigten ausgleichen, zur Vermeidung von Fehlurteilen beitragen und vor Zwang und Misshandlung von Beschuldigten durch die Polizei schützen kann, sowie Waffengleichheit zwischen den Strafverfolgungsbehörden und dem Beschuldigten herstellt.157 Darüber hinaus trägt Verteidigerbeistand dazu bei, dass das Recht des Beschuldigten, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, gewahrt wird.158 Der Beschuldigte hat nicht nur ein Recht darauf, dass er vor der ersten polizeilichen Vernehmung Verteidigerbeistand beanspruchen kann, sondern auch darauf, dass der Verteidiger während der ersten polizeilichen Vernehmung und späteren Befragungen im Ermittlungsverfahren anwesend ist.159 Das Recht auf Verteidigerbeistand erstreckt sich auch auf andere Ermittlungshandlungen wie beispielsweise Gegenüberstellungen160 oder Rekonstruktionen des Tatherganges.161 Ferner gilt es für Ermittlungshandlungen gegen den Beschuldigten, die keine förmliche Vernehmung darstellen und die außerhalb von polizeilichem Gewahrsam stattfinden, sofern diese mit einer erheblichen Einschränkung der Fortbewegungs- und Handlungsfreiheit einhergehen, die mit der einer Vernehmung oder Verhaftung vergleichbar sind.162
156 EGMR, 08.02.1996 John Murray ./. GBR, Nr. 18731/91, Rn. 63 = EuGRZ 1996, 587 (592); EGMR, 12.05.2005, Öcalan ./. TUR, Nr. 46221/99, Rn. 131; EGMR, 27.11. 2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 52 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 11.12. 2008, Panovits ./. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 66; EGMR, 18.02.2010, Aleksandr Zaichenko ./. RUS, Nr. 39660/02, Rn. 37; EGMR, 14.10.2010, Brusco ./. FRA, Nr. 1466/07, Rn. 54; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 171; MK/ StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 189; Karpenstein/Mayer-Meyer, Art. 6 Rn. 207. 157 EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 53–54 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 68; EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 255 = NJOZ 2018, 508 (510); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 112. 158 EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 54 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 69; SK/StPOMeyer, Art. 6 EMRK Rn. 438. 159 EGMR, 11.12.2008, Panovits ./. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 66–67; EGMR, 02.03. 2010, Adamkiewicz ./. POL, Nr. 54729/00 Rn. 87–88; EGMR, 14.10.2010, Brusco ./. FRA, Nr. 1466/07, Rn. 54; EGMR, 28.06.2011, ebalj ./. CRO, Nr. 4429/09, Rn. 254– 257; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 134 = NJW 2019, 1999 (2002); noch offen gelassen in der Entscheidung EGMR, 08.02.1996, John Murray ./. GBR, Nr. 18731/91, Rn. 69 = EuGRZ 1996, 587 (592); Esser/Gaede/Tsambikakis, NStZ 2011, 140 (146); MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 189; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 438. 160 EGMR, 20.04.2010, Laska u. Lika ./. ALB, Nr. 12315/04 u. a., Rn. 67. 161 EGMR, 08.12.2009, Savas ¸ ./. TUR, Nr. 9762/03, Rn. 67; EGMR, 29.06.2010, Karadag˘ ./. TUR, Nr. 12976/05, Rn. 47; EGMR, 28.04.2015, Doðru ./. TUR, Nr. 36001/06, Rn. 84. 162 EGMR, 18.02.2010, Aleksandr Zaichenko ./. RUS, Nr. 39660/02, Rn. 47–48; SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 439.
F. Der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung
49
II. Die Beschränkbarkeit des Zugangs zu unentgeltlichem Verteidigerbeistand Obwohl das Recht des Beschuldigten, sich wirksam von einem Verteidiger verteidigen zu lassen, der erforderlichenfalls von Amts wegen bestellt wird, ein wesentliches Element eines fairen Verfahrens ist, wird es nicht absolut gewährleistet.163 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht davon aus, dass das Recht auf Verteidigerbeistand aus zwingenden Gründen („compelling reasons“) eingeschränkt werden kann, solange dadurch nicht unangemessen in die Rechte des Beschuldigten aus Art. 6 EMRK eingegriffen wird.164 Ob eine Einschränkung des Rechts auf Verteidigerbeistand mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist, ermittelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer zweistufigen Prüfung.165 In einem ersten Schritt ist zu ermitteln, ob zwingende Gründe für die Einschränkung des Rechts auf Verteidigerbeistand vorliegen.166 Einschränkungen des Rechts auf Verteidigerbeistand sind nur ausnahmsweise und nur vorübergehend zulässig und müssen auf eine individuelle Prüfung der besonderen Umstände des Falls gestützt sein.167 Zusätzlich ist von Bedeutung, ob es für die Einschränkung des Rechts auf Verteidigerbeistand eine einfachgesetzliche Grundlage im innerstaatlichen Recht gibt und ob Reichweite und Inhalt der Einschränkung hinreichend umschrieben sind, um die operativen Entscheidungen der für die Anwendung Verantwortlichen zu leiten.168 Als zwingen163 EGMR, 23.11.1993, Poitrimol ./. FRA, Nr. 14032/88, Rn. 34 = ÖJZ 1994, 467 (468); EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 51 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 66; EGMR, 10.04.2012, Gabrielyan ./. ARM, Nr. 8088/05, Rn. 64. 164 EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 55 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 256 = NJOZ 2018, 508 (510); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 116; in früheren Entscheidungen ging der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch davon aus, dass das Recht auf Verteidigerbeistand bereits beim Vorliegen von triftigen Gründen („good causes“ beziehungsweise „pour raisons valables“) eingeschränkt werden könne, vgl. EGMR, 08.02.1996, John Murray ./. GBR, Nr. 18731/91, Rn. 63 = EuGRZ 1996, 587 (592); EGMR, 06.06.2000, Magee ./. GBR, Nr. 28135/95, Rn. 41; EGMR, 12.05.2005, Öcalan ./. TUR, Nr. 46221/99, Rn. 131; vgl. hierzu auch SK/StPOMeyer, Art. 6 EMRK Rn. 441. 165 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 257 = NJOZ 2018, 508 (510); EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 141 = NJW 2019, 1999 (2002). 166 EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 55 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 257 = NJOZ 2018, 508 (510); EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 139 = NJW 2019, 1999 (2002). 167 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 258 = NJOZ 2018, 508 (510); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 117; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 142 = NJW 2019, 1999 (2002). 168 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 258 = NJOZ 2018, 508 (510–511); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 117.
50 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
den Grund sieht es der Gerichtshof an, schwerwiegende nachteilige Folgen für das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person abzuwenden.169 Auch die Gefahr eines kollusiven oder missbräuchlichen Zusammenwirkens zwischen dem Beschuldigten und einem Verteidiger kann einen solch zwingenden Grund darstellen, jedoch reicht hierfür nicht die bloße Möglichkeit aus, sondern es bedarf vielmehr konkreter Anhaltspunkte.170 Hieran schließt sich in einem zweiten Schritt die Prüfung an, ob das Verfahren trotz der Einschränkungen des Rechts auf Verteidigerbeistand insgesamt fair war.171 Die Prüfung der Verfahrensfairness hat unabhängig davon zu erfolgen, ob zwingende Gründe für eine Einschränkung des Rechts auf Verteidigerbeistand vorliegen oder nicht.172 Allein das Fehlen zwingender Gründe reicht nicht für die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c EMRK aus.173 Allerdings kommt dem Fehlen wichtiger Gründe eine Indizwirkung zu.174 In diesem Fall obliegt dem Staat die Beweislast dafür, dass das Verfahren trotz der Einschränkungen fair war.175 Der Europäische Gerichtshof hat einen nicht abschließenden Kriterienkatalog aufgestellt, um die Folgen eines Fehlers im Ermittlungsverfahren für die Fairness des Strafverfahrens insgesamt zu beurteilen.176 Dabei kann auch erst durch eine Kombination mehrerer Kriterien die Gesamtfairness beeinträchtigt sein.177 Unter anderem sind folgende Kriterien zu berücksichtigen: • die besondere Verletzlichkeit des Beschuldigten, zum Beispiel aufgrund seines Alters oder seiner geistigen Fähigkeiten; 169 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 259 = NJOZ 2018, 508 (511); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 117; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 143 = NJW 2019, 1999 (2003). 170 EGMR, 28.11.1991, S. ./. SUI, Nr. 12629/87 u. a., Rn. 48–51 = NJW 1992, 3090; EGMR, 31.01.2002, Lanz ./. AUT, Nr. 24430/94, Rn. 50–52 = ÖJZ 2002, 433 (435); SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 442. 171 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 257 = NJOZ 2018, 508 (510); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 118; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 144 = NJW 2019, 1999 (2003). 172 EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 144 = NJW 2019, 1999 (2003). 173 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 260–262 = NJOZ 2018, 508 (511); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 118; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 144 = NJW 2019, 1999 (2003). 174 Jahn, JuS 2017, 177 (178); Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 56. 175 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 265 = NJOZ 2018, 508 (511); EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10 Rn. 145 = NJW 2019, 1999 (2003); Castorf, HRRS 2017, 169 (171–172); SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 441. 176 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 274 = NJOZ 2018, 508 (512). 177 EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10 Rn. 194 = NJW 2019, 1999 (2005).
F. Der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung
51
• die Einhaltung der Vorschriften über das Ermittlungsverfahren und die Zulässigkeit von Beweisen im Gerichtsverfahren; wurde eine Ausschlussvorschrift angewendet, ist es besonders unwahrscheinlich, dass das gesamte Verfahren als unfair angesehen wird; • die Möglichkeit des Beschuldigten, die Echtheit des Beweismittels anzugreifen und dessen Verwertung zu widersprechen; • die Qualität des Beweismittels und ob die Umstände, unter denen es erlangt wurde, – wobei Art und Ausmaß des ausgeübten Zwangs zu berücksichtigen sind – Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit oder Genauigkeit aufkommen lassen; • die Art des Rechtsverstoßes, wenn Beweismittel rechtswidrig erlangt wurden, und die Art der festgestellten Verletzung, wenn ein anderer Artikel der Konvention verletzt ist; • die Art der Einlassung und ob sie unverzüglich zurückgenommen oder geändert wurde; • die Verwendung des fraglichen Beweises und insbesondere, ob er wesentlicher oder bedeutender Teil der Beweise war, auf denen die Verurteilung beruhte, sowie die Überzeugungskraft der anderen Beweise; • ob Berufsrichter oder ehrenamtliche Richter über die Schuld entschieden haben; im letzteren Fall ist auch von Bedeutung, welche Hinweise ihnen gegeben wurden; • das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung der Straftat; • die Existenz anderer relevanter Verfahrensgarantien im nationalen Recht oder in der Praxis.178 Entscheidend ist mithin, ob der Verfahrensverstoß in einem kausalen Zusammenhang zur Verurteilung des Beschuldigten steht.179 Bezogen auf das Recht auf (unentgeltlichen) Verteidigerbeistand bedeutet dies, dass die Verurteilung nicht auf eine belastende Aussage gestützt werden darf, die der Beschuldigte während einer Vernehmung ohne Beistand eines Verteidigers getätigt hat.180 Wurde dem 178 EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 274 = NJOZ 2018, 508 (512–513); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 120; EGMR, 5.10.2017, Kaleja ./. LAT, Nr. 22059/08, Rn. 66; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10 Rn. 150 = NJW 2019, 1999 (2003); Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 123–124; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 593. 179 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 124. 180 EGMR, 06.06.2000, Magee ./. GBR, Nr. 28135/95, Rn. 42–46; EGMR, 27.11. 2008, Salduz ./. TUR, Nr. 36391/02, Rn. 55 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 03.02.2009, Cimen ./. TUR, Nr. 19582/02, Rn. 26–27; EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 85–90; EGMR, 18.02.2010, Aleksandr Zaichenko ./. RUS, Nr. 39660/02, Rn. 37; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 172–173.
52 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Beschuldigten Verteidigerbeistand zunächst zu Unrecht verwehrt, erfolgt das Geständnis aber erst zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem der Beschuldigte einen Verteidiger hat, so fehlt es an einer kausalen Verbindung zwischen der Verletzung des Rechts auf Verteidigerbeistand und der Verurteilung des Beschuldigten, sodass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK zu verneinen ist.181 Der Gerichtshof bejaht jedoch auch bei fehlender Kausalität – etwa, weil der Beschuldigte geschwiegen hat – eine Verletzung des Rechts auf Verteidigerbeistand, wenn im nationalen Recht keine Regelung bezüglich der Gewährung von Rechtsbeistand während des Polizeigewahrsams existiert, sodass es sich um eine systematische Beschränkung handelt.182
G. Die Auswahl und Bestellung des Verteidigers Die Europäische Kommission für Menschenrechte vertrat noch die Auffassung, dass der Beschuldigte im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand weder das Recht habe, einen Verteidiger zu wählen, noch einen Anspruch darauf habe, vor der Bestellung eines Verteidigers angehört zu werden.183 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte legt Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK dagegen dahingehend aus, dass der Beschuldigte grundsätzlich berechtigt ist, sich von einem Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen.184 Jedoch sei dieses Recht – ungeachtet der Bedeutung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Beschuldigtem – nicht absolut gewährleistet, sondern könne, wenn es sich um unentgeltlichen Rechtsbeistand handelt, bestimmten Einschränkungen unterworfen sein.185 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen die nationalen Behörden oder Gerichte bei der Bestellung eines Verteidigers die diesbezüglichen Wünsche des Beschuldigten berücksichtigen, können sich allerdings darüber hinwegsetzen, wenn dies aufgrund 181 EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 140; EGMR, 05.10. 2017, Kaleja ./. LAT, Nr. 22059/08, Rn. 67–68. 182 EGMR, 13.10.2009, Dayanan ./. TUR, Nr. 7377/03, Rn. 33; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 171; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 125. 183 EKMR, 06.07.1976, X ./. GER, Nr. 6946/75; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 563; Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 276. 184 EGMR, 25.09.1992, Croissant ./. GER, Nr. 13611/88, Rn. 29 = EuGRZ 1992, 542 (546); EGMR, 14.01.2003, Lagerblom ./. SWE, Nr. 26891/95, Rn. 54; EGMR, 13.07.2006, Popov ./. RUS, Nr. 26853/04, Rn. 171; vgl. aber auch EGMR, 21.11.2000, Franquesa Freixas ./. ESP, Nr. 53590/99, Rn. 1. 185 EGMR, 25.09.1992, Croissant ./. GER, Nr. 13611/88, Rn. 29 = EuGRZ 1992, 542 (546); EGMR, 14.01.2003, Lagerblom ./. SWE, Nr. 26891/95, Rn. 54; EGMR, 20.01.2005, Mayzit ./. RUS, Nr. 63378/00, Rn. 66; EGMR, 21.07.2011, Breukhoven ./. CZE, Nr. 44438/06, Rn. 60; EGMR, 06.10.2015, Karpyuk u. a. ./. UKR, Nr. 30582/04 u. a., Rn. 144; EGMR, 20.10.2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 79 = NJOZ 2017, 514 (515); kritisch Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 494.
G. Auswahl und Bestellung des Verteidigers
53
wichtiger und ausreichender Gründe („relevant and sufficient grounds“) im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.186 Ein Übergehen der Wünsche des Beschuldigten ist etwa zulässig, wenn der benannte Verteidiger keine Gewähr für eine effektive Verteidigung bietet.187 Ferner kann sich über die Wünsche des Beschuldigten hinweggesetzt werden, wenn der von ihm bezeichnete Verteidiger im konkreten Fall wegen eines Interessenskonflikts oder aufgrund einer vorherigen Beteiligung an der Angelegenheit nicht vertrauenswürdig erscheint.188 Schließlich kann auch der Aspekt der Verfahrensbeschleunigung ein wichtiger und ausreichender Grund sein, dem Beschuldigten einen anderen Verteidiger als den gewünschten zu bestellen.189 Durch die Bestellung eines Verteidigers darf jedoch in keinem Fall die Verteidigung des Beschuldigten nachteilig beeinflusst werden.190 Ferner muss der dem Beschuldigten im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand bestellte Verteidiger vom Staat unabhängig sein.191 Als Verteidiger kann nach der französischen Sprachfassung lediglich ein „avocat“, also ein Rechtsanwalt, bestellt werden. Der englische Vertragstext spricht dagegen von „legal assistance“ (Rechtsbeistand) und ist damit deutlich weiter formuliert.192 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte legt den Begriff des Verteidigers im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK autonom aus193 und gibt der englischen Sprachfassung den Vorzug.194 Damit können im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nicht nur Rechtsanwälte, son186 EGMR, 25.09.1992, Croissant ./. GER, Nr. 13611/88, Rn. 29 = EuGRZ 1992, 542 (546); EGMR, 14.01.2003, Lagerblom ./. SWE, Nr. 26891/95 Rn. 54; EGMR, 20.01.2005, Mayzit ./. RUS, Nr. 63378/00, Rn. 66; EGMR, 25.03.2008, Vitan ./. ROU, Nr. 42084/02, Rn. 59; EGMR, 21.07.2011, Breukhoven ./. CZE, Nr. 44438/06, Rn. 60; EGMR, 06.10.2015, Karpyuk u. a. ./. UKR, Nr. 30582/04 u. a., Rn. 144; EGMR, 20.10.2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 79 = NJOZ 2017, 514 (515–516); kritisch Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 495; ebenfalls kritisch MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 217. 187 EGMR, 20.01.2005, Mayzit ./. RUS, Nr. 63378/00, Rn. 68; EGMR, 13.07.2006, Popov ./. RUS, Nr. 26853/04, Rn. 171–174; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 121. 188 Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 277. 189 EGMR, 06.10.2015, Karpyuk u. a. ./. UKR, Nr. 30582/04 u. a., Rn. 144; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 121; SK/StPO4-Paeffgen, Art. 6 EMRK Rn. 153b; Kritisch SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 419. 190 EGMR, 25.09.1992, Croissant ./. GER, Nr. 13611/88, Rn. 31 = EuGRZ 1992, 542 (546); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 495. 191 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 271; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 565; vgl. hierzu auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 132–134; 192 EKMR, 14.12.1959, X. ./. GER, Nr. 509/59, YB 1960, 174 (182); Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 130; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 82. 193 Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 255; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 589. 194 EKMR, 14.12.1959, X. ./. GER, Nr. 509/59, YB 1960, 174 (180, 182); Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 130.
54 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
dern auch Rechtsanwaltsanwärter oder Referendare zum Verteidiger bestellt werden.195 Der Beschuldigte hat keinen Anspruch darauf, dass ihm ein auf das Strafrecht spezialisierter Rechtsanwalt als Verteidiger bestellt wird.196 Dass dem Beschuldigten – wenn er keinen Verteidiger benennt oder sein Bestellungswunsch aufgrund wichtiger und ausreichender Gründe übergangen wird – ein Rechtsanwaltsanwärter oder ein Referendar zum Verteidiger bestellt werden kann und ein bestellter Rechtsanwalt nicht auf das Strafrecht spezialisiert sein muss, ist mit Blick auf den Sinn und Zweck der Vorschrift, dem Beschuldigten eine effektive Verteidigung zu gewährleisten, kritisch zu sehen. Da ein bemittelter Beschuldigter zumindest einen Rechtsanwalt – wenn nicht sogar einen auf das Strafrecht spezialisierten Verteidiger – mandatieren wird, muss zudem bezweifelt werden, dass dem mittellosen Beschuldigten durch diese Rechtsprechung eine der Wahlverteidigung gleichwertige Verteidigung garantiert wird.197 Auch wenn die im französischen Konventionstext verwendeten Formulierungen „un avocat d’office“ und „un défenseur“ darauf hindeuten, dass dem Beschuldigten lediglich ein einzelner Verteidiger zu bestellen sei, lässt sich aus dem Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung ableiten, dass gerade in komplexeren Verfahren dem Beschuldigten auch mehrere Verteidiger beigeordnet werden können.198 Für die Auswahl und Bestellung des unentgeltlichen Verteidigerbeistands sind die nationalen Behörden oder Gerichte zuständig.199
H. Die Dauer der Verteidigerbestellung Der Beschuldigte hat, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand vorliegen, zumindest für das erstinstanzliche Strafverfahren einen Anspruch auf die Bestellung eines Verteidigers.200 Wurde dem Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren unentgeltlicher Ver195 EKMR, 14.12.1959, X. ./. GER, Nr. 509/59, YB 1960, 174 (180, 182); EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 39 = EuGRZ 1985, 477 (482– 483); Gaede, Fairness als Teilhabe, S. 255; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, Art. 6 Rn. 205; Peukert, EuGRZ 1980, 247 (266). 196 EKMR, 12.12.1962, X. ./. GER, Nr. 1574/62, unveröffentlicht, zitiert nach Partsch, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Band 1, Halbband 1, S. 235 (399); EGMR, 21.11.2000, Franquesa Freixas ./. ESP, Nr. 53590/99, Rn. 1; Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, Art. 6 Rn. 205; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 564; Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 60. 197 So auch Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 83. 198 Trechsel, Human Rights in Criminal Proceedings, S. 271; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 565. 199 Frowein/Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 304; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 442. 200 SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 431.
I. Auswechslung des Verteidigers
55
teidigerbeistand gewährt, gilt die Verteidigerbestellung für das erstinstanzliche Verfahren fort. Die Art und Weise, wie Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c EMRK im Rechtsmittelverfahren Anwendung finden, hängt von den Besonderheiten des betreffenden Verfahrens ab.201 Dabei ist sowohl die Gesamtheit des durchgeführten Verfahrens in der innerstaatlichen Rechtsordnung als auch die Rolle des Rechtsmittelgerichts darin zu berücksichtigen.202 In der Regel wird dem Beschuldigten auch im Rechtsmittelverfahren ein Verteidiger zu bestellen sein. Dagegen hat der Beschuldigte in einem sich an das Strafverfahren anschließenden Vollstreckungsverfahren keinen Anspruch mehr auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand, da dieses mit der rechtskräftigen Beendigung des Strafverfahrens nicht mehr im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK liegt.203
I. Die Auswechslung des Verteidigers Die Verteidigung, die der mittellose Beschuldigte im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand erhält, muss konkret und wirksam sein204 und in qualitativer Hinsicht prinzipiell der Verteidigung durch einen Wahlverteidiger entsprechen.205 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die bloße Bestellung eines Verteidigers nicht den Anforderungen des Rechts auf effektive Verteidigung genügt, da Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht von Bestellung, sondern von Beistand spricht.206 201 EGMR, 02.03.1987, Monnell u. Morris ./. GBR, Nr. 9562/81 u. a., Rn. 56; EGMR, 28.03.1990, Granger ./. GBR, Nr. 11932/86, Rn. 44; EGMR, 28.10.1994, Boner ./. GBR, Nr. 18711/91, Rn. 37 = ÖJZ 1995, 273; EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 46 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 26.07.2002, Meftah u. a. ./. FRA, Nr. 32911/96, Rn. 41; EGMR, 26.03.2015, Volkov u. Adamskiy ./. RUS, Nr. 7614/09 u. a., Rn. 52. 202 EGMR, 02.03.1987, Monnell u. Morris ./. GBR, Nr. 9562/81 u. a., Rn. 56; EGMR, 28.03.1990, Granger ./. GBR, Nr. 11932/86, Rn. 44; EGMR, 28.10.1994, Boner ./. GBR, Nr. 18711/91, Rn. 37 = ÖJZ 1995, 273; EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 46 = ÖJZ 1999, 390 (391); EGMR, 26.07.2002, Meftah u. a. ./. FRA, Nr. 32911/96, Rn. 41; EGMR, 26.03.2015, Volkov u. Adamskiy ./. RUS, Nr. 7614/09 u. a., Rn. 52. 203 SK/StPO-Meyer, Art. 6 EMRK Rn. 69. 204 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 33 = EuGRZ 1980, 662 (664); EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 09.04.2015, Vamvakas ./. GRE (Nr. 2), Nr. 2870/11, Rn. 36. 205 MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 214. 206 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 33 = EuGRZ 1980, 662 (664); EGMR, 19.12.1989, Kamasinski ./. AUT, Nr. 9783/82, Rn. 65 = ÖJZ 1990, 412 (414); EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 21.04.1998, Daud ./. POR, Nr. 22600/93, Rn. 38 = ÖJZ 1999, 198 (199); EGMR, 10.10.2002, Czekalla ./. POR, Nr. 38830/97, Rn. 60 = NJW 2003, 1229 (1230); EGMR, 01.03.2006, Sejdovic ./. ITA, Nr. 56581/00, Rn. 94; EGMR, 22.03. 2007, Staroszczyk ./. POL, Nr. 59519/00, Rn. 122 = NJW 2008, 2317 (2318); EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 180; EGMR, 22.11.2011, Andreyev ./. EST, Nr. 48132/07, Rn. 65; EGMR, 10.04.2012, Gabrielyan ./. ARM,
56 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Andererseits betont der Gerichtshof, dass der Staat nicht für jedes Versäumnis eines im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand bestellten Verteidigers verantwortlich gemacht werden kann.207 Aus der Unabhängigkeit der Anwaltschaft gegenüber dem Staat folgt, dass die Führung der Verteidigung primär eine Angelegenheit zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger ist, unabhängig davon, ob der Anwalt im Wege des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand beigeordnet oder privat finanziert wird.208 Die innerstaatlichen Behörden sind gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nur dann zum Eingreifen verpflichtet, wenn ein Versäumnis des bestellten Verteidigers, eine wirksame Verteidigung zu gewährleisten, offenkundig ist oder ihnen dies auf andere Weise substantiiert zur Kenntnis gebracht wird.209 Dieses Kriterium ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Beschuldigte Unzulänglichkeiten in seiner Verteidigung nicht rügt.210 Nur wenn die Verteidigungsmängel für die Behörden anders nicht erkennbar sind, muss der Beschuldigte diese darauf hinweisen, damit sie zum Eingreifen verpflichtet sind.211 Informiert der Beschuldigte die Behörden über Unzulänglichkeiten in der Verteidigung, können diese ein Untätigbleiben Nr. 8088/05, Rn. 65; EGMR, 09.04.2015, Vamvakas ./. GRE (Nr. 2), Nr. 2870/11, Rn. 36. 207 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 36; EGMR, 19.12.1989, Kamasinski ./. AUT, Nr. 9783/82, Rn. 65 = ÖJZ 1990, 412 (414); EGMR, 21.04.1998, Daud ./. POR, Nr. 22600/93, Rn. 38 = ÖJZ 1999, 198 (199); EGMR, 10.10.2002, Czekalla ./. POR, Nr. 38830/97, Rn. 60 = NJW 2003, 1229 (1230); EGMR, 01.03.2006, Sejdovic ./. ITA, Nr. 56581/00, Rn. 95; EGMR, 26.04.2007, Kemal Kahraman u. Ali Kahraman ./. TUR, Nr. 42104/02, Rn. 35; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 180; EGMR, 09.04.2015, Vamvakas ./. GRE (Nr. 2), Nr. 2870/ 11, Rn. 36. 208 EGMR, 19.12.1989, Kamasinski ./. AUT, Nr. 9783/82, Rn. 65 = ÖJZ 1990, 412 (414); EGMR, 21.04.1998, Daud ./. POR, Nr. 22600/93, Rn. 38 = ÖJZ 1999, 198 (199); EGMR, 10.10.2002, Czekalla ./. POR, Nr. 38830/97, Rn. 60 = NJW 2003, 1229 (1230); EGMR, 01.03.2006, Sejdovic ./. ITA, Nr. 56581/00, Rn. 95; EGMR, 27.04. 2006, Sannino ./. ITA, Nr. 30961/03, Rn. 49; EGMR, 22.03.2007, Staroszczyk ./. POL, Nr. 59519/00, Rn. 121 = NJW 2008, 2317 (2318); EGMR, 26.04.2007, Kemal Kahraman u. Ali Kahraman ./. TUR, Nr. 42104/02, Rn. 35; EGMR, 22.11.2011, Andreyev ./. EST, Nr. 48132/07, Rn. 65; EGMR, 09.04.2015, Vamvakas ./. GRE (Nr. 2), Nr. 2870/ 11, Rn. 36. 209 EGMR, 19.12.1989, Kamasinski ./. AUT, Nr. 9783/82, Rn. 65 = ÖJZ 1990, 412 (414); EGMR, 21.04.1998, Daud ./. POR, Nr. 22600/93, Rn. 38 = ÖJZ 1999, 198 (199); EGMR, 10.10.2002, Czekalla ./. POR, Nr. 38830/97, Rn. 60 = NJW 2003, 1229 (1230); EGMR, 01.03.2006, Sejdovic ./. ITA, Nr. 56581/00, Rn. 95; EGMR, 27.04.2006, Sannino ./. ITA, Nr. 30961/03, Rn. 49; EGMR, 26.04.2007, Kemal Kahraman u. Ali Kahraman ./. TUR, Nr. 42104/02, Rn. 35; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 180; EGMR, 09.04.2015, Vamvakas ./. GRE (Nr. 2), Nr. 2870/11, Rn. 36. 210 EGMR, 10.10.2002, Czekalla ./. POR, Nr. 38830/97, Rn. 67–68 = NJW 2003, 1229 (1230); EGMR, 27.04.2006, Sannino ./. ITA, Nr. 30961/03, Rn. 51; Demko, HRRS 2006, 250 (256–257); LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 750. 211 EGMR, 10.04.2012, Gabrielyan ./. ARM, Nr. 8088/05, Rn. 67; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 71.
I. Auswechslung des Verteidigers
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nicht damit rechtfertigen, dass die Mitteilung nicht in der Gerichtssprache erfolgte.212 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat beispielsweise bei einer längeren Abwesenheit oder einer schweren Erkrankung des Verteidigers sowie dessen Tod eine Pflicht der staatlichen Behörden zum Einschreiten bejaht.213 Entzieht sich ein Verteidiger seinen Pflichten oder bleibt untätig, müssen die innerstaatlichen Behörden ebenfalls einschreiten.214 Dies ist ferner der Fall, wenn dem Beschuldigten aufgrund der Verhinderung seines Anwalts für jede Verhandlung neue Verteidiger beigeordnet werden und diese sich weder in den Fall einarbeiten noch mit dem Beschuldigten Kontakt aufnehmen können, noch prozessuale Aktivitäten entfalten.215 Auch ist ein Versäumnis des bestellten Verteidigers offenkundig, wenn bei der Einlegung eines Rechtsmittels eine einfache Formvorschrift missachtet wird.216 Dagegen sind die innerstaatlichen Behörden bei bloßen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger, ohne weitere Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Vernachlässigung der Verteidigungsaufgaben, nicht zum Einschreiten verpflichtet.217 Liegt ein Fall mangelhafter Verteidigung vor, der die staatlichen Stellen zum Einschreiten verpflichtet, so ist der Verteidiger aufzufordern, seinen Aufgaben und Pflichten nachzukommen, andernfalls ist er durch die Bestellung eines anderen Verteidigers zu ersetzen.218
212
EGMR, 21.04.1998, Daud ./. POR, Nr. 22600/93, Rn. 42 = ÖJZ 1999, 198 (199). EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 33 = EuGRZ 1980, 662 (664); IK-Kühne, Art. 6 Rn. 568; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 598. 214 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 33 = EuGRZ 1980, 662 (664); EGMR, 21.04.1998, Daud ./. POR, Nr. 22600/93, Rn. 39 = ÖJZ 1999, 198 (199); EGMR, 26.04.2007, Kemal Kahraman u. Ali Kahraman ./. TUR, Nr. 42104/02, Rn. 36; EGMR, 26.07.2011, Huseyn u. a. ./. AZE, Nr. 35485/05 u. a., Rn. 181; IKKühne, Art. 6 Rn. 568. 215 EGMR, 27.04.2006, Sannino ./. ITA, Nr. 30961/03, Rn. 50–51; AnwK/StPOSommer, Art. 6 EMRK Rn. 92. 216 EGMR, 10.10.2002, Czekalla ./. POR, Nr. 38830/97, Rn. 62–71 = NJW 2003, 1229 (1230–1231). 217 EGMR, 19.12.1989, Kamasinski ./. AUT, Nr. 9783/82, Rn. 63–71; Frowein/Peukert-Peukert, Art. 6 Rn. 306. 218 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 36 = EuGRZ 1980, 662 (665); EGMR, 26.04.2007, Kemal Kahraman u. Ali Kahraman ./. TUR, Nr. 42104/02, Rn. 35; EGMR, 10.04.2012, Gabrielyan ./. ARM, Nr. 8088/05, Rn. 65; EGMR, 09.04.2015, Vamvakas ./. GRE (Nr. 2), Nr. 2870/11, Rn. 37; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 70; LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 747; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Rn. 598; Demko, HRRS 2006, 250 (252–253, 257) kritisiert, dass sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs keine verallgemeinerungsfähigen Vorgaben entnehmen lassen, welche Maßnahmen der Staat konkret ergreifen muss, um eine effektive Verteidigung zu gewährleisten. 213
58 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Welcher Stelle die Aufgabe zukommt, die Verteidigung zu überwachen, bestimmt sich grundsätzlich nach dem nationalen Recht; vorrangig werden dies Gerichte oder Strafverfolgungsbehörden sein, aber auch Rechtsanwaltskammern kann diese Aufgabe obliegen.219
J. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Der mittellose Beschuldigte kann von seinem Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nur Gebrauch machen, wenn er hiervon Kenntnis hat. Die Europäische Menschenrechtskonvention normiert allerdings weder eine Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über sein Recht, sich von einem Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen,220 noch sieht sie vor, dass der mittellose Beschuldigte über sein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu belehren ist.221 Damit bleibt der Konventionstext hinter Art. 14 Abs. 3 lit. d IPBPR und Art. 55 Abs. 2 lit. c IStGH-Statut zurück, die jeweils eine Belehrungspflicht – wenn auch in unterschiedlichem Umfang – vorsehen.222 Da die Europäische Menschenrechtskonvention jedoch Rechte garantieren soll, die nicht „theoretical and illusory“, sondern „practical and effective“ sind,223 geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die staatlichen Stellen aktiv werden und den Beschuldigten über sein Recht auf – gegebenenfalls unentgeltlichen – Verteidigerbeistand belehren müssen.224 Die Belehrung hat unverzüglich zu erfol219
LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 747. Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 Abs. 3 EMRK, S. 56 führt dies darauf zurück, dass die Mitgliedstaaten davon ausgingen, dass jedem Beschuldigten dieses Recht bekannt sei. Die Mitgliedstaaten konnten sich auch nicht darauf verständigen, eine solche Belehrungspflicht in das 7. Zusatzprotokoll aufzunehmen, vgl. hierzu Nowak, EuGRZ 1985, 240 (241). 221 LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 755; Hinz, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 45 (51). 222 Art. 14 Abs. 3 lit. d IPBPR sieht für den Fall, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger gewählt hat, eine Belehrungspflicht über das Recht, einen Verteidiger in Anspruch zu nehmen, vor. Allerdings erstreckt sich die Belehrungspflicht nicht auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand, vgl. hierzu LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 755. Art. 55 Abs. 2 lit. c IStGH-Statut normiert dagegen eine Belehrungspflicht sowohl bezüglich des Rechts auf Verteidigung durch einen vom Beschuldigten gewählten Verteidiger als auch hinsichtlich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. 223 EGMR, 13.05.1980, Artico ./. ITA, Nr. 6694/74, Rn. 33 = EuGRZ 1980, 662 (664); EGMR, 24.11.1993, Imbrioscia ./. SUI, Nr. 13972/88, Rn. 38 = ÖJZ 1994, 517 (518); EGMR, 27.11.2008, Salduz ./. TUR, 36391/02, Rn. 51 = NJW 2009, 3707 (3708); EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 66; EGMR, 20.10. 2015, Dvorski ./. CRO, Nr. 25703/11, Rn. 82 = NJOZ 2017, 514 (516); EGMR, 13.09. 2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 272 = NJOZ 2018, 508 (512). 224 EGMR, 09.06.1998, Twalib ./. GRE, Nr. 24294/94, Rn. 55 = ÖJZ 1999, 390 (392); EGMR, 10.08.2006, Padalov ./. BUL, Nr. 54784/00, Rn. 53–54; EGMR, 27.03. 2007, Talat Tunc ./. TUR, Nr. 32432/96, Rn. 60–61; EGMR, 11.12.2008, Panovits ./. 220
K. Vergütung des Verteidigers
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gen;225 es muss noch ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung bestehen (Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK) und der Verteidiger muss die Möglichkeit haben, das durch Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK garantierte Fragerecht auszuüben, wenn ein Belastungszeuge vernommen wird, der in der Hauptverhandlung möglicherweise nicht mehr zur Verfügung steht.226 Entscheidet sich der Beschuldigte nach der Belehrung dafür, von seinem Recht auf Verteidigerbeistand Gebrauch machen zu wollen, müssen die Strafverfolgungsbehörden ihm die Kontaktaufnahme mit einem Verteidiger ermöglichen, es sei denn, das Recht auf Verteidigerbeistand kann vorübergehend aufgrund des Vorliegens zwingender Gründe und ohne Beeinträchtigung der Fairness des Verfahrens eingeschränkt werden.227 Auf einen bestehenden Verteidigernotdienst ist der Beschuldigte hinzuweisen.228 Ist der vom Beschuldigten gewünschte Anwalt nicht verfügbar, müssen die Strafverfolgungsbehörden sich ernsthaft darum bemühen, den Kontakt zu einem anderen Verteidiger herzustellen.229 Bis der Beschuldigte Kontakt mit einem Verteidiger hatte, ist auf eine Vernehmung des Beschuldigten zu verzichten, es sei denn, der Beschuldigte ergreift selbst die Gesprächsinitiative.230
K. Die Vergütung des Verteidigers Die Europäische Menschenrechtskonvention regelt weder, ob und wenn ja in welchem Umfang beziehungsweise in welcher Anzahl ein Verteidiger Mandate im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand übernehmen muss, noch wie die Verteidigertätigkeit zu vergüten ist. Bezüglich dieser Fragen kommt den Konventionsstaaten ein weiter Gestaltungsspielraum zu. CYP, Nr. 4268/04, Rn. 70–72; EGMR, 02.03.2010, Adamkiewicz ./. POL, Nr. 54729/ 00, Rn. 88; EGMR, 13.09.2016, Ibrahim u. a. ./. GBR, Nr. 50541/08 u. a., Rn. 272 = NJOZ 2018, 508 (512); EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 119; EGMR, 09.11.2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 129 = NJW 2019, 1999 (2001); Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 474–475; MK/StPO-Gaede, Art. 6 EMRK Rn. 214; Hinz, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, S. 45 (51); IK-Kühne, Art. 6 Rn. 576; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 454–455; Wohlers, in: FS-Rudolphi, S. 713 (731). 225 EGMR, 12.05.2017, Simeonovi ./. BUL, Nr. 21980/04, Rn. 119; EGMR, 09.11. 2018, Beuze ./. BEL, Nr. 71409/10, Rn. 129 = NJW 2019, 1999 (2001). 226 LR-Esser, Art. 6 EMRK Rn. 756; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 455–456. 227 EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 73; EGMR, 01.04. 2010, Pavlenko ./. RUS, Nr. 42371/02, Rn. 107; Vetter, Verteidigerkonsultation im Ermittlungsverfahren, S. 456. 228 Corell, StraFo 2011, 34 (37); Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Satzger, Art. 6 EMRK Rn. 56. 229 EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 74–75. 230 EGMR, 24.09.2009, Pishchalnikov ./. RUS, Nr. 7025/04, Rn. 79.
60 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Eine äußerste Grenze bei der Ausgestaltung der Bestimmungen ergibt sich jedoch aus Art. 4 Abs. 2 EMRK. Die nationalen Bestimmungen dürfen sich für den Verteidiger nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit darstellen. Bei der Auslegung dieser Begriffe, die von der Konvention nicht definiert werden, orientiert sich die Rechtsprechung insbesondere am Übereinkommen Nr. 29 über Zwangsoder Pflichtarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation und ergänzend am Übereinkommen Nr. 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation.231 Danach ist Zwangs- oder Pflichtarbeit jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sich der Betroffene nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.232 Keine Zwangs- oder Pflichtarbeit liegt jedoch in den Fällen des Art. 4 Abs. 3 lit. a–d EMRK vor. Diesen vier Fallgruppen liegen ungeachtet ihrer Unterschiede die Leitgedanken des allgemeinen Interesses, der sozialen Solidarität und des normalerweise Üblichen zugrunde.233 Was als übliche Pflicht für Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe anzusehen ist, beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anhand verschiedener Kriterien. Maßgeblich ist, ob die zu erbringende Leistung zur normalen beruflichen Tätigkeit der Berufsgruppe zählt, ob sie entgeltlich erfolgt oder eine anderweitige Kompensation stattfindet, ob sie auf sozialer Solidarität beruht und ob die mit der Arbeit einhergehende Belastung verhältnismäßig ist.234 In diesem Zusammenhang ist beispielsweise zu berücksichtigen, ob neben der unbezahlten Tätigkeit noch genügend Zeit für vergütete Arbeit verbleibt.235 Ferner kann es eine Rolle spielen, ob die Unannehmlichkeiten, die mit der Übernahme der Arbeit verbunden sind, durch Vorteile zum Beispiel bei der Berufsausbildung oder der Steigerung des Bekanntheitsgrads und der damit verbundenen Möglichkeit, zahlende Kundschaft zu werben, kom231 EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 32 = EuGRZ 1985, 477 (481); EGMR, 26.07.2005, Siliadin ./. FRA, Nr. 73316/01, Rn. 115 = NJW 2007, 41 (44); EGMR, 07.07.2011, Stummer ./. AUT, Nr. 37452/02, Rn. 117 = NJOZ 2012, 1897 (1901); EGMR, 18.10.2011, Graziani-Weiss ./. AUT, Nr. 31950/06, Rn. 36 = NJW 2012, 3566 (3567); Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 93; SK/StPO-Meyer, Art. 4 EMRK Rn. 37–38. 232 EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 34 = EuGRZ 1985, 477 (481); EGMR, 26.07.2005, Siliadin ./. FRA, Nr. 73316/01, Rn. 116–117 = NJW 2007, 41 (44–45); EGMR, 18.10.2011, Graziani-Weiss ./. AUT, Nr. 31950/06, Rn. 36 = NJW 2012, 3566 (3567). 233 EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 38 = EuGRZ 1985, 477 (482); EGMR, 18.07.1994, Karlheinz Schmidt ./. GER, Nr. 13580/88, Rn. 22 = NVwZ 1995, 365; EGMR, 18.10.2011, Graziani-Weiss ./. AUT, Nr. 31950/06, Rn. 37 = NJW 2012, 3566 (3567). 234 EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 39 = EuGRZ 1985, 477 (482–483); EGMR, 14.09.2010, Steindel ./. GER, Nr. 29878/07; EGMR, 18.10.2011, Graziani-Weiss ./. AUT, Nr. 31950/06, Rn. 38 = NJW 2012, 3566 (3568); Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 20 Rn. 94. 235 EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 39 = EuGRZ 1985, 477 (483).
K. Vergütung des Verteidigers
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pensiert werden.236 Auch der Umstand, dass der Betroffene seinen Beruf freiwillig und in Kenntnis der bestehenden nationalen Regelung gewählt hat, ist zu beachten.237 Auch wenn die Tätigkeit unter dem normalen Gebührensatz vergütet wird, führt dieser finanzielle Verlust nicht dazu, dass die Tätigkeit als Zwangsoder Pflichtarbeit anzusehen ist.238 Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt selbst eine im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand völlig unentgeltlich zu erbringende Tätigkeit keine Pflichtoder Zwangsarbeit dar.239 Die Rechtsprechung hat bisher noch keine nationale Regelung zur Übernahme von Mandaten im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand als Pflicht- oder Zwangsarbeit angesehen.240 Nur weil eine nationale Bestimmung, die keine oder eine im Vergleich zum Wahlverteidiger geringere Vergütung des im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand tätigen Verteidigers vorsieht, nicht gegen Art. 4 Abs. 2 EMRK verstößt, bedeutet dies noch nicht, dass dadurch nicht das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand beeinträchtigt wird. Unter Umständen besteht die Möglichkeit, dass Verteidiger Mandaten im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aufgrund fehlender oder nur geringer Vergütung nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenken wie Mandaten im Rahmen der Wahlverteidigung.241 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bisher noch nicht entschieden, ob das Recht des mittellosen Beschuldigten auf effektiven Verteidigerbeistand durch solche Bestimmungen beeinträchtigt und deshalb an Art. 6 EMRK zu messen ist.242 Allerdings zieht eine geringere Bezahlung nicht zwingend eine unzureichende und qualitativ schlechtere Verteidigungstätigkeit nach sich.243 Dies hängt vielmehr von der beruflichen Auslastung, den finanziellen Zwängen und dem Selbstverständnis des Verteidigers ab.244 Mithin beeinträchtigen nationale Vorschriften, die keine oder eine im 236 EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 39 = EuGRZ 1985, 477 (482–483). 237 EKMR, 01.04.1974, X ./. GER, Nr. 4653/70 = EuGRZ 1975, 47 (48); EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 40 = EuGRZ 1985, 477 (483). 238 EKMR, 01.04.1974, X ./. GER, Nr. 4653/70 = EuGRZ 1975, 47 (48); Frowein/ Peukert-Frowein, Art. 4 Rn. 9. 239 EGMR, 23.11.1983, van der Mussele ./. BEL, Nr. 8919/80, Rn. 40 = EuGRZ 1985, 477 (483). 240 Perktold, Ist das österreichische System der Verfahrenshilfe in Strafsachen verfassungswidrig?, S. 62. 241 Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch-US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 108. 242 Vgl. zu dieser Überlegung Perktold, Ist das österreichische System der Verfahrenshilfe in Strafsachen verfassungswidrig?, S. 63–65. 243 Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 82; Perktold, Ist das österreichische System der Verfahrenshilfe in Strafsachen verfassungswidrig?, S. 65. 244 SK/StPO4-Paeffgen, Art. 6 EMRK Rn. 138.
62 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
Vergleich zum Wahlverteidiger geringere Vergütung des im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand tätigen Verteidigers vorsehen, den Beschuldigten nicht zwingend in seinem Recht auf effektive Verteidigung und sind damit nicht per se unvereinbar mit Art. 6 EMRK.245 Allerdings leisten solche Bestimmungen mangelndem Arbeitseifer von Verteidigern Vorschub und gefährden damit das Recht des mittellosen Beschuldigten auf effektive und der Wahlverteidigung entsprechende Verteidigung.246 Dieser Gefahr ließe sich mit einer kostendeckenden und der Wahlverteidigung entsprechenden Vergütung begegnen. Ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Zukunft das Recht des mittellosen Beschuldigten auf effektive Verteidigung mit den nationalen Vorschriften zur Vergütung von im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand tätigen Verteidigern in Verbindung setzt und am Maßstab des Art. 6 EMRK prüft, bleibt abzuwarten.
L. Gesamtergebnis des ersten Kapitels Der mittellose Beschuldigte hat gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Voraussetzung hierfür ist, dass der Beschuldigte mittellos und die Gewährung unentgeltlichen Verteidigerbeistands im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Das Tatbestandsmerkmal der Mittellosigkeit hat bisher in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lediglich eine untergeordnete Rolle gespielt. Deshalb ist noch nicht abschließend geklärt, welche Kriterien zur Feststellung der Mittellosigkeit heranzuziehen sind. Auch lässt sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine allgemeine Wertgrenze entnehmen, ab der von einer Mittellosigkeit des Beschuldigten auszugehen ist. Entscheidend ist, ob der Beschuldigte die Kosten eines Verteidigers nicht tragen kann, ohne auf Mittel zurückgreifen zu müssen, die für seinen Unterhalt oder den seiner Familie notwendig sind. Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Mittellosigkeit trägt der Beschuldigte. Allerdings sind die Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an den Nachweis der Mittellosigkeit stellt, nicht besonders hoch. Ist der Beschuldigte nicht völlig mittellos, kann die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand von einer Selbstbeteiligung abhängig gemacht werden. Im Gegensatz zur Mittellosigkeit existiert für das Tatbestandsmerkmal des Interesses der Rechtspflege eine gefestigte Rechtsprechung. Ob die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 245 So im Ergebnis auch Perktold, Ist das österreichische System der Verfahrenshilfe in Strafsachen verfassungswidrig?, S. 65; IK-Kühne, Art. 6 Rn. 574; a. A. Schubarth, ZSR n. F. 94 (1975), 493 (508), der unter dem Aspekt der Waffengleichheit eine Entlohnung unterhalb des üblichen Honorars als konventionswidrig erachtet. 246 So im Ergebnis auch Perktold, Ist das österreichische System der Verfahrenshilfe in Strafsachen verfassungswidrig?, S. 65.
L. Gesamtergebnis des ersten Kapitels
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anhand der Schwere des Tatvorwurfs und der drohenden Strafe, der Komplexität des Falls sowie der persönlichen Situation des Beschuldigten. Bereits das Vorliegen eines der drei Kriterien genügt, um das Interesse der Rechtspflege an unentgeltlichem Verteidigerbeistand zu bejahen. Droht dem Beschuldigten eine Haftstrafe – wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht auf die im konkreten Einzelfall zu erwartende Strafe, sondern auf die gesetzlich zulässige Höchststrafe abstellt – ist der Beistand eines Verteidigers grundsätzlich erforderlich. Insgesamt ist die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand für mittellose Beschuldigte in einer Vielzahl der Fälle im Interesse der Rechtspflege geboten. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert dem mittellosen Beschuldigten nicht die Unentgeltlichkeit des gesamten Strafverfahrens, sondern lediglich die Unentgeltlichkeit des Verteidigerbeistands. Unentgeltlichkeit ist dabei nicht zwingend im Sinne einer endgültigen Kostenfreistellung zu verstehen, sodass der Beschuldigte – sofern sich seine Vermögensverhältnisse verbessern – nach dem Abschluss des Strafverfahrens zur Tragung der Verteidigerkosten verpflichtet werden kann. Nach der Konzeption der Europäischen Menschenrechtskonvention hat der mittellose Beschuldigte ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Aufgrund der Ausgestaltung als Recht – und nicht als Pflicht – kann der mittellose Beschuldigte unter den Voraussetzungen eines „wissentlichen und verständigen Verzichts“ grundsätzlich auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand verzichten. Auch wenn die Europäische Menschenrechtskonvention grundsätzlich keine notwendige Verteidigung kennt, ist es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit der Konvention vereinbar, wenn ein Konventionsstaat in bestimmten Fällen die Mitwirkung eines Verteidigers zwingend vorschreibt, um dem Beschuldigten eine angemessene Verteidigung zu garantieren. Die konkrete Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand überlässt die Europäische Menschenrechtskonvention den nationalen Rechtsordnungen. Die Verteidigung, die der mittellose Beschuldigte im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand erhält, muss allerdings effektiv und wirksam sein. Der mittellose Beschuldigte hat bereits im Ermittlungsverfahren ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Art. 6 EMRK gebietet, dass der mittellose Beschuldigte bereits zu Beginn der ersten polizeilichen Vernehmung unentgeltlichen Verteidigerbeistand erhält. Lediglich beim Vorliegen zwingender Gründe kann das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand vorübergehend eingeschränkt werden. Hierdurch darf jedoch nicht die Fairness des gesamten Verfahrens beeinträchtigt werden. Im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand hat der Beschuldigte grundsätzlich die Möglichkeit sich von einem Verteidiger seiner Wahl
64 1. Kap.: Verteidigerbeistand nach der Europäischen Menschenrechtskonvention
verteidigen zu lassen. Die nationalen Behörden oder Gerichte können sich bei der Bestellung des Verteidigers jedoch über den Wunsch des Beschuldigten hinwegsetzen, wenn dies aufgrund sachdienlicher und ausreichender Gründe im Interesse der Rechtspflege geboten ist. Als Verteidiger können nicht nur Rechtsanwälte, sondern beispielsweise auch Rechtsanwaltsanwärter oder Referendare bestellt werden. Allerdings muss die zum Verteidiger bestellte Person stets eine effektive Verteidigung gewährleisten. Die Bestellung eines Verteidigers im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gilt grundsätzlich bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Die Führung der Verteidigung ist primär eine Angelegenheit zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger. Die nationalen Behörden oder Gerichte sind nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nur dann zum Eingreifen verpflichtet, wenn ein Versäumnis des bestellten Verteidigers, eine wirksame Verteidigung zu gewährleisten, offensichtlich ist oder ihnen dies auf andere Weise substantiiert zur Kenntnis gebracht wird. Die Strafverfolgungsbehörden müssen den Beschuldigten über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand belehren. Die Belehrung hat unverzüglich zu erfolgen, damit der Beschuldigte von seinen Verteidigungsrechten effektiv Gebrauch machen kann. Möchte der Beschuldigte den Beistand eines Verteidigers in Anspruch nehmen, müssen die Strafverfolgungsbehörden ihm dies ermöglichen und ihn bei der Kontaktaufnahme unterstützen. Konkrete Vorgaben, wie die vom Verteidiger erbrachten Leistungen im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu vergüten sind, enthält die Europäische Menschenrechtskonvention nicht. Den Konventionsstaaten steht diesbezüglich ein großer Gestaltungsspielraum zu. Allerdings darf sich die Tätigkeit des Verteidigers für diesen nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne des Art. 4 Abs. 2 EMRK darstellen. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist es mit der Konvention vereinbar, wenn der Verteidiger für seine Tätigkeit im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nur eine im Vergleich zum Wahlverteidiger geringere Vergütung oder sogar überhaupt keine Entlohnung erhält. Ob sich eine im Vergleich zum Wahlverteidiger geringere Vergütung oder das gänzliche Fehlen einer Entlohnung auf die Qualität der Beistandsleistung auswirkt und dadurch das Recht des mittellosen Beschuldigten auf effektive Verteidigung verletzt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bisher noch nicht thematisiert.
Zweites Kapitel
Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union Neben Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert auch das Unionsrecht dem mittellosen Beschuldigten ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Auf der Ebene des Primärrechts gewährleistet Art. 48 Abs. 2 GRC dem Beschuldigten die Achtung der Verteidigungsrechte, wozu auch das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zählt. Daneben normiert Art. 47 Abs. 3 GRC ein Recht auf Prozesskostenhilfe. Sekundärrechtlich enthält die Prozesskostenhilfe-Richtlinie weitere Vorgaben hinsichtlich der Unterstützung eines Beschuldigten mittels eines durch die Mitgliedstaaten finanzierten Rechtsbeistands. Im Folgenden wird untersucht, welche Anforderungen die Grundrechtecharta (A.) und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie (B.) an die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand stellen.
A. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta Bevor näher auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC (II.) und das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC (III.) sowie das Verhältnis beider Vorschriften zueinander (IV.) eingegangen werden kann, muss zunächst geklärt werden, wann der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta (I.) eröffnet ist.
I. Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta wird durch Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC bestimmt. Danach sind sowohl die Europäische Union, als auch die Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta gebunden. Im Folgenden soll zunächst darauf eingegangen werden, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta gebunden sind (1.). Anschließend soll untersucht werden, wann die Grundrechtecharta im nationalen Strafverfahren zu beachten ist (2.).
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
1. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta Die Mitgliedstaaten sind gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union an die Grundrechtecharta gebunden. Die mitgliedstaatliche Bindung erstreckt sich mit Legislative, Exekutive und Judikative auf die gesamte öffentliche Gewalt.1 Folglich sind auch Polizei, Staatsanwaltschaft und sonstige Strafverfolgungsbehörden sowie Gerichte an die Grundrechtecharta gebunden, sofern sie Unionsrecht durchführen.2 a) Das Recht der Union Eine mitgliedstaatliche Bindung an die Grundrechtecharta setzt zunächst das Vorliegen von Unionsrecht voraus. Das Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC umfasst das gesamte Primärrecht der Union.3 Dies sind die Gründungsund Änderungsverträge sowie im Vertragsrang stehende Protokolle.4 Die Grundrechtecharta selbst zählt dagegen nicht dazu, da dies sonst zu einem Zirkelschluss führen würde.5 Des Weiteren unterfällt dem Unionsrecht das Sekundärrecht, insbesondere Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse,6 sowie das Tertiärrecht, das heißt Rechtsvorschriften, die auf der Grundlage von Sekundärrecht geschaffen wurden.7 b) Die Durchführung des Rechts der Union Neben dem Vorliegen von Unionsrecht ist für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta erforderlich, dass sie dieses durchführen. Die Auslegung des Begriffs der Durchführung ist umstritten und noch nicht abschließend geklärt.
1 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 60; Streinz-Streinz/Michl, Art. 51 GRC Rn. 5. 2 Esser, in: Jahn/Radtke (Hrsg.), Deutsche Strafprozessreform und Europäische Grundrechte, S. 55 (56). 3 Holoubek/Lienbacher-Holoubek/Oswald, Art. 51 Rn. 24; Jarass, Art. 51 GRC Rn. 20. 4 Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Hatje, Art. 51 GRC Rn. 14; v. der Groeben/Schwarze/Hatje-Terhechte, Art. 51 GRC Rn. 8. 5 EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 22, EU:C:2013:105; EuGH, 27.03.2014, Torralbo Marcos, C-265/13, Rn. 30; Holoubek/Lienbacher-Holoubek/ Oswald, Art. 51 Rn. 25; Jarass, Art. 51 Rn. 20; Stern/Sachs-Ladenburger/Vondung, Art. 51 Rn. 44; Ohler, NVwZ 2013, 1433. 6 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 61; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Hatje, Art. 51 GRC Rn. 14; Meyer, ZStW 128 (2016), 1089 (1091); Ohler, NVwZ 2013, 1433; FK/EUV/GRC/AEUV-Pache, Art. 51 GRC Rn. 18. 7 Jarass, Art. 51 GRC Rn. 20; Jarass/Kment, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 10; Ohler, NVwZ 2013, 1433.
A. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta
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Vor dem Inkrafttreten der Grundrechtecharta ging der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung von einer Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte aus, wenn eine nationale Maßnahme in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fiel.8 Ausgehend von dieser „offenen Suchformel“ 9 entwickelte die Rechtsprechung zwei Fallgruppen mitgliedschaftlicher Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte.10 Die erste Fallgruppe umfasst die sogenannten Durchführungskonstellationen, die in Anlehnung an die Leitentscheidung auch als „Wachauf“ 11-Konstellationen bezeichnet werden.12 In den Durchführungskonstellationen befinden sich die Mitgliedstaaten in einer AgencySituation, in der sie das Unionsrecht als verlängerter Arm der Union vollziehen oder umsetzen.13 Das Unionsrecht kann dabei normativ durchgeführt werden, indem die Legislative Rechtsvorschriften zur Umsetzung oder Ausführung des Unionsrechts erlässt, wie dies beispielsweise bei der Umsetzung von Richtlinien der Fall ist.14 Des Weiteren kann das Unionsrecht administrativ durch die Verwaltung durchgeführt werden.15 Schließlich kann Unionsrecht von den Gerichten judikativ durchgeführt werden, in dem diese das Unionsrecht auslegen oder anwenden.16 Die Bindungswirkung bei der administrativen und judikativen Durchführung gilt nicht nur für den unmittelbaren, sondern erstreckt sich auch auf den mittelbaren Vollzug, das heißt die Anwendung und Auslegung nationalen Rechts, das in Umsetzung von Unionsrecht ergangen ist.17 Die zweite Fallgruppe bilden die sogenannten Einschränkungskonstellationen, die aufgrund der Leitentscheidung auch „ERT“18-Konstellationen genannt werden.19 Danach sind die Mit8 EuGH, 18.06.1991, ERT, C-260/89, Rn. 42, EU:C:1991:254; EuGH, 29.05.1997, Kremzow, C-299/95, Rn. 15, EU:C:1997:254; EuGH, 10.04.2003, Steffensen, C-276/01, Rn. 70, EU:C:2003:228; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 65; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Hatje, Art. 51 GRC Rn. 15. 9 Scheuing, EuR 2005, 162 (163). 10 Meyer4-Borowsky, Art. 51 Rn. 24; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Hatje, Art. 51 GRC Rn. 16; Risse, HRRS 2014, 93 (94); Scheuing, EuR 2005, 162 (163). 11 EuGH, 13.07.1989, Wachauf, C-5/88, EU:C:1989:321. 12 Holoubek/Lienbacher-Holoubek/Oswald, Art. 51 Rn. 18. 13 Meyer4-Borowsky, Art. 51 Rn. 25; Haltern, Europarecht, Band II, Rn. 1567; Holoubek/Lienbacher-Holoubek/Oswald, Art. 51 Rn. 18; Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 11; Risse, HRRS 2014, 93 (94); Wanitschek, Die Grundrechtecharta der Europäischen Union im Strafverfahren, S. 36. 14 Jarass, Art. 51 Rn. 29; Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 12. 15 Jarass, NVwZ 2012, 457 (459); Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 12. 16 Jarass, Art. 51 Rn. 31; Nowak, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 24. 17 Jarass/Kment, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 13–14; Holoubek/Lienbacher-Holoubek/ Oswald, Art. 51 Rn. 20. 18 EuGH, 18.06.1991, ERT, C-260/89, EU:C:1991:254. 19 Holoubek/Lienbacher-Holoubek/Oswald, Art. 51 Rn. 18.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
gliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, wenn sie Grundfreiheiten durch nationales Recht einschränken.20 Dabei können die Grundrechte zum einen als eigenständige Rechtfertigungsgründe21 und zum anderen als Schranken-Schranken22 wirken.23 Seit der Proklamation der Grundrechtecharta am 07.12.2000 besteht Streit, inwieweit die zur Bindung der Mitgliedstaaten an die europäischen Gemeinschaftsgrundrechte ergangene Rechtsprechung auch für die mitgliedstaatliche Bindung an die Grundrechtecharta gilt. Unter Berufung auf im Grundrechtekonvent vorherrschende restriktive Tendenzen bezüglich einer Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta24 sowie den engen Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC („ausschließlich“) wird teilweise vertreten, dass die Grundrechtecharta lediglich in den früheren Durchführungskonstellationen Anwendung finde.25 Überwiegend wird jedoch davon ausgegangen, dass die Grundrechtecharta die Mitgliedstaaten nicht nur in den Durchführungs-, sondern auch in den Einschränkungskonstellationen an die Unionsgrundrechte bindet.26 Für die zweite Ansicht spricht zunächst, dass die Einfügung des Wortes „ausschließlich“ lediglich eine redaktionelle Angelegenheit war, die zu keiner Umgestaltung der Rechtslage führen sollte.27 Ferner lässt es sich durchaus mit dem Wortlaut vereinbaren, die Einschränkung von Grundfreiheiten als Durchführung zu verstehen, zumal andere Textfassungen eine weitere Formulierung beinhalten.28 Auch eine systematische Auslegung zwingt nicht zu einem einschränkenden Normverständnis. Zwar steht 20 Vedder/Heintschel v. Heinegg-Folz, Art. 51 GRC Rn. 5; Jarass, NVwZ 2012, 457 (460); Risse, HRSS 2014, 93 (94); Scheuing, EuR 2005, 162 (163–164). 21 EuGH, 12.06.2003, Schmidberger, C-112/00, Rn. 65–94, EU:C:2003:333. 22 EuGH, 18.06.1991, ERT, C-260/89, Rn. 42–43, EU:C:1991:254; EuGH, 26.06. 1997, Vereinigte Familiapress Zeitungsverlags- und vertriebs GmbH, C-368/95, Rn. 24, EU:C:1997:325. 23 Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 15; Risse, HRRS 2014, 93 (94–95); Streinz-Streinz/Michl, Art. 51 GRC Rn. 16–19; Wanitschek, Die Grundrechtecharta der Europäischen Union im Strafverfahren, S. 36–37. 24 Vgl. hierzu Meyer4-Borowsky, Art. 51 Rn. 2–9a; Stern/Sachs-Ladenburger/Vondung, Art. 51 Rn. 24; Ohler, NVwZ 2013, 1433 (1434). 25 Meyer4-Borowsky, Art. 51 Rn. 24a; Cremer, EuGRZ 2011, 545 (551–552); Huber, NJW 2011, 2385 (2387); Calliess/Ruffert-Kingreen, Art. 51 GRC Rn. 22–23; Lindner, EuR 2008, 786 (792); Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 56. 26 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 67; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 276–277; Frenzel, Der Staat 53 (2014), 1 (10); Haltern, Europarecht, Band II, Rn. 1584–1585; Jarass, Art. 51 Rn. 22; Stern/Sachs-Ladenburger/Vondung, Art. 51 Rn. 26; Scheuing, EuR 2005, 162 (182– 184). 27 Scheuing, EuR 2005, 162 (182–183). 28 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 67; Jarass, NVwZ 2012, 457 (459); Kadelbach, KritV 2013, 276 (282); Stern/ Sachs-Ladenburger/Vondung, Art. 51 Rn. 26; Streinz-Streinz/Michl, Art. 51 GRC Rn. 6; a. A. Cremer, NvWZ 2003, 1452 (1455).
A. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta
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Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC systematisch im Zusammenhang mit Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC und Art. 51 Abs. 2 GRC, die auf eine restriktive Grundrechtsbindung hindeuten, aber Art. 51 Abs. 2 GRC lässt sich auch dahingehend auslegen, dass die Grundrechtecharta zwar zu keiner Ausweitung der Zuständigkeiten der Europäischen Union führen soll, im Umkehrschluss aber auch keine Verengung des bisherigen Zustands erfolgen soll.29 Auf ein weites Begriffsverständnis deuten darüber hinaus auch die Erläuterungen zur Grundrechtecharta – die gemäß Art. 52 Abs. 7 GRC bei der Auslegung der Grundrechtecharta gebührend zu berücksichtigen sind – hin, da diese sowohl auf die Wachauf- als auch die ERT-Rechtsprechung verweisen und somit beide Fallgruppen für anwendbar erklären.30 Schließlich würde ein restriktives Verständnis des Begriffs der Durchführung zur Folge haben, dass die Grundrechtecharta einen engeren Anwendungsbereich als die Unionsgrundrechte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV besäße, was zu einer „sinnwidrige[n] Spaltung des Grundrechtsschutzes“ 31 führen würde.32 In der Rechtssache Åkerberg Fransson hat der Europäische Gerichtshof – unter Berufung auf seine frühere Rechtsprechung und die Chartaerläuterungen – seine bisherige Rechtsprechung bestätigt33 und einem restriktiven Verständnis des Begriffs der Durchführung somit eine Absage erteilt. Die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte seien in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben anwendbar.34 Wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts falle, seien die durch die Grundrechtecharta garantierten Grundrechte zu beachten.35 Es seien daher keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass die durch die Grundrechtecharta garantierten Grundrechte anwendbar wären.36 Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasse die Anwendbarkeit der durch die Grundrechtecharta garantierten Grundrechte.37 Eine Durchführung von Unionsrecht liege auch dann vor, wenn eine anzuwendende nationale Vorschrift zwar nicht zur Umsetzung von Unionsrecht erlassen wurde, aber der Erfüllung einer unionsrechtlichen Verpflichtung dient.38 Selbst wenn das Handeln eines Mit29
Kadelbach, KritV 2013, 276 (282–283). Frenzel, Der Staat 53 (2014), 1 (8–9); Haltern, Europarecht, Band II, Rn. 1585; Stern/Sachs-Ladenburger/Vondung, Art. 51 Rn. 26; Risse, HRRS 2014, 93 (95). 31 Risse, HRRS 2014, 93 (95). 32 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 68; Haltern, Europarecht, Band II, Rn. 1585; Jarass, NVwZ 2012, 457 (459); Kadelbach, KritV 2013, 276 (283); Risse, HRRS 2014, 93 (95). 33 EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 17–20, EU:C:2013:105. 34 EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 19, EU:C:2013:105. 35 EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 21, EU:C:2013:105. 36 EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 21, EU:C:2013:105. 37 EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 21, EU:C:2013:105. 38 EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 27–28, EU:C:2013:105; EuGH, 06.10.2016, Paoletti u. a., C-218/15, Rn. 18, EU:C:2016:748. 30
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
gliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht determiniert ist, geht der Europäische Gerichtshof davon aus, dass die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen und deshalb an die Unionsgrundrechte gebunden sind.39 Bei einer nicht vollständigen Determinierung durch das Unionsrecht steht es den Mitgliedstaaten aber nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs frei, kumulativ nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, soweit dadurch weder das Schutzniveau der Grundrechtecharta noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.40 In der Rechtssache Siragusa hat der Europäische Gerichtshof seine Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Grundrechtecharta konkretisiert und betont, „dass der Begriff der ,Durchführung des Rechts der Union‘ im Sinne von Art. 51 der Charta einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlangt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann“.41 „Um festzustellen, ob eine nationale Regelung die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta betrifft, ist u. a. zu prüfen, ob mit ihr eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann.“ 42 Schaffen die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt, so sind die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung nicht anwendbar.43 Allein der Umstand, dass eine nationale 39
EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 29, EU:C:2013:105. EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 29, EU:C:2013:105. Das Bundesverfassungsgericht ging dagegen davon aus, dass im nicht determinierten Bereich das mitgliedstaatliche Handeln allein am Maßstab der nationalen Grundrechte zu messen sei, vgl. BVerfGE 118, 79 (95); BVerfGE 121, 1 (15); BVerfGE 125, 260 (306– 307); BVerfGE 133, 277 (313); diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen aufgegeben, vgl. BVerfGE 152, 152 (169–170); vgl. zum Ganzen Toros/ Weiß, ZJS 2020, 100–108. 41 EuGH, 06.03.2014, Siragusa, C-206/13, Rn. 24, EU:C:2014:126; mit minimalen sprachlichen Abweichungen bestätigt durch EuGH, 10.07.2014, Julian Hernández u. a., C-198/13, Rn. 34, EU:C:2014:2055. 42 EuGH, 06.03.2014, Siragusa, C-206/13, Rn. 25, EU:C:2014:126; unter Verweis auf EuGH, 18.12.1997, Annibaldi, C-309/96, Rn. 21–23, EU:C:1997:631; EuGH, 08.11. 2012, Iida, C-40/11, Rn. 79, EU:C:2012:691; EuGH, 08.05.2013, Ymeraga u. YmeragaTafarshiku, C-87/12, Rn. 41, EU:C:2013:291; mit minimalen sprachlichen Abweichungen bestätigt durch EuGH, 10.07.2014, Julian Hernández u. a., C-198/13, Rn. 37, EU: C:2014:2055. 43 EuGH, 06.03.2014, Siragusa, C-206/13, Rn. 26, EU:C:2014:126; EuGH, 10.07. 2014, Julian Hernández u. a., C-198/13, Rn. 35, EU:C:2014:2055; jeweils unter Verweis auf EuGH, 13.06.1996, Maurin, C-144/95, Rn. 11–12, EU:C:1996:235. 40
A. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta
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Maßnahme in einen Bereich fällt, in dem die Union über Zuständigkeiten verfügt, führt nicht dazu, dass die nationale Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt und die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta eröffnet.44 Die vom Europäischen Gerichtshof zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der Grundrechtecharta aufgestellten Kriterien sind nicht abschließend.45 Zudem sind sie eher allgemeiner Natur, was dem Europäischen Gerichtshof einen gewissen Spielraum für künftige Entscheidungen eröffnet.46 Erst die weitere Rechtsprechung wird zeigen, wie die einzelnen Kriterien zueinander stehen und welcher Stellenwert ihnen im Einzelnen zukommt.47 2. Die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta im nationalen Strafverfahren Ausgehend von der soeben dargestellten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta soll nun untersucht werden, wann in einem nationalen Strafverfahren Unionsrecht durchgeführt wird und deshalb die Chartagrundrechte zu beachten sind. Kommen in einem Strafverfahren weder materiell-rechtliche noch verfahrensrechtliche Vorschriften, die auf einer unionsrechtlichen Einwirkung beruhen oder unionsrechtliche Funktionen erfüllen, zum Tragen, findet die Grundrechtecharta keine Anwendung.48 Wird in einem Strafverfahren, das eine Tat zum Gegenstand hat, die keinerlei Bezug zum Unionsrecht aufweist, eine Freiheitsstrafe verhängt, führt dies allein nicht zur Anwendbarkeit der Grundrechtecharta, auch wenn hierdurch die Freizügigkeit des Beschuldigten beeinträchtigt wird, da dies lediglich eine mittelbare Nebenfolge ist.49 44 EuGH, 10.07.2014, Julian Hernández u. a., C-198/13, Rn. 36, EU:C:2014:2055; Jarass, NVwZ 2012, 457 (461); a. A. GA Sharpston, 30.09.2010, Ruiz Zambrano, C-34/ 09, Rn. 163, EU:C:2010:560, die in ihrem Schlussantrag vorschlug, „langfristig eine Regel zu schaffen, die die Verfügbarkeit des Unionsgrundrechtsschutzes weder von der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsbestimmung noch von dem Bestehen abgeleiteter Rechtsakte, sondern von Existenz und Umfang einer sachlichen Unionszuständigkeit abhängig macht. Anders formuliert lautet die Regel: Wenn die Union die (ausschließliche oder geteilte) Zuständigkeit in einem bestimmten Rechtsbereich besitzt, sollten die Unionsgrundrechte den Unionsbürgern Schutz bieten, selbst wenn diese Zuständigkeit noch nicht wahrgenommen wurde.“; kritisch zu dem Vorschlag von GA Sharpston Streinz-Streinz/Michl, Art. 51 GRC Rn. 23. 45 Esser, in: Jahn/Radtke (Hrsg.), Deutsche Strafprozessreform und Europäische Grundrechte, S. 55 (63); Holoubek/Lienbacher-Holoubek/Oswald, Art. 51 Rn. 30. 46 Vedder/Heintschel v. Heinegg-Folz, Art. 51 GRC Rn. 14; Holoubek/LienbacherHoloubek/Oswald, Art. 51 Rn. 31. 47 Holoubek/Lienbacher-Holoubek/Oswald, Art. 51 Rn. 31. 48 Gaede, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 3 Rn. 26; Risse, HRRS 2014, 93 (100); Stalberg, Zum Anwendungsbereich des Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ne bis in idem), S. 54. 49 EuGH, 29.05.1997, Kremzow, C-299/95, Rn. 16–18, EU:C:1997:254; Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (517); Meyer, ZStW 128 (2016), 1089 (1109).
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
Wenden die Strafverfolgungsbehörden und/oder Gerichte im Strafverfahren dagegen Unionsrecht oder zur Umsetzung ergangenes nationales Recht an beziehungsweise setzen sie dieses durch, ist der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta eröffnet.50 Dies ist auch dann der Fall, wenn bereits existierendes und/oder nicht zur Umsetzung von unionsrechtlichen Bestimmungen geschaffenes nationales Recht einen unionsrechtlich geregelten Bereich erfasst oder der Erfüllung einer unionsrechtlichen Verpflichtung dient.51 Solche Bestimmungen existieren zunehmend auch im Strafrecht.52 Entsprechende Tatbestände finden sich sowohl im Kern- als auch im Nebenstrafrecht und betreffen unter anderem folgende Deliktsbereiche: Betrugs- und Finanzdelikte,53 Bestechung und Bestechlichkeit,54 Geldfälschung,55 unbare Zahlungsmittel,56 Geldwäsche,57 Insidergeschäfte und Marktmanipulation,58 organisierte Kriminalität,59 Terrorismus,60 Drogenhandel,61 50 Gaede, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 3 Rn. 26; Meyer, ZStW 128 (2016), 1089 (1100); Risse, HRRS 2014, 93 (101); Wegner, HRRS 2013, 126 (127); Stern/Sachs-Ladenburger/Vondung, Art. 51 Rn. 55, sind der Auffassung, dass materielles Strafrecht oder Strafverfahrensrecht, sofern es Gegenstand unionsrechtlicher Harmonisierung geworden sei, dem Anwendungsbereich der Grundrechtecharta unterliege; a. A. Eckstein, ZStW 124 (2012), 490 (520–521); Eckstein, ZIS 2013, 220 (224), der vertritt, dass die Mitgliedstaaten bei der Strafrechtsanwendung im Einzelfall lediglich dann an die Grundrechtecharta gebunden seien, wenn unmittelbar wirkende europäische Straftatbestände oder unmittelbar wirkendes europäisches Strafprozessrecht de lege ferenda anzuwenden sei; a. A. auch Stalberg, Zum Anwendungsbereich des Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ne bis in idem), S. 56, 60, 69 der der Auffassung ist, dass eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta nur gegeben sei, wenn die rechtliche Beurteilung von einer Norm geprägt sei, die dem primären oder sekundären Unionsrecht angehöre, wozu jedoch nicht unionsrechtlich determiniertes nationales Recht zähle. 51 EuGH, 19.01.2010, Kücükdeveci, C-555/07, Rn. 23–26, EU:C:2010:21; EuGH, 26.02.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn. 28, EU:C:2013:105; Esser/Rübenstahl/ Boerger, NZWiSt 2014, 401 (404). 52 Esser/Rübenstahl/Boerger, NZWiSt 2014, 401 (404). 53 Killmann/Schröder, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 12 Rn. 1–46; Dannecker/Schröder, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 8 Rn. 21–92. 54 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 89–95; Killmann, in: Sieber/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 13 Rn. 1–17; Dannecker/ Schröder, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 8 Rn. 93–146. 55 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 96–101; Kuhl, in: Sieber/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 14 Rn. 1–15; Dannecker/ Schröder, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 8 Rn. 10–15. 56 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 102–105; Killmann, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 15 Rn. 1–18; Dannecker/ Schröder, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 8 Rn. 16–20. 57 Dannecker/Schröder, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 8 Rn. 147–205; Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 77–88; Kilchling, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 16 Rn. 1–24. 58 Dannecker/Schröder, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 8 Rn. 206–245; Koch, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 17 Rn. 1–63.
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Menschenhandel,62 Schleuserkriminalität, 63 sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern einschließlich Kinderpornografie,64 Computerkriminalität, 65 Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,66 Urheberstrafrecht,67 Wettbewerbsstrafrecht,68 Umweltstrafrecht,69 Lebensmittelstrafrecht 70 sowie Arzneimittel- und Medizinprodukterecht.71 Darüber hinaus können auch Normen, die mit dem Schutz originärer Unionsinteressen – insbesondere den durch Art. 325 AEUV geschützten Finanzinteressen – in Verbindung stehen, die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta begründen.72 Die Finanzinteressen können etwa durch die Hinterziehung von Mehrwertsteuer, die Veruntreuung von Unionsgeldern oder durch Subventionsbetrug bei Unionsbeihilfen beeinträchtigt werden.73 Des Weiteren genügt die häufig in Richtlinien enthaltene Verpflichtung, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen zu erlassen, damit der Anwendungsbereich der
59 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 116–120; Kreß/Gazeas, in: Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 18 Rn. 1–27. 60 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 46–55; Kreß/Gazeas, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 19 Rn. 1–61; Weißer, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 9 Rn. 82–127. 61 Böse, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 20 Rn. 1–31; Weißer, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 9 Rn. 27–45; Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 69–76. 62 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 56–62; Huber, in: Sieber/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 21 Rn. 1–30; Weißer, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 9 Rn. 46–65. 63 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 121–124; Kilchling/Herz, in: Sieber/ Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 22 Rn. 1–24. 64 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 56, 63–68; Huber, in: Sieber/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 23 Rn. 1–73; Weißer, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 9 Rn. 66–78. 65 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 106–115; Sieber, in: Sieber/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 24 Rn. 1–106; Weißer, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (EnzEuR Band 11), § 9 Rn. 79–81. 66 Hecker, Europäisches Strafrecht, Kap. 8 Rn. 125–130; Weiß, in: Sieber/Satzger/ v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 25 Rn. 1–48. 67 Sieber, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 26 Rn. 1–100. 68 Hecker, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 27 Rn. 1–20. 69 Hecker, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 28 Rn. 1–32. 70 Hecker, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 29 Rn. 1–17. 71 Koch, in: Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, § 30 Rn. 1–22. 72 Walther, WiJ 2013, 158 (160); Risse, HRRS 2014, 93 (101). 73 Walther, WiJ 2013, 158 (160); Risse, HRRS 2014, 93 (101).
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
Grundrechtecharta eröffnet ist.74 Von einer Durchführung von Unionsrecht ist ferner auszugehen, wenn in einem Strafverfahren Rechtsfolgen verhängt werden, die die Wahrnehmung unionaler Rechte beschränken.75 Das Gleiche gilt, wenn eine strafrechtliche Regelung auf nationaler Ebene eine unionsrechtlich garantierte Grundfreiheit einschränkt.76 Zunehmend gibt es auch strafprozessrechtliche Normen, die auf der Umsetzung von Unionsrecht beruhen oder unionsrechtlichen Verpflichtungen dienen. Vor allem im Bereich der Beschuldigtenrechte und des Opferschutzes sind solche Normen anzutreffen.77 Mit der Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ist auch das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand unionsrechtlich determiniert und an der Grundrechtecharta zu messen.
II. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC Art. 48 Abs. 2 GRC garantiert jedem Beschuldigten die Achtung der Verteidigungsrechte. Im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 3 EMRK enthält die Regelung jedoch keine detaillierte Auflistung der Verteidigungsrechte.78 Ungeachtet seines abweichenden Wortlauts soll Art. 48 Abs. 2 GRC nach den Erläuterungen zur Grundrechtecharta, die gemäß Art. 52 Abs. 7 GRC bei der Auslegung der Grundrechtecharta gebührend zu berücksichtigen sind, der Regelung des Art. 6 Abs. 3 EMRK entsprechen.79 Gemäß Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC hat Art. 48 Abs. 2 GRC damit die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 6 Abs. 3 EMRK. Der Terminus „gleiche Bedeutung und Tragweite“ bezieht sich sowohl auf den Schutzumfang als auch die Schrankenebene.80 Darüber hinaus ergibt sich aus den Erläuterungen zur Grundrechtecharta, dass die Bedeutung und Tragweite der in der 74 EuGH, 26.09.2013, Texdata Software, C-418/11, Rn. 74–75, EU:C:2013:588; Stern/Sachs-Ladenburger/Vondung, Art. 51 Rn. 55. 75 EuGH, 06.10.2015, Delvigne, C-650/13, Rn. 32–33, EU:C:2015:648; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 146. 76 EuGH, 19.01.1999, Calfa, C-348/96, Rn. 28–29, EU:C:1999:6; EuGH, 30.04. 2014, Pfleger u. a., C-390/12, Rn. 35–36, EU:C:2014:281; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 146; Esser, in: Jahn/Radtke (Hrsg.), Deutsche Strafprozessreform und Europäische Grundrechte, S. 55 (79); Esser/Rübenstahl/Boerger, NZWiSt 2014, 401 (404); Meyer, ZStW 128 (2016), 1089 (1106–1109). 77 Vgl. hierzu Esser, in: Jahn/Radtke (Hrsg.), Deutsche Strafprozessreform und Europäische Grundrechte, S. 55 (81–84). 78 Stern/Sachs-Alber, Art. 48 Rn. 13; Streinz-Streinz, Art. 48 GRC Rn. 3; Schwarze/ Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 48 GRC Rn. 7. 79 ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17 (30); Holoubek/Lienbacher-Kröll, Art. 48 Rn. 2; Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 48 Rn. 37 kritisieren, dass mit der Heranziehung der in Art. 6 Abs. 3 EMRK ausformulierten Rechte die Chance auf eine zeitgerechte Fassung und Ergänzung der Verteidigungsrechte verpasst wurde. 80 Meyer4-Borowsky, Art. 52 Rn. 30; Jarass, Art. 52 Rn. 56; Holoubek/LienbacherRumler-Korinek/Vranes, Art. 52 Rn. 32; Meyer/Hölscheidt-Schwerdtfeger, Art. 52 Rn. 59; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 10 Rn. 77.
A. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta
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Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Rechte neben dem Wortlaut der Europäischen Menschenrechtskonvention auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestimmt wird.81 Bei der Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt es sich um eine dynamische Verweisung, sodass sowohl die bisherige als auch die zukünftige Rechtsprechung bei der Auslegung der Grundrechtecharta zu berücksichtigen ist.82 Mithin sind die in Art. 6 Abs. 3 lit. a–e EMRK genannten Verteidigungsrechte – und damit auch das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand83 – in Art. 48 Abs. 2 GRC „hineinzulesen“ 84 und zwar so, wie sie durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden. Nach der Öffnungsklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC kann das Recht der Union einen weitergehenden Schutz gewähren. Dies kann sowohl durch das Unionsrecht, insbesondere die Grundrechtecharta selbst, als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geschehen.85 Damit wird klargestellt, dass die Grundrechtecharta niemals einen geringeren Schutz gewährt als die Europäische Menschenrechtskonvention.86 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 48 Abs. 2 GRC, die das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in einem weiteren Umfang interpretiert, als es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezüglich Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK tut, existiert bisher nicht, sodass Art. 48 Abs. 2 GRC dem mittellosen Beschuldigten ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand im Umfang des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK gewährleistet. Allerdings besteht hier zukünftig Potenzial für eine Rechtsprechung, die dem Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in einem weiteren Umfang gewährt, als dies die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte tut.87 81 ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17 (33); Tettinger/Stern-v. Danwitz, Art. 52 Rn. 56; Nowak, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 57 Rn. 14; Holoubek/Lienbacher-Rumler-Korinek/Vranes, Art. 52 Rn. 34; Meyer/Hölscheidt-Schwerdtfeger, Art. 52 Rn. 61. 82 Tettinger/Stern-v. Danwitz, Art. 52 Rn. 57; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 30; Jarass, Art. 52 Rn. 65; Meyer/Hölscheidt-Schwerdtfeger, Art. 52 Rn. 61. 83 Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 48 GRC Rn. 5; Jarass, NStZ 2012, 611 (614); Nowak, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 57 Rn. 14; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 48 GRC Rn. 8. 84 Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 48 Rn. 28; Holoubek/Lienbacher-Kröll, Art. 48 Rn. 17; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 48 GRC Rn. 7. 85 Jarass, Art. 52 Rn. 62; Stern/Sachs-Krämer, Art. 52 Rn. 68; a. A. Meyer4-Borowsky, Art. 52 Rn. 39; Holoubek/Lienbacher-Rumler-Korinek/Vranes, Art. 52 Rn. 38–39. 86 ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17 (33). 87 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 205–212, leitet – gestützt auf Art. 52 Abs. 1 GRC – her, dass das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta weniger weitgehend und nur unter strengeren Anforderungen
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
III. Das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC Art. 47 Abs. 3 GRC gewährt einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe. Das Recht auf Prozesskostenhilfe hat kein direktes Vorbild in der Europäischen Menschenrechtskonvention.88 Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta verweisen zur Begründung des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Airey89 und nehmen zudem auf das Prozesskostenhilfesystem für die bei dem Gericht der Europäischen Union und dem Europäischen Gerichtshof anhängigen Rechtssachen90 Bezug.91 1. Der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe Das Recht auf Prozesskostenhilfe hat einen persönlichen, sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich. a) Der persönliche Anwendungsbereich Der persönliche Anwendungsbereich des Art. 47 Abs. 3 GRC erstreckt sich zunächst auf alle natürlichen Personen.92 Darüber hinaus haben auch juristische Personen einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe.93 b) Der sachliche Anwendungsbereich Der sachliche Anwendungsbereich des Rechts auf Prozesskostenhilfe beschränkt sich nicht auf Strafverfahren, sondern erstreckt sich vielmehr auf alle
eingeschränkt werden kann, als dies nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezüglich Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK der Fall ist. 88 Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 4; Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 47 Rn. 41. 89 EGMR, 09.10.1979, Airey ./. IRL, Nr. 6289/73 = EuGRZ 1979, 626–632. 90 Vgl. zum Prozesskostenhilfesystem beim Gericht der Europäischen Union die Art. 146–150 VerfO-EuG und beim Europäischen Gerichtshof die Art. 115–118, 184– 189 VerfO-EuGH. Die Regelungen zur Prozesskostenhilfe sind in der Verfahrensordnung des Gerichts deutlich detaillierter und umfangreicher als in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, was Stern/Sachs-Alber, Art. 47 Rn. 163 darauf zurückführt, dass vor allem Privatpersonen auf Prozesskostenhilfe angewiesen sind und diese häufiger vor dem Gericht der Europäischen Union als vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. 91 ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17 (30). 92 v. der Groeben/Schwarze/Hatje-Lemke, Art. 47 GRC Rn. 11; Schwarze/Becker/ Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 47 GRC Rn. 14. 93 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 59, EU:C:2010:811; Meyer/HölscheidtEser/Kubiciel, Art. 47 Rn. 44; Jarass, Art. 47 Rn. 62; Streinz-Streinz, Art. 47 GRC Rn. 12.
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Verfahrensarten.94 Damit hat Art. 47 Abs. 3 GRC einen deutlich weiteren sachlichen Anwendungsbereich als Art. 48 Abs. 2 GRC, der nur für das Strafverfahren gilt. Auch im Vergleich zu Art. 6 EMRK hat Art. 47 Abs. 3 GRC einen weiteren Anwendungsbereich, weil die Beschränkung auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen nicht zum Tragen kommt.95 c) Der zeitliche Anwendungsbereich Hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs des Rechts auf Prozesskostenhilfe wird vereinzelt vertreten, dass sich Art. 47 Abs. 3 GRC insbesondere auf das Vorfeld eines Verfahrens beziehe, während Art. 48 Abs. 2 GRC ein bereits anhängiges Strafverfahren erfordere,96 was wohl dahingehend zu verstehen ist, dass das Recht auf Prozesskostenhilfe auch im Ermittlungsverfahren Anwendung findet. Andere sind hingegen der Auffassung, dass der Anspruch auf Prozesskostenhilfe nicht für gänzlich gesonderte Verfahrensabschnitte vor dem Prozess beziehungsweise dem Hauptverfahren gelte, weshalb im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kein Anspruch auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC bestünde.97 Hierfür spricht insbesondere, dass das Recht auf Prozesskostenhilfe in einem engen Zusammenhang mit Art. 47 Abs. 1 GRC steht, der einen wirksamen Rechtsbehelf bei Gericht garantiert.98 2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe Gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC wird Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe bewilligt soweit dies erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe ist mithin an zwei Voraussetzungen geknüpft, die kumulativ vorliegen müssen.99 a) Die Mittellosigkeit des Beschuldigten Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe setzt zunächst voraus, dass der Beschuldigte nicht über ausreichende Mittel verfügt. Dies ist im Sinne einer finanziellen 94 Stern/Sachs-Alber, Art. 47 Rn. 160; Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 47 Rn. 44; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 5062; Streinz-Streinz, Art. 47 GRC Rn. 12; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 47 GRC Rn. 14. 95 Vgl. hierzu die Erläuterungen zur Grundrechtecharta ABl. C 303, 14.12.2007, S. 17 (34). 96 Holoubek/Lienbacher 1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 54. 97 Jarass3, Art. 48 Rn. 21; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 52–53; Lenz/Borchardt-Schonard, Art. 47 GRC Rn. 14; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 153. 98 Lenz/Borchardt-Schonard, Art. 47 GRC Rn. 14. 99 Holoubek/Lienbacher-Kröll, Art. 47 Rn. 80.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
Bedürftigkeit des Beschuldigten zu verstehen.100 Art. 47 Abs. 3 GRC zählt weder Kriterien zur Feststellung der Mittellosigkeit des Beschuldigten auf noch enthält die Vorschrift eine Vermögensgrenze, ab der der Beschuldigte als mittellos anzusehen ist. Auch die Bestimmungen zur Prozesskostenhilfe in der Verfahrensordnung des Gerichts und der Verfahrensordnung des Gerichtshofs liefern diesbezüglich keine Anhaltspunkte. Der Rechtsprechung lassen sich ebenfalls keine Kriterien zur Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Mittellosigkeit entnehmen. Ein Grund hierfür dürfte sein, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in den einzelnen Mitgliedstaaten so unterschiedlich sind, dass ein einheitlicher Maßstab für alle Mitgliedstaaten nicht praktikabel wäre. Im Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat der Europäische Gerichtshof bereits entschieden, dass beschlagnahmte Gelder freigegeben werden müssen, sofern dies zur Begleichung der Anwaltskosten erforderlich ist.101 Der Beschuldigte trägt hinsichtlich seiner Bedürftigkeit die Beweislast.102 Entsprechend Art. 147 Abs. 3 VerfO-EuG und Art. 115 Abs. 2, Art. 185 Abs. 2 VerfO-EuGH muss der Beschuldigte alle Auskünfte und Belege vorlegen, die eine Beurteilung seiner wirtschaftlichen Lage ermöglichen.103 Der Nachweis kann beispielsweise durch die Vorlage einer Einkommensbestätigung des zuständigen Finanzamts sowie durch das Einreichen einer Bescheinigung eines Kreditinstituts beziehungsweise einer Sozial- oder Prozesskostenbehörde erfolgen.104 b) Die Erforderlichkeit der Prozesskostenhilfe für die Gewährleistung eines wirksamen Zugangs zu den Gerichten Neben der Mittellosigkeit des Beschuldigten setzt Art. 47 Abs. 3 GRC ferner voraus, dass die Gewährung von Prozesskostenhilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten. Die Erforderlichkeit der Prozesskostenhilfe ist stets unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzel100 Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 20; Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 47 Rn. 45 Holoubek/Lienbacher1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 50; teilweise wird das Fehlen von ausreichenden Mitteln nicht mit der Bedürftigkeit des Beschuldigten gleichgesetzt, sondern vielmehr in einem relativen Sinn verstanden, weshalb auch Aspekte wie Waffengleichheit und Verfahrensdauer zu berücksichtigen seien, vgl. Stern/Sachs-Alber, Art. 47 Rn. 166–167 unter Verweis auf die Entscheidung EGMR, 15.02.2005, Steel u. Morris ./. GBR, Nr. 68416/01 = NJW 2006, 1255–1260; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 5063; Holoubek/Lienbacher-Kröll, Art. 47 Rn. 80. 101 EuGH, 12.06.2014, Peftiev u. a., C-314/13, Rn. 23–34, EU:C:2014:1645. 102 Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 47 Rn. 45; Holoubek/Lienbacher 1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 50. 103 Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 47 Rn. 45; Holoubek/Lienbacher 1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 50. 104 Wägenbaur, Art. 115 VerfO-EuGH Rn. 3, Art. 185 VerfO-EuGH Rn. 3, Art. 147 VerfO-EuG Rn. 6.
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falls zu bestimmen.105 Entscheidend ist hierbei insbesondere der Umfang der Auswirkungen auf den Kläger, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie die Fähigkeit des Klägers, seine Sache wirksam zu vertreten.106 Auch den Erfolgsaussichten des Beschwerdeführers im Verfahren kann Rechnung getragen werden.107 Deshalb ist Prozesskostenhilfe nicht zu bewilligen, wenn die Rechtsverfolgung offensichtlich aussichtslos ist,108 rechtsmissbräuchlich erscheint109 oder offensichtlich unbegründet ist.110 Ähnliche Kriterien berechtigen zur Ablehnung von Prozesskostenhilfe bei Verfahren vor dem Gericht der Europäischen Union beziehungsweise dem Europäischen Gerichtshof.111 Ob diese einschränkenden Kriterien allerdings auch bei Prozesskostenhilfe im Strafverfahren Anwendung finden können, erscheint aus mehreren Gründen zweifelhaft. So würde die Berücksichtigung der Erfolgsaussichten außer Acht lassen, dass Verteidigerbeistand auch dann erforderlich sein kann, wenn der Beschuldigte schlussendlich verurteilt wird. Des Weiteren bedarf es für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Verteidigung der Kenntnis des Verteidigungsziels und der Verteidigungsstrategie, welche der Beschuldigte jedoch nicht offenlegen muss.112 Außerdem würde die Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Verteidigung bedeuten die Unschuldsvermutung zu leugnen.113 Aus diesen Gründen kann im Strafverfahren die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht von den Erfolgsaussichten der Verteidigung abhängig gemacht werden. 3. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe Verfügt der Beschuldigte nicht über ausreichende Mittel, hat er einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe, soweit dies erforderlich ist, um den Zugang zu 105
EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 46, EU:C:2010:811. EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 46, EU:C:2010:811. 107 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 46, EU:C:2010:811. 108 Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 20; Meyer/Hölscheidt-Eser/Kubiciel, Art. 47 Rn. 45; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 5063; Holoubek/Lienbacher1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 51; Lenz/Borchardt-Schonard, Art. 47 GRC Rn. 14; teilweise wird das Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit restriktiver verstanden und gefordert, dass die Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussichten haben muss, so Jarass, Art. 47 Rn. 62; Holoubek/Lienbacher-Kröll, Art. 47 Rn. 81; v. der Groeben/Schwarze/Hatje-Lemke, Art. 47 GRC Rn. 15. 109 Holoubek/Lienbacher 1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 51. 110 Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 20; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 5063; Holoubek/Lienbacher1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 51. 111 Vgl. Art. 146 Abs. 2 VerfO-EuG und Art. 187 Abs. 1 VerfO-EuGH. 112 So Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 191 und Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 472–473 bezüglich der hinreichenden Erfolgsaussichten im Sinne des § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO im Rahmen der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe. 113 So Sandermann, „Waffengleichheit“ im Strafprozeß, S. 170 bezüglich der hinreichenden Erfolgsaussichten im Sinne des § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO im Rahmen der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe. 106
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
den Gerichten wirksam zu gewährleisten. Der Begriff „Prozesskostenhilfe“ ist in einem weiten Sinne zu verstehen.114 Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe erstreckt sich auf sämtliche Kosten, die für eine sachgemäße Rechtsverfolgung notwendig sind.115 Er umfasst insbesondere die Befreiung von der Zahlung eines Gerichtskostenvorschusses oder sonstiger Gerichtskosten, die Übernahme der Gebühren eines Verteidigers beziehungsweise die Beteiligung an den Verteidigerkosten sowie die Bestellung eines Verteidigers.116 Sofern das Recht auf Prozesskostenhilfe die Übernahme der Verteidigerkosten oder die Bestellung eines Verteidigers gewährt, deckt es sich vom Gewährleistungsumfang mit dem Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach Art. 48 Abs. 2 GRC und Art. 6 Abs. 3 EMRK. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe geht aber über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand hinaus, indem er auch die Befreiung von der Zahlung eines Gerichtskostenvorschusses oder sonstiger Gerichtskosten garantiert. Die nähere Ausgestaltung des Rechts auf Prozesskostenhilfe bleibt dem nationalen Gesetzgeber überlassen.117 Diesem obliegt es, die formalen Voraussetzungen und die materielle Ausgestaltung der Prozesskostenhilfe festzulegen.118 So kann die Gewährung von Prozesskostenhilfe etwa vom Nachweis fehlender finanzieller Mittel oder von den Erfolgsaussichten des Verfahrens – wobei letzteres nach der hier vertretenen Ansicht nicht für das Strafverfahren gilt – abhängig gemacht werden.119 Außerdem kann das nationale Recht umfassende Auskunftsund Mitwirkungspflichten vorsehen oder bestimmte Vermögensgrenzen normieren.120 Ferner kann die Gewährung von Prozesskostenhilfe von einem Antrag des Beschuldigten abhängig gemacht werden. Allerdings ist ein Antrag des Beschuldigten – auch wenn dies vereinzelt aus dem Wortlaut des Art. 47 Abs. 3 GRC „wird bewilligt“ abgeleitet wird121 – keine zwingende Voraussetzung für die Ge114 Stern/Sachs-Alber, Art. 47 Rn. 160; Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 20; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 5061; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 47 GRC Rn. 14. 115 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 5061; Jarass, Art. 47 Rn. 63; Holoubek/Lienbacher-Kröll, Art. 47 Rn. 79; v. der Groeben/Schwarze/Hatje-Lemke, Art. 47 GRC Rn. 15. 116 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 59, EU:C:2010:811; EuGH, 13.06.2012, GREP, C-156/12, Rn. 38, EU:C:2012:342; Stern/Sachs-Alber, Art. 47 Rn. 160; Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 20; Jarass, Art. 47 Rn. 63; Holoubek/Lienbacher-Kröll, Art. 47 Rn. 79; FK/EUV/GRC/AEUV-Nehl, Art. 47 GRC Rn. 69; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 47 GRC Rn. 14. 117 Frenz, Handbuch Europarecht, Band 4, Rn. 5062; Jarass/Kment, EU-Grundrechte, § 41 Rn. 53; Holoubek/Lienbacher1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 52. 118 Stern/Sachs-Alber, Art. 47 Rn. 161; Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 20; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 47 GRC Rn. 14. 119 Stern/Sachs-Alber, Art. 47 Rn. 161; Calliess/Ruffert-Blanke, Art. 47 GRC Rn. 20; Schwarze/Becker/Hatje/Schoo-Voet van Vormizeele, Art. 47 GRC Rn. 14 Fn. 47. 120 Holoubek/Lienbacher 1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 53.
A. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Grundrechtecharta
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währung von Prozesskostenhilfe, denn andere Sprachfassungen verwenden deutlich weitere Formulierungen.122 Sofern die Gewährung von Prozesskostenhilfe an ein Antragserfordernis geknüpft wird, kann für die Antragsstellung – wie Art. 147 Abs. 2 VerfO-EuG zeigt – die Verwendung eines speziellen Antragsformulars vorgeschrieben werden. Die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Rechts auf Prozesskostenhilfe findet ihre Grenzen im Effektivitäts- sowie im Äquivalenzgrundsatz.123 Der Effektivitätsgrundsatz gebietet, dass die nationalen Regelungen die Ausübung des Rechts nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen.124 Nach dem Äquivalenzgrundsatz dürfen zudem die Rechtsschutzmöglichkeiten nicht schwächer ausfallen als bei entsprechenden innerstaatlichen Ansprüchen.125 Ferner dürfen die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe keine Beschränkung des Rechts auf Zugang zu den Gerichten darstellen, die dieses Recht in seinem Wesensgehalt beeinträchtigen.126 Beschränkungen des Rechts auf Prozesskostenhilfe sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie einem legitimen Zweck dienen und die angewandten Mittel in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen.127 Bei dieser Beurteilung können zum einen der Streitgegenstand und zum anderen die begründeten Erfolgsaussichten des Klägers berücksichtigt werden.128 Ferner ist die Bedeutung des Rechtsstreits für den Kläger, dessen Fähigkeit, sein Anliegen wirksam zu verteidigen sowie die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens zu beachten.129 Ferner kann bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Höhe der vorzuschießenden Gerichtskosten sowie dem Umstand Rechnung getragen werden, ob diese für den Zugang zum Recht gegebenenfalls ein Holoubek/Lienbacher1-Raschauer/Sander/Schlögl, Art. 47 Rn. 48. So verwendet die englische Sprachfassung die Formulierung „Legal aid shall be made available . . .“ und der französische Normtext lautet „Une aide juridictionnelle est accordée . . .“. 123 Gogolin, Die deutsche Prozesskostenhilfe im Umbruch, S. 293. 124 EuGH, 21.09.1983, Deutsche Milchkontor GmbH u. a., C-205/82 u. a., Rn. 19, EU:C:1983:233; Calliess/Ruffert-Calliess/Kahl, Art. 4 EUV Rn. 128; Streinz-Streinz, Art. 4 EUV Rn. 53. 125 EuGH, 21.09.1983, Deutsche Milchkontor GmbH u. a., C-205/82 u. a., Rn. 19, EU:C:1983:233; EuGH, 28.01.2015, Starjakob, C-417/13, Rn. 61, EU:C:2015:38; Jarass/Kment, EU-Grundrechte, § 40 Rn. 15; Gogolin, Die deutsche Prozesskostenhilfe im Umbruch, S. 293; Streinz-Streinz, Art. 47 GRC Rn. 6. 126 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 60, EU:C:2010:811; EuGH, 13.06.2012, GREP, C-156/12, Rn. 40, EU:C:2012:342. 127 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 60, EU:C:2010:811; EuGH, 13.06.2012, GREP, C-156/12, Rn. 40, EU:C:2012:342. 128 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 61, EU:C:2010:811; EuGH, 13.06.2012, GREP, C-156/12, Rn. 41, EU:C:2012:342; Streinz-Streinz, Art. 47 GRC Rn. 12. 129 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 61, EU:C:2010:811; EuGH, 13.06.2012, GREP, C-156/12, Rn. 41, EU:C:2012:342; Streinz-Streinz, Art. 47 GRC Rn. 12. 121 122
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
unüberwindliches Hindernis darstellen.130 Diese vom Europäischen Gerichtshof in einem zivilrechtlichen Verfahren aufgestellten Kriterien können – abgesehen von den Erfolgsaussichten – auch für die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Strafverfahren herangezogen werden.
IV. Das Verhältnis des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC zum Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC Die Grundrechtecharta gewährleistet dem mittellosen Beschuldigten gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand und gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC ein Recht auf Prozesskostenhilfe. Da sowohl Art. 48 Abs. 2 GRC als auch Art. 47 Abs. 3 GRC dem mittellosen Beschuldigten die Übernahme der Verteidigergebühren durch den Staat garantieren, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis beide Bestimmungen zueinander stehen. Vereinzelt wird Art. 48 Abs. 2 GRC als lex specialis gegenüber Art. 47 Abs. 3 GRC angesehen.131 Überwiegend wird jedoch davon ausgegangen, dass beide Vorschriften parallel anwendbar sind.132 Für die letztgenannte Ansicht spricht, dass beide Gewährleistungen nicht völlig identisch sind und deshalb nur eine parallele Anwendung dem Beschuldigten einen umfassenden Schutz gewährt. So garantiert Art. 48 Abs. 2 GRC dem mittellosen Beschuldigten lediglich unentgeltlichen Verteidigerbeistand, während er nach Art. 47 Abs. 3 GRC unter Umständen auch einen Anspruch auf die Übernahme von Gerichtskosten hat, der über die bloße Unentgeltlichkeit der Verteidigung hinausgeht. Anderseits ist nur Art. 48 Abs. 2 GRC bereits im Ermittlungsverfahren anwendbar, sodass in zeitlicher Hinsicht das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand einen weitreichenderen Schutz gewährt als das Recht auf Prozesskostenhilfe.
B. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird konkretisiert durch die am 24.11.2016 in Kraft getretene Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie ist Teil des am 30.11.2009 vom Rat der Europäischen Union angenommenen Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen 130 EuGH, 22.12.2010, DEB, C-279/09, Rn. 61, EU:C:2010:811; EuGH, 13.06.2012, GREP, C-156/12, Rn. 41, EU:C:2012:342. 131 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 153. 132 EuGH, 29.01.2013, Radu, C-396/11, Rn. 32, 39, EU:C:2013:39 bezüglich des Rechts auf rechtliches Gehör; Jarass, Art. 48 Rn. 6; v. der Groeben/Schwarze/HatjeLemke, Art. 48 GRC Rn. 3.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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oder Beschuldigten in Strafverfahren.133 Der Fahrplan sieht vor, dass schrittweise Maßnahmen ergriffen werden, die das Recht auf Übersetzungen und Dolmetscherleistungen (Maßnahme A), das Recht auf Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung (Maßnahme B), das Recht auf Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe (Maßnahme C), das Recht auf Kommunikation mit Angehörigen, Arbeitgebern und Konsularbehörden (Maßnahme D) und besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte (Maßnahme E) betreffen.134 Ferner sieht der Fahrplan vor, dass ein Grünbuch über die Untersuchungshaft erstellt wird (Maßnahme F).135 Am 11.12.2009 hat der Europäische Rat den Fahrplan zum Bestandteil des Stockholmer Programms gemacht.136 Bisher wurden fünf Richtlinien zur Umsetzung der Maßnahmen A bis E erlassen.137 Zudem wurde das Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs geschaffen.138 Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie, die den zweiten Teil der Maßnahme C des Fahrplans betrifft,139 stellt nun die sechste und vorläufig letzte Maßnahme dar.140 Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie ergänzt die Rechtsbeistand-Richtlinie und die Jugendstrafverfahren-Richtlinie.141 Mit der Prozesskostenhilfe-Richtlinie soll die Effektivität des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, wie es in der Rechtsbeistand-Richtlinie vorgesehen ist, gewährleistet werden, indem Beschul-
133
ABl. C 295, 04.12.2009, S. 1–3. ABl. C 295, 04.12.2009, S. 1 (3). 135 ABl. C 295, 04.12.2009, S. 1 (3). 136 ABl. C 115, 04.05.2010, S. 1 (10). 137 Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, ABl. L 280, 26.10.2010, S. 1–7; Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, ABl. L 142, 01.06.2012, S. 1–10, im Folgenden „Belehrungs-Richtlinie“; Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs, ABl. L 294, 06.11.2013, S. 1–12; Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren, ABl. L 65, 11.03.2016, S. 1–11; Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ABl. L 132, 21.05.2016, S. 1–20, im Folgenden „Jugendstrafverfahren-Richtlinie“. 138 KOM(2011), 327 endgültig. 139 Erwägungsgrund 7 RL (EU) 2016/1919. 140 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 221; Zink, Autonomie und Strafverteidigung zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, S. 45. 141 Art. 1 Abs. 2 S. 1 RL (EU) 2016/1919. 134
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
digten ein durch die Mitgliedstaaten finanzierter Rechtsbeistand zur Verfügung gestellt wird.142 Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie enthält dabei lediglich Mindestvorschriften über das Recht auf Prozesskostenhilfe.143 Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie ist so auszulegen, dass weder die in jenen Richtlinien vorgesehenen Rechte beschränkt werden,144 noch Rechte und Verfahrensgarantien, die durch die Grundrechtecharta, die Europäische Menschenrechtskonvention oder andere einschlägige Bestimmungen des Völkerrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten, die ein höheres Schutzniveau vorsehen, gewährleistet sind, beschränkt oder beeinträchtigt werden.145 Großbritannien, Irland sowie Dänemark beteiligen sich nicht an der Annahme der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und sind durch diese weder gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.146 Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie war von den Mitgliedstaaten bis zum 05.05.2019 in nationales Recht umzusetzen.147 Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, der Kommission spätestens am 05.05.2021 und danach alle drei Jahre Daten zu übermitteln, aus denen hervorgeht, wie die in der Prozesskostenhilfe-Richtlinie verankerten Rechte umgesetzt worden sind.148 Im Folgenden werden zunächst der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie (I.) und die tatbestandlichen Voraussetzungen des Rechts auf Prozesskostenhilfe (II.) dargestellt. Sodann wird untersucht, was unter Prozesskostenhilfe im Sinne der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zu verstehen ist (III.). Anschließend wird auf den Zeitpunkt der Verteidigerbestellung (IV.), die Auswahl und Bestellung des Verteidigers (V.), die Qualität des Systems der Prozesskostenhilfe und der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen (VI.), die Auswechslung des Verteidigers (VII.), das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs (VIII.), die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Personen (IX.), die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf Prozesskostenhilfe (X.) und die Vergütung des im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Verteidigers (XI.) eingegangen.
142
Erwägungsgrund 1 RL (EU) 2016/1919. Art. 1 Abs. 1 RL (EU) 2016/1919; Erwägungsgrund 2 RL (EU) 2016/1919. 144 Art. 1 Abs. 2 S. 2 RL (EU) 2016/1919. 145 Art. 11 RL (EU) 2016/1919. 146 Erwägungsgründe 32 und 33 RL (EU) 2016/1919. 147 Art. 12 Abs. 1 S. 1 RL (EU) 2016/1919; die Umsetzungsfrist wurde vom 25.05. 2019 auf den 05.05.2019 berichtigt, ABl. L 91, 05.04.2017, S. 40. 148 Art. 10 Abs. 1 RL (EU) 2016/1919; die Frist zur Übermittlung von Daten an die Kommission wurde vom 25.05.2021 auf den 05.05.2021 berichtigt, ABl. L 91, 05.04. 2017, S. 40. Gemäß Erwägungsgrund 28 RL (EU) 2016/1919 sind nach Möglichkeit die Anzahl der Anträge auf Prozesskostenhilfe, die Anzahl der Fälle, in denen ein Antrag auf Prozesskostenhilfe bewilligt beziehungsweise abgewiesen wurde sowie die Kosten für die Bereitstellung von Prozesskostenhilfe für Verdächtige oder beschuldigte Personen zu erheben und zu übermitteln. 143
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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I. Der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie findet gemäß Art. 2 Abs. 1 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Anwendung auf Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren, die ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Rechtsbeistand-Richtlinie haben und denen die Freiheit entzogen ist, die nach Maßgabe des Unionsrechts oder des nationalen Rechts die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten müssen oder deren Anwesenheit bei einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung vorgeschrieben oder zulässig ist. Dies umschreibt den persönlichen, sachlichen, zeitlichen und situativen Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. 1. Der persönliche Anwendungsbereich Der persönliche Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie umfasst gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der ProzesskostenhilfeRichtlinie Verdächtige und beschuldigte Personen. Weder die ProzesskostenhilfeRichtlinie noch die übrigen im Zuge des Stockholmer Programms ergangenen Richtlinien definieren diese Begriffe.149 Beide Begriffe müssen autonom ausgelegt werden. Die Verwendung von zwei Begriffen legt nahe, dass damit unterschiedliche Personengruppen bezeichnet werden.150 Aus Art. 2 Abs. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ergibt sich allerdings, dass für den Status als „Verdächtiger“ oder „beschuldigte Person“ das Bestehen eines Tatverdachts erforderlich ist, aufgrund dessen gegen die betreffende Person ermittelt wird.151 Weitere Kriterien stellt die Richtlinie nicht auf. Auch differenziert die Richtlinie an keiner Stelle zwischen Verdächtigen und beschuldigten Personen. Eine weitere Unterscheidung der Begriffe ist daher nicht nötig. Der persönliche Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie erfasst im Sinne der Terminologie der Strafprozessordnung Beschuldigte, Angeschuldigte und Angeklagte. Verdächtige und beschuldigte Personen im Sinne der Richtlinie können ausschließlich natürliche Personen sein.152 Die Richtlinie gilt für alle Verdächtigen und beschuldigten Personen ungeachtet ihres Rechtsstatus, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer Nationalität.153 Gemäß Art. 2 Abs. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gilt die Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht nur für Personen, die von Anfang an Verdächtige oder beschuldigte Personen waren, sondern auch für Personen, die ursprünglich nicht 149
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 244. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 244. 151 Ähnlich Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 245, die einen Strafverfolgungswillen der Behörden für erforderlich hält. 152 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 67. 153 Erwägungsgrund 29 RL (EU) 2016/1919. 150
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
Verdächtige oder beschuldigte Personen waren, aber während der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde zu Verdächtigen oder beschuldigten Personen werden.154 Dieser in der Praxis durchaus vorkommende Fall kann beispielsweise entstehen, wenn sich während einer Zeugenvernehmung ein Tatverdacht gegen den Zeugen ergibt.155 Wird jemand im Laufe einer Befragung zum Verdächtigen oder zur beschuldigten Person, ist die Befragung unverzüglich zu unterbrechen.156 Allerdings soll die Möglichkeit bestehen, die Befragung fortzusetzen, wenn die betreffende Person darauf hingewiesen wurde, dass sie nun Verdächtiger oder beschuldigte Person ist und die Rechte der Prozesskostenhilfe-Richtlinie uneingeschränkt wahrnehmen kann.157 Der persönliche Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ist hinsichtlich natürlicher Personen deckungsgleich mit dem der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta. Anders als Art. 47 Abs. 3 GRC sieht die Richtlinie dagegen keine Gewährung von Prozesskostenhilfe für juristische Personen vor. 2. Der sachliche Anwendungsbereich Sachlich anwendbar ist die Prozesskostenhilfe-Richtlinie in Strafverfahren. Allerdings wird der Begriff des Strafverfahrens weder von der ProzesskostenhilfeRichtlinie noch von den anderen Richtlinien, die im Rahmen des Stockholmer Programms erlassen wurden, definiert.158 Gemäß Art. 11 der ProzesskostenhilfeRichtlinie darf die Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht so ausgelegt werden, dass dadurch Rechte und Verfahrensgarantien, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention gewährleistet werden und ein höheres Schutzniveau vorsehen, beschränkt oder beeinträchtigt werden.159 Deshalb muss der sachliche Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie mindestens dem des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK entsprechen. Daher kann zur Bestimmung des Begriffs des Strafverfahrens auf die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgestellten Engel-Kriterien zurückgegriffen werden.160 Legt man diese Kriterien zugrunde ist der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie deckungsgleich mit dem der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta. 154
Art. 2 Abs. 3 RL (EU) 2016/1919. Vgl. Erwägungsgrund 10 RL (EU) 2016/1919. 156 Erwägungsgrund 10 RL (EU) 2016/1919. 157 Erwägungsgrund 10 RL (EU) 2016/1919. 158 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 234; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 66. 159 Vgl. hierzu auch Erwägungsgrund 30 RL (EU) 2016/1919. 160 So im Ergebnis, aber mit anderer Begründung, auch Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 66. 155
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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3. Der zeitliche Anwendungsbereich Nicht nur der sachliche, sondern auch der zeitliche Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie wird durch den Begriff des Strafverfahrens umschrieben. Gemäß Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person161 durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde oder vor162 der Durchführung einer Identifizierungsgegenüberstellung, einer Vernehmungsgegenüberstellung oder einer Tatortrekonstruktion bewilligt wird. Wie weit im Vorhinein Prozesskostenhilfe gewährt werden muss, lässt die Richtlinie offen. Aus dem Sinn und Zweck der Richtlinie, nämlich die Effektivität des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, lässt sich ableiten, dass Prozesskostenhilfe so frühzeitig zur Verfügung gestellt werden muss, dass eine effektive Verteidigung gewährleistet ist. Mit Blick auf Art. 6 Abs. 3 EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRC muss dem Verteidiger ausreichend Zeit zur Konsultation des Beschuldigten und auch sonst genügend Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung verbleiben.163 Insgesamt ist Prozesskostenhilfe bereits im Ermittlungsverfahren zu gewähren. Bis zu welchem Zeitpunkt des Strafverfahrens Verdächtigen und beschuldigten Personen Prozesskostenhilfe zu gewähren ist, ist in der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht explizit normiert. Aus Art. 2 Abs. 4 S. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie lässt sich jedoch ableiten, dass sich der zeitliche Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bis zum Abschluss des Strafverfahrens erstreckt.164 Unter dem Abschluss des Strafverfahrens ist gemäß Art. 2 Abs. 1 S. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie die endgültige Klärung der Frage zu verstehen, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren. Bei geringfügigen Zuwiderhandlungen ist in den Fällen des Art. 2 Abs. 4 lit. a und b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie der zeitliche Anwendungsbereich der Richtlinie auf das Verfahren vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht beschränkt. Geringfügige Zuwiderhandlungen können beispielsweise Verkehrsübertretungen, Missachtungen allgemeiner Gemeindeverordnungen oder Verstöße ge161 Dass Prozesskostenhilfe nur vor Befragungen von Verdächtigen und beschuldigten Personen und nicht auch für Befragungen von Zeugen oder Mitbeschuldigten zu gewähren ist, ergibt sich nicht unmittelbar aus Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, sondern erst durch die Klarstellung in Erwägungsgrund 19 RL (EU) 2016/1919, vgl. hierzu auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 247. 162 Art. 3 Abs. 2 lit. b der Rechtsbeistand-Richtlinie spricht von „ab“. 163 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 247. 164 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 252.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
gen die öffentliche Ordnung sein.165 Die Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Prozesskostenhilfe-Richtlinie auf das Verfahren vor einem in Strafsachen zuständigen Gericht betrifft gemäß Art. 2 Abs. 4 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Fälle, in denen das Recht eines Mitgliedstaats die Verhängung einer Sanktion durch eine Behörde vorsieht und bei denen gegen die Verhängung einer solchen Sanktion bei einem Gericht ein Rechtsbehelf eingelegt oder ein Gericht mit der Verhängung der Sanktion befasst werden kann. Ferner gilt dies gemäß Art. 2 Abs. 4 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie für Fälle, in denen Freiheitsentzug nicht als Sanktion verhängt werden kann. In beiden Fällen darf durch die Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bei geringfügigen Zuwiderhandlungen das Recht auf ein faires Verfahren nicht beeinträchtigt werden.166 Eine Ausnahme von der Beschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Prozesskostenhilfe-Richtlinie normiert Art. 2 Abs. 4 S. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Danach findet die Prozesskostenhilfe-Richtlinie in jedem Fall Anwendung, wenn eine Entscheidung über eine Inhaftierung getroffen wird, sowie während der Haft, zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens bis zu seinem Abschluss. Der zeitliche Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie stimmt weitestgehend mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Grundrechtecharta überein. Allerdings sieht weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch die Grundrechtecharta bei geringfügigen Zuwiderhandlungen eine Beschränkung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand auf das gerichtliche Verfahren vor.167 Vielmehr ist nach Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK unentgeltlicher Verteidigerbeistand stets zu gewähren, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Gerade bei geringfügigen Zuwiderhandlungen dürfte das Kriterium der Schwere des Tatvorwurfs und der zu erwartenden Strafe häufig zu verneinen sein. Dennoch kann auch bei geringfügigen Zuwiderhandlungen die Komplexität des Falles oder die persönliche Situation des Beschuldigten unentgeltlichen Verteidigerbeistand gebieten. Insofern schränkt Art. 2 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand stärker ein, als dies die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta zulassen. Es ist daher eine konventions- und chartakonforme Auslegung geboten. Als Anknüpfungspunkt hierfür muss auf den Passus „unbeschadet des Rechts auf ein faires Verfahren“ abgestellt werden.168
165 166 167 168
Erwägungsgrund 11 und 12 RL (EU) 2016/1919. Art. 2 Abs. 4 S. 1 RL (EU) 2016/1919; Erwägungsgrund 14 RL (EU) 2016/1919. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 250–251. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 251.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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4. Der situative Anwendungsbereich Damit der situative Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie eröffnet ist, ist zweierlei erforderlich. Zum einen müssen Verdächtige und beschuldigte Personen ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Rechtsbeistand-Richtlinie haben und zum anderen sich in einer der in Art. 2 Abs. 1 lit. a–c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie genannten Situationen befinden. a) Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Rechtsbeistand-Richtlinie Damit Verdächtige und beschuldigte Personen ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der Rechtsbeistand-Richtlinie haben, muss gemäß Art. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie deren Anwendungsbereich eröffnet sein und gemäß Art. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie müssen die Voraussetzungen für das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren vorliegen.169 aa) Der Anwendungsbereich der Rechtsbeistand-Richtlinie Der persönliche, sachliche und zeitliche Anwendungsbereich der Rechtsbeistand-Richtlinie wird durch Art. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie definiert. In persönlicher Hinsicht ist die Rechtsbeistand-Richtlinie auf Verdächtige und beschuldigte Personen anwendbar.170 Der sachliche Anwendungsbereich der Rechtsbeistand-Richtlinie umfasst gemäß Art. 2 Abs. 1 der Rechtsbeistand-Richtlinie das Strafverfahren. Zeitlich gilt die Rechtsbeistand-Richtline ab dem Zeitpunkt, zu dem Verdächtige oder beschuldigte Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden; unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde.171 Die Rechtsbeistand-Richtlinie ist bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren, anwendbar.172 Eine Ausnahme hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs normiert Art. 2 Abs. 4 der RechtsbeistandRichtlinie für geringfügige Zuwiderhandlungen. In den dort genannten Fällen findet die Rechtsbeistand-Richtlinie lediglich auf das Verfahren vor einem in Straf-
169 170 171 172
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 225. Art. 2 Abs. 1 und 3 RL 2013/48/EU. Art. 2 Abs. 1 S. 1 RL 2013/48/EU. Art. 2 Abs. 1 S. 2 RL 2013/48/EU.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
sachen zuständigen Gericht Anwendung, es sei denn dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person wird die Freiheit entzogen.173 bb) Die Voraussetzungen für einen Zugang zu einem Rechtsbeistand gemäß Art. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie Art. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie normiert die Voraussetzungen für das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren. Während Art. 3 Abs. 1 der Rechtsbeistand-Richtlinie die Mitgliedstaaten allgemein dazu verpflichtet, Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommen zu lassen, dass die Verteidigungsrechte effektiv wahrgenommen werden können, normiert Art. 3 Abs. 2 S. 2 lit. a–d der Rechtsbeistand-Richtlinie vier Fälle, in denen Verdächtige oder beschuldigte Personen auf jeden Fall Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten müssen. Gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 lit. a der Rechtsbeistand-Richtlinie ist Verdächtigen und beschuldigten Personen vor ihrer Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewähren. Des Weiteren haben Verdächtige und beschuldigte Personen gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 lit. b der Rechtsbeistand-Richtlinie ab der Durchführung von Ermittlungs- oder anderen Beweiserhebungshandlungen nach Art. 3 Abs. 3 lit. c der Rechtsbeistand-Richtlinie – also mindestens bei Identifizierungs- und Vernehmungsgegenüberstellungen sowie Tatortrekonstruktionen – ein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand; allerdings nur, wenn diese Maßnahmen in den einschlägigen nationalen Vorschriften vorgesehen sind und sofern die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist. Ferner ist Verdächtigen und beschuldigten Personen gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 lit. c der Rechtsbeistand-Richtlinie unverzüglich nach dem Entzug der Freiheit Zugang zu einem Rechtsbeistand zu ermöglichen. Schließlich haben Verdächtige oder beschuldigte Personen gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 lit. d der Rechtsbeistand-Richtlinie das Recht, einen Rechtsbeistand beizuziehen, wenn sie vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht geladen wurden und zwar rechtzeitig bevor sie vor diesem Gericht erscheinen müssen. Maßgeblich ist dabei stets der zuerst eintretende Zeitpunkt.174 Verdächtige oder beschuldige Personen haben jedoch kein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, wenn eine der in Art. 3 Abs. 5 und 6 der Rechtsbeistand-Richtlinie aufgeführten Ausnahmen eingreift oder sie gemäß Art. 9 der Rechtsbeistand-Richtlinie darauf verzichtet haben. Die normierten Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gleichen teilweise den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Kriterien zur Einschränkbarkeit des Rechts auf Verteidigerbeistand. Während diese Aspekte in Be173 174
Art. 2 Abs. 4 RL 2013/48/EU. Art. 3 Abs. 2 S. 2 RL 2013/48/EU.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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zug auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK jedoch als Einschränkung geprüft werden, setzt die Rechtsbeistand-Richtlinie diese Aspekte als Ausnahmen vom Anwendungsbereich um.175 Erwägungsgrund 9 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie stellt klar, dass in diesen Fällen auch kein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand besteht. Die Mitgliedstaaten können gemäß Art. 3 Abs. 5 der Rechtsbeistand-Richtlinie unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium vorübergehend das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach dem Entzug der Freiheit verzögern, wenn die unverzügliche Gewährung dieses Rechts aufgrund der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen nicht möglich ist. Als Beispiel hierfür nennt Erwägungsgrund 30 der Rechtsbeistand-Richtlinie, dass sich der Verdächtige oder die beschuldigte Person an einem weit entfernten Ort – etwa einem Überseegebiet – befindet oder an einer Militäroperation außerhalb des Mitgliedstaates teilnimmt. Diese Beispiele verdeutlichen, dass ein Abweichen von dem Recht des Verdächtigen oder der beschuldigten Person auf unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand nach dem Entzug der Freiheit nur in absoluten Ausnahmefällen möglich ist, die in nahezu keinem Strafverfahren vorliegen werden. Bei einer vorübergehenden Abweichung vom Recht auf unverzüglichen Zugang zu einem Rechtsbeistand nach dem Entzug der Freiheit, sollen die zuständigen Behörden weder eine Befragung der betreffenden Person durchführen noch die in der Rechtsbeistand-Richtlinie vorgesehenen Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen vornehmen.176 Außerdem sollten die Mitgliedstaaten, wenn der umgehende Zugang zu einem Rechtsbeistand wegen der geografischen Entfernung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person nicht möglich ist, für eine Kommunikation per Telefon oder Videokonferenz sorgen, sofern sich dies nicht als unmöglich erweist.177 Ob die in Art. 3 Abs. 5 der Rechtsbeistand-Richtlinie vorgesehene Einschränkbarkeit des Rechts auf Verteidigerbeistand mit den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Kriterien übereinstimmt, erscheint zweifelhaft.178 So ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die geografische Lage kein wichtiger Grund für die Einschränkbarkeit des Rechts auf Verteidigerbeistand. Allerdings wurde die Rechtsbeistand-Richtlinie erlassen bevor der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Rechtsprechung zum Vorliegen wichtiger Gründe in der Entscheidung Ibrahim konkretisierte.179 Ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem solchen Fall trotz des Fehlens eines wichtigen Grundes das Verfahren insgesamt noch als
175 176 177 178 179
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 258. Erwägungsgrund 30 RL 2013/48/EU. Erwägungsgrund 30 RL 2013/48/EU. Kritisch auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 259–260. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 260.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
fair betrachten wird, bleibt abzuwarten. Dies wird wahrscheinlich auch damit zusammenhängen, ob der Beschuldigte ohne Verteidiger befragt und diese Aussage verwertet wurde und ob dem Beschuldigten zeitnah Verteidigerbeistand gewährt wurde. Des Weiteren können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 Abs. 6 der Rechtsbeistand-Richtlinie unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium von dem nach Art. 3 Abs. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie garantierten Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt ist. Ein zwingender Grund für eine Verzögerung liegt nach Art. 3 Abs. 6 lit. a der Rechtsbeistand-Richtlinie vor, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist. Wird aus diesem Grund das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vorübergehend eingeschränkt, ist es den zuständigen Behörden gestattet, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu befragen, ohne dass der Rechtsbeistand zugegen ist, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person über das Recht, die Aussage zu verweigern, unterrichtet wurde und dieses Recht in Anspruch genommen werden kann, und die Befragung die Verteidigungsrechte, einschließlich des Schutzes vor Selbstbelastung, nicht beeinträchtigt.180 Allerdings darf die Befragung ausschließlich zu dem Zweck erfolgen, Informationen zu erlangen, die zur Abwehr von Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit erforderlich sind.181 Ein Missbrauch der Ausnahmeregelung verletzt die Verteidigungsrechte irreparabel.182 Die Möglichkeit, den Zugang zu einem Rechtsbeistand zur Abwehr von Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit vorübergehend einzuschränken deckt sich mit der nach dem Erlass der Rechtsbeistand-Richtlinie ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Entscheidung Ibrahim.183 Ferner liegt ein zwingender Grund nach Art. 3 Abs. 6 lit. b der Rechtsbeistand-Richtlinie vor, wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.184 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Vernichtung oder 180
Erwägungsgrund 31 RL 2013/48/EU. Erwägungsgrund 31 RL 2013/48/EU. 182 Erwägungsgrund 31 RL 2013/48/EU. 183 Wahl, ERA Forum 18 (2017), 311 (324); kritisch hierzu Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 261–262, die fordert, dass gerade durch die Gewährung von Rechtsbeistand eine Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person eintreten muss, was zumeist nicht auf alle Verteidiger zutreffen wird. 184 Wahl, ERA Forum 18 (2017), 311 (325), weist darauf hin, dass der Begriff der „erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens“ möglicherweise zu unbestimmt ist. Kritisch hierzu auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 261–262, die fordert, dass gerade durch die Gewährung von Rechtsbeistand eine Gefährdung des Strafverfahrens eintreten muss, was zumeist nicht auf alle Verteidiger zutreffen wird. 181
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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Veränderung von wesentlichen Beweismitteln oder die Beeinflussung von Zeugen verhindert werden soll.185 Bei einer vorübergehenden Abweichung aus diesem Grund können die Strafverfolgungsbehörden den Verdächtigen oder die beschuldigte Person befragen, auch wenn kein Rechtsbeistand zugegen ist, vorausgesetzt, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person über das Aussageverweigerungsrecht unterrichtet wurde, von diesem Recht Gebrauch machen kann und die Befragung die Verteidigungsrechte, einschließlich des Schutzes vor Selbstbelastung, nicht beeinträchtigt.186 Jedoch darf die Befragung nur zur Erlangung der notwendigen Informationen zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung des Strafverfahrens erfolgen.187 Ein Verstoß hiergegen beeinträchtigt die Verteidigungsrechte irreparabel.188 Diese Ausnahme hat keine direkte Entsprechung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Einschränkung des Rechts auf Verteidigerbeistand als mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ansehen wird, bleibt abzuwarten. Schließlich haben Verdächtige und beschuldigte Personen kein Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, wenn sie hierauf nach Art. 9 der RechtsbeistandRichtlinie verzichtet haben. In diesen Fällen muss – wie Erwägungsgrund 9 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie klarstellt – Verdächtigen und beschuldigten Personen keine Prozesskostenhilfe gewährt werden. Damit besteht nach der Konzeption der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – ebenso wie nach der Europäischen Menschenrechtskonvention – grundsätzlich die Möglichkeit auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu verzichten. Ein Verzicht auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand setzt gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a der Rechtsbeistand-Richtlinie zunächst voraus, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person mündlich oder schriftlich eindeutige und ausreichende Informationen in einfacher und verständlicher Sprache über den Inhalt des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren und die möglichen Folgen eines Verzichts auf dieses Recht erhalten hat. Des Weiteren muss die Verzichtserklärung gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. b der Rechtsbeistand-Richtlinie freiwillig und unmissverständlich abgegeben werden. Der Verzicht kann nach Art. 9 Abs. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie sowohl schriftlich als auch mündlich erfolgen. Der Verzicht sowie die Umstände der Verzichtserklärung sind gemäß Art. 9 Abs. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie schriftlich zu dokumentieren. Gemäß Art. 9 Abs. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie muss der Verzicht während des Strafverfahrens jederzeit widerrufbar sein. Hierüber ist der Verdächtige oder die beschuldigte Person nach Art. 9 Abs. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie zu be185 186 187 188
Erwägungsgrund 32 RL 2013/48/EU. Erwägungsgrund 32 RL 2013/48/EU. Erwägungsgrund 32 RL 2013/48/EU. Erwägungsgrund 32 RL 2013/48/EU.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
lehren. Der Widerruf ist nach Art. 9 Abs. 3 der Rechtsbeistand-Richtlinie ab dem Zeitpunkt wirksam, zu dem er erfolgt. Die in Art. 9 der RechtsbeistandRichtlinie aufgestellten Kriterien für einen Verzicht auf Rechtsbeistand orientieren sich an den vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Vorgaben für einen „wissentlichen und verständigen Verzicht“ („knowing and intelligent waiver“). Die grundsätzliche Möglichkeit, auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu verzichten, schließt jedoch nicht aus, dass ein Verteidiger am Verfahren mitwirken muss. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 der Rechtsbeistand-Richtlinie, nach dem ein Verzicht nur „[u]nbeschadet der nationalen Rechtsvorschriften, die die Anwesenheit oder Unterstützung eines Rechtsbeistands verbindlich vorschreiben“, erfolgen kann.189 Dies stimmt auch mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte überein, der davon ausgeht, dass der Beschuldigte nicht stets zugunsten des Rechts auf Selbstverteidigung auf (unentgeltlichen) Verteidigerbeistand verzichten kann. b) Das Vorliegen einer Situation des Art. 2 Abs. 1 lit. a–c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Hat ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person im Strafverfahren Anspruch auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nach Maßgabe der RechtsbeistandRichtlinie, eröffnet dies noch nicht automatisch den situativen Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Hierfür muss vielmehr eine der in Art. 2 Abs. 1 lit. a–c aufgezählten Situation vorliegen. Dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person muss entweder die Freiheit entzogen worden sein (Art. 2 Abs. 1 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie) oder der Verdächtige oder die beschuldigte Person muss nach Maßgabe des Unionsrechts oder des nationalen Rechts die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten (Art. 2 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie) oder die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person bei einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung ist vorgeschrieben oder zulässig (Art. 2 Abs. 1 lit. c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie). Während Art. 2 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ein zusätzliches Kriterium für die Gewährung von Prozesskostenhilfe aufstellt, verweisen Art. 2 Abs. 1 lit. a und c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie auf Situationen, die bereits gemäß Art. 3 Abs. 2 lit. b und c der Rechtsbeistand-Richtlinie Voraussetzung für das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sind und deshalb schon durch den Verweis auf „nach Maßgabe der Richtlinie 2013/48/EU“ erfasst werden.190 Indem Art. 2 Abs. 1 lit. a und c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie den Entzug der Freiheit beziehungsweise die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person bei einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung zur Voraussetzung für die Eröffnung des situativen Anwendungsbereichs der Prozess189 190
Schoeller, StV 2019, 190 (191). Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 232–233.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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kostenhilfe-Richtlinie machen, wird die Gewährung von Prozesskostenhilfe auf nur zwei der in Art. 3 Abs. 2 lit. a–d der Rechtsbeistand-Richtlinie angeführten Konstellationen beschränkt.191 Die Befragung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden sowie eine Ladung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht eröffnen mangels Nennung in Art. 2 Abs. 1 lit. a–c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht den situativen Anwendungsbereich der ProzesskostenhilfeRichtlinie. Diese Verengung des Anwendungsbereichs der ProzesskostenhilfeRichtlinie im Vergleich zur Rechtsbeistand-Richtlinie steht im Widerspruch zur Zielsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, die Effektivität des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu stärken.192 Außerdem wird dies nicht den Vorgaben des Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gerecht, der normiert, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde zu bewilligen ist.193 aa) Der Entzug der Freiheit Der situative Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ist gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie eröffnet, wenn dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person die Freiheit entzogen ist. Der Begriff des Freiheitsentzugs erfasst sowohl die Festnahme als auch die Untersuchungshaft.194 Dagegen fällt die Strafhaft grundsätzlich nicht unter den Begriff des Freiheitsentzugs, da sich diese erst an den rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens anschließt und damit nicht mehr vom zeitlichen Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie erfasst wird.195 Lediglich wenn sich der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einem anderen Verfahren in Strafhaft befindet, kann dies unter den Begriff des Freiheitsentzugs subsumiert werden.196 Keinen Freiheitsentzug im Sinne der Prozesskostenhilfe-Richtlinie stellen die Identifizierung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person, die Feststellung, ob Ermittlungen aufgenommen werden sollten, Überprüfungen auf Waffenbesitz oder Prüfungen ähnlicher Sicherheitsfragen, die Durchführung anderer als in der Richtlinie ausdrücklich genannter Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen wie Körperkontrollen, körperliche Untersuchungen, Blut-, Alkohol- oder ähnliche Tests, die Anfertigung von Fotografien oder die Abnahme von Finger191
Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 38. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 229. 193 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 229–230. 194 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 70. 195 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 70. 196 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 72; Schlothauer, StV 2018, 169 (171). 192
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
abdrücken und die Vorführung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person vor eine zuständige Behörde nach Maßgabe des nationalen Rechts, dar.197 bb) Die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand ist nach dem Unionsrecht oder dem nationalen Recht zwingend erforderlich Ferner ist der situative Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie eröffnet, wenn Verdächtige und beschuldigte Personen nach Maßgabe des Unionsrechts oder des nationalen Rechts die Unterstützung eines Rechtsbeistands erhalten müssen. Damit wird sichergestellt, dass in allen Fällen, in denen das Unionsrecht oder das nationale Recht die Mitwirkung eines Verteidigers als zwingend notwendig erachten, Verdächtige und beschuldigte Personen notfalls über das Institut der Prozesskostenhilfe Verteidigerbeistand erhalten.198 Zunächst verweist Art. 2 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie auf sämtliche Fälle notwendiger Verteidigung im Unionsrecht. Der Verweis umfasst das gesamte Primär- und Sekundärrecht der Union.199 Da es sich um eine dynamische Verweisung handelt, werden auch alle zukünftigen Rechtsakte, die Fälle notwendiger Verteidigung normieren, erfasst.200 Bisher existieren im Unionsrecht – abgesehen von Art. 6 der Jugendstrafverfahren-Richtlinie – keine Fälle notwendiger Verteidigung.201 Dagegen sieht Bannehr Art. 8 Abs. 7 S. 1 der Richtlinie 2014/42/EU202 und Art. 3 Abs. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie als Fälle notwendiger Verteidigung an.203 Hiergegen spricht jedoch, dass beide Vorschriften lediglich ein Recht auf Rechtsbeistand, aber keine Pflicht zur Beiziehung eines Verteidigers normieren.204 Darauf deutet auch der Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie „können . . . erhalten“ hin, vor allem wenn man ihn noch mit dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 lit. b der ProzesskostenhilfeRichtlinie „erhalten müssen“ vergleicht. Des Weiteren spricht die Möglichkeit, gemäß Art. 9 der Rechtsbeistand-Richtlinie auf das Recht auf Verteidigerbeistand verzichten zu können dagegen, dass Art. 3 Abs. 2 Rechtsbeistand-Richtlinie Fälle notwendiger Verteidigung normiert. Darüber hinaus erfasst Art. 2 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie sämtliche Fälle notwendiger Verteidigung nach nationalem Recht. Auch hierbei 197
Erwägungsgrund 15 RL (EU) 2016/1919. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 228. 199 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 228. 200 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 231. 201 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 72, sieht sogar überhaupt keinen Fall notwendiger Verteidigung im Unionsrecht. 202 ABl. L 127, 29.04.2014, S. 39–50. 203 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 229–230. 204 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 72. 198
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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handelt es sich um eine dynamische Verweisung.205 Der Verweis auf die Fälle notwendiger Verteidigung nach nationalem Recht hat zur Folge, dass Mitgliedstaaten, die in ihren Rechtsordnungen Fälle notwendiger Verteidigung normiert haben, in einem größeren Umfang Prozesskostenhilfe zur Verfügung stellen müssen als Mitgliedstaaten, die entweder keine notwendige Verteidigung kennen oder diese nur in geringerem Umfang vorsehen.206 cc) Bei Ermittlungs- und Beweiserhebungshandlungen ist die Anwesenheit des Verdächtigen oder der Beschuldigten Person vorgeschrieben oder zulässig Schließlich ist der situative Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. c der Prozesskostenhilfe-Richtlinie eröffnet, wenn die Anwesenheit von Verdächtigen oder beschuldigten Personen bei einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung vorgeschrieben oder zulässig ist. Als Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen gelten insbesondere Identifizierungs- und Vernehmungsgegenüberstellungen sowie Tatortrekonstruktionen.207 Eine Identifizierungsgegenüberstellung ist eine gemeinsame Vorführung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person mit anderen Personen zum Zwecke der Identifizierung durch ein Opfer oder einen Zeugen.208 Unter einer Vernehmungsgegenüberstellungen ist eine Situation zu verstehen, bei der der Verdächtige oder die beschuldigte Person mit dem Opfer oder einem oder mehreren Zeugen zusammengebracht wird, wenn zwischen ihnen bezüglich wichtiger Fakten oder Fragen keine Einigkeit besteht.209 Eine Tatortrekonstruktion in Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person dient dazu, die Tatbegehung und die Tatumstände besser zu verstehen und dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person konkrete Fragen stellen zu können.210
II. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, haben – sofern dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist – Anspruch auf Prozesskostenhilfe.211 Die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie stimmen mithin mit den Voraussetzungen des Rechts auf unent205 206 207 208 209 210 211
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 231. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 232. Art. 2 Abs. 1 lit. c i, ii und iii RL (EU) 2016/1919. Erwägungsgrund 26 RL 2013/48/EU. Erwägungsgrund 26 RL 2013/48/EU. Erwägungsgrund 26 RL 2013/48/EU. Art. 4 Abs. 1 RL (EU) 2016/1919.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
geltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRC überein.212 Im Gegensatz zum Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand müssen die beiden Voraussetzungen jedoch nicht zwingend kumulativ vorliegen. Vielmehr können die Mitgliedstaaten die Bewilligung von Prozesskostenhilfe von einer Bedürftigkeitsprüfung, einer Prüfung materieller Kriterien213 oder einer Kombination beider Kriterien abhängig machen.214 1. Die Mittellosigkeit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person In Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRC sind Verdächtige und beschuldigte Personen auch nach der ProzesskostenhilfeRichtlinie als mittellos anzusehen, wenn sie nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen.215 Bei der Bedürftigkeitsprüfung ist sämtlichen relevanten und objektiven Kriterien Rechnung zu tragen.216 Im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRC zählt die Richtlinie verschiedene Kriterien auf, anhand derer die Mittellosigkeit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu ermitteln ist. Danach sind das Einkommen, das Vermögen und die familiären Verhältnisse des Beschuldigten, die Kosten der Unterstützung durch einen Rechtsanwalt sowie der Lebensstandard im Mitgliedstaat von Bedeutung.217 Die genannten Kriterien sind allerdings – was bereits die Formulierung „beispielsweise“ zeigt – nicht abschließend.218 Es bleibt daher den Mitgliedstaaten überlassen, weitere Kriterien für die Ermittlung der Bedürftigkeit zu normieren.219 Da die Prozesskostenhilfe-Richtlinie keine Gewichtung der Kriterien vorgibt, verbleibt den Mitgliedstaaten diesbezüglich ein gewisser Spielraum.220
212
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 237. In der Richtlinie wird der Begriff „materielle Kriterien“ synonym für das Tatbestandsmerkmal „im Interesse der Rechtspflege“ verwendet, vgl. einerseits Art. 4 Abs. 1 RL (EU) 2016/1919 und andererseits Art. 4 Abs. 4 RL (EU) 2016/1919. 214 Art. 4 Abs. 2 RL (EU) 2016/1919; Schlothauer, StV 2018, 169 (171), weist darauf hin, dass Art. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie damit allen mitgliedstaatlichen Prozessmodellen Rechnung trägt; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 81, kritisiert, dass bei einem Abstellen allein auf materielle Kriterien auch nicht mittellose Beschuldigte Prozesskostenhilfe erhalten, was dem Grundgedanken der Prozesskostenhilfe widerspräche. 215 Art. 4 Abs. 1 und 3 RL (EU) 2016/1919. 216 Art. 4 Abs. 3 RL (EU) 2016/1919. 217 Art. 4 Abs. 3 RL (EU) 2016/1919. 218 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 83 leitet aus der nicht abschließenden Aufzählung der Kriterien ab, dass keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten bestünde, die Kriterien auch tatsächlich prüfen zu müssen. 219 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 243. 220 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 243. 213
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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Der Prozesskostenhilfe-Richtlinie lässt sich nicht entnehmen, ob der Beschuldigte seine Mittellosigkeit beweisen muss, oder ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nachweisen müssen, dass der Beschuldigte über ausreichend finanzielle Mittel verfügt. Den Mitgliedstaaten steht es daher offen, ob sie in Übereinstimmung mit den Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs die Beweislast dem Beschuldigten auferlegen oder – da ein Abweichen zugunsten des Beschuldigten möglich ist – den staatlichen Stellen die Pflicht auferlegen, nachzuweisen, dass beim Beschuldigten ausreichend finanzielle Mittel vorhanden sind. 2. Das Interesse der Rechtspflege Wird die Bewilligung von Prozesskostenhilfe vom Vorliegen materieller Kriterien abhängig gemacht, ist zu prüfen, ob die Schwere der Straftat, die Komplexität des Falles oder die Schwere der zu erwartenden Strafe die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Interesse der Rechtspflege erfordern.221 Damit knüpft die Prozesskostenhilfe-Richtlinie an die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgestellten Grundsätze zur Ermittlung des Interesses der Rechtspflege an.222 Auf das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannte Kriterium der „persönlichen Situation des Beschuldigten“ nimmt die Prozesskostenhilfe-Richtlinie allerdings keinen Bezug. Auch wenn ein Verweis auf dieses Kriterium fehlt, ist dieser Aspekt dennoch bei der Ermittlung des Interesses der Rechtspflege zu berücksichtigen. Dies folgt bereits aus Art. 11 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, nachdem die Richtlinie nicht so ausgelegt werden darf, dass dadurch die durch die Europäische Menschenrechtskonvention und Grundrechtecharta gewährleisteten Rechte, die ein höheres Schutzniveau vorsehen, beschränkt oder beeinträchtigt werden. Bestätigt wird dies durch Erwägungsgrund 30 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, wonach das von den Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau stets mindestens den Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs entsprechen soll. Die materiellen Kriterien gelten in jedem Fall als erfüllt, wenn ein Beschuldigter in jeder Phase des Verfahrens im Anwendungsbereich der Richtlinie einem zuständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird oder sich in Haft befindet.223 Auch wenn sich dies nicht explizit aus der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ergibt, sind die materiellen Krite221 222 223
Art. 4 Abs. 4 S. 1 RL (EU) 2016/1919. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 238. Art. 4 Abs. 4 S. 2 lit. a und b RL (EU) 2016/1919.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
rien ebenfalls als erfüllt anzusehen, wenn dem Beschuldigten eine Haftstrafe droht.224 Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie normiert nämlich, dass unter anderem die Schwere der zu erwartenden Strafe als Kriterium zur Ermittlung des Interesses der Rechtspflege heranzuziehen ist. Dieses Kriterium wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in ständiger Rechtsprechung dann bejaht, wenn dem Beschuldigten eine Haftstrafe droht.225 Da das von den Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau stets mindestens den Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs entsprechen soll,226 ist Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie in konventions- und chartakonformer Auslegung dahingehend zu interpretieren, dass die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Interesse der Rechtspflege geboten ist, wenn dem Beschuldigten eine Haftstrafe droht.227 Nach Erwägungsgrund 13 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie kann bei bestimmten geringfügigen Zuwiderhandlungen die Prüfung der materiellen Kriterien als nicht erfüllt angesehen werden, sofern dies mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist. Allerdings erscheint es kaum mit Art. 6 EMRK vereinbar zu sein, Prozesskostenhilfe bei bestimmten geringfügigen Zuwiderhandlungen von vorneherein auszuschließen. Bei geringfügigen Zuwiderhandlungen wird zwar in vielen Fällen die Schwere der Straftat oder die Schwere der zu erwartenden Strafe keinen Beistand eines Verteidigers erfordern, dies schließt aber nicht automatisch aus, dass nicht aufgrund der Komplexität des Falles oder der persönlichen Situation des Beschuldigten nicht doch Verteidigerbeistand im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.
III. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe Art. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie definiert Prozesskostenhilfe als die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann. Die Prozesskostenhilfe soll die Kosten der Verteidigung decken.228 Allerdings können Verdächtige und beschuldigte Personen, abhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten, dazu verpflichtet werden, einen Teil der Kosten selbst zu tragen.229 Die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist gemäß Art. 4 Abs. 6 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie auf die Zwecke des Strafverfahrens beschränkt, in dem die betreffende Person der Begehung der 224 225 226 227 228 229
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 240. Vgl. hierzu Erstes Kapitel, C. II. 1. Erwägungsgrund 30 RL (EU) 2016/1919. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 241. Erwägungsgrund 8 RL (EU) 2016/1919. Erwägungsgrund 8 RL (EU) 2016/1919.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird. Die Prozesskostenhilfe gilt daher weder für ein mit dem Strafverfahren in Zusammenhang stehendes Zivil- oder Verwaltungsverfahren noch für ein parallel laufendes oder später beginnendes Strafverfahren.230 Ob die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand mit einer endgültigen Kostenbefreiung einhergeht, oder eine Rückforderung nach Abschluss des Strafverfahrens möglich ist, geht aus der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht eindeutig hervor.231 Aus der Entstehungsgeschichte der Prozesskostenhilfe-Richtlinie lässt sich zumindest nicht ableiten, dass Prozesskostenhilfe zwingend im Sinne einer endgültigen Kostenbefreiung zu verstehen ist.232 Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie stellt damit keine strengeren Bedingungen an das Kriterium der Unentgeltlichkeit als Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und Art. 48 Abs. 2 GRC. Da die Richtlinie allerdings nur Mindestvorschriften bezüglich des Rechts auf Prozesskostenhilfe enthält,233 können die Mitgliedstaaten im nationalen Recht auch eine endgültige Kostenbefreiung vorsehen. Sofern ein Mitgliedstaat eine Rückforderung vorsieht, muss gewährleistet sein, dass die Rückforderung nicht die finanzielle Leistungsfähigkeit des Beschuldigten übersteigt.234 Knüpft ein Mitgliedstaat die Gewährung von Prozesskostenhilfe tatbestandlich lediglich an materielle Gründe, muss bei einer Rückforderung die Bedürftigkeit des Beschuldigten berücksichtigt werden.235
IV. Der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung Ab welchem Zeitpunkt Prozesskostenhilfe zu gewähren ist, normiert Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Danach haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde oder vor der Durchführung einer Identifizierungsgegenüberstellung, Vernehmungsgegenüberstellung oder Tatortrekonstruktion bewilligt wird. Aus Erwägungsgrund 19 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie lässt sich ableiten, dass Prozesskostenhilfe nicht vor jeder Befragung – zum Beispiel eines Zeugen oder Mitbe230 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 269; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 87. 231 So auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 267; a. A. Meyer-Mews, ZRP 2019, 5 (8), der aus dem Wortlaut von Erwägungsgrund 1 RL (EU) 2016/1919, der besagt, dass Beschuldigten ein durch die Mitgliedstaaten finanzierter Verteidiger zur Verfügung gestellt wird, ableitet, dass der mittellose Beschuldigte nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens nicht bezüglich der Verteidigerkosten in Regress genommen werden darf. 232 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 267–268. 233 Art. 1 Abs. 1 RL (EU) 2016/1919. 234 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 268. 235 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 268.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
schuldigten – zu gewähren ist, sondern nur vor der Befragung des Beschuldigten selbst.236 Bis zu welchem Zeitpunkt im Strafverfahren der Beschuldigte einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe hat, lässt sich Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht entnehmen. Aus Art. 2 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, der normiert, dass die Prozesskostenhilfe-Richtlinie, wenn der Beschuldigte sich in Haft befindet, zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens bis zu seinem Abschluss Anwendung findet, lässt sich jedoch schließen, dass der Beschuldigte bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe hat.237 Zudem müssen der zeitliche Geltungsbereich der ProzesskostenhilfeRichtlinie und der Rechtsbeistand-Richtlinie übereinstimmen, weil nur so die Gewährung von Prozesskostenhilfe das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand effektiv gewährleisten kann und letzteres gemäß Art. 2 Abs. 1 S. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie bis zum Abschluss des Verfahrens gilt. Damit gewährt die Prozesskostenhilfe-Richtlinie dem mittellosen Beschuldigten vom Ermittlungsverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Dies entspricht den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta.
V. Die Auswahl und Bestellung des Verteidigers Bestimmungen zur Auswahl und Bestellung eines Verteidigers enthält die Prozesskostenhilfe-Richtlinie nur teilweise. Insbesondere ist unklar, wer die Auswahl des zu bestellenden Verteidigers vornimmt.238 Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie lässt sich entnehmen, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen ein Rechtsbeistand zugewiesen wird. Aus dieser Bestimmung, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass der Staat die Auswahlentscheidung bezüglich des Verteidigers trifft und Verdächtige oder beschuldigte Personen kein Auswahlrecht haben.239 Es erscheint bereits fraglich, ob Art. 7 Abs. 4 der ProzesskostenhilfeRichtlinie tatsächlich eine Regelung bezüglich der Auswahl des Verteidigers trifft, da die Vorschrift nicht die Auswahl des Verteidigers regelt, sondern vielmehr die Auswechslung des Verteidigers zum Gegenstand hat. Ferner ist der Begriff „Zuweisung“ nicht zwingend im Sinne einer staatlichen Auswahl des Verteidigers zu verstehen, denn die Auswahl des Verteidigers und die Zuweisung des Verteidigers sind zwei getrennte Akte. Daher kann auch ein von einem Verdächtigen oder von einer beschuldigten Person ausgewählter Verteidiger anschließend 236 Vgl. Erwägungsgrund 19 RL (EU) 2016/1919; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 247. 237 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 252. 238 Dies bemängelt auch Schlothauer, StV 2018, 169 (173). 239 So aber Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 274–275.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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staatlich zugewiesen werden. Für ein Bezeichnungsrecht des Verdächtigen oder der beschuldigten Person spricht, dass auch eine gesuchte Person gemäß Art. 5 Abs. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie in Verbindung mit Art. 10 Abs. 4 und 5 der Rechtsbeistand-Richtlinie ein solches Auswahlrecht hat. Zwar fehlt eine solch explizite Bestimmung für Verdächtige und beschuldigte Personen, es ist aber nicht ersichtlich, weshalb diese nicht ebenfalls ein Bezeichnungsrecht haben sollen. Für ein Auswahlrecht des Beschuldigten spricht zudem, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK dahingehend auslegt, dass bei der Bestellung eines Verteidigers grundsätzlich die Wünsche des Beschuldigten zu berücksichtigen sind, es sei denn ein Abweichen ist aufgrund wichtiger und ausreichender Gründe („relevant and sufficient grounds“) im Interesse der Rechtspflege geboten. Aufgrund des Regressionsverbots in Art. 11 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und dem Umstand, dass das gewährte Schutzniveau stets mindestens den Standards der Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entsprechen sollte,240 ist davon auszugehen, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen auch nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ein Bezeichnungsrecht zusteht, auch wenn dies nicht ausdrücklich normiert ist. Dieses Bezeichnungsrecht unterliegt jedoch richtlinienimmanenten Beschränkungen. Zum einen ist das Auswahlrecht auf solche Rechtsanwälte beschränkt, die über die nötige Qualifikation im Sinne des Art. 7 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie verfügen, um Beistandsleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe zu erbringen.241 Zum anderen können auch die zeitliche Verfügbarkeit des Verteidigers sowie dessen Ortsnähe das Auswahlrecht des Beschuldigten beschränken, da Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie auch in eilbedürftigen Situationen – etwa wenn der Beschuldigte inhaftiert oder vernommen werden soll oder Ermittlungs- und Beweiserhebungshandlungen in seiner Anwesenheit oder unter seiner Mitwirkung durchgeführt werden sollen – zu gewährleisten ist, sodass in einem solchen Fall ein kurzfristiges Tätigwerden des Verteidigers erforderlich ist.242 Über die Bewilligung oder Ablehnung von Prozesskostenhilfe und die Bestellung von Rechtsbeiständen hat die zuständige Behörde unverzüglich zu entscheiden.243 Die Entscheidung hat spätestens zu dem in Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie genannten Zeitpunkt, also vor einer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- beziehungsweise Justizbehörden oder vor der Durchführung einer Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlung (Identifizierungs-, Vernehmungsgegenüberstellung oder Tatortrekonstruktion) zu erfol240 241 242 243
Erwägungsgrund 30 RL (EU) 2016/1919. Schlothauer, StV 2018, 169 (174). Schlothauer, StV 2018, 169 (174). Art. 6 Abs. 1 S. 1 RL (EU) 2016/1919.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
gen.244 Zuständige Behörde im Sinne der Prozesskostenhilfe-Richtlinie kann sowohl eine unabhängige Behörde als auch ein Gericht, einschließlich des Einzelrichters, sein.245 Sofern dies für eine rechtzeitige Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlich ist, kann in dringenden Fällen vorübergehend auch die Polizei und die Staatsanwaltschaft einbezogen werden.246 Die Entscheidungen sind mit der gebotenen Sorgfalt zu treffen und haben unter Wahrung der Rechte der Verteidigung zu ergehen.247 Sind die zuständigen Behörden nicht in der Lage, eine unverzügliche Entscheidung über die Bewilligung oder Ablehnung von Prozesskostenhilfe zu treffen, sollten sie vor einer Befragung oder vor der Durchführung von Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen zumindest eine Dringlichkeitsprozesskostenhilfe oder eine vorläufige Prozesskostenhilfe gewähren.248 Allerdings definiert die Richtlinie nicht, was konkret unter Dringlichkeitsprozesskostenhilfe oder vorläufiger Prozesskostenhilfe zu verstehen ist. Mithin obliegt es den Mitgliedstaaten, dies zu konkretisieren und auszugestalten.249 Sollte der Antrag auf Prozesskostenhilfe vollständig oder teilweise abgewiesen werden, sind Verdächtige und beschuldigte Personen hierüber schriftlich zu informieren.250 Hierdurch soll es dem Beschuldigten ermöglicht werden, gegen die ablehnende Entscheidung umgehend vorzugehen.251 Damit der Beschuldigte von der Möglichkeit eines Rechtsmittels effektiv Gebrauch machen kann, muss die ablehnende Entscheidung ihm unverzüglich schriftlich zugestellt werden.252
VI. Die Qualität des Systems der Prozesskostenhilfe und der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen Art. 7 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie hat die Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen und Schulungen zum Gegenstand. Die Mitgliedstaaten haben sicherzustellen, dass ein wirksames Prozesskostenhilfesystem von angemessener Qualität besteht253 und die Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen angemessen ist, um die Fairness des Verfahrens zu wahren, wobei die Unabhängigkeit der Rechtsberufe gebührend zu 244 Erwägungsgrund 19 RL (EU) 2016/1919; Kraml, JSt 2017, 219 (220); Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 91. 245 Erwägungsgrund 24 RL (EU) 2016/1919. 246 Erwägungsgrund 24 RL (EU) 2016/1919. 247 Art. 6 Abs. 1 S. 2 RL (EU) 2016/1919. 248 Erwägungsgrund 19 RL (EU) 2016/1919. 249 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 91. 250 Art. 6 Abs. 2 RL (EU) 2016/1919. 251 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 93. 252 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 93. 253 Art. 7 Abs. 1 lit. a RL (EU) 2016/1919.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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achten ist.254 Hierfür haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen – auch finanzieller Art – zu treffen.255 Näher ausgestaltet werden die Vorgaben zur Qualität des Prozesskostenhilfesystems und der im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Dienstleistungen durch Art. 7 Abs. 2 und 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. 1. Die Qualität des Systems der Prozesskostenhilfe Damit das Prozesskostenhilfesystem wirksam und von angemessener Qualität ist, bedarf es insbesondere einer ausreichenden finanziellen und personellen Ausstattung.256 Hinsichtlich der finanziellen Ausstattung des Prozesskostenhilfesystems enthält die Prozesskostenhilfe-Richtlinie keine konkreten Vorgaben und überlässt dies somit weitestgehend den Mitgliedstaaten.257 Die finanziellen Mittel müssen jedoch so bemessen sein, dass jeder Beschuldigte, der Anspruch auf Prozesskostenhilfe hat, diese auch erhält. Konkretere Vorgaben enthält die Prozesskostenhilfe-Richtlinie dagegen bezüglich der personellen Ausstattung des Prozesskostenhilfesystems. Aus dem Umstand, dass Entscheidungen über die Bewilligung oder Ablehnung von Prozesskostenhilfe unverzüglich zu treffen sind, lässt sich schließen, dass hierfür genügend Personal zur Verfügung stehen muss. Neben der ausreichenden Personenanzahl ist des Weiteren erforderlich, dass das in die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingebundene Personal hinreichend qualifiziert ist. Aus diesem Grund haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 7 Abs. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie dafür Sorge zu tragen, dass für das in die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingebundene Personal angemessene Schulungen zur Verfügung gestellt werden.258 Bei den angebotenen Fortbildungsmaßnahmen muss es sich um prozesskostenhilfespezifische Schulungen handeln, denn nur so kann sichergestellt werden, dass das in die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingebundene Personal ausreichend auf diese Aufgabe vorbereitet ist. Des Weiteren genügt das bloße Anbieten von solchen Schulungen noch nicht den Vorgaben des Art. 7 Abs. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, sondern das in die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe eingebundene Personal muss an diesen auch teilnehmen,259 da nur so die Qualität des Prozesskostenhilfesystems tatsächlich sichergestellt ist. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie normiert konkrete Vorgaben zur Ausgestaltung des Prozesskostenhilfesystems. Damit geht sie deutlich über die Vorgaben 254
Art. 7 Abs. 1 lit. b RL (EU) 2016/1919. Art. 7 Abs. 1 RL (EU) 2016/1919. 256 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 270. 257 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 270. 258 Vgl. hierzu auch Erwägungsgrund 26 RL (EU) 2016/1919. 259 A. A. Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 96; Neudorfer, JSt 2020, 48 (50). 255
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta hinaus, die lediglich einen Anspruch auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand postulieren, dessen Ausgestaltung sowie die Schaffung des hierfür erforderlichen Systems jedoch den Mitgliedstaaten überlassen. 2. Die Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie enthält nicht nur Vorgaben zur Qualität des Prozesskostenhilfesystems, sondern auch zur Qualität der im Rahmen der Prozesskostenhilfe zu erbringenden Dienstleistungen. Die Mitgliedstaaten müssen gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie sicherstellen, dass die Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen angemessen ist, um die Fairness des Verfahrens zu wahren. Die Qualität der im Rahmen der Prozesskostenhilfe zu erbringenden Dienstleistungen ist insbesondere von der Person, die die Dienstleistung erbringt, sowie deren fachlichen Qualifikation abhängig. Welche Personen als Rechtsbeistände fungieren können lässt sich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht unmittelbar entnehmen. Da die Prozesskostenhilfe-Richtlinie jedoch die Effektivität des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, wie es in der Rechtsbeistand-Richtlinie normiert ist, dienen soll, kann auf die dortige Definition zurückgegriffen werden. Nach der Rechtsbeistand-Richtlinie kann jede Person als Rechtsbeistand fungieren, die nach nationalem Recht befähigt und befugt ist – einschließlich Akkreditierung durch eine dazu befugte Stelle – Verdächtige und beschuldigte Personen zu beraten und zu unterstützen.260 Dies sind in erster Linie Rechtsanwälte. Des Weiteren bringt Art. 7 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zum Ausdruck, dass es einer speziellen Qualifikation zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe bedarf. Die bloße Zulassung als Rechtsanwalt reicht hierfür nicht aus.261 Erst recht genügt die Bestellung eines in Ausbildung befindlichen Rechtsanwalts – zum Beispiel eines Referendars – nicht den Qualitätsvorgaben.262 Zur Qualitätssicherung haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 7 Abs. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie für Rechtsbeistände, die Dienstleistungen im Rahmen von Prozesskostenhilfe erbringen, geeignete Maßnahmen zur Förderung von Weiterbildungsmaßnahmen zu ergreifen. Dies hat unter gebührender Achtung der Unabhängigkeit der Rechtsberufe und der Rolle derjenigen, die für die Weiterbil260
Erwägungsgrund 15 RL 2013/48/EU. Schlothauer, StV 2018, 169 (172–173); Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (69); a. A. Fink, öAnwBl 2019, 196 (200). 262 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 273, hält die Bestellung eines in Ausbildung befindlichen Rechtsanwalts grundsätzlich für möglich, aber zweifelt deren Qualifikation ebenfalls an. 261
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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dung von Rechtsbeiständen zuständig sind, zu geschehen.263 Die Kosten für die Weiterbildungsmaßnahmen haben gemäß Art. 7 Abs. 1 der ProzesskostenhilfeRichtlinie die Mitgliedstaaten zu tragen.264 Inhalt und Form der Weiterbildungsmaßnahmen lässt die Richtlinie offen, sodass den Mitgliedstaaten diesbezüglich ein gewisser Gestaltungsspielraum zusteht. Allerdings muss es sich um fachspezifische, das heißt strafrechtliche und/oder strafprozessuale, Weiterbildungsangebote handeln, damit die fachliche Qualifikation der Rechtsbeistände sichergestellt ist. Insbesondere sollten die Themenbereiche abgedeckt werden, die Mandate im Bereich der Prozesskostenhilfe üblicherweise zum Gegenstand haben. Die inhaltliche Ausrichtung der Weiterbildungsmaßnahmen ist damit eine andere als im Rahmen des Art. 7 Abs. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Der Grund hierfür ist, dass beide Bestimmungen verschiedene Personengruppen betreffen, denen im System der Prozesskostenhilfe unterschiedliche Aufgaben zukommen. Die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen ist für Rechtsbeistände, die Dienstleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbringen, verpflichtend.265 Zudem muss kontrolliert werden, ob der Weiterbildungspflicht nachgekommen wurde. Nur durch eine Weiterbildungspflicht, die auch kontrolliert wird, kann dem Sinn und Zweck der Vorschrift, eine qualitativ angemessene Verteidigung zu gewährleisten, Rechnung getragen werden. Während die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta lediglich fordern, dass die Verteidigung effektiv sein muss, normiert die Prozesskostenhilfe-Richtlinie konkrete Vorgaben, für die Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe. Dies gilt insbesondere bezüglich der fachlichen Qualifikation des Rechtsbeistands und der Fortbildungspflicht. Damit stärkt sie das Recht des Beschuldigten auf eine qualitativ hochwertige Verteidigung.
VII. Die Auswechslung des Verteidigers Verdächtige und beschuldigte Personen haben gemäß Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – auf entsprechenden Antrag – das Recht, den ihnen für die Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen von Prozesskostenhilfe zugewiesenen Verteidiger auswechseln zu lassen, sofern die konkreten Umstände dies rechtfertigen. Was unter konkreten Umständen im Sinne des Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zu verstehen ist, definiert die Richtlinie nicht. Aus dem Umstand, dass Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – wie auch die sonstigen Absätze des Art. 7 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – eine Maßnahme zur Sicherung eines qualitativ hochwertigen Prozesskostenhilfesys263
Art. 7 Abs. 3 RL (EU) 2016/1919. Schlothauer, StV 2018, 169 (173). 265 A. A. Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 98; Neudorfer, JSt 2020, 48 (50). 264
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
tems ist,266 lässt sich jedoch schlussfolgern, dass eine Auswechslung des Verteidigers stets dann in Betracht kommt, wenn die Qualität der Verteidigung nicht (mehr) gewahrt ist. Den Mitgliedstaaten steht bei der Ausgestaltung des Begriffs der „konkreten Umstände“ ein weiter Spielraum zu.267 Dieser wird allerdings durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – hinter der die Richtlinie nach Erwägungsgrund 30 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht zurückbleiben darf – beschränkt, nach der ein Verteidiger auszuwechseln ist, wenn dieser eine effektive Verteidigung offenkundig nicht gewährleistet.268 In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall einer ineffektiven Verteidigung eine Auswechslung des Verteidigers von Amts wegen für erforderlich hält,269 während die Prozesskostenhilfe-Richtlinie davon ausgeht, dass eine Auswechslung des Verteidigers nur auf entsprechenden Antrag erfolgen kann. Damit das von Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gewährte Schutzniveau nicht hinter dem der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt wird, zurückbleibt, muss im Fall der offenkundigen Ineffektivität der Verteidigung eine Auswechslung auch ohne Antrag möglich sein. Sollte dagegen ein anderer Grund für die Auswechslung sprechen, kann dies an einen Antrag des Beschuldigten geknüpft werden.
VIII. Das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs Wird ein nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie garantiertes Recht verletzt, muss Verdächtigen oder beschuldigten Personen gemäß Art. 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zur Verfügung stehen.270 Dies gilt insbesondere für den Fall, dass das Recht auf Prozesskostenhilfe untergraben oder die Gewährung von Prozesskostenhilfe verzögert oder ganz oder teilweise abgelehnt wird.271 Indem die Prozesskostenhilfe-Richtlinie das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs normiert, entspricht sie den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta, die dies gemäß Art. 13 EMRK beziehungsweise Art. 47 Abs. 1 GRC ebenfalls vorschreiben. Keine Regelung enthält die Prozesskostenhilfe-Richtlinie, inwiefern Beweismittel – insbesondere eine Einlassung des Beschuldigten –, die unter Beeinträchtigung des Rechts auf Prozesskostenhilfe erlangt wurden, verwertet werden dür266
Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 102. Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 275. 268 Vgl. hierzu Erstes Kapitel, I. 269 Vgl. hierzu Erstes Kapitel, I. 270 Dies gebietet der Grundsatz der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts, vgl. Erwägungsgrund 27 RL (EU) 2016/1919. 271 Erwägungsgrund 27 RL (EU) 2016/1919. 267
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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fen.272 Gemäß Art. 12 Abs. 2 der Rechtsbeistand-Richtlinie müssen jedoch unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erhoben wurden, die Verteidigungsrechte und die Einhaltung eines fairen Verfahrens beachtet werden.273 Auch nach den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Entscheidung Ibrahim aufgestellten Grundsätzen, darf durch die Beeinträchtigung des Rechts auf Verteidigerbeistand nicht die Fairness des gesamten Verfahrens beeinträchtigt werden.274 Überträgt man diese Grundsätze auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand, unterliegen Beweise, die unter Beeinträchtigung des Rechts auf Prozesskostenhilfe erlangt wurden, nicht zwingend einem Beweisverwertungsverbot. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch durch effektive Maßnahmen sicherstellen, dass die Fairness des Verfahrens nicht beeinträchtigt wird.275
IX. Die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Schutzbedürftigen Personen Bei der Umsetzung der Richtlinie sind gemäß Art. 9 der ProzesskostenhilfeRichtlinie die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und beschuldigten Personen zu berücksichtigen. Da weder die ProzesskostenhilfeRichtlinie noch die Rechtsbeistand-Richtlinie den Begriff der schutzbedürftigen Person definieren, ist auf die in der Empfehlung der Kommission über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen276 enthaltene Definition zurückzugreifen.277 Nach Erwägungsgrund 1 der Empfehlung der Kommission über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen sind schutzbedürftige Personen alle Personen, die aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Verfassung oder aufgrund von Behinderungen nicht in der Lage sind, einem Strafverfahren zu folgen oder tatsächlich daran teilzunehmen. Personen, die aufgrund ihres Alters als besonders schutzbedürftig anzusehen sind, können sowohl sehr junge als auch sehr alte Menschen sein.278 Da den besonderen Bedürfnissen von jungen schutzbedürftigen Personen durch die JugendstrafverfahrenRichtlinie Rechnung getragen wird, ist bei der Umsetzung der Prozesskosten272
Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 265. So zutreffend Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 265. 274 So zutreffend Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 265. 275 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 266. 276 ABl. C 378, 24.12.2013, S. 8–10. 277 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 256; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 104. 278 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 105. 273
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
hilfe-Richtlinie vor allem auf Personen Rücksicht zu nehmen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters dem Strafverfahren nicht mehr folgen können.279 Welche Maßnahmen konkret zum Schutz von schutzbedürftigen Personen ergriffen werden sollen lässt die Prozesskostenhilfe-Richtlinie weitestgehend offen, sodass den Mitgliedstaaten hierbei ein gewisser Gestaltungsspielraum verbleibt. Lediglich Erwägungsgrund 18 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie lässt sich entnehmen, dass angesichts der Bedürfnisse von schutzbedürftigen Personen ein Antrag keine materiellrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein sollte. Daraus folgt, dass der Staat dafür Sorge zu tragen hat, dass schutzbedürftige Personen ohne Eigeninitiative Prozesskostenhilfe erhalten.280 Die in Art. 9 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie enthaltene Verpflichtung, die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und beschuldigten Personen zu berücksichtigen, geht über die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta hinaus, die hierzu keinerlei Vorgaben enthalten.
X. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf Prozesskostenhilfe Eine Pflicht, Verdächtige und beschuldigte Personen über das Recht auf Prozesskostenhilfe zu belehren, ist in der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht vorgesehen. Eine solche Belehrungspflicht ergibt sich jedoch aus Art. 3 Abs. 1 lit. b der Belehrungs-Richtlinie. Dort ist normiert, dass Verdächtige und beschuldigte Personen über einen etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung umgehend zu belehren sind. Damit das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand sowie die anderen Verteidigungsrechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, soll die Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen.281 Die Belehrung hat mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache zu erfolgen.282 Hierbei sind etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen zu berücksichtigen.283 Im Fall der Festnahme oder Inhaftierung müssen Verdächtige und beschuldigte Personen gemäß Art. 4 Abs. 1 der Belehrungs-Richtlinie umgehend eine schriftliche Erklärung über die 279 280 281 282 283
Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 105. Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 105. Erwägungsgrund 19 RL 2012/13/EU. Art. 3 Abs. 2 RL 2012/13/EU. Art. 3 Abs. 2 RL 2012/13/EU.
B. Recht auf Verteidigerbeistand nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie
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ihnen zustehenden Verfahrensrechte – wozu auch das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zählt – erhalten. Diese Erklärung muss in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst sein.284 Verdächtigen und beschuldigten Personen muss die Gelegenheit gegeben werden, die Erklärung zu lesen und diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz zu führen.285 Wird der Beschuldigte nicht über sein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand belehrt, so muss er dies gemäß Art. 8 Abs. 2 der Belehrungs-Richtlinie anfechten können. Die in der Belehrungs-Richtlinie normierte Belehrungspflicht über das Recht auf Prozesskostenhilfe stimmt mit den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Belehrungspflicht hinsichtlich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK überein. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte enthält die Belehrungs-Richtlinie jedoch konkrete Vorgaben bezüglich Form und Sprache der Belehrung.
XI. Die Vergütung des im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Verteidigers Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie enthält – wie auch die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta – keine konkreten Vorgaben zur Vergütung des im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Verteidigers. Aus dem Qualitätserfordernis des Art. 7 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und dem in Erwägungsgrund 1 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie formulierten Ziel der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, dem Beschuldigten durch die Gewährung von Prozesskostenhilfe einen effektiven Zugang zu einem Verteidiger zu ermöglichen, lassen sich für die Vergütung des im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Verteidigers jedoch zwei Dinge ableiten. Damit Prozesskostenhilfe einen effektiven Zugang zu einem Verteidiger gewährt, muss die Vergütung des im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Verteidigers so ausgestaltet sein, dass ein Verteidiger bereit ist, das Mandat zu übernehmen.286 Des Weiteren muss die Vergütung so bemessen sein, dass der Verteidiger willens und in der Lage ist, die Verteidigung effektiv zu erbringen.287 Trotz dieser Vorgaben haben die Mitgliedstaaten bei der Vergütung der im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Rechtsbeistände einen weiten Gestaltungsspielraum.288 284
Art. 4 Abs. 4 RL 2012/13/EU. Art. 4 Abs. 1 RL 2012/13/EU. 286 So auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 271, die dies aber aus Art. 7 Abs. 1 lit. a und Art. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ableitet. 287 So auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 271, die dies aber aus Art. 7 Abs. 1 lit. a und Art. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ableitet. 288 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 271. 285
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
C. Gesamtergebnis des zweiten Kapitels Die Grundrechtecharta gewährt dem mittellosen Beschuldigten zum einen gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand und zum anderen gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC ein Recht auf Prozesskostenhilfe. Die Mitgliedstaaten sind gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC an die Gewährleistungen der Grundrechtecharta gebunden, wenn sie Unionsrecht durchführen. Was unter der Durchführung von Unionsrecht zu verstehen ist, ist noch nicht abschließend geklärt. Der Europäische Gerichtshof versteht den Begriff der Durchführung von Unionsrecht in einem weiten Sinne. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind die Chartagrundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen anwendbar. Einschränkend geht die Rechtsprechung allerdings davon aus, dass der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad bedarf, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann. Was dies im Einzelnen konkret bedeutet, ist noch unklar. Auch wenn noch keine gefestigte Rechtsprechung besteht lässt sich jedoch zumindest festhalten, dass die Grundrechtecharta zu beachten ist, wenn Unionsrecht oder zur Umsetzung von Unionsrecht ergangenes nationales Recht zur Anwendung gelangt. Da bezüglich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand die Prozesskostenhilfe-Richtlinie existiert, die auch in nationales Recht umgesetzt wurde, müssen die Mitgliedstaaten hierbei die Gewährleistungen der Grundrechtecharta beachten. Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 48 Abs. 2 GRC entspricht sowohl von seinen tatbestandlichen Voraussetzungen als auch von seinem Gewährleistungsumfang dem Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die diese Gewährleistung in einem weiteren Sinne interpretiert, als dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte tut, existiert bisher noch nicht. Das Recht auf Prozesskostenhilfe gemäß Art. 47 Abs. 3 GRC hat kein unmittelbares Äquivalent in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Tatbestandlich setzt das Recht auf Prozesskostenhilfe voraus, dass der Beschuldigte mittellos und die Gewährung von Prozesskostenhilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten. Eine gefestigte Rechtsprechung, welche Kriterien zur Beurteilung der Mittellosigkeit des Beschuldigten heranzuziehen sind, existiert bisher nicht. Auch hat der Europäische Gerichtshof bislang keine Wertgrenze festgelegt, ab der von einer Mittellosigkeit des Beschuldigten auszugehen ist. Die Beweislast für seine Bedürftigkeit trägt der Beschuldigte. Bei der Beantwortung der Frage, in welchen Fällen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Gewährleistung eines wirksamen Zugangs zu den Gerichten erforderlich ist, berücksichtigt der Europäische Gerichtshof sämtliche Umstände des Einzelfalls – insbesondere den Umfang der Auswirkungen auf den Kläger,
C. Gesamtergebnis des zweiten Kapitels
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die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens, die Fähigkeit des Klägers, seine Sache wirksam zu vertreten sowie die Erfolgsaussichten des Beschwerdeführers. Letztere können allerdings in einem Strafverfahren nicht als Maßstab herangezogen werden, weil dies zum einen die Offenlegung des Verteidigungsziels und der Verteidigungsstrategie erfordern und zum anderen die Unschuldsvermutung in Frage stellen würde. Der Begriff der Prozesskostenhilfe im Sinne des Art. 47 Abs. 3 GRC ist weit auszulegen. Erfasst wird nicht nur die Übernahme der Verteidigerkosten beziehungsweise eine Kostenbeteiligung an diesen, sondern auch das Stellen eines Verteidigers sowie die Befreiung von der Zahlung eines Gerichtskostenvorschusses oder sonstiger Gerichtskosten. Auch wenn sowohl Art. 48 Abs. 2 GRC als auch Art. 47 Abs. 3 GRC dem mittellosen Beschuldigten ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand garantieren, sind beide Gewährleistungen bezüglich ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen und ihres Gewährleistungsumfangs nicht identisch. Um dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand vollumfänglich zu gewährleisten, sind beide Garantien parallel anwendbar. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie konkretisiert das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. In großen Teilen kodifiziert sie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. An einigen Stellen geht die Prozesskostenhilfe-Richtlinie jedoch über die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta hinaus. Der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bleibt teilweise hinter den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zurück. So ist die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bei geringfügigen Zuwiderhandlungen auf das gerichtliche Verfahren nicht vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Ferner ist der situative Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht deckungsgleich mit dem der Rechtsbeistand-Richtlinie, sodass mittellosen Beschuldigten das Recht auf Prozesskostenhilfe in einem geringeren Umfang gewährt wird als bemittelten Beschuldigten. Nach der Konzeption der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – wie auch der Europäischen Menschenrechtskonvention – kann der Beschuldigte grundsätzlich auf die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand verzichten. Die Voraussetzungen für einen Verzicht orientieren sich dabei an den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Maßstäben. Allerdings kann in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Möglichkeit auf die Gewährung von unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu verzichten, eingeschränkt werden. Im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention stellt ein Verzicht aber keine Einschränkung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand dar, sondern führt dazu, dass bereits der Anwendungsbereich der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht eröffnet ist.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
Während die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta die Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand sowohl an die Mittellosigkeit des Beschuldigten als auch an das Interesse der Rechtspflege knüpfen, kann nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie eine Bedürftigkeitsprüfung, eine Prüfung materieller Kriterien oder beides Voraussetzung sein. Im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta normiert die Prozesskostenhilfe-Richtlinie Kriterien zur Ermittlung der Mittellosigkeit des Beschuldigten. Die Kriterien sind allerdings nicht abschließend und inhaltlich lediglich eine Festschreibung der bisher in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berücksichtigten Aspekte. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie regelt nicht, wer die Beweislast bezüglich der Mittellosigkeit des Beschuldigten trägt. In Übereinstimmung mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta kann die Beweislast bei dem Beschuldigten liegen. Da die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie jedoch über die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta hinausgehen können, wäre es auch zulässig dem Staat die Beweislast bezüglich der Mittellosigkeit des Beschuldigten aufzuerlegen. Hinsichtlich der materiellen Kriterien nimmt die Prozesskostenhilfe-Richtlinie auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug; auch wenn das Kriterium der persönlichen Situation des Beschuldigten von der Richtlinie nicht genannt wird, ist es trotzdem zu berücksichtigen. Die materiellen Kriterien gelten nach der ProzesskostenhilfeRichtlinie als erfüllt, wenn der Beschuldigte einem zuständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird oder sich in Haft befindet. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist nicht gleichbedeutend mit einer endgültigen Befreiung des Beschuldigten von der Tragung der Verteidigerkosten. Vielmehr kann in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta die gewährte Prozesskostenhilfe nach Abschluss des Strafverfahrens zurückgefordert werden. Den Mitgliedstaaten bleibt es unbenommen bei der Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie eine endgültige Kostenbefreiung vorzusehen. Der mittellose Beschuldigte hat nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bereits im Ermittlungsverfahren Anspruch auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Spätestens vor einer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsoder Justizbehörde oder vor der Durchführung einer Identifizierungsgegenüberstellung, Vernehmungsgegenüberstellung oder Tatortrekonstruktion ist ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie garantiert dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Sowohl Beginn als auch Ende der Gewährleistung decken sich mit den Vorgaben der der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta.
C. Gesamtergebnis des zweiten Kapitels
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Eine explizite Regelung zur Auswahl und Bestellung des Verteidigers trifft die Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht. Da das Schutzniveau der ProzesskostenhilfeRichtlinie stets mindestens den Standards der Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entsprechen soll und Art. 11 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zudem ein Regressionsverbot normiert, sind bei der Verteidigerbestellung grundsätzlich die Wünsche des Beschuldigten zu berücksichtigen, es sei denn ein Abweichen ist aufgrund wichtiger und ausreichender Gründe („relevant and sufficient grounds“) im Interesse der Rechtspflege geboten. Im Gegensatz zu der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta, normiert die Prozesskostenhilfe-Richtlinie konkrete Vorgaben bezüglich der Qualität des Systems der Prozesskostenhilfe und der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen. Neben einer ausreichenden finanziellen und personellen Ausstattung des Prozesskostenhilfesystems fordert die Prozesskostenhilfe-Richtlinie eine hinreichende Qualifikation der Personen, die über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe entscheiden und der Personen, die im Rahmen der Prozesskostenhilfe Dienstleistungen erbringen. Zur Qualitätssicherung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet auf ihre Kosten Fortbildungen und Schulungen anzubieten, an denen Personen, die im Rahmen des Prozesskostenhilfesystems tätig sind, teilnehmen müssen. Der mittellose Beschuldigte hat nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, sofern die konkreten Umstände es rechtfertigen, einen Anspruch auf Auswechslung des bestellten Verteidigers. In Übereinstimmung mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta besteht jedenfalls dann ein Anspruch auf Auswechslung des Verteidigers, wenn dieser offensichtlich keine Garantie für eine effektive Verteidigung bietet. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie schreibt vor, dass dem mittellosen Beschuldigten ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss, wenn ein nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie garantiertes Recht verletzt wird. Mit Art. 13 EMRK und Art. 47 Abs. 1 GRC enthalten die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta ähnliche Bestimmungen. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand auf die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Personen, das heißt Personen, die aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Verfassung oder aufgrund von Behinderungen nicht in der Lage sind, einem Strafverfahren zu folgen oder tatsächlich daran teilzunehmen, Rücksicht zu nehmen. Insbesondere sollte ein Antrag keine materiellrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein.
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2. Kap.: Verteidigerbeistand nach dem Recht der Europäischen Union
Der mittellose Beschuldigte ist über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu belehren. Die Vorgaben der Belehrungs-Richtlinie sind dabei bezüglich Form und Sprache konkreter als die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta. Wie die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta enthält auch die Prozesskostenhilfe-Richtlinie keine konkreten Vorgaben bezüglich der Vergütung des im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätigen Verteidigers. Die Vergütung des Verteidigers muss jedoch so bemessen sein, dass er bereit ist das Mandat zu übernehmen und die Verteidigung effektiv zu führen. Insgesamt haben die Mitgliedstaaten diesbezüglich einen großen Gestaltungsspielraum.
Drittes Kapitel
Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in Deutschland In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde herausgearbeitet, welche Vorgaben die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundrechtecharta und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand machen. Zudem unterliegt die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand auch verfassungsrechtlichen Vorgaben. Im Folgenden wird zunächst auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand eingegangen (A.). Anschließend wird dargestellt, wie das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in Deutschland einfachgesetzlich ausgestaltet ist und untersucht, ob diese Ausgestaltung die EMRK-rechtlichen, unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben erfüllt (B.).
A. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Im Gegensatz zur Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta enthält das Grundgesetz keine explizite Bestimmung hinsichtlich des Rechts auf Verteidigerbeistand. Auch das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich normiert. Trotz des Fehlens expliziter Regelungen ist in der Rechtsprechung und dem Schrifttum anerkannt, dass das Recht auf Verteidigerbeistand verfassungsrechtlich verbürgt ist und auch dem mittellosen Beschuldigten zusteht. Die verfassungsrechtliche Herleitung des Rechts auf Verteidigerbeistand sowie die grundrechtliche Verankerung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand sind jedoch umstritten. Da die verfassungsrechtliche Herleitung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand eng mit der verfassungsrechtlichen Herleitung des Rechts auf Verteidigerbeistand verknüpft ist, werden im Folgenden beide Aspekte gemeinsam dargestellt und behandelt.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
I. Die Herleitung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG Das Schrifttum leitet das Recht des Beschuldigten auf Verteidigerbeistand überwiegend aus dem in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör ab.1 Im Wesentlichen ergeben sich für den Beschuldigten aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör drei Rechte.2 Er hat das Recht, sich vor Gericht zu äußern, und dabei zu allen Tatsachen- und Rechtsfragen Stellung zu nehmen.3 Damit der Beschuldigte von seinem Äußerungsrecht effektiv Gebrauch machen kann, hat er des Weiteren das Recht, vom Gericht über die Sach- und Rechtslage informiert zu werden.4 Schließlich ist das Gericht verpflichtet, das Vorbringen des Beschuldigten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.5 Viele Beschuldigte seien allerdings aufgrund komplizierter Rechts- und/oder Sachverhaltsfragen nicht in der Lage, ohne den Beistand eines Verteidigers von ihrem Äußerungsrecht effektiv Gebrauch zu machen.6 Hinzu komme, dass eine qualifizierte Äußerung Kenntnis der Verfahrensakten voraussetze, deren vollumfängliche Einsicht gemäß § 147 StPO nur einem Verteidiger gewährt werde.7 Deshalb folge aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör das Recht des Beschuldigten auf Verteidigerbeistand.
1 Stern/Becker-Brüning, Art. 103 Rn. 36; Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn. 23; Gusy, AnwBl 1984, 225; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 47–49; Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 1339; v. Mangoldt/Klein/Starck-Nolte/Aust, Art. 103 Rn. 66; Maunz/Dürig-Remmert, Art. 103 Abs. 1 Rn. 68; Rissel, Die verfassungsrechtliche Stellung des Rechtsanwalts, insbesondere in seiner Funktion als Verteidiger im Strafverfahren, S. 74; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke-Schmahl, Art. 103 Rn. 35; Schneider, Der Rechtsanwalt, ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, S. 46, 50; Sodan-Sodan, Art. 103 Rn. 5; Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (294). 2 BeckOK/GG-Radtke, Art. 103 Rn. 7; v. Mangoldt/Klein/Starck-Nolte/Aust, Art. 103 Rn. 28. 3 BVerfGE 98, 218 (263); Gusy, AnwBl 1984, 225; v. Mangoldt/Klein/Starck-Nolte/ Aust, Art. 103 Rn. 36; BeckOK/GG-Radtke, Art. 103 Rn. 11. 4 BeckOK/GG-Radtke, Art. 103 Rn. 7; Maunz/Dürig-Remmert, Art. 103 Abs. 1 Rn. 78. 5 BVerfGE 11, 218 (220); BVerfGE 83, 24 (35); BVerfGE 105, 279 (311); v. Mangoldt/Klein/Starck-Nolte/Aust, Art. 103 Rn. 52; BeckOK/GG-Radtke, Art. 103 Rn. 13; Maunz/Dürig-Remmert, Art. 103 Abs. 1 Rn. 90. 6 Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 55–56; Stern/Becker-Brüning, Art. 103 Rn. 36; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 48; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke-Schmahl, Art. 103 Rn. 35; Sodan-Sodan, Art. 103 Rn. 5; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 222. 7 Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 55–56; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 48; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 223.
A. Verfassungsrechtliche Grundlagen
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Obwohl ein Großteil des Schrifttums das Recht des Beschuldigten auf Verteidigerbeistand aus dem Recht auf rechtliches Gehör herleitet und viele Art. 103 Abs. 1 GG auch als verfassungsrechtliche Grundlage für die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Zivilverfahren ansehen,8 wird kaum diskutiert, ob aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör auch das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand abgeleitet werden kann. Soweit ersichtlich wird das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nur vereinzelt und auch nur unter Einschränkungen auf Art. 103 Abs. 1 GG gestützt.9
II. Die Herleitung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG rechtliches Gehör nur als solches und nicht gerade durch die Vermittlung eines Verteidigers.10 Das Bundesverfassungsgericht11 und das ihm folgende Schrifttum12 leiten das Recht auf Verteidigerbeistand vielmehr aus dem Recht auf ein faires Verfahren ab, welches sich aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ergibt. Das Recht auf ein faires Verfahren zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens.13 Dies gilt insbesondere für das Strafverfahren mit seinen möglichen einschneidenden Auswirkungen für den Beschuldigten.14 Der Beschuldigte darf nicht bloß Objekt des Strafverfahrens sein, sondern ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens
8 v. Münch/Kunig-Kunig/Saliger, Art. 103 Rn. 28; Maunz/Dürig-Remmert, Art. 103 Abs. 1 Rn. 70; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke-Schmahl, Art. 103 Rn. 36. 9 Maunz/Dürig77EL-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Rn. 105, 112. 10 BVerfGE 9, 124 (132); BVerfGE 31, 306 (308); BVerfGE 39, 156 (168). 11 BVerfGE 38, 105 (111); BVerfGE 39, 156 (163); BVerfGE 39, 238 (243); BVerfGE 63, 380 (390–391); BVerfGE 66, 313 (318–319); BVerfGE 68, 237 (255); BVerfGE 110, 226 (253–254). 12 Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 58; Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 224; Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 20 Rn. 139; Knell-Saller, Der Sicherungsverteidiger, S. 35–36; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 45–47; Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 390–391; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 137 Rn. 2; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 235; KK/StPOWillnow, § 137 Rn. 1; SK/StPO-Wohlers, § 137 Rn. 2. 13 BVerfGE 26, 66 (71); BVerfGE 38, 105 (111); BVerfGE 46, 202 (210); BVerfG NJW 2001, 3695 (3696). 14 BVerfGE 46, 202 (210); BVerfG NJW 2001, 3695 (3696).
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
Einfluss zu nehmen.15 Der Anspruch auf ein faires Verfahren umfasst auch das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem gewählten Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen.16 Des Weiteren gehört zu einem rechtsstaatlichen Strafverfahren, dass einem Beschuldigten, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Kosten des Staates ein Pflichtverteidiger – der das Vertrauen des Beschuldigten genießt17 – beigeordnet wird.18 Von einem schwerwiegenden Fall ist in den Fällen notwendiger Verteidigung auszugehen.19 Insofern stellen sich die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers im Strafverfahren als Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar.20 Darüber hinaus ist die Beiordnung eines Verteidigers auch dann erforderlich, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aus sonstigen Gründen rechtsstaatlich geboten ist.21 Ob dies der Fall ist, beurteilt sich – unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls – maßgeblich nach der Interessenlage des Beschuldigten.22 Aus dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG und aus Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK folgt, dass der Beschuldigte durch die Beiordnung eines Verteidigers grundsätzlich den gleichen Rechtsschutz erhalten soll wie ein Beschuldigter, der sich auf eigene Kosten einen Verteidiger wählt.23 Darüber hinaus wird die Position des mittellosen Beschuldigten durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) gestärkt, der die weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes gebietet.24 Danach darf die Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dem Unbemittelten im Vergleich zum Bemittelten nicht unverhältnismäßig erschwert werden.25 Grundsätzlich muss der Unbemittelte ebenso wirksam Rechtsschutz in 15 BVerfGE 9, 89 (95); BVerfGE 26, 66 (71); BVerfGE 39, 156 (168); BVerfGE 46, 202 (210); BVerfGE 63, 380 (390); BVerfGE 65, 171 (174–175); BVerfGE 66, 313 (318); BVerfGE 70, 297 (323); BVerfG NJW 2001, 3695 (3696). 16 BVerfGE 39, 156 (163); BVerfGE 39, 238 (243); BVerfGE 63, 380 (390–391); BVerfGE 66, 313 (318–319); BVerfGE 68, 237 (255); BVerfGE 110, 226 (253); BVerfG NJW 2001, 3695 (3696). 17 BVerfGE 9, 36 (38); BVerfGE 68, 237 (256); BVerfG NJW 2001, 3695 (3696). 18 BVerfGE 39, 238 (243); BVerfGE 46, 202 (210); BVerfGE 68, 237 (255–256). 19 BVerfGE 46, 202 (210); BVerfGE 63, 380 (391). 20 BVerfGE 46, 202 (210); BVerfGE 63, 380 (391); BVerfGE 65, 171 (175); BVerfGE 70, 297 (323). 21 BVerfGE 46, 202 (210); BVerfGE 56, 185 (186); BVerfGE 63, 380 (391). 22 BVerfGE 46, 202 (210–211). 23 BVerfGE 9, 36 (38); BVerfG NJW 2001, 3695 (3696). 24 BVerfGE 9, 124 (131); BVerfGE 10, 264 (270); BVerfGE 22, 83 (86); BVerfGE 51, 295 (302); BVerfGE 56, 139 (143); BVerfGE 63, 380 (394); BVerfGE 81, 347 (356); BVerfGE 92, 122 (124); BVerfGE 122, 39 (48–49). 25 BVerfGE 22, 83 (86); BVerfGE 63, 380 (394–395); BVerfGE 122, 39 (49).
A. Verfassungsrechtliche Grundlagen
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Anspruch nehmen können wie ein Bemittelter.26 Dies gilt sowohl für den gerichtlichen als auch den außergerichtlichen Bereich des Rechtsschutzes.27 Kommt nach diesen Grundsätzen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht, genügen die besonderen rechtsstaatlichen Garantien des Strafverfahrens – der Ermittlungsgrundsatz, die Fürsorgepflicht des Gerichts, die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Objektivität sowie weiterer rechtsstaatlicher Garantien, wie beispielsweise die Unschuldsvermutung, der Grundsatz der Mündlichkeit und der Grundsatz in dubio pro reo –, um den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren sicherzustellen.28
III. Stellungnahme In der Sache besteht Einigkeit darüber, dass das Recht auf Verteidigerbeistand verfassungsrechtlich garantiert ist und auch dem mittellosen Beschuldigten zusteht. Ob das Recht auf Verteidigerbeistand und das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör oder dem Recht auf ein faires Verfahren abzuleiten sind, sind in erster Linie verfassungsdogmatische Streitfragen, deren Bedeutung angesichts der Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde auf die Verletzung der Grundrechte oder auf eines der in Art. 103 GG enthaltenen Rechte zu stützen, gering ist.29 Dennoch erscheint eine Ableitung des Rechts auf Verteidigerbeistand aus dem Recht auf ein faires Verfahren vorzugswürdig. Hierfür spricht bereits die Entstehungsgeschichte des Art. 103 GG.30 Die Entwürfe des Grundgesetzes enthielten neben dem Anspruch auf rechtliches Gehör eine Bestimmung zum Recht auf Verteidigerbeistand im Strafverfahren, die allerdings im Laufe der Beratungen im Parlamentarischen Rat ersatzlos gestrichen wurde.31 Der Grund für die Streichung war nicht die Überzeugung des Verfassungsgesetzgebers, dass das Recht auf rechtliches Gehör auch das Recht auf Verteidigerbeistand umfasse, sondern vielmehr sah man davon ab das Recht auf Verteidigerbeistand verfassungsrechtlich festzuschreiben, um dessen einfachgesetzliche Ausgestaltung nicht zu erschweren.32 Des Weiteren geht das Argument der erst genannten Ansicht, dass ein umfassendes Akteneinsichtsrecht gemäß § 147 StPO lediglich dem Verteidiger zustehe und deshalb das Recht auf rechtliches Gehör nur mithilfe eines Verteidigers effektiv ausgeübt werden könne, fehl, denn das einfache Recht kann nicht den Umfang und die Reichweite des 26
BVerfGE 63, 380 (395); BVerfGE 122, 39 (49). BVerfGE 122, 39 (49–50). 28 BVerfGE 56, 185 (186–187); BVerfGE 63, 380 (391–392). 29 So bezüglich des Rechts auf Verteidigerbeistand LR-Jahn, § 137 Rn. 2. 30 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 103 GG Maunz/Dürig-Remmert, Art. 103 Abs. 1 Rn. 11–13. 31 Maunz/Dürig-Remmert, Art. 103 Abs. 1 Rn. 68. 32 v. Doemming, JöR n. F. 1 (1951), 741 (743); Knell-Saller, Der Sicherungsverteidiger, S. 34; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 47. 27
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
Verfassungsrechts bestimmen.33 Ferner kann der Beschuldigte in einfach gelagerten Verfahren seinen Anspruch auf rechtliches Gehör selbst durchsetzen, ohne dass er hierfür zwingend die Hilfe eines Verteidigers benötigt.34 Auch in einem solch einfach gelagerten Fall hat der Beschuldigte allerdings das Recht, einen Verteidiger hinzuzuziehen,35 weshalb das Recht auf Verteidigerbeistand nicht auf den Anspruch auf rechtliches Gehör gestützt werden kann.36 Auch im Ermittlungsverfahren kann das Recht auf Verteidigerbeistand nicht aus dem Recht auf rechtliches Gehör abgeleitet werden. Art. 103 GG garantiert einen Anspruch auf rechtliches Gehör nämlich nur vor einem Gericht im Sinne des Art. 92 GG und nicht – auch nicht analog37 – vor der Staatsanwaltschaft.38 Um ein Recht auf Verteidigerbeistand im Ermittlungsverfahren verfassungsrechtlich zu begründen, muss vielmehr auf das Rechtsstaatsprinzip oder die Menschenwürde zurückgegriffen werden.39 Es ist allerdings wenig überzeugend, das Recht auf Verteidigerbeistand je nach Verfahrensabschnitt auf unterschiedliche Normen des Grundgesetzes zu stützen. Schließlich soll das Recht auf Verteidigerbeistand die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten nicht nur unter dem Aspekt des rechtlichen Gehörs, sondern insgesamt stärken, sodass ein Abstellen auf Art. 103 GG das Recht auf Verteidigerbeistand eher beschränkt als erweitert.40 Geht man aus diesen Gründen davon aus, dass die verfassungsrechtliche Grundlage des Rechts auf Verteidigerbeistand nicht der Anspruch auf rechtliches Gehör, sondern vielmehr das Recht auf ein faires Verfahren ist, kann auch das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nur aus dem Recht auf ein faires Verfahren abgeleitet werden. Unabhängig davon, ob man das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör oder dem Recht auf ein faires Verfahren ableitet, ist festzustellen, dass die grundgesetzlichen Vorschriften keine konkreten Vorgaben zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen 33
Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 46–47. Knell-Saller, Der Sicherungsverteidiger, S. 34; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 46; Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 56–57. 35 Knell-Saller, Der Sicherungsverteidiger, S. 35; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 46. 36 Knell-Saller, Der Sicherungsverteidiger, S. 35; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 46; so wohl auch Barton, Mindeststandards der Strafverteidigung, S. 56–57. 37 Jarass/Pieroth-Kment, Art. 103 Rn. 6; Sodan-Sodan, Art. 103 Rn. 8. 38 BVerfGE 27, 88 (103); Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn. 8; Jarass/Pieroth-Kment, Art. 103 Rn. 6; Maunz/Dürig-Remmert, Art. 103 Abs. 1 Rn. 54; Sodan-Sodan, Art. 103 Rn. 8. 39 Sachs-Degenhart, Art. 103 Rn. 8; Sodan-Sodan, Art. 103 Rn. 8. 40 Knell-Saller, Der Sicherungsverteidiger, S. 35; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 225. 34
B. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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Verteidigerbeistand enthalten. Auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung liefert diesbezüglich keine näheren Anhaltspunkte, weil das Bundesverfassungsgericht zur Konkretisierung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand weitgehend auf das Institut der notwendigen Verteidigung zurückgreift.
B. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird dem mittellosen Beschuldigten einfachgesetzlich insbesondere durch das Institut der notwendigen Verteidigung garantiert (I.). Daneben hat der mittellose Beschuldigte im außergerichtlichen Verfahren einen Anspruch auf Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz (II.).
I. Das Institut der notwendigen Verteidigung Der Beschuldigte hat gemäß § 137 Abs. 1 S. 1 StPO das Recht, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen. Dabei bleibt es grundsätzlich dem Beschuldigten überlassen, ob er einen Verteidiger hinzuzieht oder nicht.41 Lediglich in den Fällen der notwendigen Verteidigung schreibt das Gesetz die Mitwirkung eines Verteidigers am Strafverfahren zwingend vor.42 Hat in einem solchen Fall der Beschuldigte bereits von der Möglichkeit einen Verteidiger zu wählen Gebrauch gemacht, genügt dies den gesetzlichen Anforderungen.43 In dieser Konstellation ist der Wahlverteidiger zugleich ein notwendiger Verteidiger.44 Hat der Beschuldigte im Fall der notwendigen Verteidigung dagegen keinen Wahlverteidiger beauftragt, etwa weil er nicht über die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel verfügt, wird ihm ein Pflichtverteidiger bestellt.45 Während der Beschuldigte einen Wahlverteidiger sowohl in Fällen notwendiger als auch nicht notwendiger Verteidigung mandatieren kann, wird ihm ein Pflichtverteidiger nur in Fällen notwendiger Verteidigung bestellt. In allen Fällen, in denen die Verteidigung nicht notwendig ist, kann der mittellose Beschuldigte von seinem Recht auf Verteidigerbeistand keinen Gebrauch machen,
41 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 4; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 8. 42 Kritik an der zwingend notwendigen Mitwirkung eines Verteidigers unter dem Aspekt der Autonomie des Beschuldigten üben Welp, ZStW 90 (1978), 101–131 und Herrmann, StV 1996, 396–405. 43 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 248; Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 5. 44 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 248; Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 5. 45 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 248; Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 5.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
da ihm die finanziellen Mittel fehlen, um einen Wahlverteidiger mit seiner Verteidigung zu beauftragen. Der mittellose Beschuldigte erhält damit nach der Strafprozessordnung Verteidigerbeistand lediglich in Fällen notwendiger Verteidigung. Die Entstehungsgeschichte der Strafprozessordnung zeigt, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des Instituts der notwendigen Verteidigung nicht die Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand für mittellose Beschuldigte bezweckte.46 So wurde ein im Rahmen der Beratungen zur Reichsstrafprozessordung gestellter Antrag, die notwendige Verteidigung auf den Fall zu erstrecken, dass der Beschuldigte nicht über ausreichendes Vermögen verfüge, um einen Verteidiger bezahlen zu können, abgelehnt.47 Vielmehr verfolgte der Gesetzgeber rechtsstaatliche Ziele; insbesondere wollte er Waffengleichheit und ein faires Verfahren gewährleisten.48 Aus diesem Grund ist die Mittellosigkeit des Beschuldigten – abgesehen von § 364b Abs. 1 StPO – auch keine tatbestandliche Voraussetzung der notwendigen Verteidigung. Vielmehr wird dem Beschuldigten unabhängig von dessen Vermögensverhältnissen und unabhängig von dessen Willen ein Pflichtverteidiger bestellt.49 Die finanzielle Bedürftigkeit des Beschuldigten wird erst im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens berücksichtigt.50 Insgesamt ist das System der notwendigen Verteidigung von paternalistischen Gedanken getragen.51 Im Laufe der Zeit – nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – ist dem Institut der notwendigen Verteidigung beziehungsweise der Pflichtverteidigerbestellung aber eine „Armenrechtsersatzfunktion“ 52 zugekommen.53 Am 13.12.2019 ist das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, welches der Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie dient, in Kraft getreten.54 Der Gesetzgeber hat sich bei der Umsetzung der Prozesskosten46
Rieß, StV 1981, 460 (461). Vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Band 3, Abteilung 1, S. 954–956. 48 Rieß, StV 1981, 460 (461); Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 189. 49 BT-Drucks. 19/13829, S. 21. 50 BT-Drucks. 19/13829, S. 21. 51 BT-Drucks. 19/13829, S. 21. 52 Rieß, StV 1981, 460 (461). 53 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 189–190. 54 Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12. 2019, BGBl. I, S. 2128–2134. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung hat sich der Streit, ob die ProzesskostenhilfeRichtlinie nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist am 05.05.2019 unmittelbar anwendbar ist, erledigt, vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 04.06.2019 – 1 BGs 170/19, abrufbar unter https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm, zuletzt abgerufen am 30.06.2022; LG Chemnitz BeckRS 2019, 19698 Rn. 4–5; Satzger/Schlucke47
B. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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hilfe-Richtlinie in deutsches Recht dafür entschieden, das System der notwendigen Verteidigung und der Pflichtverteidigung beizubehalten.55 Spätestens hierdurch hat sich die notwendige Verteidigung und die damit zusammenhängende Bestellung eines Pflichtverteidigers von einem „Ersatzarmenrecht“ zu einer echten Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand gewandelt. 1. Die grundsätzliche Vereinbarkeit des Modells der notwendigen Verteidigung mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie geht nach ihrem Grundgedanken von dem in Europa auch in Strafverfahren weit verbreiteten System der Prozesskostenhilfe und einer grundsätzlichen Verzichtbarkeit des Rechts auf Verteidigerbeistand aus.56 Deshalb hat der Gesetzgeber im Rahmen der Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie die Einführung eines Systems der antragsbasierten Prozesskostenhilfe anstatt oder neben der notwendigen Verteidigung geprüft.57 Schließlich hat sich der Gesetzgeber jedoch dafür entschieden, die Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie innerhalb des bestehenden Systems der notwendigen Verteidigung umzusetzen.58 Dies wirft die Frage auf, ob unentgeltlicher Verteidigerbeistand im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie grundsätzlich durch das Institut der notwendigen Verteidigung gewährleistet werden kann. Teilweise wird dies mit der Begründung verneint, dass eine nur nachgelagerte Prüfung der Bedürftigkeit bei der Pflichtverteidigerbestellung – reduziert auf einen „Vollstreckungsschutz“ – keine Prozesskostenhilfe im Sinne der Prozesskostenhilfe-Richtlinie sei.59 Diesem Einwand ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Mitgliedstaaten die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand gemäß Art. 4 Abs. 2 der ProzesskostenhilfeRichtlinie auch nur an das Vorliegen materieller Gründe knüpfen können. Tut ein Mitgliedstaat dies und gestaltet er die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 3; Burhoff, StRR 10/2019, 14–15; LR-Jahn, § 140 Vor Rn. 1; Jahn/Zink, StraFo 2019, 318 (327); Kaniess, HRRS 2019, 201–206; Kische/Müller, Die Polizei 2019, 209 (212). 55 BT-Drucks. 19/13829, S. 21. 56 BT-Drucks. 19/13829, S. 2. 57 BT-Drucks. 19/13829, S. 4. 58 BT-Drucks. 19/13829, S. 2; diese Entscheidung begrüßend, Deutscher Richterbund, Stellungnahme Nr. 14/18, S. 1. 59 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (144–145).
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
nicht als dauerhaft unentgeltlich aus, ist die Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens zwingend. Ferner wird kritisiert, dass Art. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie die Bereitstellung finanzieller Mittel zur Bezahlung eines Rechtsanwalts normiere und dies entspräche nicht der Bestellung eines Pflichtverteidigers.60 Allerdings stellt der Staat auch im Rahmen der notwendigen Verteidigung finanzielle Mittel zur Tragung der Verteidigerkosten bereit, sodass auch dieses System den Vorgaben des Art. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie entspricht. Der Umstand, dass die Verteidigung notwendig ist und der Beschuldigte nicht auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers verzichten kann, widerspricht ebenfalls nicht den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der ProzesskostenhilfeRichtlinie, da es die Rechtsprechung für zulässig erachtet, dass die Möglichkeit auf Verteidigerbeistand zu verzichten, eingeschränkt wird.61 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass unentgeltlicher Verteidigerbeistand im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie grundsätzlich durch das Modell der notwendigen Verteidigung gewährleistet werden kann.62 Ob allerdings die einzelnen Bestimmungen den Vorgaben entsprechen, bedarf einer eingehenden Analyse. Deshalb wird im Folgenden dargestellt, in welchen Fällen die Verteidigung notwendig ist und wie das in §§ 141–143a StPO geregelte Bestellungsverfahren im Detail ausgestaltet ist. Ferner wird untersucht, ob die einzelnen Bestimmungen des Instituts der notwendigen Verteidigung den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta, der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und dem Grundgesetz entsprechen. 2. Die Fälle notwendiger Verteidigung Zentrale Vorschrift der notwendigen Verteidigung ist § 140 StPO. Während § 140 Abs. 1 StPO katalogartig elf Fallgruppen notwendiger Verteidigung auflistet, enthält § 140 Abs. 2 StPO einen generalklauselartig formulierten Auffangtatbestand, der eine Verteidigerbeiordnung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls ermöglicht.63 Daneben enthält die Strafprozessordnung weitere Fälle notwendiger Verteidigung, die allerdings nicht zentral, sondern im jeweiligen Sachzusammenhang geregelt sind.
60
Spitzer, ZRP 2019, 183. Schoeller, StV 2019, 190 (191). 62 Davon gehen auch Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski, HRRS 2018, 56, aus, indem sie bei ihrem Gesetzesvorschlag zur Umsetzung der Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie in das deutsche Recht am Modell der notwendigen Verteidigung festhalten. 63 AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 3; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 1. 61
B. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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a) Der Katalog des § 140 Abs. 1 StPO Der Katalog des § 140 Abs. 1 StPO ist durch das Gesetz zur Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung weitestgehend unverändert geblieben.64 Lediglich einzelne Tatbestände wurden erweitert.65 Zudem wurden einige von der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannte Fallgruppen notwendiger Verteidigung, die bisher dem Anwendungsbereich des § 140 Abs. 2 StPO unterfielen, in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO integriert.66 aa) § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO Gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet. Das Oberlandesgericht ist in erster Instanz für die in § 120 Abs. 1 und 2 S. 1 GVG genannten Strafsachen zuständig. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Landgerichts ergibt sich aus §§ 74–74c GVG oder § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG. Das Schöffengericht ist gemäß § 28 GVG zuständig, wenn die Strafsache nach § 24 Abs. 1 GVG dem Amtsgericht zuzuordnen und keine Zuständigkeit des Strafrichters (§ 25 GVG) begründet ist. Mithin ist das Schöffengericht zuständig bei Vergehen67 mit einer Straferwartung von über zwei Jahren bis zu vier Jahren sowie bei Verbrechen68 mit einer Straferwartung bis zu vier Jahren, sofern nicht die Zuständigkeit des Landgerichts beziehungsweise des Oberlandesgerichts gegeben ist. Zudem darf keine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten sein (§ 24 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GVG). Ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfinden wird, macht eine Prognose erforderlich. Im Zwischenverfahren ist diese Einschätzung regelmäßig zu bejahen, wenn Anklage zum Oberlandesgericht, Landgericht oder Schöffengericht erhoben wurde.69 Allerdings entfällt die Erwartung, wenn das für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständige Gericht zur Auffassung gelangt, dass das Verfahren vor dem Strafrichter zu eröffnen ist.70 Wird dagegen Anklage beim Strafrichter erhoben, kann die Erwartung dennoch zu bejahen sein, wenn dieser beabsichtigt 64
Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 10. Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (455); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 10. 66 BT-Drucks. 19/13829, S. 31; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 10. 67 Vergehen sind gemäß § 12 Abs. 2 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von unter einem Jahr oder die mit Geldstrafe bedroht sind. 68 Verbrechen sind gemäß § 12 Abs. 1 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. 69 BT-Drucks. 19/13829, S. 32; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 11b. 70 BT-Drucks. 19/13829, S. 32; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 11b; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 2. 65
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das Verfahren einem Gericht höherer Ordnung gemäß § 209 Abs. 2 StPO vorzulegen.71 Dagegen kann sich im Ermittlungsverfahren die Beantwortung der Frage, ob die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet, als schwierig erweisen.72 Bei der Prognose sind sämtliche Tatsachen und Beweise zu berücksichtigen, die den Strafvorwurf stützen.73 Im Ermittlungsverfahren kann bereits das Bestehen eines Anfangsverdachts ausreichend sein, wenn aufgrund der vorliegenden Anhaltspunkte – insbesondere der Art und des Umfangs der Tat sowie der persönlichen Umstände des Beschuldigten – zu erwarten ist, dass der Fall bei einer Verdichtung des Tatverdachts mindestens vor dem Schöffengericht angeklagt werden wird.74 Insbesondere beim Verdacht eines Verbrechens, ist eine frühe Prognose jedoch ohne weiteres möglich, da in einem solchen Fall Anklage mindestens beim Schöffengericht erhoben werden muss.75 Kommt dagegen auch eine Anklage zum Strafrichter in Betracht, sind zunächst weitere Umstände – zum Beispiel die persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten, der Schadensumfang, etc. – zu ermitteln.76 In diesen Fällen kann die Prognoseentscheidung in der Regel erst nach der Vernehmung des Beschuldigten getroffen werden.77 Der Anwendungsbereich des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO wurde im Zuge der Reform der notwendigen Verteidigung auf erstinstanzliche Verfahren vor dem Schöffengericht erstreckt.78 Dies führt allerdings zu keiner Ausweitung der notwendigen Verteidigung, da diese Fälle aufgrund der Straferwartung von mehr als zwei Jahren (§§ 24, 25 Nr. 2 GVG) bisher von § 140 Abs. 2 StPO a. F. erfasst wurden79 und somit einen Fall notwendiger Verteidigung begründeten. Lediglich bei Strafverfahren, die gemäß § 25 GVG in die Zuständigkeit des Strafrichters fallen, liegt kein Fall notwendiger Verteidigung vor. Da der Strafrichter jedoch für den Großteil aller Strafverfahren zuständig ist,80 führt § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO nicht dazu, dass der 71
BT-Drucks. 19/13829, S. 32. Böß, NStZ 2020, 185 (186). 73 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 11c. 74 BT-Drucks. 19/13829, S. 32; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 11c. 75 BT-Drucks. 19/13829, S. 32; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 13. 76 BT-Drucks. 19/13829, S. 32. 77 BT-Drucks. 19/13829, S. 32–33. 78 BT-Drucks. 19/13829, S. 32. 79 OLG Hamm StV 1999, 641 (642); OLG Naumburg StV 2014, 10; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (455); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 11; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 29; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 5. 80 Im Jahr 2021 wurden erstinstanzlich von den Amtsgerichten 433.826 Verfahren (ohne Verfahren vor dem Jugendrichter und dem Jugendschöffengericht) von den Landgerichten 14.186 Verfahren und vor den Oberlandesgerichten 54 Verfahren erledigt. Von den insgesamt 448.066 Verfahren entfielen 393.517 Verfahren auf den Strafrichter, vgl. Statistisches Bundesamt (Destatis), Fachserie 10 – Rechtspflege, Reihe 2.3 – Strafgerichte, 2021, S. 15, 53, 103. 72
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mittellose Beschuldigte in einer Vielzahl von Verfahren Verteidigerbeistand erhält. bb) § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO Nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Verbrechen sind nach der Legaldefinition des § 12 Abs. 1 StGB rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Bei der Einordnung als Verbrechen haben nach § 12 Abs. 3 StGB Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches oder für besonders schwere oder minderschwere Fälle vorgesehen sind, außer Betracht zu bleiben. Zur Last gelegt wird dem Beschuldigten ein Verbrechen durch eine Anklage, eine Nachtragsanklage (§ 266 Abs. 1 und 2 StPO), einen Haftbefehl, einen Eröffnungsbeschluss (§ 207 Abs. 2 Nr. 3 StPO) oder einen rechtlichen Hinweis nach § 265 StPO.81 § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist aber auch dann einschlägig, wenn wegen eines Verbrechens ermittelt wird.82 Die Verteidigung bleibt solange notwendig, bis über das Vorliegen eines Verbrechens rechtskräftig entschieden wurde.83 Eigenständige Bedeutung entfaltet die Vorschrift nur bei Berufungen gegen Urteile des Strafrichters, wenn das Berufungsgericht einen Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO erteilt, dass auch eine Verurteilung wegen eines Verbrechens in Betracht kommt.84 Ansonsten findet bereits § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO Anwendung. cc) § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO Darüber hinaus ist die Verteidigung notwendig, wenn das Verfahren zu einem Berufsverbot gemäß § 70 StGB führen kann. Dies ist der Fall, wenn die Anordnung eines Berufsverbots mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist,85 etwa weil ein solches in der Anklageschrift aufgeführt wird, ein Hinweis nach § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO diesbezüglich erfolgt ist, bereits ein vorläufiges Berufsverbot nach § 132a Abs. 1 StPO angeordnet wurde oder sich sonst Umstände ergeben, die das Gericht dazu veranlassen, sich mit der Maßregelfrage zu befassen, wie 81 HK/StPO-Julius/Schiemann, § 140 Rn. 6; LR-Jahn, § 140 Rn. 19; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 13. 82 BGH NStZ 2006, 236 (237); LG Magdeburg StraFo 2020, 371; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 15; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 7. Nach Ansicht des OLG Bremen StV 1984, 13, greift § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO sogar bereits dann ein, wenn die naheliegende Möglichkeit besteht, dass die Tat im Laufe des Verfahrens als Verbrechen beurteilt werden wird. 83 BayObLG StV 1994, 65; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 16; HK/StPO-Julius/Schiemann, § 140 Rn. 6; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 5. 84 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 6. 85 BGHSt 4, 320 (321–322); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 13; SK/ StPO-Wohlers, § 140 Rn. 9.
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beispielsweise eine Beantragung der Anordnung durch die Staatsanwaltschaft.86 Die Verteidigung ist auch dann notwendig, wenn das Berufsverbot letztlich nicht angeordnet wird.87 Teilweise wird die Vorschrift analog auf den Fall angewendet, dass bei einer Verurteilung die befristete Aufenthaltserlaubnis endgültig abgelehnt würde, was zur Folge hätte, dass der Beschuldigte auch keine Möglichkeit mehr hätte eine Erwerbstätigkeit auszuüben.88 Eine entsprechende Anwendung auf andere Maßregeln der Besserung und Sicherung kommt mangels Regelungslücke nicht in Betracht.89 dd) § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO Des Weiteren liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn der Beschuldigte nach den §§ 115, 115a, 128 Abs. 1 oder § 129 StPO einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist. Durch den Verweis auf die §§ 115, 115a StPO werden zunächst die Fälle erfasst, in denen der Beschuldigte aufgrund eines bereits ergangenen Haftbefehls festgenommen wird.90 Bei dem Haftbefehl kann es sich um einen Untersuchungshaftbefehl gemäß § 114 StPO, einen das beschleunigte Verfahren sichernden Haftbefehl gemäß § 127b StPO sowie die Anordnung von Hauptverhandlungshaft gemäß § 230 Abs. 2 StPO und § 329 Abs. 3 StPO handeln.91 Ferner unterfällt der Vorschrift die Ergreifung aufgrund eines Unterbringungsbefehls gemäß § 126a Abs. 1 StPO oder § 275a Abs. 6 StPO, da § 126a Abs. 2 S. 1 StPO und § 275a Abs. 6 S. 4 StPO die entsprechende Geltung der §§ 115, 115a StPO normieren.92 Ist der Ergriffene die im Haft- beziehungsweise Unterbringungsbefehl bezeichnete Person, hat eine Vorführung zwingend zu erfolgen; daher ist ab dem Zeitpunkt der Ergreifung die Verteidigung notwendig.93 Aufgrund des Verweises auf §§ 128, 129 StPO werden auch die Fälle der vorläufigen Festnahme erfasst und zwar sowohl die nach § 127 Abs. 1 oder 2 StPO als auch die nach § 127b Abs. 1 StPO.94 In 86 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 18; AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 13; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 9. 87 RGSt 70, 317 (320); LR-Jahn, § 140 Rn. 25; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 14; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 9. 88 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 19; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 9. Das LG Oldenburg StV 2013, 435, stellt in einem solchen Fall auf § 140 Abs. 2 StPO ab. 89 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 19; LR-Jahn, § 140 Rn. 26; AK/StPO-Stern, § 140 Rn. 13; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 10. 90 BT-Drucks. 19/13829, S. 33; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 8. 91 BT-Drucks. 19/13829, S. 33; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 8. 92 BT-Drucks. 19/13829, S. 33; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 14a. 93 BT-Drucks. 19/13829, S. 33; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 8. 94 BT-Drucks. 19/13829, S. 33; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 14b.
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diesen Fällen hat eine Vorführung nur zu erfolgen, wenn die festgenommene Person nicht wieder freigelassen wird.95 Die Verteidigung ist erst notwendig, wenn feststeht, dass eine Vorführung erforderlich ist, weil ein Haftbefehl beantragt wird.96 Nach der Gesetzesbegründung soll es zulässig sein, einen vorläufig festgenommenen Beschuldigten vor der Vorführung zunächst noch zu vernehmen, sofern dies der Klärung der Frage dient, ob die Beantragung eines Haftbefehls erforderlich ist.97 Ein solches Vorgehen ist jedoch nicht mit Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar, der normiert, dass Prozesskostenhilfe spätestens vor einer Befragung zu gewähren ist.98 Eine Vernehmung des Beschuldigten sowie die Durchführung von Identifizierungs- und Vernehmungsgegenüberstellungen sowie Tatortrekonstruktionen ohne Beistand eines Verteidigers sind daher richtlinienwidrig.99 Durch § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO soll Art. 4 Abs. 4 der ProzesskostenhilfeRichtlinie Rechnung getragen werden, der vorschreibt, dass einem Beschuldigten Unterstützung durch einen Rechtsbeistand zu gewährleisten ist, wenn er einem zuständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird.100 Im Vergleich zur früheren Rechtslage (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO a. F.), nach der die Mitwirkung eines Verteidigers erst notwendig war, wenn gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO oder einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO oder § 275a Abs. 6 StPO vollstreckt wurde, – wobei die Rechtsprechung davon ausging, dass eine Vollstreckung der Untersuchungshaft erst mit der Aufrechterhaltung der Haft gemäß § 115 Abs. 4 S. 1 StPO vorlag,101 – hat die Gesetzesreform zu einer Ausweitung der notwendigen Verteidigung geführt.102 ee) § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO Befindet sich der Beschuldigte aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt, liegt gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ebenfalls ein Fall notwendiger Verteidigung vor. Die Vorschrift zielt darauf ab, die mit dem Freiheitsentzug einhergehenden Einschränkungen bei der Vorberei-
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BT-Drucks. 19/13829, S. 33; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (455). BT-Drucks. 19/13829, S. 33. 97 BT-Drucks. 19/13829, S. 33; kritisch hierzu Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 12. 98 LR-Jahn, § 140 Rn. 32. 99 LR-Jahn, § 140 Rn. 32. 100 BT-Drucks. 19/13829, S. 33; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 8. 101 BGHSt 60, 38 (41). 102 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 23; BeckOK/StPOKrawczyk, § 140 Rn. 8; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 11; Schoeller, StV 2019, 190 (193). 96
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tung der Verteidigung zu kompensieren.103 Der Begriff der Anstaltsunterbringung umfasst unter anderem Strafhaft, Abschiebehaft, Auslieferungshaft und Strafarrest.104 Auch Untersuchungshaft unterfällt dieser Vorschrift, allerdings wird diese auch von § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO erfasst.105 Ferner gehört die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB), sowie eine Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder hierzu.106 Unerheblich ist, ob sich der Aufenthalt in der Anstalt auf das gegenwärtige Verfahren bezieht.107 Analog angewendet wird die Norm auf den freiwilligen stationären Aufenthalt in einer Drogentherapieeinrichtung nach § 35 BtMG108 oder einen stationären Alkoholentzug in einer Klinik.109 Durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung wurde die früher bestehende Voraussetzung, dass sich der Beschuldigte mindestens drei Monate aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden haben musste, gestrichen. Diese Einschränkung war nicht mit den Vorgaben aus der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar, die in Art. 4 Abs. 4 die Unterstützung des Beschuldigten durch einen Rechtsbeistand fordert, sobald sich der Beschuldigte in Haft befindet.110 Durch die Streichung der zeitlichen Beschränkung wurde der Anwendungsbereich der notwendigen Verteidigung ausgeweitet und ein richtlinienkonformer Zustand geschaffen. ff) § 140 Abs. 1 Nr. 6 StPO Wenn zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 StPO in Frage kommt, ist die Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 6 StPO notwendig. Dies ist bereits dann der Fall, wenn über einen entsprechenden Antrag – auch einen ernst gemeinten Antrag des
103 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 24; HK/StPO-Julius/ Schiemann, § 140 Rn. 10; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 10. 104 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 25; BeckOK/StPOKrawczyk, § 140 Rn. 11; LR-Jahn, § 140 Rn. 42; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 16; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 15. 105 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 16. 106 MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 20; Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 16. 107 OLG Düsseldorf StV 2001, 609; LG Magdeburg StraFo 2003, 420; Satzger/ Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 25. 108 LG Gießen StV 1991, 204 m. zust. Anm. Nix; Satzger/Schluckebier/Widmaier/ StPO-Beulke, § 140 Rn. 26; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 20; Kleinknecht/ Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 13a erachtet § 140 Abs. 2 StPO als einschlägig. 109 LG München I StV 1999, 421; LG Traunstein StV 1995, 126; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 16; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 13a plädiert für eine Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO. 110 BT-Drucks. 19/13829, S. 34; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 27; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 15.
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Beschuldigten selbst – zu entscheiden ist,111 oder wenn das Gericht eine Einweisung zur Beobachtung in Erwägung zieht.112 Auch wenn es zu keiner Anstaltsunterbringung kommt, bleibt die Verteidigung für das weitere Verfahren notwendig.113 Bei einer ambulanten Begutachtung ist die Vorschrift nicht anwendbar, sondern vielmehr § 140 Abs. 2 StPO einschlägig.114 gg) § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO Ein weiterer Fall notwendiger Verteidigung liegt vor, wenn zu erwarten ist, dass ein Sicherungsverfahren nach §§ 413–416 StPO durchgeführt wird. Die Verteidigung ist nicht erst ab der Einleitung des Sicherungsverfahrens notwendig, sondern sobald dessen Durchführung konkret zu erwarten ist.115 Eigenständige Bedeutung kommt der Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO nur in amtsgerichtlichen Verfahren mit dem Ziel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) zu, da die Sicherungsverwahrung und die Führungsaufsicht gemäß § 71 StGB nicht im Sicherungsverfahren angeordnet werden können und bezüglich der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Anordnung eines Berufsverbots bereits § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO beziehungsweise § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO einschlägig ist.116 hh) § 140 Abs. 1 Nr. 8 StPO Ist der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung nach §§ 138a–138d StPO rechtskräftig von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen, liegt ebenfalls ein Fall notwendiger Verteidigung vor. Nach herrschender Meinung soll § 140 Abs. 1 Nr. 8 StPO nicht anwendbar sein, wenn dem Beschuldigten nach dem Ausschluss des Verteidigers zumindest noch ein Verteidiger verbleibt.117 111 BGH NJW 1952, 797; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 23; KK/StPOWillnow, § 140, Rn. 17. 112 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 74; AnwK/ StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 10. 113 BGH NJW 1952, 797; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 18; KK/StPOWillnow, § 140 Rn. 17. 114 MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 23; vgl. hierzu auch Lehmann, StV 2003, 356–358. 115 BT-Drucks. 19/13829, S. 34; LR-Jahn, § 140 Rn. 48. 116 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 29; Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 11; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 75; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 24; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 31; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 18; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 20. 117 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 30; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 76; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20; kritisch Eisenberg, NJW 1991, 1257 (1261); ebenfalls kritisch MK/StPOThomas/Kämpfer, § 140 Rn. 25.
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Relevanz entfaltet die Vorschrift nur in Fällen, in denen die Verteidigung bis zum rechtskräftigen Ausschluss des Verteidigers nicht notwendig war, da sich ansonsten die Notwendigkeit der Verteidigung bereits aus § 140 Abs. 1 Nr. 1–7 und 9–11 oder § 140 Abs. 2 StPO ergibt.118 Aus diesem Grund ist die Vorschrift für den mittellosen Beschuldigten praktisch bedeutungslos, da er sich keinen Wahlverteidiger leisten kann, sodass ein solcher auch nicht nach §§ 138a–138d StPO rechtskräftig von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen werden kann. ii) § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO Des Weiteren erklärt § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO die Verteidigung für notwendig, wenn dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Abs. 3 und 4 StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Aus welchem Grund der Verletzten- beziehungsweise Nebenklägerbeistand bestellt wurde, ist unerheblich.119 Bedient sich der Verletzte oder Nebenkläger eines nicht beigeordneten Rechtsanwalts, liegt dagegen aufgrund des eindeutigen Wortlauts kein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO vor, es kommt aber eine Bestellung gemäß § 140 Abs. 2 StPO in Betracht;120 allerdings ist umstritten, ob diese regelmäßig121 oder lediglich nach konkreter Prüfung des Einzelfalls122 zu erfolgen hat. Vereinzelt wird gefordert, die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO analog auf das Privatklageverfahren und den Fall, dass sich der Verletzte eines Zeugenbeistands bedient, anzuwenden.123 jj) § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO Erscheint bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten, liegt gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO ebenfalls ein Fall notwendiger Verteidigung vor. Die durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a. F.
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LR-Jahn, § 140 Rn. 50; AK/StPO-Stern, § 140 Rn. 23. MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 25a. 120 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 31; BeckOK/StPOKrawczyk, § 140 Rn. 17; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 32; Kleinknecht/ Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 22; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 21a; a. A. MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 25a, der auch in einem solchen Fall § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO als einschlägig erachtet. 121 OLG Hamm StraFo 2004, 242; OLG Stuttgart NStZ-RR 2008, 312 (313); Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 31. 122 KG StV 2012, 714 (715–718) m. abl. Anm. Meyer-Goßner; KG NStZ-RR 2016, 53; OLG Hamburg StV 2017, 149 (150) m. abl. Anm. Beulke/Sander; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 19. 123 MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 25a. 119
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eingeführte Regelung124 wurde im Zuge der Reform der notwendigen Verteidigung aus systematischen Gründen in § 140 Abs. 1 StPO überführt.125 Nach dem eindeutigen Wortlaut und damit entgegen der Gesetzesbegründung126 bezieht sich die Vorschrift auf alle richterlichen Vernehmungen sowohl vor als auch nach Anklageerhebung.127 Richterliche Vernehmungen in der Hauptverhandlung unterfallen nach Sinn und Zweck des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO a. F., der Formulierung der Gesetzesbegründung sowie deren Gesamtzusammenhang jedoch nicht § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO.128 Neben richterliche Beschuldigtenvernehmungen werden auch richterliche Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen erfasst.129 Ob die Mitwirkung eines Verteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten ist, ist stets eine Frage des Einzelfalls.130 Bei richterlichen Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen kann unter anderem der Stellenwert der Aussage für die Ermittlungen beziehungsweise das spätere Verfahren sowie der Umstand, ob der Zeuge voraussichtlich für eine Aussage in der Hauptverhandlung zur Verfügung stehen wird, berücksichtigt werden.131 Einen Anwendungsfall der Vorschrift stellt beispielsweise die ermittlungsrichterliche Vernehmung wesentlicher oder zentraler Belastungszeugen oder von Sachverständigen im Ermittlungsverfahren nach § 168c Abs. 2 StPO dar132 – und zwar unabhängig davon, ob der bis zu diesem Zeitpunkt unverteidigte Beschuldigte nach § 168c Abs. 3 StPO von dieser Vernehmung ausgeschlossen werden soll.133 Ein weiterer Anwendungsfall können richterliche Vernehmungen von Mitbeschuldigten sein.134 Bei richterlichen Beschuldigtenvernehmungen nach § 168c Abs. 1 StPO kann mit Blick auf § 254 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten sein.135 Gleiches gilt für richterliche Vernehmungen des Beschuldigten gemäß § 166 StPO und des Angeklagten nach § 233 Abs. 2 StPO.136
124 Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.08.2017, BGBl. I, S. 3202 (3208). 125 BT-Drucks. 19/13829, S. 34; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20b. 126 BT-Drucks. 18/11277, S. 28. 127 Burhoff, StraFo 2018, 405; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20b; Schlothauer, StV 2017, 557. 128 Burhoff, StraFo 2018, 405 (406). 129 HK/StPO-Julius/Schiemann, § 141 Rn. 12; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20b; Schlothauer, StV 2017, 557. 130 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 32; Schlothauer, StV 2017, 557 (558). 131 BT-Drucks. 18/11277, S. 29; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20d. 132 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20d. 133 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20d; a. A. BT-Drucks. 18/11277, S. 28. 134 Burhoff, StraFo 2018, 405 (406); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20d. 135 BT-Drucks. 18/11277, S. 28; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20c; Schlothauer, StV 2017, 557 (558). 136 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20c.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
Dagegen werden richterliche Vernehmungen anlässlich einer Haftvorführung nicht von § 140 Abs. 1 Nr. 10 StPO sondern § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO erfasst.137 kk) § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO Schließlich liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn ein seh-, höroder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt. Das Vorliegen eines Antrags ist Voraussetzung für die Notwendigkeit der Verteidigung.138 Trotz fehlenden Antrags kann dem Beschuldigten – auch gegen seinen Willen – ein Verteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO bestellt werden, wenn er sich ersichtlich nicht selbst verteidigen kann.139 Im Zuge der Reform der notwendigen Verteidigung wurde die ehemals in § 140 Abs. 2 S. 2 StPO a. F. enthaltene Regelung aus Gründen einer klareren Systematik in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO überführt und auf sehbehinderte Personen erstreckt.140 Durch die Erstreckung auf sehbehinderte Beschuldigte soll Art. 9 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Rechnung getragen werden, welcher den Schutz besonders schutzbedürftiger Beschuldigter vorschreibt.141 Durch die Erstreckung der Regelung auf sehbehinderte Personen erfolgt allerdings keine wirkliche Ausweitung der notwendigen Verteidigung, da schon bisher bei Blinden oder stark sehbehinderten Beschuldigten die Verteidigung in der Regel als notwendig erachtet wurde.142 b) Die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO Ergänzend zum Katalog des § 140 Abs. 1 Nr. 1–11 StPO normiert § 140 Abs. 2 StPO weitere Fälle notwendiger Verteidigung. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sachoder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Jedes der vier Kriterien kann für sich alleine die Notwendigkeit der Verteidigung begründen.143 Die Notwendigkeit der Verteidigung kann sich aber auch erst aus einer 137
BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 20c; Spitzer, StV 2020, 418 (420). 138 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 20. 139 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 33; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 25. 140 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 33. 141 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 20. 142 HK/StPO-Julius/Schiemann, § 140 Rn. 21; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 53; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 50; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 11. 143 LR-Jahn, § 140 Rn. 69; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 26; SK/StPOWohlers, § 140 Rn. 29.
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Kombination mehrerer Kriterien ergeben.144 Auf Tatbestandsebene enthält die Vorschrift des § 140 Abs. 2 StPO unbestimmte Rechtsbegriffe, bei deren Auslegung der für die Bestellung des Pflichtverteidigers zuständigen Stelle ein Beurteilungsspielraum zusteht.145 Der Anwendungsbereich des § 140 Abs. 2 StPO beschränkt sich aufgrund der Vorrangigkeit des § 140 Abs. 1 StPO im Wesentlichen auf Strafverfahren, die in die Zuständigkeit des Strafrichters fallen sowie Berufungsverfahren.146 Darüber hinaus kommt § 140 Abs. 2 StPO Bedeutung bei der Bestellung eines Verteidigers für die Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht zu.147 aa) Die Schwere der Tat Ein Fall notwendiger Verteidigung liegt vor, wenn wegen der Schwere der Tat die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Die Schwere der Tat wurde bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung bestimmt.148 Durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung wurde allerdings die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge als eigenständiges Kriterium in den Tatbestand des § 140 Abs. 2 StPO aufgenommen, sodass bei der Auslegung der Schwere der Tat nicht mehr auf die zu erwartende Rechtsfolge abgestellt werden kann. Da auch der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten bei der Beurteilung der Schwere der Tat keine Bedeutung zukommt – dieser Aspekt unterfällt vielmehr § 140 Abs. 2 Var. 4 StPO –,149 verbleibt nur noch ein sehr gerin144 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 22; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 26. 145 OLG Hamm NStZ 1982, 298; OLG Karlsruhe NStZ 1991, 505; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 34; LR-Jahn, § 140 Rn. 68; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 77; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 21; Radtke/Hohmann-Reinhart, § 140 Rn. 21; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 27; a. A. BGHSt 6, 199 (200); HK/StPO-Julius/Schiemann, § 140 Rn. 17; AnwK/ StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 22; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 20, die davon ausgehen, dass die Entscheidung über die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Stelle stehe. 146 Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 12; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 89; LR-Jahn, § 140 Rn. 69; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidgung im Strafverfahren, S. 77–78; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 21; AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 13; MK/StPO-Thomas/ Kämpfer, § 140 Rn. 26. 147 KK/StPO-Gericke, § 350 Rn. 12; BeckOK/StPO-Wiedner, § 350 Rn. 21; MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 350 Rn. 10. 148 BGHSt 6, 199 (200–201); Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 35; AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 14; Radtke/Hohmann-Reinhart, § 140 Rn. 23; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 21. 149 Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch – US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 55; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 80–81; LR-Jahn, § 140 Rn. 80; Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidi-
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
ger Anwendungsbereich für das Merkmal der Schwere der Tat.150 So kann sich die Schwere der Tat aus der Art des Vorwurfs – etwa einer fahrlässigen Tötung – ergeben.151 bb) Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge Ein Fall notwendiger Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Durch die Aufnahme dieses Kriteriums im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung sollen die Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 S. 1 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vollständig umgesetzt werden.152 Da bisher das Kriterium der „Schwere der Tat“ maßgeblich anhand der zu erwartenden Rechtsfolgen bestimmt wurde, dürften mit der sprachlichen Anpassung keine wesentlichen inhaltlichen Änderungen einhergehen.153 Die bislang von der Rechtsprechung herausgebildeten Grundsätze gelten daher fort.154 Vom Kriterium der „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ werden sämtliche Rechtsfolgen erfasst, die im Strafverfahren angeordnet werden können, das heißt Strafen, Nebenstrafen, Nebenfolgen, Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie die Einziehung.155 Eine richtlinienkonforme Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge muss sich an der zu Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientieren.156 Es ist in jedem Einzelfall mittels einer Gesamtbetrachtung zu prüfen, ob die Verfahrensfairness angesichts der zu erwartenden Rechtsfolge die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfordert.157 Hierbei sind alle Umstände des Falles zu berücksichtigen, beispielsweise ob der Beschuldigte selbst die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt hat sowie die persönlichen oder beruflichen Auswirkungen einer Verurteilung auf den Beschuldigten.158
gung im Ermittlungsverfahren, S. 114; a. A. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 52; OLG Stuttgart StraFo 2001, 205; AK/StPO-Stern, § 140 Rn. 26. 150 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 24. 151 LG Bayreuth StV 1993, 181; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 34. 152 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 23. 153 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 23. 154 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 23; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 23. 155 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 38; Spitzer, StV 2020, 418 (420). 156 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 38. 157 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 38. 158 BT-Drucks. 19/13829, S. 35; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 38; Spitzer, StV 2020, 418 (420).
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Überwiegend wird bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von einem Jahr – unabhängig davon, ob diese zur Bewährung ausgesetzt wird159 oder erst durch eine Gesamtstrafenbildung zustande kommt160 – von der Notwendigkeit der Verteidigung ausgegangen.161 Mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bezüglich der dem Beschuldigten drohenden Strafe nicht auf die im konkreten Einzelfall zu erwartende Strafe, sondern auf die gesetzlich zulässige Höchststrafe abstellt, erscheint es jedoch angezeigt in jedem Fall, in dem eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann, von der Notwendigkeit der Verteidigung auszugehen.162 Darüber hinaus wird auch bei drohenden Geldstrafen die Möglichkeit der Beiordnung eines Verteidigers bejaht, zumindest wenn die gesetzliche Höchststrafe erreicht wird.163 Zudem sind sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen.164 Hierzu zählen unter anderem disziplinarrechtliche Konsequenzen,165 haftungsrechtliche166 oder aufenthaltsrechtliche Folgen,167 159 OLG Frankfurt am Main StV 2001, 106 (107); Satzger/Schluckebier/Widmaier/ StPO-Beulke, § 140 Rn. 35; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 29; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 21. 160 OLG Jena StraFo 2005, 200; OLG Naumburg NStZ-RR 2013, 287; BeckOK/ StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 24; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 23a; SK/ StPO-Wohlers, § 140 Rn. 33. 161 OLG Karlsruhe StV 1991, 199 (200); OLG Brandenburg StV 2000, 607; OLG Frankfurt am Main StV 2001, 106 (107); OLG Hamm NStZ-RR 2001, 107 (108); OLG Naumburg StV 2013, 433; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 23a; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 27a; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 21; a. A. OLG Frankfurt am Main StV 1984, 370; OLG Celle StV 1985, 184, die noch eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren für erforderlich hielten. 162 Eine Verteidigerbestellung in jedem Fall, in dem dem Beschuldigten eine Freiheitsstrafe droht, befürworten auch Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 36; Herrmann, StV 1996, 396 (400); Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 79; Meyer-Mews, ZRP 2019, 5 (6); Molketin, Die Schutzfunktion des § 140 Abs. 2 StPO zugunsten des Beschuldigten im Strafverfahren, S. 49; Oellerich, StV 1981, 434 (437); Rzepka, Zur Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 408; Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 33; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 321; AK/StPO-Stern, § 140 Rn. 27; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 33; enger Wolter, GA 1985, 49 (81–82), der von einem Fall notwendiger Verteidigung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten ausgeht; ebenfalls enger Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 20, die von der Notwendigkeit der Verteidigung bei einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung ausgehen. 163 HK/StPO-Julius/Schiemann, § 140 Rn. 18; a. A. Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 80. 164 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 37; Meyer-Goßner/ Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 23c. 165 KG StV 1983, 186; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 26; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 34. 166 OLG Hamm StV 1989, 56; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 26; MK/StPOThomas/Kämpfer, § 140 Rn. 33; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 21.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
ein drohender Bewährungswiderruf in einem anderen Verfahren,168 der Arbeitsplatzverlust für einen Berufskraftfahrer in Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis169 sowie eine Einziehung wertvoller Gegenstände.170 cc) Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage Des Weiteren liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Es reicht aus, dass sich die Sach- oder Rechtslage als schwierig erweist.171 Jedoch kann auch erst eine Kumulation beider Kriterien, die für sich genommen nicht ausreichen würden, einen Fall notwendiger Verteidigung begründen.172 Ob die Sach- oder Rechtslage schwierig ist, ist aus der Sicht des Beschuldigten zu beurteilen.173 Die Schwierigkeit der Sachlage kann sich sowohl aus dem zu erwartenden Umfang als auch der Komplexität der Beweisaufnahme ergeben.174 Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über mehrere Tage erstrecken wird,175 zahlreiche Taten angeklagt sind,176 es sich um ein Verfahren mit mehreren Mitangeklagten handelt177 oder eine Vielzahl an Zeugen zu vernehmen ist.178 Auch der Umfang der Akten ist zu berücksichtigen.179 Da167 BayObLG StV 1993, 180; LG Heilbronn NStZ-RR 2002, 269 (269–270); MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 23c; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 34; 168 OLG Karlsruhe NStZ 1991, 505 (506); OLG Brandenburg NJW 2005, 521; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 37; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 140 Rn. 23c; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 34; a. A. LG Kleve NStZ-RR 2015, 51. 169 LG Mainz NZV 2009, 404 (404–405); Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPOBeulke, § 140 Rn. 37; Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 14; Lehmann, JuS 2004, 492 (493); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 23b; Schneider, Notwendige Verteidigung und Stellung des Pflichtverteidigers im Strafverfahren, S. 20–21; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 32; vgl. hierzu auch BTDrucks. 19/13829, S. 35. 170 KG VRS 95 (1998), 113 (114); Mehle, NJW 2007, 969; MK/StPO-Thomas/ Kämpfer, § 140 Rn. 32; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 35. 171 MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 35. 172 MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 35; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 36. 173 LR-Jahn, § 140 Rn. 82; AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 15; MK/StPOThomas/Kämpfer, § 140 Rn. 35. 174 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 27; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 38. 175 BGHSt 15, 306 (307); LR-Jahn, § 140 Rn. 85. 176 BGHSt 15, 306 (307); LG Frankfurt am Main StV 1983, 69 (69–70); KK/StPOWillnow, § 140 Rn. 22. 177 LG Frankfurt am Main StV 1983, 69 (69–70); LR-Jahn, § 140 Rn. 85; SK/StPOWohlers, § 140 Rn. 38. 178 OLG Stuttgart StV 1987, 8; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 27; LR-Jahn, § 140 Rn. 85. 179 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 27; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 38.
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rüber hinaus ist von einer Schwierigkeit der Sachlage auszugehen, wenn das Verfahren oder die Beweisaufnahme besondere Probleme aufwerfen, etwa weil komplexe Feststellungen zur inneren Tatseite erforderlich sind,180 der Beschuldigte möglicherweise schuldunfähig beziehungsweise vermindert schuldfähig ist181 oder ein Sachverständigengutachten eingeholt werden muss.182 Zudem kann sich ein Fall notwendiger Verteidigung auch daraus ergeben, dass dem unverteidigten Beschuldigten Akteneinsicht aus der in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO normierten Einschränkung versagt wird.183 Die Schwierigkeit der Rechtslage kann sich sowohl aus der Anwendung des materiellen als auch des formellen Rechts ergeben.184 Von einer schwierigen Rechtslage ist auszugehen, wenn sich eine bisher ungeklärte Rechtsfrage stellt185 oder es auf eine noch nicht abschließend geklärte Rechtsfrage ankommt.186 Die Rechtslage ist ferner schwierig, wenn die mit der Sache befassten Strafverfolgungsorgane den Sachverhalt rechtlich unterschiedlich bewerten;187 etwa wenn erst auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft das Hauptverfahren eröffnet wird,188 die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil ein Rechtsmittel einlegt189 oder zwei Gerichtsinstanzen aus Rechtsgründen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.190 Darüber hinaus ist von einer schwierigen Rechtslage auszugehen, wenn ein Beweisverwertungsverbot in Betracht kommt191 oder eine 180 LG Hamburg StV 1985, 453; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 27. 181 KG StV 1990, 298; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 32; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 43. 182 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 40; LR-Jahn, § 140 Rn. 86. 183 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 42; LR-Jahn, § 140 Rn. 88; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 31. 184 LR-Jahn, § 140 Rn. 91; Mehle, NJW 2007, 969 (970). 185 OLG Brandenburg NJW 2009, 1287; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 44; Mehle, NJW 2007, 969 (970). 186 OLG Hamburg StV 2011, 655; KG StV 2016, 478; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 44; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 28; SK/ StPO-Wohlers, § 140 Rn. 42. 187 OLG Celle StV 2019, 175; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 44; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 44. 188 LG Koblenz StV 1990, 489; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 82; Oellerich, StV 1981, 434 (437). 189 OLG Köln StV 2004, 587; OLG Hamm NStZ-RR 2018, 116; Radtke/HohmannReinhart, § 140 Rn. 30; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 33; SK/ StPO-Wohlers, § 140 Rn. 44; a. A. OLG Köln NStZ-RR 2012, 215. 190 OLG Bremen NJW 1957, 151; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2002, 336 (337); Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 82; MK/StPO-Thomas/ Kämpfer, § 140 Rn. 45; a. A. OLG Dresden NStZ-RR 2005, 318 (319); KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 23. 191 OLG Brandenburg NJW 2009, 1287; OLG Bremen NStZ-RR 2009, 353; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 35; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 44.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
Erörterung zum Zweck der Verständigung gemäß § 257c StPO durchgeführt wird.192 Stellen sich Irrtums- oder Rechtfertigungsfragen193 oder ist eine Abgrenzung zwischen vollendeter Tat, Versuch und Rücktritt vorzunehmen,194 kann die Verteidigung ebenfalls nach § 140 Abs. 2 StPO notwendig sein. Ferner können schwierige Abgrenzungsfragen im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches die Anwendbarkeit des § 140 Abs. 2 StPO begründen.195 Im Bereich des Rechtsmittelrechts kann die Anfertigung einer Annahmeberufung196 oder Revisionsbegründung197 die Schwierigkeit der Rechtslage begründen. dd) Die Unfähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen Schließlich liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Es reicht bereits aus, wenn erhebliche Zweifel an der Selbstverteidigungsfähigkeit bestehen.198 Von einer Unfähigkeit des Beschuldigten sich selbst zu verteidigen ist auszugehen, wenn er seine Interessen nicht selbst wahren kann.199 Dies ist anhand der geistigen Fähigkeiten und dem Gesundheitszustand des Beschuldigten sowie der sonstigen Umstände des Falls zu beurteilen.200 Bei Analphabetismus,201 langjähriger
192 OLG Naumburg NStZ 2014, 116 m. abl. Anm. Wenske; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 140 Rn. 28; a. A. OLG Bamberg StV 2015, 539 m. Anm. König/Harrendorf; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 23. 193 KG NJW 2008, 3449; LR-Jahn, § 140 Rn. 95; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 32; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 23; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 43. 194 BayObLG StV 1991, 294; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 140 Rn. 32; KK/StPOWillnow, § 140 Rn. 23; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 43. 195 LR-Jahn, § 140 Rn. 93. 196 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 83. 197 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 45; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 83; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 46; AK/StPO-Stern, § 140 Rn. 48–49; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 45; einschränkend OLG Koblenz StraFo 2007, 117; OLG Braunschweig NStZ-RR 2014, 51 (52); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 29, die davon ausgehen, dass die Beiordnung eines Verteidigers nur dann erforderlich sei, wenn die Revisionsbegründung besondere Schwierigkeiten bereitet. 198 OLG Frankfurt am Main StV 1984, 370; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 34; Lehmann, JuS 2004, 492 (494); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 30a. 199 OLG Hamm StraFo 2000, 32; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 47; HK/StPO-Julius/Schiemann, § 140 Rn. 21; AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 16; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 47. 200 OLG Hamm StraFo 2000, 32; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 47; AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 140 Rn. 16; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 140 Rn. 30. 201 OLG Celle StV 1983, 187; LG Schweinfurt StraFo 2009, 105 (106); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 30a.
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Drogenabhängigkeit,202 hochgradiger Schwangerschaft,203 hohem Alter204 oder wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht,205 ist in der Regel die Unfähigkeit des Beschuldigten sich selbst zu verteidigen zu bejahen. Des Weiteren kann eine Verteidigerbestellung angezeigt sein, wenn der Beschuldigte der deutschen Sprache nicht oder nicht ausreichend mächtig ist;206 die Bestellung eines Dolmetschers reicht nicht aus, um das Verteidigungsdefizit zu kompensieren.207 Ferner wird vertreten, dass der Beschuldigte auch dann unfähig sei sich selbst zu verteidigen, wenn der Privatkläger anwaltlich vertreten ist208 oder einem Mitbeschuldigten ein Verteidiger zur Seite steht und die Möglichkeit gegenseitiger Belastung besteht.209 c) Die sonstigen Fälle notwendiger Verteidigung Neben den in § 140 Abs. 1 und 2 StPO aufgeführten Fällen notwendiger Verteidigung existieren in der Strafprozessordnung weitere Fälle notwendiger Verteidigung, die im jeweiligen Sachzusammenhang geregelt sind. aa) § 138c Abs. 3 S. 4 StPO Einen Fall notwendiger Verteidigung im Rahmen der Ausschließung eines Verteidigers normiert § 138c Abs. 3 S. 4 StPO. Sofern die Voraussetzungen des § 138a StPO oder des § 138b StPO erfüllt sind, ist ein Verteidiger vom Verfahren auszuschließen. Das Gericht bei dem das Verfahren anhängig ist (§ 138c Abs. 3 S. 1 StPO) beziehungsweise vor Erhebung der öffentlichen Klage und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens das Gericht, das über die Ausschließung des Verteidigers zu entscheiden hat (§ 138c Abs. 3 S. 2 StPO), kann anordnen, dass die Rechte des Verteidigers aus § 147 StPO und § 148 StPO, das heißt das Akteneinsichtsrecht und das Recht auf Kommunikation mit dem Beschuldigten, bis zur gerichtlichen Entscheidung über die Ausschließung ruhen. Ergeht eine solche Anordnung, hat das Gericht dem Beschuldigten gemäß § 138c Abs. 3 202 OLG Düsseldorf StV 2002, 236 (237); HK/StPO-Julius/Schiemann, § 140 Rn. 25. 203 OLG Düsseldorf NJW 1964, 877 (878). 204 OLG Hamm NJW 2003, 3286 (3287); LR-Jahn, § 140 Rn. 101. 205 OLG Hamm NJW 2003, 3286 (3287); Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 34. 206 OLG Frankfurt am Main StV 2008, 291 (292); LR-Jahn, § 140 Rn. 106; Lehmann, JuS 2004, 492 (494); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 30b. 207 LR-Jahn, § 140 Rn. 106; AK/StPO-Stern, § 140 Rn. 67; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 51. 208 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 48; SK/StPO-Wohlers, § 140 Rn. 52; a. A. BVerfGE 63, 380 (392–393); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 140 Rn. 32. 209 OLG Köln NStZ-RR 2012, 351; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 140 Rn. 48; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 140 Rn. 48.
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S. 4 StPO einen anderen Verteidiger zu bestellen, damit diese Rechte gewahrt sind. Die Bestellung des Verteidigers gilt bis zur Rechtskraft der Entscheidung über den Ausschluss.210 Die Verteidigerbestellung hat auch dann zu erfolgen, wenn ursprünglich kein Fall notwendiger Verteidigung vorlag211 oder der Beschuldigte noch weitere Verteidiger hat.212 Gemäß § 138c Abs. 3 S. 5 StPO gilt für die Auswahl des Verteidigers § 142 Abs. 5–7 StPO entsprechend. Teilweise wird unter Hinweis auf den Wortlaut des § 138c Abs. 3 S. 4 StPO sowie einen systematischen Vergleich zur Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 8 StPO vertreten, dass sich die Funktion des zu bestellenden Verteidigers auf die Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechtes und das Recht auf Kommunikation mit dem Beschuldigten beschränke.213 Ausgehend vom Gesetzeszweck wird vereinzelt davon ausgegangen, dass der nach § 138c Abs. 3 S. 4 StPO zu bestellende Verteidiger unaufschiebbare Prozesshandlungen, die sich nach Akteneinsicht oder dem Kontakt mit dem Beschuldigten ergeben, selbst vornehmen dürfe.214 Um dem Beschuldigten eine effektive und wirksame Verteidigung zu gewährleisten, erscheint es vorzugswürdig, ihm einen unbeschränkt handlungsfähigen Verteidiger zur Seite zu stellen, denn sowohl der Verteidiger, gegen den das Ausschlussverfahren läuft, als auch dem nach § 138c Abs. 3 S. 4 StPO zu bestellenden Verteidiger stehen wesentliche Verteidigungsrechte nicht zu.215 bb) § 231a Abs. 4 StPO Ein weiterer Fall notwendiger Verteidigung ist in § 231a Abs. 4 StPO normiert. § 230 Abs. 1 StPO stellt den Grundsatz auf, dass eine Hauptverhandlung nur gegen einen anwesenden Beschuldigten stattfindet. Dadurch soll dem Beschuldigten rechtliches Gehör sowie die Möglichkeit einer umfassenden und uneingeschränkten Verteidigung gewährt werden.216 Zudem soll durch die Anwesenheit des Beschuldigten die Wahrheitsfindung gefördert werden, indem dem Tatrichter ein unmittelbarer Eindruck von der Person des Angeklagten sowie von 210 AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 138c Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 138c Rn. 13. 211 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 138c Rn. 20; Lampe, MDR 1975, 529 (530); AK/StPO-Stern, § 138c Rn. 18; BeckOK/StPO-Wessing, § 138c Rn. 9. 212 Lampe, MDR 1975, 529 (530); Radtke/Hohmann-Reinhart, § 138c Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 138c Rn. 13; SK/StPO-Wohlers, § 138c Rn. 22; zweifelnd AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 138c Rn. 7. 213 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 92–93, insb. Fn. 328; Oellerich, StV 1981, 434; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 138c Rn. 13. 214 Radtke/Hohmann-Reinhart, § 138c Rn. 14; KK/StPO-Willnow, § 138c Rn. 18. 215 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 138c Rn. 21; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 138c Rn. 9; AnwK/StPO-Krekeler/Werner, § 138c Rn. 7; LR-Jahn, § 138c Rn. 36; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 138c Rn. 13; SK/StPO-Wohlers, § 138c Rn. 23. 216 BGHSt 3, 187 (190–191); BGHSt 26, 84 (90); BGHSt 55, 87 (89); KK/StPOGmel, § 230 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 230 Rn. 3.
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dessen Auftreten und Erklärungen vermittelt wird.217 Eine Durchbrechung des in § 230 Abs. 1 StPO normierten Grundsatzes stellt die Vorschrift des § 231a StPO dar.218 Versetzt sich der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand und verhindert dadurch wissentlich die ordnungsmäßige Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung in seiner Gegenwart, so wird die Hauptverhandlung, wenn er noch nicht über die Anklage vernommen war, in seiner Abwesenheit durchgeführt oder fortgesetzt, soweit das Gericht seine Anwesenheit nicht für unerlässlich hält (§ 231a Abs. 1 S. 1 StPO). Die Durchführung oder Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten setzt gemäß § 231a Abs. 1 S. 2 StPO allerdings voraus, dass der Angeklagte nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Gelegenheit hatte, sich vor dem Gericht oder einem beauftragten Richter zur Anklage zu äußern. Durch die Regelung des § 231a StPO soll im Interesse einer wirksamen Strafverfolgung und dem Beschleunigungsgebot verhindert werden, dass der Angeklagte die Durchführung der Hauptverhandlung verzögern oder verhindern kann.219 Um zu gewährleisten, dass die Verfahrensrechte des abwesenden Angeklagten gewahrt bleiben, ist ihm – sofern er keinen Verteidiger hat – gemäß § 231a Abs. 4 StPO ein Verteidiger zu bestellen, sobald eine Verhandlung ohne den Angeklagten in Betracht kommt.220 Die Verteidigerbestellung erfolgt für das gesamte Verfahren und gilt auch für den Fall fort, dass der Angeklagte nach Wiederherstellung seiner Verhandlungsfähigkeit wieder an der Verhandlung teilnimmt.221 cc) § 364a StPO Für das Wiederaufnahmeverfahren enthält die Vorschrift des § 364a StPO einen Fall notwendiger Verteidigung. Nach herrschender Meinung beschränkt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift auf Wiederaufnahmen zugunsten des Verurteilten.222 Bei einer Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten kommt 217 BGHSt 3, 187 (190); BGHSt 26, 84 (90); BGH NStZ 2011, 233 (234); Satzger/ Schluckebier/Widmaier/StPO-Grube, § 230 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 230 Rn. 3. 218 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 77; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 93. 219 BT-Drucks. 7/2989, S. 5; MK/StPO-Arnoldi, § 231a Rn. 1; LR-Becker, § 231a Rn. 1. 220 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Grube, § 231a Rn. 1; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 78. 221 LR-Becker, § 231a Rn. 19; BeckOK/StPO-Gorf, § 231a Rn. 11; Meyer-Goßner/ Schmitt-Schmitt, § 231a Rn. 15. 222 MK/StPO-Engländer/Zimmermann, § 364a Rn. 4; LR-Gössel, § 364a Rn. 2; Radtke/Hohmann-Hohmann, § 364a Rn. 1; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 465; KK/StPO-Schmidt, § 364a Rn. 3; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 364a Rn. 1; HK/StPO-Temming, § 364a Rn. 3; a. A. Kleinknecht/Müller/ Reitberger-Eschelbach, § 364a Rn. 32; SK/StPO-Frister, § 364a Rn. 13; Satzger/ Schluckebier/Widmaier/StPO-Kaspar, § 364a Rn. 1.
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aber eine Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO in Betracht.223 Gemäß § 364a StPO ist dem unverteidigten Verurteilten auf Antrag ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint. Bislang ging die herrschende Meinung davon aus, dass eine frühere Bevollmächtigung eines Wahlverteidigers beziehungsweise eine Pflichtverteidigerbestellung bis zur Rechtskraft des Beschlusses zur Anordnung des Verfahrens und Erneuerung der Hauptverhandlung nach § 370 Abs. 2 StPO andauere.224 Dieser Ansicht ist zumindest bezüglich der Pflichtverteidigerbestellung durch den im Zuge der Reform der notwendigen Verteidigung neu eingeführten § 143 Abs. 1 StPO, nach dem die Bestellung des Pflichtverteidigers – außer in den Fällen der § 423 StPO und § 460 StPO – mit der Einstellung oder dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens endet, die Grundlage entzogen.225 Die Mitwirkung eines Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren ist aufgrund der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten, wenn der Verurteilte aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen voraussichtlich besondere Schwierigkeiten hat, sachgemäße Anträge zu stellen, bei der Beweisaufnahme nach § 369 Abs. 1 StPO seine Interessen wahrzunehmen oder die Schlusserklärung nach § 369 Abs. 4 StPO abzugeben.226 Die Bestellung eines Verteidigers nach § 364a StPO erfolgt nur auf Antrag.227 Antragsberechtigt sind der Verurteilte sowie die Staatsanwaltschaft.228 Über den Antrag entscheidet gemäß § 367 Abs. 1 S. 1 StPO in Verbindung mit § 140a GVG das für das Wiederaufnahmeverfahren zuständige Gericht. Ein offensichtlich mutwilliger oder aussichtsloser Antrag ist abzulehnen.229 Die Verteidigerbestellung kann bereits für die Stellung des Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgen.230 Die Verteidigerbestellung endet mit der rechtskräftigen Verwerfung des Wiederauf223 OLG Düsseldorf NJW 1989, 676; MK/StPO-Engländer/Zimmermann, § 364a Rn. 4; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, Rn. 465; Meyer-Goßner/ Schmitt-Schmitt, § 364a Rn. 1. 224 OLG Düsseldorf NStZ 1983, 235; KG NJW 2013, 182 (183); OLG Braunschweig NStZ-RR 2014, 314; HK/StPO-Temming, § 364a Rn. 1; a. A. OLG Oldenburg NStZRR 2009, 208; OLG Jena StV 2015, 16; SK/StPO-Frister, § 364a Rn. 3–5; KK/StPOWillnow, § 141 Rn 10; MK/StPO-Engländer/Zimmermann, § 364a Rn. 14; KK/StPOSchmidt, § 364a Rn. 2. 225 OLG Frankfurt am Main BeckRS 2020, 3895 Rn. 6; BeckOK/StPO-Singelnstein, § 364a Rn. 1. 226 MK/StPO-Engländer/Zimmermann, § 364a Rn. 15; LR-Gössel, § 364a Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 364a Rn. 6; HK/StPO-Temming, § 364a Rn. 5. 227 BeckOK/StPO-Singelnstein, § 364a Rn. 7. 228 LR-Gössel, § 364a Rn. 10; KK/StPO-Schmidt, § 364a Rn. 5; BeckOK/StPO-Singelnstein, § 364a Rn. 7. 229 Kleinknecht/Müller/Reitberger-Eschelbach, § 364a Rn. 62; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Kaspar, § 364a Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 364a Rn. 5. 230 LR-Gössel, § 364a Rn. 4; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Kaspar, § 364a Rn. 2; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 96.
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nahmeantrags gemäß § 368 Abs. 1 StPO oder § 370 Abs. 1 StPO beziehungsweise mit der Anordnung der Wiederaufnahme nach § 370 Abs. 2 StPO.231 Im wiederaufgenommenen Verfahren richtet sich die Notwendigkeit der Verteidigung nach § 140 StPO.232 dd) § 364b StPO Gemäß § 364b Abs. 1 StPO hat das für die Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren zuständige Gericht233 dem unverteidigten Verurteilten auf Antrag234 schon für die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens einen Verteidiger zu bestellen, wenn die in § 364b Abs. 1 S. 1 Nr. 1–3 StPO genannten Voraussetzungen kumulativ235 erfüllt sind. Zunächst müssen gemäß § 364b Abs. 1 Nr. 1 StPO hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bestimmte Nachforschungen zu Tatsachen oder Beweismitteln führen, welche die Zulässigkeit eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens begründen können. Hierfür ist eine nicht nur entfernte Möglichkeit, neue Tatsachen oder Beweismittel ausfindig zu machen, ausreichend.236 Des Weiteren muss die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheinen (§ 364b Abs. 1 Nr. 2 StPO). Entscheidend ist, dass sich die Nachforschungen schwierig gestalten.237 Schließlich muss der Verurteilte gemäß § 364b Abs. 1 Nr. 3 StPO außerstande sein, ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie notwendigen Unterhalts auf eigene Kosten einen Verteidiger zu beauftragen. Der Nachweis hierüber ist nach den zivilprozessualen Vorschriften zur Prozesskostenhilfe (§ 117 Abs. 2–4 ZPO und § 118 Abs. 2 S. 1, 2 und 4 ZPO) zu erbringen, die § 364b Abs. 2 StPO für entsprechend anwendbar erklärt. Bemerkenswert ist, dass § 364b StPO die einzige Vorschrift im Rahmen der notwendigen Verteidigung ist, die die Bestellung eines Verteidigers für den Beschuldigten an dessen Mittellosigkeit knüpft. Hintergrund ist, dass für den rechtskräftig Verurteilten, anders als für den Beschuldigten im Erkenntnisverfahren, nicht die Unschuldsvermutung gilt und ihm deshalb zugemutet werden kann, sich auf eigene Kosten
231 MK/StPO-Engländer/Zimmermann, § 364a Rn. 29; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 364a Rn. 3. 232 MK/StPO-Engländer/Zimmermann, § 364a Rn. 29; HK/StPO-Temming, § 364a Rn. 4. 233 Die Zuständigkeit ergibt sich aus § 367 Abs. 1 S. 1 StPO in Verbindung mit § 140a GVG. 234 Antragsberechtigt sind wie bei § 364a StPO der Verurteilte und die Staatsanwaltschaft, LR-Gössel, § 364b Rn. 13; BeckOK/StPO-Singelnstein, § 364b Rn. 10. 235 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 97; KK/StPOSchmidt, § 364b Rn. 3. 236 Radtke/Hohmann-Hohmann, § 364b Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 364b Rn. 5. 237 LG Köln MDR 1991, 666; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 364b Rn. 6; HK/ StPO-Temming, § 364b Rn. 5.
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des Beistands eines Verteidigers zu bedienen, sofern er über die dazu erforderlichen Mittel verfügt.238 Dem mittellosen Verurteilten in einer solchen Situation Verteidigerbeistand nicht zu ermöglichen, wäre dagegen mit sozialstaatlichen Grundsätzen unvereinbar.239 Die Verteidigerbestellung gilt für das gesamte Wiederaufnahmeverfahren.240 ee) § 408b StPO Im Strafbefehlsverfahren ist ebenfalls ein Fall notwendiger Verteidigung normiert. Erwägt der Richter, dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Strafbefehls mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird, zu entsprechen, ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, gemäß § 408b StPO ein Verteidiger zu bestellen. Durch die Mitwirkung eines Verteidigers soll verhindert werden, dass der Beschuldigte eine im schriftlichen Verfahren verhängte Freiheitsstrafe allein deshalb akzeptiert, weil diese zur Bewährung ausgesetzt ist, ohne sich möglicher belastender Folgen241 bewusst zu sein.242 Beabsichtigt der Richter dagegen den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls abzulehnen (§ 408 Abs. 2 S. 1 StPO) oder eine Hauptverhandlung anzuberaumen (§ 408 Abs. 3 S. 2 StPO), ist kein Verteidiger gemäß § 408b StPO zu bestellen.243 Durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung wurde § 408b S. 2 StPO a. F., der § 141 Abs. 3 StPO a. F. für entsprechend anwendbar erklärte, gestrichen, sodass nun §§ 141–144 StPO Anwendung finden.244 Damit hat der Gesetzgeber die in Literatur und Rechtsprechung umstrittene Rechtsfrage, ob die Verteidigerbestellung im Rahmen des § 408b StPO ohne vorherige Befragung des Beschuldigten nach § 142 Abs. 1 StPO a. F. erfolgen könne245 oder nicht,246 zugunsten letzterer Ansicht ent-
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BT-Drucks. 6/3478, S. 91; KK/StPO-Schmidt, § 364b Rn. 6. BT-Drucks. 6/3478, S. 91. 240 MK/StPO-Engländer/Zimmermann, § 364b Rn. 26; LR-Gössel, § 364b Rn. 5; a. A. HK/StPO-Temming, § 364b Rn. 8. 241 Als belastende Folge kommt insbesondere der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56f StGB in Betracht. Auch über einen möglichen Verlust des Beamtenstatus aufgrund einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr hat der Verteidiger den Beschuldigten zu informieren; vgl. MK/StPO-Eckstein, § 408b Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 408b Rn. 1. 242 Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 20; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 79; KK/StPO-Maur, § 408b Rn. 1. 243 KK/StPO-Maur, § 408b Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 408b Rn. 4. 244 BT-Drucks. 19/13829, S. 52. 245 Meyer-Goßner/Schmitt62-Schmitt, § 408b Rn. 4. 246 Böttcher/Mayer, NStZ 1993, 153 (156); Hohendorf, MDR 1993, 597; HK/StPOBrauer, § 408b Rn. 5; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Metzger, § 408b Rn. 7; Satzger/ Schluckebier/Widmaier/StPO-Momsen, § 408b Rn. 6; Schellenberg, NStZ 1994, 570; Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81 (91); SK/StPO4-Weßlau, § 408b Rn. 8. 239
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schieden.247 Ferner ist durch die Anwendbarkeit der §§ 141–144 StPO die Streitfrage, ob die Verteidigerbestellung nur für das Strafbefehlsverfahren und eine etwaige Einlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl gilt248 oder sich im Falle des Einspruchs auch auf die anschließende Hauptverhandlung erstreckt,249 obsolet geworden. Die Dauer der Verteidigerbestellung richtet sich nunmehr nach § 143 Abs. 1 und 2 StPO.250 Mithin endet die Bestellung, wenn ein Strafbefehl erlassen wird und dieser in Rechtskraft erwächst.251 Legt der Beschuldigte jedoch Einspruch gegen den Strafbefehl ein und folgt daraufhin eine Hauptverhandlung gemäß § 411 Abs. 2 StPO, ist bezüglich der Fortdauer der Pflichtverteidigerbestellung zu differenzieren:252 Ist zu erwarten, dass eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verhängt wird, liegt nach § 140 Abs. 2 StPO ein Fall notwendiger Verteidigung vor und die Bestellung dauert fort.253 Ist dagegen eine Freiheitsstrafe von unter einem Jahr zu erwarten, kann das Gericht die Bestellung nach pflichtgemäßem Ermessen aufheben, sofern im Einzelfall kein Fall des § 140 StPO vorliegt.254 Bei dieser Ermessensentscheidung ist der Aspekt des Vertrauensschutzes ausreichend zu berücksichtigen.255 Darüber hinaus sollten die Besonderheiten der Hauptverhandlung nach Einspruch gegen den Strafbefehl, insbesondere die Anwendbarkeit des § 420 Abs. 4 StPO,256 der es ermöglicht Beweisanträge über die Regelung des § 244 Abs. 3 StPO hinaus abzulehnen, bei der Entscheidung über die Fortgeltung der Verteidigerbestellung beachtet werden, zumal auch das Regulativ des § 418 Abs. 4 StPO im Strafbefehlsverfahren nicht anwendbar ist.257 247 BT-Drucks. 19/13829, S. 52; BeckOK/StPO-Temming, § 408b Rn. 4; SK/StPODegener, § 408b Rn. 4; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 118. 248 OLG Düsseldorf NStZ 2002, 390; OLG Saarbrücken BeckRS 2014, 18593 Rn. 10; AG Tostedt NStZ 2018, 680; Hohendorf, MDR 1993, 597 (598); Lutz, NStZ 1998, 395 (396); Kleinknecht/Müller/Reitberger-Metzger, § 408b Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt62-Schmitt, § 408b Rn. 6. 249 OLG Köln StV 2010, 68; OLG Celle StV 2011, 661 (662); OLG Oldenburg StV 2018, 152; Böttcher/Mayer, NStZ 1993, 153 (156); HK/StPO-Brauer, § 408b Rn. 6; AK/StPO-Loos, § 408b Rn. 4; KK/StPO-Maur, § 408b Rn. 8; Schellenberg, NStZ 1994, 570; Tiemer, Die Verteidigerbestellung im Strafbefehls- und im beschleunigten Verfahren gemäß §§ 408 b, 418 Abs. 4 StPO, S. 113–114; SK/StPO4-Weßlau, § 408b Rn. 10. 250 BT-Drucks. 19/13829, S. 52; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 140 Rn. 25a. 251 BT-Drucks. 19/13829, S. 52; BeckOK/StPO-Temming, § 408b Rn. 5. 252 BT-Drucks. 19/13829, S. 52. 253 BT-Drucks. 19/13829, S. 52. 254 BT-Drucks. 19/13829, S. 52; BeckOK/StPO-Temming, § 408b Rn. 5. 255 BT-Drucks. 19/13829, S. 52. 256 § 411 Abs. 2 S. 2 StPO erklärt die Vorschrift des § 420 StPO für anwendbar. 257 OLG Celle StV 2011, 661 (662–663); SK/StPO-Degener, § 408b Rn. 11; MK/ StPO-Eckstein, § 408b Rn. 17.
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ff) § 418 Abs. 4 StPO Schließlich normiert § 418 Abs. 4 StPO für das beschleunigte Verfahren (§§ 417–420 StPO) einen Fall notwendiger Verteidigung. Nach § 418 Abs. 4 StPO ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, für das beschleunigte Verfahren vor dem Amtsgericht ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine Freiheitsstrafe – unabhängig davon ob es sich um eine Einzel- oder eine Gesamtfreiheitsstrafe handelt258 – von mindestens sechs Monaten zu erwarten ist. Ob die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, ist ebenfalls unerheblich.259 Bei einer entsprechenden Straferwartung beantragt die Staatsanwaltschaft zusammen mit dem Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren (§ 417 StPO) die Bestellung eines Verteidigers.260 Stellt sich erst im Laufe des Verfahrens heraus, dass eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten in Betracht kommt, muss der Richter die Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß § 419 Abs. 2 S. 1 StPO ablehnen oder nachträglich einen Verteidiger bestellen und in dessen Beisein die wesentlichen Teile der Hauptverhandlung wiederholen.261 Für die Auswahl des Verteidigers gilt § 142 StPO entsprechend.262 Die Verteidigerbestellung erfolgt nur für das beschleunigte Verfahren vor dem Amtsgericht und gilt damit weder für ein sich anschließendes Berufungsverfahren263 noch im Normalverfahren, wenn in diesem weiterverhandelt wird, nachdem das Gericht die Entscheidung im beschleunigten Verfahren gemäß § 419 Abs. 2 S. 1 StPO abgelehnt hat.264 In diesen Fällen kommt allerdings eine Verteidigerbestellung gemäß § 140 Abs. 2 StPO in Betracht.265 Da die Bestellung eines Verteidigers die angestrebte Beschleunigungswirkung häufig konterkariert, wird in der Praxis eine Freiheitsstrafe ab sechs Monaten nur verhängt, wenn der Beschuldigte bereits einen Wahlverteidiger hat.266 Dies und der Umstand, dass 258 OLG Bremen StraFo 1998, 124; KK/StPO-Graf, § 418 Rn. 11; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Rosenau, § 418 Rn. 12. 259 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Rosenau, § 418 Rn. 12; MK/StPO-Putzke/ Scheinfeld, § 418 Rn. 25. 260 KK/StPO-Graf, § 418 Rn. 11; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Rosenau, § 418 Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 418 Rn. 11. 261 OLG Braunschweig StV 2005, 493 (493–494); Satzger/Schluckebier/Widmaier/ StPO-Rosenau, § 418 Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 418 Rn. 12; a. A. BeckOK/StPO-Temming, § 418 Rn. 3. 262 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 418 Rn. 14. 263 LR-Gaede § 418 Rn. 53; KK/StPO-Graf, § 418 Rn. 15; König/Seitz, NStZ 1995, 1 (4); Loos/Radtke, NStZ 1996, 7 (11); HK/StPO-Zöller, § 418 Rn. 12; a. A. MeyerGoßner, in: GS-Meurer, S. 421 (431–432); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 418 Rn. 15. 264 Kleinknecht/Müller/Reitberger-Metzger, § 418 Rn. 36; BeckOK/StPO-Temming, § 418 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 418 Rn. 15; HK/StPO-Zöller, § 418 Rn. 12. 265 SK/StPO-Paeffgen, § 418 Rn. 32; MK/StPO-Putzke/Scheinfeld, § 418 Rn. 29; HK/StPO-Zöller, § 418 Rn. 12. 266 Kleinknecht/Müller/Reitberger-Metzger, § 418 Rn. 30.
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eine Verteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO einer solchen nach § 418 Abs. 4 StPO vorgeht,267 führen dazu, dass der Vorschrift keine große Bedeutung zukommt. Geht man davon aus, dass die Mitwirkung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO bereits dann notwendig ist, wenn dem Beschuldigten eine Haftstrafe droht, verbleibt für § 418 Abs. 4 StPO überhaupt kein Anwendungsbereich.268 d) Zwischenergebnis Die Fälle notwendiger Verteidigung decken sämtliche Fallgestaltungen ab, in denen nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie unentgeltlicher Verteidigerbeistand zu gewähren ist. Die Kriterien der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO entsprechen inhaltlich den Vorgaben, anhand derer der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ermittelt, ob die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Allerdings wird in der Praxis das Tatbestandsmerkmal „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ im Widerspruch zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu eng ausgelegt. Danach ist Verteidigerbeistand nicht erst ab einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von einem Jahr erforderlich, sondern stets, wenn abstrakt eine Haftstrafe droht. § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO stellen in Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 4 lit. a und b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie sicher, dass der Beschuldigte stets Verteidigerbeistand erhält, wenn er einem Gericht oder Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird, beziehungsweise wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet. 3. Der Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor und hat der Beschuldigte keinen Wahlverteidiger mit seiner Verteidigung beauftragt, regelt § 141 StPO den Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers. Der Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung wurde durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung neu geregelt. Dieser ist nun nicht mehr primär an der Hauptverhandlung ausgerichtet, sondern wurde in das Ermittlungsverfahren vorverlagert.269 Die Vorschrift differenziert dabei zwischen einer Pflichtverteidigerbestellung auf Antrag des Beschuldigten (§ 141 Abs. 1 StPO) und einer solchen von Amts wegen (§ 141 Abs. 2 StPO).270 267 OLG Brandenburg NJW 2005, 521; MK/StPO-Putzke/Scheinfeld, § 418 Rn. 24; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Rosenau, § 418 Rn. 13; HK/StPO-Zöller, § 418 Rn. 9. 268 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 100–101. 269 LR-Jahn, § 141 Vor Rn. 1; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Vor Rn. 1. 270 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141 Rn. 1.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
a) § 141 Abs. 1 StPO In den Fällen der notwendigen Verteidigung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Grundvoraussetzung für die Pflichtverteidigerbestellung ist zunächst, dass notwendig ist. Aufgrund der prospektiven Betrachtung in § 140 StPO kann dies vielfach schon im Ermittlungsverfahren der Fall sein,271 beispielsweise wenn der der Beschuldigte im Verdacht steht ein Verbrechen begangen zu haben oder zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung mindestens vor dem Schöffengericht stattfinden wird.272 Des Weiteren muss der Beschuldigte unverteidigt sein. Dem steht der Fall gleich, dass der Wahlverteidiger ankündigt sein Wahlverteidigermandat niederzulegen, wenn er – wie beantragt – zum Pflichtverteidiger bestellt wird.273 Darüber hinaus muss dem Beschuldigten bereits der Tatvorwurf eröffnet worden sein. Nach der Gesetzesbegründung, die auf Art. 2 Abs. 1 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der Rechtsbeistand-Richtlinie Bezug nimmt, liegt einer Eröffnung des Tatvorwurfs vor, wenn der Beschuldigte von den zuständigen Behörden durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise von dem gegen ihn bestehenden Tatverdacht in Kenntnis gesetzt wird.274 Ein vor der amtlichen Eröffnung des Tatvorwurfs vom Beschuldigten gestellter Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers – etwa weil er vermutet, dass gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet wurde – ist unzulässig.275 Die Strafverfolgungsbehörden sind daher nicht verpflichtet– selbst wenn die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorliegen – preiszugeben, dass sie gegen den Beschuldigten ermitteln.276 Ferner hängt die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 141 Abs. 1 StPO von einem Antrag des Beschuldigten ab. Über sein Antragsrecht ist der Beschuldigte zu belehren.277 Ein vom Beschuldigten mündlich gestellter Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers reicht aus.278 Es genügt, wenn sich aus der Wortwahl oder dem Verhalten des Beschuldigten ergibt, dass er rechtlichen Beistand wünscht.279 Liegen die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO vor, ist dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen. Es besteht weder ein Ermessen noch ist Raum 271
BT-Drucks. 19/13829, S. 36; Böß, NStZ 2020, 185 (189). BT-Drucks. 19/13829, S. 36; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 3. 273 BT-Drucks. 19/13829, S. 36; LG Magdeburg StraFo 2020, 371 (372); BeckOK/ StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141 Rn. 4. 274 BT-Drucks. 19/13829, S. 36; LG Magdeburg StraFo 2020, 415; BeckOK/StPOKrawczyk, § 141 Rn. 4. 275 BT-Drucks. 19/13829, S. 36; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (456). 276 Böß, NStZ 2020, 185 (189). 277 Ausführlich hierzu Drittes Kapitel, B. I. 8. 278 BT-Drucks. 19/13829, S. 41; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (456); Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (577); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141 Rn. 5. 279 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141 Rn. 5. 272
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für eine Prüfung des Rechtspflegeinteresses.280 Die Bestellung hat unverzüglich zu erfolgen; dies meint nicht sofort, jedoch so rechtzeitig, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden.281 Gemäß § 141 Abs. 1 S. 2 StPO muss über den Antrag des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers spätestens vor einer Vernehmung des Beschuldigten oder einer Gegenüberstellung mit ihm entschieden werden. Der Umstand, dass § 141 Abs. 1 S. 1 StPO dem Beschuldigten ein eigenes Antragsrecht gewährt, stellt einen wesentlichen Unterschied zur früheren Rechtslage dar. Zwar bejahte eine im Vordringen befindliche Auffassung bereits nach alter Rechtslage ein eigenes Antragsrecht des Beschuldigten auf Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren,282 die herrschende Meinung ging jedoch von einem Antragsmonopol der Staatsanwaltschaft aus und verstand einen Antrag des Beschuldigten lediglich als Anregung an die Staatsanwaltschaft, ihrerseits einen solchen Antrag zu stellen.283 Das Antragsrecht des Beschuldigten ist in Wirklichkeit aber ein Antragserfordernis, weil eine Pflichtverteidigerbestellung von Amts wegen nur in den Fällen des § 141 Abs. 2 StPO erfolgt.284 Stellt der Beschuldigte keinen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers, soll dies nach Ansicht des Gesetzgebers einen temporären Verzicht auf Beistand eines Pflichtverteidigers darstellen.285 Die Notwendigkeit der Antragstellung und die damit einhergehende Möglichkeit, auf eine Antragstellung zu verzichten widerspricht dem Grundgedanken der notwendigen Verteidigung, nach dem die Mitwirkung eines Verteidigers in den Fällen notwendiger Verteidigung gerade unabhängig vom Willen des Beschuldigten erforderlich ist.286 Im Zuge des Gesetzes zur Stärkung des Rechts 280 BT-Drucks. 19/13829, S. 37; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 56; Böß, NStZ 2020, 185 (188); LR-Jahn, § 141 Rn. 11; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 11. 281 BT-Drucks. 19/13829, S. 37; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141 Rn. 7. 282 LG Heilbronn Die Justiz 1979, 444; LG Bremen StV 1999, 532; Beckemper, NStZ 1999, 221 (226); Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 93; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 124; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 131–132; Meier, GA 2004, 441 (454); Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 297; Neuhaus, JuS 2002, 18 (20); Rohne, Notwendige Verteidigung und Verteidigerbeiordnung im Ermittlungsverfahren, S. 178; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 141 Rn. 21; AK/StPO-Stern, § 141 Rn. 7–11; Wohlers, in: FS-Rudolphi, S. 713 (731); Zöller, in: FG-Feigen, S. 399 (413–414). 283 BGH NJW 2015, 3383 m. abl. Anm. Müller-Jacobsen; ebenfalls m. abl. Anm. Neuhaus, StV 2016, 136–139; OLG Karlsruhe NStZ 1998, 315 (316); Radtke/ Hohmann-Reinhart, § 141 Rn. 10; Oellerich, StV 1981, 434 (441); Meyer-Goßner/ Schmitt62-Schmitt, § 141 Rn. 5; KK/StPO-Willnow, § 141 Rn. 6. 284 LR-Jahn, § 141 Rn. 4; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 5; Wolf, StraFo 2022, 185 (186). 285 BT-Drucks. 19/15151, S. 6. 286 LR-Jahn, § 141 Rn. 5; Jahn/Zink, StraFo 2019, 318 (325); Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575; Spitzer, StV 2020, 418 (421).
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung hat der Gesetzgeber noch das in § 350 Abs. 3 StPO a. F. enthaltene Antragsrecht des inhaftierten Angeklagten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers für die Revisionshauptverhandlung abgeschafft und dies damit begründet, dass das Antragsrecht einen Fremdkörper innerhalb des Rechts der notwendigen Verteidigung darstelle.287 Das Antragsrecht des Beschuldigten nun im Rahmen des § 141 Abs. 1 StPO zum Prinzip zu erheben, ist widersprüchlich.288 Abgesehen davon, dass das Antragsmodell zu Friktionen im Modell der notwendigen Verteidigung führt, steht es auch nicht im Einklang mit den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. 289 Diese knüpft die Gewährung von Prozesskostenhilfe nicht an einen Antrag des Beschuldigten.290 Vielmehr nimmt Erwägungsgrund 19 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie lediglich die Mitgliedstaaten in die Pflicht und Erwägungsgrund 18 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie sieht ausdrücklich vor, dass ein Antrag gerade keine Voraussetzung für eine Verteidigerbestellung ist.291 Darüber hinaus stellt auch die bloße Nichtbeantragung einer Pflichtverteidigerbestellung keinen Verzicht auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand dar. So genügt die bloße Nichtbeantragung einer Pflichtverteidigerbestellung schon nicht den Voraussetzungen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an einen wirksamen Verzicht stellt.292 Des Weiteren ist nach Erwägungsgrund 9 der ProzesskostenhilfeRichtlinie ein Verzicht auf das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nur zulässig, wenn ein Verzicht auf das Recht auf Verteidigerbeistand im Sinne des Art. 9 der Rechtsbeistand-Richtlinie möglich ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung zum Zweiten Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts kennt das deutsche Recht eine solche Verzichtmöglichkeit jedoch nicht.293 b) § 141 Abs. 2 StPO Von Amts wegen – und damit unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten – wird dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der
287 BT-Drucks. 19/4467, S. 24; LR-Jahn, § 141 Rn. 5; Jahn/Zink, StraFo 2019, 318 (325); Zink, Autonomie und Strafverteidigung zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, S. 196–197. 288 Jahn/Zink, StraFo 2019, 318 (325). 289 A. A. BGH NJW 2022, 2126 (2127) m. abl. Anm. Schork. 290 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 253; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 5; Wolf, StraFo 2022, 185 (186). 291 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 21 September 2019, S. 8; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 5; Wolf, StraFo 2022, 185 (186); a. A. BGH NJW 2022, 2126 (2127). 292 Vgl. hierzu Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 21 September 2019, S. 9; Jahn/Zink, StraFo 2019, 318 (327). 293 BT-Drucks. 18/9534, S. 18.
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notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn eine der in § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–4 StPO aufgeführten Verfahrenssituationen vorliegt. aa) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO Gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist von Amts wegen ein Pflichtverteidiger zu bestellen, sobald der Beschuldigte einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorgeführt werden soll. Die Vorschrift setzt die Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie um, der die Gewährleistung von Verteidigerbeistand stets verlangt, wenn ein Verdächtiger einem Gericht zur Entscheidung über Haft vorgeführt wird.294 Zeitlich knüpft § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO unmittelbar an § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO an.295 Der Zeitpunkt, ab dem gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, ist zugleich der Zeitpunkt, ab dem von Amts wegen ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.296 Geht es um die Invollzugsetzung eines bereits erlassenen Haftbefehls, ist der maßgebliche Zeitpunkt für die Pflichtverteidigerbestellung die Ergreifung des Beschuldigten, weil dann die Vorführung nach dem Gesetz zwingend ist.297 Im Fall der vorläufigen Festnahme soll nach der Gesetzesbegründung hingegen solange mit der Bestellung zugewartet werden können, bis entschieden wurde, ob der Beschuldigte wieder freigelassen oder vorgeführt und ein Haftbefehl beantragt wird, denn nur bei Entschließung zur Vorführung liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor.298 In dem Zeitraum zwischen der vorläufigen Festnahme des Beschuldigten und der Entscheidung zur Vorführung und Beantragung eines Haftbefehls soll die Möglichkeit für eine Vernehmung des Beschuldigten ohne vorherige Bestellung eines Verteidigers bestehen.299 Dies ist kritisch zu sehen. Der Gesetzgeber vermengt hier die Frage nach dem Vorliegen notwendiger Verteidigung mit der nach dem Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung.300 Ferner hat der Beschuldigte gemäß Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bereits vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde oder vor der Durchführung einer Identifizierungs- oder Vernehmungsgegenüberstellung oder einer Tatortrekons-
294
BT-Drucks. 19/13829, S. 37. Böß, NStZ 2020, 185 (189). 296 Böß, NStZ 2020, 185 (189); LR-Jahn, § 141 Rn. 20. 297 BT-Drucks. 19/13829, S. 37; Böß, NStZ 2020, 185 (189); LR-Jahn, § 141 Rn. 21. 298 BT-Drucks. 19/13829, S. 37; so auch Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (461), die sogar davon ausgehen, dass eine bereits begonnene Vernehmung, wenn sich der Beschuldigte in dieser belastet, nicht abgebrochen werden muss, um einen Verteidiger beizuordnen. 299 Böß, NStZ 2020, 185 (189). 300 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 15; Galneder/Ruppert, StV 2021, 202 (205); LR-Jahn, § 141 Rn. 21. 295
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truktion ein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand.301 Die Regelung widerspricht damit den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. 302 Um einen der Prozesskostenhilfe-Richtlinie entsprechende Rechtslage herzustellen, dürfen in dem Zeitfenster zwischen der vorläufigen Festnahme des Beschuldigten und der Entscheidung zur Vorführung und Beantragung eines Haftbefehls keine Vernehmungen, Identifizierungs- oder Vernehmungsgegenüberstellungen sowie Tatortrekonstruktionen durchgeführt werden, bis über die Bestellung des Pflichtverteidigers entschieden wurde. Eine Ausnahme von der zwingenden Bestellung eines Pflichtverteidigers im Fall der Vorführung des Beschuldigten normiert § 141 Abs. 2 S. 2 StPO.303 Erfolgt die Vorführung zur Entscheidung über den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 127b Abs. 2 StPO oder über die Vollstreckung eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO oder § 329 Abs. 3 StPO, so wird ein Pflichtverteidiger nur bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Die Vorschrift wurde durch den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Bundestages eingefügt.304 Die Ausnahmeregelung wurde damit gerechtfertigt, dass die Prozesskostenhilfe-Richtlinie zwar in allen Fällen der Haft den Zugang des Beschuldigten zu einem staatlich finanzierten Verteidiger vorschreibe, jedoch nicht die amtswegige Bestellung eines Pflichtverteidigers verlange.305 In den Fällen der Haft im beschleunigten Verfahren und der Hauptverhandlungshaft sei es daher ausreichend, wenn der Beschuldigte selbst die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragen könne.306 Die Ausnahme ist unionsrechtswidrig, da Art. 4 Abs. 4 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht nach dem Grund der Vorführung differenziert und keine Ausnahmen der Verteidigerbestellung für bestimmte Haftsituationen zulässt.307 Sie ist daher nicht anwendbar, sodass auch in den Fällen der § 127b Abs. 2 StPO, § 230 Abs. 2 StPO und § 329 Abs. 3 StPO ein Pflichtverteidiger stets von Amts wegen zu bestellen ist.308 bb) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO Des Weiteren ist gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO ein Pflichtverteidiger von Amts wegen zu bestellen, sobald den Strafverfolgungsbehörden bekannt 301 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 15; Galneder/Ruppert, StV 2021, 202 (205); LR-Jahn, § 141 Rn. 21. 302 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 259; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 15; Wolf, StraFo 2022, 185 (187). 303 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 16. 304 BT-Drucks. 19/15151, S. 6. 305 BT-Drucks. 19/15151, S. 6. 306 BT-Drucks. 19/15151, S. 6. 307 LR-Jahn, § 141 Rn. 23. 308 LR-Jahn, § 141 Rn. 23.
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wird, dass der Beschuldigte, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist, sich aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Die Vorschrift erfasst Fälle, in denen sich der Beschuldigte in anderer Sache in Haft befindet.309 Sie setzt Art. 4 Abs. 4 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie um, der die Gewährleistung von Verteidigerbeistand stets verlangt, wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet, unabhängig davon, ob ein Zusammenhang mit der zur Aburteilung anstehenden Tat besteht.310 Die Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO setzt – wie auch § 141 Abs. 1 S. 1 StPO – voraus, dass dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet wurde. Solange dies nicht geschehen ist, das Ermittlungsverfahren also nicht offen geführt wird, ist keine Verteidigerbestellung vorzunehmen.311 Nach der Ermessensvorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO kann die Pflichtverteidigerbestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Beide Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.312 Entfällt die Absicht zur Verfahrenseinstellung nach der Einholung von Registerauskünften oder der Beiziehung von Urteilen oder Akten, lebt die Pflicht zur Beiordnung eines Verteidigers wieder auf.313 Ausweislich der Gesetzesbegründung geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Ausnahmeregelung mit den Richtlinienvorgaben vereinbar sei.314 Auch wenn es mangels drohender Konsequenzen einleuchtet, dass eine amtswegige Pflichtverteidigerbestellung – der Beschuldigte kann jederzeit einen Antrag nach § 141 Abs. 1 StPO stellen315 – unterbleibt, wenn beabsichtigt ist das Verfahren einzustellen und tiefgreifende Ermittlungsmaßnahmen nicht mehr zu befürchten sind,316 ist die Regelung dennoch richtlinienwidrig, weil die Prozesskostenhilfe-Richtlinie eine solche Einschränkung nicht vorsieht. cc) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO Ferner ist gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen erforderlich, sobald im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann; dies gilt insbesondere 309
BT-Drucks. 19/13829, S. 37; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 17. BT-Drucks. 19/13829, S. 37; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 60; LR-Jahn, § 141 Rn. 25. 311 BT-Drucks. 19/13829, S. 37; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (457). 312 BT-Drucks. 19/13829, S. 38; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 66; Böß, NStZ 2020, 185 (190). 313 Böß, NStZ 2020, 185 (190); LR-Jahn, § 141 Rn. 26. 314 BT-Drucks. 19/13829, S. 38. 315 Böß, NStZ 2020, 185 (190). 316 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 66. 310
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für Gegenüberstellungen mit dem Beschuldigten oder für Vernehmungen von ihm. Die Vorschrift hat erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahren den jetzigen Wortlaut erhalten.317 Während der Gesetzesentwurf die Bestellung von Amts wegen noch an die Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten knüpfte,318 wird nun unter Bezugnahme auf den Wortlaut des § 140 Abs. 2 Var. 4 StPO auf die fehlende Fähigkeit des Beschuldigten zur Selbstverteidigung abgestellt.319 Indem die Bestellung des Pflichtverteidigers neben dem Vorliegen eines Falls notwendiger Verteidigung von einem weiteren materiellen Kriterium – der fehlenden Fähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen – abhängig gemacht wird, widerspricht § 141 Abs. 2 Nr. 3 StPO den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie.320 Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie normiert nämlich, dass der Beschuldigte Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde oder vor der Durchführung einer Identifizierungsgegenüberstellung, Vernehmungsgegenüberstellung oder Tatortrekonstruktion bewilligt wird. Die Prozesskostenhilfe-Richtlinie macht den Zeitpunkt der Verteidigerbestellung also gerade nicht von dem weiteren materiellen Kriterium der Fähigkeit des Beschuldigten zur Selbstverteidigung abhängig.321 Abgesehen davon ist problematisch, dass dem Begriff der Vernehmung nach der Gesetzesbegründung nicht die Gewährung der Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung gemäß § 163a Abs. 1 S. 2 StPO unterfallen soll.322 Denn die Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung ersetzt eine Vernehmung und ist damit als äquivalent anzusehen. Die Pflicht zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers entsteht – auch wenn im Vergleich zu § 141 Abs. 1 S. 1 StPO und § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO eine entsprechende Klarstellung fehlt – erst mit Eröffnung des Tatvorwurfs.323 Dies folgt zum einen aus einem systematischen Vergleich mit § 141 Abs. 1 S. 1 StPO und § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO und zum anderen lässt die Gesetzesbegründung erkennen, dass der Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinienvorgaben nicht über diese hinausgehen wollte.324
317
BT-Drucks. 19/15151, S. 4; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 18. BT-Drucks. 19/13829, S. 10; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 18. 319 BT-Drucks. 19/15151, S. 6; LR-Jahn, § 141 Rn. 30; vgl. hierzu auch BGH NJW 2022, 2126 (2127). 320 LR-Jahn, § 141 Rn. 30–35; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 18; ebenfalls kritisch Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, Rn. 260. 321 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141 Rn. 18. 322 BT-Drucks. 19/13829, S. 38; kritisch LR-Jahn, § 141 Rn. 29; ebenfalls kritisch Spitzer, StV 2020, 418 (422). 323 Böß, NStZ 2020, 185 (190). 324 Böß, NStZ 2020, 185 (190). 318
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Die Pflichtverteidigerbestellung kann – wie auch im Fall des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO – gemäß § 141 Abs. 2 S. 3 StPO allerdings unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Der praktische Anwendungsbereich der Vorschrift ist auf Situationen begrenzt, bei denen die fehlende Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten erst nach Eröffnung des Tatvorwurfs zutage tritt und eine Einstellung des Verfahrens beabsichtigt ist.325 Da die in § 141 Abs. 2 S. 3 StPO normierte Ausnahme in der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht vorgesehen ist, ist § 141 Abs. 2 S. 3 StPO als richtlinienwidrig anzusehen. dd) § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO Schließlich ist gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Hs. 1 StPO dem noch unverteidigten Beschuldigten in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger von Amts wegen zu bestellen, sobald er gemäß § 201 StPO zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist. Dies entspricht der früheren Regelung in § 141 Abs. 1 StPO a. F.326 War die Aufforderung zur Erklärung über die Anklageschrift bislang der Normalfall für die Bestellung eines Verteidigers, entspricht dieser Zeitpunkt nun nicht mehr dem Regelfall, sondern stellt lediglich den Moment dar, an dem jedenfalls eine Pflichtverteidigerbestellung zu erfolgen hat.327 Die Vorschrift findet insbesondere Anwendung, wenn sich erst gegen Ende oder sogar erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens herausstellt, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt.328 In der Gesetzesbegründung wird als Beispiel angeführt, dass der Strafrichter eine Vorlage gemäß § 209 Abs. 2 StPO an das Schöffengericht beabsichtigt und erst dadurch die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO erfüllt wären.329 Die Bestellung des Pflichtverteidigers hat zeitgleich mit der Aufforderung gemäß § 201 StPO zu erfolgen.330 Ergibt sich erst zu einem späteren Zeitpunkt, das heißt nachdem der Beschuldigte gemäß § 201 StPO zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist, dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist, so wird dieser gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Hs. 2 StPO sofort bestellt. Inhaltlich entspricht diese 325
Böß, NStZ 2020, 185 (191); LR-Jahn, § 141 Rn. 36. BT-Drucks. 19/13829, S. 38; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (458). 327 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 64. 328 BT-Drucks. 19/13829, S. 38; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (458). 329 BT-Drucks. 19/13829, S. 38. 330 LR-Jahn, § 141 Rn. 38; a. A. Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141 Rn. 21, der sich dafür ausspricht, zunächst nur die Anklageschrift mit der Aufforderung nach § 142 Abs. 5 S. 1 StPO zur Bezeichnung eines Verteidigers zuzustellen und den Pflichtverteidiger erst unmittelbar nach Ablauf der Bezeichnungsfrist, aber noch innerhalb der Erklärungsfrist nach § 201 Abs. 1 StPO, zu bestellen. 326
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
Regelung § 141 Abs. 2 StPO a. F.331 Ihr kommt eine Auffangfunktion zu.332 Die von § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 Hs. 2 StPO beschriebene Konstellation kann beispielsweise eintreten, wenn erst im Laufe der Hauptverhandlung Umstände eintreten oder sich ergeben, die die Mitwirkung eines Verteidigers zwingend erfordern.333 c) § 141a StPO § 141a S. 1 StPO normiert zwei Konstellationen, in denen abweichend von § 141 Abs. 2 StPO und, wenn der Beschuldigte hiermit ausdrücklich einverstanden ist, auch abweichend von § 141 Abs. 1 StPO im Vorverfahren vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Vernehmungen des Beschuldigten oder Gegenüberstellungen mit ihm durchgeführt werden dürfen. Das Schweigerecht des Beschuldigten wird von der Regelung nicht berührt.334 Das gilt gemäß § 141a S. 2 StPO auch für das Recht des Beschuldigten, jederzeit – auch schon vor der Vernehmung – einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Nach dem Ausnahmetatbestand des § 141a S. 1 Nr. 1 StPO kann von einer Pflichtverteidigerbestellung zunächst abgesehen werden, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist. Eine gegenwärtige Gefahr im Sinne des § 141a S. 1 Nr. 1 StPO liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ohne die sofortige Vernehmung oder Gegenüberstellung vor der Bestellung des Pflichtverteidigers die genannten Rechtsgüter sicher oder zumindest höchstwahrscheinlich beeinträchtigt werden.335 Die gegenwärtige Gefahr muss den Individualrechtsgütern Leben, Leib oder Freiheit drohen. Die Gefahr einer nur knapp über der Erheblichkeitsschwelle liegenden Körperverletzung genügt ebenso wenig wie eine lediglich ganz kurzfristige Einschränkung der körperlichen Fortbewegungsfreiheit.336 Dringend erforderlich ist die Maßnahme, wenn sofortiges Handeln geboten ist und der nach § 142 StPO notwendige Zeitraum für die Bestellung nicht abgewartet werden kann.337 Eine Pflichtverteidigerbestellung im Wege der Eilentscheidung der Staatsanwaltschaft nach § 142 Abs. 4 StPO hat Vorrang gegenüber einem zeitweisen Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung.338 Dem Ausnahmetatbestand des § 141a S. 1 Nr. 1 StPO 331
BT-Drucks. 19/13829, S. 38. BT-Drucks. 19/13829, S. 38; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 65. 333 BT-Drucks. 19/13829, S. 38. 334 BT-Drucks. 19/13829, S. 39; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141a Vor Rn. 1. 335 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141a Rn. 3. 336 BT-Drucks. 19/13829, S. 39; LR-Jahn, § 141a Rn. 6; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141a Rn. 4. 337 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141a Rn. 3. 338 BT-Drucks. 19/13829, S. 39. 332
B. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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unterfallen insbesondere unmittelbar bevorstehende oder andauernde Terroranschläge oder Entführungen.339 Ferner kann von einer Pflichtverteidigerbestellung nach § 141a S. 1 Nr. 2 StPO vorläufig abgesehen werden, wenn dies zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung eines Strafverfahrens zwingend geboten ist. Eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ohne die sofortige – mithin also vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers erfolgende – Vernehmung oder Gegenüberstellung, die Ermittlung der Wahrheit erheblich erschwert werden wird.340 Die Gesetzesbegründung führt als Beispiel die drohende Vernichtung von Beweismitteln oder die Beeinflussung von Zeugen an.341 Dem Anwendungsbereich des § 141a S. 1 Nr. 2 StPO sollen auch Situationen unterfallen, in denen nur durch eine Vernehmung oder Gegenüberstellung die Flucht eines Mitbeschuldigten oder gesondert Verfolgten verhindert werden kann.342 Zwingend geboten ist das Absehen von einer Pflichtverteidigerbestellung, wenn eine Gefährdung des Strafverfahrens nur auf diese Weise – und nicht etwa durch eine vorläufige Bestellung durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 142 Abs. 4 StPO – verhindert werden kann.343 In den Fällen, in denen der Beschuldigte gemäß § 141 Abs. 1 StPO die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantrag hat, bedarf es für die Vernehmung oder Gegenüberstellung vor der Pflichtverteidigerbestellung des ausdrücklichen Einverständnisses des Beschuldigten. Durch konkludentes Verhalten kann das Einverständnis nicht erklärt werden.344 Als wesentliche Förmlichkeit ist das Einverständnis zu protokollieren.345 Die praktische Bedeutung des § 141a StPO dürfte gering sein. Situationen, in denen der Beschuldigte gemäß § 141 Abs. 1 StPO die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt, sich aber dann mit einer Vernehmung oder Gegenüberstellung ohne Mitwirkung des Pflichtverteidigers einverstanden erklärt, werden kaum 339 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141a Rn. 8; Böß, NStZ 2020, 185 (191); BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141a Rn. 4; Spitzer, StV 2020, 418 (423). 340 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141a Rn. 5. 341 BT-Drucks. 19/13829, S. 39. 342 BT-Drucks. 19/13829, S. 39; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141a Rn. 6 weist darauf hin, dass diese Konstellation nicht in Erwägungsgrund 32 der Rechtsbeistand-Richtlinie genannt wird, die dortige Aufzählung aber auch nicht abschließend sei und der Wortlaut des Art. 3 Abs. 6 lit. b der Rechtsbeistand-Richtlinie auch die Fluchtverhinderung erfasse; a. A. Spitzer, StV 2020, 418 (423) und LR-Jahn, § 141a Rn. 7 nach deren Ansicht die Rechtsbeistand-Richtlinie eine Vernehmung nur für das betreffende Verfahren selbst und nicht auch für andere Verfahren gestatte. 343 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141a Rn. 6; strenger BeckOK/StPO-Krawczyk, § 141a Rn. 7 und LR-Jahn, § 141a Rn. 8–9. 344 LR-Jahn, § 141a Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141a Rn. 8. 345 BT-Drucks. 19/13829, S. 39; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (458); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141a Rn. 8.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
vorkommen.346 Damit beschränkt sich der praktische Anwendungsbereich des § 141a StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 2 StPO.347 Die Kritik an der Vorschrift des § 141a StPO ist mannigfaltig.348 Ausweislich der Gesetzesbegründung beruht die Ausnahmevorschrift des § 141a StPO auf Art. 3 Abs. 6 lit. a und b der Rechtsbeistand-Richtlinie. 349 Der Gesetzgeber hat bei der Umsetzung der Rechtsbeistand-Richtlinie jedoch davon abgesehen, das Recht auf Verteidigerbeistand entsprechend Art. 3 Abs. 6 lit. a und b der Rechtsbeistand-Richtlinie einzuschränken.350 Nach Erwägungsgrund 9 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ist eine solche Einschränkung dann auch nicht für das Recht auf Prozesskostenhilfe zulässig.351 Die Vorschrift des § 141a StPO lässt sich mithin nicht auf die Rechtsbeistand-Richtlinie stützen.352 Außerdem schränkt § 141a StPO ausschließlich den zeitlichen Zugang zu einem Pflichtverteidiger ein, während – was § 141a S. 2 StPO explizit klarstellt – das Recht auf Zugang zu einem Wahlverteidiger fortbesteht. Damit wird das Recht auf Verteidigerbeistand dem mittellosen Beschuldigten – der sich keinen Wahlverteidiger leisten kann – im Vergleich zum bemittelten Beschuldigten vorenthalten, ohne dass dies sachlich zu rechtfertigen ist.353 Ferner dürfen nach Erwägungsgrund 31 und 32 der Rechtsbeistand-Richtlinie Vernehmungen ausschließlich zu dem Zweck und in dem dafür erforderlichen Umfang durchgeführt werden, Informationen zu erlangen, die zur Abwehr schwerwiegender, nachteiliger Auswirkungen auf das Leben, die Freiheit oder die körperliche Unversehrtheit einer Person oder zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung des Strafverfahrens nötig sind. Diese Einschränkung kommt allerdings im Wortlaut des § 141a StPO nicht zum Ausdruck.354 Insgesamt ist die Vorschrift des § 141a StPO richtlinienwidrig.
346 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141a Rn. 3; Böß, NStZ 2020, 185 (191). 347 BT-Drucks. 19/13829, S. 39; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 141a Rn. 9. 348 Vgl. Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 21 September 2019, S. 13; Deutsche Strafverteidiger e. V., Stellungnahme Nr. 2/2018, S. 8–9; Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 343–346; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141a Rn. 9; Hillenbrand, ZAP 2020, 99 (105); Meyer-Mews, ZRP 2019, 5 (6); MüllerJacobsen, NJW 2020, 575 (577); Schoeller, StV 2019, 190 (195); Kleinknecht/Müller/ Reitberger-Staudinger, § 141a Rn. 5–6; Wolf, StraFo 2022, 185 (188). 349 BT-Drucks. 19/13829, S. 39. 350 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 11; Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 21 September 2019, S. 13. 351 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 21 September 2019, S. 13; Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (577); vgl. hierzu auch Schoeller, StV 2019, 190 (195). 352 Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (577); so im Ergebnis, allerdings mit anderer Begründung, auch Meyer-Mews, ZRP 2019, 5 (6). 353 Deutsche Strafverteidiger e. V., Stellungnahme Nr. 2/2018, S. 8. 354 So auch Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 346.
B. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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d) Zwischenergebnis Die Regelungen zum Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung entsprechen teilweise nicht den EMRK-rechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben. Das in § 141 Abs. 1 StPO normierte Antragsmodell widerspricht nicht nur dem Institut der notwendigen Verteidigung, sondern knüpft die Pflichtverteidigerbestellung entgegen der Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie an einen Antrag des Beschuldigten. Des Weiteren entspricht die Vorschrift des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO, indem sie die Bestellung eines Pflichtverteidigers neben das Vorliegen eines Falls notwendiger Verteidigung an ein weiteres materielles Kriterium – die fehlende Fähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen – knüpft, nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Ferner sind die in § 141 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO enthaltenen Ausnahmeregelungen in der ProzesskostenhilfeRichtlinie nicht vorgesehen und damit richtlinienwidrig. Schließlich ist die Ausnahmevorschrift des § 141a StPO, nach der im Vorverfahren vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Vernehmungen des Beschuldigten oder Gegenüberstellungen mit ihm durchgeführt werden dürfen, unionsrechtswidrig. Entgegen der Ansicht des Gesetzgebers kann § 141a StPO nämlich nicht auf Art. 3 Abs. 6 lit. a und b der Rechtsbeistand-Richtlinie gestützt werden. Ferner schränkt sie das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand einseitig zu Lasten des mittellosen Beschuldigten ein. Schließlich kommen die nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vorgesehenen Beschränkungen des Vernehmungsgegenstandes im Wortlaut des § 141a StPO nicht zum Ausdruck. 4. Die Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers § 142 StPO regelt den Ablauf des Bestellungsverfahrens. Während in § 142 Abs. 1 und 2 StPO das Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung normiert ist, enthält § 142 Abs. 3 und 4 StPO Bestimmungen bezüglich der Zuständigkeit. § 142 Abs. 5 und 6 StPO betreffen die Auswahl des Pflichtverteidigers. Durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung wurde das nach alter Rechtslage355 lediglich fragmentarisch geregelte Verfahren zur Auswahl- und Bestellung eines Pflichtverteidigers in § 142 StPO zusammengefasst und umfassend normiert.356 Darüber hinaus wurde durch die Gesetzesänderung die Zuständigkeit für die Pflichtverteidigerbestellung klarer und kompakter geregelt.357 a) Das Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung § 142 Abs. 1 und 2 StPO regeln das Verfahren zur Bestellung eines Pflichtverteidigers. Dabei ist zwischen einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten 355 356 357
Rn. 1.
Vgl. §§ 141, 142 StPO a. F. BT-Drucks. 19/13829, S. 40; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 1. BT-Drucks. 19/13829, S. 40; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 142
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
(§ 141 Abs. 1 StPO) und einer amtswegigen Bestellung (§ 142 Abs. 2 StPO) zu unterscheiden. aa) Das Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung bei einem Antrag des Beschuldigten § 142 Abs. 1 StPO regelt das Verfahren bei einem Antrag des Beschuldigten.358 Gemäß § 142 Abs. 1 S. 1 StPO ist der Antrag des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO vor Erhebung der Anklage bei den Behörden oder Beamten des Polizeidienstes oder bei der Staatsanwaltschaft anzubringen. Zu den Behörden des Polizeidienstes zählen nicht nur die (Kriminal-)Polizeien der Länder, sondern auch das Bundeskriminalamt und die Bundespolizei.359 Darüber hinaus werden auch die Finanzbehörden (§ 402 AO), die Zollfahndungsämter und die mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen der Landesfinanzbehörden (§ 404 AO) sowie die zur Bekämpfung der Schwarzarbeit zuständigen Zollbehörden (§ 14 SchwarzArbG) erfasst.360 Dem Begriff „Staatsanwaltschaft“ unterfallen auch Finanzbehörden, sofern sie in selbständig geführten Steuerstrafverfahren als funktionale Staatsanwaltschaft fungieren.361 Wird der Antrag bei der Polizei gestellt, ist dieser unverzüglich an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. 362 In besonderen Eilsituationen hat die Weiterleitung des Antrags gegebenenfalls (fern-)mündlich zu erfolgen.363 Wurde der Antrag von der Polizei an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet oder direkt bei der Staatsanwaltschaft gestellt, legt sie diesen gemäß § 142 Abs. 1 S. 2 StPO zusammen mit einer Stellungnahme unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vor, es sei denn die Staatsanwaltschaft macht von ihrer Eilzuständigkeit nach § 142 Abs. 4 StPO Gebrauch.364 In der Stellungnahme ist anzugeben, ob aus Sicht der Staatsanwaltschaft ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und ob der Beschuldigte bereits über einen Verteidiger verfügt.365 Nach Erhebung der Anklage ist der Antrag des Beschuldigten gemäß § 142 Abs. 1 S. 3 StPO beim zuständigen Gericht anzubringen. bb) Das Verfahren der Pflichtverteidigerbestellung bei einer amtswegigen Bestellung Die Vorschrift des § 142 Abs. 2 StPO hat das Verfahren bei einer amtswegigen Bestellung des Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren zum Gegenstand. Ist 358 359 360 361 362 363 364 365
BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S.
41. 41. 41. 41; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 3. 41; LR-Jahn, § 142 Rn. 14. 41; LR-Jahn, § 142 Rn. 14. 41. 41.
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dem Beschuldigten im Vorverfahren gemäß § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3 StPO ein Pflichtverteidiger zu bestellen, so hat die Staatsanwaltschaft dies unverzüglich bei dem zuständigen Gericht zu beantragen, es sei denn sie macht von ihrer Eilzuständigkeit gemäß § 142 Abs. 4 StPO Gebrauch. Liegen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vor, hat das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu entsprechen.366 Trotz der gerichtlichen Pflicht zur amtswegigen Bestellung eines Pflichtverteidigers ist die Antragsverpflichtung der Staatsanwaltschaft notwendig, da abgesehen von der Vorführung vor den Haftrichter oder einer richterlichen Vernehmung, das Gericht im Ermittlungsverfahren, solange keine richterliche Maßnahme beantragt wird, keine Kenntnis von dem Verfahren hat.367 b) Die Zuständigkeit für die Pflichtverteidigerbestellung Die Zuständigkeit für die Pflichtverteidigerbestellung ist in § 142 Abs. 3 und 4 StPO geregelt. Während § 142 Abs. 3 StPO im Grundsatz die Zuständigkeit der Gerichte für die Pflichtverteidigerbestellung normiert, sieht § 142 Abs. 4 StPO ausnahmsweise eine Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft in Eilfällen vor.368 aa) Die Bestellung durch ein Gericht Die Vorschrift des § 142 Abs. 3 StPO entspricht inhaltlich im Wesentlichen § 141 Abs. 4 StPO a. F.369 Im Ermittlungsverfahren entscheidet über die Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 1 StPO grundsätzlich der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts, in dessen Bezirk die Staatsanwaltschaft oder ihre zuständige Zweigstelle ihren Sitz hat.370 Zur Beschleunigung des Verfahrens oder zur Vermeidung von Belastungen Betroffener kann die Staatsanwaltschaft die Pflichtverteidigerbestellung aber auch bei dem nach § 162 Abs. 1 S. 3 StPO zuständigen Amtsgericht beantragen, bei dem eine gerichtliche Vernehmung oder Augenscheinnahme durchgeführt werden soll.371 In den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ist gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 2 StPO das Gericht zuständig, dem der Beschuldigte vorzuführen ist. Bei einer Ergreifung aufgrund eines bestehenden Haftbefehls ergibt sich die Zuständigkeit aus §§ 115 Abs. 1, 126 Abs. 1 StPO oder hilfsweise aus § 115a Abs. 1 StPO.372 Gleiches gilt gemäß § 126a Abs. 2 366
BT-Drucks. 19/13829, S. 41. BT-Drucks. 19/13829, S. 41; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 10. 368 LR-Jahn, § 142 Rn. 20. 369 BT-Drucks. 19/13829, S. 41; Böß, NStZ 2020, 185 (192). 370 LR-Jahn, § 142 Rn. 23; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 9; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 142 Rn. 5. 371 LR-Jahn, 142 Rn. 23; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 9; Meyer-Goßner/ Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 12. 372 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 13. 367
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
S. 1 StPO für den Fall eines Unterbringungsbefehls.373 Bei einer einstweiligen Unterbringung nach § 275a StPO ist das in § 275a Abs. 6 StPO bezeichnete Gericht zuständig.374 Bei einer vorläufigen Festnahme richtet sich die Zuständigkeit nach § 128 Abs. 1 StPO oder § 129 StPO.375 Liegt neben § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO noch ein weiterer Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 StPO vor, ist die Zuständigkeit für die Pflichtverteidigerbestellung nicht explizit geregelt. Die Zuständigkeitsregelung des § 142 Abs. 3 Nr. 2 StPO stellt in diesen Fällen keine lex specialis dar.376 Nach Erhebung der Anklage ist gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO der Vorsitzende des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist, für die Pflichtverteidigerbestellung zuständig. Entscheidet statt des Vorsitzenden das Kollegialgericht, ist diese Entscheidung rechtsfehlerhaft, da der Beschuldigte dadurch seinem gesetzlichen Richter entzogen wird.377 bb) Die Bestellung durch die Staatsanwaltschaft Nach der durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung neu eingeführten Vorschrift des § 142 Abs. 4 S. 1 StPO kann bei besonderer Eilbedürftigkeit auch die Staatsanwaltschaft378 über die Pflichtverteidigerbestellung entscheiden.379 Ein Fall besonderer Eilbedürftigkeit liegt etwa vor, wenn eine Vernehmung oder Gegenüberstellung nicht länger aufgeschoben werden kann und der zuständige Richter nicht erreichbar ist.380 Die Staatsanwaltschaft kann sowohl von Amts wegen als auch auf Antrag des Beschuldigten einen Verteidiger bestellen.381 Sie ist auch befugt, einen Antrag des Beschuldigten auf Pflichtverteidigerbestellung abzulehnen.382 Eine ablehnende Entscheidung der Staatsanwaltschaft muss aufgrund der Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 der ProzesskostenhilfeRichtlinie schriftlich ergehen und begründet werden.383 Nach der Ansicht des Gesetzgebers reicht es aus, wenn die Begründung im richterlichen Bestätigungs-
373
Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 13. Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 13. 375 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 10. 376 LR-Jahn, § 142 Rn. 27. 377 OLG Bamberg BeckRS 2021, 14711 Rn. 8; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 142 Rn. 5. 378 Auf die Schaffung einer Eilzuständigkeit der Polizei hat der Gesetzgeber verzichtet, obwohl eine vorübergehende Einbeziehung der Polizei nach Erwägungsgrund 24 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie möglich gewesen wäre, vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 42. 379 Kritisch zur Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft bei besonderer Eilbedürftigkeit, Deutscher Richterbund, Stellungnahme Nr. 12/19, S. 4. 380 BT-Drucks. 19/13829, S. 42. 381 BT-Drucks. 19/13829, S. 42. 382 BT-Drucks. 19/13829, S. 42. 383 BT-Drucks. 19/13829, S. 42; LR-Jahn, § 142 Rn. 30; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (456). 374
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verfahren nach § 142 Abs. 4 S. 2 StPO nachgeholt wird.384 Macht die Staatsanwaltschaft von ihrer Eilzuständigkeit Gebrauch ist sie gemäß § 142 Abs. 2 S. 2 StPO verpflichtet, unverzüglich, spätestens innerhalb einer Woche nach ihrer Entscheidung, die gerichtliche Bestätigung der Bestellung oder der Ablehnung des Antrags des Beschuldigten einzuholen. Wird die Wochenfrist überschritten oder versäumt die Staatsanwaltschaft gänzlich eine richterliche Bestätigung der von ihr vorgenommenen Pflichtverteidigerbestellung einzuholen, bleibt die Bestellung des Pflichtverteidigers aus Gründen des Vertrauensschutzes dennoch bestehen.385 Der Beschuldigte kann gemäß § 142 Abs. 4 S. 3 StPO jederzeit die gerichtliche Entscheidung beantragen. In der Praxis wird dies vor allem geschehen, wenn der Antrag des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers von der Staatsanwaltschaft abgelehnt wurde oder die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten nicht den von ihm bezeichneten Verteidiger bestellt hat.386 c) Die Auswahl des Pflichtverteidigers § 142 Abs. 5 und 6 StPO regeln die Auswahl des zu bestellenden Pflichtverteidigers. Während § 142 Abs. 5 StPO eine Regelung über die Bestellung eines vom Beschuldigten bezeichneten Verteidiger enthält, normiert § 142 Abs. 6 StPO Kriterien, wer als Verteidiger bestellt werden kann, wenn dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt wird, den er nicht bezeichnet hat. § 142 Abs. 5 und 6 StPO gelten nicht nur wenn der Pflichtverteidiger gerichtlich bestellt wird, sondern auch wenn die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Eilzuständigkeit einen Pflichtverteidiger bestellt.387 Der bestellte Verteidiger ist gemäß § 49 Abs. 1 BRAO zur Übernahme der Pflichtverteidigung verpflichtet. Nur bei Vorliegen wichtiger Gründe kann er gemäß § 49 Abs. 2 BRAO in Verbindung mit § 48 Abs. 2 BRAO die Aufhebung der Beiordnung beantragen. aa) Die Auswahl des Pflichtverteidigers durch den Beschuldigten Unabhängig davon, ob die Beiordnung des Pflichtverteidigers auf Antrag oder von Amts wegen erfolgt, ist dem Beschuldigten gemäß § 142 Abs. 5 S. 1 StPO vor der Bestellung Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen.388 Durch diese Bestimmung soll dem Beschuldigten die Auswahl eines Verteidigers seines Vertrauens ermöglicht werden.389 384 BT-Drucks. 19/13829, S. 42; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 12; MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 24; kritisch LR-Jahn, § 142 Rn. 30. 385 BT-Drucks. 19/13829, S. 42; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 13; MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 27. 386 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 28. 387 LR-Jahn, § 142 Rn. 29. 388 Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (578). 389 BT-Drucks. 19/13829, S. 42.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
Die Vorschrift entspricht im Wesentlichen § 142 Abs. 1 S. 1 StPO a. F.;390 im Gegensatz zur früheren Rechtslage handelt es sich aber nicht mehr um eine Sollvorschrift, sondern die Regelung ist nunmehr als durchgehend zwingend ausgestaltet,391 wodurch das Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger seines Vertrauens gestärkt wird. Lediglich wenn der Beschuldigte bereits gegenüber der Polizei oder der Staatsanwaltschaft den Wunsch auf Beiordnung eines bestimmten Verteidigers geäußert hat und mit hinreichender Sicherheit davon auszugehen ist, dass dieser Wunsch noch fortbesteht, kann eine Anhörung entbehrlich sein.392 Die Frist für die Bezeichnung eines Verteidigers muss stets angemessen sein.393 In Eilfällen kann die Frist jedoch äußerst kurz bemessen sein.394 Je nach den Umständen des Einzelfalls, kann sie sogar auf eine kurze Bedenkzeit reduziert werden.395 Der Gesetzeswortlaut sowie die Gesetzesbegründung deuten darauf hin, dass es sich bei der Frist um eine Ausschlussfrist handelt.396 Allerdings wird man in Anbetracht der großen Bedeutung des Rechts auf einen Verteidiger des Vertrauens auch einen vom Beschuldigten erst nach Fristablauf geäußerten Wunsch berücksichtigen müssen, wenn noch kein Pflichtverteidiger bestellt wurde oder die bereits erfolgte Bestellung noch keine Außenwirkung erlangt hat.397 Der Beschuldigte kann im Rahmen des § 142 Abs. 5 S. 1 StPO nicht nur jeden Rechtsanwalt, sondern auch einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule als Verteidiger wählen.398 Letztere sind allerdings nicht verpflichtet, die Verteidigung zu übernehmen.399 Ausweislich der Gesetzesbegründung unterliegt der Beschuldigte bei seiner Auswahlentscheidung nicht den Beschränkungen des § 142 Abs. 6 StPO, die für eine Auswahl des Verteidigers durch das Gericht oder in Eilfällen die Staatsanwaltschaft gelten.400 Dies ist mit Blick auf die Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation des Rechtsbeistands problematisch.401 Das Auswahlrecht des Beschuldigten sollte daher auf diejenigen Rechtsanwälte beschränkt werden, die über die erforderliche Qualifikation 390
BT-Drucks. 19/13829, S. 42; Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (578). LG Dessau-Roßlau StraFo 2020, 457 (458); Satzger/Schluckebier/Widmaier/ StPO-Beulke, § 142 Rn. 57. 392 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 32; SK/StPO-Wohlers, § 142 Rn. 7. 393 BT-Drucks. 19/13829, S. 42; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 21. 394 BT-Drucks. 19/13829, S. 42; 395 BT-Drucks. 19/13829, S. 42; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 33. 396 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 27; LR-Jahn, § 142 Rn. 48. 397 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 27; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 142 Rn. 7. 398 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 16. 399 LR-Jahn, § 142 Rn. 37. 400 BT-Drucks. 19/13829, S. 43; LR-Jahn, § 142 Rn. 38; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 39. 401 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 13; a. A. Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal AidRichtlinie, S. 147. 391
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zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand verfügen. Durch eine solche Regelung würde das Recht auf freie Verteidigerwahl – welches dem Beschuldigten verfassungs- und EMRKrechtlich garantiert wird – nicht über Gebühr eingeschränkt, da der Beschuldigte weiterhin aus einer Vielzahl an Rechtsanwälten einen Verteidiger auswählen könnte. Damit der Beschuldigte, der keinen Verteidiger seines Vertrauens kennt, eine selbstbestimmte Wahl treffen kann, sind ihm gemäß § 142 Abs. 5 S. 2 StPO in Verbindung mit § 136 Abs. 1 S. 3 und 4 StPO Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger auszuwählen; der Beschuldigte ist in diesem Zusammenhang auch auf bestehende anwaltliche Notdienste hinzuweisen.402 Ein von dem Beschuldigten innerhalb der Frist bezeichneter Verteidiger ist gemäß § 142 Abs. 5 S. 3 Hs. 1 StPO zu bestellen, es sei denn es steht ein wichtiger Grund entgegen. Dies entspricht im Wesentlichen der ehemaligen Rechtslage.403 Das Tatbestandsmerkmal „wichtiger Grund“ ist angesichts der verfassungsrechtlichen Verbürgung des Rechts auf einen Verteidiger des Vertrauens eng auszulegen.404 Ein wichtiger Grund liegt nach § 142 Abs. 5 S. 3 Hs. 2 Alt. 1 StPO vor, wenn der Verteidiger – etwa wegen anderweitiger Termine405 oder weil er es ablehnt, die Verteidigung zu übernehmen406 – nicht verfügbar ist. Diese – bereits in der Rechtsprechung anerkannte – Fallgruppe wurde im Zuge des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung aus Klarstellungsgründen in die Strafprozessordnung aufgenommen.407 Außerdem stellt es nach § 142 Abs. 5 S. 3 Hs. 2 Alt. 2 StPO einen wichtigen Grund dar, wenn der Verteidiger nicht rechtzeitig zur Verfügung steht. Dies ist der Fall, wenn der Verteidiger aus terminlichen Gründen an einer Ermittlungshandlung, die seine Mitwirkung erfordert und mit der aufgrund ihrer Eilbedürftigkeit nicht zugewartet werden kann, nicht teilnehmen kann.408 Eine kurze Wartezeit ist je nach Situation zuzugestehen, einen Anspruch auf Verschiebung der Ermittlungshandlung hat der Beschuldigte jedoch nicht.409 Neben diesen zwei explizit normierten Fallgruppen, werden von der Rechtsprechung und der Literatur weitere wichtige Gründe anerkannt. Ein wichtiger Grund wird etwa bejaht, wenn es durch die Bestellung des 402
BT-Drucks. 19/13829, S. 42. BT-Drucks. 19/13829, S. 42; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 142 Rn. 59. 404 OLG Köln NStZ 1991, 248 (249); LR-Jahn, § 142 Rn. 57, BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 33; Radtke/Hohmann-Reinhart, § 142 Rn. 6. 405 BT-Drucks. 19/13829, S. 43. 406 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 44. 407 BT-Drucks. 19/13829, S. 42–43. 408 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 45. 409 BT-Drucks. 19/13829, S. 43; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 46. 403
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bezeichneten Verteidigers zu einer unzulässigen Mehrfachverteidigung nach § 146 StPO kommen würde,410 der Verdacht besteht, dass ein Ausschlussgrund nach § 138a StPO oder § 138b StPO vorliegt411 oder die bezeichnete Person nicht zu dem nach § 138 Abs. 1 und 2 StPO wählbaren Personenkreis gehört.412 Wird die Bestellung des vom Beschuldigten bezeichneten Verteidigers aus wichtigem Grund abgelehnt, ist dem Beschuldigten die Möglichkeit zu geben, einen anderen Verteidiger zu benennen.413 bb) Die Auswahl des Pflichtverteidigers durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft Macht der Beschuldigte von der Möglichkeit, innerhalb der ihm gesetzten Frist einen Verteidiger zu bezeichnen, keinen Gebrauch – was in der überwiegenden Zahl der Fälle der Fall ist414 –, normiert § 142 Abs. 6 StPO Kriterien für die Auswahl des Pflichtverteidigers durch das Gericht oder in Eilfällen die Staatsanwaltschaft. Mit der Vorschrift, die keine Entsprechung im früheren Recht hat, sollen die Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie hinsichtlich einer angemessenen Qualität der Verteidigung umgesetzt werden.415 Gemäß § 142 Abs. 6 S. 1 StPO ist der dem Beschuldigten zu bestellende Pflichtverteidiger aus dem Gesamtverzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer (§ 31 BRAO) auszuwählen. Damit können Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule – anders als bei § 142 Abs. 5 StPO – nicht zum Pflichtverteidiger bestellt werden, da ihnen die Zulassungsvoraussetzungen zur Rechtsanwaltschaft fehlen.416 Darüber hinaus ist auch die Bestellung eines Referendars, wie es nach früherer Rechtslage gemäß § 142 Abs. 2 StPO a. F. in bestimmten Fällen möglich war, nach der ersatzlosen Streichung dieser Bestimmung, nicht mehr zulässig.417 410 HK/StPO-Julius/Schiemann, § 142 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 48. 411 Radtke/Hohmann-Reinhart, § 142 Rn. 7; KK/StPO-Willnow, § 142 Rn. 7. 412 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 142 Rn. 20; BeckOK/StPOKrawczyk, § 142 Rn. 33. 413 OLG Hamm StV 1994, 8; OLG Jena NJW 2009, 1430 (1431); LR-Jahn, § 142 Rn. 53; AK/StPO-Stern, § 142 Rn. 27; MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 142 Rn. 11. 414 Bringewat, ZRP 1979, 248 (252); Leitmeier, StV 2016, 515. 415 BT-Drucks. 19/13829, S. 43; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (458). 416 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 58; LR-Jahn, § 142 Rn. 81, weist darauf hin, dass Hochschullehrer mangels Kanzleibetriebs schlechter erreichbar seien und zudem zur Übernahme von Pflichtverteidigungen nicht verpflichtet wären. 417 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 142 Rn. 62; Böß, NStZ 2020, 185 (192); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 58; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 146; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 142 Rn. 16, weist zu Recht darauf hin, dass dies auch für den durch die Rechtsanwaltskammer bestellten oder vom Verteidiger selbst gewählten Vertreter gelten müsse, d.h. dieser dürfe nicht Referendar sein.
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Auch wenn die Vorschrift des § 142 Abs. 2 StPO a. F. in der Praxis kaum eine Rolle spielte,418 war die Streichung unter dem Aspekt der Qualitätssicherung notwendig, da eine Verteidigung durch sich noch in der Ausbildung befindende Juristen nicht den durch die Prozesskostenhilfe-Richtlinie aufgestellten Qualitätsstandards genügt.419 Aus den in das Gesamtverzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwälten soll gemäß § 142 Abs. 6 S. 2 StPO entweder ein Fachanwalt für Strafrecht oder ein anderer Rechtsanwalt, der gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat und für die Übernahme der Verteidigung geeignet ist, ausgewählt werden.420 Nur wenn aus diesem Personenkreis kein Verteidiger rechtzeitig zur Verfügung steht, darf das Gericht bzw. die Staatsanwaltschaft einen anderen Rechtsanwalt auswählen.421 Der ausgewählte Rechtsanwalt muss jedoch stets für die Übernahme der Verteidigung geeignet sein.422 Zum 01.01 2022 gab es deutschlandweit 3.859 Fachanwälte für Strafrecht.423 Voraussetzung für die Verleihung der Fachanwaltsbezeichnung ist gemäß §§ 5 Abs. 1 lit. f, 13 FAO der Nachweis besonderer praktischer Erfahrung sowie besonderer Kenntnisse im Strafrecht. Nach § 15 FAO besteht eine jährliche fachspezifische Fortbildungspflicht, deren Nichterfüllung zum Entzug der Fachanwaltszulassung (§ 43c Abs. 4 S. 2 BRAO) führen kann. Die Voraussetzungen, die zum Führen des Fachanwaltstitels berechtigen, genügen den Anforderungen der Prozesskostenhilfe-Richtlinie in Bezug auf die Qualifikation des Verteidigers. Somit ist durch die Auswahl eines Fachanwalts für Strafrecht eine hinreichende Qualität der Verteidigung im Sinne der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gewährleistet.424 Trotz der im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegenen Gesamtzahl an Fachanwälten für Strafrecht,425 ist die Anzahl der Fachanwälte für Strafrecht bei Weitem nicht ausreichend, um stets einen solchen zum Pflichtverteidiger zu bestellen. Um den Bedarf an qualifizierten Pflichtverteidigern sicherzustellen, kann 418 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 145; Radtke/ Hohmann-Reinhart, § 142 Rn. 4; KK/StPO-Willnow, § 142 Rn. 6. 419 BT-Drucks. 19/13829, S. 40; für eine Streichung des § 142 Abs. 2 StPO a. F. sprachen sich bereits Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (66), aus. 420 Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 111–112 geht aufgrund der Systematik der Norm davon aus, dass die Auswahl eines Fachanwalts Vorrang vor der Auswahl eines bloß interessierten und geeigneten Verteidigers hat. 421 BT-Drucks. 19/13829, S. 43; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 111. 422 BT-Drucks. 19/13829, S. 43. 423 Bundesrechtsanwaltskammer, Fachanwälte zum 01.01.2022, S. 1. 424 Schlothauer, StV 2018, 169 (173); Schoeller, StV 2019, 190 (198); a. A. Wasserburg, GA 2020, 398 (410), der kritisiert, dass faktisch jeder Rechtsanwalt unschwer die Voraussetzungen der §§ 5 Abs. 1 lit. f, 13 FAO erfüllen könne und bei den Prüfungen kaum jemand durchfalle. 425 Bundesrechtsanwaltskammer, Fachanwälte zum 01.01.2022, S. 1.
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deshalb nach § 142 Abs. 6 S. 2 StPO auch ein Rechtsanwalt, der gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat und für die Übernahme der Verteidigung geeignet ist, ausgewählt werden.426 Diese Regelung wird den Vorgaben der ProzesskostenhilfeRichtlinie bezüglich der Qualität der Beistandsleistung nicht gerecht.427 Die Bekundung von Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen ist nicht geeignet die hierfür erforderliche Qualifikation nachzuweisen.428 Die vom Gesetzgeber angeführte Begründung, dass ein Rechtsanwalt durch eine Interessenbekundung den besonderen fachlichen Bezug zur Strafverteidigung und die Bereitschaft sich auf diesem Gebiet laufend fortzubilden zum Ausdruck bringt,429 ist nicht mehr als ein „frommer Wunsch“.430 Häufig dürften vor allem finanzielle Interessen der Beweggrund für die Bereitschaft zur Übernahme von Pflichtverteidigungen sein.431 Auch der Umstand, dass nur geeignete Rechtsanwälte zu Pflichtverteidigern bestellt werden sollen, bietet keine Garantie für die Einhaltung der Qualitätsstandards, da völlig unklar bleibt, anhand welcher Kriterien die Eignung festzustellen ist.432 Die gegenwärtige Regelung ist damit in Teilen richtlinienwidrig. Um den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie hinsichtlich der Qualität der Beistandsleistung gerecht zu werden, kann ein Rechtsanwalt, der kein Fachanwalt ist, nur dann zum Pflichtverteidiger bestellt werden, wenn er an strafrechtsspezifischen Fortbildungsveranstaltungen teilgenommen hat, die im Umfang denen für Fachanwälte entsprechen.433 Die Auswahl des Pflichtverteidigers obliegt, wenn der Beschuldigte von seinem Bezeichnungsrecht keinen Gebrauch macht, dem Gericht und – seit dem
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BT-Drucks. 19/13829, S. 43. A. A. Deutscher Richterbund, Stellungnahme Nr. 14/18, S. 4. 428 Deutsche Strafverteidiger e. V., Stellungnahme Nr. 2/2018, S. 10; Strafverteidigervereinigungen, Stellungnahme, S. 13; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 142 Rn. 61; Schoeller, StV 2019, 190 (198); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 56; Wasserburg, GA 2020, 398 (410); Wolf, StraFo 2022, 185 (190). 429 BT-Drucks. 19/13829, S. 43. 430 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 142 Rn. 61. 431 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 142 Rn. 61. 432 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 142 Rn. 61; Meyer-Mews, ZRP 2019, 5 (7); Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (578); Schoeller, StV 2019, 190 (198). 433 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 15–16; Deutsche Strafverteidiger e. V., Stellungnahme Nr. 2/2018, S. 10; Strafverteidigervereinigungen, Stellungnahme, S. 13; Schoeller, StV 2019, 190 (198); auch Schlothauer/Neuhaus/ Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (60–61), sprechen sich dafür aus, dass neben Fachanwälten für Strafrecht auch Rechtsanwälte mit mindestens einjähriger Zulassung zur Rechtsanwaltschaft und der Teilnahme an einer mindestens 16-stündigen Fortbildungsveranstaltung zu den mit dem Rechtsbeistand für Verdächtige und beschuldigte Personen verbundenen Dienstleistungen, als Pflichtverteidiger bestellt werden können. Darüber hinaus sollen auch Rechtsanwälte mit vergleichbarem Kenntnis- und Erfahrungsstand zu Pflichtverteidigern bestellt werden können. 427
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Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung – in Eilfällen der Staatsanwaltschaft. Diese Rechtslage wird seit Jahren kritisiert.434 Insbesondere wird beanstandet, dass es an gesetzlich normierten Kriterien zur Auswahl des Pflichtverteidigers fehle und somit ein nahezu grenzenloses Auswahlermessen bestehe.435 Da die Auswahlentscheidung auch nicht begründet werden muss, bleibt letztlich unklar, welche Aspekte bei der Entscheidung eine Rolle gespielt haben.436 Dies alles birgt die Gefahr in sich, dass nicht der für den Beschuldigten am besten geeignete Verteidiger bestellt wird, sondern ein Verteidiger, der dem Gericht beziehungsweise der Staatsanwaltschaft keine Schwierigkeiten bereitet.437 Ferner kann dies dazu führen, dass Rechtsanwälte, die aus finanziellen Gründen auf Pflichtverteidigermandate angewiesen sind, nicht die gebotenen Verteidigungsaktivitäten entfalten, um auch in Zukunft weiterhin als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden.438 Um diesen Gefahren vorzubeugen wird teilweise eine Auswahl des Pflichtverteidigers anhand eines Listenverfahrens gefordert.439 In die Liste könne grundsätzlich jeder Rechtsanwalt aufgenommen werden, der bereit sei Pflichtverteidigungen zu übernehmen.440 Um die Qualität der Verteidigung zu gewährleisten wird teilweise gefordert, dass in die Liste nur Rechtsanwälte aufgenommen werden können, die bereits an einer bestimmten Zahl an Hauptverhandlungen teilgenommen oder Fortbildungsveranstaltungen besucht haben; zudem bestehe eine jährliche Weiterbildungspflicht, um nicht wieder von der Liste gestrichen zu werden.441 Ferner wird erwogen, die Liste nach besonderen Fähigkeiten, Spezialisierungen beziehungsweise Tätigkeitsschwerpunkten, Sprachkenntnissen, der Ortsnähe etc. zu unterteilen, um so 434 Ahmed, StV 2015, 65 (68–69); Heydenreich, StraFo 2011, 263 (269–270); Leitmeier, StV 2016, 515–518; Thielmann, StraFo 2006, 358–362. 435 Leitmeier, StV 2016, 515. 436 Heydenreich, StraFo 2011, 263 (269); Leitmeier, StV 2016, 515. 437 Ahmed, StV 2015, 65 (68); Bringewat, ZRP 1979, 248 (252); Dolph, AnwBl 1972, 67 (68); Heydenreich, StraFo 2011, 263 (269); Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71); Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 193; Rudolph, in: FSSchmidt-Leichner, S. 159 (163); Sarstedt, JR 1957, 470 (471); Schlothauer, StV 1981, 443; Wasserburg, GA 2020, 398 (407); Welp, ZStW 90 (1978), 101 (107–108); Zöller, in: FG-Feigen, S. 399 (408–409). 438 Zöller, in: FG-Feigen, S. 399 (409); Ahmed, StV 2015, 65 (69). 439 Deutsche Strafverteidiger e. V., Stellungnahme Nr. 2/2018, S. 9; Dolph, AnwBl 1972, 67 (68); Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 194–196; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 42; Latz, DRiZ 2010, 16; Thielmann, StraFo 2006, 358 (362); Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, S. 402–403; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 181–184; kritisch bezüglich eines Listenverfahrens Fühling, DRiZ 2010, 17; Rudolph, in: FS-Schmidt-Leichner, S. 159 (165); Wohlers, StV 2010, 151 (156). 440 Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 181; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 195; Thielmann, StraFo 2006, 358 (362); Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, S. 403. 441 Thielmann, StraFo 2006, 358 (362).
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den für den jeweiligen Fall am besten geeigneten Verteidiger zu finden.442 Dem Beschuldigten wäre stets der Verteidiger beizuordnen, der nach der durch die Liste vorgegebenen Reihenfolge an der Reihe wäre.443 Vereinzelt wird statt eines Listenverfahrens eine Bestellung nach dem Zufallsprinzip vorgeschlagen.444 Wieder andere befürworten eine Verlagerung der Auswahlentscheidung auf eine am Verfahren unbeteiligte Person oder ein unabhängiges Gremium. Der Pflichtverteidiger solle von einem nicht am Verfahren beteiligten Richter,445 einem mit Richtern und Rechtsanwälten besetzten Gremium,446 den Rechtsanwaltskammern447 oder einem bei den Rechtsanwaltskammern eingerichteten Amt für Pflichtverteidigungen448 ausgewählt werden. Sowohl eine Auswahl des Pflichtverteidigers nach einer durch eine Liste vorgegebene Reihenfolge – vor allem, wenn die Liste keine weiteren Unterteilungen aufweist – als auch eine Auswahl nach dem Zufallsprinzip ist problematisch, da durch ein solches Vorgehen nicht sichergestellt werden kann, dass der Beschuldigte stets einen für den konkreten Einzelfall geeigneten Verteidiger bestellt bekommt.449 Damit verbleibt, wenn man es nicht bei der gegenwärtigen Rechtslage belassen möchte,450 nur die Mög442 Deutsche Strafverteidiger e. V., Stellungnahme Nr. 2/2018, S. 9; Latz, DRiZ 2010, 16; Leitmeier, StV 2016, 515 (518); kritisch Thielmann, StraFo 2006, 358 (362), der eine weitere Unterteilung der Liste für nicht praktikabel hält. 443 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 196; Thielmann, StraFo 2006, 358 (362); Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, S. 403; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal AidRichtlinie, S. 182 hält dagegen ein Abweichen von der durch die Liste vorgegebenen Reihenfolge für möglich, allerdings müsse dies von dem für die Auswahl zuständigen Richter begründet werden; kritisch Schlothauer, in: FS-Samson, S. 709 (719–720); Wohlers, StV 2010, 151 (156). 444 Dolph, AnwBl 1972, 67 (68) der allerdings auch eine Auswahl nach dem Listenverfahren in Erwägung zieht; Hilbers/Lam, StraFo 2005, 70 (71); zu Recht kritisch Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal AidRichtlinie, S. 148. 445 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 88, 247; Rudolph, in: FS-SchmidtLeichner, S. 159 (166); Schlothauer StV 1981, 443 (452); Wenske, NStZ 2010, 479 (484). 446 Bringewat, ZRP 1979, 248 (253). 447 Schlothauer, StV 2018, 169 (174); Schneider, Notwendige Verteidigung und Stellung des Pflichtverteidigers im Strafprozess, S. 89–90; Schneider, Der Rechtsanwalt, ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, S. 155; Thielmann, HRRS 2017, 71 (85); Leitmeier, StV 2016, 515 (518), sieht die Auswahl des Pflichtverteidigers als Aufgabe der Anwaltschaft an; Schlothauer StV 1981, 443 (452), befürwortet eine Ausübung des Auswahlrechts durch Organe der Anwaltschaft; Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (66–67) befürworten zumindest dann eine Auswahl des Verteidigers durch die Rechtsanwaltskammer, wenn keine unaufschiebbaren Verfahrenshandlungen erfolgen sollen. 448 Hahn, Die notwendige Verteidigung im Strafprozeß, S. 117–118. 449 So auch Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 178; Welp, ZStW 90 (1978), 101 (108). 450 Wenske, NStZ 2010, 479 (484); KK/StPO-Willnow, § 142 Rn. 1.
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lichkeit die Auswahlentscheidung zu verlagern. Zwar ist auch bei einer Verlagerung der Auswahlentscheidung nicht ausgeschlossen, dass es weiterhin zu sachfremden Erwägungen – wenn auch vielleicht anderer Art – kommt,451 eine solche Gefahr lässt sich aber unter den nachfolgend genannten Voraussetzungen nahezu ausschließen. So muss die Auswahlentscheidung stets von einem mehrköpfigen Gremium getroffen werden, weil sachfremde Entscheidungen von einer Einzelperson leichter zu treffen sind. Zudem scheint es geboten, dass die Auswahlentscheidung begründet werden muss, was die Gefahr sachfremder Erwägungen weiter einschränken dürfte. Die vereinzelt geäußerten Bedenken, dass es durch die Verlagerung der Auswahlentscheidung zu Verfahrensverzögerungen komme, weil das Gremium Zeit benötige, um sich in den Fall einzuarbeiten,452 sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Allerdings benötigt auch der nach der gegenwärtigen Rechtslage zuständige Richter Zeit zur Einarbeitung in den Fall und das Treffen einer Auswahlentscheidung. Trotz der in den letzten Jahrzehnten geäußerten Kritik – die in Stellungnahmen zum Gesetzgebungsverfahren erneuert wurde – hat der Gesetzgeber im Zuge des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung es bei der Auswahlzuständigkeit des Gerichts belassen und in Eilfällen auf die Staatsanwaltschaft ausgedehnt. Die nunmehr in § 142 Abs. 6 StPO normierten Kriterien zur Auswahl des Pflichtverteidigers, lassen die Gefahr sachfremder Erwägungen bei der Auswahlentscheidung weiterhin fortbestehen, da die Auswahlkriterien sehr weit gefasst und unbestimmt sind.453 d) Zwischenergebnis Die Regelungen zur Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers sind – Abgesehen von § 142 Abs. 5 und 6 StPO – mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der ProzesskostenhilfeRichtlinie vereinbar. Hinsichtlich § 142 Abs. 5 StPO ist zu bemängeln, dass die Vorschrift den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation des Verteidigers nicht gerecht wird. Die Vorschrift des § 142 Abs. 6 StPO, nach der dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger bezeichnet hat, ein Rechtsanwalt bestellt werden kann, der gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat und für die Übernahme der Verteidigung geeignet ist, verstößt ebenfalls gegen die Vorgaben 451 Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 176; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 194; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 42; Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, S. 399. 452 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 193–194. 453 Strafverteidigervereinigungen, Stellungnahme, S. 12; Hillenbrand, ZAP 2020, 99 (107).
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation des Verteidigers. Das bloße Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigermandaten ist kein Nachweis hinreichender Qualität. Daneben ist auch zu kritisieren, dass für die Auswahl des Pflichtverteidigers das Gericht beziehungsweise in Eilfällen die Staatsanwaltschaft zuständig ist, da dies stets die Gefahr in sich birgt, dass sachfremde Erwägungen die Auswahlentscheidung beeinflussen, was der Qualität der Verteidigung nicht zuträglich ist. 5. Die Dauer und Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung § 143 StPO regelt die Dauer der Pflichtverteidigerbestellung sowie die Voraussetzungen ihrer Aufhebung. Beides war bisher nur in Ansätzen und fragmentarisch geregelt, weshalb durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung eine umfassende Regelung geschaffen wurde.454 Während § 143 Abs. 1 StPO die grundsätzliche Dauer der Pflichtverteidigerbestellung normiert, enthält § 143 Abs. 2 StPO Fallkonstellationen, in denen die frühere Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung wegen Wegfalls der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung möglich oder zwingenden ist.455 a) Die Dauer der Pflichtverteidigerbestellung Gemäß § 143 Abs. 1 StPO endet die Bestellung des Pflichtverteidigers mit der Einstellung oder dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens einschließlich eines Verfahrens nach § 423 StPO oder § 460 StPO. Dies entspricht der schon bislang herrschenden Auffassung.456 Die Pflichtverteidigerbestellung erstreckt sich nicht auf das Strafvollstreckungsverfahren.457 Es besteht aber die Möglichkeit, dem rechtskräftig Verurteilten im Strafvollstreckungsverfahren einen Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen.458 b) Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung Eine Ausnahme zum in § 143 Abs. 1 StPO niedergelegten Grundsatz enthält § 143 Abs. 2 S. 1 StPO.459 Danach kann die Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Dies ist etwa der Fall, wenn anfänglich von einer Anklageerhebung beim Schöffengericht 454
BT-Drucks. 19/13829, S. 44; Böß, NStZ 2020,185 (192). BT-Drucks. 19/13829, S. 44. 456 BT-Drucks. 19/13829, S. 44; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143 Rn. 34; LR-Jahn, § 143 Rn. 3; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 1. 457 BT-Drucks. 19/13829, S. 44; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 5; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 143 Rn. 1. 458 BT-Drucks. 19/13829, S. 44; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 5. 459 LR-Jahn, § 143 Rn. 19. 455
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ausgegangen wurde, letztlich aber nur eine Anklage zum Strafrichter erfolgt und kein anderer Tatbestand des § 140 Abs. 1 oder 2 StPO vorliegt.460 Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung steht im Ermessen des Gerichts.461 Insbesondere aus Gründe des Vertrauensschutzes kann die Fortdauer der Pflichtverteidigerbestellung gerechtfertigt sein;462 Vertrauensschutzgesichtspunkte gehen fiskalischen Interessen der Staatskasse vor.463 Gemäß § 143 Abs. 2 S. 2 StPO kann die Pflichtverteidigerbestellung in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nur aufgehoben werden, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Anstalt entlassen wird. Die Bestimmung, die § 140 Abs. 3 S. 1 StPO a. F. entspricht,464 stellt damit eine Beschränkung der Aufhebungsmöglichkeit nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO dar.465 Die Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass während der Inhaftierung die eigene Verteidigung nur eingeschränkt vorbereitet werden kann.466 Wurde der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor der Hauptverhandlung aus der Anstalt entlassen und ist die Verteidigung nicht aus einem anderen Grund notwendig, endet die Pflichtverteidigerbestellung nicht automatisch.467 Vielmehr steht es im Ermessen des Gerichts, ob es die Pflichtverteidigerbestellung aufhebt.468 Wirkt die mit der Freiheitsentziehung verbundene Verteidigungsbeschränkung trotz der Freilassung fort – was in der Regel der Fall sein wird – ist von einer Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung abzusehen.469 Eine Ausnahme von der in § 143 Abs. 2 S. 2 StPO normierten Beschränkung der Aufhebungsmöglichkeit bei vorangegangenem Freiheitsentzug enthält § 143 Abs. 2 S. 3 StPO.470 Beruht der Freiheitsentzug in den Fällen des § 140 Abs. 1 460
BT-Drucks. 19/13829, S. 45. BT-Drucks. 19/13829, S. 45; Böhm, StV 2021, 196; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 143 Rn. 4; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 113. 462 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143 Rn. 35; Böhm, StV 2021, 196 (197) spricht sich dafür aus, bei der Entscheidung über die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung vor allem den Beschuldigtenwillen zu berücksichtigen. 463 LR-Jahn, § 143 Rn. 19; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 7. 464 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 9. 465 LR-Jahn, § 143 Rn. 20. 466 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; LR-Jahn, § 143 Rn. 22; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 143 Rn. 5. 467 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143 Rn. 6. 468 KG StraFo 2021, 120 (121); BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143 Rn. 6. 469 LR-Jahn, § 143 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143 Rn. 6; MK/StPOThomas/Kämpfer, § 140 Rn. 22; KK/StPO-Willnow, § 140 Rn. 15. 470 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; LR-Jahn, § 143 Rn. 24; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 143 Rn. 7. 461
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Nr. 5 StPO auf einem Haftbefehl zur Sicherung der Hauptverhandlung im Beschleunigten Verfahren (§ 127b Abs. 2 StPO), in erster Instanz (§ 230 Abs. 2 StPO) oder im Berufungsverfahren (§ 329 Abs. 3 StPO), soll die Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 143 Abs. 2 S. 3 StPO mit der Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls, spätestens zum Schluss der Hauptverhandlung, aufgehoben werden. In den in § 143 Abs. 2 S. 3 StPO genannten Fällen wird der Haftbefehl im Allgemeinen frühestens in der Hauptverhandlung aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt; ansonsten wird er mit Ende der Hauptverhandlung automatisch gegenstandslos.471 Aufgrund der Vorschrift des § 143 Abs. 2 S. 2 StPO wäre es ansonsten nicht möglich, die Pflichtverteidigerbestellung vor der Hauptverhandlung wieder aufzuheben, sodass sich der Beschuldigte, indem er in der Verhandlung nicht erscheint, einen Pflichtverteidiger für das weitere Verfahren verschaffen könnte.472 Diesem möglichen Missbrauch soll durch die grundsätzliche Pflicht, die Pflichtverteidigerbestellung in den Fällen des § 143 Abs. 2 S. 3 StPO aufzuheben, vorgebeugt werden.473 In der Praxis ist der Anwendungsbereich des § 143 Abs. 2 S. 3 StPO allerdings gering.474 Schließlich soll gemäß § 143 Abs. 2 S. 4 StPO in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO die Bestellung des Pflichtverteidigers mit dem Ende der Vorführung aufgehoben werden, falls der Beschuldigte auf freien Fuß gesetzt wird. Bei einer vorläufigen Festnahme ist dies der Fall, wenn der beantragte Haftbefehl nicht erlassen oder erlassen aber außer Vollzug gesetzt wird.475 Bei einer Ergreifung aufgrund eines Haftbefehls liegen die Voraussetzungen des § 143 Abs. 2 S. 4 StPO vor, wenn der Haftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wird.476 Sofern kein anderer Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, soll ausweislich der Gesetzesbegründung in diesen Fällen eine grundsätzliche Pflicht zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung bestehen.477 Es ist allerdings kaum vorstellbar, dass kein anderer Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, wenn die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls beantragt hat.478 Liegt tatsächlich kein anderer Fall notwendiger Verteidigung vor, sollte mit der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung jedoch zumindest so lange gewartet werden, bis über eine mögliche Beschwerde der Staatsanwaltschaft entschieden wurde.479
471
BT-Drucks. 19/13829, S. 45; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143 Rn. 7. BT-Drucks. 19/13829, S. 45; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143 Rn. 7. 473 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143 Rn. 7. 474 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 13. 475 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 14. 476 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 14. 477 BT-Drucks. 19/13829, S. 45; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 15. 478 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143 Rn. 38; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 143 Rn. 6. 479 BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143 Rn. 15. 472
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c) Zwischenergebnis Die Bestimmungen zur Dauer und Aufhebung der Pflichtverteidigung sind mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar. 6. Die Auswechslung des Pflichtverteidigers Die durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung neu geschaffene Vorschrift des § 143a StPO, regelt umfassend die Voraussetzungen für eine Auswechslung des bestellten Pflichtverteidigers.480 Im Gegensatz zu § 143 Abs. 2 StPO liegt hier weiterhin ein Fall notwendiger Verteidigung vor.481 Während § 143a Abs. 1 StPO die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen Wahlverteidiger zum Gegenstand hat, regeln § 143a Abs. 2 und 3 StPO die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger.482 a) Die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen Wahlverteidiger Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist gemäß § 143a Abs. 1 S. 1 StPO aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser die Wahl angenommen hat. Die Vorschrift entspricht inhaltlich § 143 StPO a. F., wurde aber in sprachlicher Hinsicht präzisiert, um klarzustellen, dass die Pflichtverteidigerbestellung erst nach Zustandekommen des Mandatsverhältnisses mit dem Wahlverteidiger aufzuheben ist.483 § 143a Abs. 1 StPO bringt zum einen die Subsidiarität der Pflicht- gegenüber der Wahlverteidigung zum Ausdruck und trägt zum anderen dem Recht des Beschuldigten auf einen frei gewählten Verteidiger seines Vertrauens gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Rechnung.484 § 143a Abs. 1 S. 2 StPO normiert zwei Fälle, in denen trotz zustande gekommenem Wahlverteidigermandat von der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung abzusehen ist.485 Beide Fallgruppen waren in der bisherigen Rechtsprechung anerkannt und wurden aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit kodifiziert.486 Ein Anspruch auf die Auswechslung des Pflichtverteidigers besteht gemäß § 143a Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StPO nicht, wenn zu besorgen ist, dass der neue Verteidiger das Mandat demnächst niederlegen und seine Beiordnung 480
Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 1. BT-Drucks. 19/13829, S. 44. 482 BT-Drucks. 19/13829, S. 44; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 1. 483 BT-Drucks. 19/13829, S. 46; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 1. 484 Böhm, StV 2021, 196 (197). 485 Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143a Rn. 3; BeckOK/StPOKrawczyk, § 143a Rn. 3. 486 BT-Drucks. 19/13829, S. 46; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143a Rn. 3; LR-Jahn, § 143a Rn. 8; Wohlers, JR 2020, 649 (651). 481
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als Pflichtverteidiger beantragen wird. Dies ist etwa zu befürchten, wenn der Beschuldigte mittellos ist.487 Eine solche Befürchtung kann jedoch durch eine Erklärung des Wahlverteidigers, dass er das Mandat ausschließlich als Wahlverteidiger fortführt und eine Mandatsniederlegung wegen Mittellosigkeit des Beschuldigten nicht erfolgt, ausgeräumt werden.488 Des Weiteren ist gemäß § 143a Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StPO von einer Aufhebung der Bestellung des Pflichtverteidigers abzusehen, wenn dieser neben dem Wahlverteidiger noch als Sicherungsverteidiger im Sinne des § 144 StPO benötigt wird.489 Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Bestellung ist gemäß § 144 Abs. 1 StPO, dass dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens – insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit – erforderlich ist. Dies ist etwa anzunehmen, wenn sich abzeichnet, dass der Wahlverteidiger in der Hauptverhandlung nicht ständig anwesend sein kann490 oder die zur reibungslosen Durchführung der Hauptverhandlung erforderlichen Maßnahmen nicht treffen kann oder will.491 Insgesamt hat die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen Wahlverteidiger für den mittellosen Beschuldigten kaum praktische Bedeutung. Zum einen verfügt er nicht über die finanziellen Mittel, um einen Wahlverteidiger mandatieren zu können, zum anderen dürfte von einer Rücknahme der Pflichtverteidigerbestellung häufig gemäß § 141 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StPO abgesehen werden, weil aufgrund der Mittellosigkeit des Beschuldigten zu besorgen ist, dass der Wahlverteidiger das Mandat alsbald wieder niederlegt und die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Für den mittellosen Beschuldigten ist daher die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger von weit größerer Relevanz.492 b) Die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger § 143a Abs. 2 und 3 StPO haben die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger zum Gegenstand. Die Auswechslung des 487 OLG Zweibrücken NStZ 1982, 298 (299); OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 207 (208); OLG Koblenz BeckRS 2018, 34217 Rn. 7; Hilgendorf, NStZ 1996, 1 (2); Radtke/Hohmann-Reinhart, § 143 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 5; kritisch MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 143 Rn. 5; a. A. LR-Jahn, § 143a Rn. 11, der davon ausgeht, dass die mögliche Mittellosigkeit des Beschuldigten nicht von § 143a Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StPO umfasst sei; kritisch zur Regelung des § 143a Abs. 1 S. 2 Alt. 1 StPO Wolf, StraFo 2022, 185 (189). 488 LG Koblenz BeckRS 2012, 14160; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a. Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 5; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 143a Rn. 2. 489 BT-Drucks. 19/13829, S. 46; LR-Jahn, § 143a Rn. 12. 490 OLG Düsseldorf NStZ 1986, 137; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 144 Rn. 3. 491 BGHSt 15, 306 (309); BeckOK/StPO-Krawczyk, § 144 Rn. 3. 492 MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 143 Rn. 1.
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Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger war bisher gesetzlich nicht geregelt.493 Die Rechtsprechung erkennt jedoch eine Reihe von Fällen an, in denen eine Auswechslung des Pflichtverteidigers zu erfolgen hat.494 Eine ausdrückliche Normierung wurde zur Umsetzung des Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie notwendig, der vorsieht, dass Verdächtige und beschuldigte Personen – auf entsprechenden Antrag – das Recht haben, den Rechtsbeistand, der ihnen im Rahmen der Prozesskostenhilfe zugewiesen wurde, auswechseln zu lassen, sofern die konkreten Umstände dies rechtfertigen.495 Neben den in § 143a Abs. 2 und 3 StPO normierten Fällen soll eine Auswechslung des Pflichtverteidigers auch zulässig sein, wenn der Beschuldigte und beide Verteidiger damit einverstanden sind, es dadurch zu keiner Verfahrensverzögerung kommt und auch keine Mehrkosten für die Staatskasse entstehen.496 Weshalb diese Fallgruppe nicht gesetzlich normiert wurde, erschließt sich nicht,497 zumal dies dem gesetzgeberischen Ziel, eine umfassende Regelung zu schaffen,498 zuwiderläuft. aa) § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Voraussetzungen des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO vorliegen. Durch die Vorschrift soll dem Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger seines Vertrauens beziehungsweise seiner Wahl Rechnung getragen werden.499 Eine Auswechslung des Pflichtverteidigers kommt gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 StPO in Betracht, wenn dem Beschuldigten ein anderer als der von ihm innerhalb der Frist des § 142 Abs. 5 S. 1 StPO bezeichnete Verteidiger beigeordnet wurde. Die Vorschrift erfasst die Fälle, in denen der Bestellung des vom Beschuldigten bezeichneten Verteidigers ein wichtiger Grund entgegenstand.500 Aus welchem Grund der vom Beschuldigten bezeichnete Verteidiger nicht bestellt werden konnte, ist für den Tatbestand des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 StPO unerheblich.501
493
BT-Drucks. 19/13829, S. 46. BT-Drucks. 19/13829, S. 46. 495 BT-Drucks. 19/13829, S. 46. 496 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; OLG Karlsruhe NStZ 2016, 305; KG NStZ 2017, 305 (306); OLG Stuttgart BeckRS 2017, 130397 Rn. 7; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 36; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 31. 497 LR-Jahn, § 143a Rn. 3; Pschorr, StraFo 2020, 12 (21). 498 BT-Drucks. 19/13829, S. 44. 499 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 143a Rn. 7; Wohlers, JR 2020, 649 (651). 500 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 9. 501 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; LR-Jahn, § 143a Rn. 17. 494
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Ferner kommt eine Auswechslung des Pflichtverteidigers gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 2 StPO in Fällen in Betracht, in denen dem Beschuldigten zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt wurde, sodass er seine Auswahlentscheidung unter hohem Zeitdruck treffen musste.502 Eine kurze Frist liegt nach der Gesetzesbegründung jedenfalls dann vor, wenn dem Beschuldigten lediglich eine kurze Bedenkzeit eingeräumt wurde.503 Darüber hinaus ist die Angemessenheit der gewährten Frist eine Frage des Einzelfalls.504 Ferner erfasst die Vorschrift auch Fälle, in denen dem Beschuldigten überhaupt keine Zeit zur Auswahl des Pflichtverteidigers eingeräumt wurde oder ein Pflichtverteidiger bereits bestellt wurde, bevor die gesetzte Frist abgelaufen war.505 Keine Anwendung findet § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 2 StPO dagegen, wenn der Beschuldigte trotz Gewährung einer angemessenen Frist keinen Verteidiger bezeichnet hat; die Auswechselmöglichkeiten nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO und § 143a Abs. 3 StPO stehen dem Beschuldigten aber dennoch offen.506 Eine Auswechslung des Pflichtverteidigers gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 oder 2 StPO kann der Beschuldigte nur innerhalb von drei Wochen nach Bekanntmachung der gerichtlichen Entscheidung über die Bestellung beantragen. Der Begriff der gerichtlichen Entscheidung im Sinne des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO umfasst nicht nur den Gerichtsbeschluss, in dem der Pflichtverteidiger bestellt wird, sondern auch die gerichtliche Bestätigung einer Bestellungsentscheidung, die die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Eilzuständigkeit gemäß § 142 Abs. 4 StPO getroffen hat.507 Die Frist innerhalb derer der Beschuldigte die Auswechslung des Pflichtverteidigers beantragen kann wurde erst im Gesetzgebungsverfahren von zwei508 auf drei Wochen verlängert.509 Ausschlaggebend hierfür war, dass eine bloß zweiwöchige Frist – insbesondere in Haftsituationen – für den Beschuldigten als zu kurz angesehen wurde, um entscheiden zu können, ob er im gesamten weiteren Verfahren von dem ihm zunächst beigeordneten Pflichtverteidiger verteidigt werden möchte.510 Ob die Drei-Wochen-Frist allerdings
502 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143a Rn. 8. 503 BT-Drucks. 19/13829, S. 47. 504 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; LR-Jahn, § 143a Rn. 19. 505 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 10; Böhm, StV 2021, 196 (199–200). 506 BT-Drucks. 19/13829, S. 47. 507 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; LR-Jahn, § 143a Rn. 22. 508 Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung sah lediglich eine zweiwöchige Antragsfrist vor, vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 47; kritisch Strafverteidigervereinigungen, Stellungnahme, S. 15; Schlothauer, KriPoZ 2019, 3 (13); Meyer-Mews, ZRP 2019, 5 (7); Schoeller, StV 2019, 190 (199); Wasserburg, GA 2020, 398 (412). 509 BT-Drucks. 19/15151, S. 7. 510 BT-Drucks. 19/15151, S. 7.
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ausreichend ist, ist zu bezweifeln.511 Innerhalb von drei Wochen kann der Beschuldigte kaum beurteilen, ob er dem Pflichtverteidiger, den er nicht selbst gewählt hat, vertraut.512 Das Vertrauen in der Mandatsbeziehung beruht nämlich in erster Linie nicht auf Sympathie, sondern auf der Beistandsleistung des Verteidigers.513 Beistandsleistungen werden im Zeitrahmen von drei Wochen kaum erbracht worden sein.514 Ist der Beschuldigte inhaftiert wird gerade einmal eine erste Haftprüfung erreicht sein.515 Befindet sich der Beschuldigte in Freiheit, wird dem Pflichtverteidiger nach drei Wochen in der Regel noch nicht einmal vollständige Akteneinsicht gewährt worden sein.516 Auch eine eingehende Besprechung mit dem Beschuldigten wird innerhalb dieser Zeit nicht immer möglich gewesen sein.517 Gerade zu Beginn eines Mandats zehrt der Verteidiger von einem Vertrauensvorschuss des Beschuldigten.518 Ob das entgegengebrachte Vertrauen gerechtfertigt war, zeigt sich meist erst im weiteren Verlauf des Verfahrens.519 Auch wenn die Drei-Wochen-Frist zu knapp bemessen ist, ist die Regelung mit den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar.520 Hat der Beschuldigte fristgerecht die Auswechslung des Pflichtverteidigers beantragt, ist ihm der nunmehr bezeichnete Verteidiger zu bestellen, sofern kein wichtiger Grund entgegensteht. Beantragt der Beschuldigte die Bestellung des ursprünglich bezeichneten Verteidigers, kommt eine Bestellung nur in Betracht, wenn der wichtige Grund, der der Bestellung entgegenstand, mittlerweile weggefallen ist.521 Wurde der ursprünglich bezeichnete Verteidiger nur deshalb nicht 511 Kritisch LR-Jahn, § 143a Rn. 21; Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (578); Schoeller, StV 2019, 190 (199); Wolf, StraFo 2022, 185 (189); Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 140 Fn. 663. 512 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18; LR-Jahn, § 143a Rn. 21. 513 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18; LR-Jahn, § 143a Rn. 21; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 140 wirft die Frage auf, ob der Beschuldigte zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage sei, die Qualität der Beistandsleistung zu beurteilen. 514 LR-Jahn, § 143a Rn. 21. 515 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18; LR-Jahn, § 143a Rn. 21. 516 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18; LR-Jahn, § 143a Rn. 21; Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (578); Schoeller, StV 2019, 190 (199). 517 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18; LR-Jahn, § 143a Rn. 21. 518 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18; LR-Jahn, § 143a Rn. 21. 519 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18; LR-Jahn, § 143a Rn. 21. 520 LR-Jahn, § 143a Rn. 21; Pschorr, StraFo 2020, 12 (20); so auch Schlothauer, KriPoZ 2019, 3 (13) bezüglich der ursprünglich vorgesehenen Zwei-Wochen-Frist. 521 BT-Drucks. 19/13829, S. 47; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 9; MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 11.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
bestellt, weil er verhindert oder nicht rechtzeitig erreichbar war, ist eine Auswechslung möglich.522 Waren dagegen bis auf weiteres nicht behebbare Umstände ausschlaggebend – beispielsweise ein Interessenskonflikt – kann der ursprünglich bezeichnete Verteidigers auch weiterhin nicht bestellt werden.523 Steht der Bestellung des vom Beschuldigten nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO bezeichneten Verteidigers ein wichtiger Grund entgegen, wird dem Beschuldigten nicht von Amts wegen ein anderer Pflichtverteidiger bestellt, sondern der bisherige Verteidiger bleibt sein Pflichtverteidiger.524 bb) § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO Gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der anlässlich einer Vorführung vor den nächsten Richter gemäß § 115a StPO bestellte Pflichtverteidiger die Aufhebung seiner Beiordnung aus wichtigem Grund beantragt.525 Ein wichtiger Grund liegt nach dem Gesetzeswortlaut insbesondere vor, wenn die Entfernung zum künftigen Aufenthaltsort des Beschuldigten unzumutbar ist. Dies ist der Fall, wenn aufgrund der Distanz zwischen dem Aufenthaltsort des Beschuldigten und dem Kanzleisitz des beigeordneten Pflichtverteidigers eine sachgerechte Verteidigung mit vertretbarem Aufwand nicht möglich ist.526 Eine solche Konstellation kann etwa eintreten, wenn der Beschuldigte nach Invollzugsetzung des Haftbefehls in eine weit entfernte Justizvollzugsanstalt verbracht wird.527 Als weiteres Beispiel nennt die Gesetzesbegründung den Fall, dass der Beschuldigte unter Fortbestehen eines anderen Grundes notwendiger Verteidigung auf freien Fuß gesetzt wird und sich sodann an einen weit entfernten Aufenthaltsort begibt.528 Darüber hinaus liegt ein wichtiger Grund vor, wenn der Verteidiger zwar für den Vorführungstermin Zeit hat, aber ansonsten mit anderen Mandaten so ausgelastet ist, dass er die weitere Verteidigung nicht übernehmen kann.529 Der Pflichtverteidiger muss den Antrag auf Entpflichtung gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO unverzüglich stellen, nachdem das Verfahren gemäß § 115a StPO beendet ist. Das Verfahren endet mit der Entscheidung des Gerichts über die Invollzugsetzung des Haftbefehls und der erforderlichen Belehrung ge-
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BT-Drucks. 19/13829, S. 47; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 9. BT-Drucks. 19/13829, S. 47; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 9. 524 LR-Jahn, § 143a Rn. 24. 525 Kritisch zur Beschränkung des Auswechselgrundes ausschließlich auf Fälle des § 115a StPO, Pschorr, StraFo 2020, 12 (20). 526 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 15. 527 BT-Drucks. 19/13829, S. 48. 528 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 17. 529 BT-Drucks. 19/13829, S. 48. 523
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mäß § 115a Abs. 3 StPO.530 Wird dem Entpflichtungsantrag entsprochen, gelten gemäß § 143a Abs. 2 S. 2 StPO für die Auswahl des neuen Pflichtverteidigers § 142 Abs. 5 und 6 StPO entsprechend. Der Beschuldigte kann einen Antrag auf Auswechslung des Pflichtverteidigers nicht auf § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO stützen; jedoch werden in den meisten Fällen die Voraussetzungen für eine Auswechslung des Pflichtverteidigers nach § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO vorliegen, da bei einer Vorführung nach § 115a StPO dem Beschuldigten in der Regel lediglich eine kurze Frist zur Auswahl eines Verteidigers gesetzt werden kann oder der vom Beschuldigten bezeichnete Verteidiger nicht verfügbar ist und deshalb ein anderer Verteidiger bestellt wird.531 Die Vorschrift des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO ist mit Blick auf die Prozesskostenhilfe-Richtlinie kritisch zu sehen. Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie fordert eine Möglichkeit zu Auswechslung des Verteidigers nämlich nur auf Antrag des Beschuldigten. Indem § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO dem Verteidiger die Möglichkeit eröffnet die Verteidigung zu beenden, wird dessen Kanzleiorganisation über das Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger seines Vertrauens gestellt.532 cc) § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO normiert zwei bisher gesetzlich nicht geregelte, aber von der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannte, Fallgruppen, in denen der Beschuldigte einen Anspruch auf eine Auswechslung des Pflichtverteidigers hat.533 Wird die Bestellung des Pflichtverteidigers gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO aufgehoben, gelten gemäß § 143a Abs. 2 S. 2 StPO für die Auswahl des neuen Pflichtverteidigers § 142 Abs. 5 und 6 StPO entsprechend. Gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 1 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist. Von einer endgültigen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses ist auszugehen, wenn zu besorgen ist, dass die Verteidigung objektiv nicht mehr sachgerecht geführt werden kann.534 Dies ist aus Sicht eines verständigen Beschuldigten zu 530 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 17; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143a Rn. 11 befürwortet aufgrund einer richtlinienkonformen Auslegung des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO dessen Anwendbarkeit auch dann, wenn sich erst zu einem späteren Zeitpunkt ergibt, dass die Fortführung der Verteidigung unzumutbar ist, sofern der Entpflichtungsantrag unverzüglich gestellt wird, nachdem der Pflichtverteidiger die Unzumutbarkeitsgründe erkennen konnte und erkannt hat. 531 BT-Drucks. 19/13829, S. 47–48; LR-Jahn, § 143a Rn. 28, BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 14. 532 Pschorr, StraFo 2020, 12 (21). 533 BT-Drucks. 19/13829, S. 48. 534 BGHSt 39, 310 (314–315); BGH NStZ 2004, 632 (633); Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 143a Rn. 19.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
beurteilen.535 Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe des Beschuldigten gegen seinen Verteidiger536 rechtfertigen die Auswechslung des Pflichtverteidigers ebenso wenig wie unterschiedliche Auffassungen über die Verteidigungsstrategie.537 Gleiches gilt für ideologische oder politische Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger.538 Dagegen kann die Abgabe einer nicht abgesprochenen Stellungnahme zum Tatvorwurf 539 oder eine Strafanzeige des Verteidigers gegen den Beschuldigten540 zur Zerstörung des Vertrauensverhältnis führen. Die Störung des Vertrauensverhältnisses muss vom Beschuldigten oder seinem Pflichtverteidiger substantiiert dargelegt werden.541 Der Pflichtverteidiger ist gemäß § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO ferner auszuwechseln, wenn aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Dies ist der Fall, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigung, ernstlich gefährden, namentlich dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten.542 Erfasst werden grobe Verstöße des Verteidigers gegen eine ordnungsgemäße Aufgabenwahrnehmung.543 Dies ist etwa zu bejahen, wenn der Pflichtverteidiger sich weigert die Verteidigung zu führen.544 Eine grobe Pflichtverletzung liegt ferner vor, wenn der Verteidiger den
535 BGH NStZ 2004, 632 (633); BGH NStZ 2021, 60; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 20; Theile, StV 2021, 189 (191); kritisch hierzu Böhm, StV 2021, 196 (200). 536 BGH StraFo 2008, 243; OLG Hamburg NStZ 1985, 518; Hillenbrand, ZAP 2020, 99 (110); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 21. 537 KG NStZ-RR 2012, 352 (353); KG BeckRS 2017, 123337 Rn. 11; OLG Köln NStZ-RR 2012, 351; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 21; Meyer-Goßner/SchmittSchmitt, § 143a Rn. 21; a. A. BGH NStZ 1995, 296; BGH NJW 2020, 1534 (1535); OLG Hamm, StV 1982, 510 (511); Lam/Meyer-Mews, NJW 2012, 177 (178–179); MK/StPO-Thomas/Kämpfer, § 143 Rn. 11; SK/StPO-Wohlers, § 143 Rn. 13. 538 OLG Karlsruhe NJW 1978, 1172; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 21; KK/StPO-Willnow, § 143 Rn. 5; SK/StPO-Wohlers, § 143 Rn. 13; a. A. OLG Hamm NJW 1975, 1238 (1238–1239). 539 OLG München StV 2015, 155 (156); LR-Jahn, § 143a Rn. 34, BeckOK/StPOKrawczyk, § 143a Rn. 21. 540 BGHSt 39, 310 (315); LR-Jahn, § 143a Rn. 34. 541 BGHSt 39, 310 (314); BGH NStZ 2021, 60; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 22; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 143a Rn. 11; Theile, StV 2021, 189 (191); kritisch hierzu Böhm, StV 2021, 196 (200–201). 542 BVerfGE 39, 238 (245); OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1997, 77; BeckOK/ StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 25; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 143a Rn. 14. 543 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; Hillenbrand, ZAP 2020, 99 (110); Meyer-Goßner/ Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 26. 544 OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1997, 77; Meyer-Goßner/Schmit-Schmitt, § 143a Rn. 27; Kleinknecht/Müller/Reitberger-Staudinger, § 143a Rn. 14.
B. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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Beschuldigten in einer Haftsache über Monate nicht aufsucht,545 eine nicht mit dem Beschuldigten abgesprochene Sachdarstellung abgibt546 oder sich unberechtigterweise weigert eine Revisionsbegründung zu fertigen.547 Auch eine längerfristige Erkrankung des Pflichtverteidigers548 oder ein gegen ihn verhängtes Berufsverbot549 können ein sonstiger Grund im Sinne des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO sein. Die Auswechslung des Pflichtverteidigers nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO kann auch gegen den Willen des Beschuldigten erfolgen; der Beschuldigte ist jedoch vor der Auswechslung anzuhören.550 Die Regelung des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO ermöglicht es in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte551 einen Verteidiger auszuwechseln, wenn dieser keine wirksame Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet. dd) § 143a Abs. 3 StPO § 143a Abs. 3 StPO ermöglicht die Auswechslung des Pflichtverteidigers für die Revisionsinstanz.552 Hintergrund der Regelung ist, dass insbesondere die Begründung von Verfahrensrügen vertiefte Spezialkenntnisse im Revisionsrecht erfordert, über die nicht jeder Instanzverteidiger verfügt.553 Hinzu kommt, dass der Beschuldigte nach einer Verurteilung in der Tatsacheninstanz sich häufig wünscht, von einem anderen Verteidiger vertreten zu werden.554 Die Vorschrift ist nicht abschließend, sodass daneben auch die Möglichkeit einer Auswechslung des Pflichtverteidigers nach § 143a Abs. 2 StPO besteht.555 545 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2011, 48; LG Ingolstadt BeckRS 2017, 123419 Rn. 15; AG Frankfurt am Main StraFo 2019, 378 (379) m. Anm. Peter. 546 OLG München StV 2015, 155 (156); Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 27. 547 BGH NStZ-RR 2018, 84; BGH StV 2016, 770 (771); OLG Stuttgart StV 2002, 473 (474); OLG Karlsruhe StV 2005, 77; LR-Jahn, § 143a Rn. 40. 548 LR-Jahn, § 143a Rn. 39; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 27; Kleinknecht/ Müller/Reitberger-Staudinger, § 143a Rn. 14. 549 KG BeckRS 2009, 19080; LR-Jahn, § 143a Rn. 40; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 27. 550 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 115; kritisch hierzu Böhm, StV 2021, 196 (199, 201–202); kritisch unter dem Aspekt einer möglichen Fremdkontrolle der Verteidigung BeckOK/StPO-Krawczyk, § 143a Rn. 34; Wolf, StraFo 2022, 185 (190). 551 Vgl. hierzu Erstes Kapitel, I. 552 Kritisch hierzu Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 21 September 2019, S. 19–20. 553 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 32. 554 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143a Rn. 16. 555 BT-Drucks. 19/13829, S. 48; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 143a Rn. 16.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
Die Auswechslung des bisherigen Pflichtverteidigers erfolgt gemäß § 143a Abs. 3 S. 1 StPO nur auf Antrag des Beschuldigten. In dem Antrag ist der neu zu bestellende Verteidiger zu bezeichnen, da eine Auswahl von Amts wegen nicht erfolgt.556 Gemäß § 143a Abs. 3 S. 2 StPO ist der Antrag bei dem Gericht zu stellen, dessen Urteil angefochten wird. Der Antrag muss spätestens binnen einer Woche nach Beginn der Revisionsbegründungsfrist gestellt werden. Damit soll dem Beschuldigten beziehungsweise seinem bisherigen Verteidiger, der vorsorglich Revision eingelegt hat, die Gelegenheit gegeben werden, erst nach Prüfung der Urteilsbegründung und des Protokolls endgültig über einen Verteidigerwechsel zu entscheiden.557 Der Antrag darf nur abgelehnt werden, wenn ein wichtiger Grund – etwa die fehlende Verfügbarkeit des Verteidigers oder ein Interessenkonflikt – entgegensteht.558 Kostenneutralität ist keine Voraussetzung für einen Verteidigerwechsel nach § 143a Abs. 3 S. 1 StPO.559 c) Zwischenergebnis § 143a StPO normiert in weiten Teilen die bereits vor dem Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung geltende Rechtslage zur Auswechslung des Pflichtverteidigers. Die Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen Wahlverteidiger ist Gegenstand des § 143a Abs. 1 StPO. Während § 143a Abs. 1 S. 1 StPO inhaltlich mit § 143 StPO a. F. übereinstimmt, sind nun in § 143a Abs. 1 S. 2 StPO zwei – bereits von der Rechtsprechung anerkannte – Gründe aufgeführt, die einer Auswechslung entgegenstehen. Die Möglichkeit einen Pflichtverteidiger durch einen anderen Pflichtverteidiger auswechseln zu lassen war bislang gesetzlich nicht geregelt, von der ganz herrschenden Meinung jedoch anerkannt. Dies ist nun in § 143a Abs. 2 und 3 StPO normiert. Die gesetzliche Regelung stimmt dabei weitestgehend mit der bisherigen Rechtsprechung überein. Zu bemängeln ist, dass der konsensuale Pflichtverteidigerwechsel, der bereits nach früherer Rechtslage möglich war und auch weiterhin möglich sein soll, gesetzlich nicht geregelt wurde. Durch die Kodifizierung von Tatbeständen zur Auswechslung des Pflichtverteidigers durch einen anderen Pflichtverteidiger in § 143a Abs. 2 und 3 StPO entspricht das deutsche Recht in diesem Punkt den Vorgaben von Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, welcher eine Auswechselmöglichkeit fordert, sofern die konkreten Umstände es rechtfertigen. Ferner trägt die Vorschrift des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Auswechslung eines Verteidigers insofern Rechnung, als sie die Auswechslung eines Verteidigers in Situationen ermöglicht, in denen dieser keine Gewähr für eine effektive Verteidigung des Beschuldigten bietet. 556 557 558 559
BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S. BT-Drucks. 19/13829, S.
49; LR-Jahn, § 143a Rn. 42. 49; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 143a Rn. 33. 49; LR-Jahn, § 143a Rn. 42. 49.
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7. Das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs Sämtliche Entscheidungen über die Pflichtverteidigerbestellung können mit der sofortigen Beschwerde gemäß § 311 StPO angefochten werden.560 Nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO ist die sofortige Beschwerde sowohl gegen die richterliche Bestellung des Pflichtverteidigers als auch deren Ablehnung statthaft.561 Der Ablehnung steht die fehlende Entscheidung über die Beiordnung gleich.562 Ferner kann der Beschuldigte gegen gerichtliche Bestätigungen staatsanwaltschaftlicher Eilentscheidungen sofortige Beschwerde einlegen.563 Ausgeschlossen ist die sofortige Beschwerde gemäß § 142 Abs. 7 S. 2 StPO, wenn der Beschuldigte einen Antrag nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO stellen kann.564 Außerdem ist gemäß § 143 Abs. 3 StPO die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung sowie gemäß § 143a Abs. 4 StPO die Auswechslung des Pflichtverteidigers mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar. Nach früherer Rechtslage konnte der Beschuldigte in diesen Fällen (einfache) Beschwerde einlegen.565 Indem durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung anstelle der fristungebundenen Beschwerde nunmehr die fristgebundene sofortige Beschwerde als statthafter Rechtsbehelf normiert wurde, soll schneller Klarheit über die Bestellung herrschen und Verfahrensverzögerungen vermieden werden.566 Die sofortige Beschwerde muss gemäß § 311 Abs. 2 StPO innerhalb von einer Woche ab Bekanntmachung der Entscheidung beim judex a quo eingelegt werden. Beschwerdeberechtigt sind der Beschuldigte, sofern eine Beschwer vorliegt, sowie die Staatsanwaltschaft.567 Dem Pflichtverteidiger steht weder gegen die Ablehnung seiner Bestellung568 noch gegen die Aufhebung einer ursprünglich erfolgten Bestellung569 ein eigenes Beschwerderecht zu. Der Pflichtverteidiger ist jedoch
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LR-Jahn, § 140 Rn. 132. BT-Drucks. 19/13829, S. 44; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 49. 562 LG Magdeburg NStZ-RR 2009, 87; LG Dresden StV 2016, 489; LR-Jahn, § 140 Rn. 138; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 49; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 62; Spitzer, StV 2020, 418 (424). 563 BT-Drucks. 19/13829, S. 44; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 49; MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 62. 564 Kritisch LR-Jahn, § 140 Rn. 133. 565 BT-Drucks. 19/13829, S. 43; umstritten war allerdings, ob dies auch noch für den Zeitraum nach Beginn der Hauptverhandlung galt, vgl. hierzu LR-Jahn, § 140 Rn. 129; SK/StPO-Wohlers, § 141 Rn. 33. 566 BT-Drucks. 19/13829, S. 44; Müller-Jacobsen, NJW 2020, 575 (578). 567 BT-Drucks. 19/13829, S. 43–44; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 53; MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 63; Wohlers, JR 2020, 649 (657). 568 OLG Hamburg NJW 1978, 1172; OLG Köln NStZ 1982, 129; BeckOK/StPOKrawczyk, § 142 Rn. 53; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 142 Rn. 63. 569 BGH NJW 2020, 3331 m. zust. Anm. Lammer; LR-Jahn, § 140 Rn. 145; MeyerGoßner/Schmitt-Schmitt, § 143 Rn. 9. 561
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
beschwerdeberechtigt, wenn eine von ihm beantragte Entpflichtung abgelehnt wird.570 Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit Einführung der sofortigen Beschwerde Art. 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie Rechnung getragen werden, der die Einführung wirksamer Rechtsbehelfe vorsieht.571 Auf der einen Seite wird durch die Fristgebundenheit der sofortigen Beschwerde erreicht, dass schnell Klarheit über die Bestellung herrscht.572 Auf der anderen Seite hat die kurze Beschwerdefrist zur Folge, dass die sofortige Beschwerde kaum effektiv vorbereitet werden kann; insbesondere wenn sich der Beschuldigte nicht in Freiheit befindet.573 Darüber hinaus hat die Angreifbarkeit mit der sofortigen Beschwerde zur Folge, dass die Revision gemäß § 336 S. 2 StPO – entgegen der früheren Rechtslage – ausgeschlossen ist.574 Indem das deutsche Recht dem Beschuldigten die Möglichkeit eröffnet sämtliche Entscheidungen über die Bestellung, Aufhebung und Auswechslung des Pflichtverteidigers mit der sofortigen Beschwerde anzugreifen, steht ihm wie von der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gefordert, ein wirksamer Rechtsbehelf zu. 8. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf einen Pflichtverteidiger Der Beschuldigte ist vor der ersten richterlichen Vernehmung gemäß § 136 Abs. 1 S. 5 StPO darüber zu belehren, dass er unter den Voraussetzungen des § 140 StPO die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Abs. 1 StPO und des § 142 Abs. 1 StPO beantragen kann. Eine solche Belehrungspflicht besteht gemäß § 163a Abs. 3 S. 2 StPO in Verbindung mit § 136 Abs. 1 S. 5 StPO auch bei der ersten staatsanwaltlichen und gemäß § 163a Abs. 4 S. 2 StPO in Verbindung mit § 136 Abs. 1 S. 5 StPO bei der ersten polizeilichen Vernehmung. Ferner ist eine Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 58 Abs. 2 S. 5 StPO vor jeder Gegenüberstellung und gemäß § 114b Abs. 2 S. 1 Nr. 4a StPO unverzüglich nach einer Verhaftung vorgeschrieben.
570 BGH NJW 2020, 1534 m. zust. Anm. Mehle/Mehle; ebenfalls mit zust. Anm. Gubitz, NStZ 2020, 436–438; LR-Jahn, § 140 Rn. 145; Theile, StV 2021, 189 (195); Wohlers, JR 2020, 649 (658). 571 BT-Drucks. 19/13829, S. 43. 572 BT-Drucks. 19/13829, S. 44; LR-Jahn, § 140 Rn. 135; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 142. 573 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 18–19; LRJahn, § 140 Rn. 136; BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 48; Wolf, StraFo 2022, 185 (190). 574 BT-Drucks. 19/13829, S. 49; kritisch hierzu BeckOK/StPO-Krawczyk, § 142 Rn. 57; Wolf, StraFo 2022, 185 (190); zurückhaltender LR-Jahn, § 140 Rn. 151.
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Die Belehrung hat unabhängig davon zu erfolgen, ob bereits zum Zeitpunkt der Belehrung ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt oder sich ein solcher bereits absehen lässt.575 Hierfür spricht nicht nur der Wortlaut der Belehrungsvorschriften, sondern auch der Umstand, dass gerade bei polizeilichen Vernehmungen der Vernehmungsbeamte nicht prüfen kann, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt.576 Hinsichtlich der Belehrung besteht eine Dokumentationspflicht.577 Die Belehrung muss sowohl einen Hinweis auf das Antragsrecht des Beschuldigten gemäß § 141 Abs. 1 StPO als auch auf den Adressaten des Antrags im Sinne des § 142 Abs. 1 StPO beinhalten.578 Bei einer Belehrung anlässlich einer Vernehmung ist der Beschuldigte gemäß § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO ferner auf die nach § 465 StPO bestehende Pflicht zur Kostentragung im Fall einer Verurteilung hinzuweisen. Durch den Hinweis auf die Kostenfolge des § 465 StPO kann beim Beschuldigten der unzutreffende Eindruck entstehen, er könne, indem er auf einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers verzichte, Kosten sparen, was allerdings nicht zutrifft, wenn er im Anschluss an seine Vernehmung dem Haftrichter vorgeführt wird oder ihm aus einem sonstigen Grund ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist.579 Zudem suggeriert der Hinweis auf die Kostenfolge des § 465 StPO, dass der Beschuldigte, selbst wenn er mittellos ist, bei einer Verurteilung auf jeden Fall die Kosten des Pflichtverteidigers tragen müsse, obwohl der Beschuldigte im Fall der Mittellosigkeit durch Vollstreckungsschutzvorschriften vor einer Beitreibung der Kosten geschützt ist.580 Der Hinweis ist daher irreführend und gibt die Rechtslage bezüglich der Kostentragung nur unvollständig wieder. Dass ein Beschuldigter aufgrund des ihm vermittelten Kostenrisikos auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers verzichtet, widerspricht dem Ziel der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, mittellosen Beschuldigten unabhängig von ihren fi575 Ahlbrecht/Fleckenstein, StV 2019, 661 (662); SK/StPO-Rogall, § 136 Rn. 58; MK/StPO-Schuhr, § 136 Rn. 37; unter Bezugnahme auf den Wortlaut der Vorschrift, äußert die Bundesrechtsanwaltskammer Bedenken, dass die Belehrungspflicht unter dem Vorbehalt steht, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, vgl. Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 7. 576 HK/StPO-Ahlbrecht, § 136 Rn. 30; SK/StPO-Rogall, § 136 Rn. 58. 577 Die Dokumentationspflicht ergibt sich für richterliche Vernehmungen aus § 168a Abs. 1 S. 1 StPO. Bei staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen sowie bei Gegenüberstellungen schreibt § 168b Abs. 3 S. 1 StPO eine Dokumentationspflicht vor. Im Fall einer Verhaftung ist die Belehrung gemäß § 114b Abs. 1 S. 4 StPO zu dokumentieren. 578 Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 136 Rn. 11a; Kraft/Girkens, NStZ 2021, 454 (456). 579 Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme Nr. 36/2019, S. 9; BeckOK/StPOKrawczyk, § 141 Rn. 9; Wolf, StraFo 2022, 185 (187). 580 Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme Nr. 36/2019, S. 8; Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 8; Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (62).
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nanziellen Mitteln Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten.581 Zudem konterkariert der Hinweis auf die Kostentragung die Prozesskostenhilfe-Richtlinie insoweit, als Erwägungsgrund 8 der Prozesskostenrichtlinie, eine Beteiligung des Beschuldigten an den Kosten der Verteidigung von dessen finanziellen Möglichkeiten abhängig macht.582 Um eine der Prozesskostenhilfe-Richtlinie entsprechende Rechtslage herzustellen, ist entweder der Hinweis auf die Kostenfolge des § 465 StPO zu streichen583 oder ein Hinweis auf den bestehenden Vollstreckungsschutz aufzunehmen.584 Umstritten ist, ob das Unterbleiben der gesetzlich vorgeschriebenen Belehrung über das Recht auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu einem Beweisverwertungsverbot führt. Wurde der Beschuldigte entgegen § 136 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO nicht oder nur unzureichend über sein Verteidigerkonsultationsrecht gemäß § 137 StPO belehrt, hat dies nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – sofern der Verwertung rechtzeitig widersprochen wird – ein Beweisverwertungsverbot zur Folge.585 Dagegen verneinte der Bundesgerichtshof bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 S. 5 StPO a. F., der vorsah, dass der Beschuldigte unter den Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO a. F. die Bestellung eines Verteidigers nach Maßgabe der § 141 Abs. 1 und 3 StPO a. F. beanspruchen könne, ein Beweisverwertungsverbot.586 Weder dem Gesetz, das Art. 3 Abs. 1 lit. b der Belehrungs-Richtlinie umsetzt, noch den Gesetzgebungsmaterialien noch der Belehrungs-Richtlinie selbst lasse sich entnehmen, dass eine Verletzung der Belehrungspflicht ein Verwertungsverbot nach sich ziehen müsse.587 Zudem bleibe die Verletzung der Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 5 StPO a. F. in ihrer Bedeutung hinter derjenigen nach § 136 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO zurück, da letztere die grundsätzliche Zugangsmöglichkeit zu einem Verteidiger als solche betreffe und damit konstitutiv für die Rechtsstellung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt sei.588 Die Regelungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers, die nicht absolut gelten und vom Vorliegen der in § 140 Abs. 1 und 2 StPO genannten Voraussetzungen abhängig sind, seien 581
Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme Nr. 36/2019, S. 10. Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 8. 583 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 21 September 2019, S. 12; Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme Nr. 36/2019, S. 10; Schlothauer/Neuhaus/ Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (62). 584 Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 1 Januar 2019, S. 8; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 154. 585 BGHSt 47, 172 (174); BGH NStZ 2008, 55 (56); OLG Hamm NStZ-RR 2006, 47; HK/StPO-Ahlbrecht, § 136 Rn. 47; KK/StPO-Diemer, § 136 Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 136 Rn. 21. 586 BGH NStZ 2018, 671 (671–672); BGH BeckRS 2020, 1419 Rn. 6. 587 BGH NStZ 2018, 671. 588 BGH NStZ 2018, 671. 582
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damit nicht vergleichbar.589 Zudem könne der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren – da er kein eigenes Antragsrecht auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers habe – lediglich anregen, dass die Staatsanwaltschaft von ihrem Antragsrecht Gebrauch macht.590 Die Verneinung eines Verwertungsverbots wird zu Recht kritisiert.591 Sowohl Erwägungsgrund 36 der Belehrungs-Richtlinie592 als auch Art. 8 Abs. 2 der Belehrungs-Richtlinie593 streiten für ein Verwertungsverbot.594 Ferner spricht für die Annahme eines Verwertungsverbots bei einem Verstoß gegen § 136 Abs. 1 S. 5 StPO, dass ein solches auch bei einer Unterlassenen Belehrung nach § 136 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 StPO bejaht wird und beide Vorschriften letztlich das Recht auf Verteidigerbeistand zum Gegenstand haben.595 Schließlich ist ein Verwertungsverbot auch deshalb geboten, weil sich ein Verstoß gegen § 136 Abs. 1 S. 5 StPO für den mittellosen Beschuldigten, der auf die Pflichtverteidigung und die Kenntnis darüber angewiesen ist, als genauso gravierend darstellt, wie für einen begüterten Beschuldigten ein fehlender Hinweis auf das Verteidigerkonsultationsrecht. Sprachen die besseren Gründe bereits im Rahmen der alten Rechtslage für ein Beweisverwertungsverbot, gilt dies umso mehr für die jetzige Rechtslage.596 Durch die Schaffung eines eigenen Antragsrechts des Beschuldigten ist der Argumentation des Bundesgerichtshofs teilweise der Boden entzogen. Ferner bringen die Prozesskostenhilfe-Richtlinie und das Gesetz zur Neuregelung der Pflichtverteidigung die gestiegene Bedeutung des Rechts auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zum Ausdruck und stellen das Recht auf Bei589
BGH NStZ 2018, 671. BGH NStZ 2018, 671. 591 Vgl. Ahlbrecht/Fleckenstein, StV 2019, 661–664; Satzger/Schluckebier/Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 55; Jäger, NStZ 2018, 672–673; Kudlich, JA 2018, 792– 794; Neuhaus, in: FS-Schlothauer, S. 245–259; Ransiek, StV 2019, 160–162. 592 Erwägungsgrund 36 der Belehrungs-Richtlinie lautet: „Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte sollten das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder eine etwaige Verweigerung der Belehrung oder Unterrichtung oder der Offenlegung von bestimmten Unterlagen gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach dem innerstaatlichen Recht anzufechten. Dieses Recht zieht nicht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach sich, ein besonderes Rechtsbehelfsverfahren, einen gesonderten Mechanismus oder ein Beschwerdeverfahren vorzusehen, in dessen Rahmen das Versäumnis oder die Verweigerung angefochten werden kann.“ 593 Art. 8 Abs. 2 der Belehrungs-Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“ 594 Jäger, NStZ 2018, 672 (673); Neuhaus, in: FS-Schlothauer, S. 245 (257). 595 Neuhaus, in: FS-Schlothauer, S. 245 (257); MK/StPO-Schuhr, § 136 Rn. 38. 596 So auch Ahlbrecht/Fleckenstein, StV 2019, 661 (664); Satzger/Schluckebier/ Widmaier/StPO-Beulke, § 141 Rn. 55; Jahn/Zink, StraFo 2019, 318 (328). Der Bundesgerichtshof tendiert offensichtlich dazu, dass aus einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 S. 5 StPO auch nach der neuen Rechtslage kein Beweisverwertungsverbot folgt, vgl. BGH NJW 2022, 2126 (2128). 590
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stand eines Pflichtverteidigers mit dem Recht auf Verteidigerbeistand auf eine Stufe. Aus diesen Gründen führt ein Verstoß gegen § 136 Abs. 1 S. 5 StPO, wenn tatsächlich ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag597 und sofern der Verwertung rechtzeitig widersprochen wurde, zu einem Verwertungsverbot. Die Vorschriften zur Belehrung des mittellosen Beschuldigten über sein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand entsprechen weitestgehend den EMRKrechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben. Allerdings ist die in § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO normierte Pflicht, den Beschuldigten auf die Kostenfolge des § 465 StPO hinzuweisen, ist mit Blick auf die Prozesskostenhilfe-Richtlinie problematisch. Die Pflicht, auf die Kostenfolge des § 465 StPO hinzuweisen, ist zu streichen oder um eine Hinweispflicht auf den bestehenden Vollstreckungsschutz zu ergänzen. Ein Verstoß gegen die Belehrungsvorschriften, muss ein Verwertungsverbot nach sich ziehen. 9. Die finanziellen Aspekte der Pflichtverteidigung Durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung sind die Bestimmungen zu den finanziellen Aspekten der Pflichtverteidigung nahezu unverändert geblieben. a) Die Kostentragung im Rahmen der Pflichtverteidigung Die Kosten der Pflichtverteidigung trägt – zumindest vorerst – der Staat.598 Der Pflichtverteidiger hat gemäß § 45 Abs. 3 RVG einen unmittelbaren Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse.599 Als Auslage der Staatskasse zählt die Pflichtverteidigervergütung gemäß § 464a Abs. 1 S. 1 StPO in Verbindung mit §§ 1, 3 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nr. 9007 Kostenverzeichnis GKG zu den Verfahrenskosten. Wer die Verfahrenskosten und damit auch die Vergütung des Pflichtverteidigers schlussendlich zu tragen hat, ist vom Ausgang des Strafverfahrens abhängig. Bei einer Verurteilung hat der Beschuldigte gemäß § 465 Abs. 1 StPO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Im Falle eines Teilfreispruches oder einer Teileinstellung hat der Beschuldigte die Kosten nur soweit zu tragen, wie er verurteilt wurde.600 Wird der Beschuldigte freigesprochen oder die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt, fallen die Verfahrenskosten ge597 SK/StPO-Rogall, § 136 Rn. 96; zustimmend HK/StPO-Ahlbrecht, § 136 Rn. 47; a. A. MK/StPO-Schuhr, § 136 Rn. 63, der nur darauf abstellt, ob aus einer ex-ante-Sicht die Notwendigkeit der Verteidigung möglich erschien. 598 Zink, Autonomie und Strafverteidigung zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, S. 213. 599 Sofern der Pflichtverteidiger gemäß 142 Abs. 4 S. 1 StPO von der Staatsanwaltschaft bestellt wurde, ergibt sich der Vergütungsanspruch des Pflichtverteidigers gegen die Staatskasse aus § 59a Abs. 1 S. 1 RVG in Verbindung mit § 45 Abs. 3 RVG. 600 KK/StPO-Gieg, § 465 Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, § 465 Rn. 9.
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mäß § 467 Abs. 1 StPO der Staatskasse zur Last. Gleiches gilt gemäß § 467 Abs. 1 StPO, wenn das Verfahren nach Anklageerhebung eingestellt wird. Wird das Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt fallen die Verteidigerkosten als Teil der Verfahrenskosten der Staatskasse zur Last.601 Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist damit für den Beschuldigten – sofern er verurteilt wird – „wirtschaftlich kein Geschenk, sondern ein Darlehn“.602 Ist der Beschuldigte zur Kostentragung verpflichtet, darf dies nur im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit geschehen. Der mittellose Beschuldigte wird durch die Pfändungsschutzvorschriften der Zivilprozessordnung, die § 6 Abs. 1 Nr. 1 JBeitrG für entsprechend anwendbar erklärt, geschützt.603 Darüber hinaus wird der mittellose Beschuldigte dadurch geschützt, dass gemäß § 5 Abs. 1 GKG Ansprüche auf Zahlung von Kosten in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das Verfahren durch rechtskräftige Entscheidung über die Kosten beendet ist, verjähren. Im Jahr 2018 beliefen sich die staatlichen Aufwendungen für Pflichtverteidigungen auf 252 Millionen Euro.604 Nur circa 20 % der vom Staat gezahlten Pflichtverteidigerkosten können später vom Beschuldigten zurückerlangt werden.605 Neben dem Anspruch gegen die Staatskasse hat der Pflichtverteidiger gemäß § 52 Abs. 1 S. 1 RVG auch einen (ergänzenden)606 Vergütungsanspruch gegen den Beschuldigten in Höhe der Wahlverteidigergebühren. Ein solcher Anspruch besteht gemäß § 52 Abs. 2 S. 1 RVG allerdings nur, wenn dem Beschuldigten ein Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse zusteht oder gerichtlich dessen Leistungsfähigkeit festgestellt worden beziehungsweise zu vermuten ist.607 Die Leistungsfähigkeit des Beschuldigten ist gemäß § 52 Abs. 2 S. 1 RVG zu bejahen, 601 LR-Graalmann-Scheerer, § 170 Rn. 49; KK/StPO-Moldenhauer, § 170 Rn. 30; SK/StPO-Wohlers/Albrecht, § 170 Rn. 59. 602 Dolph, AnwBl 1972, 67 (68). 603 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 353; Zink, Autonomie und Strafverteidigung zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, S. 214; Schlothauer, StV 2018, 169 (171), fordert, dass bereits in der Strafprozessordnung klargestellt werden müsse, dass der Beschuldigte nur dann auf Rückerstattung der Kosten des Pflichtverteidigers in Anspruch genommen werden dürfe, wenn er hierzu aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Situation in der Lage sei; dies dürfe nicht Justizbeitreibungsordnungen und Pfändungsschutzvorschriften überlassen bleiben. 604 Kilian/Dreske, Statistisches Jahrbuch der Anwaltschaft 2019/2020, S. 236. In der Statistik wurden jedoch keine Rückzahlungen, die aus der Realisierung von Kostenerstattungsansprüchen in Folge einer Verurteilung resultieren, berücksichtigt; vgl. Kilian/ Dreske, Statistisches Jahrbuch der Anwaltschaft 2019/2020, S. 218. 605 Redaktion, ZAP 2018, 971. 606 Sofern die Staatskasse bereits die Kosten übernommen hat, vgl. § 52 Abs. 1 S. 2 RVG. 607 Mayer/Kroiß-Kießling, § 45 Rn. 45; BeckOK/RVG-Sommerfeldt/Sommerfeldt, § 52 Rn. 7–8.
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wenn er ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie notwendigen Unterhalts in der Lage ist, den Vergütungsanspruch zu erfüllen.608 Die Regelung, dass die Kosten der Pflichtverteidigung nur vorübergehend vom Staat getragen werden und bei einer Verurteilung vom Beschuldigten erstattet werden müssen, ist mit den Vorgaben der Europäische Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – die jeweils keine endgültige Kostentragung durch den Staat vorschreiben – vereinbar. b) Die Vergütung des Pflichtverteidigers § 45 Abs. 3 RVG normiert den Vergütungsanspruch des Pflichtverteidigers gegen die Staatskasse. Die Höhe der von der Staatskasse zu zahlenden Vergütung ergibt sich grundsätzlich aus § 48 Abs. 6 RVG und aus dem Vergütungsverzeichnis.609 Die Gebühren, die der Pflichtverteidiger erhält, sind als Festgebühren ausgestaltet.610 Der Pflichtverteidiger kann gemäß § 51 Abs. 1 RVG für das ganze Verfahren oder für einzelne Verfahrensabschnitte die Festsetzung einer Pauschgebühr beantragen, falls ihm die im Vergütungsverzeichnisses bestimmten Gebühren wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit nicht zumutbar sind. Für die entstandenen Gebühren und die entstandenen und voraussichtlich entstehenden Auslagen kann der Pflichtverteidiger gemäß § 47 Abs. 1 S. 1 RVG aus der Staatskasse einen angemessenen Vorschuss fordern. Die Vergütung des Pflichtverteidigers bleibt häufig hinter der eines Wahlverteidigers zurück.611 So beträgt die dem Pflichtverteidiger zustehende Festgebühr lediglich 80 % der Mittelgebühr eines Wahlverteidigers.612 Die Vergütung des Wahlverteidigers richtet sich in der Praxis häufig nach einer Vergütungsvereinbarung im Sinne des § 3a RVG.613 In den meisten Fällen wird eine Pauschalvergütung oder ein Zeithonorar vereinbart.614 Sofern keine Vergütungsvereinbarung getroffen wurde, richtet sich die Höhe der Wahlverteidigervergütung nach den Gebührensätzen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes. Die Gebühren im Bereich der Wahlverteidigung sind ganz überwiegend als Betragsrahmengebühren ausgestaltet, das heißt sie bestimmen lediglich einen Mindest- und Höchstbetrag.615 608 Mayer/Kroiß-Kroiß, § 52 Rn. 15; BeckOK/RVG-Sommerfeldt/Sommerfeldt, § 52 Rn. 8. 609 Leipold, Anwaltsvergütung in Strafsachen, Rn. 260. 610 Leipold, Anwaltsvergütung in Strafsachen, Rn. 258. 611 Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch – US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 107. 612 BT-Drucks. 15/1971, S. 220; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 163. 613 Mayer/Kroiß-Winkler/Teubel, § 3a Rn. 4; Leipold, Anwaltsvergütung in Strafsachen, Rn. 86; Seeber, JA 2011, 381. 614 BeckOK/RVG-v. Seltmann, § 3a Rn. 1. 615 Mayer/Kroiß-Winkler, § 14 Rn. 5.
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Der Wahlverteidiger hat gemäß § 14 Abs. 1 RVG unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit, der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers sowie des Haftungsrisikos die in Ansatz zu bringende Gebühr zu ermitteln. In der Praxis wird häufig die Mittelgebühr veranschlagt.616 In konkreten Zahlen stellt sich die unterschiedliche Vergütung des Wahl- und des Pflichtverteidigers zum Beispiel wie folgt dar: Während ein Wahlverteidiger im ersten Rechtszug vor dem Amtsgericht eine Grundgebühr von 44 bis 396 Euro (Mittelgebühr 220 Euro), eine Verfahrensgebühr von 44 bis 319 Euro (Mittelgebühr 181,50 Euro) und eine Terminsgebühr von 77 bis 528 Euro (Mittelgebühr 302,50 Euro) erhält, steht dem Pflichtverteidiger lediglich eine Grundgebühr von 176 Euro, eine Verfahrensgebühr von 145 Euro und eine Terminsgebühr von 242 Euro zu.617 Legt man die Mittelgebühr zugrunde verdient der Pflichtverteidiger 141 Euro weniger als der Wahlverteidiger. Hat der Wahlverteidiger mit dem Beschuldigten eine Vergütungsvereinbarung getroffen, ist der Unterschied in der Bezahlung sogar noch größer.618 Die unterschiedliche Vergütung von Wahl- und Pflichtverteidigern wird zu Recht seit Jahren kritisiert.619 Der Arbeitsaufwand ist nämlich unabhängig davon, ob es sich um ein Pflichtverteidiger- oder ein Wahlverteidigermandat handelt, gleich groß.620 Allein der Umstand, dass sich der Vergütungsanspruch bei der Pflichtverteidigung gegen die Staatskasse und damit einen solventen Schuldner richtet, rechtfertigt die unterschiedliche Vergütung nicht. Mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG erscheint die unterschiedliche Vergütung von Wahl- und Pflichtverteidigern daher verfassungsrechtlich bedenklich.621 Allerdings ist nicht nur die unterschiedliche Vergütung zu kritisieren, sondern auch die Höhe der Gebühren an sich.622 Führt man sich vor Augen, dass Wahlverteidiger häufig Vergütungsvereinbarungen schließen, weil die Wahlverteidigergebühren nicht immer ein kostendeckendes Arbeiten ermöglichen, können die dem Pflichtverteidiger zustehenden Gebühren erst recht nicht kosten616
Seeber, JA 2011, 381 (382); Mayer/Kroiß-Winkler, § 14 Rn. 39. Vgl. Nr. 4100, Nr. 4106 und Nr. 4108 VV RVG. 618 Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch – US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 107–108. 619 Haffke, StV 1981, 471 (478); Rieß, StV 1981, 460 (462); Welp, ZStW 90 (1978), 101 (110); Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, S. 408. 620 Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch – US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 107; Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 408; Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, S. 408. 621 So auch Wolf, Das System des Rechts der Strafverteidigung, S. 409 Fn. 105; Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 407–410, verneint dagegen einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. 622 Schoeller, StV 2019, 190 (199) fordert ebenfalls eine Erhöhung der Gebühren. 617
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deckend sein. Eine Pflichtverteidigung wird daher in vielen Fällen zum Nullsummenspiel, wenn nicht sogar zu einem Verlustgeschäft.623 Dies birgt die Gefahr in sich, dass der Verteidiger lukrativeren Wahlverteidigermandaten mehr Aufmerksamkeit widmet als den deutlich schlechter vergüteten Pflichtverteidigermandaten und damit mittellose Beschuldigte eine qualitativ schlechtere Verteidigung erhalten als Beschuldigte, die sich einen Wahlverteidiger leisten können.624 Um dies auszuschließen ist die Vergütung von Wahl- und Pflichtverteidigern anzugleichen. Da aber auch die Gebühren eines Wahlverteidigers nicht üppig bemessen sind,625 müssen die Gebühren auch generell angehoben werden. Schließlich muss das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz und das Vergütungsverzeichnis um die Tätigkeitsbereiche ergänzt werden, die durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung geschaffen wurden.626 Insbesondere muss die Vergütung des Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren dem Aufgabenzuwachs in diesem Bereich angepasst werden.627 Die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundrechtecharta und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie enthalten keine Bestimmung über die Höhe der Vergütung des Verteidigers, sodass die deutsche Regelung diesen Vorschriften unmittelbar nicht widersprechen kann. Indirekt kann sich die unzureichende Vergütung von Pflichtverteidigern jedoch auf die Qualität der Beistandsleistung und damit die Wirksamkeit der Verteidigung auswirken. Dies würde das Recht auf eine effektive Verteidigung, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie garantiert wird, beeinträchtigen. Darüber hinaus ist die unterschiedliche Vergütung von Wahlund Pflichtverteidigern verfassungsrechtlich nicht haltbar.
II. Der Anspruch auf Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz Durch die Gewährung von Beratungshilfe soll sichergestellt werden, dass niemand aus finanziellen Gründen daran gehindert wird, sich außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens juristisch beraten zu lassen.628 Damit gewährleistet neben 623 Dolph, AnwBl 1972, 67; Müller-Jacobsen, ZRP 2019, 30; Zöller, in: FG-Feigen, S. 399 (408); Graalmann-Scheerer, StV 2011, 696 (700), bezeichnet die Vergütung des Pflichtverteidigers als „ausgesprochen niedrig“. 624 Bohnhorst, Das Institut der Pflichtverteidigung im deutsch – US-amerikanischen Rechtsvergleich, S. 108; Müller-Jacobsen, ZRP 2019, 30; Zöller, in: FG-Feigen, S. 399 (408); Schoeller, StV 2019, 190 (199) sieht in einer Erhöhung der Pflichtverteidigergebühren die Möglichkeit eine qualitativ bessere Verteidigung sicherzustellen. 625 Leipold, Anwaltsvergütung in Strafsachen, Rn. 258. 626 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 359. 627 Bannehr, Der europäische Pflichtverteidiger, S. 359; Neue Richtervereinigung, Stellungnahme, S. 2. 628 BT-Drucks. 8/3311, S. 1.
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199
dem Institut der notwendigen Verteidigung auch das Beratungshilfegesetz dem mittellosen Beschuldigten in begrenztem Umfang das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Im Folgenden soll untersucht werden, ob die Defizite, die bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand durch das Institut der notwendigen Verteidigung herausgearbeitet wurden, durch den Anspruch auf Beratungshilfe hinreichend kompensiert werden. Um dies beurteilen zu können, muss zunächst dargelegt werden, unter welchen tatbestandlichen Voraussetzungen (1.) und in welchem Umfang (2.) ein Anspruch auf Beratungshilfe besteht. Des Weiteren ist für eine vollständige Beurteilung ein Eingehen auf die finanziellen Aspekte der Beratungshilfe unerlässlich (3.). 1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Beratungshilfe Die Gewährung von Beratungshilfe ist gemäß § 1 Abs. 1 BerHG tatbestandlich an mehrere Voraussetzungen geknüpft. Zunächst wird Beratungshilfe nur auf Antrag gewährt. Der Antrag muss die formellen Voraussetzungen des § 4 BerHG erfüllen. Des Weiteren kann Beratungshilfe nur außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens bewilligt werden. Da mit Erhebung der Anklage beziehungsweise der Zustellung des Strafbefehls das gerichtliche Verfahren beginnt,629 kann dem Beschuldigten ab diesem Zeitpunkt keine Beratungshilfe mehr gewährt werden, selbst wenn ihm kein Pflichtverteidiger bestellt wird.630 Vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens, insbesondere im Ermittlungsverfahren, ist die Gewährung von Beratungshilfe dagegen möglich.631 Allerdings nur solange, wie dem Beschuldigten noch kein Pflichtverteidiger bestellt wurde; allein die Möglichkeit, dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren einen Pflichtverteidiger zu bestellen, steht der Gewährung von Beratungshilfe jedoch nicht entgegen.632 Schon die Beschränkung der Beratungshilfe auf das Ermittlungsverfahren führt dazu, dass das Beratungshilfegesetz dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nicht in ausreichender Form gewährleistet.633 Zudem müssen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1–3 BerHG erfüllt sein. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 BerHG muss der Rechtsuchende die erforderlichen finanziellen Mittel nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen können. Dies ist gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 BerHG der Fall, wenn dem Recht629 Duman, Rpfleger 2011, 189 (191); Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, Rn. 1127; Lissner, Rpfleger 2014, 637 (639); ähnlich auch Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 40, der auf die Aufforderung des Beschuldigten zur Erklärung über die Anklageschrift abstellt. 630 Duman, Rpfleger 2011, 189 (191); Lissner, Rpfleger 2014, 637 (639). 631 Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 40. 632 Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, Rn. 1127; Groß, § 2 BerHG Rn. 18; Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 40. 633 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 190.
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
suchenden Prozesskostenhilfe nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung ohne einen eigenen Beitrag zu den Kosten zu gewähren wäre. Diese dynamische Verweisung nimmt nur bezüglich der wirtschaftlichen Bedürftigkeit auf die Zivilprozessordnung Bezug, sodass allein § 115 ZPO Anwendung findet.634 Während § 115 Abs. 1 und 2 ZPO die Berechnung des einzusetzenden Einkommens regeln, normiert § 115 Abs. 3 ZPO, inwiefern Vermögen einzusetzen ist.635 Demnach muss sich das einzusetzende Nettoeinkommen auf unter 20 Euro belaufen und verwertbares Vermögen darf nicht vorhanden sein.636 Hinsichtlich des Vermögens besteht gemäß § 115 Abs. 3 ZPO in Verbindung mit § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII in Verbindung mit § 1 S. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Barbetragsverordnung) ein Freibetrag von 5.000 Euro. Diese Regelung schließt einen großen Teil der ärmeren Bevölkerung von der Beratungshilfe aus, die nach den Maßstäben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta einen Anspruch auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand hätten. Auch aufgrund dieser Diskrepanz gewährleistet das Beratungshilfegesetz dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nicht in ausreichender Form. Ferner darf gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG keine andere Möglichkeit für eine Hilfe zur Verfügung stehen, deren Inanspruchnahme dem Rechtsuchenden zumutbar ist. Die Möglichkeit, sich durch einen Rechtsanwalt unentgeltlich oder gegen Vereinbarung eines Erfolgshonorars beraten oder vertreten zu lassen, stellt nach § 1 Abs. 2 S. 2 BerHG keine andere Möglichkeit der Hilfe im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG. Der Rechtssuchende muss sich auch nicht auf eine alternative Hilfemöglichkeit verweisen lassen, die Kosten verursacht, welche die der Nr. 2500 VV RVG übersteigen.637 Alternative Beratungsmöglichkeiten können bei den Amtsgerichten eingerichtete anwaltliche Beratungsstellen,638 oder die von Automobilclubs angebotene rechtliche Beratung sein,639 wobei letztere sich thematisch zumeist auf verkehrsrechtliche Sachverhalte und damit in Verbindung stehende Rechtsfragen beschränkt, sodass hierdurch nur ein kleiner Teil des Strafrechts, nämlich die Straßenverkehrsdelikte, erfasst sind. Schließlich darf gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG die Inanspruchnahme der Beratungshilfe nicht mutwillig erscheinen. Mutwilligkeit liegt nach § 1 Abs. 3 S. 1 BerHG vor, wenn Beratungshilfe in Anspruch genommen wird, obwohl ein Rechtsuchender, der
634
Groß, § 1 BerHG Rn. 46–47; Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 61. § 115 Abs. 4 ZPO ist nicht anwendbar, da diese Vorschrift eine Gewährung der Prozesskostenhilfe gegen Raten voraussetzt, was allerdings einer Bewilligung von Beratungshilfe entgegensteht; vgl. Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 62. 636 Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, Rn. 1123; Groß, § 1 BerHG Rn. 47; Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 63. 637 Groß, § 1 BerHG Rn. 60, 67; Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 74. 638 Groß, § 1 BerHG Rn. 69. 639 Groß, § 1 BerHG Rn. 70; Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 103. 635
B. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
201
keine Beratungshilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände der Rechtsangelegenheit davon absehen würde, sich auf eigene Kosten rechtlich beraten oder vertreten zu lassen. Bei der Beurteilung der Mutwilligkeit sind nach § 1 Abs. 3 S. 2 BerHG die Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers sowie dessen besondere wirtschaftliche Lage zu berücksichtigen. Die Gewährung von Beratungshilfe ist nicht von den Erfolgsaussichten des rechtlichen Anliegens abhängig.640 2. Der Umfang des Anspruchs auf Beratungshilfe Der Umfang des Anspruchs auf Beratungshilfe beschränkt sich in Strafsachen gemäß § 2 Abs. 2 S. 2 BerHG ausschließlich auf Beratung. Im Gegensatz zu sonstigen rechtlichen Angelegenheiten wird in Strafsachen eine Vertretung, das heißt Hilfe bei der Rechtswahrnehmung, die gegenüber Dritten erbracht wird,641 nicht gewährt. Aufgrund dieser Beschränkung ermöglicht das Beratungshilfegesetz in Strafverfahren keine effektive Verteidigung.642 Die Beschränkung ist nicht nur unter dem Aspekt der effektiven Verteidigung zu kritisieren, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich.643 Das Bundesverfassungsgericht hat die in § 2 Abs. 2 BerHG a. F. enthaltene Regelung, nach der Beratungshilfe nur in den dort ausdrücklich nach Rechtsgebieten aufgezählten Angelegenheiten gewährt wurde, als mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar angesehen.644 Diese Rechtsprechung lässt sich auf die in Strafsachen bestehende Beschränkung der Beratungshilfe auf bloße Beratung übertragen. Zum einen ist kein sachlicher Grund ersichtlich, der es rechtfertigt, den Unbemittelten im Bereich des Strafrechts nicht einem Bemittelten gleichzustellen, 645 der sich jederzeit nicht nur rechtlich beraten, sondern auch verteidigen lassen kann. Zum anderen ist auch nicht erkennbar, weshalb in Angelegenheiten des Strafrechts lediglich Beratung gewährleistet wird, während in allen übrigen rechtlichen Angelegenheiten, die Beratungshilfe auch Vertretung umfasst. Die im Gesetzesentwurf angeführte Begründung, dass die explizit für das Strafrecht getroffene Einschränkung, gerechtfertigt sei, da in gravierenden Fällen ein Pflichtverteidiger bestellt werde,646 ver640 BVerfG NJW 2018, 449 (451); Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, Rn. 1158; Groß, § 1 BerHG Rn. 42; Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 1 BerHG Rn. 123; Mayer/Kroiß-Kießling, § 44 Rn. 15. 641 Groß, § 2 BerHG Rn. 8. 642 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 169; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 190; Zink, Autonomie und Strafverteidigung zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, S. 63; a. A. Coenen, Der Zeitpunkt für die Bestellung des Pflichtverteidigers, S. 28–29, die der Auffassung ist, dass das Beratungshilfegesetz in einem frühen Verfahrensstadium dem Beschuldigten ausreichend Schutz gewähre. 643 Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 2 BerHG Rn. 41. 644 BVerfGE 122, 39 (52). 645 Poller/Härtl/Köpf-Köpf, § 2 BerHG Rn. 42. 646 BT-Drucks. 8/3311, S. 12.
202
3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
mag die Einschränkung nicht zu rechtfertigen, denn in allen Fällen, in denen kein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, ist dem mittellosen Beschuldigten die Vertretung durch einen Verteidiger verwehrt. Die Ungleichbehandlung erscheint umso bedenklicher, als gerade das Strafverfahren für den Beschuldigten weitreichende Folgen haben kann. 3. Die finanziellen Aspekte der Beratungshilfe Ein Rechtsanwalt ist nach § 49a Abs. 1 S. 1 BRAO grundsätzlich zur Übernahme der Beratungshilfe verpflichtet. Nur aus wichtigem Grund kann er die Übernahme der Beratungshilfe im Einzelfall ablehnen (§ 49a Abs. 1 S. 2 BRAO in Verbindung mit § 16a Abs. 3 BORA). Der Beratene hat für die Tätigkeit des Rechtsanwalts gemäß § 8 Abs. 2 S. 1 BerHG in Verbindung mit § 44 S. 2 RVG in Verbindung mit Nr. 2500 VV RVG eine Gebühr von 15 Euro647 zu entrichten, die ihm aber nach Nr. 2500 S. 2 VV RVG vom Rechtsanwalt erlassen werden kann. Ferner erhält der Rechtsanwalt aus der Staatskasse gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 BerHG in Verbindung mit § 44 S. 1 RVG in Verbindung mit Nr. 2501 VV RVG eine Beratungsgebühr von 38,50 Euro und – sofern der Rechtsanwalt den Rechtssuchenden nicht nur mündlich berät – 7,70 Euro Post- und Telekommunikationspauschale nach Nr. 7002 VV RVG.648 Insgesamt bringt ein Beratungshilfemandat dem Verteidiger damit zwischen 51,11 und 58,81 Euro ein. Die Vergütung im Rahmen der Beratungshilfe ist nicht einmal ansatzweise kostendeckend649 und wird deshalb teilweise als verfassungswidrig angesehen.650 Die geringe Vergütung birgt, wie auch im Rahmen der Pflichtverteidigung, die Gefahr qualitativ schlechterer Leistung der Rechtsanwälte in sich. Die staatlichen Aufwendungen für die Beratungshilfe beliefen sich im Jahr 2018 insgesamt, das heißt nicht nur für strafrechtliche Angelegenheiten, auf circa 54,4 Millionen Euro.651 4. Zwischenergebnis Das Beratungshilfegesetz ermöglicht es dem Beschuldigten sich bis zu dem Zeitpunkt der Anklageerhebung beziehungsweise der Zustellung des Strafbefehls, von einem Rechtsanwalt rechtlich beraten zu lassen. Dies stellt insofern 647 Von dieser Festgebühr muss noch die Mehrwehrtsteuer abgeführt werden, sodass dem Rechtsanwalt netto lediglich 12,61 Euro verbleiben, vgl. Dürbeck/Gottschalk, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, Rn. 1246; Hartung/Schons/EndersHartung, § 44 Rn. 25; Kotz/Voigt, in: Müller/Schlothauer/Knauer (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, § 42 Rn. 53. 648 AG Königs Wusterhausen BeckRS 2012, 7051; Lissner, Rpfleger 2014, 637 (641); BeckOK/RVG-Sommerfeldt/Sommerfeldt, § 44 Rn. 25.1. 649 Hartung/Römermann, ZRP 2003, 149 (150). 650 Euba, NJOZ 2011, 289 (304–305); Hartung/Römermann, ZRP 2003, 149 (151); Hartung/Schons/Enders-Hartung, § 44 Rn. 28–36. 651 Statistisches Jahrbuch der Anwaltschaft 2019/2020, S. 217, 232.
C. Gesamtergebnis des dritten Kapitels
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eine Stärkung des Rechts auf Verteidigerbeistand für den mittellosen Beschuldigten dar, als es ihm im Ermittlungsverfahren ermöglicht, auch außerhalb der Fälle notwendiger Verteidigung, rechtliche Beratung zu erhalten. Dennoch gewährleistet das Beratungshilfegesetz dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf Verteidigerbeistand nicht in ausreichender Form, denn durch die Begrenzung der Beratungshilfe ausschließlich auf Beratung, ist eine effektive Verteidigung nicht möglich. Selbst wenn man die Beschränkung der Beratungshilfe in Strafverfahren ausschließlich auf Beratung als verfassungswidrig ansieht und deshalb auch Vertretung zu gewährleisten wäre, führt dies immer noch zu keiner hinreichenden Gewährleistung des Rechts auf Verteidigerbeistand, da dieses weiterhin auf das Ermittlungsverfahren beschränkt wäre. Aufgrund der zeitlichen Beschränkung des Anspruchs auf Beratungshilfe auf das außergerichtliche Verfahren, vermag das Beratungshilfegesetz auch nicht die Lücke hinsichtlich rechtlicher Beratung schließen, die entsteht, wenn dem Beschuldigten im Hauptverfahren kein Pflichtverteidiger bestellt wird. Zudem ist zu kritisieren, dass Beratungshilfe nur gewährt wird, wenn Prozesskostenhilfe ohne eigenen Beitrag zu gewähren wäre. Dies schließt einen großen Teil der ärmeren Bevölkerung von der Beratungshilfe aus. Schließlich sind Beratungshilfemandate für Rechtsanwälte finanziell nicht erschwinglich, was die Gefahr einer qualitativ schlechteren Beratung begünstigt. Insgesamt ist der Anspruch auf Beratungshilfe damit kaum geeignet, das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand elementar zu verbessern.
C. Gesamtergebnis des dritten Kapitels Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird dem mittellosen Beschuldigten verfassungsrechtlich durch das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG garantiert. Konkrete Vorgaben zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand lassen sich allerdings weder dem Grundgesetz selbst noch der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die weitgehend auf das Institut der notwendigen Verteidigung zurückgreift, entnehmen. Einfachgesetzlich wird unentgeltlicher Verteidigerbeistand primär durch das Institut der notwendigen Verteidigung gewährleistet. Dieses Institut, das durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung teilweise grundlegend umgestaltet wurde, entspricht noch nicht durchgehend den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie sowie dem Grundgesetz. Die Fallgruppen notwendiger Verteidigung erfassen sämtliche Fälle, in denen ein Beschuldigter sich in Haft befindet oder einem Gericht zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird, und entsprechen insoweit Art. 4 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Ferner deckt die Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO sämtliche Fälle ab, in denen unentgeltlicher Verteidigerbeistand im Inte-
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3. Kap.: Verteidigerbeistand in Deutschland
resse der Rechtspflege im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK erforderlich ist, sodass auch diesen Vorgaben Genüge getan ist. Entgegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird allerdings von der herrschenden Meinung das Tatbestandsmerkmal der Schwere des Tatvorwurfs erst ab einer konkreten Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe bejaht. Das in § 141 Abs. 1 StPO neu geschaffene Antragsmodell widerspricht nicht nur dem Modell der notwendigen Verteidigung, sondern steht in seiner konkreten Ausgestaltung auch im Widerspruch zur Prozesskostenhilfe-Richtlinie, nach der die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand gerade nicht von einem Antrag abhängig gemacht werden soll. Des Weiteren entspricht die Vorschrift des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO, indem sie die Bestellung eines Pflichtverteidigers neben das Vorliegen eines Falls notwendiger Verteidigung zusätzlich an das materielle Kriterium der fehlenden Fähigkeit des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, knüpft, nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Schließlich sind die in § 141 Abs. 2 S. 2 und 3 StPO normierten Ausnahmeregelungen in der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht vorgesehen, sodass auch diese Bestimmungen richtlinienwidrig sind. Ebenfalls richtlinienwidrig ist die Vorschrift des § 141a StPO, weil die dort normierten Möglichkeiten, Vernehmungen und Gegenüberstellungen vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers durchzuführen, nicht auf Art. 3 Abs. 6 lit. a und b der Rechtsbeistand-Richtlinie gestützt werden können und zum anderen das Recht auf Verteidigerbeistand einseitig zu Lasten des mittellosen Beschuldigten einschränken. Auch die Bestimmungen zur Auswahl und der Bestellung des Pflichtverteidigers sind nicht mit der Prozesskostenhilfe-Richtlinien vereinbar. So tragen § 142 Abs. 5 und 6 StPO der Vorgabe der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zur Qualifikation des Verteidigers im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nicht ausreichend Rechnung. Insbesondere ist zu kritisieren, dass das Auswahlrecht des Beschuldigten nicht auf diejenigen Rechtsanwälte beschränkt ist, die über die erforderliche Qualifikation zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand verfügen. Außerdem entspricht die Möglichkeit der Bestellung eines Verteidigers, der bloß Interesse an Pflichtverteidigungen bekundet hat, nicht den Qualitätsstandards der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Schließlich ist zu bemängeln, dass die Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers dem Gericht und in Eilfällen der Staatsanwaltschaft obliegt, wenn der Beschuldigte keinen Bestellungswunsch äußert und so die Gefahr besteht, dass nicht der für den Beschuldigten am besten geeignete Verteidiger bestellt wird, sondern ein Verteidiger, der dem Gericht beziehungsweise der Staatsanwaltschaft keine Schwierigkeiten bereitet. Die Regelungen zur Dauer der Pflichtverteidigerbestellung sowie zur Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung sind mit der Europäischen Menschenrechts-
C. Gesamtergebnis des dritten Kapitels
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konvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar. Gleiches gilt für die Vorschrift über die Auswechslung des Pflichtverteidigers. Indem dem Beschuldigten die Möglichkeit eingeräumt wird, gegen die Bestellung, die Nichtbestellung und Auswechslung des Pflichtverteidigers sowie die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung sofortige Beschwerde einzulegen, wird ihm ein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gewährt. Die Vorschriften der Strafprozessordnung zur Belehrung des Beschuldigten über sein Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand stimmen weitestgehend mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Unionsrechts überein. Die in § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO normierte Pflicht, den Beschuldigten auf die Pflicht zur Kostentragung im Falle einer Verurteilung hinzuweisen, ist nicht mit der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar und daher entweder zu streichen oder um eine Hinweispflicht auf den bestehenden Vollstreckungsschutz zu ergänzen. Dass die Kosten des Pflichtverteidigers nur vorläufig vom Staat getragen werden und im Falle der Verurteilung des Beschuldigten von diesem zurückgefordert werden, wenn dies die finanziellen Verhältnisse des Beschuldigten zulassen, ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar. Die im Vergleich zum Wahlverteidiger geringere Vergütung des Pflichtverteidigers sowie die generell nicht kostendeckende Vergütung ist prinzipiell mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar, da diese diesbezüglich keine Bestimmungen enthalten. Allerdings verstößt die unterschiedliche Vergütung von Wahl- und Pflichtverteidigern gegen das Grundgesetz. Das Institut der Beratungshilfe ist nicht in der Lage, die Lücken im Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu schließen, die das Institut der notwendigen Verteidigung enthält. Hauptgrund ist, dass der Beschuldigte nach dem Beratungshilfegesetz in Strafsachen lediglich einen Anspruch auf Beratung und nicht auf Vertretung hat, wodurch eine effektive Verteidigung von vornherein ausgeschlossen ist. Hinzu kommt, dass der Anspruch auf Beratungshilfe auf das außergerichtliche Verfahren, das heißt das Ermittlungsverfahren, beschränkt ist, sodass in großen Teilen des Strafverfahrens der Beschuldigte Beratungshilfe überhaupt nicht in Anspruch nehmen kann. Schließlich stellt sich, wie im Rahmen der notwendigen Verteidigung, das Problem der nicht kostendeckenden Honorierung des Verteidigers, was stets die Gefahr einer qualitativ schlechten Beratung in sich birgt.
Viertes Kapitel
Das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in Österreich Nachdem im vorangegangenen Kapitel untersucht wurde, wie das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand in Deutschland ausgestaltet ist, soll nun ein Überblick über die Rechtslage in Österreich gegeben werden. In Österreich steht die Europäische Menschenrechtskonvention im Verfassungsrang.1 Anders als in Deutschland existiert kein weiteres spezifisches Verfassungsrecht bezüglich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Aus diesem Grund wird sogleich auf die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand eingegangen.
A. Die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand In Österreich wird das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand einfachgesetzlich durch das Institut der Verfahrenshilfe gewährleistet. Daneben ermöglicht das Institut des Verteidigers in Bereitschaft dem mittellosen Beschuldigten in bestimmten Verfahrenssituationen, in denen er noch keine Verfahrenshilfe erhält, Zugang zu unentgeltlichem Verteidigerbeistand.2 Durch das am 01.06.2020 in Kraft getretene Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 2020, das der Umsetzung der Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie dient, wurden das Institut der Verfahrenshilfe und das Institut des Verteidigers in Bereitschaft reformiert.3
I. Das Institut der Verfahrenshilfe Der Beschuldigte hat gemäß § 7 Abs. 1 öStPO das Recht, sich selbst zu verteidigen und in jeder Lage des Verfahrens den Beistand eines Verteidigers in Anspruch zu nehmen. Näher ausgestaltet wird das Recht auf Verteidigung unter anderem durch die §§ 48–64 öStPO.4 § 58 öStPO räumt dem Beschuldigten das Recht ein, einen gewählten Verteidiger beizuziehen. Fehlen ihm hierzu die finan1 öBGBl. Nr. 59/1964; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 2; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1309.1. 2 LK-Birklbauer/Wess, Einleitung Rn. 24. 3 öBGBl. I Nr. 20/2020. 4 WK/StPO-Achammer, § 7 Rn. 1.
A. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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ziellen Mittel, hat er, sofern dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist, gemäß § 61 Abs. 2 öStPO einen Anspruch auf Verfahrenshilfe. Wie im deutschen existieren auch im österreichischen Recht Fälle notwendiger Verteidigung.5 Bevollmächtigt der Beschuldigte in einem Fall notwendiger Verteidigung keinen Verteidiger, obwohl er hierzu finanziell in der Lage wäre, wird ihm vom Gericht gemäß § 61 Abs. 3 öStPO ein Amtsverteidiger beigegeben, dessen Kosten er zu tragen hat. Kann sich der Beschuldigte in Fällen notwendiger Verteidigung aufgrund fehlender finanzieller Mittel die Bevollmächtigung eines Wahlverteidigers nicht leisten, wird ihm vom Gericht ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben. Anders als die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach deutschem Recht ist die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers allerdings nicht auf Fälle notwendiger Verteidigung beschränkt.6 1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verfahrenshilfe Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers ist gemäß § 61 Abs. 2 S. 1 öStPO an mehrere Voraussetzungen geknüpft, die kumulativ erfüllt sein müssen.7 Der Beschuldigte muss mittellos und die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich sein. Ferner erfolgt die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers grundsätzlich nur auf Antrag des Beschuldigten. a) Die Mittellosigkeit des Beschuldigten Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers setzt zunächst voraus, dass der Beschuldigte mittellos ist. Er muss außerstande sein, die gesamten Kosten der Verteidigung ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie – für deren Unterhalt er zu sorgen hat – zu einer einfachen Lebensführung notwendigen Unterhaltes, zu tragen. Der zur einfachen Lebensführung notwendige Unterhalt liegt über dem Existenzminimum aber unter dem standesgemäßen Unterhalt.8 Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Beschuldigten sind sein Einkommen und sein Vermögen zu berücksichtigen.9 Vorhandenes Vermögen, das sich leicht 5
Vgl. § 61 Abs. 1 öStPO. Vgl. § 61 Abs. 2 öStPO. 7 Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 5. 8 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 23; Maxones-Kurkowski, Die Verfahrenshilfe im österreichischen Zivil- und Strafprozessrecht, S. 58–59; LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 14; Perktold, Ist das österreichische System der Verfahrenshilfe in Strafsachen verfassungswidrig?, S. 16; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 51. 9 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 23; Maxones-Kurkowski, Die Verfahrenshilfe im österreichischen Zivil- und Strafprozessrecht, S. 60; Murschetz, ÖJZ 2001, 836 (837). 6
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
verwerten lässt, muss, sofern dies zumutbar ist, veräußert werden.10 Unter Umständen kann dem Beschuldigten auch die Aufnahme eines Kredits oder die Vereinbarung von Ratenzahlungen mit dem Verteidiger zugemutet werden.11 Freiwillige Beiträge beziehungsweise Leistungen von Seiten Dritter zur Verteidigung sind dagegen nicht zu berücksichtigen.12 Ob der Beschuldigte seine Bedürftigkeit selbst verschuldet hat, ist für die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers irrelevant.13 Der Beschuldigte hat seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse darzulegen; ein Vermögensbekenntnis muss er jedoch nicht abgeben.14 Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen werden meist im Stammdatenblatt der Polizei oder anlässlich der Erstvernehmung festgehalten und dienen dann als Entscheidungsgrundlage.15 Eine Überprüfung der vom Beschuldigten gemachten Angaben ist gesetzlich nicht vorgesehen, sodass diese im Ermessen des Richters liegt.16 In der Praxis wird die Mittellosigkeit des Beschuldigten großzügig gehandhabt und in den meisten Fällen bejaht.17 Die Kriterien, die zur Feststellung der Mittellosigkeit des Beschuldigten heranzuziehen sind, entsprechen den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und des Art. 4 Abs. 3 der ProzesskostenhilfeRichtlinie. b) Das Interesse der Rechtspflege Neben der Mittellosigkeit des Beschuldigten setzt die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 61 Abs. 2 S. 1 öStPO voraus, dass dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Ver10 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 23; Maxones-Kurkowski, Die Verfahrenshilfe im österreichischen Zivil- und Strafprozessrecht, S. 61; Murschetz, ÖJZ 2001, 836 (837); LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 14. 11 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61, Rn. 23; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 13. 12 OGH 25.06.1985, 10 Os 69/85; Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 9. 13 Maxones-Kurkowski, Die Verfahrenshilfe im österreichischen Zivil- und Strafprozessrecht, S. 63; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 15. 14 OGH 22.05.1964, 10 Os 113/64; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 31; LKMcAllister/Wess, § 61 Rn. 25; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 53; kritisch hierzu Barazon, ÖJZ 1977, 658 (659). 15 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 31; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 142; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 53. 16 Barazon, ÖJZ 1977, 658; Murschetz, ÖJZ 2001, 836 (838); Sautner, JRP 2016, 135 (136); WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 53. 17 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 53; Barazon, ÖJZ 1977, 658; LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 25; kritisch Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 141–149, der vorschlägt, die wirtschaftliche Bedürftigkeit als tatbestandliche Voraussetzung für die Bewilligung von Verfahrenshilfe zu streichen oder zumindest die wirtschaftliche Bedürftigkeit des Beschldigten strenger zu überprüfen.
A. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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teidigung, erforderlich ist. § 61 Abs. 2 S. 2 öStPO zählt katalogartig vier Fallgruppen auf, in denen die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers jedenfalls im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die Aufzählung ist allerdings nicht abschließend, sodass die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers auch in anderen Fällen im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein kann.18 Mit Blick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ist dieses Erfordernis weit auszulegen.19 aa) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 öStPO Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers ist stets im Interesse der Rechtspflege erforderlich, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung im Sinne des § 61 Abs. 1 Nr. 1–7 öStPO vorliegt. Die Bestimmungen des § 61 Abs. 1 Nr. 1–7 öStPO wurden durch das Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 2020 nicht verändert.20 (1) § 61 Abs. 1 Nr. 1 öStPO Gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 1 öStPO liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn und solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft angehalten wird. Des Weiteren muss der Beschuldigte durch einen Verteidiger vertreten sein, wenn Untersuchungshaft gemäß § 173 Abs. 4 S. 1 öStPO nur deshalb nicht verhängt, aufrechterhalten oder fortgesetzt werden darf, weil die Zwecke der Untersuchungshaft durch eine gleichzeitige Strafhaft oder Haft anderer Art erreicht werden können.21 Ab der Verkündung des Beschlusses über die Verhängung von Untersuchungshaft gemäß § 174 Abs. 2 öStPO bis zur Entlassung aus der Haft – längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens – ist die Verteidigung notwendig.22 Damit entspricht die Regelung den Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Bei der richterlichen Vernehmung des Beschuldigten gemäß § 174 Abs. 1 öStPO, welche der Entscheidung über die Verhängung von Untersuchungshaft vorausgeht, ist die Verteidigung noch nicht notwendig.23 Mit Blick auf Art. 4 Abs. 4 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, der vorschreibt, dass die Gewährung von Prozesskostenhilfe stets im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, wenn der Beschuldigte einem Gericht zur Entscheidung über eine Haft vorge-
18 Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.84; LKMcAllister/Wess, § 61 Rn. 16; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 67; Tipold, JAP 2006/2007, 132 (133). 19 LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 16. 20 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19. 21 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 6; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 16. 22 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 17; Bertel/Venier-Flora, § 61 Rn. 1. 23 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 18.
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führt wird, erscheint dies problematisch. Allerdings hat sich der österreichische – anders als der deutsche – Gesetzgeber dafür entschieden, die Verteidigung nicht bereits ab Vorführung des Beschuldigten vor ein Gericht zur Entscheidung über eine Haft für notwendig zu erklären,24 sondern die Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vielmehr durch eine Reform des Instituts des Verteidigers in Bereitschaft umzusetzen.25 Somit kann aus dem Umstand, dass die Verteidigung bei der richterlichen Vernehmung des Beschuldigten gemäß § 174 Abs. 1 öStPO nicht notwendig ist, nicht auf eine Richtlinienwidrigkeit geschlossen werden. (2) § 61 Abs. 1 Nr. 2 öStPO Des Weiteren liegt gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 2 öStPO ein Fall notwendiger Verteidigung im gesamten Verfahren zur Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 öStGB (§§ 429 Abs. 2, 430 Abs. 3, 436, 439 Abs. 1 öStPO) vor. Der Beschuldigte muss von einem Verteidiger vertreten sein, sobald Tatsachen vorliegen, aufgrund derer das Gericht eine Unterbringung anordnen könnte.26 Die Mitwirkung eines Verteidigers ist dann im gesamten weiteren Verfahren – unter Umständen vom Beginn des Ermittlungsverfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss und damit auch in einem möglichen Rechtsmittelverfahren – notwendig.27 (3) § 61 Abs. 1 Nr. 3 öStPO Ferner hat gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 3 öStPO ein Verteidiger zwingend mitzuwirken, wenn es um die Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher (§ 22 öStGB) oder einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter (§ 23 öStGB) geht. Allerdings erstreckt sich die Notwendigkeit der Verteidigung nicht auf das gesamte Verfahren, sondern gilt ausweislich des eindeutigen Gesetzeswortlauts ausschließlich für die Hauptverhandlung.28
24 Kraml, JSt 2017, 219 (223), leitet aus Art. 4 Abs. 4 lit. a der ProzesskostenhilfeRichtlinie einen Fall notwendiger Verteidigung ab. Im Gegensatz dazu spricht sich Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 139–140, 194, dafür aus, die Beigebung eines Verteidigers bei der Entscheidung über die Untersuchungshaft gemäß § 174 Abs. 1 öStPO als jedenfalls erforderlich im Sinne des § 61 Abs. 2 S. 2 öStPO anzusehen. 25 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 6; ausführlich zum Institut des Verteidigers in Bereitschaft Kapitel 4, B. II. 26 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 19. 27 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 7; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 19; Tipold, JAP 2006/2007, 132. 28 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 8; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 20; Tipold, JAP 2006/2007, 132.
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(4) § 61 Abs. 1 Nr. 4 öStPO Auch in der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht als Geschworenen- oder Schöffengericht muss der Beschuldigte gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 4 öStPO durch einen Verteidiger vertreten sein. Maßgeblich ist die durch die Anklageerhebung begründete Zuständigkeit und nicht, ob das Landesgericht als Geschworenenoder Schöffengericht tatsächlich zuständig ist.29 (5) § 61 Abs. 1 Nr. 5 öStPO Darüber hinaus ist gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 5 öStPO die Verteidigung in der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht als Einzelrichter notwendig, wenn für die Straftat eine drei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe angedroht ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes gilt dies jedoch explizit nicht für die Tatbestände des Einbruchdiebstahls gemäß § 129 Abs. 2 Nr. 1 öStPO und der schweren Hehlerei gemäß § 164 Abs. 4 öStPO.30 Entscheidend für den Verteidigerzwang ist alleine die Strafdrohung des abgeurteilten Delikts.31 Die Möglichkeit einer Strafschärfung wegen Rückfalls nach § 39 öStGB oder Ausnützen einer Amtsstellung nach § 313 öStGB bleibt bei § 61 Abs. 1 Nr. 5 öStPO außer Betracht.32 (6) § 61 Abs. 1 Nr. 5a öStPO Zudem muss der Beschuldigte gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 5a öStPO durch einen Verteidiger in der kontradiktorischen Vernehmung (§ 165 öStPO) vertreten sein, soweit in der Hauptverhandlung nach § 61 Abs. 1 Nr. 3–5 öStPO notwendige Verteidigung bestünde. (7) § 61 Abs. 1 Nr. 6 öStPO Des Weiteren ist die Verteidigung gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 6 öStPO im Rechtsmittelverfahren aufgrund einer Anmeldung einer Nichtigkeitsbeschwerde oder 29 Bertel/Venier-Flora, § 61 Rn. 3; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 9; LKMcAllister/Wess, § 61 Rn. 7; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 21. 30 Kritisch zu diesen Ausnahmen Sautner, JRP 2016, 135 (137); Tipold, ÖJZ 1994, 1 (2); Tipold, JAP 2006/2007, 132 (133). 31 OGH 01.03.2011, 14 Os 173/10p; Bertel/Venier-Flora, § 61 Rn. 3; Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 3; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.79; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 191; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 23; a. A. Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 10, der die Strafdrohung des angeklagten Delikts als maßgeblich erachtet. 32 OGH 21.09.1989, 12 Os 74/89, EvBl 1990/19; Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 3; Bertel/Venier-Flora, § 61 Rn. 3; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 10; LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 8; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 190; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 219; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 5; kritisch Tipold, JAP 2006/2007, 132 (133); a. A. WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 23.
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einer Berufung gegen ein Urteil des Schöffen- oder Geschworenengerichts notwendig. Verteidigerzwang besteht ab dem Zeitpunkt der Rechtsmittelanmeldung unabhängig davon, ob der Beschuldigte oder die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel anmeldet.33 Wird das Rechtsmittel nicht rechtzeitig angemeldet, liegt kein Fall notwendiger Verteidigung vor.34 (8) § 61 Abs. 1 Nr. 7 öStPO Schließlich ist die Verteidigung gemäß § 61 Abs. 1 Nr. 7 öStPO notwendig bei der Ausführung eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens und beim Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über einen solchen (§§ 363a Abs. 2 und 363c öStPO). Eine Erneuerung des Strafverfahrens kommt gemäß § 364a Abs. 1 öStPO in Betracht, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte feststellt, dass eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichts gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt und nicht auszuschließen ist, dass sich die Verletzung der Konvention zum Nachteil des Beschuldigten auf die strafgerichtliche Entscheidung ausgewirkt hat. Zudem kommt nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine Erneuerung des Strafverfahrens analog § 363a Abs. 1 öStPO auch ohne Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Betracht, wenn der Oberste Gerichtshof selbst – aufgrund eines Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens – eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch eine Entscheidung oder Verfügung eines untergeordneten Strafgerichts feststellt.35 bb) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 öStPO Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers ist gemäß § 61 Abs. 2 Nr. 2 öStPO auch dann im Interesse der Rechtspflege erforderlich, wenn der Beschuldigte schutzbedürftig ist, weil er blind, gehörlos, stumm oder in vergleichbarer Weise behindert ist oder an einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit leidet und deshalb nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Die Vorschrift wurde zur Umsetzung der Vorgaben von Art. 9 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie durch das Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 2020 neu gefasst.36 Im Zuge der Neufassung wurde das in § 61 Abs. 2 Nr. 2 öStPO a. F. enthaltene Kriterium des der Gerichtssprache nicht hinreichend kundigen Beschuldigten gestrichen, da nach der höchstrichterlichen
33 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 14; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 27. 34 OGH 30.09.2010, 13 Os 92/10v; Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 2; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 192; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 15. 35 OGH 01.08.2007, 13 Os 135/06m; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 33. 36 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 6.
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Rechtsprechung allein das Nichtbeherrschen der Gerichtssprache – unabhängig von der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und der Bedeutung des Strafvorwurfs – kein Grund ist, dem Beschuldigten zusätzlich zum Dolmetscher einen Verteidiger beizugeben.37 cc) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 öStPO Des Weiteren ist für das Rechtsmittelverfahren aufgrund einer Anmeldung einer Berufung die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 öStPO im Interesse der Rechtspflege erforderlich. Unerheblich ist, ob der Beschuldigte oder der Bezirks- beziehungsweise Staatsanwalt die Berufung angemeldet hat.38 Ein Einspruch nach § 106 öStPO, ein Einspruch gegen die Anklageschrift gemäß § 212 öStPO, Beschwerden gemäß § 87 öStPO sowie die Anregung einer Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 23 öStPO unterfallen nicht § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 öStPO.39 Im Einzelfall kann die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers aber auch in diesen Fällen im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein.40 dd) § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 öStPO Ferner ist die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 öStPO stets im Interesse der Rechtspflege erforderlich, wenn die Sachoder Rechtslage schwierig ist. Diesbezüglich steht dem Gericht ein gewisser Beurteilungsspielraum zu, bei dessen Ausfüllung es insbesondere das Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung zu berücksichtigen hat.41 Teilweise wird befürwortet, sich bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals an den zu § 140 Abs. 2 StPO entwickelten Fallgruppen zu orientieren.42 Von einer schwierigen Sach- oder Rechtslage ist auszugehen, wenn eine kontradiktorische Zeugenvernehmung durchgeführt wird,43 in der Hauptverhandlung Sachverständigengutachten zu erörtern sind44 oder sich Rechtsfragen stellen, die höchstrichterlich
37 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 6–7; OGH 16.12.2008, 11 Os 139/08p; kritisch zu dieser Rechtsprechung Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 221; kritisch zu dieser Rechtsprechung und der vom Gesetzgeber vorgenommenen Gesetzesänderung Neudorfer, JSt 2020, 48 (51); LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 17; Tipold, JSt 2020, 193 (195 Fn. 13). 38 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 64. 39 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 24; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 65. 40 LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 20. 41 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 66. 42 Tipold, ÖJZ 1993, 1 (3); zustimmend Maxones-Kurkowski, Die Verfahrenshilfe im österreichischen Zivil- und Strafprozessrecht, S. 98–100. 43 Maxones-Kurkowski, Die Verfahrenshilfe im österreichischen Zivil- und Strafprozessrecht, S. 100. 44 Bertel/Venier-Flora, § 61 Rn. 8; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 24.
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noch nicht oder uneinheitlich entschieden wurden.45 Gleiches gilt, wenn sich komplexe Beweisfragen im Bereich der Arzthaftung oder bei Umweltdelikten stellen46 oder die Anregung einer Nichtigkeitsbeschwerde gemäß § 23 öStPO in Betracht kommt.47 ee) Zwischenergebnis Die in § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 1–4 öStPO normierten Fallgruppen, in denen die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers jedenfalls im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist, entsprechen weitestgehend den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Entgegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt jedoch nicht zum Ausdruck, dass unentgeltlicher Verteidigerbeistand stets im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, wenn dem Beschuldigten eine Haftstrafe droht. c) Das grundsätzliche Antragserfordernis und die ausnahmsweise Beigebung von Amts wegen Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers erfolgt grundsätzlich nur auf Antrag des Beschuldigten. Ein Antrag auf Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers kann bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens gestellt werden.48 Der Antrag ist so rechtzeitig zu stellen, dass es zu keiner Verzögerung des Strafverfahrens kommt.49 Als verspätet kann ein Antrag nur abgelehnt werden, wenn er offensichtlich lediglich zur Verzögerung des Verfahrens gestellt wird.50 Von dem grundsätzlich zwingenden Antragserfordernis für die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers gibt es zwei Ausnahmen. Liegt ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 61 Abs. 1 Nr. 1–7 öStPO vor und hat weder der Beschuldigte noch sein gesetzlicher Vertreter für diesen einen Verteidiger bevollmächtigt, ist dem Beschuldigten – sofern er mittellos ist – von Amts wegen ein Verfahrenshilfeverteidiger zu bestellen.51 Ferner kann gemäß § 61 Abs. 2 S. 1 öStPO auch 45 Maxones-Kurkowski, Die Verfahrenshilfe im österreichischen Zivil- und Strafprozessrecht, S. 100. 46 Tipold, JAP 2006/2007, 132 (133). 47 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 24. 48 Bertel/Venier-Flora, § 61 Rn. 9; LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 26; WK/StPOSoyer/Schumann, § 61 Rn. 71. 49 Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 34; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 202; Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 12. 50 OGH 08.01.1997, 13 Os 201/96, EvBl 1997/101; Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 11; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 29; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 35; Murschetz, ÖJZ 2001, 836 (837). 51 Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 10; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 28; Sautner, JRP 2016, 135 (136); WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 73.
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nach Ermessen des Gerichts von Amts wegen die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers erfolgen, wenn der Beschuldigte schutzbedürftig ist, weil er blind, gehörlos, stumm oder in vergleichbarer Weise behindert ist oder an einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit leidet und er deshalb nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Das Antragserfordernis ist in seiner konkreten Ausgestaltung mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar. Insbesondere können in Übereinstimmung mit Erwägungsgrund 18 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie schutzbedürftige Personen auch ohne einen Antrag von Amts wegen einen Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben bekommen. d) Zwischenergebnis In Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie wird Verfahrenshilfe gewährt, wenn der Beschuldigte mittellos und die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Damit unterscheidet sich die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand nach österreichischem Recht wesentlich vom deutschen Recht, da nach letzterem die Bestellung eines Pflichtverteidigers ausschließlich vom Vorliegen materieller Kriterien abhängig ist und die Mittellosigkeit des Beschuldigten erst im Vollstreckungsverfahren berücksichtigt wird. Die Kriterien, anhand derer die Mittellosigkeit des Beschuldigten festgestellt wird, stimmen mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie überein. Die normierten Fallgruppen, in denen die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers jedenfalls im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist, entsprechen weitestgehend den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Es bedarf aber einer Ergänzung dahingehend, dass bei einer drohenden Haftstrafe unentgeltlicher Verteidigerbeistand ebenfalls im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Auch das Antragserfordernis ist in seiner konkreten Ausgestaltung mit den EMRK-rechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar. 2. Der Zeitpunkt der Beigebung und Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers Ein Verfahrenshilfeverteidiger kann grundsätzlich bereits im Ermittlungsverfahren beigegeben und bestellt werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verfahrenshilfe – insbesondere das Interesse der Rechtspflege – bereits zu bejahen sind. Die Gewährung von Verfahrenshilfe ist unter anderem dann im Interesse der Rechtspflege erforderlich, wenn ein Fall
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notwendiger Verteidigung vorliegt, was im Ermittlungsverfahren allerdings nur auf die Konstellationen des § 61 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5a öStPO zutrifft. Des Weiteren ist die Gewährung von Verfahrenshilfe im Interesse der Rechtspflege erforderlich, wenn der Beschuldigte schutzbedürftig ist, weil er blind, gehörlos, stumm oder in vergleichbarer Weise behindert ist oder an einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit leidet und deshalb nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Dies betrifft allerdings nur einen geringen Prozentsatz aller Beschuldigten. Ferner ist bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage die Gewährung von Verfahrenshilfe im Interesse der Rechtspflege erforderlich. Dieses Tatbestandsmerkmal wird in der Praxis jedoch sehr zurückhaltend angewendet,52 weshalb auch dies häufig nicht zur Gewährung von Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren führen dürfte. Insgesamt wird dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nur in den seltensten Fällen Verfahrenshilfe gewährt.53 Da die Beigebung und Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers im Ermittlungsverfahren kaum erfolgt, gewährleistet das Institut der Verfahrenshilfe das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nicht in dem Umfang, wie es nach den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie erforderlich wäre. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass das österreichische Recht insgesamt das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand nicht ausreichend gewährt, weil das Institut des Verteidigers in Bereitschaft in bestimmten Verfahrenssituationen kostenlosen Zugang zu einem Verteidiger ermöglicht, in denen Verfahrenshilfe noch nicht gewährt wird. 3. Die Beigebung und Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers Die Beiordnung eines Verfahrenshilfeverteidigers untergliedert sich in ein gerichtliches Beigebungsverfahren sowie ein verwaltungsbehördliches Bestellungsverfahren. a) Das Beigebungsverfahren Im Beigebungsverfahren wird gerichtlich geprüft, ob die Voraussetzungen der Verfahrenshilfe vorliegen. Zuständig für die Beigebung ist im Ermittlungsverfahren stets der Ermittlungsrichter und nicht die Staatsanwaltschaft.54 Im Hauptverfahren ist der Bezirksrichter, der Einzelrichter oder der Schöffensenat bezie52 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (140–141). 53 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (140). 54 Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 203; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 10; Tipold, JAP 2006/2007, 132 (133–134).
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hungsweise der Schwurgerichtshofs – außerhalb der Hauptverhandlung gemäß § 32 Abs. 3 öStPO der Vorsitzende alleine – zur Entscheidung über die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers berufen.55 Über die Beigebung im Rechtsmittelverfahren entscheidet der Vorsitzende des Rechtsmittelsenats, es sei denn der erstinstanzliche (Vorsitzende) Richter hat hierüber bereits aufgrund der Anmeldung einer Nichtigkeitsbeschwerde oder einer Berufung zu entscheiden.56 Die Entscheidung über die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers hat gemäß § 62 Abs. 2a öStPO unverzüglich, jedenfalls aber vor der nächstfolgenden Vernehmung des Beschuldigten, Tatrekonstruktion (§§ 149 Abs. 1 Nr. 2, 150 öStPO) oder Gegenüberstellung (§ 163 öStPO), zu der der Beschuldigte beigezogen wird, zu erfolgen. Die Vorschrift des § 62 Abs. 2a öStPO wurde durch das Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 2020 neu in die Strafprozessordnung eingeführt.57 Bereits zuvor war über die Beigebung und Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers unverzüglich zu entscheiden.58 Aus Gründen der Klarstellung Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zu genügen – wurde dies nun explizit normiert.59 Das Abstellen auf die „nächstfolgende“ Vernehmung, Tatrekonstruktion oder Gegenüberstellung, zu der der Beschuldigte beigezogen wird, trägt dem Umstand Rechnung, dass der Beschuldigte zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beantragen kann.60 Die Entscheidung über die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers ergeht per Beschluss.61 b) Das Bestellungsverfahren An das gerichtliche Beigebungsverfahren schließt sich das verwaltungsbehördliche Bestellungsverfahren an. Die Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers erfolgt in aller Regel gemäß § 62 Abs. 1 öStPO durch den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer. In dringenden Fällen kann der Vorsteher des Gerichts gemäß § 62 Abs. 2 öStPO ausnahmsweise auch einen Dringlichkeitsverteidiger62 bestellen. 55
Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 33; Tipold, JAP 2006/2007, 132 (134). Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 33; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 75. 57 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 8. 58 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 8; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 203; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 15. 59 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 8. 60 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 8; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 16. 61 Rami, ÖJZ 2021, 261; Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (110); Tipold, JAP 2006/ 2007, 132 (134). 62 Gebräuchlich ist auch die Bezeichnung Notverteidiger, vgl. WK/StPO-Soyer/ Schumann, § 62 Rn. 25; Tipold, JAP 2006/2007, 132 (134). 56
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aa) Die Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers durch den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Wurde gerichtlich die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beschlossen, hat das Gericht gemäß § 62 Abs. 1 öStPO den Ausschuss der nach seinem Sitz zuständigen Rechtsanwaltskammer zu benachrichtigen, damit dieser dem Beschuldigten einen Verfahrenshilfeverteidiger bestellt. Der Rechtsanwaltskammer obliegt im Bestellungsverfahren die Auswahl des Verfahrenshilfeverteidigers.63 Eine Überprüfung der Beigebungsvoraussetzungen ist der Rechtsanwaltskammer aufgrund der Bindungswirkung des gerichtlichen Beigebungsbeschlusses verwehrt.64 Wie die Beigebung hat auch die Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 62 Abs. 2a öStPO unverzüglich, jedenfalls aber vor der nächstfolgenden Vernehmung des Beschuldigten, Tatrekonstruktion (§§ 149 Abs. 1 Nr. 2, 150 öStPO) oder Gegenüberstellung (§ 163 öStPO), zu der der Beschuldigte beigezogen wird, zu erfolgen. Mehreren Beschuldigten kann gemäß § 62 Abs. 3 öStPO ein gemeinsamer Verteidiger beigegeben und bestellt werden, es sei denn, dass ein Interessenskonflikt besteht oder einer der Beschuldigten oder der Verteidiger eine gesonderte Vertretung verlangt. Das Bestellungsverfahren richtet sich nach §§ 45–46 RAO sowie nach der Geschäftsordnung der jeweils zuständigen Rechtsanwaltskammer.65 Die Bestellung erfolgt per Bescheid.66 Mit der Zustellung des Bescheids an den Rechtsanwalt wird die Bestellung wirksam.67 Bei der Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers ist gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 RAO nach festen Regeln vorzugehen. Die Bestimmungen müssen so ausgestaltet sein, dass sie eine möglichst gleichmäßige Heranziehung und Belastung der der betreffenden Kammer angehörenden Rechtsanwälte unter besonderer Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse sicherstellen. Diese Regeln sind gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 RAO in den Geschäftsordnungen der Ausschüsse der Rechtsanwaltskammern festzulegen. Die Geschäftsordnungen68 der einzelnen Rechtsanwalts-
63
Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 2; LK-McAllister/Wess, § 62 Rn. 1. WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 6; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 2. 65 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 11; Stanglechner, in: Vereinigung BadenWürttembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (110); Tipold, JAP 2006/2007, 132 (134); Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 2. 66 LK-McAllister/Wess, § 62 Rn. 1; Rami, ÖJZ 2021, 261; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 11. 67 OGH 17.02.2006, 14 Os 137/05m; Bertel/Venier-Flora, § 62 Rn. 1. 68 Geschäftsordnung für die Rechtsanwaltskammer Burgenland und ihren Ausschuss, im Folgenden „GeO Burgenland“; Geschäftsordnung des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer für Kärnten, im Folgenden „GeO Kärnten“; Geschäftsordnung für die Rechtsanwaltskammer Niederösterreich und deren Ausschuss, im Folgenden „GeO Niederösterreich“; Geschäftsordnung für die Oberösterreichische Rechtsanwaltskammer, deren Ausschuss und Plenarversammlung, im Folgenden „GeO Oberösterreich“; Ge64
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kammern69 enthalten weitestgehend ähnliche Bestimmungen bezüglich der Bestellung von Rechtsanwälten zu Verfahrenshilfeverteidigern. Alle Geschäftsordnungen sehen die Auswahl des Verfahrenshilfeverteidigers anhand eines rotierenden Listenverfahrens, das auch als „Radlsystem“70 bezeichnet wird, vor.71 Zu diesem Zweck wird eine Liste erstellt, in die jeder der Kammer zugehörige Rechtsanwalt in alphabetischer Reihenfolge seines Familiennamens aufzunehmen ist.72 Die Bestellung der Verfahrenshilfeverteidiger erfolgt grundsätzlich in alphabetischer Reihenfolge;73 maßgeblich ist der Zeitpunkt zu dem das Bestellungsersuchen bei der Rechtsanwaltskammer eingeht.74 Die einzelnen Geschäftsordnungen sehen jedoch diverse Gründe vor, die ein Abweichen von der alphabetischen Reihenfolge ermöglichen.75 So ist nach den meisten Geschäftsordnungen – in Übereinstimmung mit § 62 Abs. 1 S. 2 öStPO, der vorsieht, dass Wünschen des Beschuldigten zur Auswahl der Person des Verteidigers im Einvernehmen mit dem namhaft gemachten Rechtsanwalt nach Möglichkeit zu entsprechen ist – ein Abweichen von der alphabetischen Reihenfolge geboten, wenn sich ein Beschuldigter die Bestellung eines bestimmten Rechtsanwalts wünscht und der Ver-
schäftsordnung der Salzburger Rechtsanwaltskammer, im Folgenden „GeO Salzburg“; Geschäftsordnung für die Steiermärkische Rechtsanwaltskammer und deren Ausschuss, im Folgenden „GeO Steiermark“; Geschäftsordnung für die Tiroler Rechtsanwaltskammer und deren Ausschuss, im Folgenden „GeO Tirol“; Geschäftsordnung für die Vorarlberger Rechtsanwaltskammer und deren Ausschuss, im Folgenden „GeO Vorarlberg“; Geschäftsordnung für die Rechtsanwaltskammer Wien und deren Ausschuss, im Folgenden „GeO Wien“. 69 In Österreich gibt es mit der Rechtsanwaltskammer Burgenland, der Rechtsanwaltskammer für Kärnten, der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich, der Oberösterreichischen Rechtsanwaltskammer, der Salzburger Rechtsanwaltskammer, der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer, der Tiroler Rechtsanwaltskammer, der Vorarlberger Rechtsanwaltskammer und der Rechtsanwaltskammer Wien insgesamt neun Rechtsanwaltskammern. 70 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (140). 71 § 21 GeO Burgenland; § 7 GeO Kärnten; § 27 GeO Niederösterreich; § 47 GeO Oberösterreich; § 17 GeO Salzburg; § 42 GeO Steiermark; § 17 GeO Tirol; § 18 GeO Vorarlberg; § 45 GeO Wien. 72 § 21 Abs. 2 S. 1 GeO Burgenland; § 27 Abs. 2 GeO Niederösterreich; § 47 Abs. 1 S. 1 GeO Oberösterreich; § 17 GeO Salzburg; § 42 GeO Steiermark; § 17 Abs. 1 S. 1 GeO Tirol; § 18 Abs. 2 S. 1 GeO Vorarlberg; § 45 Abs. 1 GeO Wien; kritisch hierzu unter dem Aspekt der Qualität der Verteidigung, Sautner, JRP 2016, 135 (137–138). 73 § 21 Abs. 2 S. 2 GeO Burgenland; § 27 Abs. 2 GeO Niederösterreich; § 47 Abs. 1 S. 1 GeO Oberösterreich; § 17 b) GeO Salzburg; § 42 Abs. 3 S. 1 GeO Steiermark; § 17 Abs. 1 S. 1 GeO Tirol; § 18 Abs. 2 S. 1 GeO Vorarlberg; § 45 Abs. 1 S. 1 GeO Wien. In Kärnten erfolgt die Bestellung nicht nach der alphabetischen Reihenfolge, sondern nach einem Punktesystem, vgl. § 7 Abs. 4 GeO Kärnten. 74 § 21 Abs. 2 S. 3 GeO Burgenland; § 18 Abs. 2 S. 2 GeO Vorarlberg. 75 Vgl. § 21 Abs. 6 GeO Burgenland; § 7 Abs.5 GeO Kärnten; § 47 Abs. 6, 8 GeO Oberösterreich; § 42 Abs. 3 S. 2, 3 GeO Steiermark; § 17 Abs. 4, 6 GeO Tirol; § 18 Abs. 2 S. 3 GeO Vorarlberg; § 45 Abs. 2 GeO Wien.
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
teidiger sich damit einverstanden erklärt.76 In der Praxis kommt dieser Bestimmung allerdings keine große Bedeutung zu.77 Ein Abweichen von der durch die Liste vorgegebenen Bestellungsreihenfolge ist ferner möglich, wenn die örtlichen Verhältnisse dies gebieten78 oder der eigentlich zu bestellende Rechtsanwalt gesetzlich berechtigt ist, die Vertretung abzulehnen.79 Manche Geschäftsordnungen sehen ein Abweichen von der Bestellungsreihenfolge auch für den Fall vor, dass der zu bestellende Rechtsanwalt überdurchschnittlich durch Verfahrenshilfemandate belastet ist.80 Sofern das Tatbestandsmerkmal der überdurchschnittlichen Belastung näher definiert wird, wird darauf abgestellt, ob die Hauptverhandlung länger als einen Tag81 beziehungsweise drei Tage82 dauert oder die Verhandlungsdauer einschließlich der halben Zuwartzeit zehn Stunden übersteigt.83 Ein Ausgleich hat zu unterbleiben, wenn ein Vergütungsanspruch nach § 16 Abs. 4 RAO besteht.84 Gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 RAO können die Geschäftsordnungen allgemeine Gesichtspunkte festlegen, nach denen Rechtsanwälte aus wichtigen Gründen von der Heranziehung als Verfahrenshilfeverteidiger ganz oder teilweise befreit sind. Als wichtige Gründe sind gemäß § 46 Abs. 2 S. 2 RAO insbesondere die Ausübung einer mit erheblichem Zeitaufwand verbundenen Tätigkeit im Dienst der Rechtsanwaltschaft oder persönliche Umstände, die die Heranziehung als besondere Härte erscheinen lassen, anzusehen. Sämtliche Geschäftsordnungen normieren 76 § 21 Abs. 6 GeO Burgenland; § 7 Abs. 5 lit. a GeO Kärnten; § 28 Abs. 2 GeO Niederösterreich; § 47 Abs. 8 S. 1 lit. c GeO Oberösterreich; § 17 lit. g GeO Salzburg; § 17 Abs. 4 lit. c GeO Tirol; § 18 Abs. 2 S. 4 GeO Vorarlberg; § 46 GeO Wien. 77 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (140); Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (111). 78 § 21 Abs. 2 GeO Burgenland; § 7 Abs. 3 GeO Kärnten; § 17 lit. c GeO Salzburg; § 17 Abs. 4 lit. d GeO Tirol; § 18 Abs. 2 S. 3 GeO Vorarlberg. Dagegen sehen § 27 Abs. 2 GeO Niederösterreich, § 47 Abs. 2 GeO Oberösterreich und § 42 Abs. 1 GeO Steiermark nach Gerichtshofsprengeln untergliederte Listen vor, sodass dort von vornherein auf die örtlichen Verhältnisse Bedacht genommen wird. Lediglich in der Geschäftsordnung der Rechtsanwaltskammer Wien werden die örtlichen Gegebenheiten bei der Bestellung nicht berücksichtigt. Dies ist allerdings aufgrund der Entfernungen auch nicht notwendig; so auch Tipold, Die Bestellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 82. 79 § 23 Abs. 2 GeO Burgenland; § 47 Abs. 6 S. 1 GeO Oberösterreich; § 42 Abs. 3 S. 2 GeO Steiermark; § 17 Abs. 4 lit. a GeO Tirol; § 20 Abs. 2 GeO Vorarlberg; § 45 Abs. 2 GeO Wien. 80 § 22 GeO Burgenland; § 8 Abs. 1 GeO Kärnten; § 48 GeO Oberösterreich; § 17 lit. e GeO Salzburg; § 43 Abs. 1 S. 2 GeO Steiermark; § 18 GeO Tirol; § 19 GeO Vorarlberg; § 45 Abs. 3 S. 1 GeO Wien. 81 § 17 lit. e GeO Salzburg; § 43 Abs. 2 S. 1 GeO Steiermark. 82 § 45 Abs. 3 S. 1 GeO Wien. 83 § 48 Abs. 1 S. 1 GeO Oberösterreich. 84 § 48 Abs. 3 GeO Oberösterreich; § 17 lit. e GeO Salzburg; § 45 Abs. 3 S. 1 GeO Wien.
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solche Befreiungsgründe. So ist stets eine Funktionärsbefreiung vorgesehen.85 Welche Personen von der Funktionärsbefreiung erfasst sind sowie der Umfang der Befreiung divergiert je nach Geschäftsordnung. Ferner ist in den Geschäftsordnungen ein Befreiungstatbestand aufgrund des Alters des zu bestellenden Rechtsanwalts vorgesehen.86 Vereinzelt werden auch besondere Verdienste um die Rechtsanwaltschaft als Befreiungsgrund anerkannt.87 Schließlich kann das Vorliegen eines Härtefalls zu einer Befreiung führen. Hier wird vor allem auf den Gesundheitszustand,88 oder die Geburt eines Kindes89 beziehungsweise die Annahme eines Kindes an Kindes statt90 abgestellt. Im Fall eines schlechten Gesundheitszustandes gilt die Befreiung solange, bis sich dieser gebessert hat,91 und bei der Geburt eines Kindes beziehungsweise der Annahme eines Kindes an Kindes statt gilt die Befreiung je nach Geschäftsordnung für einen Zeitraum von acht Wochen vor der Geburt und von acht Wochen bis maximal drei Jahren nach der Geburt beziehungsweise der Annahme eines Kindes an Kindes statt.92 Ein zum Verfahrenshilfeverteidiger bestellter Verteidiger ist gemäß § 14 RAO – auf eigene Kosten – substitutionsberechtigt.93 Gemäß § 15 Abs. 1 RAO kann sich der Verfahrenshilfeverteidiger, wenn die Beiziehung eines Rechtsanwalts gesetzlich vorgeschrieben ist, durch einen bei ihm in Verwendung stehenden, substitutionsberechtigten Rechtsanwaltsanwärter (Rechtsanwaltsanwärter mit großer Legitimationsurkunde) unter seiner Verantwortung vertreten lassen.94 Für die Erlan85 § 24 Abs. 1, 2 GeO Burgenland; § 8 Abs. 4, 5, 6 GeO Kärnten; § 29 Abs. 1 GeO Niederösterreich; § 51 Abs. 1, 3 GeO Oberösterreich; § 18 Abs. 1, 2 2.2 GeO Salzburg; § 45 Abs. 1, 1a, 2, 5, 6, 8 GeO Steiermark; § 22 Abs. 1, 2, 3, 5 GeO Tirol; § 21 Abs. 1 GeO Voralberg; § 49 Abs. 1a, 1b GeO Wien. 86 § 24 Abs. 3 GeO Burgenland; § 8 Abs. 3 GeO Kärnten; § 29 Abs. 2 GeO Niederösterreich; § 51 Abs. 4 GeO Oberöstereich; § 18 Abs. 2 2.1 GeO Salzburg; § 45 Abs. 7 Nr. 2 GeO Steiermark; § 22 Abs. 7 GeO Tirol; § 22 GeO Vorarlberg; § 49 Abs. 2 GeO Wien. 87 § 51 Abs. 2 S. 1 lit. c GeO Oberösterreich; § 22 Abs. 4 GeO Tirol. 88 § 25 GeO Burgenland; § 29 Abs. 3 GeO Niederösterreich; § 51 Abs. 2 S. 1 lit. a aa GeO Oberösterreich; § 18 Abs. 2 2.1 GeO Salzburg; § 45 Abs. 7 Nr. 1 GeO Steiermark; § 22 Abs. 4 GeO Tirol; § 49 Abs. 3 S. 1 GeO Wien. 89 § 8 Abs. 7 GeO Kärnten; § 29 Abs. 4 GeO Niederösterreich; § 51 Abs. 2 S. 1 lit. a bb GeO Oberösterreich; § 18 Abs. 3 GeO Salzburg; § 45 Abs. 3 GeO Steiermark; § 22 Abs. 6 GeO Tirol; § 21 Abs. 2 GeO Vorarlberg; § 49 Abs. 3 S. 2 GeO Wien. 90 § 8 Abs. 7 GeO Kärnten; § 29 Abs. 4 GeO Niederösterreich; § 51 Abs. 2 S. 1 lit. a bb GeO Oberösterreich; § 18 Abs. 3 GeO Salzburg; § 21 Abs. 2 GeO Vorarlberg; § 49 Abs. 3 S. 2 GeO Wien. 91 § 25 GeO Burgenland; § 29 Abs. 3 GeO Niederösterreich; § 45 Abs. 7 Nr. 1 GeO Steiermark; § 49 Abs. 3 S. 1 GeO Wien. 92 Vgl. § 8 Abs. 7 GeO Kärnten; § 29 Abs. 4 GeO Niederösterreich; § 51 Abs. 2 S. 2 GeO Oberösterreich; § 18 Abs. 3 GeO Salzburg; § 45 Abs. 3 GeO Steiermark; § 22 Abs. 6 GeO Tirol; § 21 Abs. 2 GeO Vorarlberg; § 49 Abs. 3 S. 2 GeO Wien. 93 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 15; LK-McAllister/Wess, § 62 Rn. 3. 94 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 15.
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gung der großen Legitimationsurkunde ist die erfolgreiche Ablegung der Rechtsanwaltsprüfung erforderlich. Gemäß § 15 Abs. 2 S. 2 RAO kann das Erfordernis der Rechtsanwaltsprüfung auf Ansuchen des Ausbildungsanwalts vom Ausschuss der Rechtsanwaltskammer aus rücksichtswürdigen Gründen erlassen werden, wenn der Rechtsanwaltsanwärter ein Studium des österreichischen Rechts abgeschlossen hat und mindestens eine siebenmonatige Praxis bei Gericht oder einer Staatsanwaltschaft sowie eine achtzehnmonatige praktische Verwendung bei einem Rechtsanwalt oder bei der Finanzprokuratur nachweisen kann. Ist die Beiziehung eines Rechtsanwalts gesetzlich nicht vorgeschrieben, kann sich der Rechtsanwalt gemäß § 15 Abs. 3 RAO vor allen Gerichten und Behörden auch durch einen anderen bei ihm in Verwendung stehenden Rechtsanwaltsanwärter (Rechtsanwaltsanwärter mit kleiner Legitimationsurkunde) unter seiner Verantwortung vertreten lassen. Die Unterfertigung von Eingaben an Gerichte und Behörden durch einen Rechtsanwaltsanwärter ist allerdings nach § 15 Abs. 1 und 3 RAO unzulässig. Das dem Bestellungsverfahren zugrunde liegende „Radlsystem“ entspricht nicht den von der Prozesskostenhilfe-Richtlinie normierten Vorgaben bezüglich der Qualifikation des Verteidigers und der Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen. Die Bestellung aller zugelassenen Rechtsanwälte als Verfahrenshilfeverteidiger lässt außer Betracht, dass Verteidiger gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie eine spezielle Qualifikation zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe benötigen, die über die bloße Zulassung zur Rechtsanwaltschaft hinausgeht.95 Die allgemeine Pflicht zur Fortbildung gemäß § 10 Abs. 6 RAO reicht nicht aus, um die Qualität der Dienstleistungen im Rahmen der Verfahrenshilfe zu garantieren. Zum einen bleibt es dem einzelnen Rechtsanwalt überlassen, wie er sich fortbildet, da insbesondere der Besuch von Fortbildungsveranstaltungen nicht verpflichtend ist.96 Zum anderen besteht weder eine Pflicht zum Nachweis der Fortbildung noch wird anderweitig kontrolliert, ob der Rechtsanwalt der Fortbildungsverpflichtung nachkommt.97 Des Weiteren besteht keine Sanktionsmöglichkeit, wenn der Rechtsanwalt der Fortbildungsverpflichtung nicht nachkommt.98 Ferner ist mit Blick auf die von der Prozesskostenhilfe-Richtlinie aufgestellten Qualitätsvorgaben problematisch, dass sich der Verfahrenshilfeverteidiger von einem
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Vgl. hierzu Zweites Kapitel, B.VI. 2. Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek-Vitek, § 10 Rn. 46; Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e.V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (117). 97 Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e.V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (117). 98 Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e.V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (117). 96
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Rechtsanwaltsanwärter vertreten lassen kann.99 Die bestehenden Defizite ließen sich beispielsweise durch die Einführung eines Fachanwaltstitels nach deutschem Vorbild oder eine sonstige spezielle Qualifikation für Verfahrenshilfemandate beheben. Dies hätte aber unweigerlich zur Folge, dass das komplette „Radlsystem“ grundlegend reformiert werden müsste. bb) Die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers Eine Ausnahme von der in § 62 Abs. 1 öStPO geregelten Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers durch den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer stellt die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers dar.100 In dringenden Fällen kann der Vorsteher des Gerichts gemäß § 62 Abs. 2 öStPO bei Gericht tätige, zum Richteramt befähigte Personen mit ihrer Zustimmung zu Verteidigern bestellen. Hiervon wird in der Praxis allerdings nur selten Gebrauch gemacht.101 Die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers ist nicht auf die Fälle notwendiger Verteidigung beschränkt, sondern in allen Verfahren mit Beteiligung eines Verteidigers zulässig, wenn der gewählte oder bestellte Verteidiger nicht einschreitet.102 Jedoch rechtfertigt nicht jeder Umstand, der zu einer Verfahrensverzögerung führt, die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers.103 Nur wenn die Bestellung des Verteidigers durch den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer zu einer rechtlich erheblichen Verschlechterung der verfahrensrechtlichen Lage führen würde, ist die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers angezeigt.104 Ein Fall von Dringlichkeit liegt beispielsweise vor, wenn der Verlust eines Beweismittels droht, etwa weil ein Zeuge schwer erkrankt und nicht absehbar ist, ob er zu einem späteren Zeitpunkt noch vernommen werden kann.105 Ferner kommt die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers in Betracht, wenn der Verteidiger kurzfristig vor Ablauf der Haftfrist für die Haftverhandlung ausfällt.106 Fällt der Verteidiger kurz vor oder während der Hauptverhandlung aus, rechtfertigt dies
99 So auch Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 159–164, der jedoch davon ausgeht, dass Rechtsanwaltsanwärter, die ihre Rechtsanwaltsprüfung bereits abgelegt haben, über die von der Prozesskostenhilfe-Richtlinie geforderte Qualifikation zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe verfügen. 100 Rami, ÖJZ 2021, 261 (262). 101 Bertel/Venier/Tipold, Strafprozessrecht, Rn. 145; Birklbauer, Strafprozessrecht, Rn. 5/47; LK-McAllister/Wess, § 62 Rn. 6; Mayr/Venier, ÖJZ 2009, 254 (262); TodorKostic, in: Kier/Wess (Hrsg.), Handbuch Strafverteidigung, Rn. 2.24. 102 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 7. 103 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 8; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 29. 104 Rami, ÖJZ 2021, 261 (262). 105 Rami, ÖJZ 2021, 261 (262). 106 Rami, ÖJZ 2021, 261 (262).
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
dagegen nicht die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers, da in einem solchen Fall die Hauptverhandlung gemäß § 274 öStPO zu vertagen ist.107 Als Dringlichkeitsverteidiger kann ausschließlich eine bei Gericht tätige, zum Richteramt befähigte Person bestellt werden und dies auch nur mit deren Zustimmung. Das Tatbestandsmerkmal „bei Gericht tätige, zum Richteramt befähigte Personen“ ist im Sinne einer organisatorischen Zuordnung zu verstehen.108 Mithin können nur Richter, nicht aber ernennungsreife Richteramtsanwärter und Staatsanwälte als Dringlichkeitsverteidiger bestellt werden.109 Die Bestellung des Dringlichkeitsverteidigers ergeht mittels Bescheides110 und ist auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt oder eine bestimmte Prozesshandlung beschränkt.111 Durch die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers ruht die Funktion des bereits bestellten Verteidigers in dem Umfang, der dem Aufgabenkreis des Dringlichkeitsverteidigers entspricht.112 Dem Dringlichkeitsverteidiger stehen dieselben Rechte wie dem Wahl-, Verfahrenshilfe- oder Amtsverteidiger zu.113 Er muss die Verteidigung selbst ausüben und darf diese nicht substituieren.114 Nach Erfüllung der Aufgaben durch den Dringlichkeitsverteidiger muss kein neues Beigebungs- und Bestellungsverfahren durchgeführt werden, da sich die Bestellung des Dringlichkeitsverteidigers nicht auf die Gültigkeit des Beigebungsbeschlusses und des Bestellungsbescheides auswirkt.115 Die Möglichkeit der Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers ist kritisch zu sehen.116 Sie stellt nicht nur eine Durchbrechung des Grundsatzes dar, dass die Auswahl des Verteidigers nicht in den Zuständigkeitsbereich der Judikative fällt, sondern birgt auch die Gefahr in sich, dass von Seiten des Gerichts Einfluss auf 107
Rami, ÖJZ 2021, 261 (262); WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 29. Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 8; Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 145; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 30; a. A. Rami, ÖJZ 2021, 261 (263). 109 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 8; Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 145; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 30; a. A. Rami, ÖJZ 2021, 261 (263). 110 Rami, ÖJZ 2021, 261 (263); a. A. WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 28. 111 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 12; LK-McAllister/Wess, § 62 Rn. 8; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 33. 112 OGH 22.11.1977, 13 Os 183/77, EvBl 1978/95; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 10; LK-McAllister/Wess, § 62 Rn. 6; Mayerhofer/Salzmann, § 62 Rn. 8; WK/ StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 31. 113 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 11; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 32. 114 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 11; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 32. 115 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62, Rn. 10; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 31. 116 Zu Recht kritisch Birklbauer, Strafprozessrecht, Rn. 5/47; Mayr/Venier, ÖJZ 2009, 254 (262). 108
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die Verteidigung genommen wird. Des Weiteren unterscheidet sich die Tätigkeit eines Richters so sehr von der eines Verteidigers, dass bezweifelt werden muss, dass der Beschuldigte durch einen Dringlichkeitsverteidiger – also einen Richter – effektiv verteidigt wird.117 Dies ist nicht nur mit Blick auf das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK118 und das Recht auf effektive Verteidigung gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK bedenklich, sondern genügt auch nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Person des Verfahrenshilfeverteidigers und der Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen. c) Zwischenergebnis Die Gewährung von Verfahrenshilfe erfolgt in einem zweistufigen Verfahren. Während das Gericht im Beigebungsverfahren das Vorliegen der Voraussetzungen der Verfahrenshilfe prüft, wählt der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer einen Verfahrenshilfeverteidiger aus. Diese Zweiteilung stellt einen wesentlichen Unterschied zum deutschen Recht dar, in dem die Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers allein dem Gericht und in Eilfällen der Staatsanwaltschaft obliegt. Im Vergleich zur deutschen Rechtslage ist durch die Zweistufigkeit des Beigebungs- und Bestellungsverfahrens sichergestellt, dass das Gericht oder die Staatsanwaltschaft den Verteidiger nicht nach sachfremden Erwägungen auswählen und so Einfluss auf die Verteidigung nehmen. Das dem Bestellungsverfahren zugrunde liegende „Radlsystem“ entspricht jedoch nicht den von der Prozesskostenhilfe-Richtlinie normierten Vorgaben bezüglich der Qualifikation des Verteidigers und der Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen und bedarf daher einer Reform. Die Möglichkeit, dem Beschuldigten in Eilfällen einen Dringlichkeitsverteidiger zu bestellen, genügt ebenfalls nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Person des Verfahrenshilfeverteidigers und der Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen und ist zudem nicht mit dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK und das Recht auf effektive Verteidigung gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK vereinbar. 4. Die Dauer und Aufhebung der Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers Gemäß § 61 Abs. 4 öStPO gilt die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers – sofern das Gericht nichts anderes anordnet – für das gesamte weitere Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss sowie für ein allfälliges Verfahren auf Grund einer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde oder eines Antrages auf Erneuerung des Strafverfahrens. Ferner gilt die Beige117 118
Birklbauer, Strafprozessrecht, Rn. 5/47. Birklbauer, Strafprozessrecht, Rn. 5/47.
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bung auch für eine Grundrechtsbeschwerde.119 Für ein nachträglich ausgeschiedenes Verfahren besteht die Beigebung nicht fort.120 Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte nachträglich auf die Beigebung verzichtet und kein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt.121 Ferner ist die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers zu widerrufen, wenn sich herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Verfahrenshilfe von Anfang an nicht vorlagen oder aufgrund der verbesserten Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Beschuldigten nicht mehr gegeben sind.122 In einem solchen Fall ist die Verfahrenshilfe zu entziehen und der Verfahrenshilfeverteidiger ex nunc zu entheben.123 Sofern ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, ist dem Beschuldigten – nach vorheriger Aufforderung und fruchtlosem Verstreichen der zur Beauftragung eines Wahlverteidigers bestimmten Frist – mit einem neuen Beschluss ein Amtsverteidiger beizugeben.124 Die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers kann weder rückwirkend aufgehoben noch in eine Beigebung eines Amtsverteidigers umgewandelt werden.125 Die Bestimmungen zur Dauer und Aufhebung der Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers sind mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar. 5. Die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers Das österreichische Recht sieht – wie das deutsche – die Möglichkeit zur Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers durch einen vom Beschuldigten selbst gewählten Verteidiger oder einen anderen Verfahrenshilfeverteidiger vor.
119 Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 18; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 36; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 207; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 25. 120 OGH 28.09.2005, 13 Os 91/05i; Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 18; Bertel/VenierFlora, § 61 Rn. 12; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 38; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 208. 121 OGH 09.06.1976, 9 Os 53/76, EvBl 1976/290; Bertel/Venier-Flora, § 62 Rn. 3; Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 14; LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 32; WK/StPO-Soyer/ Schumann, § 61 Rn. 80. 122 OGH 17.02.2005, 15 Os 3/05p; OGH 30.01.2014, 13 Os 109/13y; Bertel/VenierFlora, § 62 Rn. 3; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 44; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 22; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 80. 123 OGH 17.02.2005; 15 Os 3/05p; OGH 30.01.2014, 13 Os 109/13y; Schmölzer/ Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 43; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 22. 124 OGH 17.02.2005; 15 Os 3/05p; OGH 30.01.2014, 13 Os 109/13y; Schmölzer/ Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 43; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 22. 125 Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 14; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 44; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 23; LK-McAllister, § 61 Rn. 32; Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kapitel II Rn. 207.
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a) Die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers durch einen vom Beschuldigten selbst gewählten Verteidiger Mit dem Einschreiten eines bevollmächtigten Verteidigers erlöschen gemäß § 62 Abs. 4 öStPO Beigebung und Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers. Hierfür reicht die Namhaftmachung eines selbst gewählten Verteidigers aus;126 eines formellen Enthebungsaktes bedarf es nicht.127 Ausnahmsweise kann neben dem Wahlverteidiger der Verfahrenshilfeverteidiger im Verfahren belassen werden, wenn hinreichende Gründe dafür vorliegen, dass nur so eine ordnungsgemäße Durchführung der Hauptverhandlung gewährleistet werden kann.128 b) Die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers durch einen anderen Verfahrenshilfeverteidiger Die Möglichkeit der Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers durch einen anderen Verfahrenshilfeverteidiger ist gesetzlich in § 45 Abs. 4 RAO normiert. Eine Umbestellung hat gemäß § 45 Abs. 4 S. 1 RAO auf Antrag des bestellten Rechtsanwalts, des Beschuldigten oder von Amts wegen zu erfolgen, wenn der bestellte Rechtsanwalt – der in den meisten Fällen vor seiner Bestellung nicht gehört wird129 – die Verteidigung wegen einer Doppelvertretung oder wegen Befangenheit nicht übernehmen oder weiterführen kann. Stirbt der zum Verfahrenshilfeverteidiger bestellte Rechtsanwalt oder verliert er seine Berechtigung zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft, so ist gemäß § 45 Abs. 4 S. 2 RAO von Amts wegen ein anderer Rechtsanwalt zu bestellen. Neben den in § 45 Abs. 4 RAO genannten Gründen gibt es weitere Konstellationen, in denen eine Umbestellung notwendig ist. So hat eine Umbestellung zu erfolgen, wenn sich zeigt, dass durch den bestellten Verfahrenshilfeverteidiger eine wirksame Verteidigung im Sinne des Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht gegeben ist.130 In einem solchen Fall ist die Umbestellung allerdings ultima ratio, sodass der Verfahrenshilfeverteidiger zunächst zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten ist.131 Auch bei einer gröblichen Vernachlässigung der Pflichten oder offenkundiger Mängel bei der Wahrnehmung der Verteidigeraufgaben ist eine Umbestellung angezeigt.132 Ferner recht126
OGH 17.12.1985, 10 Os 154/85, EvBl 1986/144; Fabrizy/Kirchbacher, § 62 Rn. 5; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 20. 127 OGH 17.12.1985, 10 Os 154/85, EvBl 1986/144; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 20; Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 28. 128 OGH 11.11.1987, 1 Ob 43/87; OGH 14.07.2004, 13 Os 178/03; Mayerhofer/Salzmann, § 62 Rn. 9; Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (109). 129 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 19. 130 VwGH 2000/10/0019. 131 VwGH 2000/10/0019; Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (114). 132 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 21.
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
fertigen ein erheblich gestörtes Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem Verfahrenshilfeverteidiger oder das Vorliegen eines mit Bindungswirkung für die Rechtsanwaltskammer ausgestatteten gerichtlichen Ausschlusses des Verfahrenshilfeverteidigers gemäß § 60 öStPO oder der Wortentzug gemäß § 236 Abs. 2 öStPO eine Umbestellung.133 Die Geschäftsordnungen einiger Rechtsanwaltskammern sehen darüber hinaus eine Umbestellung vor, wenn ein übereinstimmender Umbestellungsantrag der Verfahrenshilfepartei, des bestellten Verfahrenshilfeverteidigers und des an dessen Stelle tretenden Verfahrenshilfeverteidigers vorliegt.134 Keinen Fall der Umbestellung, sondern der zusätzlichen Bestellung enthält § 45 Abs. 3 RAO, wenn der bestellte Verfahrenshilfeverteidiger außerhalb des Sprengels des Gerichtshofs erster Instanz, wo er seinen Kanzleisitz hat, tätig werden müsste oder der Partei, die sich außerhalb dieses Sprengels aufhält, die Zureise zu dem bestellten Rechtsanwalt für eine notwendige mündliche Aussprache wegen unüberwindlicher Hindernisse oder hoher Kosten unzumutbar ist. Zuständig für eine Umbestellung ist ausschließlich die Rechtsanwaltskammer.135 Örtlich zuständig ist grundsätzlich die Rechtsanwaltskammer, die bereits die erste Bestellung vorgenommen hat.136 Das Umbestellungsverfahren ist ein zweiaktiges; zunächst erfolgt ein Enthebungsverfahren, an das sich dann ein neues Bestellungsverfahren anschließt.137 Die Bestellung des neuen Verfahrenshilfeverteidigers erfolgt nach den in den Geschäftsordnungen normierten Regeln.138 Indem das österreichische Recht dem Beschuldigten gemäß § 45 Abs. 4 RAO die Möglichkeit einräumt, den zum Verfahrenshilfeverteidiger bestellten Rechtsanwalt auswechseln zu lassen, entspricht es in diesem Punkt vollständig den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta sowie Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. 6. Das Zurverfügungstehen eines wirksamen Rechtsbehelfs Der Beschluss, mit dem die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers bewilligt wurde, kann im Ermittlungs- und Haupt-, nicht jedoch im Rechtsmittelverfahren,139 von der Staatsanwaltschaft140 und dem Verfahrenshilfeverteidi133
WK/StPO-Soyer/Schumann, § 62 Rn. 21. § 7 Abs. 8 a) GeO Kärnten; § 28 Abs. 1 GeO Niederösterreich; § 17 Abs. 5 S. 2 GeO Tirol. 135 Kraml, JSt 2017, 219 (222); LK-McAllister/Wess, § 62 Rn. 13; WK/StPO-Soyer/ Schumann, § 62 Rn. 18; Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 111; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 62 Rn. 5. 136 Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 111. 137 Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 112. 138 Tipold, Die Beistellung des Verteidigers im Strafprozess, S. 112. 139 Vgl. § 89 Abs. 6 öStPO. 134
A. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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ger141 mittels Beschwerde gemäß § 87 öStPO angefochten werden. Der Beschuldigte ist nur insofern beschwerdeberechtigt, als er durch den Beigebungsbeschluss beschwert ist.142 Wird die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers abgelehnt, ist diese Entscheidung ebenfalls nur im Ermittlungs- und Hauptverfahren, nicht aber im Rechtsmittelverfahren von der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten mit der Beschwerde angreifbar.143 Im Falle einer Verzögerung der Entscheidung über die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers kann der Beschuldigte einen Fristsetzungsantrag nach § 91 GOG stellen.144 Durch die dem Beschuldigten eingeräumte Beschwerdemöglichkeit steht ihm grundsätzlich ein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zur Verfügung.145 7. Die Pflicht zur Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf Verfahrenshilfe Der Beschuldigte ist gemäß § 50 Abs. 1 S. 1 öStPO durch die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft sobald wie möglich über das gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren und den gegen ihn bestehenden Tatverdacht sowie über seine wesentlichen Rechte im Verfahren (§§ 49, 164 Abs. 1 öStPO) zu informieren. Die Belehrungspflicht obliegt der Strafverfolgungsbehörde, die die Ermittlungen angeordnet hat beziehungsweise durchführt.146 In der Praxis erfolgt die Belehrung zumeist durch die Kriminalpolizei, da der Beschuldigte in der Regel mit ihr als erstes in Kontakt kommt.147 Zu den wesentlichen Rechten im Verfahren, über die der Beschuldigte zu belehren ist, zählt gemäß § 49 Nr. 2 öStPO auch das Recht einen Verfahrenshilfeverteidiger zu erhalten. Im Rahmen dieser Belehrung muss der Beschuldigte nicht darauf hingewiesen werden, dass er möglicherweise gemäß § 393 Abs. 1a S. 1 öStPO zur Übernahme eines Pauschalbeitrags verpflichtet ist.148 Die Belehrung hat gemäß § 50 Abs. 1 S. 1 öStPO sobald wie möglich
140 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 51; LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 36; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 83; a. A. WK/StPO-Tipold, § 87 Rn. 2. 141 OGH 23.07.2009, 13 Os 76/09i; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 83; WK/ StPO-Tipold, § 87 Rn. 15. 142 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 83. 143 Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 61 Rn. 40; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 84. 144 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 103; WK/StPO-Tipold, § 87 Rn. 10. 145 So auch Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 104. 146 WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 6. 147 Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.17; WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 6. 148 Kritisch hierzu Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 149.
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
zu erfolgen, das heißt ohne unnötige Verzögerungen.149 Sie kann gemäß § 50 Abs. 1 S. 3 öStPO aufgeschoben werden, solange aufgrund besonderer Umstände zu befürchten ist, dass andernfalls der Zweck der Ermittlungen gefährdet würde, insbesondere weil Ermittlungen oder Beweisaufnahmen durchzuführen sind, deren Erfolg voraussetzt, dass der Beschuldigte von diesen keine Kenntnis hat. Dies trifft beispielsweise auf Festnahmen, Hausdurchsuchungen, Überwachungen von Nachrichten sowie optische und akustische Überwachungen zu.150 Spätestens vor der ersten Vernehmung beziehungsweise vor der Ausübung von Zwang oder unmittelbar danach ist der Beschuldigte zu belehren.151 In der Praxis erfolgt die Belehrung nach § 50 Abs. 1 S. 1 öStPO vielfach zusammen mit der Belehrung nach § 164 öStPO.152 Die Belehrung kann sowohl mündlich als auch schriftlich erfolgen.153 In der Praxis wird in der Regel ein individualisiertes Formblatt verwendet.154 Gemäß § 50 Abs. 2 öStPO hat die Belehrung in einer Sprache zu erfolgen, die der Beschuldigte versteht und ist in einer verständlichen Art und Weise zu erteilen; die besonderen persönlichen Bedürfnisse des Beschuldigten sind hierbei zu berücksichtigen. Gemäß § 50 Abs. 3 öStPO sind die Belehrung und ein möglicher Verzicht des Beschuldigten auf eines seiner Rechte in einem Amtsvermerk oder in einem Protokoll schriftlich festzuhalten.155 Neben der allgemeinen sofortigen Erstinformation gemäß § 50 öStPO existieren weitere Informations- und Belehrungspflichten in der Strafprozessordnung. So ist der Beschuldigte bei Vernehmungen nach § 153 Abs. 2 öStPO beziehungsweise § 164 Abs. 1 öStPO über seine wesentlichen Rechte zu belehren. Gleiches gilt gemäß § 171 Abs. 4 öStPO bei einer Festnahme des Beschuldigten. Sofern Untersuchungshaft verhängt wird, ist der Beschuldigte gemäß § 174 Abs. 3 Nr. 7 öStPO zu belehren, dass nun ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und dem Beschuldigten ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben werden kann. Ferner hat das Gericht bei der Urteilsverkündung den Beschuldigten darüber zu belehren, dass er zur Ausführung eines Rechtsmittels unter den Voraussetzungen des § 61 Abs. 2 öStPO die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beantragen kann.156 149 Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.13; ähnlich auch WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 8 „ohne schuldhafte Verzögerung“. 150 Bertel/Venier-Flora, § 50 Rn. 4; WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 25. 151 Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.15; WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 24. 152 WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 7. 153 Fabrizy/Kirchbacher, § 50 Rn. 4/1; Bertel/Venier-Flora, § 50 Rn. 3; Hinterhofer/ Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.16; WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 18. 154 Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.17; WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 18. 155 Bertel/Venier-Flora, § 50 Rn. 3; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.16; WK/StPO-Soyer/Stuefer, § 50 Rn. 21. 156 OGH 07.11.1963, 10 Os 267/63, EvBl 1964/216; Fabrizy/Kirchbacher, § 50 Rn. 6.
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Die österreichischen Regelungen zur Belehrung des Beschuldigten über sein Recht auf Verfahrenshilfe entsprechen den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Belehrungs-Richtlinie. 8. Die finanziellen Aspekte der Verfahrenshilfe Hinsichtlich der finanziellen Aspekte der Verfahrenshilfe gilt es zwischen der Kostentragung und der Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers zu unterscheiden. a) Die Kostentragung im Rahmen der Verfahrenshilfe Die Kosten der Verfahrenshilfe trägt der Staat.157 Der Beschuldigte ist von der Tragung der Kosten des Verfahrenshilfeverteidigers grundsätzlich befreit.158 Er kann jedoch gemäß § 393 Abs. 1a S. 1 öStPO zur Übernahme eines Pauschalbeitrags zu dessen Kosten verpflichtet werden. Voraussetzung hierfür ist zum einen, dass dem Beschuldigten der Ersatz der Prozesskosten zur Last fällt, also ein Schuldspruch ergangen ist.159 Zum anderen darf gemäß § 393 Abs. 1a S. 1 öStPO durch die Entrichtung des Pauschalbeitrags sein und seiner Familie, für deren Unterhalt er zu sorgen hat, zur einfachen Lebensführung notwendiger Unterhalt nicht beeinträchtigt werden. Für die Bemessung des Pauschalbeitrags gelten gemäß § 393 Abs. 1a S. 2 öStPO die in § 393a Abs. 1 öStPO angeführten Grundsätze und die dort genannten Höchstbeträge. Den erhobenen Pauschalbeitrag erhält nicht der Verfahrenshilfeverteidiger, sondern der Staat.160 In der Praxis muss der Beschuldigte nur sehr selten einen Pauschalbeitrag zu den Kosten des Verfahrenshilfeverteidigers leisten.161 Wird die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers widerrufen, führt dies zu keiner Nachzahlungsverpflichtung für den Beschuldigten.162 Die Regelung zur Kostentragung im Rahmen der Verfahrenshilfe stimmt mit den Vorgaben der Europäische Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie überein. Die Möglichkeit, den Beschuldigten – sofern er hierzu in der Lage ist – zur Tragung eines Teils der Kosten zu verpflichten, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglich und auch nach Erwägungsgrund 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie explizit zulässig.
157
Murschetz, ÖJZ 2001, 836 (838); WK/StPO-Lendl, § 393 Rn. 2. Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.85. 159 WK/StPO-Lendl, § 393 Rn. 3; LK-Öner, § 393 Rn. 7. 160 Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 13; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.86; WK/StPO-Lendl, § 393 Rn. 4. 161 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 147. 162 Mayerhofer/Salzmann, § 61 Rn. 29; WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 82. 158
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
b) Die Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers Der Verfahrenshilfeverteidiger hat gegen den Beschuldigten keinen Honoraranspruch.163 Anders als der Pflichtverteidiger nach deutschem Recht, erhält der Verfahrenshilfeverteidiger für seine Tätigkeit keine direkte Entlohnung.164 Die Vergütung erfolgt vielmehr indirekt, indem der Staat gemäß § 47 Abs. 1 S. 1 RAO für die im Rahmen der Verfahrenshilfe erbrachten Leistungen dem Österreichischen Rechtsanwaltskammertag eine Pauschalvergütung zahlt.165 Dieser wiederum verteilt das Geld nach einem festen Verteilungsschlüssel166 an die einzelnen Rechtsanwaltskammern, die es gemäß §§ 16 Abs. 3, 48 Abs. 2 RAO für die Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung verwenden. Dieser Vergütungsmodus wird von vielen Rechtsanwälten als nicht motivierend empfunden167 und ist der Grund für das meist nur geringe Engagement des Verfahrenshilfeverteidigers.168 Im Jahr 2021 wurden österreichweit in 18.256 Fällen Rechtsanwälte zu Verfahrenshelfern bestellt.169 13.141 Bestellungen – und damit knapp 72 % – entfielen dabei auf Strafsachen.170 Der vom Staat an den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag gezahlte Pauschalbetrag belief sich im Jahr 2021 auf 21 Millionen Euro.171 Der Wert der in der Verfahrenshilfe erbrachten Leistungen belief sich im Jahr 2021 auf 32.254.437,99 Euro.172 Damit entsprach der vom Staat an den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag gezahlte Pauschalbetrag bei Weitem nicht dem Wert der erbrachten Leistungen.
163 Fabrizy/Kirchbacher, § 61 Rn. 13; LK-McAllister/Wess, § 61 Rn. 34; Murschetz, ÖJZ 2001, 836 (838); WK/StPO-Soyer/Schumann, § 61 Rn. 87. 164 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (141); Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (114). 165 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (141). 166 Vgl. hierzu § 48 Abs. 1 RAO. 167 Soyer, in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Der Schrei nach Strafe, S. 127 (141); Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (115). 168 Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 222. 169 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Verfahrenshilfe, abrufbar unter https:// www.rechtsanwaelte.at/kammer/kammer-in-zahlen/verfahrenshilfe, zuletzt abgerufen am 30.06.2022. 170 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Verfahrenshilfe, abrufbar unter https:// www.rechtsanwaelte.at/kammer/kammer-in-zahlen/verfahrenshilfe, zuletzt abgerufen am 30.06.2022. 171 Verordnung der Bundesministerin für Justiz über die Neufestsetzung einer Pauschalvergütung des Bundes für Leistungen der nach § 45 RAO bestellten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte öBGBl. II Nr. 556/2020. 172 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Verfahrenshilfe, abrufbar unter https:// www.rechtsanwaelte.at/kammer/kammer-in-zahlen/verfahrenshilfe, zuletzt abgerufen am 30.06.2022.
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Bezüglich der nötig gewesenen und wirklich bestrittenen Barauslagen hat der Verfahrenshilfeverteidiger gemäß § 393 Abs. 2 S. 1 öStPO einen Anspruch auf Vergütung gegen den Staat. Diesem Anspruch unterfallen beispielsweise die Kosten der Anreise zu Gericht173 und Dolmetscherkosten, sofern nicht Übersetzungshilfe gemäß § 56 Abs. 2 öStPO geleistet wird.174 Einem als Verfahrenshilfeverteidiger bestellten Rechtsanwalt, der innerhalb eines Jahres mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden tätig wird, steht gemäß § 16 Abs. 4 S. 1 RAO für alle jährlich darüber hinausgehenden Leistungen ein Anspruch auf angemessene Vergütung zu. Über die Höhe dieser Sonderpauschalvergütung entscheidet gemäß § 16 Abs. 4 S. 5 RAO der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer. Da die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundrechtecharta und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie keinerlei Vorgaben bezüglich der Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers enthalten, widerspricht das Vergütungssystem diesen Bestimmungen nicht. Da die Tätigkeit als Verfahrenshilfeverteidiger nicht adäquat vergütet wird und der Vergütungsmodus nicht motivierend wirkt, besteht jedoch – wie auch in Deutschland – die Gefahr, dass der Beschuldigte durch einen Verfahrenshilfeverteidiger qualitativ schlechter verteidigt wird, als durch einen Wahlverteidiger.
II. Das Institut des Verteidigers in Bereitschaft Neben der Verfahrenshilfe kann der mittellose Beschuldigte auch durch das Institut des Verteidigers in Bereitschaft in bestimmten Verfahrenssituationen unentgeltlichen Verteidigerbeistand erhalten. Die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft ist für den Beschuldigten grundsätzlich kostenpflichtig.175 Deshalb handelt es sich beim Institut des Verteidigers in Bereitschaft auch um keine Verfahrenshilfe, sondern vielmehr um eine „Wahlverteidigung zu bestimmten Bedingungen“.176 Lediglich in den Fällen des § 59 Abs. 5 öStPO ist die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft für den mittellosen Beschuldigten kostenlos. Das Institut des Verteidigers in Bereitschaft basiert auf dem anwaltlichen Journaldienst, der im Jahr 2008 durch den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung mit dem Bundesministerium für Justiz 173 Ainedter/Ainedter, in: Kier/Wess (Hrsg.), Handbuch Strafverteidigung, Rn. 29.46; Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rn. 6.86; WK/ StPO-Lendl, § 393 Rn. 10; Seiler, Strafprozessrecht, Rn. 1267. 174 Ainedter/Ainedter, in: Kier/Wess (Hrsg.), Handbuch Strafverteidigung, Rn. 29.46; WK/StPO-Lendl, § 393 Rn. 14. 175 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22); Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (113). 176 Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (113).
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eingerichtet wurde.177 Durch die Einführung des § 59 Abs. 4 öStPO durch das Strafprozessrechtsänderungsgesetz II 2016 – welches unter anderem der Umsetzung der Rechtsbeistand-Richtlinie diente – wurde der Journaldienst gesetzlich verankert und zu einem rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienst ausgebaut.178 Im Jahr 2020 wurde der rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst infolge der Umsetzung der Prozesskostenhilfe-Richtlinie durch das Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 2020 vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag gemeinsam mit dem Bundesministerium für Justiz neu aufgesetzt.179 1. Die Ausgestaltung des Instituts des Verteidigers in Bereitschaft Dem festgenommenen oder zur sofortigen Vernehmung nach § 153 Abs. 3 öStPO vorgeführten Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, ist gemäß § 59 Abs. 1 öStPO vor seiner Vernehmung zu ermöglichen, einen Verteidiger zu verständigen, beizuziehen und zu bevollmächtigen, es sei denn, er erklärt ausdrücklich, auf die Beiziehung während der Dauer der Anhaltung durch die Kriminalpolizei zu verzichten. Zieht der festgenommene oder zur sofortigen Vernehmung nach § 153 Abs. 3 öStPO vorgeführte Beschuldigte keinen gewählten Verteidiger bei, ist ihm gemäß § 59 Abs. 4 S. 1 öStPO bis zur Entscheidung über die Verhängung der Untersuchungshaft180 auf Verlangen die Kontaktaufnahme mit einem Verteidiger in Bereitschaft zu ermöglichen. Gemäß § 59 Abs. 4 S. 2 öStPO haben die Rechtsanwaltskammern Listen der Verteidiger, die sich zur Übernahme solcher Verteidigungen in Bereitschaft bereit erklärt haben, zu führen und deren jederzeitige Erreichbarkeit sicherzustellen. Der Bereitschaftsdienst ist folgendermaßen organisiert. Rechtsanwälte können auf freiwilliger Basis am Bereitschaftsdienst mitwirken.181 Sie können sich durch Rechtsanwaltsanwärter mit Vertretungsbefugnis gemäß großer Legitimations-
177 Fink, öAnwBl 2018, 195 (199); Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 171. 178 ErlRV 1300 BlgNR XXV. GP, 5; Fink, öAnwBl 2019, 196 (199); Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 171; Rom, öAnwBl 2017, 152 (153); WK/ StPO-Soyer/Schumann, § 59 Rn. 10–11; Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (113). 179 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3. 180 Ab der Verhängung von Untersuchungshaft ist – sofern der Beschuldigte mittellos ist – gemäß § 61 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 öStPO in Verbindung mit § 61 Abs. 1 Nr. 1 öStPO ein Verfahrenshilfeverteidiger beizugeben. 181 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3; Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (113).
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urkunde vertreten lassen.182 Diese Regelung ist mit Blick auf die Vorgabe der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation von Verteidigern, die Dienstleistungen im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand erbringen, kritisch zu sehen. Zum einen ist entgegen der Vorgabe der Prozesskostenhilfe-Richtlinie für die Tätigkeit als Verteidiger in Bereitschaft keinerlei besondere Qualifikation von Nöten.183 Zum anderen widerspricht die Möglichkeit, dass sich ein Verteidiger in Bereitschaft durch einen Rechtsanwaltsanwärter mit Vertretungsbefugnis gemäß großer Legitimationsurkunde vertreten lassen kann, ebenfalls den Qualitätsvorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Es werden zwei Listen – „Liste 1“ und „Liste 2“ – der Verteidiger in Bereitschaft geführt.184 Liste 1 umfasst alle Rechtsanwälte, die am entsprechenden Tag Bereitschaftsdienst leisten.185 Österreichweit sind täglich bis zu 49 Rechtsanwälte als Verteidiger in Bereitschaft eingeteilt.186 Liste 2 führt sämtliche Rechtsanwälte auf, die sich gegenüber ihrer Rechtsanwaltskammer grundsätzlich zum Einschreiten im Rahmen des rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes bereit erklärt haben.187 Der Bereitschaftsdienst ist über eine rund um die Uhr besetzte Hotline188 zu erreichen, die dann den Kontakt zu einem Verteidiger in Bereitschaft herstellt.189 Die Hotline hat zunächst diejenigen Rechtsanwälte zu kontaktieren, die an diesem Tag im entsprechenden Bundesland Bereitschaftsdienst haben.190 Ist keiner der im betreffenden Bundesland eingeteilten Bereitschaftsverteidiger erreichbar, so hat die Hotline einen anderen Rechtsanwalt, vorzugsweise einen ebenfalls für den betreffenden Tag eingeteilten Verteidiger in Bereitschaft eines benachbarten Bundeslandes, oder einen für den nächsten Tag eingeteilten Bereitschaftsverteidiger desselben Bundeslandes zu kontaktieren.191 182 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3; Schmölzer/Mühlbacher-Haißl, § 59 Rn. 8. 183 Kritisch hierzu auch Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 178– 180. 184 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3–4. 185 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 171. 186 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3. 187 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 171. 188 Die Telefonnummer der Hotline lautet: 0800 376 386. 189 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3–4; Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 171. 190 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 191 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4.
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
Der rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst umfasst je nach Einzelfall ein telefonisches oder – sofern der Beschuldigte dies verlangt – ein persönliches Beratungsgespräch.192 Ferner beinhaltet der rechtsanwaltliche Bereitschaftsdienst anwaltlichen Beistand bei einer Vernehmung nach § 164 öStPO oder nach § 174 Abs. 1 öStPO und sonstige zu einer zweckentsprechenden Verteidigung erforderliche Handlungen, wie beispielsweise einen Antrag auf Beigabe eines Verfahrenshilfeverteidigers bei Gericht.193 Das erste Telefonat ist ohne zeitliche Beschränkung kostenfrei.194 Während des ersten Telefonats hat der Verteidiger in Bereitschaft den Beschuldigten über Art, Umfang und etwaige Kosten der Leistungen zu informieren, die im Rahmen des rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes erbracht werden.195 Darüber hinaus hat der Verteidiger in Bereitschaft die Daten des Beschuldigten – insbesondere Name, Geburtsdatum und Adresse – zu erfassen.196 Verlangt der Beschuldige – weil eine telefonische Beratung nicht ausreicht –, dass ein Verteidiger persönlich einschreitet, ist die weitere Vorgehensweise davon abhängig, wo sich die Polizeidienststelle, die Justizanstalt oder das Gericht befindet, bei der beziehungsweise dem der Verteidiger tätig werden soll.197 Befindet sich die Stelle am Kanzleisitz des Rechtsanwalts oder in dessen unmittelbarer Nähe, muss der über die Hotline kontaktierte Verteidiger in Bereitschaft selbst einschreiten.198 Das Einschreiten hat tunlichst binnen drei Stunden zu erfolgen.199 Liegt die Stelle, bei der einzuschreiten wäre, dagegen mehr als drei Stunden vom Kanzleisitz entfernt, kann der Verteidiger in Bereitschaft persönlich einschreiten, ist hierzu aber nicht verpflichtet, sofern er einen Verteidiger aus „Liste 2“ einschaltet, der stattdessen einschreitet.200 Entscheidet sich der über die Hotline kontaktierte Verteidiger in Bereitschaft nicht persönlich einzuschreiten, muss er den Kontakt zu einem Verteidiger von „Liste 2“ herstellen, der bei der 192 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3. 193 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3. 194 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 195 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 196 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 197 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 198 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 199 Bundesministerium für Justiz, GZ 2020-0.308.727, Erlass vom 18. Mai 2020 über den rechtsanwaltlichen Bereitschaftsdienst, S. 3. 200 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4.
A. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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betreffenden Stelle örtlich ansässig ist.201 Für Rechtsanwälte von „Liste 2“ besteht allerdings weder eine Verpflichtung zur Erreichbarkeit rund um die Uhr noch zum Einschreiten.202 Schreitet ein Rechtsanwalt vor Ort ein, hat der Beschuldigte eine Vollmachtserklärung zu unterschreiben.203 Die Vertretung endet – sofern der Beschuldigte dem Verteidiger kein weiteres Mandat erteilt –, wenn der festgenommene oder zur sofortigen Vernehmung vorgeführte Beschuldigte freigelassen wird oder Untersuchungshaft gegen ihn verhängt wird.204 Der Beschuldigte ist gemäß § 50 Abs. 1 öStPO in Verbindung mit § 49 Abs. 1 Nr. 3, 4 öStPO darüber zu belehren, dass er das Recht hat, mit einem Verteidiger Kontakt aufzunehmen und sich mit ihm zu besprechen sowie einen Verteidiger seiner Vernehmung beizuziehen. Ferner ist der Beschuldigte sogleich oder unmittelbar nach seiner Festnahme gemäß § 171 Abs. 4 Nr. 2 lit. a öStPO schriftlich in einer Sprache, die er versteht, darüber zu belehren, dass er berechtigt ist, Kontakt mit einem Verteidiger in Bereitschaft aufzunehmen, dessen Kosten er unter den Voraussetzungen des § 59 Abs. 5 öStPO nicht zu tragen hat. Auch wenn das Gesetz nur von „Kontaktaufnahme“ spricht, ist der Beschuldigte auch über das Recht, sich mit dem Verteidiger in Bereitschaft zu besprechen und das Recht, diesen der Vernehmung beizuziehen, zu belehren.205 2. Die finanziellen Aspekte des Instituts des Verteidigers in Bereitschaft Der Verteidiger in Bereitschaft erhält für seine Tätigkeit zum einen ein Bereitschaftshonorar und zum anderen eine Vergütung für erbrachte Leistungen im Rahmen des Bereitschaftsdienstes.206 Das Bereitschaftshonorar beläuft sich auf 137,28 Euro zuzüglich Umsatzsteuer und gilt alle telefonischen Erstgespräche während einer 24-stündigen Rufbereitschaft ab.207 Das Bereitschaftshonorar reduziert sich um die Hälfte, wenn der Verteidiger in Bereitschaft während der Zeit des Bereitschaftsdienstes zwei- bis viermal in Anspruch genommen wird, das 201 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 202 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 203 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 204 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 3; Fink, öAnwBl 2018, 195 (199); Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (113). 205 Bertel/Venier/Tipold, Strafprozessrecht, Vorwort und Rn. 261. 206 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 173. 207 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 5; Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22).
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
heißt bei einer Vernehmung einschreitet oder gleichzusetzende sonstige Leistungen erbringt.208 Bei mehr als viermaliger Inanspruchnahme steht dem Verteidiger in Bereitschaft für diesen Tag kein Bereitschaftshonorar zu.209 Der Stundensatz für das Einschreiten des Verteidigers in Bereitschaft – inklusive der Zeit für die An- und Rückreise – beläuft sich auf 158,40 Euro zuzüglich Umsatzsteuer.210 Es ist nach angefangenen Viertelstunden abzurechnen.211 Schreitet ein Rechtsanwalt aus „Liste 2“ ein, kann dieser seine erbrachten Leistungen ebenfalls mit einem Stundensatz von 158,40 Euro zuzüglich Umsatzsteuer abrechnen; eine Bereitschaftsentlohnung erhält er nicht.212 Kostenschuldner des Bereitschaftshonorars ist der Österreichische Rechtsanwaltskammertag und damit letztlich das Justizressort.213 Das Erstgespräch ist für den Beschuldigten stets kostenfrei.214 Die Kosten des Bereitschaftsverteidigers für die über den Erstkontakt hinausgehende Inanspruchnahme hat grundsätzlich der Beschuldigte zu tragen.215 Zur Verrechnung des Einschreitens stellt der Verteidiger in Bereitschaft eine Honorarnote an den Beschuldigten aus.216 Begleicht der Beschuldigte diese innerhalb von 14 Tagen nicht oder nicht vollständig, übermittelt der Verteidiger in Bereitschaft die Honorarnote an den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag und zediert die Forderung an den Bund.217 Der Österreichische Rechtsanwaltskammertag überweist dann den offenen Betrag an den Verteidiger in Bereitschaft.218 Die Beitreibung der Forderung obliegt dann dem 208 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 5. 209 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 5. 210 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 6. 211 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 6; Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22). 212 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4. 213 Neudorfer, Verfahrenshilfe im Ermittlungsverfahren, S. 173. 214 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 4; Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22). 215 WK/StPO-Soyer/Schumann, § 59 Rn. 12; Stanglechner, in: Vereinigung BadenWürttembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (113). 216 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 5. 217 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 5; Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22). 218 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 5; Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22).
A. Einfachgesetzliche Ausgestaltung
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Bund.219 Von der Beitreibung der Forderung wird in der Praxis abgesehen, wenn beim Beschuldigten die Voraussetzungen für die Gewährung von Verfahrenshilfe vorliegen.220 Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Pflicht des Beschuldigten zur Kostentragung für die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft normiert § 59 Abs. 5 öStPO, der durch das Strafrechtliche EU-Anpassungsgesetz 2020 neu in die Strafprozessordnung eingeführt wurde und der Umsetzung von Art. 4 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie dient.221 Danach muss der Beschuldigte die Kosten für die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft nicht tragen, wenn er erklärt, dazu aus den in § 61 Abs. 2 S. 1 öStPO genannten Gründen außer Stande zu sein und es sich um eine Beiziehung zu der nach § 174 Abs. 1 öStPO durchzuführenden Vernehmung handelt oder der Beschuldigte eine schutzbedürftige Person im Sinne des § 61 Abs. 2 Nr. 2 öStPO ist. In diesen Fällen ist keine Honorarnote an den Beschuldigten auszustellen, sondern direkt mit dem Österreichischen Rechtsanwaltskammertag abzurechnen.222 Stellt sich zu einem späteren Zeitpunkt heraus, dass die Erklärung des Beschuldigten falsch war, so ist er gemäß § 59 Abs. 5 S. 2 öStPO vom Gericht nachträglich zum Ersatz dieser Kosten zu verpflichten. Ob § 59 Abs. 5 öStPO die Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand vollständig umsetzt, erscheint jedoch zweifelhaft. Während die Regelung des § 59 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 öStPO zur Folge hat, dass mittellose Beschuldigte bei der Vernehmung über die Voraussetzungen der Untersuchungshaft gemäß § 174 Abs. 1 öStPO unentgeltlich einen Verteidiger in Bereitschaft beiziehen können und damit in Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 4 lit. a der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bei der Vorführung zur Entscheidung über eine Haft unentgeltlichen Verteidigerbeistand erhalten, ist dies in Haftfällen – den Konstellationen des Art. 4 Abs. 4 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – nicht stets der Fall. Befindet sich der mittellose Beschuldigte in Untersuchungshaft, bekommt er einen Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben, weshalb in diesen Fällen kein Bedarf für die unentgeltliche Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft besteht. Wird der Beschuldigte dagegen von der Polizei festgenommen – wobei der Freiheitsentzug bis zu vier Tage ohne richterliche Kontrolle andauern kann223 und dieser zeitliche Rahmen häufig auch
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Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22). Fink, öAnwBl 2018, 195 (199); Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (22); Stanglechner, in: Vereinigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger e. V. u. a. (Hrsg.), Strafverteidigung!, S. 107 (113). 221 ErlRV 52 BlgNR XXVII. GP, 6. 222 Österreichischer Rechtsanwaltskammertag, Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst – Informationsblatt über die Organisation ab 01.06.2020, S. 6. 223 Gemäß § 172 Abs. 1, 3 öStPO darf der Festgenomme längstens zwei Tage in Polizeihaft angehalten werden, bevor er in die Justizanstalt des zuständigen Gerichts einzuliefern ist, wo er gemäß § 174 Abs. 1 öStPO wiederum längstens zwei Tage auf die Ver220
240
4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
ausgeschöpft wird224 – befindet er sich jedoch ebenfalls in Haft im Sinne der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. 225 Der festgenommene, mittellose Beschuldigte hat damit nach der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ebenfalls einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe.226 Gemäß Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie muss Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde bewilligt werden. Gemäß § 59 Abs. 5 öStPO ist die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft aber erst für die richterliche Vernehmung nach § 174 Abs. 1 öStPO kostenlos. Für die polizeiliche Vernehmung, die bei einer Festnahme nach § 172 Abs. 2 öStPO jedoch zwingend vorgeschrieben ist und auch bei einer Festnahme nach § 172 Abs. 1 öStPO üblicherweise von der Staatsanwaltschaft angeordnet wird, ist die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft dagegen kostenpflichtig.227 Begleicht der Beschuldigte die Kosten des Verteidigers in Bereitschaft nicht, werden diese vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag getragen und die Forderung an den Staat zediert, der jedoch von einer Beitreibung beim Vorliegen der Voraussetzungen der Verfahrenshilfe absieht.228 Auch wenn dies faktisch auf eine Kostenbefreiung hinausläuft, ist diese Regelung „unnötig kompliziert“ und stellt keine echte Unentgeltlichkeit dar.229 Die Regelung widerspricht damit den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. 230 Um einen richtlinienkonformen Zustand herzustellen, muss die Beiziehung des Verteidigers in Bereitschaft zur polizeilichen Vernehmung für den mittellosen Beschuldigten nach § 59 Abs. 5 öStPO ebenfalls kostenlos sein.231 3. Zwischenergebnis Das Institut des Verteidigers in Bereitschaft ermöglicht dem mittellosen Beschuldigten in Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 4 lit. a der ProzesskostenhilfeRichtlinie, unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu der nach § 174 Abs. 1 öStPO durchzuführenden Vernehmung in Anspruch zu nehmen. Entgegen den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gewährt § 59 Abs. 5 öStPO dem mittellosen
nehmung durch den Richter warten muss, vgl. hierzu Bertel/Venier/Tipold, Strafprozessrecht, Rn. 256. 224 Bertel/Venier/Tipold, Strafprozessrecht, Rn. 256. 225 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (24). 226 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (24). 227 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (24). 228 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (25). 229 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (25). 230 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (23–25); Bertel/Venier-Flora, § 59 Rn. 3; Bertel/Venier-Venier, § 171 Rn. 10. 231 Schwaighofer, öAnwBl 2021, 19 (24); Bertel/Venier/Tipold, Strafprozessrecht, Vorwort und Rn. 261.
B. Gesamtergebnis des vierten Kapitels
241
Beschuldigten jedoch nicht die unentgeltliche Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft zur polizeilichen Vernehmung nach einer Festnahme. Ferner ist problematisch, dass mit der Möglichkeit der kostenlosen Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft das durch die Prozesskostenhilfe-Richtlinie garantierte Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand umgesetzt werden soll, aber die Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zur Qualifikation des Verteidigers nicht beachtet werden. So benötigen die als Verteidiger in Bereitschaft tätigen Rechtsanwälte entgegen der Vorgabe der Prozesskostenhilfe-Richtlinie keine speziellen Qualifikationen. Ferner ist es möglich, dass sich ein Verteidiger in Bereitschaft durch einen Rechtsanwaltsanwärter mit Vertretungsbefugnis gemäß großer Legitimationsurkunde vertreten lässt, was den Qualitätsvorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ebenfalls nicht genügt.
B. Gesamtergebnis des vierten Kapitels Das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird in Österreich primär durch das Institut der Verfahrenshilfe gewährleistet. Daneben kann der Beschuldigte in den Fällen des § 59 Abs. 5 öStPO kostenlos einen Verteidiger in Bereitschaft beiziehen. Die Gewährung von Verfahrenshilfe setzt in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und Art. 4 Abs. 2 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie voraus, dass der Beschuldigte mittellos und die Beigebung eines Verteidigers im Interesse der Rechtspflege, insbesondere im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist. Die Kriterien, die zur Feststellung beider Tatbestandsmerkmale heranzuziehen sind, stimmen mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und Art. 4 Abs. 3 und 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie überein. Verfahrenshilfe wird dem Beschuldigten grundsätzlich nur auf Antrag gewährt. Lediglich wenn die Verteidigung notwendig ist, bedarf es keines Antrags. Ferner kann das Gericht einem schutzbedürftigen Beschuldigten, der blind, gehörlos, stumm oder in vergleichbarer Weise behindert ist oder an einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit leidet und deshalb nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, nach seinem Ermessen von Amts wegen einen Verfahrenshilfeverteidiger beigeben. In seiner konkreten Ausgestaltung ist das Antragserfordernis mit den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar. Ein wesentlicher Unterschied zur Bestellung eines Pflichtverteidigers nach deutschem Recht ist, dass Verfahrenshilfe auch außerhalb der Fälle notwendiger Verteidigung gewährt wird, während in Deutschland die Bestellung eines Pflichtverteidigers nur in Fällen notwendiger Verteidigung erfolgt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist, dass die Mittellosigkeit des Beschuldigten tatbestandliche Voraussetzung für die Gewährung von Verfahrens-
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
hilfe ist, während dies beim Recht der Pflichtverteidigung erst im Vollstreckungsverfahren berücksichtigt wird. Verfahrenshilfe wird dem Beschuldigten erst ab Verhängung von Untersuchungshaft gewährt. Dies ist mit Blick auf die EMRK-rechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben problematisch, da der mittellose Beschuldigte grundsätzlich bereits vor der ersten Vernehmung durch die Strafverfolgungsbehörden einen Anspruch auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand hat. Diese Lücke im Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird durch das Institut des Verteidigers in Bereitschaft nur bedingt geschlossen, da es dem mittellosen Beschuldigten – sofern er keine schutzbedürftige Person ist – unentgeltlichen Verteidigerbeistand lediglich bei der Vernehmung über die Voraussetzungen der Untersuchungshaft gewährt. Die Beiordnung eines Verfahrenshilfeverteidigers untergliedert sich in ein gerichtliches Beigebungsverfahren und ein verwaltungsbehördliches Bestellungsverfahren. Im Beigebungsverfahren wird gerichtlich geprüft, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Verfahrenshilfe vorliegen. Anschließend wird der Verfahrenshilfeverteidiger mittels eines „Radlsystems“ von der Rechtsanwaltskammer ausgewählt und bestellt. Die Bestellung sämtlicher zugelassener Rechtsanwälte als Verfahrenshilfeverteidiger in alphabetischer Reihenfolge genügt nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation des Verteidigers und der Qualität der mit der Prozesskostenhilfe verbundenen Dienstleistungen. Im Gegensatz zum deutschen Recht ist das Beiordnungsverfahren zweigeteilt, sodass die Auswahl des Verteidigers nicht dem Richter oder in Eilfällen der Staatsanwaltschaft obliegt, was eine Einflussnahme auf die Verteidigung ausschließt. Die Möglichkeit in Eilfällen einen Dringlichkeitsverteidiger zu bestellen birgt die Gefahr in sich, dass von Seiten des Gerichts Einfluss auf die Verteidigung genommen wird. Zudem beeinträchtigt die Bestellung eines Dringlichkeitsverteidigers das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren und das Recht auf effektive Verteidigung. In Übereinstimmung mit den EMRK-rechtlichen und unionsrechtlichen Vorgaben wird dem Beschuldigten Verfahrenshilfe grundsätzlich für das gesamte weitere Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss gewährt. Die Bestimmungen zur Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers entsprechen den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta sowie Art. 7 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Der Beschuldigte kann sowohl die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers, als auch die Ablehnung der Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers mit der Beschwerde anfechten. Damit steht ihm grundsätzlich ein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne des Art. 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zur Verfügung. Die Vorschriften bezüglich der Belehrung des Beschuldigten über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand entsprechen den Vorgaben der Europäi-
B. Gesamtergebnis des vierten Kapitels
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schen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta sowie der BelehrungsRichtlinie. Die Kosten der Verfahrenshilfe trägt der Staat. Der Beschuldigte kann jedoch zur Übernahme eines Pauschalbeitrags verpflichtet werden, sofern es zu einem Schuldspruch gekommen ist und durch die Entrichtung des Beitrags der zur einfachen Lebensführung notwendige Unterhalt des Beschuldigten beziehungsweise der Unterhalt seiner Familie, für den er zu sorgen hat, nicht beeinträchtigt wird. Die Möglichkeit, den Beschuldigten – sofern dies seine finanziellen Verhältnisse zulassen – zur Tragung eines Teils der Kosten zu verpflichten, ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtecharta vereinbar und auch nach Erwägungsgrund 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zulässig. Der Verteidiger erhält – anders als der Pflichtverteidiger im deutschen Recht – für seine Tätigkeit im Rahmen der Verfahrenshilfe keine direkte Entlohnung. Der Staat zahlt vielmehr für die erbrachten Leistungen an den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag einen Pauschalbetrag, der für die Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung verwendet wird. Das Entlohnungssystem wird nicht nur als nicht motivierend empfunden, sondern vergütet die erbrachten Leistungen auch nicht adäquat. Beides trägt nicht zu einer qualitativ hochwertigen Verteidigung bei. Da die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundrechtecharta und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie allerdings keinerlei Vorgaben bezüglich der Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers enthalten, widerspricht das Vergütungssystem diesen Bestimmungen nicht. Das Institut des Verteidigers in Bereitschaft ermöglicht es einem festgenommenen oder zur sofortigen Vernehmung vorgeführten Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, bis zur Entscheidung über die Verhängung von Untersuchungshaft Verteidigerbeistand zu erhalten. Die Tätigkeit des Verteidigers in Bereitschaft umfasst ein telefonisches, auf Verlangen des Beschuldigten ein persönliches Beratungsgespräch, anwaltlichen Beistand bei einer Vernehmung nach § 164 öStPO oder nach § 174 Abs. 1 öStPO sowie sonstige zu einer zweckentsprechenden Verteidigung erforderliche Handlungen. Die erste telefonische Beratung ist stets kostenlos. Ist der Beschuldigte mittellos und schutzbedürftig, weil er blind, gehörlos, stumm oder in vergleichbarer Weise behindert ist oder an einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit leidet und deshalb nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen, sind auch alle übrigen Leistungen des Verteidigers in Bereitschaft kostenlos. Unabhängig vom Vorliegen einer Schutzbedürftigkeit ist für mittellose Beschuldigte die Beiziehung eines Verteidigers in Bereitschaft zur Vernehmung über die Voraussetzungen der Untersuchungshaft (§ 174 Abs. 1 öStPO) kostenfrei. Die Möglichkeit, dass mittellose Beschuldigte kostenfrei einen Verteidiger in Bereitschaft zur Vernehmung über die Voraussetzungen der Untersuchungshaft beiziehen können, setzt die Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 lit. a der Prozesskostenhilfe-
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4. Kap.: Verteidigerbeistand in Österreich
Richtlinie um. Der Umstand, dass festgenommene Beschuldigte gemäß § 59 Abs. 5 öStPO bei einer Vernehmung durch die Polizei keinen Verteidiger in Bereitschaft unentgeltlich beiziehen können, obwohl sie sich in Haft im Sinne der Prozesskostenhilfe-Richtlinie befinden, verstößt gegen die Vorgaben des Art. 4 Abs. 4 lit. b der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Des Weiteren fehlt es an Regelungen bezüglich der Qualifikation des Verteidigers, sodass das Institut des Verteidigers in Bereitschaft auch nicht den Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie entspricht.
Fünftes Kapitel
Die verschiedenen Lösungsansätze für eine Reform der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand Die Untersuchung der Rechtslage in Deutschland hat gezeigt, dass die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand teilweise hinter den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zurückbleibt. Um die festgestellten Defizite zu beheben, bedarf die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand einer Reform. Es stellt sich die Frage, wie diese Reform im Einzelnen aussehen könnte. Geht man in Übereinstimmung mit der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung davon aus, dass durch das Institut der notwendigen Verteidigung grundsätzlich unentgeltlicher Verteidigerbeistand im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie gewährleistet werden kann, könnten die gegenwärtig geltenden Vorschriften der notwendigen Verteidigung punktuell reformiert werden. Ebenfalls denkbar wäre eine Neuregelung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand anstelle oder neben der notwendigen Verteidigung. Im Schrifttum wird seit Langem eine Reform der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand gefordert. Die diesbezüglich unterbreiteten Vorschläge stammen zwar alle aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und der Reform der notwendigen Verteidigung durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, sind aber nach wie vor aktuell. Im Folgenden werden die verschiedenen Lösungsansätze für eine Reform der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand dargestellt und kritisch bewertet. Abschließend wird ein eigener Reformvorschlag unterbreitet.
A. Die Möglichkeit einer punktuellen Reform der Vorschriften der notwendigen Verteidigung Zunächst kommt in Betracht, die nötigen Reformen zur Umsetzung der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie innerhalb des bestehenden Systems der notwendi-
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
gen Verteidigung umzusetzen. In Anbetracht dessen, dass der Gesetzgeber sich bereits im Zuge des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung für eine Beibehaltung des Systems der notwendigen Verteidigung zur Gewährleistung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand entschieden hat, liegt es nahe, dass er auch die erforderlichen Reformen innerhalb des Systems der notwendigen Verteidigung umsetzen wird. Eine solche Reform würde zunächst erfordern, dass die Vorschrift des § 141 StPO, die den Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung regelt, reformiert wird. In ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung ist die Vorschrift nämlich in mehrfacher Hinsicht nicht mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie vereinbar. Zunächst widerspricht die Regelung des § 141 Abs. 1 StPO, welche die Bestellung eines Pflichtverteidigers – abgesehen von den Fällen des § 141 Abs. 2 StPO – von einem Antrag des Beschuldigten abhängig macht, den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie. Nach Erwägungsgrund 18 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie soll nämlich ein Antrag gerade keine Voraussetzung für eine Verteidigerbestellung sein. Des Weiteren steht das Antragserfordernis in Konflikt mit dem Grundgedanken der notwendigen Verteidigung. In den Fällen notwendiger Verteidigung ist die Mitwirkung eines Verteidigers nämlich aus rechtsstaatlichen Gründen geboten und gerade nicht vom Willen des Beschuldigten abhängig. Schließlich ist auch die Annahme des Gesetzgebers, dass die Nichtbeantragung der Bestellung eines Pflichtverteidigers einen Verzicht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand darstelle, kritikwürdig, da das bloße Nichtstellen eines Antrags nicht den Anforderungen eines Verzichts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand entspricht. Zudem ist ein Verzicht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand im Rahmen der notwendigen Verteidigung ausgeschlossen. Neben der Regelung des § 141 Abs. 1 StPO ist auch die Bestimmung zur amtswegigen Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 141 Abs. 2 StPO zu reformieren. Die Regelung des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO bedarf keiner Reform, jedoch muss die Vorschrift so angewandt werden, dass in dem Zeitraum zwischen der vorläufigen Festnahme des Beschuldigten und der Entscheidung zur Vorführung und Beantragung eines Haftbefehls keine Vernehmungen, Identifizierungs- oder Vernehmungsgegenüberstellungen sowie Tatortrekonstruktionen durchgeführt werden, bis über die Bestellung des Pflichtverteidigers entschieden wurde. Die Vorschrift des § 141 Abs. 2 S. 2 StPO, welche eine Ausnahme von der zwingenden Bestellung eines Pflichtverteidigers bei Vorführung des Beschuldigten normiert, steht nicht mit der Prozesskostenhilfe-Richtlinie in Einklang, die eine solche Ausnahme nicht kennt. Die Bestimmung des § 141 Abs. 2 S. 2 StPO ist mithin zu streichen. Ebenfalls reformbedürftig ist die Vorschrift des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO, die den Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers – entgegen Art. 4 Abs. 5 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – vom materiellen Kriterium „der Fähigkeit des Beschuldigten zur Selbstverteidigung“ abhängig macht. Schließlich ist die in § 141
A. Punktuelle Reform der Vorschriften der notwendigen Verteidigung
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Abs. 2 S. 3 StPO normierte Ausnahme von der Bestellung eines Pflichtverteidigers in der Prozesskostenhilfe-Richtlinie nicht vorgesehen und daher zu streichen. Des Weiteren müsste die Vorschrift des § 141a StPO reformiert werden. Der Gesetzgeber stützt die Ausnahmevorschrift auf Art. 3 Abs. 6 lit. a und b der Rechtsbeistand-Richtlinie, verkennt dabei jedoch, dass das Recht auf Verteidigerbeistand nicht entsprechend Art. 3 Abs. 6 lit. a und b der Rechtsbeistand-Richtlinie einschränkbar ist, weshalb nach Erwägungsgrund 9 der ProzesskostenhilfeRichtlinie eine solche Einschränkung dann auch nicht für das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zulässig ist. Weil die Grundlage für die Vorschrift des § 141a StPO fehlt und zum anderen das Recht auf Verteidigerbeistand einseitig zu Lasten des mittellosen Beschuldigten eingeschränkt wird, ist diese Bestimmung zu streichen. Die Vorschrift des § 142 Abs. 5 StPO beschränkt das Auswahlrecht des Beschuldigten hinsichtlich des zu bestellenden Pflichtverteidigers nicht auf diejenigen Rechtsbeistände, die über die erforderliche Qualifikation im Sinne des Art. 7 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie verfügen. Damit die Regelung des § 142 Abs. 5 StPO den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie entspricht, ist jedoch eine entsprechende Beschränkung des Auswahlrechts zu normieren. Ferner müsste die Regelung des § 142 Abs. 6 StPO, die die Auswahl und Bestellung eines nicht vom Beschuldigten bezeichneten Pflichtverteidigers zum Gegenstand hat, reformiert werden. Die Möglichkeit, einen Rechtsanwalt, der Interesse an der Übernahme von Verfahrenshilfemandaten bekundet hat, zum Pflichtverteidiger zu bestellen, genügt nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation des Verteidigers und der Qualität der im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand erbrachten Dienstleistungen. Hier müsste eine Regelung dahingehend geschaffen werden, dass neben Fachanwälten für Strafrecht nur solche Rechtsanwälte zu Pflichtverteidigern bestellt werden können, die an strafrechtlichen Fortbildungsveranstaltungen teilgenommen haben, die vom Umfang denen für Fachanwälte entsprechen. Auch die Vorschrift des § 136 Abs. 1 S. 5 Hs. 2 StPO bedarf einer Änderung. Die Vorschrift normiert die Pflicht, den Beschuldigten im Rahmen der Belehrung über sein Recht, die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu beantragen, auf die Kostenfolge des § 465 StPO hinzuweisen. Dieser Hinweis kann beim Beschuldigten fälschlicherweise den Eindruck erwecken, er könne Kosten sparen, wenn er die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht beantragt. Verzichtet der Beschuldigte aufgrund des Hinweises auf die Kostenfolge des § 465 StPO auf die Bestellung eines Pflichtverteidigers, steht dies in Konflikt mit dem Ziel der Prozesskostenhilfe-Richtlinie, mittellosen Beschuldigten unabhängig von ihren fi-
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
nanziellen Mitteln Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten. Zudem gibt der Hinweis auf die Kostenfolge des § 465 StPO die Rechtslage nur unvollständig wieder, da der Beschuldigte im Fall der Mittellosigkeit durch Vollstreckungsschutzvorschriften vor einer Beitreibung der Kosten geschützt ist. Die fehlende Pflicht zum Hinweis auf den bestehenden Vollstreckungsschutz ist mit Blick auf Erwägungsgrund 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie problematisch, da danach eine Beteiligung des Beschuldigten an den Kosten der Verteidigung nur in Abhängigkeit von dessen finanziellen Möglichkeiten zulässig ist. Damit die Vorschrift den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie entspricht, ist entweder die Pflicht, auf die Kostenfolge des § 465 StPO hinzuweisen, zu streichen oder um eine Hinweispflicht auf den bestehenden Vollstreckungsschutz zu ergänzen. Schließlich bedürfen die Bestimmungen über die Vergütung des Pflichtverteidigers einer Reform. Zwar treffen die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundrechtecharta und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie keine Regelung über die Vergütung des im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistands tätigen Verteidigers, aber die unterschiedlichen Gebührensätze von Wahlverteidigern und Pflichtverteidigern sind verfassungsrechtlich problematisch. Mit Blick auf Art. 3 GG ist daher eine Angleichung der Gebührensätze geboten. Durch eine punktuelle Reform der Vorschriften der notwendigen Verteidigung würden jedoch die Problemkreise ungelöst bleiben, die zwar nicht gegen die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Grundrechtecharta und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie verstoßen, die jedoch dazu führen, dass das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand hinter dem Recht auf einen Wahlverteidiger zurückbleibt. Insbesondere wäre wie bisher das Gericht und in Eilfällen die Staatsanwaltschaft für die Auswahl des Pflichtverteidigers zuständig, sodass weiterhin die Gefahr bestünde, dass dem Beschuldigten nicht der geeignetste Verteidiger bestellt wird, sondern einer, der dem Gericht beziehungsweise der Staatsanwaltschaft keine Schwierigkeiten bereitet. Außerdem wäre die Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand weiterhin auf die Fälle notwendiger Verteidigung beschränkt.
B. Die Einführung einer Pflichtrechtsschutzversicherung Eine Möglichkeit, dem mittellosen Beschuldigten unentgeltlichen Verteidigerbeistand außerhalb des Instituts der notwendigen Verteidigung zu gewährleisten, wäre die Einführung einer Pflichtrechtsschutzversicherung, die die Verfahrenskosten – und damit auch die Kosten des Verteidigers – übernimmt. In der Literatur wurde für Zivilsachen die Einführung einer Pflichtrechtsschutzversicherung erwogen.1 Eine Pflichtrechtsschutzversicherung auch im Strafverfahren einzufüh1 Baur, JZ 1972, 75 (77–78); kritisch hierzu Bauer, VersR 1973, 110 (111–113); Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, S. 139–143; Baumgärtel, JZ 1975,
C. Generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch die Staatskasse
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ren, wurde – soweit ersichtlich – noch nicht gefordert.2 Einer solchen Forderung würden jedoch auch – wie im Bereich des Zivilrechts – erhebliche Einwände entgegenstehen. Zum einen wäre eine Staffelung der Versicherungsprämie nach der Höhe des Einkommens mit einer unsicheren Kalkulation verbunden, sodass die zu entrichtende Versicherungsprämie für alle Versicherten gleich sein müsste3 und wohl auch relativ hoch ausfiele.4 Damit würden gerade mittellose Beschuldigte belastet, zu deren Entlastung das Modell der Pflichtrechtsschutzversicherung eigentlich beitragen soll.5 Des Weiteren wird nur gegen einen geringen Teil der Gesamtbevölkerung je ein Strafverfahren geführt, sodass eine Umverteilung der Kosten auf die Allgemeinheit mittels einer Pflichtrechtsschutzversicherung weder angebracht erscheint noch dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entspricht.6 Die Einführung einer Pflichtrechtsschutzversicherung ist daher nicht das geeignete Mittel, um dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewährleisten.
C. Die generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch die Staatskasse Eine andere Möglichkeit, dem Beschuldigten unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewährleisten, wäre die generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch die Staatskasse sobald die Mitwirkung eines Verteidigers sachdienlich ist.7 Dies hätte allerdings zur Folge, dass nicht nur mittellose Beschuldigte, sondern auch bemittelte Beschuldigte auf Kosten des Staates unentgeltlichen Verteidigerbeistand erhalten würden.8 Die generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch den Staat ist jedoch weder nach EMRK-rechtlichen noch nach unionsrecht425 (428–429); Bokelmann, ZRP 1973, 164 (167); Hedderich, Pflichtversicherung, S. 454–456; Herrmann, Probleme des Prozeßkostenrisikos unter besonderer Berücksichtigung des Armenrechts, S. 80–82; Schmidt, JZ 1972, 679 (681). 2 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 51 spricht sich explizit gegen die Einführung einer Pflichtrechtsschutzversicherung aus. 3 Schmidt, JZ 1972, 679 (681); kritisch zu einer für alle Versicherten gleich hohen Versicherungsprämie Bokelmann, ZRP 1973, 164 (167). 4 Schmidt, JZ 1972, 679 (681); Herrmann, Probleme des Prozeßkostenrisikos unter besonderer Berücksichtigung des Armenrechts, S. 82. 5 Bokelmann, ZRP 1973, 164 (167); Herrmann, Probleme des Prozeßkostenrisikos unter besonderer Berücksichtigung des Armenrechts, S. 82; Schmidt, JZ 1972, 679 (681). 6 Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, S. 142–143; Baumgärtel, JZ 1975, 425 (429). 7 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 49–57; ähnlich auch Schneider, Notwendige Verteidigung und Stellung des Pflichtverteidigers im Strafverfahren, S. 128. 8 Nach der Ansicht von Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 220 liegt hierin „der entscheidende Nachteil dieses Entwurfs“.
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
lichen Vorgaben erforderlich und würde die Staatskasse über Gebühr belasten. Ferner wird gegen diesen Vorschlag zu Recht eingewandt, dass die generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch die Staatskasse zu einem Verlust an Unabhängigkeit auf Seiten der Verteidiger führe.9 Aufgrund dieser Nachteile ist die generelle Übernahme der Verteidigungskosten durch die Staatskasse nicht der geeignete Lösungsansatz für eine Reform der einfach gesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand.
D. Die Einführung eines Prozesskostenhilfesystems nach dem Vorbild der Zivilprozessordnung Teilweise wird die Einführung eines Prozesskostenhilfesystems nach dem Vorbild der Zivilprozessordnung befürwortet, um dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewährleisten.10 Vereinzelt verweisen die Normen der Strafprozessordnung bereits auf die Vorschriften der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe11 sodass diese dem Strafverfahrensrecht nicht völlig fremd sind.12 Gemäß § 114 Abs. 1 S. 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Allerdings lassen sich die tatbestandlichen Voraussetzungen der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe nicht eins zu eins auf das Strafverfahren übertragen.13 Bereits die Übernahme des Tatbestandsmerkmals der Bedürftigkeit birgt Probleme in sich. Zum einen erfordert die Bedürftigkeitsprüfung die Feststellung der voraussichtlichen Verfahrenskosten, da nur so ermittelt werden kann, ob der Antragsteller finanziell in der Lage ist diese zu tragen.14 Während sich im Zivilpro9
Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 254–256. Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 159–166; Haffke, StV 1981, 471 (478); Herrmann, StV 1996, 396 (400); Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 190–192; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 193–211; Rieß, StV 1981, 460 (461); Sandermann, „Waffengleichheit“ im Strafprozeß, S. 170; Schünemann, ZStW 114 (2002), 1 (50); Spitzer, ZRP 2019, 183; MK/StPO-Thomas/Kämpfer § 140 Rn. 3. 11 Auf die Vorschriften der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe verweisen zum Beispiel § 172 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 StPO, § 364b Abs. 2 StPO, § 379 Abs. 3 StPO, § 397a Abs. 2 S. 1 StPO, § 404 Abs. 5 S. 1 StPO, § 406h Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO. 12 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 194; Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 190; Spitzer, ZRP 2019, 183. 13 Rieß, StV 1981, 460 (461); Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 156 14 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 200. 10
D. Einführung eines Prozesskostenhilfesystems
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zess die Verfahrenskosten auf Grundlage des Streitwertes verhältnismäßig genau bestimmen lassen, ist dies im Strafprozess mangels Streitwertes ungleich schwieriger.15 Insbesondere zu Beginn des Strafverfahrens lassen sich die Verfahrenskosten kaum abschätzen.16 Mit einer überschlägigen Schätzung – wobei ein großzügiger Maßstab anzulegen wäre – sowie einem Rückgriff auf statistische Erhebungen über die voraussichtlichen Kosten in vergleichbaren Fällen und der Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls ließe sich diese Problematik jedoch lösen.17 Zum anderen sind dem Antrag auf Prozesskostenhilfe gemäß § 117 Abs. 2 S. 1 ZPO eine Erklärung der Partei über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familienverhältnisse, Beruf, Vermögen, Einkommen und Lasten) sowie entsprechende Belege beizufügen. Das Gericht kann gemäß § 118 Abs. 2 S. 1 ZPO die Glaubhaftmachung der Angaben verlangen. Sowohl die Darlegung als auch die Glaubhaftmachung der Bedürftigkeit steht in Konflikt mit dem nemo-tenetur-Grundsatz.18 Die Angaben des Beschuldigten zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen können nämlich für die Beurteilung der Tat und den Rechtsfolgenausspruch von Bedeutung sein, weshalb sich das Schweigerecht des Beschuldigten hierauf bezieht.19 Um diesen Konflikt zu vermeiden, wird vorgeschlagen, die Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten den Sozialämtern zu übertragen.20 Damit das Schweigerecht des Beschuldigten nicht unterlaufen wird, sei § 53 Abs. 1 StPO auf die Mitarbeiter des Sozialamts zu erweitern, die dann einer gemäß § 203 StGB strafbewehrten Verschwiegenheitspflicht unterlägen.21 Alternativ wird erwogen, die vom Beschuldigten im Rahmen des Prozesskostenhilfeantrags getätigten Angaben einem Beweisverwertungsverbot zu unterwerfen.22 Beide Vorschläge sind grundsätzlich geeignet den Konflikt zu lösen. 15 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 200; Rieß, StV 1981, 460 (461). 16 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 200. 17 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 201. 18 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 201–202; Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 473. 19 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 201–202; Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 473. 20 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 223; Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373; anknüpfend an diesen Vorschlag schlägt Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 163–164 vor, ein bestimmtes Amtsgericht im Oberlandesgerichtsbezirk mit der Bedürftigkeitsprüfung zu betrauen. 21 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373; Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 225–226. 22 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 204; kritisch hierzu Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 162–163.
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
Des Weiteren kann die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Strafverfahren nicht von den hinreichenden Erfolgsaussichten der Verteidigung abhängig gemacht werden.23 Im Zivilverfahren ist eine hinreichende Erfolgsaussicht gegeben, wenn der Rechtsstandpunkt des Antragstellers zumindest vertretbar erscheint und die Möglichkeit der Beweisführung besteht.24 Eine Übertragung des Erfordernisses der hinreichenden Erfolgsaussicht auf das Strafverfahren hätte zur Folge, dass frühzeitig gestellten Prozesskostenhilfeanträgen häufiger stattgegeben werden müsste als solchen, die zu einem späteren Zeitpunkt gestellt würden, weil sich der Verdacht gegen den Beschuldigten – sofern das Verfahren nicht eingestellt wird – mit fortschreitendem Verfahren erhärtet und so die Erfolgsaussichten einer Verteidigung stetig geringer werden.25 Zudem ist zu bedenken, dass eine Verteidigung ganz unterschiedliche Ziele – zum Beispiel einen Freispruch, eine Einstellung des Verfahrens oder eine möglichst milde Bestrafung – verfolgen kann.26 Um beurteilen zu können, ob die Verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, müsste das Verteidigungsziel beziehungsweise die Verteidigungsstrategie offengelegt werden.27 Dies würde jedoch gegen den nemo-tenetur-Grundsatz verstoßen. Schließlich würde die Verneinung hinreichender Erfolgsaussichten der Verteidigung die Unschuld des Beschuldigten in Zweifel ziehen und so mit der Unschuldsvermutung konfligieren.28 Auch das Tatbestandsmerkmal der Mutwilligkeit kann nicht einfach im Rahmen der strafprozessualen Prozesskostenhilfe übernommen werden.29 Gemäß § 114 Abs. 2 ZPO ist die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung mutwillig, wenn eine Partei, die keine Prozesskostenhilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände von der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung absehen würde, obwohl eine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht. Die Absicht, sich gegen einen Strafvorwurf unter Beiziehung eines Verteidigers zur Wehr zu setzen, ist ein Menschenrecht und die Inanspruchnahme eines solchen
23 Rieß, StV 1981, 460 (461); Herrmann, StV 1996, 396 (400); Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 191; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 196–199; Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 473; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 160. 24 BGH NJW 1994, 1160 (1161); Musielak/Voit-Fischer, § 114 Rn. 19; BeckOK/ ZPO-Reichling, § 114 Rn. 28. 25 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 191; Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 198 Fn. 611. 26 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 191. 27 Inoue, Die Pflichtverteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 191; Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 472–473. 28 Sandermann, „Wafengleichheit“ im Strafprozeß, S. 170. 29 Herrmann, StV 1996, 396 (400); Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 199; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 160.
E. Einführung einer begrenzten, subsidiären Staatshaftung
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kann niemals mutwillig sein. Ferner würde man die Unschuldsvermutung leugnen und den Beschuldigten vorverurteilen, wenn die beabsichtigte Verteidigung als mutwillig angesehen würde.30 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorschriften der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe nur bedingt in das Strafverfahren übernommen werden können. Das Tatbestandsmerkmal der Mittellosigkeit kann grundsätzlich übertragen werden, sofern sichergestellt wird, dass die Angaben des Beschuldigten zu seiner Bedürftigkeit nicht den nemo-tenetur-Grundsatz verletzen. Im Gegensatz dazu können die Tatbestandsmerkmale der hinreichenden Erfolgsaussichten und der fehlenden Mutwilligkeit keine Anwendung finden, da sie mit den Prinzipien des Strafverfahrens unvereinbar sind. Würde die Gewährung von Prozesskostenhilfe allein von der Mittellosigkeit des Beschuldigten abhängig gemacht, hätte der mittellose Beschuldigte in ausnahmslos jedem Strafverfahren einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe. Ob dies in Anbetracht der begrenzten finanziellen Mittel des Staates finanzierbar ist, dürfte jedoch fraglich sein.
E. Die Einführung einer begrenzten, subsidiären Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar Schoeller schlägt dagegen eine begrenzte, subsidiäre Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar vor.31 Im Anwendungsbereich notwendiger Verteidigung32 soll der mittellose Beschuldigte wie der begüterte Beschuldigte durch den Abschluss eines Geschäftsbesorgungsvertrages ein Mandat mit einem Wahlverteidiger begründen können.33 Damit dies möglich ist, müsse der Staat dem Verteidiger Gebührensicherheit garantieren.34 Grundsätzlich sei der Beschuldigte aufgrund des mit dem Verteidiger geschlossenen Geschäftsbesorgungsvertrags zur Vergütung der Verteidigertätigkeit verpflichtet.35 Sofern der Beschuldigte hierzu jedoch nicht in der Lage ist, habe der Staat – gewissermaßen als Bürge – für diese Verbindlichkeit einzustehen.36 Die Einstandspflicht des Staates sei allerdings auf die gesetzlichen Wahlverteidigergebühren begrenzt, sodass darüber hinausgehende Honorare nicht von der Gebührensicherheit gedeckt wären.37 Außerdem sei die Einstandspflicht auf die Übernahme der Gebühren eines Verteidigers 30 Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 199–200; Christmann, Die Neuregelung der notwendigen Verteidigung auf Grund der Legal Aid-Richtlinie, S. 158. 31 Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 473–477. 32 Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 476. 33 Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 473. 34 Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 474. 35 Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 475. 36 Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 475. 37 Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 476.
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
beschränkt, es sei denn der Umfang der Sache erfordere die Mitwirkung mehrerer Verteidiger.38 Die Inanspruchnahme der Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar durch den Verteidiger dürfe nicht mit der Darlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten verbunden werden, da ansonsten das nemo-tenetur-Prinzip verletzt werde.39 Vielmehr reiche die Versicherung des Verteidigers, dass der Beschuldigte die gesetzlichen Gebühren nicht oder nicht vollständig beglichen habe, für die Übernahme der Verteidigergebühren durch den Staat aus.40 Sofern der Beschuldigte nachträglich doch noch Zahlungen an den Verteidiger leiste, müsse der Verteidiger dies offenlegen und das vom Staat erhaltene Geld in entsprechender Höhe zurückerstatten.41 Die vom Staat aufgrund der Einstandspflicht gezahlten Gebühren seien Auslagen des Verfahrens im Sinne des § 464a Abs. 1 S. 1 StPO, sodass der Beschuldigte diese zu erstatten hätte, wenn er verurteilt würde.42 In den Fällen, in denen der Beschuldigte keinen Verteidiger mandatiert, soll die Auswahl und Bestellung des Verteidigers weiterhin nach den gesetzlichen Regelungen der notwendigen Verteidigung erfolgen.43 Das Modell der begrenzten, subsidiären Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar soll es dem mittellosen Beschuldigten nicht nur ermöglichen, ein Wahlverteidigermandat zu begründen, sondern dieses auch wieder einseitig zu beenden und einen anderen Verteidiger mit der Verteidigung zu beauftragen.44 Damit bei einem Verteidigerwechsel innerhalb eines Verfahrensabschnitts nicht, wie nach dem gegenwärtigen Gebührenrecht, die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr für den ursprünglichen und den neuen Wahlverteidiger anfällt, schlägt Schoeller eine Reform des Gebührenrechts vor. Er erwägt, die Grundgebühr abzuschaffen und stattdessen die Gebühren in den einzelnen Verfahrensabschnitten angemessen zu erhöhen oder die Verfahrensabschnitte in Zeitintervalle zu unterteilen, sodass die Tätigkeit des Verteidigers intervallmäßig vergütet würde.45 Die staatliche Einstandspflicht würde dabei nur gegenüber dem Verteidiger bestehen, der als erster im entsprechenden Zeitintervall beauftragt wurde.46 Dem neu gewählten Verteidiger würde die staatliche Gebührensicherheit ab dem nächsten Zeitintervall garantiert.47 Das Modell der begrenzten, subsidiären Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar ermöglicht es dem mittellosen Beschuldigten, ein Wahlverteidigerman38 39 40 41 42 43 44 45 46 47
Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S.
476. 475. 475. 475–476. 476. 477. 473. 476–477. 477. 477.
F. Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe
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dat zu begründen und dieses auch wieder einseitig zu beenden. Damit befreit es den mittellosen Beschuldigten von den Restriktionen, die im Rahmen des Instituts der notwendigen Verteidigung bei der Auswahl und Bestellung des Pflichtverteidigers sowie der Auswechslung des Pflichtverteidigers bestehen und stellt in diesen Bereichen mittellose und bemittelte Beschuldigte gleich. Zudem hat das Modell zur Folge, dass Verteidiger, die im Rahmen der notwendigen Verteidigung lediglich als Pflichtverteidiger vergütet worden wären, nun das höhere Honorar eines Wahlverteidigers erhalten. Dies dürfte zu einer besseren Qualität der Verteidigung beitragen, da gebührenrechtlich kein Unterschied mehr zwischen Pflicht- und Wahlverteidigungsmandaten bestünde. Sofern die Verteidigung nicht notwendig ist, erhält der mittellose Beschuldigte aber auch nach dem Modell der begrenzten, subsidiären Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar weiterhin keinen unentgeltlichen Verteidigerbeistand. Ein weiterer Nachteil des Modells ist, dass Beschuldigte, die im Fall notwendiger Verteidigung keinen Verteidiger wählen, weiterhin einen Pflichtverteidiger bestellt bekommen und den aufgezeigten Schwächen des Systems der Pflichtverteidigung ausgesetzt sind.
F. Die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe Im Gegensatz dazu plädiert Vogelsang dafür, sich bei einer Reform des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand am österreichischen Institut der Verfahrenshilfe zu orientieren.48 Auch wenn der Vorschlag von Vogelsang bereits aus dem Jahr 1992 stammt und die Vorschriften der Verfahrenshilfe seitdem teilweise Änderungen erfahren haben, besteht die Grundkonzeption der Verfahrenshilfe fort, sodass der Vorschlag auch weiterhin als Ansatz für eine Reform der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand herangezogen werden kann. Dem Beschuldigten, der außerstande ist, die Kosten der Verteidigung ohne Beeinträchtigung des zu einer einfachen Lebensführung notwendigen Unterhaltes für sich und seine Familie zu tragen, sei auf Antrag ein Verteidiger beizugeben, dessen Kosten er nicht zu tragen habe, wenn dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist.49 Grundsätzlich habe der Beschuldigte die Wahl, ob er die Beigebung eines 48 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 220–247. 49 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 221; kritisch bezüglich des Kriteriums „Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung“ Kortz, S. 194 Fn. 599, der darauf hinweist, dass durch diese Einschränkung der mittellose Beschuldigte nicht in allen Fällen ungehinderten Zugang zu einem Rechtsbeistand hat; ebenfalls kritisch Mehle, S. 373, der darauf hinweist, dass die Beschränkung auf Erfordernisse der Rechtspflege beziehungsweise eine zweckentsprechende Verteidigung zu Wertungsproblemen führe.
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
Verfahrenshilfeverteidigers beantragt.50 Lediglich in den Fällen notwendiger Verteidigung – die allerdings auf schwerwiegende Fälle zu beschränken seien51 – müsse ein Verteidiger am Strafverfahren mitwirken.52 Beantragt der Beschuldigte im Fall der notwendigen Verteidigung nicht die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers, sei ihm von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen.53 Um dem mittellosen Beschuldigten frühzeitig eine Einflussnahme auf die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden zu ermöglichen, könne er bereits im Ermittlungsverfahren die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beantragen.54 Hierüber sei er rechtzeitig zu belehren; mit der Belehrung dürfe nicht bis zur ersten Vernehmung des Beschuldigten zugewartet werden.55 Vielmehr folge aus einer verfassungskonformen Auslegung des § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, dass der Beschuldigte unverzüglich über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu unterrichten sei.56 Nur wenn die Strafverfolgungsbehörden Zwangsmaßnahmen veranlasst haben, deren Erfolg durch die Mitteilung gefährdet würde, dürfe diese einstweilig unterbleiben.57 Für den Beschuldigten sei es im Ermittlungsverfahren jedoch schwierig, das zuständige Gericht, bei dem er die Beigebung des Verfahrenshilfeverteidigers beantragen könne, zu bestimmen.58 Deshalb solle für die Beigebung während des Ermittlungsverfahrens der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts zuständig sein, in dessen Bezirk die für das Verfahren zuständige Staatsanwaltschaft ihren Sitz hat.59 Wenn der Beschuldigte die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beantragt, solle umgehend festgestellt werden, ob er mittellos ist und damit der Staat 50 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 222. 51 Ein schwerwiegender Fall liegt vor, wenn der Beschuldigte die Bedeutung der Verteidigung völlig verkennt oder untätig bleibt sowie im Fall der Untersuchungshaft und der einstweiligen Unterbringung, vgl. Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 222, 239–240. 52 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 222. 53 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 245. 54 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 236. 55 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 236–237. 56 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 237. 57 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 237. 58 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 238–239. 59 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 239.
F. Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe
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die Kosten des Verfahrenshilfeverteidigers trägt.60 Für die Feststellung der Mittellosigkeit seien die zivilprozessualen Vorschriften der Prozesskostenhilfe heranzuziehen.61 Macht der Beschuldigte keine oder unvollständige Angaben zu seinen Vermögensverhältnissen oder macht er seine Angaben nicht glaubhaft, könne die Bedürftigkeit verneint oder unter den Vorbehalt späterer Nachprüfung gestellt werden.62 Damit die für die Feststellung der Mittellosigkeit erforderliche Offenlegung der Vermögensverhältnisse nicht mit dem Schweigerecht des Beschuldigten zu seinen persönlichen Verhältnissen kollidiert, soll eine nicht am Verfahren beteiligte Stelle, zum Beispiel das Sozialamt, die Mittellosigkeit des Beschuldigten überprüfen und das Ergebnis der Überprüfung dem Gericht mitteilen.63 Zur Absicherung des Schweigerechts sei den Mitarbeitern des Sozialamts ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 StPO einzuräumen.64 Das Gericht habe im Anschluss nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers im Interesse der Rechtspflege – insbesondere im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung – erforderlich ist.65 Hieran sollen keine hohen Anforderungen gestellt werden.66 Darüber hinaus solle das Tatbestandsmerkmal „im Interesse der Rechtspflege“ für besonders wichtige prozessuale Situationen gesetzlich konkretisiert werden.67 Um bei der Auswahl des Verfahrenshilfeverteidigers sachfremde Erwägungen auszuschließen, soll diese – sofern der für die Bestellung zuständige Richter dem Bestellungswunsch des Beschuldigten nicht entsprechen möchte – einem am Verfahren unbeteiligten richterlichen Gremium übertragen werden.68 Damit das Gremium über die nötige Kenntnis des Verfahrens verfügt, habe der mit der Strafsache befasste Vorsitzende Richter beratend am Entscheidungsfindungsprozess
60 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 223. 61 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 224. 62 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 224. 63 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 223–224. 64 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 225–226 65 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 224. 66 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 225. 67 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 225. 68 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 246.
Verteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen Straf-
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
mitzuwirken.69 In eilbedürftigen Fällen könne der Vorsitzende des Gremiums alleine über die Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers entscheiden.70 Um eine effektive Verteidigung zu gewährleisten, solle das Gremium dem Beschuldigten eine Liste mit Namen von Rechtsanwälten vorlegen, die auf dem Gebiet des Straf- und Strafprozessrechts erfahren sind.71 Der Beschuldigte könne dann aus dieser Liste einen Verteidiger auswählen.72 Vor dem Hintergrund einer effektiven Verteidigung solle nach Möglichkeit die Bestellung eines Referendars als Verfahrenshilfeverteidiger unterbleiben.73 Die Beigebung des Verfahrenshilfeverteidigers solle nicht mit dem Abschluss der erstinstanzlichen Hauptverhandlung enden, sondern vielmehr für das Rechtsmittelverfahren fortgelten.74 Falls der Beschuldigte das Vertrauen zu dem Verfahrenshilfeverteidiger verliert, müsse er diesen abwählen können.75 Um im Falle der notwendigen Verteidigung der Gefahr einer Verfahrenssabotage durch die Abwahl des Verfahrenshilfeverteidigers zu begegnen, müssten jedoch Sicherungsmaßnahmen ergriffen werden.76 So müsse der Beschuldigte den Antrag auf Entpflichtung des Verfahrenshilfeverteidigers stets begründen, wobei sich der Begründungsumfang mit fortschreitender Verfahrensdauer erhöhe.77 Zudem sei stets der Verfahrenshilfeverteidiger anzuhören.78 Sofern die Auffassung des Beschuldigten auf ein Autonomiedefizit hindeute oder der Antrag auf Abwahl des Verfahrenshilfeverteidigers offensichtlich nur der Verfahrensverschleppung diene, sei der Verfahrenshilfeverteidiger nicht abzuberufen.79 Ist der Antrag des Beschuldigten dagegen begründet, ist die Bestellung des Verfahrenshilfeverteidigers
69 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 246. 70 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 246. 71 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 247. 72 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 247. 73 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 247. 74 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 241. 75 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 243. 76 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 243. 77 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 244. 78 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 244. 79 Vogelsang, Die prozeßrecht, S. 244.
notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafnotwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Straf-
F. Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe
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zu widerrufen.80 Jedoch müsse der Verfahrenshilfeverteidiger die Verteidigung solange weiterführen, bis der Beschuldigte innerhalb einer ihm zu setzenden Frist einen neuen Verfahrenshilfeverteidiger benannt hat und dieser die Verteidigung übernimmt.81 Lasse der Beschuldigte die Frist verstreichen, werde ein neuer Verfahrenshilfeverteidiger von Amts wegen bestellt.82 Der Umstand, dass der Beschuldigte in diesem Fall zeitweise von einem Verfahrenshilfeverteidiger verteidigt würde, der nicht mehr sein Vertrauen genießt, werde dadurch abgemildert, dass der Beschuldigte ab Beginn der Hauptverhandlung jederzeit die Beigabe eines weiteren Verfahrenshilfeverteidigers erbitten könne.83 Auch das Gericht könne den Verfahrenshilfeverteidiger abberufen, allerdings grundsätzlich nur mit Zustimmung des Beschuldigten.84 Lediglich wenn offensichtlich ein wichtiger Grund vorläge, bedürfe es der Zustimmung des Beschuldigten nicht.85 Das Kriterium des wichtigen Grundes sei gesetzlich zu normieren und läge etwa bei offensichtlicher Inkompetenz, Krankheit oder sonstiger langandauernder Verhinderung des Verfahrenshilfeverteidigers vor.86 Die Abberufung des Verfahrenshilfeverteidigers zur Beseitigung einer notleidenden Verteidigung sollte jedoch stets ultima ratio sein, weshalb zu prüfen ist, ob im Interesse einer sachgerechten Verteidigung nicht die Bestellung eines weiteren Verteidigers geboten sei.87 Hinsichtlich der Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers möchte sich Vogelsang ebenfalls am österreichischen Recht orientieren.88 Jedes Bundesland habe einen bestimmten Geldbetrag an die einzelnen Rechtsanwaltskammern zu entrichten, den diese für die Beiträge zur Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenversorgung derjenigen Rechtsanwälte zu verwenden hätten, die Verfahrenshilfeverteidigungen übernehmen.89 Diese Grundentlohnung solle mit einer 80 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 244. 81 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 244. 82 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 244. 83 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 244–245. 84 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 241–242. 85 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 242. 86 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 242. 87 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 242. 88 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 227. 89 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 229.
Verteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen Straf-
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
Einzelentlohnung kombiniert werden, die dem Verfahrenshilfeverteidiger einen Anspruch gegen die Staatskasse einräumt, wenn die Hauptverhandlung länger als zwei Tage dauert.90 Die Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers habe sich an den Gebühren eines Wahlverteidigers zu orientieren.91 In welcher Höhe der Verfahrenshilfeverteidiger die Gebühren in Ansatz bringe, obliege diesem.92 Sofern die Staatskasse die vom Verfahrenshilfeverteidiger veranschlagten Gebühren für zu hoch erachtet, habe der Vorstand der zuständigen Rechtsanwaltskammer ein für beide Seiten bindendes Gutachten über die Höhe der Gebühren anzufertigen.93 Werde der Verfahrenshilfeverteidiger lediglich im Ermittlungsverfahren tätig, bleibt es grundsätzlich bei der Grundentlohnung.94 Lediglich wenn die Tätigkeit im Ermittlungsverfahren besonders umfangreich oder schwierig sei, komme ergänzend eine Einzelentlohnung in Betracht.95 Ob die Sache besonders umfangreich oder schwierig sei, habe nicht die Staatskasse, sondern ein unbeteiligter Dritter – etwa der Vorstand der jeweiligen Rechtsanwaltskammer – zu beurteilen.96 Der Vorschlag von Vogelsang, das Institut der Verfahrenshilfe in das deutsche Recht zu integrieren, würde das Recht des mittellosen Beschuldigten auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand grundsätzlich stärken. Zunächst würde durch die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe der Anwendungsbereich des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand erweitert, da die Gewährung von Verfahrenshilfe nicht auf die Fälle notwendiger Verteidigung beschränkt ist. Im Gegensatz zur Einführung eines Prozesskostenhilfesystems würde dem mittellosen Beschuldigten jedoch nicht in jedem Strafverfahren unentgeltlicher Verteidigerbeistand gewährt, da die Gewährung von Verfahrenshilfe einschränkend vom Interesse der Rechtspflege, insbesondere dem Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, abhängig gemacht wird. Eine solche Einschränkung ist nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie auch zulässig. Des Weiteren würde auch die Autonomie des Beschuldigten und damit seine Stellung als Verfahrenssubjekt gestärkt, 90 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 229–230. 91 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 230. 92 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 230. 93 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 230–231. 94 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 231. 95 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 231–232. 96 Vogelsang, Die notwendige prozeßrecht, S. 232.
Verteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen StrafVerteidigung im deutschen und österreichischen Straf-
G. Verfahrenshilfe in Kombination mit einem Prozesskostenhilfesystem
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da es – abgesehen von den Fällen notwendiger Verteidigung, die jedoch auf schwerwiegende Fälle zu reduzieren wären – grundsätzlich dem Beschuldigten überlassen bliebe, ob ein Verteidiger am Verfahren mitwirken soll oder nicht. Die Vorschläge zur konkreten Ausgestaltung des Instituts der Verfahrenshilfe vermögen dagegen nur bedingt zu überzeugen. Zwar würde die Feststellung der Mittellosigkeit des Beschuldigten durch das Sozialamt anstatt durch das Gericht das Schweigerecht des Beschuldigten zu seinen persönlichen Verhältnissen schützen, jedoch dürfte dieses Verfahren aufgrund der Einschaltung einer weiteren Institution das Bestellungsverfahren weiter verzögern. Dies ist mit Blick darauf, dass unentgeltlicher Verteidigerbeistand möglichst frühzeitig zu gewähren ist, problematisch. Indem auch die Auswahl des Verfahrenshilfeverteidigers einem Gremium übertragen werden soll, dürften weitere zeitliche Verzögerungen im Beiordnungsverfahren auftreten. Ob durch die Übertragung der Auswahl des Verteidigers auf ein mit Richtern besetztes Gremium tatsächlich sachfremde Erwägungen bei der Auswahl des Verteidigers ausgeschlossen werden, ist zu bezweifeln. Zum einen birgt die beratende Mitwirkung des für das Verfahren zuständigen Richters die Gefahr in sich, dass doch eine Einflussnahme auf die Auswahlentscheidung erfolgt. Zum anderen bestehen Bedenken, ob ein Richtergremium nicht doch einen bequemen Verteidiger bestellt, um ihren Richterkollegen die Arbeit zu erleichtern. Schließlich vermag der Vorschlag, das österreichische Vergütungssystem in modifizierter Form zu übernehmen, nicht zu überzeugen. Die in Österreich praktizierte indirekte Entlohnung für Tätigkeiten im Rahmen der Verfahrenshilfe wird als ein Hauptproblem für die schlechte Qualität der Verfahrenshilfeverteidigung angesehen. Lediglich dem Grundgedanken, die Vergütung des im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand tätigen Verteidigers der eines Wahlverteidigers anzupassen, ist zuzustimmen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es aber nicht des Modells der Grund- und Einzelentlohnung; dies kann vielmehr durch eine Anpassung der Vergütungsvorschriften erreicht werden.
G. Die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe in Kombination mit einem Prozesskostenhilfesystem nach dem Vorbild der Zivilprozessordnung Mehle schlägt vor, die Grundzüge der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe mit dem von Vogelsang entworfenen Modell der Verfahrenshilfe zu verbinden, um so dem mittellosen Beschuldigten das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewährleisten.97 Im Gegensatz zu Vogelsang möchte Mehle die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand jedoch nicht vom Vorliegen der tatbe97 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 372–376.
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
standlichen Voraussetzungen der Verfahrenshilfe abhängig machen, sondern vielmehr auf die Regelungen der Prozesskostenhilfe abstellen.98 Hierdurch soll vermieden werden, dass die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand an das Interesse der Rechtspflege geknüpft wird.99 In Übereinstimmung mit Vogelsang fordert Mehle, dass der Beschuldigte frühzeitig über das Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu belehren sei100 und bereits vor der Verteidigerbestellung über die Mittellosigkeit des Beschuldigten entschieden werden müsse.101 In Anlehnung an den Vorschlag von Vogelsang seien ferner die finanziellen Voraussetzungen für die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand von einer unabhängigen Stelle zu prüfen.102 Diese Aufgabe könne entweder das Sozialamt oder der Rechtspfleger, der hierfür im Rahmen der Beratungshilfe gemäß § 4 BerHG in Verbindung mit § 24a Abs. 1 Nr. 1 RPflG zuständig sei, übernehmen.103 Damit das Schweigerecht des Beschuldigten nicht unterlaufen werde, sei das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 53 Abs. 1 StPO auf den entsprechenden Personenkreis zu erstrecken.104 Zudem bestünde eine Verschwiegenheitspflicht, deren Verletzung gemäß § 203 StGB strafbar sei.105 Der Verteidiger werde gerichtlich bestellt.106 Dem Beschuldigten sei jedoch eine Wahlmöglichkeit einzuräumen.107 Im Ermittlungsverfahren sei dagegen grundsätzlich die Staatsanwaltschaft für die Verteidigerbestellung zuständig.108 Lediglich wenn die Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Beschuldigten bezüglich des zu bestellenden Verteidigers nicht entsprechen möchte, entscheide der 98 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373. 99 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373. 100 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 375. 101 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373. 102 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373. 103 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373–374. 104 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373. 105 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 373. 106 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 374. 107 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 374. 108 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 374.
G. Verfahrenshilfe in Kombination mit einem Prozesskostenhilfesystem
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Ermittlungsrichter über die Verteidigerbestellung.109 Die Bestellung des Verteidigers gelte bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens.110 Ferner sei analog § 406g Abs. 4 StPO a. F.111 eine Eilbeiordnung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren zu gewährleisten.112 Eine solche käme insbesondere bei einer Vernehmung des Beschuldigten, Identifizierungsgegenüberstellungen oder Zeugenvernehmungen, bei denen dem Verteidiger ein Anwesenheitsrecht zusteht, in Betracht.113 Zuständig für die Eilbeiordnung sei der Ermittlungsrichter.114 Dieser habe im Rahmen der Eilbeiordnung auch zu prüfen, ob die Bewilligung von Prozesskostenhilfe grundsätzlich möglich erscheint; deshalb sei das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 53 Abs. 1 StPO auf den Ermittlungsrichter auszudehnen, um das Schweigerecht des Beschuldigten bezüglich seiner Vermögensverhältnisse zu schützen.115 Abschließend fordert Mehle, dass in Fällen notwendiger Verteidigung die Verteidigerbestellung unabhängig von der Gewährung von Prozesskostenhilfe erfolgen müsse.116 Allerdings habe auch im Rahmen notwendiger Verteidigung unabhängig vom Ausgang des Verfahrens eine Übernahme der Verteidigerkosten nach den Grundsätzen der Prozesskostenhilfe zu erfolgen, wenn der Beschuldigte mittellos ist.117 Der Vorschlag Mehles, die Grundzüge der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe mit dem von Vogelsang vorgeschlagenen Modell der Verfahrenshilfe zu verbinden, ist wenig konkret.118 So wird nicht deutlich, inwiefern die Vorschriften der Prozesskostenhilfe – insbesondere deren tatbestandliche Voraussetzungen – 109 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 374. 110 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 374 Fn. 145. 111 § 406g Abs. 4 StPO a. F. entspricht weitestgehend § 464h Abs. 4 StPO, vgl. Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren vom 21.12.2015, BGBl. I, S. 2525 (2527) sowie Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019, BGBl. I, S. 2128 (2131). 112 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 374. 113 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 374. 114 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 375. 115 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 375. 116 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 375. 117 Mehle, Zeitpunkt und Umfang notwendiger Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 375. 118 Dies kritisiert auch Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 194 Fn. 599.
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
übernommen werden sollen.119 Ferner bleibt weitestgehend unklar, welche Aspekte von Vogelsangs Vorschlag Mehle mit dem Modell der Prozesskostenhilfe kombinieren möchte. Den zentralen Aspekt von Vogelsangs Modell – die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe – möchte Mehle nämlich gerade nicht übernehmen, sondern vielmehr durch die zivilprozessualen Regelungen der Prozesskostenhilfe ersetzen. Ob die weiteren Vorschläge Vogelsangs, beispielsweise zur Auswechslung, der Qualifikation oder der Vergütung des Verteidigers übernommen werden sollen, bleibt unbeantwortet. Allerdings fügt Mehle der Diskussion um die Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand einen neuen und bedenkenswerten Aspekt hinzu, indem er eine Eilbeiordnung eines Verteidigers im Ermittlungsverfahren analog § 406g Abs. 4 StPO a. F. vorschlägt.
H. Eigener Reformvorschlag Das Institut der notwendigen Verteidigung soll nach seiner gegenwärtigen Ausgestaltung auf der einen Seite Waffengleichheit sowie eines fairen Verfahrens garantieren und auf der anderen Seite mittellosen Beschuldigten unentgeltlichen Verteidigerbeistand gewährleisten. Dieser Doppelfunktion wird das Institut der notwendigen Verteidigung nur bedingt gerecht. Es erscheint daher geboten, das Institut der notwendigen Verteidigung von seiner Funktion, unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewährleisten, zu befreien und die Gewährleistung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand separat zu regeln. Hierfür bietet sich die Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe nach Vorbild des österreichischen Rechts an. Allerdings können die österreichischen Vorschriften bezüglich der Verfahrenshilfe nicht eins zu eins in das deutsche Recht übernommen werden, da die vorangegangene Analyse der Verfahrenshilfevorschriften gezeigt hat, dass diese teilweise nicht den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zur Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand entsprechen. Das Institut der Verfahrenshilfe sollte daher folgendermaßen in das deutsche Recht integriert werden. Voraussetzung für die Gewährung von Verfahrenshilfe sollte – entsprechend § 61 Abs. 2 S. 1 öStPO – sein, dass der Beschuldigte außerstande ist, die gesamten Kosten der Verteidigung ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie – für deren Unterhalt er zu sorgen hat – zu einer einfachen Lebensführung notwendigen Unterhaltes zu tragen und die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand im Interesse der Rechtspflege, insbesondere im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist.
119 Dies kritisiert auch Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 194 Fn. 599, 197 Fn. 608.
H. Eigener Reformvorschlag
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Bei der Prüfung, ob der Beschuldigte außerstande ist die gesamten Kosten der Verteidigung zu tragen, ist sowohl sein Einkommen als auch sein Vermögen zu berücksichtigen. Hierzu könnte auf die Vorschriften der zivilprozessualen Prozesskostenhilfe – insbesondere § 115 ZPO – zurückgegriffen werden. Es muss sichergestellt werden, dass durch die Angaben des Beschuldigten im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nicht sein Schweigerecht bezüglich seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beeinträchtigt wird. Dies ließe sich – entsprechend dem Vorschlag von Kortz120 – am einfachsten dadurch erreichen, dass die vom Beschuldigten im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung gemachten Angaben einem Beweisverwertungsverbot unterlägen. Ob die Gewährung von Verfahrenshilfe im Interesse der Rechtspflege, insbesondere im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist, ist stets eine Frage des Einzelfalls. Aufgrund der herausragenden Bedeutung des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand und seiner Verankerung in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und dem Grundgesetz ist das Tatbestandsmerkmal weit auszulegen. Entsprechend § 61 Abs. 2 S. 2 öStPO sollte normiert werden, dass in bestimmten Konstellationen die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand jedenfalls im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Dies sollte zunächst in allen Fällen notwendiger Verteidigung der Fall sein. Die derzeitigen Fälle notwendiger Verteidigung könnten beibehalten werden. Lediglich § 364b StPO wäre zu reformieren, da die Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung des Wiederaufnahmeverfahrens an die Mittellosigkeit des Beschuldigten anknüpft, unentgeltlicher Verteidigerbeistand aber de lege ferenda nur noch über das Institut der Verfahrenshilfe gewährt wird. Durch den Verweis auf die Fallgruppen der notwendigen Verteidigung – insbesondere § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 sowie Abs. 2 StPO – wäre auch sichergestellt, dass zumindest in den Situationen Verfahrenshilfe gewährt wird, in denen die Gewährung von unentgeltlichem Verteidigerbeistand nach Art. 4 Abs. 4 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Darüber hinaus könnten weitere Fallgruppen normiert werden, in denen die Mitwirkung eines Verteidigers zwar nicht notwendig ist, aber im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist. Die Gewährung von Verfahrenshilfe müsste grundsätzlich vom Beschuldigten beantragt werden. Eine Ausnahme hiervon müsste allerdings für die Fälle notwendiger Verteidigung bestehen, denn wenn die Mitwirkung eines Verteidigers am Strafverfahren aus rechtsstaatlichen Gründen zwingend erforderlich ist, ist sie 120
Kortz, Die Notwendigkeit der Verteidigung im Strafverfahren, S. 204.
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
dies unabhängig von einem Antrag des Beschuldigten. Aus diesem Grund wäre dem mittellosen Beschuldigten in Fällen notwendiger Verteidigung von Amts wegen Verfahrenshilfe zu gewähren. Damit mittellosen schutzbedürftigen Personen der Zugang zu Verfahrenshilfe durch das grundsätzliche Antragserfordernis nicht erschwert wird, sollte diesen – in Anlehnung an die Regelung des § 61 Abs. 2 S. 1 öStPO – ebenfalls von Amts wegen Verfahrenshilfe gewährt werden können. Hierdurch wäre sichergestellt, dass die Regelung den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie – insbesondere Erwägungsgrund 18 der ProzesskostenhilfeRichtlinie – entspricht. Die Europäische Menschenrechtskonvention, die Grundrechtecharta und die Prozesskostenhilfe-Richtlinie zielen darauf ab, dass der mittellose Beschuldigte bereits im Ermittlungsverfahren – und zwar bereits vor seiner ersten Vernehmung durch die Strafverfolgungsbehörden – unentgeltlichen Verteidigerbeistand in Anspruch nehmen kann. Die Analyse des österreichischen Rechts hat gezeigt, dass dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren – außer er befindet sich Untersuchungshaft – nur selten Verfahrenshilfe gewährt wird. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass die in § 62 Abs. 2 S. 2 öStPO normierten Fallgruppen, in denen die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers jedenfalls erforderlich ist, überwiegend nicht das Ermittlungsverfahren betreffen. Diese Lücke im Recht auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand wird auch durch das Institut des Verteidigers in Bereitschaft nur bedingt geschlossen. Die Beiziehung eines Bereitschaftsverteidigers ist nämlich für mittellose Beschuldigte – sofern sie nicht blind, gehörlos, stumm oder in vergleichbarer Weise behindert sind oder an einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung der Entscheidungsfähigkeit leiden und deshalb nicht in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen – nur zu der Vernehmung über das Vorliegen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft kostenlos. Diese Problematik stellt sich jedoch bei der Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe in das deutsche Recht nicht, wenn – wie hier vertreten – an den Fallgruppen notwendiger Verteidigung festgehalten wird. Aufgrund der prospektiven Betrachtung in § 140 StPO ist die Verteidigung nämlich häufig bereits im Ermittlungsverfahren notwendig und damit auch im Interesse der Rechtspflege, insbesondere im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich. Die Beiordnung eines Verfahrenshilfeverteidigers untergliedert sich nach österreichischem Recht in ein gerichtliches Beigebungsverfahren sowie ein verwaltungsbehördliches Bestellungsverfahren. Durch diese Zweiteilung würde die gegenwärtig im Modell der notwendigen Verteidigung angelegte Gefahr, dass das Gericht und in Eilfällen die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten nicht den am besten geeigneten Verteidiger bestellt, sondern einen, der dem Gericht beziehungsweise der Staatsanwaltschaft keine Schwierigkeiten bereitet, ausgeschlossen. Deshalb sollte die Zweiteilung bei einer Einführung des Instituts der Verfahrenshilfe in das deutsche Recht übernommen werden. De lege ferenda wäre das
H. Eigener Reformvorschlag
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Gericht nur noch für die Beigebung des Verfahrenshilfeverteidigers, also die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Verfahrenshilfe, zuständig. Die Zuständigkeit im konkreten Einzelfall sollte entsprechend der gegenwärtig geltenden Vorschrift des § 142 Abs. 3 StPO ausgestaltet werden. Die Angaben des Beschuldigten zu seinen finanziellen Verhältnissen würden einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, damit sein Schweigerecht bezüglich seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht beeinträchtigt wird. Die Auswahl des Verteidigers würde der Rechtsanwaltskammer obliegen. Dem Beschuldigten ist vor der Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers die Möglichkeit zu geben innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen. Das Auswahlrecht des Beschuldigten wäre jedoch auf solche Rechtsanwälte beschränkt, die über die entsprechende Qualifikation zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand verfügen. Falls der Beschuldigte einen bestimmten Verteidiger bezeichnet, ist dieser als Verfahrenshilfeverteidiger zu bestellen, es sei denn der Bestellung steht ein wichtiger Grund entgegen. Entsprechend § 142 Abs. 5 S. 2 StPO liegt ein wichtiger Grund liegt vor, wenn der bezeichnete Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht. Ferner kann sich zur Konkretisierung des Merkmals des wichtigen Grundes an der Rechtsprechung orientiert werden. Hat der Beschuldigte keinen Verteidiger bezeichnet oder steht der Bestellung des bezeichneten Verteidigers ein wichtiger Grund entgegen, muss die Rechtsanwaltskammer einen Verfahrenshilfeverteidiger auswählen. Im Gegensatz zur österreichischen Rechtslage darf die Rechtsanwaltskammer jedoch nicht einfach reihum jeden zugelassenen Rechtsanwalt als Verfahrenshilfeverteidiger bestellen, da dies nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation des Verteidigers entspricht. Vielmehr muss die Rechtsanwaltskammer eine echte Auswahlentscheidung unter allen Rechtsanwälten treffen, die nach den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie zur Qualifikation des Verteidigers als Verfahrenshilfeverteidiger in Betracht kommen. Um eine solche Auswahlentscheidung treffen zu können, müssten alle Rechtsanwälte, die potentiell als Verfahrenshilfeverteidiger bestellt werden können, in ein Verzeichnis aufgenommen werden. Aufzunehmen wären zunächst alle Fachanwälte für Strafrecht. Da die Anzahl der Fachanwälte für Strafrecht jedoch bei Weitem nicht ausreicht, um den Bedarf an Verfahrenshilfeverteidigern zu decken, müssen auch andere Rechtsanwälte zu Verfahrenshilfeverteidigern bestellt werden können. Damit diese über die von der Prozesskostenhilfe-Richtlinie geforderte Qualifikation verfügen, müssen sie an straf- und strafprozessrechtsspezifischen Fortbildungsveranstaltungen teilgenommen haben, die im Umfang denen für Fachanwälte entsprechen. Keinesfalls dürfen wie nach gegenwärtiger Rechtslage Rechtsanwälte bestellt werden, die lediglich Interesse an der Übernahme von Mandaten im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand bekundet haben, da dies nicht den Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation des Verteidigers entspricht. Aus
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
demselben Grund dürfen auch keine Referendare als Verfahrenshilfeverteidiger bestellt werden. Das Verzeichnis könnte auch vorhandene Fachanwaltstitel, absolvierte Fortbildungen sowie Sprachkenntnisse ausweisen, damit die Rechtsanwaltskammer den für den Beschuldigten bestgeeignetsten Verteidiger auswählen und bestellen kann. Zuständig für die Auswahl des Verfahrenshilfeverteidigers sollte ein Gremium innerhalb der Rechtsanwaltskammer sein. Dadurch würde die Gefahr sachfremder Entscheidungen minimiert. Außerdem sollte die Auswahlentscheidung begründet werden müssen, was sachfremde Erwägungen weiter erschwert. Da die Auswahl des Verfahrenshilfeverteidigers bisher nicht Aufgabe der Rechtsanwaltskammer ist, müssten diesen die entsprechenden finanziellen Mittel bereitgestellt werden, damit sie diese Aufgabe effektiv erfüllen können. Die Beigebung und die Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers haben unverzüglich zu erfolgen. Vor allem im Ermittlungsverfahren kann es allerdings zu Situationen – etwa der Festnahme des Beschuldigten, einer Vernehmung des Beschuldigten, einer Identifizierungs- oder Vernehmungsgegenüberstellung oder einer Vernehmung eines Zeugen, bei der dem Verteidiger ein Anwesenheitsrecht zusteht – kommen, in denen eine Entscheidung über die Beigebung und Bestellung eines Verfahrenshilfeverteidigers nicht rechtzeitig getroffen werden kann. Gründe hierfür können insbesondere sein, dass die Prüfung der Vermögensverhältnisse des Beschuldigten aufwändig ist oder infolge der Zweiteilung des Beiordnungsverfahrens Verzögerungen eintreten. Um dem Beschuldigten auch in diesen Situationen unentgeltlichen Verteidigerbeistand zu gewähren, sollte entsprechend Erwägungsgrund 19 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie die Möglichkeit der Gewährung von vorläufiger Verfahrenshilfe bestehen. Die vorläufige Verfahrenshilfe könnte folgendermaßen ausgestaltet sein. Das zuständige Gericht würde zunächst prüfen, ob die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist. Seine Mittellosigkeit müsste der Beschuldigte – entsprechend § 59 Abs. 5 öStPO – zunächst nur behaupten. Sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass die Erklärung des Beschuldigten bezüglich seiner Mittellosigkeit falsch war, müsste er nachträglich der Staatskasse die Kosten des im Rahmen der vorläufigen Verfahrenshilfe tätigen Verteidigers ersetzen. Das aus der Zweiteilung des Beiordnungsverfahrens resultierende Problem eines Zeitverlustes ließe sich dahingehend lösen, dass in den Fällen vorläufiger Verfahrenshilfe der Richter den Verteidiger bestellen würde.121 Der Beschuldigte hätte das Recht, einen Verteidiger zu bezeichnen. Hierfür wäre ihm das Verzeichnis mit allen Verteidigern, die über die entsprechende Qualifikation zur Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand verfügen, vorzulegen. Dabei wäre die Auswahl jedoch aufgrund der Eilbedürftigkeit 121 Eine Bestellung des Verteidigers in Eilfällen durch das Gericht befürworten auch Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (67).
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auf Rechtsanwälte, die ihren Kanzleisitz im jeweiligen Landgerichtsbezirk haben oder jedenfalls in dessen örtlicher Nähe ansässig sind, zu beschränken.122 Bezeichnet der Beschuldigte keinen Verteidiger oder steht der Bestellung des bezeichneten Verteidigers ein wichtiger Grund – insbesondere, dass der Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht – entgegen, obläge dem Richter die Auswahlentscheidung. Der Richter könnte ebenfalls nur einen Verteidiger auswählen, der seinen Kanzleisitz im jeweiligen Landgerichtsbezirk oder jedenfalls in dessen örtlicher Nähe hat. Wenn dem Beschuldigten im Rahmen der vorläufigen Verfahrenshilfe ein anderer als der von ihm bezeichnete Rechtsanwalt zum Verfahrenshilfeverteidiger bestellt oder ihm zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt wurde, hat er das Recht, den Verteidiger ohne weitere Gründe auswechseln zulassen. Entsprechend den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Grundrechtecharta und der Prozesskostenhilfe-Richtlinie ist Verfahrenshilfe grundsätzlich für das gesamte weitere Strafverfahren bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss zu gewähren. Eine Ausnahme muss für den Fall gelten, dass die Verteidigung nicht notwendig ist und der mittellose Beschuldigte nachträglich auf die Gewährung von Verfahrenshilfe verzichtet. Verfahrenshilfe ist nämlich ein sozialstaatliches Angebot, dessen Inanspruchnahme Nutzung freiwillig ist. Allerdings wäre ein Verzicht nur nach Maßgabe der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Voraussetzungen möglich. Des Weiteren ist dem Beschuldigten ex nunc die Verfahrenshilfe zu entziehen, wenn sich während des Strafverfahrens seine Vermögensverhältnisse ändern, sodass er nicht mehr mittellos ist. Sofern die Verteidigung notwendig ist, müsste der Beschuldigte in diesen Fällen auf seine Kosten einen Wahlverteidiger hinzuziehen; dies kann auch der Rechtsanwalt sein, der bisher als Verfahrenshilfeverteidiger tätig war. Zieht der Beschuldigte trotz Aufforderung keinen Wahlverteidiger bei, wäre ihm in Anlehnung an § 61 Abs. 3 öStPO von Amts wegen ein Amtsverteidiger beizugeben und zu bestellen. Um das Mandatsverhältnis nicht mit Kostenfragen zu belasten und dem Amtsverteidiger nicht das Risiko aufzubürden, dass der Beschuldigte sich weigert die Verteidigergebühren zu zahlen, sollten die Gebühren des Amtsverteidigers wie bisher im Recht der notwendigen Verteidigung zu den Verfahrenskosten zählen und im Fall der Verurteilung vom Beschuldigten zurückgefordert werden können. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass der Beschuldigte sich durch falsche Angaben bezüglich seiner finanziellen Situation die Beiordnung eines Verfahrenshilfeverteidigers erschlichen hat, wäre er verpflichtet, die Kosten des Verfahrenshilfeverteidigers der Staatskasse zu ersetzen. Schließlich wäre die Gewährung von Verfahrenshilfe ex nunc aufzuheben, wenn das materielle Kriterium, das Voraussetzung für die Gewährung von Verfahrenshilfe war, nachträglich wegfällt oder von Anfang an nicht vorlag. 122
So auch Schlothauer/Neuhaus/Matt/Brodowski, HRRS 2018, 55 (67).
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5. Kap.: Die verschiedenen Lösungsansätze
Die Verteidigung durch einen Wahlverteidiger muss stets Vorrang vor der Beiordnung eines Verfahrenshilfeverteidigers haben. Aus diesem Grund muss die Verfahrenshilfeverteidigung grundsätzlich enden, wenn ein Wahlverteidiger einschreitet. Im Fall der notwendigen Verteidigung sollte aber entsprechend § 143a Abs. 1 S. 2 StPO in Verbindung mit § 144 StPO von einer Aufhebung der Verfahrenshilfeverteidigerbestellung abgesehen werden können, wenn dessen weitere Mitwirkung zur Sicherung der zügigen Durchführung des Strafverfahrens – insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit – erforderlich ist. Daneben muss in bestimmten Fällen für den Beschuldigten die Möglichkeit bestehen, den Verfahrenshilfeverteidiger durch einen anderen Verfahrenshilfeverteidiger auszuwechseln. Hinsichtlich möglicher Auswechslungsgründe kann sich an der Regelung des § 143a Abs. 2 und 3 StPO orientiert werden. Demnach käme eine Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers in Betracht, wenn dem Beschuldigten ein anderer als der von ihm bezeichnete Rechtsanwalt zum Verfahrenshilfeverteidiger bestellt wurde oder zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt wurde, der Wechsel mit Blick auf ein anstehendes Revisionsverfahren erfolgt, das Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem Verfahrenshilfeverteidiger zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Für den Fall, dass der Verfahrenshilfeverteidiger den Beschuldigten offensichtlich nicht effektiv verteidigt, muss die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers auch von Amts wegen möglich sein. Darüber hinaus sollte auch eine konsensuale Auswechslung des Verteidigers nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien möglich sein. Für die Auswechslung des Verfahrenshilfeverteidigers wäre die Rechtsanwaltskammer zuständig. Sie müsste entscheiden, ob ein Auswechslungsgrund vorliegt und im Anschluss dem Beschuldigten gegebenenfalls einen neuen Verfahrenshilfeverteidiger bestellen. Bezeichnet der Beschuldigte keinen Rechtsanwalt der anstelle des ursprünglichen Verfahrenshilfeverteidigers bestellt werden soll, obliegt der Rechtsanwaltskammer die Auswahl des zu bestellenden Verfahrenshilfeverteidigers. Dem Beschuldigten muss ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stehen, wenn die Gewährung von Verfahrenshilfe verzögert oder verwehrt wird. Gleiches gilt für den Fall, dass das Bezeichnungsrecht des Beschuldigten übergangen wird sowie für alle sonstigen Entscheidungen, die die Beigebung, Bestellung, Auswechslung und Entziehung des Verfahrenshilfeverteidigers betreffen. Um dies zu gewährleisten sollte auf das bestehende und bewährte Rechtsbehelfssystem zurückgegriffen werden. Entsprechend der gegenwärtigen Rechtslage muss dem Beschuldigten in all diesen Fällen die sofortige Beschwerde offenstehen. Über die Möglichkeit, Verfahrenshilfe in Anspruch zu nehmen, ist der Beschuldigte zu belehren. Die Belehrung muss vor der Vernehmung des Beschuldigten oder vor der Durchführung einer Identifizierungs- oder Vernehmungsgegenüberstellung sowie einer Tatortrekonstruktion erfolgen, sodass der Beschuldigte die
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Möglichkeit hat, hierzu bereits einen Verfahrenshilfeverteidiger beizuziehen. Die Belehrungsvorschriften wären entsprechend anzupassen. Die Kosten der Verfahrenshilfe wären vom Staat zu tragen. Entsprechend § 393 Abs. 1a S. 1 öStPO und in Übereinstimmung mit Erwägungsgrund 8 der Prozesskostenhilfe-Richtlinie sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sollte der Beschuldigte – sofern er hierzu finanziell in der Lage ist – im Falle einer Verurteilung verpflichtet werden können, einen Pauschalbeitrag zu den Kosten des Verfahrenshilfeverteidigers zu tragen. Der vom Beschuldigten zu entrichtende Pauschalbeitrag würde der Staatskasse zufließen. Die Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers sollte nicht nach dem österreichischen Pauschalentlohnungssystem erfolgen. Zum einen wird dieses als ein Hauptgrund für die geringe Qualität der Verteidigung im Rahmen der Verfahrenshilfe in Österreich angesehen, zum anderen werden durch die Pauschalentlohnung die erbrachten Verteidigerleistungen nicht adäquat vergütet, was der Qualität der Verteidigung ebenfalls nicht zuträglich ist. Ferner wäre das Modell der Pauschalentlohnung auch nicht praktikabel, da dieses voraussetzt, dass alle zugelassenen Rechtsanwälte Verfahrenshilfemandate übernehmen, was aufgrund der Vorgaben der Prozesskostenhilfe-Richtlinie bezüglich der Qualifikation der im Rahmen des Rechts auf unentgeltlichen Verteidigerbeistand tätigen Rechtsanwälte jedoch nicht möglich ist. Aus diesen Gründen bedarf es vielmehr einer anderen Ausgestaltung der Vergütung des Verfahrenshilfeverteidigers. Um zu vermeiden, dass sich ein Verteidiger einem Wahlverteidigermandat mit größerem Engagement widmet als einem Verfahrenshilfemandat und der mittellose Beschuldigte dadurch eine qualitativ schlechtere Verteidigung erhält, bedarf es der gebührenrechtlichen Gleichstellung von Wahl- und Verfahrenshilfeverteidigung. Dies verhindert zwar nicht, dass Wahlverteidigermandate aufgrund von Vergütungsvereinbarungen weiterhin lukrativer sind als Verfahrenshilfemandate, schließt aber zumindest die Schere zwischen den Verteidigervergütungen deutlich. Welche Gebühr innerhalb der Rahmengebühr der Verfahrenshilfeverteidiger für seine Tätigkeit in Ansatz bringt, muss grundsätzlich diesem überlassen bleiben. Erachtet die Staatskasse die vom Verfahrenshilfeverteidiger veranschlagte Gebühr für zu hoch, sollte – entsprechend dem Vorschlag von Vogelsang123 – der Vorstand der zuständigen Rechtsanwaltskammer ein für beide Seiten verbindliches Gutachten über die angemessene Gebührenhöhe anfertigen.
123 Vogelsang, Die notwendige Verteidigung im deutschen und österreichischen Strafprozeßrecht, S. 230–231.
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Stichwortverzeichnis Amtsverteidiger 207, 226, 269 Antrag 80–81, 104, 107–108, 110, 115, 125, 136, 138, 146–147, 150, 151–154, 156, 157, 161, 163–167, 181, 182–185, 188, 189, 190–191, 193, 199, 204, 207, 214–215, 217, 227, 228, 230, 236, 241, 246, 247, 250, 251, 255–256, 258, 265–266 Antragserfordernis 81, 153, 214–215, 241, 246, 266 Antragsrecht 152–154, 191, 193 Äquivalenzgrundsatz 81 Bedürftigkeit siehe Mittellosigkeit Belehrung 58–59, 64, 110–111, 116, 152, 156, 184, 190–194, 205, 229–231, 237, 242–243, 247, 256, 262, 270–271 Beratungshilfe 198–203, 205 Bewährungsstrafe 39, 139, 148, 150 Beweisverwertungsverbot 109, 192–194, 251, 265, 267 Dringlichkeitsprozesskostenhilfe siehe vorläufige Prozesskostenhilfe Dringlichkeitsverteidiger 223–225, 242 Durchführung des Unionsrechts 66–74 Effektivitätsgrundsatz 81 Erfolgsaussichten 41, 79, 80, 81–82, 113, 201, 252–253
Geldstrafe 39, 139 Gerichtskosten 80, 81, 82, 113 Hochschullehrer 168, 170 Identifizierungsgegenüberstellung 87, 90, 97, 101, 103, 114, 131, 155–156, 158, 246, 263, 268, 270 Interesse der Rechtspflege 37–41, 46, 53, 62–63, 64, 88, 97, 99–100, 103, 114, 115, 151, 153, 203–204, 207, 208–209, 212, 213, 214, 215, 216, 241, 255, 257, 260, 262, 264–265, 266, 268 – Höhe der drohenden Strafe 38–39, 63, 88, 99–100, 136–140, 151, 214, 215 – Komplexität des Falles 39–41, 63, 88, 99–100, 136, 140–142, 213, 214 – Persönliche Situation des Beschuldigten 41, 63, 88, 99–100, 114, 136, 142– 143, 214 – Schwere des Tatvorwurfs 38–39, 63, 88, 99–100, 136, 137–138, 204, 214 Interessensbekundung an der Übernahme von Pflichtverteidigungen 171–172, 175–176, 204, 247 Journaldienst 233–234 siehe auch Verteidiger in Bereitschaft Kostentragung 42–43, 63, 101, 114, 191–192, 194–196, 205, 231, 237–240, 243 Listenverfahren 173–174, 219–223
Fachanwalt 171–172, 223, 247, 267–268 Festnahme 33, 95, 110, 230, 237, 240, 241, 268 Fortbildung 105, 106–107, 115, 171–172, 173, 222, 247, 267–268
Mittellosigkeit 34–37, 43, 62, 77–78, 98–99, 101, 112, 114, 124, 125, 147– 148, 180, 191, 200, 207–208, 215, 241–242, 248, 250–251, 253, 257, 261, 262, 265, 268
296
Stichwortverzeichnis
Modell begrenzt, subsidiärer Staatshaftung für das Wahlverteidigerhonorar 253–255 Notwendige Verteidigung 45–46, 63, 96– 97, 120, 123–198, 199, 202, 203–205, 207, 209–212, 214, 215–216, 223, 226, 230, 241, 245–248, 253, 254, 255, 256, 258, 260, 261, 263, 264, 265, 266, 269, 270 – Fallgruppen 126–151, 209–212 Pauschalbeitrag 229, 231, 243, 271 Pflichtrechtsschutzversicherung 248–249 Pflichtverteidiger siehe auch Verteidiger – Auswahl 163, 167–176, 185, 188, 204 – Auswechslung 179–188, 189–190, 205 – Bestellungsdauer 176–179, 204–205 – Bestellungszeitpunkt 151–163, 204 Prozesskostenhilfe 35, 76–82, 97–111, 112–116, 119, 125, 147, 162, 200, 203, 250–253, 257, 261–264, 265 Prozesskostenhilfe-Richtlinie 74, 82– 111, 113–116, 124–126, 131, 136, 138, 151, 152, 154, 155–156, 157, 158–159, 162, 163, 166, 168, 170–172, 175–176, 179, 181, 183, 185, 188, 190, 191–194, 196, 198, 203–205, 206, 208, 209–210, 212, 214, 215, 216, 217, 222, 225, 226, 228, 229, 231, 233, 234, 235, 239–240, 240–241, 241–244, 245–248, 260, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 271 Qualifikation 103, 105, 106–107, 115, 168–169, 171–172, 175–176, 204, 222– 223, 225, 234–235, 241, 242, 244, 247, 264, 267–268, 271 Qualität 55, 61, 64, 104–107, 107–108, 111, 115, 170–172, 173, 175–176, 198, 202, 203, 204, 205, 222–223, 225, 233, 235, 241, 242, 243, 247, 255, 261, 271 Radlsystem 219–223, 225, 242 Rechtsanwaltlicher Bereitschaftsdienst siehe Verteidiger in Bereitschaft
Rechtsanwaltsanwärter 54, 64, 221–223, 234–235, 241 siehe auch Referendar Rechtsanwaltskammer 58, 174, 217, 218–219, 222, 225, 228, 232, 233, 234, 235, 242, 259, 260, 267–268, 270, 271 Rechtsanwaltskammertag 232, 233–234, 238–240 Rechtsbehelf 108, 115, 189–190, 205, 228–229, 242, 270 Rechtsbeistand-Richtlinie 22, 83, 85, 87, 89–96, 102, 103, 109, 113, 152, 154, 162, 163, 204, 234, 247 Referendar 54, 64, 106, 170, 258, 268 siehe auch Rechtsanwaltsanwärter schutzbedürftige Personen 109–110, 115, 136, 212–213, 215, 216, 239, 241, 242, 243, 266 Tatortrekonstruktion 87, 90, 97, 101, 103, 114, 131, 155–156, 158, 246, 270 Unterhalt 36, 62, 147, 196, 207, 231, 243, 255, 264 Untersuchungshaft 95, 131, 132, 209– 210, 230, 234, 237, 239, 242, 243, 266 Verfahrenshilfe 206–233, 239, 240, 241– 243, 255–261, 261–264, 264–271 Verfahrenshilfeverteidiger siehe auch Verteidiger – Auswahl 218–223, 225, 242 – Auswechslung 226–228, 242 – Bestellungsdauer 225–226, 242 – Bestellungszeitpunkt 215–216, 242 Verfassungsrecht 117–123, 169, 197, 198, 201, 202, 203, 206, 248, 256 Vergütung 59–62, 64, 111, 116, 194– 198, 202, 205, 232–233, 237–238, 243, 248, 253, 254, 259–260, 261, 264, 271 Vermögensbekenntnis 208 Vermögensgrenze 35, 78, 80 Vernehmung 47–48, 51, 59, 63, 86, 110, 128, 131, 134–136, 153, 155, 158,
Stichwortverzeichnis 160–163, 165, 166, 190–191, 204, 208, 209–210, 211, 213, 217, 218, 230, 234, 236, 237, 238, 239–240, 240–241, 242, 243–244, 246, 256, 263, 266, 268, 270 Vernehmungsgegenüberstellung 87, 90, 97, 101, 103, 114, 131, 155–156, 158, 246, 268, 270 Verteidiger – Auswahl 52–54, 63–64, 102–103, 115, 163, 167–176, 185, 188, 204, 218–223, 225, 242, 247, 248, 254, 255, 257–258, 261, 262–263, 267–268, 268–269, 270 – Auswechslung 55–58, 64, 107–108, 115, 179–188, 189–190, 205, 226–228, 242, 255, 258–259, 264, 269, 270 – Bestellungsdauer 54–55, 64, 102, 114, 176–179, 204–205, 225–226, 242, 254, 258, 269 – Bestellungszeitpunkt 46–52, 63, 101– 102, 114, 151–163, 204, 215–216, 242, 246, 254
297
Verteidiger des Vertrauens 52–53, 120, 167–170, 179, 181, 185–186, 228, 258–259, 270 Verteidiger in Bereitschaft 206, 210, 216, 233–241, 242, 243–244, 266 Verteidigernotdienst 59, 169 Verzicht 44–46, 63, 90, 93–94, 96, 113, 125–126, 153–154, 191, 226, 230, 234, 246, 247, 269 Vorläufige Festnahme 130–131, 155– 156, 166, 178, 246 Vorläufige Prozesskostenhilfe 104, 263, 264, 268–269 Wahlverteidiger 54, 55, 61–62, 64, 123– 124, 134, 146, 150, 151, 152, 162, 179–180, 188, 195, 196–198, 205, 207, 226, 227, 233, 248, 253–255, 260, 261, 269, 270, 271 Zufallsprinzip 174