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German Pages 358 [357] Year 2018
Dürr • Das „Princip der Subjektivität überhaupt“
Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
jena-sophia Studien und Editionen zum deutschen Idealismus und zur Frühromantik Herausgegeben von Christoph Jamme und Klaus Vieweg Wissenschaftlicher Beirat Stephen Houlgate (Warwick) Francesca Iannelli (Rom) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Taiju Okochi (Tokyo) Robert B. Pippin (Chicago) Allen Speight (Boston) Abteilung II – Studien Band 16
2018 Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Suzanne Dürr
Das „Princip der Subjektivität überhaupt“ Fichtes Theorie des Selbstbewusstseins (1794–1799)
Wilhelm Fink Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT
Umschlagabbildung: Jena – Blick vom Philosophengang (um 1810) kolorierte Radierung von F. W., Stadtmuseum Jena
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6343-2 Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1) Einführung in die Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2) Zielstellung und Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I. Systemprojekt und Subjektphilosophie bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1) Funktion und Grundstruktur eines Systems. . . . . . . . . . . . . . 25 2) Selbstbewusstsein als Grundprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II. D er Rekurs auf Selbstbewusstsein als antiskeptizistische Strategie. . . . . . . . . . . . . . . .
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1) Kritizismus, Dogmatismus und Skeptizismus . . . . . . . . . . . . 39 2) Fichtes Auseinandersetzung mit dem kritischen Skeptizismus Schulzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3) Systematischer Skeptizismus, System und Selbstbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 III. G rundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95) . . . . . . . . . . . . . . . . 1) § 1: Das absolute Ich als Selbstbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . 2) § 2: Die Entgegensetzung des Nicht-Ichs. . . . . . . . . . . . . . . . . 3) § 3: Die Teilbarkeit von Ich und Nicht-Ich als Bewusstseinsmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) Die produktive Einbildungskraft als alternatives Bestimmungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5) Die Neukonzeption des Für-sich-Seins in § 5. . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
IV. Wissenschaftslehre nova methodo (1796 – 1799). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1) Einordnung und Grundstruktur der WL nova methodo. . . 119 2) Das Grundprinzip (§§ 1 – 5). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.1) Das Ich des Philosophen (§ 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.2) Die Deduktion des Nicht-Ichs (§ 2). . . . . . . . . . . . . . . . 144 2.3) Das Grundprinzip der WL nova methodo: Das ursprüngliche Ich (§§ 3 – 5). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2.4) Stolzenbergs Interpretation der intellektuellen Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2.5) Die Konzeption der intellektuellen Anschauung in der Zweiten Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2.6) Das Reflexionspostulat im Ersten Kapitel des Versuchs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.6.1) Das Problem des Bewusstseinszirkels (Erstes Kapitel: Abschnitt 1) . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2.6.2) Regressproblem und unmittelbares Bewusstsein (Erstes Kapitel: Abschnitt 2). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.6.3) Das Verhältnis von Anschauung und Begriff (Erstes Kapitel: Abschnitt 3). . . . . . . . . 217 3) Idealismus und Realismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4) Fichtes Auseinandersetzung mit Kant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.1) Kants Verdikt der intellektuellen Anschauung. . . . . . 225 4.2) Das Problem des Dinges an sich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.3) Das Problem der Deduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5) Die Fortbestimmung des Grundprinzips zum reinen Willen (§ 13). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6) Die Empirisierung des reinen Willens (§§ 14 – 16). . . . . . . . 257 7) Die Hauptsynthesis (§§ 17 – 19). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 8) Vergleich von Grundlage und WL nova methodo. . . . . . . . . . 268 Exkurs 1: D ie Fichte-Interpretation Dieter Henrichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1) Henrichs Kritik des Reflexionsmodells. . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2) Fichtes Konzeption von Selbstbewusstsein als Produktionsmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3) Henrichs Modell von Selbstbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Inhalt
4) Kritik von Henrichs Selbstbewusstseinsmodell. . . . . . . . . . 292 5) Das Modell der produktiven Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Exkurs 2: Kant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1) 2) 3) 4)
Die Konzeption der reinen Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . . Der Bewusstseinszirkel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kants Kritik der intellektuellen Anschauung . . . . . . . . . . . . Probleme von Kants Selbstbewusstseinsmodell. . . . . . . . . .
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Exkurs 3: Hegel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1) Hegels Fichte-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1) Hegels Kritik der kritischen Philosophie (Enz §§ 40 – 60). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2) Das Problem des Anfangs der Philosophie in der Perspektive Hegels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Hegels Modell der produktiven Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . 2.1) Der Anfang der Logik als unterspezifizierte Subjektivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2) Die Kategorie des Für-sich-Seins in der Seinslogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3) Hegels Konzeption des Begriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4) Hegels Deutung des Bewusstseinszirkels. . . . . . . . . . . 2.5) Die absolute Idee als übergreifende Subjektivität. . . 3) Vergleich der Subjektivitätskonzeptionen Fichtes und Hegels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311 311 317 323 323 324 326 328 331 333
V. Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
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Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Version einer Arbeit, die im Sommersemester 2016 vom Rat der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen wurde. Mein Dank gilt zuerst Professor Klaus Vieweg, der die Arbeit betreute und durch zahlreiche Anregungen und Hinweise gefördert hat. Danken möchte ich auch den weiteren Gutachtern, Professor Andreas Schmidt, von dessen Veranstaltungen zur Philosophie Fichtes sowie dessen wertvollen Hinweisen ich profitieren konnte, und Professor Marco Ivaldo, der das Drittgutachten erstellte. Weiterer Dank gilt dem Land Thüringen, das durch ein Landesgraduiertenstipendium die Entstehung der Arbeit erst ermöglichte, der VG Wort für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses und dem Wilhelm Fink Verlag für die Möglichkeit der Publikation. Jena, im März 2018 Suzanne Dürr
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Einleitung 1) Einführung in die Problemstellung Als zentrales Problem in der Diskussion um Selbstbewusstsein gilt die Vermeidung eines Zirkels bzw. eines infiniten Regresses.1 Besondere Relevanz hat die Diskussion dieses Einwandes auch in der Selbstbewusstseinstheorie Johann Gottlieb Fichtes. In der Forschung zu Fichtes Selbstbewusstseinsmodell gibt es scheinbar nur zwei Alternativen: Entweder wird der Versuch unternommen, Fichtes Theorie aufgrund ihrer reflexiven Momente als unplausibel zu erweisen.2 Selbstbewusstsein wird hierbei als unmittelbare, nicht-relationale Gewissheit ver 1 Klaus Düsing unterscheidet fünf basale Einwandtypen gegen eine Theorie des Selbstbewusstseins: Einen empiristisch-psychologischen, einen gesellschaftstheoretischen, einen ontologischen, einen analytischen Einwand und den Einwand der Iteration sowie des Zirkels. Den letzteren Einwandtyp, der auch im Mittelpunkt der folgenden Arbeit stehen wird, bezeichnet Düsing als heute verbreitetsten und auch entscheidenden Einwand: „In der Tat würde dieser Einwandtyp, falls er allgemeine Gültigkeit besäße, jede Theorie der Subjektivität unmöglich machen. Anders als die bisher erörterten Grundarten von Einwänden ist dieser Einwandtyp nicht von der Geltung bestimmter inhaltlicher Prämissen in einer Theorie abhängig; er ist vielmehr in seinen beiden Versionen immanent und greift die Konsistenz eines Begriffs selbstbezüglichen Selbstbewusstseins überhaupt an. Daher muss er ausgeräumt werden, soll eine Theorie selbstbezüglicher Subjektivität auch nur begrifflich möglich sein.“ (Düsing, Klaus, Selbstbewusstseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, Bonn, 1997, S. 97.) 2 Vgl. hierzu Henrich, Dieter, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für Wolfgang Cramer, hg. v. Dieter Henrich, Hans Wagner, Frankfurt am Main, 1966, S. 188-232; Ders., „Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“, in: Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I, Methode und Wissenschaft, Lebenswelt und Geschichte, hg. v. Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl, Tübingen, 1970, S. 257-284; Ders., „Fichtes ‚Ich‘‘“, in: Selbstverhältnisse, Stuttgart, 1982, S. 57-82; Frank, Manfred, „Fragmente einer Geschichte der Selbstbewusstseins-Theorie von Kant bis Sartre“, in: Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre. Mit einem Nachwort von Manfred Frank, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt am Main, 1991, S. 413-599, hier: S. 447449; Gloy, Karen, „Selbstbewusstsein als Prinzip neuzeitlichen Selbstverständnisses: Seine Grundstruktur und seine Schwierigkeiten“, in: Fichte-Studien 1 (1990), S. 41-72; Becker, Werner, „Idealismus und Skeptizismus. Reflexionen über das Verhältnis von Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein bei Kant und Fichte“, in: Ders.: Selbstbewusstsein und Spekulation. Zur Kritik der Transzendentalphilosophie, Freiburg, 1972, S. 66-85; Lenk, Hans, Kritik der logiSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Einleitung
standen, insofern hier nicht wie bei einer Identifikations-Relation ein Irrtum durch Fehlidentifizierung möglich ist. Manfred Frank stellt so im Anschluss an Sartre und Russell Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis gegenüber. Selbstbewusstsein unterscheidet sich dabei Frank zufolge durch folgende Punkte von Selbsterkenntnis: 1) Selbstbewusstsein ist keine Relation von etwas zu etwas. 2) Bei Selbstbewusstsein liegt keine Identifikation vor, insofern eine nichttriviale Identifikation einen semantischen Unterschied voraussetzt. 3) Selbstbewusstsein ist nicht Resultat eines absichtsvollen Tuns in Form eines Sich-selbst-Setzens. 4) Selbstbewusstsein ist nicht Gegenstand eines Wissens, insofern Wissen nicht unmittelbar ist, da es eine propositionale Struktur und damit die Möglichkeit von Irrtum impliziert. Selbstbewusstsein stelle so eine unmittelbare Gewissheit, Selbsterkenntnis hingegen ein propositionales Wissen dar.3 So gibt es auf der anderen Seite in der Forschung zu Fichtes Subjektivitätsmodell den Versuch nachzuweisen, dass bei Fichte das Modell eines irreflexiven Selbstbewusstseins vorliegt, woraus die Plausibilität der fichteschen Position resultieren soll.4 Hierbei wird aber übersehen, dass Fichtes Modell seine Plausibilität gerade daraus beziehen könnte, dass es eine Form von Zirkularität des Selbstbewusstseins behauptet, die nicht vitiös, d. h. fehlerhaft, ist.5 Der Plausibilisierung dieser These gilt die folgende Untersuchung. Das Problem, vor das Fichtes Theorie des Selbstbewusstseins gestellt ist, lässt sich wie folgt formulieren: Zum einen handelt es sich bei Selbstbewusstsein um eine unmittelbare Gewissheit, d. h., ich kann mich nicht irren in Bezug auf die Behauptung, dass ich ich bin. Das Selbstbewusstsein ist immun gegen einen Irrtum schen Konstanten. Philosophische Begründungen der Urteilsformen vom Idealismus bis zur Gegenwart, Berlin, 1966, S. 200-202. 3 Vgl. Frank, Manfred, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Theorie der Subjektivität, Stuttgart, 1991, S. 163. 4 Vgl. hierzu Stolzenberg, Jürgen, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart, 1986; Klotz, Christian, Selbstbewusstsein und praktische Identität. Eine Untersuchung über Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo, Frankfurt am Main, 2002; Crone, Katja, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität. Untersuchungen zur „Wissenschaftslehre nova methodo“, Göttingen, 2005. 5 Vgl. Metz, Wilhelm, „Die produktive Reflexion als Prinzip des wirklichen Bewusstseins“, in: Fichte-Studien 20 (2003), S. 69-99. Vgl. auch Dürr, Suzanne, „Reflexion und Produktion. Zur Bestimmung des absoluten Ich in Fichtes ‚Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre‘“, in: Die Aktualität der Romantik, hg. v. Michael Forster, Klaus Vieweg, Berlin, 2012, S. 163-181. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Einführung in die Problemstellung
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durch Fehlidentifizierung. So betont bereits Descartes den unbezweifelbaren Status des Selbstbewusstseins als fundamentum inconcussum, als unerschütterliches Fundament des Wissens. Zum anderen handelt es sich beim Selbstbewusstsein aber auch um eine Form von Wissen, anders könnte es nicht als Bewusstsein expliziert werden. Ich muss mir das Prädikat zusprechen können, dass ich mir meiner selbst bewusst bin. Hier besteht nun folgendes Problem: Wissen weist eine propositionale Form auf und lässt sich als Relation von Wissendem und Gewusstem, Subjekt und Objekt beschreiben und kann damit qua Relation einem Irrtum durch Fehlidentifizierung unterliegen. Die Aufgabe besteht nun darin, beide Aspekte in einen konsistenten Erklärungszusammenhang zu bringen und dabei das Problem eines vitiösen Zirkels bzw. eines infiniten Regresses zu vermeiden. In seinem wirkmächtigen Aufsatz Fichtes ursprüngliche Einsicht (1966) versteht Dieter Henrich Fichte als ersten Kritiker der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins.6 Obwohl Fichte die Zirkularität 6 Henrich nimmt dabei eine doppelte Einengung der Konzeption Fichtes vor: Zum einen geht es Henrich um die Explikation des epistemischen Selbstbewusstseins, wodurch die praktische Dimension von Subjektivität ausgeblendet wird. Zum anderen verengt Henrich die Diskussion auf die Frage nach der Struktur von Selbstbewusstsein als Phänomen. Henrich unterscheidet so nicht deutlich zwischen der Konzeption eines reinen und der eines empirischen Ichs bei Fichte. Vielmehr vermischt er beide Konzepte und stellt daher dann nur die Frage, wie die Struktur von Selbstbewusstsein als Phänomen und damit des empirischen Ichs beschrieben werden kann. In Bezug auf das Konzept des Selbstbewusstseins gilt es so drei verschiedene Dimensionen zu unterscheiden, denen drei verschiedene Konkretionsstufen von Subjektivität entsprechen: Zunächst sind konkrete und abstrakte Subjektivität zu differenzieren. Konkrete Subjektivität ist dabei durch das Konzept der Person expliziert, die dadurch zu charakterisieren ist, dass sie über spezifische Eigenschaften definiert ist und in einem Kontext spezifischer Relationen zu verorten ist, wodurch das Konzept der Person auf ein ganz bestimmtes Einzelindividuum bezogen ist. Abstrakte Subjektivität bezieht sich demgegenüber auf die allgemeine Grundstruktur von Subjektivität, die allen Einzelsubjekten gemeinsame Form von Subjektivität. Zwischen diesen beiden Subjektivitätskonzepten ist der Begriff des Individuums einzuordnen: Das Individuum ist gegenüber der konkreten Person abstrakt, gegenüber dem Konzept der abstrakten Subjektivität aber als gegen fremde Subjektivität bestimmte Subjektivität definiert und bezieht sich damit bereits auf einen Kontext von Einzelsubjekten. Die Unterscheidung von empirischer und transzendentaler, reiner Subjektivität geht auf Kant zurück und spielt dann eine zentrale Rolle in den Subjektivitätsmodellen des Deutschen Idealismus. Während bei Kant das reine Selbstbewusstsein aber als eine logische Voraussetzung von Objektbewusstsein fungiert, weshalb seine Struktur unthematisch bleibt, rückt bei Fichte die Frage nach Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Einleitung
der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins Henrich zufolge bemängelt, gelinge es ihm hierbei allerdings nicht, diese in der Konzeption eines Produktionsmodells zu überwinden: Reflexionstheoretische Momente schleichen sich in den Gegenentwurf der Reflexionstheorie ein. Es wird sich aber zeigen, dass Fichte keinen Zirkel, sondern einen infiniten Regress an den Subjektivitätskonzeptionen bis zu Kant kritisiert, wobei Fichtes Kritik hierin auf ein dualistisches, einseitig theoretisches Subjektivitätsmodell abzielt. Mit der Untersuchung von Fichtes Konzeption des reinen Ichs soll an die Position Rolf-Peter Horstmanns angeschlossen werden, der diesen Typus von Selbstbewusstsein als zentral für die Debatten im Deutschen Idealismus ansieht.7 Damit soll die Konzeption eines empirisch-psychologischen, individuellen Ichs, das als Wissen von seinen inneren Zuständen aufgefasst werden kann, aus der Untersuchung weitestgehend ausgeklammert werden. Mit der Konzentration auf die Konzeption reiner Subjektivität tritt der Begriff der Person, wie er sich in dem Verständnis von Selbstbewusstsein als empirischem Phänomen widerspiegelt, in den Hintergrund. Henrich unterliegt so einem Missverständnis, wenn er Fichtes Konzeption eines unmittelbaren Bewusstseins als Explikation von phänomenalem Selbstbewusstsein deutet.8 Dieses ist dader Grundstruktur des Selbstbewusstseins ins Zentrum, insofern dieses als Grundprinzip des für den Deutschen Idealismus maßgeblichen Systemprojekts fungiert. Dabei konzipieren die Idealisten Selbstbewusstsein als absolute Subjekt-Objekt-Struktur, wodurch eine Überwindung der kantischen Dualismen von Anschauung und Begriff, Form und Gehalt, Sinnlichkeit und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit und Theorie und Praxis gelingen soll. 7 „[…] dass weder für Kant noch für die Deutschen Idealisten Selbstbewusstsein oder Ichbewusstsein als empirisches Phänomen oder als psychologische Tatsache in das Zentrum philosophischer Reflexion und Theorie gehören. Als empirische Tatsache spielt Selbstbewusstsein bei Kant und seinen idealistischen Nachfolgern zwar auch eine Rolle, aber eine solche, die es in keiner Weise gegenüber anderen empirischen Tatsachen privilegierte. Wenn Selbstbewusstsein in den wichtigsten philosophischen Entwürfen der Zeit von Kant bis Hegel eine Schlüsselfunktion eingeräumt worden ist, so deshalb, weil es im Rahmen dieser Philosophien als etwas gefasst werden konnte, was zwar auf das empirische Phänomen gleichen Namens verweist, ohne aber mit ihm identifiziert werden zu dürfen.“ (Horstmann, Rolf-Peter, „Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewusstseins?“, in: Theorie der Subjektivität, hg. v. Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda, Rolf-Peter Horstmann, Ulrich Pothast, Frankfurt am Main, 1990, S. 220-248, hier: S. 227-228.) 8 Vgl. hierzu insbesondere Halbig/Quante: „Diese Unterscheidung zwischen dem Selbstbewusstsein als Thema eines Teilgebietes der Philosophie (philosophy of mind) einerseits und seiner Funktion als methodologisches, epistemoSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Einführung in die Problemstellung
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durch begünstigt, dass Fichte in Reaktion auf den Transzendenz-Vorwurf, der von Hölderlin am absoluten Ich des § 1 der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre geübt wurde, das Ich-Prinzip in der Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre direkt im Bewusstsein nachzuweisen versucht. Bereits Hegel moniert, dass Fichtes Kennzeichnung des Prinzips als Ich zum Missverständnis führen kann, dass hierbei ein empirisches, phänomenales Ich gemeint sei, nicht aber das Prinzip der Philosophie, das als reines Wissen aufgefasst werden müsse.9 Auch Fichte selbst hat diese Schwierigkeit gesehen: So spricht er in seiner Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02) vom absoluten Wissen. Henrich entwirft dann im Gegenzug gegen das Reflexionsmodell ex negativo eine nicht-zirkuläre Konzeption von Selbstbewusstsein. Diese stellt aber, wie zu zeigen sein wird (Exkurs 1), zum einen einen Rückfall in empiristische Modelle dar, zum anderen kann auch sie nicht gänzlich auf das Moment der Reflexivität und damit auf Zirkularität verzichten. Henrichs Kritik der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins wird nun auch von der sprachanalytischen Philosophie des Selbstbewusstseins aufgenommen: So gelangt Ernst Tugendhat zu der Diagnose, dass Henrich als Vertreter der von ihm als Heidelberger Schule bezeichneten Richtung noch der traditionellen Theorie des Selbstbewusstseins verhaftet bleibe, die hier an ihre Grenze gelange und sich damit selbst verabschiede: Es scheint demnach, dass die innere Konsequenz, mit der in der Heidelberger Schule die traditionelle Selbstbewusstseinstheorie zu Ende gedacht wird, zum Verschwinden des zu erklärenden Phänomens – des Selbstbewusstseins – führt. In der Theorie der Heidelberger logisches und ontologisches absolutes Fundament andererseits gilt es […] im Auge zu behalten. Dies ist um so wichtiger, da – z. B. angeregt durch die Arbeiten von Dieter Henrich und der sogenannten Heidelberger Schule – es mittlerweile üblich geworden ist, die Beiträge des Deutschen Idealismus zum Thema Selbstbewusstsein für die Analysen der Phänomene des ersten der gerade unterschiedenen Bereiche fruchtbar zu machen. Diese Herangehensweise kann angemessen sein, wenn sie im Wissen der gerade beschriebenen Differenz vorgenommen wird. Um einen Eindruck von der Bedeutung und Tragweite dieser Differenz einerseits und des spezifischen Charakters der Philosophie des Deutschen Idealismus andererseits zu gewinnen, ist es aber notwendig, sich zuerst einmal auf das Selbstbewusstsein als philosophisches Prinzip zu konzentrieren.“ (Halbig, Christoph, Quante, Michael, „Absolute Subjektivität“, in: Klassische Fragen der Philosophiegeschichte II: Neuzeit und Moderne, hg. v. Franz Gniffke, Norbert Herold, Münster, 2000, S. 83-104, hier: S. 84.) 9 Vgl. WdL, TWA 5, 77-78. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Einleitung
Schule hätte sich dann die traditionelle Selbstbewusstseinstheorie selbst ad absurdum geführt. Aus diesem Grund meine ich, dass die Heidelberger Schule einen erkennbaren Endpunkt der traditionellen Selbstbewusstseinstheorie markiert.10
Auch Tugendhat geht es hierbei um die Frage der Explikabilität von Selbstbewusstsein als einem empirischen Phänomen, einem Wissen um meine Zustände. Tugendhat verengt dann die Frage nach der Explikation von Selbstbewusstsein allerdings auf eine Analyse des Personalpronomens ich. Tugendhat wendet also Henrichs Kritik am Zirkelmodell gegen diesen selbst. Die paradoxe Explikation von Selbstbewusstsein resultiert Tugendhat zufolge dabei aus den Fehlannahmen der traditionellen Selbstbewusstseinstheorie. Gegen Henrich, aber auch gegen Tugendhat ist nun vorzubringen, dass im Deutschen Idealismus Subjektivität, insofern hier die Frage gestellt wird, wie Philosophie als System konzipiert werden kann, als Prinzip zu betrachten ist. Ausgehend von Kants fundamentaler Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich fungiert reine Subjektivität als Grundprinzip. Das empirische Ich kann keine Prinzipienfunktion erfüllen, da es nur ein Kontingentes, Besonderes darstellt, ein Prinzip aber allgemein und damit universell sein muss. Bei Jürgen Stolzenberg findet sich dann eine affirmative Interpretation der fichteschen Selbstbewusstseinstheorie.11 Stolzenberg deutet so Fichtes Ich-Konzeption als ein nicht-reflektiertes Selbstverhältnis, das gemäß einer Logik des absoluten Bestimmens expliziert werden müsse. Die folgende Untersuchung schließt insofern an Stolzenberg an, als sie Henrichs Zirkelkritik als nicht zutreffend für das fichtesche Selbstbewusstseinsmodell betrachtet. Fichtes Selbstbewusstseinsmodell erhält aber eine andere Deutung als bei Stolzenberg: Dieses soll als Einheit von Reflexion und Produktion und damit als produktive Reflexion oder reflexive Produktion expliziert werden.
10 Tugendhat, Ernst, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main, 1979, S. 54. Zu Henrichs Verteidigung gegen Tugendhats Kritik vgl. Henrich, Dieter, „Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewusstsein“, in: Mensch und Moderne, hg. v. Clemens Bellut, Ulrich Müller-Schöll, Würzburg, 1989, S. 93-132. 11 Vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Zielstellung und Aufbau der Arbeit
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2) Zielstellung und Aufbau der Arbeit Selbstbewusstsein weist sowohl eine theoretische als auch eine praktische Dimension auf: Zum einen impliziert Selbstbewusstsein in theoretischer Hinsicht ein Erfassen des Subjekts als sich selbst qua Denkendes. Zum anderen verweist der Begriff in praktischer Hinsicht auf die Selbstbestimmung des Subjekts. So verstehen sich Menschen als Träger eines freien Willens, die bewusst Entscheidungen treffen und damit ihr Handeln selbst bestimmen. Geht es nun darum, eine Definition, d. h. eine Beschreibung, und eine Theorie, d. h. eine Erklärung, dieses so vertrauten und alltäglichen Sachverhalts zu entwickeln, wird deutlich, wie problematisch dieser doch ist. Unter den verschiedenen Disziplinen, die sich mit dem Gegenstand des Bewusstseins und Selbstbewusstseins befassen, wie z. B. Psychologie, Sozialwissenschaften oder Neurowissenschaften, ist die Philosophie dabei diejenige, die eine Begriffsanalyse von Bewusstsein leisten will, wodurch sich eine ganz eigene Perspektive eröffnet. Spätestens seit der Neuzeit12 wird das Thema des Bewusstseins und Selbstbewusstseins zu einem zentralen Gegenstand der Philosophie. So ist Hegel zufolge die Philosophie erst in der Moderne, d. h. mit Descartes, zu sich selbst gekommen, indem sie auf Subjektivität als ihre eigentliche Bedingung reflektiert.13 Nun lässt sich aber seit der sogenannten Postmoderne eine Verabschiedung der Rede vom Ich in der Philosophie feststellen. Michel Foucault spricht in diesem Sinne sogar vom „Tod des Subjekts“14. Henrich wendet sich nun gegen eine solche Deu 12 Nach Karen Gloy gilt dies auch schon für die Antike. (Vgl. Gloy, Karen, Bewusstseinstheorien. Zur Problematik und Problemgeschichte des Bewusstseins und Selbstbewusstseins, Freiburg/München, 1998.) 13 „Mit ihm [Descartes, S.D.] treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt und daß das Selbstbewußtsein wesentliches Moment des Wahren ist. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See >Land< rufen“ (GdPh, TWA 20, 120) 14 Hierzu Foucault: „Man braucht sich nicht sonderlich über das Ende des Menschen aufzuregen; das ist nur ein Sonderfall oder, wenn Sie so wollen, eine der sichtbaren Formen eines weitaus allgemeineren Sterbens. Damit meine ich nicht den Tod Gottes, sondern den Tod des Subjekts, des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte.“ (Foucault, Michel, Die Geburt einer Welt, [übers. von Michael Bischoff], in: Ders., Dits et Ecrits, Band 1: 1954-1969, Frankfurt am Main, 2001, S. 999-1003, hier: S. 1002.) Die Verabschiedung des Subjekts ist dabei bereits von Ernst Mach antizipiert, wenn er schreibt, dass die Vorstellung des Ichs aufgegeben Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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tung: Mit seinem programmatischen Aufsatz Fichtes ursprüngliche Einsicht unternimmt er nicht nur den Versuch einer Wiederbelebung des Themas Subjektivität, sondern er zieht hierfür die idealistische Selbstbewusstseinstheorie Fichtes heran. Ein solcher Bezug hat gewichtige Gründe: Es ist die Epoche des Deutschen Idealismus, in welcher zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie die Verfasstheit von Selbstbewusstsein und insbesondere die Frage nach dessen Grundstruktur im Mittelpunkt der philosophischen Analyse steht.15 Im Zentrum der Untersuchung soll nun die Frage nach der Grundstruktur des Selbstbewusstseins als reines Ich bei Fichte stehen.16 Die Behandlung dieses Gegenstandes bedarf dabei einer besonderen Rechtfertigung: Oftmals, so etwa in der Philosophie des Geistes und in der sprachanalytischen Philosophie, wird die Existenz eines reinen, transzendentalen Ichs bestritten, da es sich hierbei um ein metaphysisches Konstrukt handle. Teilweise wird sogar die Annahme eines empirischen Ichs in Frage gestellt.17 Gegen einen derartigen Reduktionismus ist einzuwenden, dass das Konzept des Ichs nicht notwendig die Annahme einer substanziellen Ich-Entität impliziert. So ist es, selbst wenn man das Ich als eine Art Konstrukt auffasst, legitim, die Frage nach der strukturellen Verfasstheit des Ich-Begriffs zu stellen. Es handelt sich hierbei um eine irreduzible Struktur, die auch
werden müsse. (Vgl. Mach, Ernst, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. (1886) Mit einem Vorwort zum Neudruck von Gereon Wolters, Darmstadt, 1985, S. 20.) Und auch für Nietzsche ist das Ich „zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wortspiel.“ (Nietzsche, Friedrich, Götzendämmerung (1888), in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München, 1955, Band 2, S. 973.) 15 Der Terminus Selbstbewusstsein entsteht dabei erst im siebzehnten Jahrhundert in der aufkommenden Subjektphilosophie und wird durch Kant in die deutschsprachige Philosophie eingeführt. Vgl. zum Begriff des Selbstbewusstseins Jaeschke, Walter, Heckmann, Heinz-Dieter, „Selbstbewusstsein“, in: Historisches Wörterbuch für Philosophie, Band 9: Se – Sp, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Basel, 1995, Sp. 350-379. 16 Zu Fichtes Theorie konkreter Subjektivität Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, zum Verhältnis von reiner und individueller Subjektivität Schwabe, Ulrich, Individuelles und Transindividuelles Ich. Die Selbstindividuation reiner Subjektivität und Fichtes Wissenschaftslehre. Mit einem Kommentar zur „Wissenschaftslehre nova methodo“, Paderborn/München/Wien/Zürich, 2007. 17 Vgl. zur analytischen Kritik von Selbstbewusstsein, etwa bei Russell, Wittgenstein und Ryle, Düsing, Klaus, Selbstbewusstseinsmodelle, S. 75-96. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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in den Argumentationen derer in Anspruch genommen wird, die die Existenz eines Ichs als Substanz bestreiten. Die leitende These der folgenden Arbeit lautet nun entgegen Henrichs strikter Kontrastierung von Reflexions- und Produktionsmodell, dass es Fichte in seiner Selbstbewusstseinstheorie gerade darum geht, ein Modell produktiver Reflexion bzw. reflexiver Produktion zu entwickeln, um den kantischen Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft in einer Einheitskonzeption zu integrieren. Im Fokus der Untersuchung soll dabei die Philosophie des frühen Fichte der Jenaer Zeit (1794 – 1799) stehen, insofern Fichte hier im Anschluss an Kant eine Subjektivitätstheorie entwickelt, in welcher das Ich als Grundprinzip der Philosophie fungiert, wobei Fichte dann ab 1800 dieses Modell insofern revidiert, als er das Ich nun in einem absoluten Sein fundiert. Die Untersuchung gliedert sich in vier zentrale Kapitel: Im ersten Kapitel soll unter Rückgriff auf die Einleitungs- und Programmschrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) der systematische Hintergrund der fichteschen Subjektivitätstheorie herausgearbeitet werden. Im zweiten Kapitel soll Fichtes Subjektivitätsmodell vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus dargestellt werden. Im dritten Kapitel gilt es dann die Entwicklung des Modells der produktiven Reflexion in Fichtes erster Wissenschaftslehre, der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95) zu rekonstruieren. Im vierten Kapitel soll schließlich die Weiterentwicklung des Ansatzes der Grundlage in der Wissenschaftslehre nova methodo behandelt werden, die Fichte dreimal von 1796 bis 1799 vorgetragen hat, sowie in dem der Wissenschaftslehre nova methodo zuzuordnenden Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98). Während es sich bei der Grundlage neben der kurzen Zusammenfassung Die Wissenschaftslehre, in ihrem allgemeinen Umrisse dargestellt (1810) um die einzige Wissenschaftslehre handelt, die von Fichte selbst zur Publikation freigegeben wurde, ist die Wissenschaftslehre nova methodo nur in Form von Vorlesungsmitschriften erhalten, die erst relativ spät einer Rezeption zugänglich waren.18 So findet sich eine Auseinandersetzung mit
18 Die Rezeption der WL nova methodo setzt erst nach der Erstveröffentlichung der so genannten Halleschen Nachschrift 1937 durch Hans Jacob ein. 1982 folgt dann die Veröffentlichung der Krause-Nachschrift. Daneben gibt es noch eine Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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der Wissenschaftslehre nova methodo erst in der jüngeren Fichte-Forschung.19 Abschließend soll Fichtes Selbstbewusstseinsmodell durch drei Exkurse eine weitere Spezifikation und Verortung erfahren: In einem ersten Exkurs soll die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs einer detaillierten Analyse unterzogen werden. In einem zweiten Exkurs soll ein Bezug auf Kants Modell des Selbstbewusstseins hergestellt werden, da Fichte sich in der Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre eingehend mit Kant auseinandersetzt. In einem dritten Exkurs soll schließlich kurz das hegelsche Modell reiner Subjektivität dargestellt werden, wie Hegel es in der Wissenschaft der Logik (1812/1816) und in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) entwickelt. Dabei sollen die Modelle Fichtes und Hegels einem skizzenhaften Vergleich unterzogen werden, wobei die These vertreten wird, dass auch Hegel ein Modell produktiver Reflexion konzipiert, insofern seine Kritik an Kant dieselbe Stoßrichtung wie die Fichtes im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre aufweist, nämlich dass Kant Selbstbewusstsein als eine lediglich formale Bedingung von Erkenntnis konzipiere, zu welcher ein externer Gehalt äußerlich hinzutrete. Es soll so eine Verwandtschaft der Subjektivitätskonzeptionen Fichtes und Hegels offengelegt werden, welche aus deren systematischer Funktion resultiert. Hierbei soll die These vertreten werden, dass zwischen den Subjektivitätskonzeptionen bei Fichte und Hegel eine konzeptionelle Nähe besteht, die eine deutliche Abgrenzung gegenüber der kantischen Konzeption ermöglicht.20 Indem im Deutschen Idealismus die Frage nach der dritte Nachschrift, die unvollständige Eschen-Nachschrift, welche erst 1992 aufgefunden wurde. 19 Hier sind folgende neuere Arbeiten zu nennen: Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität; Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität; Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich. 20 Diese Nähe wurde in der Forschung noch nicht zureichend aufgedeckt. Hierfür sind vier Hauptgründe anzuführen: Zum Ersten ist eine Abgrenzung von Fichte und Hegel begünstigt durch Hegels Fichte-Kritik, da Hegel sowohl Kant als auch Fichte als Vertreter eines subjektiven Idealismus auffasst. Zum Zweiten ordnet sich Fichte selbst dem kantischen Ansatz zu, insofern er sich als Vollender der kantischen Transzendentalphilosophie inszeniert. Zum Dritten hat die Forschung die Tradition der Grabenkämpfe im Deutschen Idealismus fortgeführt: So war in der Fichte-Forschung zunächst das Vorhaben leitend, Fichte aus dem Schatten der hegelschen Fichte-Kritik zu befreien. (Vgl. etwa Lauth, Reinhard, Hegel vor der Wissenschaftslehre, Mainz/Stuttgart, 1987; Siep, Ludwig, Hegels Fichte-Kritik und die Wissenschaftslehre von 1804, Freiburg/ Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Möglichkeit und Wirklichkeit eines Systems der Philosophie zentrale Bedeutung erlangt, steht die Verfassung von Subjektivität, insofern diese als Prinzip der Systembegründung fungieren soll, zur Debatte. Fichte und im Anschluss daran Hegel werfen Kant vor, er habe Philosophie zwar als Deduktionsprogramm im Rahmen der Transzendentalen Deduktion der Kategorien konzipiert, dieses aber nicht realisiert. Kant hat Fichte zufolge kein Prinzip aufgestellt, aus dem eine solche Deduktion erfolgen könne, bei Kant finde sich nur eine Koordination von Vermögen, deren gemeinsamer Ursprung im Dunkeln bleibe. Es eröffnet sich so eine ganz neue Lesart in Bezug auf die Subjektivitätskonzeptionen des Deutschen Idealismus: Während Deduktion bei Kant die Rechtfertigung der Objektivität der Kategorien in Bezug ihrer Anwendung auf die sinnliche Anschauung meint, erheben die Deutschen Idealisten im Anschluss an Reinhold den Anspruch einer Deduktion als systematischer Ableitung.21 Ausgehend von Kants Konzeption der reinen Apperzeption avanciert Subjektivität im Deutschen Idealismus zum Bewegungsprinzip der Systementfaltung. Die Unbestimmtheit der reinen Apperzeption ist hierbei ein geeigneter Anfang des Systems der Philosophie, insofern der Anfang unbedingt und damit voraussetzungslos sein soll. Zugleich stellt die Unbestimmtheit des Anfangs aber auch ein Problem dar, insofern sich nun die Frage stellt, wie aus einem Unbestimmten Bestimmtheit generiert werden kann, um eine Systemstruktur zu entwickeln. Die Subjektivitätskonzeptionen bei Fichte und Hegel sind so nur vor dem Hintergrund des Systemprojekts verständlich zu machen. Während bei Kant die reine Apperzeption als höchster Punkt der Transzendentalphilosophie bloß eine logische Voraussetzung München, 1970; Girndt, Helmut, Die Differenz des Fichteschen und Hegelschen Systems in der Hegelschen „Differenzschrift“, Bonn, 1965; Baumanns, Peter, Fichtes ursprüngliches System. Sein Standort zwischen Kant und Hegel, StuttgartBad Cannstatt, 1972.) Dabei war die Strategie vorherrschend, Hegels Ansatz als Dogmatismus darzustellen (so etwa bei Lauth und Girndt). Zum Vierten ist der Mangel an komparatistischen Studien auch bedingt durch die Komplexität der Konzeptionen des Deutschen Idealismus. 21 Anders als Fichte, Schelling und Hegel gebraucht Reinhold den Begriff der Deduktion allerdings im Sinne von Kants transzendentaler Deduktion, obgleich Reinholds Ableitungsprogramm das Systemprojekt des Deutschen Idealismus initiiert. (Vgl. Bondeli, Martin, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold: eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur Philosophie Reinholds in der Zeit von 1789 bis 1803, Frankfurt am Main, 1995, S. 211.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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darstellt, steht bei Fichte und Hegel die Verfasstheit dieser Subjektivität (Subjektivität überhaupt bei Fichte/übergreifende Subjektivität bei Hegel) im Mittelpunkt, insofern diese als Deduktionsprinzip eingesetzt ist. Als Deduktionsprinzip kann Subjektivität nun nur fungieren, wenn sie nicht bloß als Unbestimmtheit verstanden wird, sondern die Struktur einer unbestimmten Bestimmtheit aufweist, aus welcher das Hervorgehen von Differenz (Mannigfaltigkeit) erst einsichtig gemacht werden kann.
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I. Systemprojekt und Subjektphilosophie bei Fichte
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Um ein angemessenes Verständnis der Subjektivitätskonzeption Fichtes zu erlangen, ist es zunächst notwendig, den systematischen Kontext, in welchem das Programm der Wissenschaftslehre zu verorten ist, zu berücksichtigen.22 Erst hierdurch können Verfasstheit und Funktion von Selbstbewusstsein als Grundprinzip der Wissenschaftslehre einsichtig gemacht werden. So führt die Vernachlässigung des systematischen Kontextes zu einer verkürzenden Perspektive, in welcher zum einen die Neukonzeption des Grundprinzips in der WL nova methodo aus dem Blick gerät und welche zum anderen das Missverständnis des Ich-Prinzips als eines konkreten, phänomenalen Selbstbewusstseins provoziert. Fichte stellt dem akademischen Publikum sein Systemprojekt in der kleinen Schrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie (1794) vor, welche er in deren Neuauflage von 1798 als seine wichtigste metatheoretische Schrift bezeichnet. (Vgl. BWL, GA I,2, 159) Die Begriffsschrift soll dabei als Einleitungs- und Programmschrift eine Einführung in das Projekt der Wissenschaftslehre geben und geht als solche den Vorlesungen zur Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95) als erster konkreter Ausarbeitung dieses Programms voraus.23 Zum Ersten sollen nun kurz die Grundcharakteristika eines Systems in der Begriffsschrift skizziert werden, um dann zum Zweiten den Zusammenhang von Systemkonzeption und Selbstbewusstsein als Grundprinzip der Wissenschaftslehre aufzuzeigen.
1) Funktion und Grundstruktur eines Systems Die Begriffsschrift gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil entwickelt Fichte den Begriff der Wissenschaftslehre. Hier geht es darum, Funktion und Merkmale eines Systems darzustellen und den eigenen Begriff von Philosophie als Wissenschaftslehre herauszuarbei 22 In der Forschung ist dieser Zusammenhang bislang weitgehend unberücksichtigt. Vgl. hierzu Halbig, Quante, Absolute Subjektivität, S. 84-91. 23 Vittorio Hösle hat auf die eminente Bedeutung der Begriffsschrift hingewiesen, welche in diametralem Gegensatz zu ihrer bisherigen Würdigung in der Fichte-Forschung stehe, wobei er diese als Programmschrift des ganzen Deutschen Idealismus bezeichnet. (Vgl. Hösle, Vittorio, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Band 1: Systementwicklung und Logik, Hamburg, 1988, S. 23.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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ten. Im zweiten Teil liefert Fichte eine Erörterung des Begriffs der Wissenschaftslehre, womit eine Verortung der Wissenschaftslehre im Gesamtgefüge der Einzelwissenschaften und eine Darstellung des Verhältnisses von Wissenschaftslehre und Logik sowie der Wissenschaftslehre zu ihrem Gegenstand, dem System des menschlichen Geistes, gemeint ist. Im dritten Teil gibt Fichte schließlich eine hypothetische Einteilung der Wissenschaftslehre. Insofern Fichte im ersten Teil der Begriffsschrift Aufgabe und Grundstruktur seines Systems erläutert, soll dieser im Folgenden im Fokus stehen. Während Platon im Symposion Philosophie als ein Streben nach Wissen und damit nicht als Wissen selbst bestimmt, versteht Fichte im Anschluss an Kant Philosophie höchst anspruchsvoll als Wissenschaft. Eine Wissenschaft kann Philosophie dabei nur sein, wenn sie die Form eines Systems aufweist. Fichte führt hierbei drei Kriterien für ein System an, wobei er, insofern Wissen für ihn eine propositionale Form hat, ein System als einen Zusammenhang von Sätzen betrachtet: a) Systematische Form Zum Ersten muss ein System eine systematische Form aufweisen, d. h., es muss ein interner, sachlicher und notwendiger Zusammenhang und nicht bloß eine äußerliche, willkürliche Verbindung (Aggregat) zwischen den Sätzen des Systems bestehen. b) Begründung Fichte behauptet nun in einem nächsten Schritt, dass die systematische Form ein zu schwaches Kriterium darstellt, um ein System zu definieren, da in Bezug auf eine Wissenschaft der Inhalt größere Relevanz als die Form habe. So sei die Form in Bezug auf die Konstitution eines Systems nur ein Mittel zum Zweck und diesem damit zufällig. Fichte spitzt diese Annahme auf die Behauptung zu, dass selbst ein gewisser Satz als Wissenschaft zu betrachten sei, während ein bloß formales System mit einem fiktiven Inhalt nicht als Wissenschaft zu verstehen sei. (Vgl. BWL, GA I,2, 112-113) Diese merkwürdige Behauptung relativiert Fichte allerdings, wenn er in Bezug auf den Grundsatz eines Systems sagt, dass dieser als Begründendes ein Begründetes und damit ein System von Sätzen fordere. Was eine Wissenschaft ausmache, sei die Gewissheit ihres Inhalts, d. h., dass dieser ein Gewusstes sei. Die Gewissheit der Wissenschaft als System Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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sei dabei nur möglich durch das Aufstellen eines absolut gewissen Grundsatzes, der vor der Verbindung der Teile des Systems gewiss sei. Gegen die Annahmen der Emergenztheorie kann Fichte zufolge durch die Verbindung der Teile eines Systems nichts entstehen, was nicht bereits in einem Teil desselben enthalten ist. (BWL, GA I,2, 114115) Als unmittelbar gewisser Satz kommt dem Grundsatz insofern eine ausgezeichnete Stellung im System zu, als er die Gewissheit aller Sätze des Systems begründet (Transfermodell). Als unmittelbar gewisser Satz ist der Grundsatz zum einen durch die Einheit von Form und Inhalt definiert, d. h., weder die Form bedingt einseitig den Inhalt des Grundsatzes, noch bedingt der Inhalt einseitig dessen Form, sondern Form und Inhalt bedingen sich wechselseitig. Während der innere Gehalt des Grundsatzes das ist, was dieser allen übrigen Sätzen mitteilen soll, ist die Form des Grundsatzes durch Fichte als Art definiert, wie der Grundsatz seinen Gehalt mitteilen soll. (Vgl. BWL, GA I,2, 117) Zum anderen ist der Grundsatz insofern unmittelbar gewiss, als er den absoluten, unhintergehbaren Anfang des Systems der Wissenschaftslehre darstellt. Wäre der Grundsatz nicht unmittelbar und unbedingt, dann wäre er durch einen weiteren Satz bedingt und vermittelt, der wieder durch einen weiteren Satz bedingt wäre. Der Versuch einer transferierenden Begründung würde in einen infiniten Begründungsregress führen: Folglich wäre eine Begründung so nicht zu leisten: „Soll es kein solches System geben, so lassen sich nur zwei Fälle denken. Entweder, es giebt überhaupt nichts unmittelbar Gewisses; unser Wissen bildet mehrere oder Eine unendliche Reihe, in der jeder Satz durch einen höhern, und dieser wieder durch einen höhern u. s. f. begründet wird. […] Oder – der zweite Fall – unser Wissen besteht aus endlichen Reihen, aber aus mehrern.“ (BWL, GA I,2, 124) Für Jacobi führt ein monistisches System im Stile Spinozas zwangsläufig zu einer deterministischen Position, da es sich bei einem solchen um einen in sich notwendigen Begründungszusammenhang handelt. Jacobi zufolge besteht der einzige Ausweg in einem Salto mortale aus dem System, nur so könne Freiheit gesichert werden, da diese bloß durch unmittelbare Gewissheit und eben nicht durch diskursive Begründung erfahren werden könne.24 Fichte geht nun einen 24 Jacobi, Friedrich Heinrich, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (Erste Auflage Breslau, 1785, Zweite Auflage 1789), Nachdruck der Ausgabe Berlin, 1916, in: Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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anderen Weg: Er setzt die Konzeption einer unmittelbaren Gewissheit in Rekurs auf Jacobi gerade zum Aufbau seines Systems ein, insofern er diese als Fundament gegen den Einwand eines infiniten Regresses anführt: „[I]st aber alles nur unter Bedingung gewiß, so ist nichts gewiß, und nicht einmal unter Bedingung ist etwas gewiß. Giebt es aber irgend ein letztes Glied, bei welchem nicht weiter gefragt werden kann, warum es gewiß sey, so giebt es ein Undemonstrirbares, das aller Demonstration zu Grunde liegt.“ (ZwE, GA I,4, 260) Gegen das Modell einer transferierenden Begründung konzipiert Fichte die Wissenschaftslehre als Letztbegründungsprogramm.25 Im Anschluss an Descartes und Kant vergleicht Fichte den Grundsatz mit dem Fundament eines Gebäudes. (Vgl. BWL, GA I,2, 116) Der Grund des Systems kann dabei auf keinen weiteren Grund zurückgeführt werden, er ist nicht weiter begründet, d. h., er ist nur durch sich selbst begründet26: zwischen Jacobi und Mendelssohn, hg. v. Heinrich Scholz, Berlin, 1916, neu herausgegeben v. Wolfgang Erich Müller, Waltrop, 2004, S. 45-282, hier: S. 91. 25 Zu Fichtes Modell von Letztbegründung vgl. Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 107-175. Schwabe verteidigt Fichtes Modell dabei gegen den Kritischen Rationalismus. Außerdem Gerten, Michael, „Fichtes Wissenschaftslehre vor der aktuellen Debatte um die Letztbegründung“, in: FichteStudien 13 (1997), S. 173-189. 26 In der Begriffsschrift spricht Fichte zwar nicht explizit von Selbstbegründung in Bezug auf den absolut-ersten Grundsatz. In § 2 nennt er aber zwei Möglichkeiten, wenn es kein System der Wissenschaftslehre geben sollte: Zum Ersten den infiniten Regress, zum Zweiten mehrere parallel existierende Systeme mit jeweils voneinander unabhängigen Grundsätzen. Hier heißt es: „Oder – der zweite Fall – unser Wissen besteht aus endlichen Reihen, aber aus mehrern. Jede Reihe schließt sich in einem Grundsatze, der durch keinen andern, sondern bloß durch sich selbst begründet wird…“ (BWL, GA I,2, 124) Hier stellt Fichte also Unbegründbarkeit (infiniter Regress) und Selbstbegründung als zwei Alternativen gegenüber. Es lassen sich bei Fichte so zwei Begründungsmodelle unterscheiden: Zum Ersten ein Transfermodell, in welchem Grund und Begründetes divergieren, zum Zweiten ein Modell der Selbstbegründung, in welchem Grund und Begründetes zusammenfallen. So schreibt Fichte in Bezug auf das absolute Ich: „Ich bin schlechthin, weil ich bin.“ (GWL, GA I,2, 260), d. h., es ist Grund seiner selbst. Qua Sich-Setzen weist es eine selbstreflexive Struktur auf, es ist für sich, Einheit von Grund und Gehalt. In der Wissenschaftslehre nova methodo heißt es so in Bezug auf die Genese des ursprünglichen Ichs: „Hier giebt es keine Gründe; wir sind an der Grenze aller Gründe. […] Das Ich geht über, weil es übergeht, es bestimmt sich, weil es sich bestimmt, dieß Uibergehen geschieht durch einen sich selbst begründenden Act der absoluten Freiheit; es ist ein erschaffen aus nichts, ein Machen deßen, was nicht war, ein absolutes anfangen.“(WLnm-K, GA IV,3, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Soll aber nicht etwa bloß ein oder mehrere Fragmente eines Systems, wie im ersten Falle, oder mehrere Systeme wie im zweiten, sondern soll ein vollendetes und Einiges System im menschlichen Geiste seyn, so muß es einen solchen höchsten und absolut-ersten Grundsatz geben. Verbreite von ihm aus sich unser Wissen in noch so viele Reihen, von deren wieder Reihen u. s. f. ausgehen, so müssen doch alle in einem einzigen Ringe festhangen, der an nichts befestigt ist, sondern durch seine eigne Kraft sich, und das ganze System hält. (BWL, GA I,2, 125-126)
Fichte zufolge kann es dabei nur genau einen Grundsatz geben (Singularitätsbedingung): Gäbe es mehrere voneinander unabhängige Grundsätze, dann existierte nicht nur eine Wissenschaft, sondern mehrere konkurrierende Wissenschaften, insofern jeder Grundsatz eine unabhängige Wissenschaft begründen würde. Es gäbe dann keinen unbedingten, privilegierten Grundsatz, da die verschiedenen Grundsätze sich wechselseitig bedingen würden. Insofern Einheit ein wesentliches Merkmal von Wissenschaft ist, ist ein Nebeneinander verschiedener Wissenschaften nicht möglich. c) Vollständigkeit Als drittes Kriterium eines Systems führt Fichte das Merkmal der Vollständigkeit an. In Bezug auf die Konstitution eines Systems sind dabei zwei Methoden mit gegenläufiger Richtung zu unterscheiden: Während bei der Induktion durch Verallgemeinerung empirischer, konkreter Sachverhalte eine notwendige Gesetzmäßigkeit hergeleitet wird, wird bei der Deduktion das Besondere, Konkrete im Ausgang vom Allgemeinen abgeleitet. Bei der Induktion besteht nun das 360) Weiterhin heißt es: „Die Frage, wie man dazu komme, sich über die Erfahrung zur Philosophie zu erheben, nahm das ganze Recht zu philosophiren d. h. das ganze Verfahren der Vernunft in Anspruch, zu folge deßen man von dem Zufälligen einen Grund suchen muß. In der Philosophie soll gezeigt werden, wie man dazu komme, mithin ist sie ein selbstbegründen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 332) Zu den beiden Begründungsmodellen vgl. Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 161-170. Zum Transfermodell vgl. Erste Einleitung des Versuch[s] einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre: „Nur bei einem als zufällig Beurtheilten, d. h. wobei man voraussetzt, daß es auch anders seyn könne, das jedoch nicht durch Freiheit bestimmt seyn soll, kann man nach einem Grunde fragen […] Der Grund fällt, zufolge des bloßen Denkens eines Grundes, außerhalb des Begründeten…“ (ErE, GA I,4, 187) Insofern das absolute Ich notwendig ist, erübrigt sich hier dann auch die Frage nach einem (externen) Grund. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Problem, dass durch neue Sachverhalte das vorausgesetzte Allgemeine immer wieder in Frage gestellt werden könnte, die Vollständigkeit des so gewonnenen Systems wäre nie garantiert, da die Grenze eines solchen Systems eine willkürlich gezogene ist. In der Begriffsschrift verwendet Fichte dabei noch nicht den Begriff der Deduktion. Diesen gebraucht er dann in der Grundlage und in der WL nova methodo.27 Ein System muss nach Fichte nun das menschliche Wissen auf allen möglichen Stufen erschöpfen. Gegen einen einseitigen Apriorismus und einen einseitigen Empirismus entwirft Fichte das Modell eines Systems, das sowohl durch Geschlossenheit als auch durch Offenheit gekennzeichnet ist. Zur Verdeutlichung führt er das Bild eines unendlichen Zirkels an: Fichte vergleicht das menschliche Wissen so mit einem Kreis (Geschlossenheit), in dessen Mittelpunkt unendlich viele Reihen ihren Einheitspunkt haben, deren Endpunkte in der Unendlichkeit liegen (Offenheit). So ist Fichte zufolge das menschliche Wissen der Art nach bestimmt, d. h. endlich oder geschlossen, seinen Graden nach aber unbestimmt, d. h. unendlich oder offen. (Vgl. BWL, GA I,2, 129-130, Anm.) Der Kreis firmiert als ein adäquates Bild für das Modell eines Systems, insofern ein Kreis aufgrund seiner Geschlossenheit sowohl Endlichkeit als auch, da es in einem Kreis keinen Anfangs- und Endpunkt gibt, Unendlichkeit symbolisiert. Fichte geht es darum, das Moment der prinzipiellen Geschlossenheit mit dem der empirischen Offenheit in seiner Systemkonzeption zu synthetisieren. Für Fichte gibt es dabei zwei Kriterien, um die Vollständigkeit eines Systems zu belegen: Zum Ersten einen negativen, zum Zweiten einen positiven Beweis. (Vgl. BWL, GA I,2, 130) Der negative Beweis bezieht sich auf den internen Zusammenhang der Sätze des Systems und des Grundsatzes. Demnach ist der negative Beweis geführt, wenn ein wechselseitiger Bezug zwischen Wahrheit bzw. Falschheit des Grundsatzes und den anderen Sätzen des Systems besteht. Der Grundsatz fungiert so als ausgezeichneter Mittelpunkt, als Zentrum des Systems, durch welches der Zusammenhang aller Sätze garantiert ist. Der positive Beweis betrifft nun das Problem der Vollendung des Systems, d. h. der externen Systemstruktur, während der negative Beweis den inneren Zusammenhang der Systemteile und damit die interne Systemstruktur fokussiert. Hierbei geht es um die Bestimmung der Grenze des Systems: Fichte führt nun zum einen ein negatives, relatives und 27 Zu Fichtes Verwendung des Deduktionsbegriffs vgl. Kapitel IV.4.3. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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zum anderen ein positives, absolutes Merkmal für den positiven Beweis an: Das System sei so zum Ersten vollendet, wenn kein weiterer Satz mehr gefolgert werden könne. Dieses Merkmal kann aber nicht die Geschlossenheit des Systems gewährleisten und ist daher ein bloß negatives: Es besteht prinzipiell die Möglichkeit, dass das System durch neue Sätze erweitert werden könnte, die Grenze des Systems wäre dann eine bloß vorläufige. Die Konzeption eines linearen Systems kann somit nicht das Kriterium der Geschlossenheit erfüllen. Es bedarf noch eines positiven Merkmals: Das System ist dann geschlossen, wenn der Grundsatz zugleich Anfangs- und Endpunkt, Grund und Resultat des Systems ist, das System also eine zyklische Struktur aufweist. Es wird sich bey einstiger Aufstellung der Wissenschaft zeigen, daß sie diesen Kreislauf wirklich vollendet, und den Forscher gerade bey dem Punkte verläßt, von welchem sie mit ihm ausging, daß sie also gleichfalls den zweyten positiven Beweiß in sich selbst und durch sich selbst führt. (BWL, GA I,2, 131) Die Wissenschaftslehre hat also absolute Totalität. In ihr führt Eins zu Allem, und Alles zu Einem. Sie ist aber die einzige Wissenschaft welche vollendet werden kann; Vollendung ist demnach ihr auszeichnender Charakter. Alle andere Wissenschaften sind unendlich, und können nie vollendet werden; denn sie laufen nicht wieder in ihren Grundsatze zurück. Die Wissenschaftslehre hat dies für alle zu beweisen und den Grund davon anzugeben. (BWL, GA I,2, 131, Anm.)
Das Modell eines zyklischen Systems übernimmt dann auch Hegel. Hegel übt dabei aber Kritik an der Konzeption einer Grundsatzphilosophie: Hegels Kritik richtet sich gegen den Ausgang von einem vor Verbindung der Systemteile unmittelbar gewissen Grundsatz. Ein solcher ist für Hegel ein bloß subjektives Postulat, d. h. eine nur willkürliche Behauptung. Begründung kann für Hegel erst im Durchgang durch das ganze System geleistet werden und nicht durch einen sich selbst begründenden Grundsatz. Hegel polemisiert gegen das „wie aus der Pistole“ geschossene Absolute (Phän, TWA 3, 31) bei Fichte und Schelling. Dieses könne nicht Prinzip, d. h. Erstes, sondern nur Resultat sein. Hegel kehrt so die Begründungsstruktur der fichteschen Systemstruktur um, insofern die hegelsche Systemkonzeption die Struktur eines Ganges in den Grund aufweist. Bei Fichte finden sich nun zwei verschiedene Modelle von Begründung: Zum einen das lineare Modell einer Begründung durch einen unmittelbar Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Systemprojekt und Subjektphilosophie bei Fichte
gewissen Grundsatz. Zum anderen das zirkuläre Modell einer nachträglichen Begründung durch die Vollendung des Systems, wobei der Grundsatz Resultat ist. Fichte greift die durch Reinhold vorgegebene Aufgabenstellung einer Einigung aller philosophischen Parteien, d. h. von Transzendentalphilosophen, Dogmatikern und Skeptikern, in einem System auf. Ziel ist die Aufstellung eines skepsisresistenten Systems. Im Hintergrund steht die Annahme, dass Philosophie nur zu einer Wissenschaft werden könne, wenn sie ein allen Lagern gemeinsames Objekt habe. Fichte wendet sich damit gegen ein pluralistisches Philosophieverständnis, wie es heute vertreten wird. Ein Nebeneinander verschiedener Systeme widerspricht zudem dem Anspruch der Totalität, den ein System zu erfüllen hat. Fichte nimmt so eine Bestimmung des Begriffs der Philosophie durch eine Bestimmung ihres Objekts vor. Über die Definition des Systembegriffs gelangt Fichte dabei zur Bestimmung des Objekts der Philosophie: Philosophie ist nur Wissenschaft, wenn sie ein System, d. h. ein in sich geschlossener Begründungszusammenhang, ist. Ist aber Geschlossenheit ein wesentliches Merkmal von Wissenschaft, dann kann diese nicht extern begründet werden. Die Begründung des Systems kann nicht außerhalb des Systems erfolgen, sondern das System kann sich nur selbst begründen. Damit beantwortet Fichte die Frage nach dem Objekt der Philosophie: Als Wissenschaft kann Philosophie nur sich selbst zum Gegenstand haben. Indem Fichte die bei Kant auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung bezogene transzendentale Perspektive im Rahmen seiner Systemkonzeption auf die Definition der Philosophie als Wissenschaft selbst anwendet, bestimmt er Philosophie als selbstreflexives Begründungsprogramm. Das Programm einer solchen systematischen Wissensbegründung ist dabei für Fichte bereits von Kant intendiert, aber nicht ausgeführt. Dieses soll die Leerstelle eines Begründungsdefizits in der kantischen Philosophie schließen, als selbstreflexives Begründungsprojekt stellt die von Fichte konzipierte Wissenschaftslehre ein radikal neues Projekt der Wissensbegründung dar. Als Meta-Wissenschaft ist die Philosophie somit „Wissenschaft von einer Wissenschaft überhaupt“ oder mit Fichtes eigener Prägung für eine solche Konzeption Wissenschaftslehre. (BWL, GA I,2, 118)
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Selbstbewusstsein als Grundprinzip
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2) Selbstbewusstsein als Grundprinzip Insofern der absolut-erste Grundsatz als Satz Ausdruck des Grundprinzips der Wissenschaftslehre ist, besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen den Eigenschaften des Grundsatzes und der internen Struktur des systembegründenden Prinzips. a) Selbstreflexivität/Selbstreferentialität Da der Grundsatz als sich selbst begründender Ausgangspunkt des Systems der Wissenschaftslehre fungiert, muss das durch ihn explizierte Prinzip auch eine selbstreflexive Struktur aufweisen. Fichte konzipiert das Grundprinzip der Wissenschaftslehre so in der Grundlage als sich selbst setzendes und damit absolutes Ich. Als Einheit von Form und Gehalt produziert sich dieses als Für-sich-Sein und weiß sich als Produktion seiner selbst. Das Grundprinzip ist als Wissen des Wissens als selbstbezügliche Struktur, als Ich charakterisiert. Fichte löst die Forderung der Einheit von Form und Gehalt des Grundsatzes mit der Konzeption des Grundprinzips als absolutes Ich ein.28 b) Unhintergehbarkeit Fichte konzipiert das Ich als ein absolutes, da es weder einseitig den bloß theoretischen noch den bloß praktischen Ausgangspunkt des Systems darstellt. Als absoluter Bezugspunkt markiert das Ich den absoluten Horizont und Anfangspunkt des Systems. Hinter das absolute Ich kann nicht zurückgegangen werden. Es handelt sich um ein absolutes, d. h. sich selbst begründendes und damit unhintergehbares, Selbstverhältnis.
28 Zur Bezeichnung des Grundprinzips der Wissenschaftslehre als Ich vgl. Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 318-320. Laut Schwabe wählt Fichte zur Bezeichnung der reinen Selbstbestimmung den Begriff Ich, welcher im gewöhnlichen Sprachgebrauch für das individuelle Ich stehe, einen analogen Ausdruck mit ähnlichen Eigenschaften (etwa Einheit und Reflexivität) aufgrund einer Bezeichnungsnot. So gebe es für das reine Ich, insofern dieses die Gesamtheit des logischen Raums darstelle, keinen angemessenen sprachlichen Ausdruck. Laut Klotz qualifiziere die Selbstbezüglichkeit des Grundprinzips dieses hierbei noch nicht für die Bezeichnung Ich, da diese auch für Sätze und Mengen gelte. Fichte gehe es so um die Bezeichnung eines bewussten Selbstbezugs. (Vgl. Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 53.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Systemprojekt und Subjektphilosophie bei Fichte
c) Unbestimmtheit/Unmittelbarkeit Das absolute Ich als nicht zu begründende Einheit von Form und Gehalt ist als solche gegen keine externe Entität bestimmt, da es dann durch diese bedingt wäre. So wäre hierin eine Differenz eröffnet, welche die Absolutheit des Prinzips in Frage stellen würde. Das absolute Ich ist so als Totalität der Realität zu verstehen. Insofern ist das absolute Ich als radikale Unbestimmtheit zu kennzeichnen, es ist damit auch als reines Ich zu charakterisieren. Ist das absolute Ich extern gegen nichts anderes bestimmt, so stellt sich die Frage, ob es auch intern unbestimmt ist oder ob es eine interne Struktur aufweisen muss. Das absolute Ich kann als voraussetzungsloser Anfang nicht intern bestimmt sein, da dies bereits eine Voraussetzung darstellen würde. Es ist als reine, absolute Identität ohne Differenz und damit nur mit sich selbst identisch. Ist das Ich aber extern wie intern als Unbestimmtheit zu kennzeichnen, so ist zu fragen, wie im Ausgang von einer solchen Unbestimmtheit die Bestimmungsstruktur eines Systems generiert werden kann. Das Grundprinzip begründet sich so nicht nur selbst, sondern es fungiert als Begründungsinstanz für das gesamte System der Wissenschaftslehre. Insofern das Ich nicht gegen anderes bestimmt ist, kann der Bestimmungsprozess nicht extern, sondern nur intern initiiert werden, d. h. nicht durch Fremdbestimmung, sondern nur durch Selbstbestimmung. In Bezug auf das Problem einer Bestimmung des Unbestimmten gilt es dabei Inhalt und Form zu unterscheiden: Während bei einer bloß formalen Bestimmung das Prinzip nur die Form des Systems erzeugt, wobei der Inhalt von außen hinzukommt und auf die formale Struktur appliziert wird, generiert das Grundprinzip bei einer inhaltlichen Bestimmung hingegen Form und Inhalt des Systems, die Begründung ist hierbei nicht nur partiell wie bei einer formalen Bestimmung, sondern total. So unterscheidet Fichte in einer Kritik an Kant in der Zweiten Einleitung des Versuch[s] einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98) Bedingen als eine bloß formale Begründung von einem sowohl formalen als auch inhaltlichen Bestimmen: Sonach finden wir ja bei Kant ganz bestimmt den Begriff des reinen Ich, gerade so, wie die WissenschaftsLehre ihn aufstellt. – Und in welchem Verhältnisse denkt Kant […] dieses reine Ich zu allem Bewusstseyn? Als dasselbe bedingend. Somit wäre ja nach Kant die Möglichkeit des Ich oder des reinen Selbstbewusstseyns bedingt, gerade wie in der WissenschaftsLehre. Das Bedingende wird im Denken dem Bedingten Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Selbstbewusstsein als Grundprinzip
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vorausgesetzt; denn dies gerade bedeutet das angegebene Verhältniß: somit müsste ja nach Kant eine systematische Ableitung des gesammten Bewusstseyns, oder was dasselbe heißt, ein System der Philosophie vom reinen Ich ausgehen, gerade so, wie die WissenschaftsLehre es thut, und Kant selbst hätte sonach die Idee einer solchen Wissenschaft angegeben. Aber man dürfte vielleicht dieses Argument durch folgende Unterscheidung entkräften wollen: Ein anderes ist bedingt, ein anderes bestimmt. Nach Kant ist alles Bewusstseyn durch das Selbstbewusstseyn nur bedingt, d. h. der Innhalt desselben kann durch irgend etwas außer dem Selbstbewusstseyn begründet seyn; die Resultate dieser Begründung nun müssen den Bedingungen des Selbstbewusstseyns nur nicht widersprechen; die Möglichkeit desselben nur nicht aufheben: aber sie brauchen eben nicht aus ihm hervorzugehen. Nach der WissenschaftsLehre ist alles Bewusstseyn durch das Selbstbewusstseyn bestimmt, d. h. alles, was im Bewusstseyn vorkömmt, ist durch die Bedingungen des Selbstbewusstseyns begründet, gegeben, herbeigeführt; und einen Grund desselben außer dem Selbstbewusstseyn giebt es ganz und gar nicht. (ZwE, GA I,4, 229)
Das reine Ich als absoluter Anfangspunkt müsste demnach eine inhaltliche Bestimmung qua Begründung generieren, da es ansonsten nicht unbedingt, sondern durch einen fremden Gehalt bedingt wäre. Anhand einer Darstellung der konkreten Ausführung des Systemprogramms in der Grundlage und der WL nova methodo soll im Folgenden gezeigt werden, wie Fichte mit dem Problem einer Bestimmung des Unbestimmten im Ausgang vom Grundprinzip des absoluten oder reinen Ichs umgeht. Dabei soll insbesondere erläutert werden, wie Unbestimmtheit und Selbstbewusstseinsproblematik zusammenhängen. Es gilt hierbei die Frage zu diskutieren, ob das absolute Ich als Selbstbewusstsein betrachtet werden kann, widerspricht diese elaborierte Bestimmung doch scheinbar der Forderung nach der Unbestimmtheit des Grundprinzips.
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II. Der Rekurs auf Selbstbewusstsein als antiskeptizistische Strategie
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Kritizismus, Dogmatismus und Skeptizismus
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1) Kritizismus, Dogmatismus und Skeptizismus Im dritten Grundsatz der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre expliziert Fichte das Wesen der kritischen Philosophie. Fichte stellt hier Kritizismus und Dogmatismus als Repräsentanten der beiden einzig möglichen Systemtypen gegenüber. Die Wissenschaftslehre als kritische Philosophie setze das absolute Ich als schlechthin unbedingtes Prinzip an, aus welchem sie dann durch konsequente Folgerung eine systematische Struktur entfalte. Der Dogmatismus, als dessen konsequenteste Form Fichte den Spinozismus betrachtet, stelle demgegenüber den Begriff des Dinges willkürlich als schlechthin höchsten Anfangspunkt auf und subordiniere diesem das Ich. Der Unterschied von Kritizismus und Dogmatismus bestehe so zum Ersten in einem umgekehrten Verhältnis der Ableitung von Ich und Ding. Zum Zweiten sei der Dogmatismus hierdurch transzendent, da er die Grenzen des Ichs überschreite, während der Kritizismus eine immanente Philosophie darstelle. Der Dogmatismus verfahre willkürlich, da das Ding nicht die Bedingungen zu erfüllen vermag, die Fichte an das Grundprinzip eines Systems stellt. Fichte will so zeigen, dass der durchgeführte Dogmatismus in sein vermeintliches Gegenteil, nämlich den Skeptizismus umschlägt. Interessant ist nun, dass Fichte, um den Dogmatismus durch die Enttarnung als Skeptizismus zu widerlegen, auf zwei im Rahmen der fünf Tropen vorgebrachte, zentrale Argumente des pyrrhonischen Skeptikers Agrippa zurückgreift: Die Ansetzung des Dinges an sich als Prinzip stelle zum einen eine bloß willkürliche Voraussetzung dar und führe zum anderen durch die Forderung nach Begründung notwendig in einen infiniten Regress. So unterstehe der Dogmatismus eben auch dem logischen Gesetz des Satzes vom Grund, nichts ohne Grund anzunehmen. Das Ding qua Bedingtes verweise aber nun auf ein dieses Bedingendes zurück, wodurch der Dogmatismus in einen infiniten Regress gerate, der eine Begründung unmöglich mache. In der Ersten Einleitung des Versuch[s] einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797) führt Fichte dann noch ein weiteres Argument gegen den Dogmatismus an: So sei im Ausgang vom Ding als Grundprinzip auch keine systematische Ableitung möglich. (Vgl. ErE, GA I,4, 197) Der durchgeführte Dogmatismus leugne entweder, insofern er in einen Begründungsregress gerate, dass das Wissen einen Grund habe, und damit die Möglichkeit eines Systems oder er widerspreSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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che sich selbst, indem er eben den Satz des Grundes als logisches Gesetz revidiere, wodurch er diesen Regress durch einen Begründungsabbruch zu vermeiden suche: „Durchgeführter Dogmatism ist ein Skepticism, welcher bezweifelt, daß er zweifelt; denn er muß die Einheit des Bewußtseyns und mit ihr die ganze Logik aufheben: er ist mithin kein Dogmatism, und widerspricht sich selbst, indem er einer zu seyn vorgiebt.“ (GWL, GA I,2, 280) Der durchgeführte Dogmatismus stelle so eine höchst paradoxe Konzeption dar: Es handle sich bei diesem um einen sich selbst verleugnenden Skeptizismus, da dieser nur vortäusche, System zu sein, den eigenen Vorgaben aber nicht entspreche. Letztlich gibt es für Fichte somit nur ein einziges System, nämlich die Wissenschaftslehre. Die für den Dogmatismus gezeigte Selbstwidersprüchlichkeit lässt sich nun auch im Ausgang vom Skeptizismus zeigen: Zum einen sei der Skeptizismus kein System, da er die Möglichkeit eines Systems überhaupt leugne. Zum anderen verfahre der Skeptizismus in der Leugnung der Möglichkeit eines Systems aber selbst systematisch, womit Fichte wohl meint, dass der Skeptizismus hierbei den Gesetzen der Logik und dem Anspruch an argumentative Begründung unterworfen ist. Fichte zufolge gab es aber noch nie jemanden, der „im Ernste“ ein solcher Skeptiker war. (Vgl. GWL, GA I,2, 280, Anm.) Während der Dogmatismus in den Skeptizismus umschlägt, da das hier vertretene Systemmodell nicht funktioniert, schlägt der Skeptizismus in Dogmatismus um, da die Leugnung eines Systems eine dogmatische Behauptung darstellt, die sich quasi selbst widerlegt. Fichte bringt gegen den Skeptizismus demnach zwei Argumente vor: Während sich das erste Argument auf die theoretische Inkonsistenz des Skeptizismus bezieht, kritisiert das zweite Argument dessen praktische Selbstwidersprüchlichkeit. Da das von Fichte angeführte theoretische Argument zu schwach ist – immerhin muss der Skeptiker mit der Anerkennung der logischen Gesetze ja noch nicht den starken Anspruch eines Systems vertreten –, führt Fichte ein weiteres Argument gegen den Skeptizismus an. Wenn Fichte feststellt, niemand sei „im Ernste“ ein solch systematischer Skeptiker gewesen, dann zielt dies auf die praktische Dimension des Skeptizismus. So heißt es in der Wissenschaftslehre nova methodo: „Der Idealist, der die Körperwelt läugnet, stüzt sich doch unaufhörlich auf diese, eben so wie der der ihre Würklichkeit glaubt. Dieser Zweifel des Idealisten hat nicht unmittelbare Folgen auf das Leben, allein es ist doch unanständig, daß seine Theorie mit seiner Praxis in Widerspruch stehe.“ Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Kritizismus, Dogmatismus und Skeptizismus
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(WLnm-K, GA IV,3, 326) Die theoretische Unerkennbarkeit der Realität steht also insofern in fundamentalem Widerspruch zur Praxis, als auch der Skeptiker im Handeln die Realität voraussetzen muss. Es ließe sich hierbei noch ein weiteres praktisches Argument anbringen: Operiert der Skeptiker in theoretischer Hinsicht mit logischen Begründungsstrukturen, welche er bestreitet, so greift er auch im Handeln auf bestimmte Gesetze zurück, deren Geltung er bezweifelt. So fordert auch eine der skeptischen Position gemäße Enthaltung vom Handeln eine aktive Bestimmung, da, so Fichte, auch ein Nicht-Handeln als eine Form des Handelns zu betrachten ist.29 In der Argumentation gegen den systematischen Skeptizismus zeigt sich nun, dass bei Fichte Systemdenken und Realitätsproblematik auf das Engste verknüpft sind. Für Fichte fungiert das System dabei als eine Art Heilmittel gegen den Skeptizismus: Erst ein System vermag durch die Darstellung der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft den Menschen in Übereinstimmung mit sich selbst zu bringen. Der Skeptizismus erfüllt hierbei eine propädeutische Funktion: Er hinterfragt den Glauben an eine bewusstseinsunabhängige Außenwelt und destruiert den Standpunkt des gemeinen Bewusstseins. Der Skeptizismus führt so zu einer Aufspaltung in zwei Ebenen des Bewusstseins: den Standpunkt des Lebens auf der einen und den Standpunkt der Spekulation auf der anderen Seite. 29 Vgl. GNR, GA I,3, 343; WLnm-K, GA IV,3, 469. Zu Fichtes praktischer Argumentation gegen den Skeptizismus vgl. Storheim, Eivind, „Fichtes Widerlegung des Skeptizismus“, in: Der transzendentale Gedanke: Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hg. v. Klaus Hammacher, Hamburg, 1981, S. 309-314. Storheim unterscheidet hierbei drei praktische Argumente („Stufen“) gegen den Außenwelt-Skeptizismus bei Fichte: 1) Der Verwirklichung unserer Zwecke auf Basis des Sittengesetzes liege die Annahme von der Existenz der Gegenstände zugrunde. 2) Ein Zweifel an den äußeren Gegenständen stehe in Widerspruch zum Ernst des Handelns. 3) Als interessiertes Wesen, das notwendig Zwecke setzt, müsse der Mensch an die Realität der Außenwelt glauben. (Vgl. ebd., S. 312-313.) „Es ist Fichtes Verdienst, gezeigt zu haben, dass der Skeptizismus nicht dadurch erwiesen sei, dass man alles unter theoretischen Zweifel stellt, sondern dass es auch möglich sein muss, nach skeptischen Grundsätzen zu leben. Weil ein solches Leben unmöglich ist, weil die Taten des Lebens die abstrakten Gedanken widerlegen, ist es gezeigt, dass der Skeptizismus unhaltbar ist.“ (Ebd., S. 314.) Auch Ivaldo betont, dass der Skeptizismus nur praktisch widerlegt werden könne. So verstoße eine unendliche Skepsis gegen das Interesse für die Realität. (Vgl. Ivaldo, Marco, „Skeptizismus bei Fichte mit besonderer Berücksichtigung der Rolle des Zweifels in der Bestimmung des Menschen“, in: Fichte-Studien 39 (2012), S. 19-36, hier: S. 35-36.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Selbstbewusstsein als antiskeptizistische Strategie
Ziel der Wissenschaftslehre ist es nun, beide Standpunkte zu versöhnen, indem gezeigt wird, wie der Standpunkt des Lebens aus der Spekulation zu generieren ist: Wenn der Philosoph auf dem praktischen Gesichtspuncte steht, so handelt er wie jedes andere Vernunftwesen und wird nicht durch Zweifel gestört, weil er weiß, wie er auf diesen Gesichtspunct kommt. Die Speculation kann nur den stören, der erst angefangen hat zu speculieren, aber noch nicht im reinen ist, dem critischen Philosophen kann so etwas nicht einfallen, weil die Resultate der Erfahrung und der Speculation immer zusammen treffen, es gehört aber Fertigkeit dazu, sich von einem Gesichtspunct auf den andren zu sezen; hieran fehlt es oft dem Anfänger, der durch realistische Zweifel in der Speculation gestört wird, der wird auch im Handeln durch Idealistische gestört. (WLnm-K, GA IV,3, 342)30
Fichte sieht den Zweck des Systems also nicht primär in einem theoretischen Erkenntnisgewinn, vielmehr hat dieses einen praktischen Zweck: „Der ganze Zwek der Bildung des Menschen ist, ihn durch Arbeit zu dem zu machen, was er vorher ohne Arbeit war.“ (WLnm-K, GA IV,3, 326) Der gebildete Mensch solle so „aus Uiberzeugung und aus Gründen seinem Bewustsein glaube[n], wie er es vorher aus Vernunftinstinkt that.“ (WLnm-K, GA IV,3,326) Fichte unterscheidet nun zwei Formen von Skeptizismus: Den eben beschriebenen radikalen Skeptizismus, der für ihn allerdings nichts weiter als eine Fiktion ist, und einen kritischen Skeptizismus, als dessen Vertreter er Hume, Maimon und Aenesidemus-Schulze nennt, welcher nicht die Möglichkeit eines Systems abstreite, sondern im Sinne eines Korrektivs durch das Aufzeigen von Unzulänglichkeiten des angesetzten Grundes zur Verbesserung des Systems beitrage. (Vgl. GWL, GA I,2, 280, Anm.)31 Mit seiner Unterscheidung von systematischem und kritischem Skeptizismus schließt Fichte dabei an Kants Gegenüberstellung von Skeptizismus und skeptischer Methode an. Während die skeptische Methode als Methode der Transzendentalphilosophie den transzendenten Gebrauch der Grundsätze der Vernunft in Zweifel zieht und damit als Vorstufe der 30 Vgl. zur Ableitung des Standpunktes des Lebens aus dem der Spekulation auch ZwE, GA I,4, 210-211, Anm. 31 Vgl. zur Rekonstruktion des argumentativen Hintergrundes der Wissenschaftslehre (Maimon, Reinhold, Schulze) Imhof, Silvan, Der Grund der Subjektivität: Motive und Potenzial von Fichtes Ansatz, Basel, 2014, S. 21-73. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Kritik der Vernunft qua Selbstbegrenzung fungiert, bezweifelt der destruktive, „grenzenlose“ Skeptizismus die Grundlagen der Erkenntnis selbst und führt so zur Selbstzerstörung der Vernunft. Weder beim systematischen noch beim kritischen Skeptizismus handelt es sich für Fichte um eine haltbare Position: Während die Selbstwidersprüchlichkeit des systematischen Skeptizismus aber darin besteht, dass er die Möglichkeit eines Systems systematisch bestreitet und damit gerade bestätigt, leugnet der kritische Skeptizismus durch die Unerkennbarkeit des Dinges an sich die Möglichkeit objektiver Erkenntnis, bestreitet aber nicht die Möglichkeit eines Systems. Dabei steht die Annahme des Dinges an sich aber der Konzeption eines Systems entgegen, da dieses als immanente, in sich geschlossene Begründungsstruktur keine externe, sich der Erkenntnis prinzipiell entziehende Entität zulässt. Widerlegt sich der systematische Skeptizismus selbst, insofern er inkonsistent ist, muss der kritische Skeptizismus extern widerlegt werden. So ist der kritische Skeptizismus erst überwunden, wenn die Wissenschaftslehre als immanentes System aufgestellt ist, wodurch gezeigt wird, dass objektive Erkenntnis unter Verzicht auf die Annahme des Dinges an sich möglich ist. Fichte nimmt damit die Zwischenstellung des Skeptizismus zwischen Dogmatismus und Kritizismus bei Kant auf: Die Funktion des kritischen Skeptizismus besteht somit darin, die Unzulänglichkeit des Dogmatismus aufzuzeigen, um die Ausbildung der Wissenschaftslehre zu befördern.
2) Fichtes Auseinandersetzung mit dem kritischen Skeptizismus Schulzes Von entscheidendem Einfluss auf die Entwicklung von Fichtes Systemkonzeption ist Gottlob Ernst Schulzes wohl wichtigste Schrift mit dem etwas umständlichen Titel Aenesidemus, oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold in Jena gelieferten ElementarPhilosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik (1792). Fichte studiert diese im Herbst 1793 und berichtet wenig später in einem Brief vom Dezember 1793 an Heinrich Stephani von der Entdeckung eines neuen Fundaments der Wissenschaft.32 Im Februar 1794 erscheint dann in der Allgemei 32 Vgl. Fichte an Heinrich Stephani, Brief vom Dezember 1793, GA III, 2, 28. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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nen Literatur-Zeitung Fichtes Rezension des Aenesidemus.33 Fichte legt daraufhin im Mai 1794 seine eigene Systemkonzeption in der Programmschrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie vor und liefert kurz darauf deren konkrete Ausführung in der ersten Fassung der Wissenschaftslehre, der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Im Folgenden will ich zeigen, wie sich Fichtes eigene Systemkonzeption in Auseinandersetzung mit Schulze herausbildet, wobei ich die Frage, ob Fichtes bzw. Schulzes Argumente gegen Reinhold berechtigt sind, hierbei ausklammern möchte.34 Im Zentrum steht die Frage, wie das Grundprinzip des Systems verfasst sein muss, um den skeptischen Einwänden Schulzes Genüge zu leisten. Da es hierbei um die inhaltliche Bestimmung des Grundprinzips geht, ist die Funktion von Schulzes Skeptizismus nicht bloß formaler, sondern vor allem inhaltlicher Natur.35 Die Aenesidemus-Rezension gliedert sich in drei Teile: Während im ersten Teil Schulzes Kritik an Reinholds Grundsatzkonzeption behandelt wird, thematisiert der zweite Teil Schulzes Kritik an Reinholds Konzeption des Vorstellungsvermögens, der dritte Teil befasst sich mit der Problematik des Dinges an sich. Fichte kennzeichnet Schulze dabei nur im ersten Teil als einen kritischen Skeptiker, die im zweiten und dritten Teil thematisierte Kritik Schulzes betrachtet Fichte hingegen als einen „anmaaßenden Dogmatismus“ (AR, GA I,2, 49), da Schulze sich hier nicht mehr an die eigenen Grundsätze wie z. B. die Anerkennung der Gesetze der allgemeinen Logik halte. Handelt es sich beim dogmatischen Skeptizismus um einen universellen (globalen) Skeptizismus, insofern dieser die Möglichkeit von Wissen überhaupt bestreitet, ist der kritische Skeptizismus demgegenüber als ein partieller (lokaler) Skeptizismus zu charakterisieren, da hier nur bestimmte Prämissen in Zweifel gezogen, andere hingegen in ihrem Geltungsanspruch anerkannt werden. Die 33 Fichtes Rezension des Aenesidemus erschien in den Nrn. 47, 48 und 49 der Allgemeinen Literatur-Zeitung am 11./12. Februar 1794. 34 Hierzu Bondeli, Martin, „Zu Fichtes Kritik an Reinholds ‚empirischem‘ Satz des Bewusstseins und ihrer Vorgeschichte“, in: Fichte-Studien 9 (1997), S. 199-211. 35 In der Grundlage betont Fichte demgegenüber die Funktion des kritischen Skeptizismus für die Form des Systems: „Durch ihn [den kritischen Skeptizismus, S.D.] gewinnt die Wissenschaft allemal, wenn auch nicht immer an Gehalte, doch sicher in der Form – und man kennt die Vortheile der Wissenschaft schlecht, wenn man dem scharfsinnigen Sceptiker die gebührende Achtung versagt.“ (GWL, GA I,2, 280, Anm.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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im ersten Teil behandelte Kritik Schulzes stellt eine immanente Kritik an Reinhold dar, insofern Schulze mit Reinhold zwei wesentliche Prämissen teilt: Zum Ersten, dass Philosophie als Wissenschaft nur durch Begründung in einem Grundsatz möglich sei. Zum Zweiten, dass der Inhalt des Grundsatzes durch den Begriff der Vorstellung als höchsten Begriff bestimmt sei. Fichte folgt nun der ersten Prämisse, weist die zweite jedoch vehement zurück. In der in den beiden folgenden Teilen präsentierten Kritik greift Schulze demgegenüber auf die Argumente des pyrrhonischen Skeptikers Ainesidemos zurück, genauer auf den zweiten und siebenten Tropus der acht Tropen als einer Kritik an der Ursachenlehre. Fichte stellt im ersten Teil der Rezension zunächst drei zentrale Argumente Schulzes von aufsteigender Relevanz gegen Reinholds Satz des Bewusstseins – „Im Bewusstseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beyde bezogen“36 – heraus: a) Der Satz des Bewusstseins sei nicht höchster Satz, da er dem logischen Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch subordiniert sei. b) Der Satz des Bewusstseins sei kein durch sich selbst bestimmter Satz, wie es ein absolut erster Satz sein müsse, da die Termini Unterscheiden und Beziehen mehrdeutig seien. c) Der Satz des Bewusstseins sei nicht allgemeingültig, da es zum einen Äußerungen des Bewusstseins gebe, in denen nicht die drei zentralen Elemente des Satzes des Bewusstseins vorkämen und da der Satz zum anderen auch kein erfahrungsunabhängiges Faktum ausdrücke. Fichte hält mit Reinhold den ersten Einwand Schulzes für unzutreffend, da der Satz des Widerspruchs als bloß formallogischer Satz keine reale Gültigkeit und damit auch nicht den Status eines Grundsatzes habe. Fichte weist hierbei auf einen notwendigen Zirkel hin: Man könne nicht anders denken als nach den Gesetzen des Denkens, d. h., die logischen Sätze sind in jedem Denkakt präsent und bilden gleichsam dessen Horizont. In Bezug auf Schulzes zweiten Kritikpunkt folgt Fichte diesem. Für Fichte verweist dabei die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit der Termini Unterscheiden und Beziehen auf einen höheren Grundsatz, und das heißt hier auf eine 36 Reinhold, Karl Leonhard, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen. Erster Band das Fundament der Elementarphilosophie betreffend, Jena, 1790, S. 167. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Selbstbewusstsein als antiskeptizistische Strategie
reale Gültigkeit des Satzes der Identität und des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch. Dieses Programm realisiert Fichte dann in der Grundlage: Hier gewinnt Fichte durch das Verfahren einer transzendentalen Reduktion, die er als „abstrahierende Reflexion“ bezeichnet, den ersten und zweiten Grundsatz im Ausgang von den logischen Grundgesetzen der Identität und des ausgeschlossenen Widerspruchs. Die Termini Beziehen und Unterscheiden spielen nun bei Fichte erst im aus dem dritten Grundsatz der Grundlage abgeleiteten Satz vom Grund eine Rolle, wobei der dritte Grundsatz die Synthesis von erstem und zweitem Grundsatz leistet. Insofern die logischen Gesetze aus den Grundhandlungen des Ichs mittels des Verfahrens einer doppelten Abstraktion gewonnen werden, spricht Ficht hierbei von einem unvermeidlichen Zirkel. Die logischen Gesetze bilden so als Derivate ursprünglicher Ich-Handlungen bloß deren logische Form. Deshalb kann der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch für Fichte auch nicht die Voraussetzung des absolutersten Grundsatzes darstellen, da dieser ja erst die logische Struktur der ursprünglichen Handlung des Entgegensetzens des zweiten Grundsatzes bildet. In Bezug auf den dritten von Schulze gegen Reinhold geltend gemachten Punkt attestiert Fichte der Kritik Schulzes eine nur eingeschränkte Gültigkeit: Während der Satz des Bewusstseins Reinhold zufolge ein analytischer Satz und damit vollständig aus sich selbst explizierbar ist, handelt es sich für Schulze um einen synthetischen Satz, bei welchem das Prädikat, d. h. das Vorstellen, zum Bewusstsein als Subjekt bloß äußerlich hinzutrete, weshalb hierbei auf Erfahrung rekurriert werden müsse. Fichte unterscheidet nun Form und Gehalt des Satzes des Bewusstseins, was zu einer differenzierteren Kritik an Reinhold führt: In formaler Hinsicht sei der Satz des Bewusstseins als Reflexionssatz, d. h. seiner logischen Gültigkeit nach, ein analytischer Satz, da es kein Bewusstsein ohne die drei hier angeführten Elemente, d. h. Subjekt, Objekt und Vorstellung, gebe. Der Inhalt des Satzes des Bewusstseins, d. h. die Handlung des Vorstellens, sei aber eine Synthesis, da im Vorstellen unterschieden und bezogen werde. Insofern der Satz des Bewusstseins in inhaltlicher Hinsicht synthetisch verfasst ist, verweist er für Fichte auf eine zugrundeliegende Thesis und Antithesis. Während für Reinhold der Satz des Bewusstseins nicht aus einer Abstraktion vom vorgestellten Objekt resultiert, da die Vorstellung ursprünglich ist, handelt es sich für Schulze um einen abstrakten Satz, denn die Vorstellung stelle eine Abstraktion von Begriff und Anschauung Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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dar. Für Schulze hat der Satz des Bewusstseins so nur empirische Gültigkeit, damit könne es sich dann aber nicht um einen obersten, allgemeinen Grundsatz der Philosophie handeln. Fichte stellt sich hier nun auf die Seite Schulzes, wobei er folgende Überlegung anstellt: Erstens ist alles, was im Bewusstsein vorkommt, als Vorstellen bestimmt. Vorstellen stellt zweitens eine empirische Bestimmung des Bewusstseins dar. Drittens ist alles Vorstellen mit reinen Bedingungen nur durch Vorstellen, also empirisch, gegeben. Fichte schlussfolgert so: Alle Reflexion über das Bewusstsein hat empirische Vorstellungen zum Objekt. Insofern es also im Satz des Bewusstseins um eine Art Meta-Vorstellung, eine Vorstellung der Vorstellung geht, die nach Reinhold als rein zu charakterisieren ist, ist diese qua Abstraktion abhängig von einem empirischen Akt und damit dann doch nicht rein. Die von Reinhold behauptete Reinheit der Vorstellung ist für Fichte also bloßes Konstrukt und resultiert aus einer falschen Ausgangsposition Reinholds, nämlich der Annahme, der Satz des Bewusstseins müsse eine Tatsache darstellen. Hier ist nun das schlagende Argument Fichtes gegen Reinhold benannt: Die Vorstellung sei als Tatsache ein Bedingtes, d. h. ein im empirischen Bewusstsein unmittelbar Gegebenes, ein Faktum. Fichte weist hierbei allerdings Schulzes Kritik zurück, der Satz des Bewusstseins habe nur empirische Gültigkeit. Er integriert somit Schulzes Kritik in seine eigene Argumentation gegen Reinhold, betrachtet diese aber als zu radikal. Für Fichte handelt es sich beim Satz des Bewusstseins zwar um keinen Grundsatz, jedoch um einen Lehrsatz, der in seiner Gültigkeit von einem ihn begründenden Grundsatz abhängig ist. Obgleich der Satz des Bewusstseins nur eine Tatsache expliziere, ist dieser für Fichte kein Erfahrungssatz. Der Aufnahme der Kritik Schulzes liegt bei Fichte offensichtlich ein verändertes Verständnis von „empirisch“ zugrunde. „Empirisch“ ist demnach für Fichte nicht das, was durch Erfahrung extern gegeben ist, sondern was qua Tatsache im Bewusstsein als unableitbares Gegebenes vorliegt, wobei für Fichte damit auch logische Sätze den Status empirischer Tatsachen haben. Fichte führt nun die Vorstellung als Tatsache auf eine ursprüngliche Tathandlung zurück.37 (Vgl. AR, GA I,2, 46) Reinholds Satz des Bewusst 37 Bereits in der Creuzer-Rezension (Nr. 303 der Allgemeinen Literatur-Zeitung, 30. October 1793, in: GA I,2, 7-14) kritisiert Fichte, dass Reinhold den freien Willen als eine Tatsache des Bewusstseins und damit als eine Naturursache auffasse. Demgegenüber betont Fichte dem „wahre[n] Geist der kritischen Philosophie“ Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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seins fungiert in Fichtes Grundlage folglich lediglich als aus dem grundsätzlichen Teil abgeleiteter Lehrsatz des theoretischen Teils. In einem Brief an Reinhold vom 28. April 1795 bringt Fichte noch einen weiteren entscheidenden Einwand gegen Reinholds Grundsatzkonzeption vor. Hier heißt es, Reinholds Prinzip der Vorstellung sei ein bloß theoretisches Prinzip, der Einheitsgrund der Philosophie müsse aber als „Princip der Subjektivität überhaupt“38 Theorie und Praxis zusammenführen. Damit in Zusammenhang steht der Vorwurf, dass der bloß einseitig theoretische Anfang mit der Vorstellung ein externes Ding an sich impliziere und somit kein immanentes System auf diesen zu gründen sei. Während für Reinhold das Selbstbewusstsein gerade kein Auge sein könne, das sich sieht, da dieses keine absolute Identität darstellt,39 charakterisiert Fichte das Selbstbewusstsein in der Wissenschaftslehre nova methodo – wohl in kritischer Absicht gegen Reinhold – als sich selbst sehendes Auge. (Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 48) Fichte sieht so den Grundirrtum aller bisherigen philosophischen Systeme im Ausgang von einem defizitären Grundprinzip, welches bloß ein passiver Spiegel und damit kein Prinzip der Selbstbestimmung oder Freiheit sei. Ist Schulze für Fichte zur Hälfte kritischer, zur Hälfte dogmatischer Skeptiker, so kritisiert er an Reinhold, insofern dessen bloß theoretisches Grundprinzip in einen infiniten (CR, GA I,2, 10) entsprechend, dass „auf das Bestimmen der absoluten Selbst thätigkeit durch sich selbst“ (CR, GA I,2, 10) nicht der Satz des Grundes angewendet werden dürfe, „denn das ist Eine, und eine Einfache, und eine völlig isolirte Handlung; das Bestimmen selbst ist zugleich das Bestimmtwerden, und das Bestimmende das Bestimmtwerdende.“ (CR, GA I,2, 10-11) Fichte zufolge kann die freie Selbsttätigkeit als Intelligibles nicht Erscheinung sein und so auch keinen Realgrund in einer vorhergehenden Erscheinung haben, da sie dann in die Reihe der Naturursachen fallen würde. In der Aenesidemus-Rezension charakterisiert Fichte die absolute Selbsttätigkeit dann als Tathandlung und stellt diese dem Begriff der Tatsache gegenüber. Die Rezension von Leonhard Creuzers Skeptische[n] Betrachtungen über die Freyheit des Willens (Gießen 1793) ist Fichtes erste Rezension eines philosophischen Buches. Gegen Creuzers Kritik der Theorien der Freiheit bringt Fichte vor, dass es sich hierbei um einen nur „uneigentlich sogenannte[n] Skepticismus“ (CR, GA I,2, 7) handle, insofern Creuzer das Sittengesetz als eine Tatsache des Bewusstseins verstehe. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Creuzer bei Fichte und Hegel Vieweg, Klaus, Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das „Gespenst des Skeptizismus“, München, 1999, S. 63-68. 38 Fichte an Reinhold, Brief vom 28. April 1795, GA III,2, 314-315. 39 Vgl. Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen. Erster Band, S. 197. Zu Reinholds Selbstbewusstseinsmodell vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, S. 144-153. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Fichtes Auseinandersetzung mit dem kritischen S keptizismus 49
Regress führe, einen halben Kritizismus, der in Dogmatismus umschlägt. Im Mittelpunkt von Schulzes Kritik am Vorstellungsvermögen und Ding an sich steht das Problem eines transzendenten Gebrauchs der Kausalitätskategorie, da diese nur auf die Sphäre der Erscheinung restringiert sei. Insofern für Reinhold der Begriff des Vorstellungsvermögens nur aus der Vorstellung als seiner Wirkung ableitbar ist, ist dieses für Schulze eine nicht ausweisbare Voraussetzung und als solche Ding an sich. Fichte weist diesen eigentlich berechtigten Kritikpunkt Schulzes zurück und verweist hierbei auf einen notwendigen Zirkel, welcher aus der unüberschreitbaren Immanenz des Bewusstseins resultiere und gerade Ausdruck der Grundverfassung von Subjektivität sei. Von Schulzes Kritik an Reinhold geht Fichte zu dessen Kritik an Kant über: Schulze wirft die von Kant offen gelassene Frage nach dem Status des Gemüts auf, d. h., ob dieses als Ding an sich, Noumenon oder transzendentale Idee zu verstehen sei. Um Schulzes Kritik zu entkräften, betont Fichte zum Ersten die Identität von Realgrund und logischem Grund, womit das Programm einer materialen und nicht bloß formalen Deduktion einhergeht, und zum Zweiten führt Fichte das Vermögen der intellektuellen Anschauung ein, um eine Leerstelle in der Philosophie Kants zu schließen. Fichte geht es hierbei darum, die basale Struktur von Subjektivität als selbstreflexive, d. h. sich ihrer selbst bewusste, Begründungsstruktur auszuweisen und damit als Einheit von Grund und Gehalt: In so fern das Gemüth der letzte Grund gewisser Denkformen überhaupt ist, ist es Noumenon; in so fern diese als unbedingt nothwendige Gesetze betrachtet werden, ist es transscendentale Idee; die aber von allen andern dadurch sich unterscheidet, daß wir sie durch intellectuelle Anschauung, durch das Ich bin, und zwar: ich bin schlechthin weil ich bin, realisiren. Alle Ansprüche Aenesidems gegen dieses Verfahren gründen sich bloß darauf, daß er die absolute Existenz, und Autonomie des Ich – wir wissen nicht wie, und für wen – an sich gültig machen will; da sie doch nur für das Ich selbst gelten soll. Das Ich ist, was es ist, und weil es ist, für das Ich. Ueber diesen Satz hinaus kann unsre Erkenntniß nicht gehen. (AR, GA I,2, 57)
In Bezug auf die Problematik des Dinges an sich moniert Fichte, Kant und Reinhold hätten sich gegen dieses nicht entschieden genug erklärt. Während bei Kant der Gedanke eines Dinges an sich für ein anderes, d. h. nicht-menschliches, Denkvermögen aber bloß denkbar sei, deute Schulze dieses als ein gänzlich von der Intelligenz Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Selbstbewusstsein als antiskeptizistische Strategie
unabhängiges Ding, ein für Fichte paradoxer Gedanke, den noch nie ein Mensch gedacht habe. (Vgl. AR, GA I,2, 61) Indem Schulze Kant und Reinhold einen transzendenten Gebrauch der Kausalitätskategorie vorwerfe, so Fichtes Gegeneinwand, operiere er verdeckt mit einer dogmatischen Auffassung vom Ding an sich, nämlich der Annahme, es handle sich hierbei um eine reale, bewusstseinsunabhängige Entität. Fichte verweist in diesem Zusammenhang wieder auf einen Zirkel. So heißt es in der Grundlage: „Dies, daß der endliche Geist nothwendig etwas absolutes außer sich setzen muß (ein Ding an sich) und dennoch von der andern Seite anerkennen muß, daß dasselbe nur für ihn da sey (ein nothwendiges Noumen sey) ist derjenige Zirkel, den er in das Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann.“ (GWL, GA I,2, 412) Schulzes Kritik an Kant und Reinhold sei hier insofern nicht angebracht, als diese eine Kritik an einer fiktiven Position sei. Fichtes Kritik richtet sich also sowohl gegen Reinhold als auch gegen Schulze: Fichte kritisiert dabei Schulzes Kritik zum einen als ungerechtfertigt, wobei er Zirkularität als ein notwendiges Moment der kritischen Philosophie betrachtet. Zum anderen wendet er in einer Umdeutung der Kritik Schulzes ein, die von Reinhold als Fundament angesetzte Tatsache des Bewusstseins sei empirisch und könne, insofern sie nicht die Einheit von Form und Gehalt, von Theorie und Praxis darstelle, nicht als unbedingtes, sich selbst begründendes Prinzip fungieren. Fichte zufolge hat Schulzes Kritik hierbei nur eine eingeschränkte Geltung: Sie trifft nicht den Inhalt des Satzes des Bewusstseins, d. h. dessen Wahrheit, sondern lediglich dessen Form, d. h. dessen funktionale Stellung als Grundsatz des Systems. Fichte folgert aus der Kritik Schulzes die Notwendigkeit der Neubegründung der Wissenschaft. Für Fichte ist Schulzes Skeptizismus zwar so zum einen zu radikal, da Schulze die Gültigkeit des Satzes des Bewusstseins in Frage stelle, zum anderen aber auch nicht radikal genug, insofern Schulze mit Reinhold die Auffassung teile, die Vorstellung sei ein geeigneter Kandidat für den absolut-ersten Grundsatz. Schulze fungiert für Fichte somit als ein wichtiger Anreger der eigenen Kritik, da dieser, so Fichte, „Reinhold bei mir gestürzt, Kant mir verdächtig gemacht, und mein ganzes System von Grund aus umgestürzt“40 habe. Fichte greift hierbei die zirkulären Momente in Reinholds Konzeption der Elementarphilosophie auf 40 Fichte an Heinrich Stephani, Brief vom Dezember 1793, GA III,2, 28. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Systematischer Skeptizismus, System und Selbstbewusstsein 51
und macht diese für seine antiskeptizistische Strategie, d. h. sowohl in Bezug auf die Struktur des Grundprinzips als auch des Systemmodells im Ganzen, fruchtbar.41
3) Systematischer Skeptizismus, System und Selbstbewusstsein Insofern es sich bei Dogmatismus und systematischem Skeptizismus für Fichte lediglich um zwei Seiten derselben Medaille handelt, kann sein Systemmodell sowohl als Kritik am Dogmatismus als auch am Skeptizismus verstanden werden. Sowohl Dogmatismus als auch Skeptizismus stellen eine unhaltbare Position dar: So schlägt der Dogmatismus als defizitäres System in sein Gegenteil um, der Skeptizismus hingegen, der gerade kein System ist, wird widerlegt durch den Realitätsglauben, der die Einheit des Denkens und damit ein System fordert. Hierdurch ist aber noch nicht gezeigt, dass wirklich ein System existiert, obgleich dieses die einzig mögliche Alternative zu Dogmatismus und Skeptizismus darstellt. So muss das System seine Möglichkeit für Fichte erst durch seine Wirklichkeit erweisen.42 Ziel der Wissenschaftslehre ist die Vereinigung von Dogmatismus und Skeptizismus. Die Wissenschaftslehre nimmt hierbei eine Zwischenstellung zwischen Dogmatismus und Skeptizismus ein: Wie der Dogmatismus leistet die Wissenschaftslehre die Begründung des Systems in einem Prinzip, wobei sie im Gegensatz zum
41 Vgl. zu den Elementen eines zirkulären Ableitungsmodells bei Reinhold Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, S. 132-153. Wie Fichte in der Begriffsschrift unterscheide Reinhold innere und äußere Bedingungen des Grundsatzes: So begründe sich der Grundsatz zum Ersten rein als solcher. Zum Zweiten erfolge Begründung mittels des Zurückschließens von den abgeleiteten Sätzen auf den Grundsatz. Das letztere sei dabei bei Reinhold nur eine zusätzliche Begründung, da die erste Begründungsform ausreichend sei und habe damit keine echte Begründungsfunktion, sondern lediglich eine Explikationsfunktion. (Vgl. ebd., S. 135.) Zu Reinholds Einfluss auf die Aspekte der Zirkularität bei Fichte vgl. ebd., S. 245-256. 42 „Es läßt sich demnach über die Gründlichkeit oder Grundlosigkeit unsers Wissens vor der Untersuchung vorher nichts sagen; und die Möglichkeit der geforderten Wissenschaft läßt sich nur durch ihre Wirklichkeit darthun.“ (BWL, GA I,2, 117) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Selbstbewusstsein als antiskeptizistische Strategie
Dogmatismus aber kritisch verfährt, insofern die Grenzen der Vernunft nicht auf ein Ding an sich hin überschritten werden.43 Ich werde nun im Folgenden ganz kurz die zentralen Merkmale von Fichtes Systemkonzeption noch einmal anführen, um zum einen aufzuzeigen, inwiefern diese jeweils als antiskeptizistische und antidogmatische Strategie verstanden werden können. Zum anderen soll hierbei ein Bezug auf Selbstbewusstsein als Grundprinzip der Wissenschaftslehre hergestellt werden, indem zu fragen ist, welche Funktion dieses im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Skeptizismus und Dogmatismus erfüllt. In der Begriffsschrift nennt Fichte drei Kriterien für ein System: Zum Ersten muss ein System eine systematische Form aufweisen, wobei das Kriterium der systematischen Form ein Argument gegen das Problem der dogmatischen Voraussetzung darstellt: Jeder Satz des Systems muss in einem notwendigen Zusammenhang mit den anderen Sätzen des Systems stehen, sodass das System einen organischen, kohärenten Begründungskomplex bildet. Als zweites Kriterium führt Fichte das der Begründung an, wobei diese nur durch einen unmittelbar gewissen Grundsatz zu leisten sei. Hierdurch soll nun sowohl das Problem des infiniten Begründungsregresses als auch das der dogmatischen Voraussetzung gelöst werden. Aufgrund seiner Unbegründbarkeit ist der Grundsatz Voraussetzung, allerdings keine willkürliche, dogmatische, sondern eine hypothetische Voraussetzung, deren Richtigkeit sich erst mit der Ableitung des Systems zeigt, nämlich dann, wenn sich der Grundsatz zugleich als Resultat des Systems herausstellt. Als drittes Kriterium nennt Fichte das Merkmal der Vollständigkeit. Das System sei so zum Ersten vollendet, wenn kein weiterer Satz mehr gefolgert werden könne und zum Zweiten, wenn der Grundsatz zugleich Anfangs- und Endpunkt, Grund und Resultat des Systems sei. So wendet Fichte das 43 Zur Doppelfunktion des Skeptizismus für die Wissenschaftslehre vgl. Breazeale, Daniel, „Über die Unhaltbarkeit und Unentbehrlichkeit des Skeptizismus“, in: Fichte-Studien 5 (1993), S. 7-19. Der Skeptizismus sei so unentbehrlich für die Wissenschaftslehre, da er die alltägliche spekulative Unschuld zerstöre und damit das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Philosophie erzeuge. Unhaltbar sei der Skeptizismus, da er zum Ersten eine Spaltung zwischen Idealität und Realität bewirke, zum Zweiten praktisch belanglos sei und zum Dritten die ataraxia als passiver Zweck in Widerspruch zum aktiven Charakter des Lebens stehe. Es könne hierbei allerdings nur eine indirekte Widerlegung des Skeptizismus durch die Haltbarkeit der Wissenschaftslehre geleistet werden. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Systematischer Skeptizismus, System und Selbstbewusstsein 53
Problem der Begründungszirkularität ins Positive, indem er das System selbst als zirkuläre und damit in sich geschlossene Begründungsstruktur konzipiert. Während Fichte Regress und unbegründete Voraussetzung als Merkmale defizitärer Begründungsstrukturen, wie sie in dogmatischen Systemen auftreten, versteht, vertritt er in Bezug auf das Problem der Zirkularität eine hiervon abweichende Auffassung: So behauptet Fichte eine notwendige Form von Zirkularität, z. B. in Bezug auf das Verhältnis von Logik und Wissenschaftslehre oder die Voraussetzung eines absolut-ersten Grundsatzes, der seine Richtigkeit erst mit dem Durchgang durch das System beweist. Zirkularität ist darüber hinaus bei Fichte als Selbstreflexivität zu verstehen.44 Fichte konzipiert das Grundprinzip der Wissenschaftslehre so als selbstreflexiven Grund, als Selbstbewusstsein. Selbstreflexivität erfüllt hierbei eine systematische Funktion: Das absolute Ich als voraussetzungsloser, unbestimmter Anfang generiert durch einen Akt der Selbstbegründung aus sich selbst die Bestimmungsstruktur des Systems der Wissenschaftslehre.45
44 Zu den verschiedenen Typen von Zirkularität bei Fichte vgl. Breazeale, Daniel, „Circels and Grounds in the Jena Wissenschaftslehre“, in: Fichte: Historical Contexts, Contemporary Controversies, hg. v. Daniel Breazeale, Tom Rockmore, New Jersey, 1994, S. 43-70. 45 Zum Zusammenhang von absolutem Ich und Skeptizismus vgl. auch Schmidt, Andreas, „Johann Gottlieb Fichte – das absolute Ich“, in: Klassiker der Philosophie heute, hg. v. Ansgar Beckermann, Dominik Perler, Stuttgart, 2004, S. 399418. Schmidt zufolge entwickelt Fichte mit seiner Konzeption des absoluten Ichs ein transzendentales antiskeptisches Argument: Das Urteilen im Satz der Identität „A = A“ fungiere hierbei zum Ersten als unhintergehbarer Ausgangspunkt, da der Skeptiker im Bezweifeln des Urteilens selbst urteile, dass es zweifelhaft ist, ob er urteilt. (Vgl. ebd., S. 404.) Zum Zweiten stelle Fichte eine normative absolut gerechtfertigte Aussage als Zielpunkt seines Arguments auf, nämlich dass die Vernunft autonom sein soll. (Vgl. ebd., S. 405.) Die Wahrheit dieser Aussage sei hierbei subjektiv, da sie eine von uns gesetzte Wertung darstelle, und objektiv, da sie absolute Autorität aufweise. Die Anerkennung der Vernunft gehe hierbei mit deren Selbstrealisierung einher. Als Brückenprinzip zwischen Ausgangs- und Zielpunkt fungiere die intellektuelle Anschauung. Fichte gehe es nun aber auch darum, zu zeigen, dass wir tatsächlich autonome Vernunftwesen sind. Die intellektuelle Anschauung des Willens als vorreflexives Bewusstsein garantiere so die rationale Unhintergehbarkeit des Werts der Vernunft, die Zustimmung zur Autonomie der Vernunft finde für Fichte bereits vor der philosophischen Reflexion statt. (Vgl. ebd., S. 414-416.) Vgl. zur intellektuellen Anschauung des Sittengesetzes auch Kapitel IV.2.5. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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III. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95)
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§ 1: Das absolute Ich als Selbstbewusstsein
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1) § 1: Das absolute Ich als Selbstbewusstsein Als alle Begründung leistenden Einheitspunkt und Grundprinzip der Wissenschaftslehre setzt Fichte das absolute Ich ein, welches seinen Ausdruck im Grundsatz „Ich bin Ich“46 findet. Die Rede von einem absoluten Ich hat dabei von Anfang an Missverständnisse provoziert: So wird Fichtes Position mit einem subjektiven Spinozismus identifiziert, insofern das absolute Ich als Gott verstanden wird. Schiller schreibt im Oktober 1794 an Goethe: „Nach den mündlichen Aeußerungen Fichte’s […] ist das Ich auch durch seine Vorstellungen erschaffend, und alle Realität ist nur in dem Ich. Die Welt ist ihm nur ein Ball, den das Ich geworfen hat, und den es bey der Reflexion wieder fängt!!“47 Was meint nun aber Fichtes irritierende Rede vom „absoluten Ich“, d. h., warum soll das Ich als Grundprinzip der Philosophie fungieren und wieso soll dieses Ich darüber hinaus auch noch ein „absolutes“ sein? Bis heute wird Fichtes Wissenschaftslehre von manchen Philosophen als radikaler Konstruktivismus gelesen, der keine vom Ich unabhängige Realität zulasse und damit in einem Solipsismus resultiert, welchem zufolge die objektive Welt und sogar das andere Ich nur Projektionen des einsamen, in sich selbst kreisenden Ichs sind. So schreibt bereits der Jenaer Philosoph und Theologe Friedrich Immanuel Niethammer, gemeinsam mit Fichte Herausgeber des Philosophischen Journals: „Anstatt des Egoismus schmachvollen Andenkens ist neuerlich […] ein Ichismus aufgetreten, der noch konsequenter als sein verstorbner Vorfahr aber auch noch grundloser und noch abgeschmackter scheint.“48 In einem ersten Schritt soll nun der historisch-systematische Kontext dargestellt werden, aus welchem Fichtes Konzeption eines absoluten Ichs hervorgeht. In einem zweiten Schritt gilt es dann die wesentlichen Momente der Konzeption des absoluten Ichs in § 1 der Grundlage herauszuarbeiten. In einem dritten Schritt ist schließlich auf eine Grundspannung in der Ich-Konzeption des § 1 aufmerksam 46 Die Formulierung des ersten Grundsatzes ist dabei in der Fichte-Forschung umstritten. (Vgl. hierzu Mittmann, Jörg-Peter, Das Prinzip der Selbstgewissheit. Fichte und die Entwicklung der nachkantischen Grundsatzphilosophie, Bodenheim, 1993, S. 81-82.) 47 Schiller an Goethe, Jena, 28. Oktober 1794, in: J.G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, hg. v. Erich Fuchs in Zusammenarbeit mit Reinhard Lauth und Walter Schieche, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1978-2012, Band I: 1762-1798 (1978), S. 160-161. 48 Ebd., Band VI,1 (Nachträge zu den Bänden 1-5): 1771-1799, (1992), S. 72. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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zu machen, nämlich zwischen dessen Unbestimmtheit und der Charakterisierung als Selbstbewusstsein. 1) Die Genese der Konzeption des absoluten Ichs: Die Grundlage als erste systematische Darstellung der Wissenschaftslehre49 setzt mit der Zielstellung ein, 49 In der Forschung ist es umstritten, ob die Grundlage als erste Gestalt des Systems der Wissenschaftslehre oder eben bloß als dessen Grundlage im Sinne einer Kritik betrachtet werden muss. Als Argumente für eine Auffassung der Grundlage als Kritik werden hier dann z. B. das Fehlen einer Intersubjektivitätstheorie (Düsing, Edith, Intersubjektivität und Selbstbewusstsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln, 1986, S. 261) und der intellektuellen Anschauung (Hohler, Thomas, „Intellectual Intuition and the Beginning of Fichte’s Philosophy: A New Interpretation“, in: Tijdschrift voor Filosofie, 37. Jahrgang, Nr. 1 März, S. 52-73; Philonenko, Alexis, „Die intellektuelle Anschauung bei Fichte“, in: Der transzendentale Gedanke: Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hg. v. Klaus Hammacher, Hamburg, 1981, S. 91-106) in der Grundlage angeführt. So vertreten z. B. Class/Soller in ihrem Kommentar zur Grundlage die Position, die Grundlage sei nur als Kritik und nicht als System zu verstehen. (Vgl. Class, Wolfgang, Soller, Alois K., Kommentar zu Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Amsterdam/New York, 2004, S. 3-5.) Fichte selbst bezeichnet die Grundlage in deren Vorrede aber als „System“ (GWL, GA, I,2, 252). In der Vorrede zur zweiten Auflage der Begriffsschrift von 1798 unterscheidet Fichte nun aber Kritik und Wissenschaft. Während die Kritik die Funktion erfüllt, das philosophische Denken zu kritisieren und damit als rein gekennzeichnet werden kann, kritisiert die Metaphysik demgegenüber das natürliche Denken (BWL, GA I,2, 159-160). Man könnte hierbei zwei Theorieebenen unterscheiden: Die Kritik stellt eine Metatheorie dar, insofern sie sich auf die Metaphysik qua Theorie bezieht, d. h., es handelt sich um eine Theorie, die Methode, Zielstellung usw. der Metaphysik untersucht. Fichte bezeichnet hier nur den praktischen Teil der Grundlage als Metaphysik, da hier das Problem empirischer Realität im Zentrum steht. Während Kant die Transzendentalphilosophie im Sinne einer Kritik als Vorbereitung des Systems, also der Metaphysik konzipiert, identifiziert Fichte demgegenüber System und Transzendentalphilosophie. Am Ende der WL nova methodo gibt Fichte eine „Deduction der Eintheilung der WißenschaftsLehre“. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 520-523; WLnmH, GA IV,2, 262-266) Diese lässt vermuten, dass Fichte die Grundlage als erste Wissenschaftslehre betrachtet. So unterscheidet Fichte hier allgemeine und besondere Wissenschaftslehre. Die allgemeine Wissenschaft qua „Grundlage“ gibt eine Erörterung der Hauptbegriffe, die besondere Wissenschaft bestimmt diese Hauptbegriffe durch Analyse dann vollständig. Als besondere Wissenschaften nennt Fichte hierbei theoretische Philosophie (Naturphilosophie), praktische Philosophie (Sittenlehre/Ethik) und Rechts- und Religionsphilosophie, welche die Mitte zwischen theoretischer und praktischer Philosophie darstellen. Als vierte Philosophie führt Fichte hierbei die Ästhetik an, wobei er diese allerdings niemals ausgearbeitet hat. Diese soll eine Vermittlung von transzendentalem und gemeinem Standpunkt leisten. Dass Fichte hier von Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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den absolut ersten, schlechthin unbedingten Grundsaz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen, oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absolut erster Grundsaz seyn soll. Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unsers Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewustseyn zum Grunde liegt, und allein es möglich macht. (GWL, GA I,2, 255)
Hierin kommen drei zentrale Aspekte zum Ausdruck: a) Die Konzeption von Philosophie als Grundsatzphilosophie: In der Einladungsschrift Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, die der zu Fichtes Vorlesungen bogenweise erschienenen Grundlage50 vorausgeht, entwirft Fichte das Programm der Grundsatzphilosophie, welchem zufolge Philosophie als Wissenschaft nur durch den Ausgang von einem unmittelbar gewissen Satz, dem Grund-Satz zu etablieren sei. Nur durch den Ausgang von einem unbegründeten Grundsatz, der als solcher weder beweisbar noch bestimmbar sei, könne ein Begründungsregress vermieden werden. (Vgl. BWL, GA I,2, 124; ZwE, GA I,4, 260)51 Nicht beweisbar ist der Grundsatz, insofern er als erster Satz nicht aus Prämissen abgeleitet werden kann. Er ist nicht bestimmbar, da er sowohl der Form als auch dem Gehalt nach unbedingt ist. (Vgl. BWL, GA I,2, 122) Dass der erste Grundsatz aufgesucht werden soll, kennzeichnet ihn zum einen als ein Vorliegendes, das nicht nur eine Konstruktion des Philosophen darstellt, weshalb der Grundsatz als notwendiger Satz die „Grundlage“ in Bezug auf die allgemeine Wissenschaftslehre im Gegensatz zur besonderen Wissenschaftslehre spricht, ließe für die Grundlage folgende Deutung zu: Diese wäre Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, insofern Fichte von Anfang an auch eine besondere Wissenschaftslehre konzipiert, welche die konkrete Ausführung der allgemeinen Wissenschaftslehre qua abstrakter Strukturwissenschaft darstellt. So hat Fichte wohl nicht von Anfang an die immer neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre geplant. 50 Erschienen unter dem Titel Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer vom 14. Juni 1794 bis Ende Juli/Anfang August 1795. Vom Verlag (Christian Ernst Gabler, Leipzig) wurde die Grundlage in zwei Lieferungen ausgegeben (Michaelismesse 1794/Ende Juli/Anfang August 1795), wobei die „Vorrede“ erst zusammen mit der „Grundlage der Wissenschaft des Praktischen“ 1795 erschien. 1802 erscheinen dann noch eine zweite und eine dritte Auflage der Grundlage, da diese seit 1799 vergriffen ist. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Grundlage das Vorwort von Reinhard Lauth: GA I,2, 175-247. 51 Im Ausgang von einer unmittelbaren Gewissheit wird dabei der Einfluss von Jacobis Unmittelbarkeitslehre auf Fichtes Grundsatzkonzeption deutlich. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Strenge des Systems zu sichern vermag, zum anderen ist hierin betont, dass es sich beim Grundsatz als unbedingtem Satz um eine Gewissheit handelt, die unmittelbar aufgefunden wird, der Grundsatz ist schlechthin. Die Methode, durch welche das Grundprinzip der Wissenschaftslehre gewonnen werden soll, stellt eine abstrahierende Reflexion dar, in welcher von allen empirischen Bestimmungen abgesehen werden soll, bis das übrig bleibt, was selbst nicht weggedacht werden kann. Dabei muss Fichte die Regeln, mit denen diese Reflexion operiert, d. h. die Denkgesetze oder Grundsätze der allgemeinen Logik, voraussetzen, obgleich diese erst im Ausgang vom Grundsatz bewiesen werden sollen. Mit dem Zugeständnis des Zirkels von Logik und Wissenschaftslehre will Fichte die Kritik, die Schulze an Reinholds Satz des Bewusstseins, nämlich das dieser selbst dem logischen Satz des Widerspruchs unterstehe und damit kein erster Grundsatz sein könne, von Beginn an ausschalten. Die Wissenschaftslehre stellt hierbei ein Deduktionsprogramm dar, da alle Sätze derselben vom Grundsatz ihre Gewissheit beziehen sollen (vgl. BWL, GA I,2, 115) und von diesem abzuleiten sind (vgl. BWL, GA I,2, 148). b) Die Selbstreflexivität von Philosophie als Wissenschaft: Insofern der Gegenstand der Philosophie das menschliche Wissen ist, ist sie selbstreflexiv, d. h., sie ist Wissen des Wissens oder wie Fichte es in der Begriffsschrift ausdrückt, „Wissenschaft von der Wissenschaft überhaupt“ (BWL, GA I,2, 117), weshalb der Begriff der Philosophie als einer bloßen „Liebhaberei des Wißens“52 durch den der Wissenschaftslehre ersetzt werden könne. c) Der Zusammenhang von Wissenschaftslehre und Bewusstseinstheorie: Mit der Konzeption der Grundsatzphilosophie knüpft Fichte an die Elementarphilosophie des Kantianers Karl Leonhard Reinhold an und damit an das Vorhaben einer Systematisierung der kantischen Transzendentalphilosophie, welche die apriorischen Strukturen der Subjektivität als Bedingung der Möglichkeit von Objekterkenntnis ausweist. Diese sei als Kritik nur Propädeutik, selbst aber kein System und müsse daher vollendet werden. Fichte kritisiert nun unter dem Einfluss des Skeptikers Aenesidemus-Schulze an Reinholds Satz des
52 Fichte an Karl August Böttiger, Brief vom 1. März 1794, GA III,2, 72. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Bewusstseins53, der als Anfangspunkt gewählte Begriff der Vorstellung stelle selbst eine empirische Bestimmung, eine bloße Tatsache dar und könne so nicht der Forderung der Voraussetzungslosigkeit eines nur durch sich selbst bestimmten Grundsatzes genügen. Fichte hat bereits seit Ende 1793 die Idee54, die gesamte Philosophie auf das Ich als höchstes Prinzip zu gründen, wobei er den Begriff der Tathandlung55 als Gegenbegriff zum Begriff der Tatsache einsetzt. So schreibt Fichte in der Aenesidemus-Rezension in Bezug auf Reinholds Satz des Bewusstseins: Die erste unrichtige Voraussetzung, welche seine Aufstellung zum Grundsatze aller Philosophie veranlasste, war wohl die, daß man von einer Thatsache ausgehen müsse. Allerdings müssen wir einen realen, und nicht bloß formalen, Grundsatz haben; aber ein solcher muß nicht eben eine Thatsache, er kann auch eine Thathandlung ausdrü-
53 „Im Bewusstseyn wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beyde bezogen.“ (Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen. Erster Band , S. 167.) 54 Vgl. Fichte an Heinrich Stephani, Brief vom Dezember 1793, GA III, 2, 28. 55 Der Begriff der Tathandlung ist schon im 17. Jh. als politisch-juristischer Terminus nachgewiesen. Tathandlung meint hierbei ‚äußere, durchgeführte Tat‘ im Gegensatz zu bloßer Absicht. (Zum Begriff der Tathandlung vgl. Dierse, Ulrich, „Tathandlung“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10: St – T, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Basel, 1998, Sp. 908-910.) In Bezug auf Fichtes Begriff der Tathandlung ließen sich hierbei Tat und Handlung als Differenz von Produkt der Tätigkeit und reiner Tätigkeit unterscheiden. (Vgl. hierzu Oesch, Martin, Das Handlungsproblem. Ein systemgeschichtlicher Beitrag zur ersten Wissenschaftslehre Fichtes, Amsterdam, 1981, S. 74-76.) Gueroult übersetzt so Tat als vollendete Handlung: „Il [le Moi] est en même temps action et produit d’action: l’actif et ce qui est produit par l’activité: l’action (Handlung) et l’acte accompli (Tat) sont une seule et même chose, et ainsi le ,je suis‘ est l’expression d’une Tathandlung et de la seule possible, comme le prouvera la W.-L.“ (Vgl. Gueroult, Martial, L’evolution et la structure de la doctrine de la science chez Fichte, 2 Bände, Paris, 1930 (ND Hildesheim, 1982), Band 1, S. 187.) Neuhouser spricht in diesem Sinne von der Tathandlung als „fact-act“. (Vgl. Neuhouser, Frederick, Fichte’s Theory of Subjectivity, Cambridge, 1990, S. 106.) Dazu auch Fichte in der Zweiten Einleitung des Versuchs: „Es ist daher gar nicht so unbedeutend […] ob die Philosophie von einer ThatSache ausgehe, oder von einer ThatHandlung (d. i. von reiner Thätigkeit, die kein Object voraussetzt, sondern es selbst hervorbringt, und wo sonach das Handeln unmittelbar zur That wird).“ (ZwE, GA I,4, 221) Während der Terminus Handeln hier für den prozessualen Aspekt der Tätigkeit steht, steht der Begriff der Tat für deren Produkt. Auch Hegel unterscheidet Tat und Handlung in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts. (Vgl. Rph, TWA 7, § 119, 223-224) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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cken: wenn es erlaubt ist, eine Behauptung zu wagen, die an diesem Orte weder erklärt, noch erwiesen werden kann. (AR, GA I,2, 46)
Dieses Vorhaben realisiert er nun zum ersten Mal in der Grundlage. Das Ich-Prinzip als Grund soll gegen Reinholds einseitig theoretische Bestimmung des Grundsatzes die Einheit von Theorie und Praxis garantieren. Fichte sucht so eine Begründung der kantischen Vernunftkritik, indem er die bei Kant nur koordinierten Vermögen auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführt. Diesen sieht Fichte im „Princip der Subjektivität überhaupt“ gegeben. Der Begriff der Tathandlung expliziert dabei die Einheit von Theorie und Praxis im Ich. So ist das Ich als Tätigkeit zum einen praktisch, zum anderen als Fürsich-Sein oder Selbstbewusstsein theoretisch: Sie müßen, wenn Sie das Fundament der gesammten Philosophie aufgestellt haben, das Gefühl, und Begehrungsvermögen, als eine Art, vom Erkenntnißvermögen ableiten. Kant will jene drei Vermögen im Menschen überhaupt nicht unter ein höheres Princip unterordnen, sondern läßt sie bloß coordinirt bleiben. Ich bin mit Ihnen darüber ganz einig, daß sie unter ein höheres Princip subordinirt, darüber aber uneinig, daß dieses Princip das des theoretischen Vermögens seyn könne, worüber ich mit Kant einig bin; uneinig mit ihm, daß jene Vermögen überhaupt nicht subordinirt seyn sollen. Ich subordinire sie dem Princip der Subjektivität überhaupt. Diesen Weg nun schneiden Sie durch ihre Elementar Philosophie völlig ab, indem Sie schon ein höchstes Princip, das ich aber nur für subordinirt halte, haben; Kant läßt ihn übrig, denn er hat sich nur gegen die Subordination unter das theoretische Princip erklärt.56
Fichte führt so in der Grundlage zwei Komponenten zusammen: Von Reinhold übernimmt er das Projekt der Grundsatzphilosophie, das darin besteht, Kants Transzendentalphilosophie durch Begründung in die Form eines Systems zu bringen. An Kant schließt Fichte insofern an, als er eine allgemeine Subjektivität als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ansetzt. So schreibt Fichte an Reinhold: Nach meiner innigen Ueberzeugung – weil doch nun einmal über dergleichen Dinge die Rede unter uns entstanden ist – haben Sie die Kritik der reinen (theoretischen) Vft. welche allein Sie zu großem Schaden der Philosophie, wie mir’s scheint, bei Entwerfung Ihres Systems vor sich hatten, weiter geführt; und für die gesammte Philosophie die Ueberzeugung unter die Menschen gebracht, daß alle Forschung von 56 Fichte an Reinhold, Brief vom 28. April 1795, GA III,2, 314-315. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Einem Grundsatze ausgehen müste. Es scheint, daß Keinem alles vergönnt sey. Ich habe nichts weiter zu thun gehabt, als Kants Entdekung, der offenbar auf die Subjektivität hindeutet, und die Ihrige, zu verbinden; habe daher gerade das allergeringste Verdienst.57
2) Charakterisierung der Konzeption des absoluten Ichs: Fichte geht mittels einer abstrahierenden Reflexion hinter die Bedingtheit des empirischen Bewusstseins zurück zur Unbedingtheit einer das Bewusstsein begründenden Tathandlung. Als Ausgangspunkt soll hierbei eine Tatsache des empirischen Bewusstseins fungieren. Fichte beginnt nun, um „den Weg abzukürzen“, mit dem Satz der Identität „A = A“. Mit dem Ausgang von einer Tatsache des Bewusstseins schließt Fichte an Reinholds verändertes Methodenprogramm an, welchem zufolge das Suchen des letzten Grundes mit dem gemeinen Verstand, dem common sense anzuheben habe, da nur so eine Immunisierung gegen die Irrtümer des Empirismus, Rationalismus und Skeptizismus erreicht werden könne.58 Der Ausgang vom Satz „A = A“ erfüllt dabei drei maßgebliche Funktionen: Zum Ersten fungiert er als methodisches Mittel der Hinleitung zum Grundprinzip der Wissenschaftslehre, insofern durch den Ausgang von einer gewissen Tatsache die Herleitung der zu findenden absoluten Gewissheit abgekürzt werden kann. Zum Zweiten handelt es sich um eine transzendentale Argumentation: Um zum transzendentalen Bewusstsein als notwendiger Bedingung des empirischen Bewusstseins hinzuleiten, kann nur vom empirischen Bewusstsein ausgegangen werden, soll nicht etwa eine nicht ausweisbare Voraussetzung gemacht werden. Zum Dritten besteht ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Satz der Identität und der Sichselbstgleichheit des Ichs. So hat der notwendige Zusammenhang von Subjekt-A und Prädikat-A
57 Ebd., 315. 58 Vgl. Reinhold, Karl Leonhard, „Ueber den Unterschied zwischen dem gesunden Verstande und der philosophierenden Vernunft in Rücksicht auf die Fundamente des durch beyde möglichen Wissens“, in: Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Zweyter Band die Fundamente des philosophischen Wissens, der Metaphysik, Moral, moralischen Religion und Geschmackslehre betreffend, Jena 1794, S. 3-72, hier: S. 17. Vgl. hierzu auch Stolzenberg, Jürgen, „Fichtes Satz ‚Ich bin‘. Argumentanalytische Überlegungen zu Paragraph 1 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95“, in: Fichte-Studien 6 (1994), S. 1-34, hier: S. 3-6. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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ein mit sich identisches Selbstbewusstsein zu seiner Voraussetzung.59 Es mutet dabei irritierend an, wenn Fichte den formallogischen Satz der Identität als eine Tatsache des empirischen Bewusstseins, d. h. als ein in der inneren Erfahrung unmittelbar Gegebenes, versteht, da dieser gerade aufgrund der Abstraktion von allem möglichen Gehalt universale, d. h. nicht-empirische, Gültigkeit beansprucht. Fichte geht es aber darum zu zeigen, dass die Abstraktheit des Identitätssatzes eine Begründung desselben notwendig macht. Bei einer Tatsache handelt es sich um ein in der Erfahrung unmittelbar Gegebenes, ein Faktum (engl. fact), welches als Gemachtes (lat. facere ‚machen, tun‘) zurück auf eine es begründende Handlung verweist. Indem Fichte den logisch evidenten Satz als Tatsache behauptet, kritisiert er die Position des gemeinen Verstandes, welcher den Satz der Identität als unmittelbar gewiss behauptet. Der gemeine Verstand muss so darüber aufgeklärt werden, dass der Satz der Identität unter einer Bedingung steht, die keine Tatsache des empirischen Bewusstseins ist, nämlich einer ursprünglichen Tathandlung. Die absolute Evidenz von „A = A“ erweist sich somit als eine nur vorläufige Annahme: Der Satz der Identität hat nur eine relative und keine absolute Gewissheit, insofern er aus dem absolut-ersten Grundsatz abgeleitet und damit bewiesen werden muss. Mittels eines mehrstufig-aufsteigenden Verfahrens gewinnt Fichte im Ausgang vom formallogischen Satz der Identität den absolut-ersten Grundsatz der Wissenschaftslehre.60 Fichtes Herleitung des Grund 59 Gegen den Ausgang von „A=A“ als höchster Tatsache des empirischen Bewusstseins könnte nun eingewendet werden, dass dieser aufgrund seines tautologischen Charakters gar nicht als adäquater Ausgangspunkt fungieren könne. So ist für Hegel gerade das Prinzip des Widerspruchs das höchste Prinzip der Philosophie. (Vgl. WdL, TWA 5, 98-99; WdL, TWA 6, 41-42; GdPh, TWA 20, 394-395) Vgl. zu Hegels Fichte-Kritik auch Exkurs 3. 60 Vgl. zur Herleitung des ersten Grundsatzes Stolzenberg, Fichtes Satz ‚Ich bin‘. In der Forschung wird Fichte die Verwechslung von Gleichheit (welche nur von Verschiedenen ausgesagt werden könne) und Identität vorgeworfen. So etwa bei Lenk, Kritik der logischen Konstanten, S. 202 und bei Baumanns, Peter, J. G. Fichte: kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie, Freiburg/München, 1990, S. 65. Eine Verteidigung gegen diesen Vorwurf findet sich bei Stefan Schick. Fichte verwende so das Gleichheitszeichen im Satz „A = A“ im Sinne von Identität. (Vgl. Schick, Stefan, Contradictio est regula veri. Die Grundsätze des Denkens in der formalen, transzendentalen und spekulativen Logik, in: Hegel-Studien, Beiheft 53 (2010), S. 207-208.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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prinzips des absoluten Ichs aus dem Satz „A = A“ vollzieht sich dabei in sechs Schritten: Schritt 1: Behauptung der Gewissheit von „A = A“ Zunächst kennzeichnet Fichte den Satz „A = A“ als einen völlig gewissen Satz, der keines Beweises bedürfe und ohne Grund gültig sei. Der Inhalt von „A = A“ sei so das Vermögen, etwas schlechthin und damit ohne Bedingung zu setzen. Fichte führt hierbei den Begriff des Setzens im Zusammenhang mit einer unbedingt gültigen Gewissheit und Grundlosigkeit ein und charakterisiert dieses damit als unbedingte Tätigkeit. Schritt 2: Einschränkung der Gewissheit von „A = A“ Fichte nimmt nun in einem zweiten Schritt die Behauptung der unmittelbaren Gewissheit von „A = A“ zurück, indem er den Geltungsbereich dieser Gewissheit einschränkt. Er unterscheidet hierbei zwei verschiedene Formen von Sein: Zum einen Sein ohne, zum anderen Sein mit Prädikat. Während der erste Typ von Sein in einem starken Sinn die Existenz von etwas meint, bezieht sich der zweite Typ von Sein auf ein bloßes Identisch-Sein. Im Satz „A = A“ wird so nur ein Sein in einem schwachen Sinne behauptet, d. h. eine bloß formale Identität, welche auch für fiktive Entitäten gilt. Insofern die Gewissheit des Satzes nur für dessen Form, nicht aber für dessen Gehalt gilt, formuliert Fichte den kategorischen Satz „A = A“ als hypothetischen Satz „wenn A sei, so sei A“. So ist in „A = A“ nichts über die Existenz von A ausgesagt. Die Geltung der Gewissheit von „A = A“ muss so auf die Form des Satzes eingeschränkt werden, sie gilt lediglich für die Relation, d. h. die Verknüpfung der Relata, nicht aber für die Relata selbst. Fichte bezeichnet die Verknüpfung der Relata hierbei als notwendigen Zusammenhang X, welcher insofern als gewiss, d. h. schlechthin oder grundlos, gekennzeichnet werden kann, als er unbedingte Gültigkeit hat. Schritt 3: Spezifizierung der Bedingungen von A Weist der Satz „A = A“ eine nur formale Gültigkeit auf, dann stellt sich notwendig die Frage nach den Bedingungen von A. Fichte führt hierbei drei Bedingungen an: a) Der notwendige Zusammenhang X sei zum Ersten im und durch das Ich gesetzt, d. h., dieser setzt notwendig ein urteilendes Subjekt voraus. Fichte führt hier nun unvermittelt das Ich als Urteilendes ein, das im Satz „A = A“ zur Anwendung gebrachte Gesetz X stellt sich damit heraus als ein durch das Ich Gesetztes. Das urteilende Ich meint hierbei aber noch nicht das absolute, sondern lediglich das empirische Ich. b) Fichte kennzeichSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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net X als Zusammenhang zwischen einem unbekannten Setzen von A und einem absoluten Setzen von A. A ist hierbei nur gesetzt unter der Bedingung der Relation X, d. h., nur wenn der Zusammenhang X gesetzt ist, ist auch A gesetzt, da in A bereits die Identität von A enthalten ist. c) Der Zusammenhang X stellt die Verbindung von A als Subjekt und A als Prädikat dar. Das Subjekt-A ist hierbei die Bedingung dafür, dass das Prädikat-A schlechthin als existierend gesetzt ist, d. h., nur wenn das Subjekt-A als existierend gesetzt ist, ist auch das Prädikat-A als existierend gesetzt. Schritt 4: Die Formulierung von X durch „Ich = Ich“/„Ich bin Ich“ Fichte charakterisiert nun den notwendigen Zusammenhang X als Identität des Ichs, welche er durch die Formeln „Ich = Ich“ und „Ich bin Ich“ expliziert. Das Ich stellt hierbei gegenüber der bloßen Formalität des Satzes der Identität die Einheit von Form und Gehalt dar. Während die Formel „Ich = Ich“ eine nur formale Identität expliziert und damit eine nur externe Perspektive beschreibt, charakterisiert die Formel „Ich bin Ich“ die Gleichheit des Ichs mit sich selbst und bringt eine interne Perspektive ins Spiel, in welcher sich das Ich als Ich weiß und will. Das Ich stellt so den einzigen Fall dar, bei dem etwas in seiner Existenz nicht von äußeren Bedingungen abhängig ist, da das Ich sein eigener Gehalt ist. Das Ich ist zum einen mit sich selbst identisch, zum anderen ist die Identität des Ichs notwendig an dessen Existenz gekoppelt. X stellt sich somit als inhaltlicher Zusammenhang heraus, die Relation X qua Form ist also selbst Gehalt, insofern das Urteilen ein mit sich identisches Ich voraussetzt. Indem Fichte die Bedingungen für die Existenz von A anführt, stellt er die Elemente für die inhaltliche Füllung der bloß formalen Identität „A = A“ bereit. Schritt 5: „Ich bin“ als Ausdruck einer Tatsache Fichte betont nun die Differenz der Sätze „A = A“ und „Ich bin Ich“: Im Gegensatz zu „A = A“ hat der Satz „Ich bin Ich“ unbedingte Gültigkeit. Der Unterschied von „Ich bin Ich“ und „A = A“ besteht so darin, dass in Bezug auf den Satz „A = A“ noch ein Subjekt vorausgesetzt werden muss, das die Gleichsetzungsoperation durchführt. Während es in Bezug auf „A = A“ nicht sicher sei, dass A überhaupt gesetzt sei und damit auch nicht, dass es mit dem Prädikat A gesetzt sei, sei das Ich mit dem Prädikat der Gleichheit mit sich selbst gesetzt, wobei aus der Sichselbstgleichheit des Ichs dessen Existenz folgt. Fichte formuliert den Satz „Ich bin Ich“ nun als „Ich bin“. „A = A“ ist als gewisser Satz nicht die höchste Tatsache des empiriSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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schen Bewusstseins, da dieser auf das Ich zurückgeführt werden müsse. Bei der höchsten Tatsache des empirischen Bewusstseins handelt es sich so um die Tatsache „Ich bin“, welche die Explikation des notwendigen Zusammenhangs X darstellt: „Es ist demnach Erklärungsgrund aller Thatsachen des empirischen Bewußtseyns, daß vor allem Setzen im Ich vorher das Ich selbst gesezt sey.“ (GWL, GA I,2, 258) Schritt 6: „Ich bin“ als Ausdruck der Tathandlung Obwohl Fichte nun den Satz „Ich bin“ als Explikation der Einheit von Form und Gehalt des Ichs eingeführt hat, ist die Ebene des empirischen Bewusstseins noch nicht verlassen, d. h., der Satz „Ich bin“ hat lediglich eine relative und keine absolute Gewissheit. Fichte schlägt daher vor, zum Ausgangspunkt der Herleitung des ersten Grundsatzes zurückzukehren, also zum Satz der Identität „A = A“. Er leitet hierbei in drei Schritten vom Ich als Tatsache des empirischen Bewusstseins zum Ich als Tathandlung des transzendentalen Bewusstseins hin: a) Fichte stellt zunächst fest, dass es sich bei „A = A“ um ein Urteil handelt, wobei er Urteilen als Handeln des menschlichen Geistes definiert, das seine Bedingungen im empirischen Bewusstsein hat. b) Fichte betont nun, dass alles Handeln im notwendigen Zusammenhang X gründet, der durch den Satz „Ich bin“ expliziert werden kann. c) Der Zusammenhang X als schlechthin Gesetztes sei so als reiner Charakter der Tätigkeit an sich zu kennzeichnen. Der Satz „Ich bin“ als transzendentale Bedingung des empirischen Handelns sei nicht bloß Ausdruck einer Tatsache, sondern einer Tathandlung.61 Fichte bezieht also den Satz „Ich bin“ nur auf das Urteilen, welches zum einen als Handlung des empirischen Ichs zu verstehen ist und zum anderen eine nur theoretische Handlung darstellt. Von der spezifischen Handlung des Urteilens schlussfolgert Fichte dann auf die allgemeine Handlung des Sich-Setzens. Als sich selbst begründender Grund, als Sich-Setzen als Einheit von Tätigem und Produkt der Tätigkeit ist das so gefasste Ich insofern absolut, als es zugleich theoretisch und praktisch ist. Setzen meint hierbei in praktischer Hinsicht (qua hervorbringen), dass sich das Ich als Tätigkeit selbst produziert, worin sich die unbedingte Dimension sittlichen Handelns andeutet, in theoretischer Hinsicht (qua behaupten) kommt darin zum Ausdruck, dass sich das Ich als 61 Vgl. zu Fichtes Kritik des Tatsachenmodells von Subjektivität in § 1 der Grundlage Imhof, Der Grund der Subjektivität, S. 77-83. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Für-sich-Sein absolut weiß, insofern es sich selbst zum Gegenstand seines Wissens hat. Das Ich lässt sich als eigener Gedanke von sich kennzeichnen. Es stellt hierbei den einzigen Fall dar, in welchem ein Gedanke eine Wirklichkeit erzeugt. Da Fichte die Tathandlung auf der Ebene des reinen, transzendentalen Bewusstseins, die logischen Grundsätze aber auf der Ebene des empirischen Bewusstseins verortet, handelt es sich bei dem von ihm so frei zugestandenen Zirkel nicht um einen fehlerhaften, vitiösen Zirkel bzw. eine petitio principii. Dieser ist vielmehr Signum einer zugrundeliegenden Einheit, eines selbstreflexiv-produktiven Grundes, der als wechselseitige Bedingung von Form und Gehalt in sich selbst zirkulär verfasst ist.62 Die Absolutheit des Ichs speist sich dabei aus drei Quellen: Zum Ersten meint absolut den unbedingten Anfang des Systems der Wissenschaftslehre, wobei dieser einer Radikalisierung der Reinholdschen Elementarphilosophie geschuldet ist. Zum Zweiten greift Fichte in der inhaltlichen Bestimmung dieses unbedingten Anfangs auf Kants Konzeption der reinen Apperzeption zurück, die als höchster Punkt von Logik und Transzendentalphilosophie uneinholbare Voraussetzung von objektiver Erkenntnis ist.63 Zum Dritten ist absolut im Sinne von ‚allumfassend‘ oder ‚immanent‘ an Spinozas Konzept einer absoluten Substanz orientiert. Insofern Fichte aber unmittelbar an Kants Transzendentalphilosophie anschließt, beschuldigt er Spinoza des Dogmatismus, da dieser die Bewusstseinsimmanenz des Ichs überschreite, indem er von der Substanz als einem Ding ausgehe.64 Fichte konzipiert das Bewusstsein so als ein Produkt des 62 Jacob Sigismund Beck spricht in Kritik an Fichte von magischen Zirkeln. (Vgl. Annalen der Philosophie und des philosoph. Geistes 6./9./11. Febr. 1795; specula 2,1, S. 277-278.) 63 So bezieht sich Fichte in § 1 auf Kants transzendentale Deduktion der Kategorien: „Auf unsern Saz, als absoluten Grundsaz alles Wissens hat gedeutet Kant in seiner Deduktion der Kategorien; er hat ihn aber nie als Grundsaz bestimmt aufgestellt.“ (GWL, GA I,2, 262) In der Zweiten Einleitung des Versuchs verweist Fichte dann explizit auf Kants transzendentale Apperzeption, wobei er behauptet, dass der intellektuellen Anschauung in der Wissenschaftslehre bei Kant die reine Apperzeption entspreche. (Vgl. ZwE, GA I,4, 225) Zu Fichtes Kantbezug vgl. Cramer, Konrad, „Kants ‚Ich denke‘ und Fichtes ‚Ich bin‘“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität, hg. v. Karl Ameriks, Jürgen Stolzenberg, Band 1 (2003), S. 57-92. 64 Das absolute Ich kann so nicht als causa sui interpretiert werden. Hierfür lassen sich folgende Gründe anführen: Das absolute Ich kann nicht als Gott verstanden werden (Missverständnis bei Kroner), da Fichte hierin an Kants Konzeption der reinen Apperzeption anschließt. So verweist er im ersten Grundsatz Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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absoluten Ichs, das insofern als materialer Deduktionsgrund fungiert. Fichte fasst das absolute Ich hierbei als die im empirischen Bewusstsein gegebene Einheit des Bewusstseins, wenn er Spinoza vorwirft, er habe diese Einheit transzendiert. Die einheitsstiftende Funktion des absoluten Ichs resultiert für Fichte dabei aus dessen herausragender Stellung im System. In der Begriffsschrift vergleicht Fichte den absolut-ersten Grundsatz mit einem Ring, der an nichts befestigt, das ganze System der Wissenschaftslehre hält, insofern hierin alle Sätze der Wissenschaftslehre verbunden sind. (Vgl. BWL, GA I,2, 125-126) Wie das Bewusstsein als Produkt des absoluten Ichs in diesem seinen Einheitspunkt hat, hängt das System im Grundsatz zusammen und gewinnt aus jenem seine Einheit. Das Ich als Prinzip der Wissenschaftslehre ist als Unbedingtes kein Objekt, kein Ding, sondern Tätigkeit. Die Ich-Tätigkeit stellt hierbei keine Eigenschaft einer zugrundeliegenden Substanz dar, auf Kants Deduktion der Kategorien. In der Tradition, etwa bei Duns Scotus und Spinoza, gibt es keine Verbindung der causa sui mit dem Konzept der Selbstproduktion.Während das absolute Ich reine Unbestimmtheit ist, stellt Gott eine Vollkommenheit dar. Wäre das absolute Ich Gott, dann bestünde keine Notwendigkeit, zu einem zweiten Grundsatz hinauszugehen. Zudem bezeichnet Fichte das absolute Ich nicht als Gott. Die Religionsphilosophie ist erst im Spätwerk ausgeführt. Das absolute Ich erzeugt sich nicht wie die causa sui aus dem Nichts, da es sich hierbei um ein unhintergehbares Selbstverhältnis handelt. Das absolute Ich qua Tathandlung ist nur eine notwendige Hypothese, um das wirkliche Dasein zu erklären. In praktischer Hinsicht ist das absolute Ich so als Idee und Strebensziel bestimmt. Das absolute Ich stellt keine Substanz, sondern eine reine, selbstbezügliche Tätigkeit dar. Fichte selbst grenzt seine kritische Philosophie vom Dogmatismus Spinozas ab, da dieser von einem dem Ich transzendenten Ding ausgehe. Spinozas System erhebe sich so nicht zum ersten Grundsatz. Das Modell der Selbstbegründung ist kein mechanistisches Ursache-Wirkungs-Modell, sondern expliziert eine GrundFolge-Beziehung. In gewisser Hinsicht ließe sich das absolute Ich aber doch als causa sui interpretieren, wenn man von den mit diesem Konzept in der Tradition verbundenen inhaltlichen Bestimmungen absieht. Unter dem formalen oder strukturellen Aspekt betrachtet, könnte das absolute Ich als causa sui verstanden werden, insofern es sich als Einheit von Form und Gehalt, als Sich-Setzen oder Sein-Setzen selbst begründet. Aus dem Wesen des absoluten Ichs folgt so wie bei der causa sui dessen Existenz. Die Einheit von Form und Gehalt kann als Einheit von Reflexion und Produktion bestimmt werden. Es besteht aber hierbei das Problem, inwiefern das absolute Ich aufgrund seiner Unbestimmtheit als Für-sich-Sein gekennzeichnet werden kann. (Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der drei Grundsätze vgl. Gloy, Karen, „Die drei Grundsätze aus Fichtes ‚Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre‘ von 1794“, in: Philosophisches Jahrbuch 91 (1984), S. 289-307.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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da das Ich hierin kein erstes Unbedingtes wäre, sondern als in sich zurückgehende Tätigkeit (vgl. GWL GA I,2, 293) ist sie ein unhintergehbares Selbstverhältnis. Fichte beschreibt das Ich im Sinne eines Produktionsmodells, wenn er es als durch sich selbst Gesetztes auffasst, welches im Sich-Setzen sein eigenes Sein hervorbringt. Dabei ist das Verhältnis von Setzen und Sein aus zwei Richtungen zu denken: Das Sein ist zum einen Produkt des Setzens, zum anderen hat das Setzen des Ichs dessen Sein zu seiner Voraussetzung. Weder kann das Setzen durch das Sein, noch kann das Sein durch das Setzen bedingt sein. Dies würde der Bestimmung des Ichs als unbedingter Tätigkeit widersprechen. In der reinen Tätigkeit des Ichs fallen Tätiges und Produkt der Tätigkeit, Handlung und Tat absolut zusammen. Dies bringt Fichte im Begriff der Tathandlung zum Ausdruck: Das Ich sezt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es sezt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und That sind Eins und ebendasselbe: und daher ist das: Ich bin, Ausdruk einer Thathandlung; aber auch der einzig-möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre ergeben muß. (GWL, GA I,2, 259)
Insofern im Satz „Ich bin Ich“ Subjekt-Ich und Objekt-Ich zusammenfallen, lässt sich dieser durch den Satz „Ich bin“ formulieren. Die Selbstgleichheit des Ichs offenbart dessen ontologische Dimension.65 Fichte versteht Sein hierbei als absolutes Sein,66 da der Begriff des Seins die allgemeinste Bestimmung expliziert. Selbstbewusstsein ist Fichte zufolge so weder als Denken noch als Vorstellen zu verstehen, die nur besondere Bestimmungen des Seins als Bewusst-
65 Schmidt zufolge ist die Tathandlung kein Seiendes, weshalb die Wissenschaftslehre als Metaphysik jenseits der Ontologie verstanden werden müsse. (Schmidt, Andreas, Der Grund des Wissens. Fichtes Wissenschaftslehre in den Versionen von 1794/95, 1804/II und 1812, Paderborn, 2004, S. 13.) Die Rede von einer Ontologie in Bezug auf die Wissenschaftslehre könnte aber in Bezug auf den obigen Kontext insofern als gerechtfertigt gelten, als Fichte das absolute Ich als Sein versteht. 66 Fichte unterscheidet absolutes Sein und wirkliches Dasein. (Vgl. GWL, GA I, 2, 410, Anm.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Sein darstellen. (Vgl. GWL, GA I,2, 262-263)67 In der Begriffsschrift unterscheidet Fichte das vorstellende vom vorgestellten Ich: Die Reflexion, welche in der ganzen Wissenschaftslehre, in so ferne sie Wissenschaft ist, herrscht, ist ein Vorstellen; daraus aber folgt gar nicht, daß alles, worüber reflektiert wird, auch nur ein Vorstellen seyn werde. In der Wissenschaftslehre wird das Ich vorgestellt; es folgt aber nicht, daß es bloß als vorstellend, bloß als Intelligenz, vorgestellt werde: es können sich noch wohl andre Bestimmungen darin auffinden lassen. Das Ich, als philosophirendes Subjekt, ist unstreitig nur vorstellend; das Ich als Objekt des Philosophirens könnte wohl noch etwas mehr seyn. Das Vorstellen ist die höchste und absolut-erste Handlung des Philosophen, als solchen; die absolut-erste Handlung des menschlichen Geistes könnte wohl eine andre seyn. (BWL, GA I,2, 149)
Fichtes Unterscheidung von vorstellendem Ich-Subjekt und vorgestelltem Ich-Objekt zielt hier zunächst auf Reinholds Anfang mit der Vorstellung als einseitig theoretischen Systemgrund. Das Ich als Objekt ist mehr als bloßes Vorstellen, d. h., es ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Es stellt sich nun aber die Frage, wie der Philosoph, insofern seine erste Handlung als Vorstellen zu charakterisieren ist, die ursprüngliche Handlung des Ich-Prinzips einzuholen vermag. Auf die Problematik des Vorwurfs der Bewusstseins-Transzendenz des Ich-Prinzips werde ich im Folgenden noch eingehen. Der für Fichte spezifische Terminus des Setzens soll dabei die Unbestimmtheit der Ich-Tätigkeit explizieren, „die gesammte Thätigkeit des menschlichen Geistes, die keinen Namen hat, die im Bewußtseyn nie vorkommt, die unbegreiflich ist; weil sie das durch alle besondre (u. lediglich insofern ein Bewußtseyn bildende) Akte des Gemüths bestimmbare, keinesweges aber ein bestimmtes ist.“68 Als Unbeding 67 Wolfgang Janke versteht unter Setzen im ersten Grundsatz fälschlicherweise ein Vorstellen: „Fichte gebraucht den Terminus Tätigkeit synonym mit Handeln und Setzen. […] Handeln bedeutet Am-Werke-Sein des Vorstellens. Diesen Sinn hat auch das Wort Setzen. Setzen heißt, etwas als seiend vorstellen.“ (Janke, Wolfgang, Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin, 1970, S. 71.) So deutet Janke dann das reine Ich als Tathandlung als Sichselbst-Hervorbringen aus dem Nichts. (Vgl. ebd., S. 74.) Demgegenüber betont Peter Rohs die Unbestimmtheit des Terminus Setzen bei Fichte. (Vgl. Rohs, Peter, Johann Gottlieb Fichte, München, 1991, S. 42.) 68 Fichte an Reinhold, Brief vom 2. Juli 1795, GA III,2, 344. Diese Stelle ist gegen die in der Forschung immer wieder vorgebrachte Behauptung, Fichte gebe keine Definition des Setzens, anzubringen. (Vgl. etwa Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 199; Mittmann, Das Prinzip der Selbstgewissheit, S. 107.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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tes kennzeichnet Fichte das absolute Ich als ein Prädikatloses und damit Unbestimmtes: „Das absolute Ich des ersten Grundsatzes ist nicht etwas; (es hat kein Prädikat, und kann keins haben), es ist schlechthin, was es ist, und dies läßt sich nicht weiter erklären.“ (GWL, GA I,2, 271) Das Ich ist Fichte zufolge nun erst durch Prädikate zu beschreiben, wenn es im Gegensatz gegen das Nicht-Ich ein bestimmtes, endliches Ich ist. Das absolute Ich, insofern es alle Realität in sich fasst, ist aber ohne Gegensatz. Die Unbestimmtheit des absoluten Ichs kommt dabei für Fichte im Satz „Ich bin“ zum Ausdruck, insofern das Ich nur mit sich selbst gleichgesetzt wird, handelt es sich bei demselben nach Fichte um ein thetisches, d. h. bloß setzendes, Urteil69, welches übrigens nicht, wie Fichte behauptet, dem unendlichen Urteil bei Kant korrespondiert, da dieses als bejahendes Urteil mit verneinendem Prädikat70 bejahendes und verneinendes Urteil voraussetzt, während bei Fichte das thetische Urteil die Voraussetzung für bejahendes und verneinendes Urteil bildet.71 Während bei Kant beim synthetischen Urteil als Erweiterungsurteil das Prädikat zum Subjekt hinzukommt, ist es beim analytischen Urteil im Subjekt enthalten. Das thetische Urteil „Ich bin“ expliziert nun zum einen die Existenzgewissheit des Ichs, zum anderen bringt es einen unabschließbaren Bestimmungsprozess zum Ausdruck, insofern das Ich hier zu keinem von ihm differenten Relat in Beziehung gesetzt ist, die Prädikatstelle also für eine Bestimmung ins Unendliche frei gelassen ist. In der doppelten Bedeutung des thetischen Urteils zeigt sich die Doppelfunktion des absoluten Ichs als Grund des Bewusstseins in § 1 und als Idee im praktischen Teil der Grundlage. Die Unbestimmbarkeit des absoluten Ichs deutet dessen praktische Dimension an. Weist Fichte das absolute Ich durch die Bestimmung als unbedingter Grund des Bewusstseins und als reine Tätigkeit als ein Differenzloses, Unbestimmtes aus, so gibt er nun zu verstehen, dass dasselbe doch eine Struktur aufweisen müsse, um als Ich betrachtet werden zu können. Fichte bestimmt das Ich als absolutes Subjekt so 69 Vgl. GA I,2, 276-277. Fichte betrachtet das „Ich bin“ als höchste Form des thetischen Urteils. 70 Ein Beispiel für ein solches Urteil wäre: „Die Seele ist nicht sterblich.“ 71 Vgl. Schäfer, Rainer, Johann Gottlieb Fichtes „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ von 1794, Darmstadt, 2006, S. 93-94. Das thetische Urteil „Ich bin“ enthält so nicht wie das unendliche Urteil bei Kant ein verneinendes Prädikat, sondern es enthält eben gar kein Prädikat. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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als Für-sich-Sein und damit als Wissen von sich selbst, als Selbstbewusstsein: Und dies macht es denn völlig klar, in welchem Sinne wir hier das Wort Ich brauchen, und führt uns auf eine bestimmte Erklärung des Ich, als absoluten Subjekts. Dasjenige, dessen Seyn (Wesen) blos darin besteht, daß es sich selbst als seyend sezt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich sezt, ist es; und so wie es ist, sezt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin, und nothwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich. […] Man hört wohl die Frage aufwerfen; was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewußtseyn kam? Die natürliche Antwort darauf ist: ich war gar nicht; denn ich war nicht Ich. Das Ich ist nur insofern, inwiefern es sich seiner bewußt ist. (GWL, GA I,2, 259-260)72
Die Selbstproduktion des Ichs stellt sich als eine Produktion von Wissen dar. Fichte will so im Begriff des Sich-Setzens den kantischen Dualismus von praktischer und theoretischer Vernunft aufheben, insofern er Sich-Setzen in praktischer Hinsicht als Setzen von Sein, dieses Sein dann aber in theoretischer Hinsicht als Wissen ausweist. 72 Eine sprachanalytische Interpretation dieses Abschnittes findet sich bei Mittmann, Jörg-Peter, „Über die präreflexive Existenz meiner selbst“, in: Sein – Reflexion – Freiheit: Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, hg. v. Christoph Asmuth, Amsterdam/Philadelphia, 1997, S. 159-171. Mittmann kritisiert die Identifikation von Ich und Wissen in der Idealismusforschung. Mittmann zufolge müsse ein attrributiver und ein referentieller Gebrauch von ich unterschieden werden. Der referentielle Gebrauch ist hierbei bezogen auf einen konkreten Gegenstand (Modalität de re), der attributive Gebrauch auf den deskriptiven Gehalt einer Aussage (Modalität de dicto). So sei nicht gemeint, dass das Ich (referentieller Gebrauch) als konkrete Person vor dem Selbstbewusstsein nicht war, sondern das Ich (attributiver Gebrauch) sei bezogen auf das transzendentale Ich. Die von Fichte monierte Verwirrung gründe sich so darauf, dass der Fragende ich referentiell gebrauche, während lediglich ein attributiver Gebrauch von ich vorliege. Hieraus folgt für Mittmann allerdings nicht die Notwendigkeit, die Seinsweise des transzendentalen Ichs als Wissen zu bestimmen. Vielmehr bestehe bloß eine ontologische Abhängigkeit des Seins vom Wissen. So sei es dogmatisch, das transzendentale Ich als etwas zu bestimmen, das ein Wissen von sich selbst ist. Wissen könne Mittmann zufolge so nicht vorausgesetzt werden, um Wissen zu explizieren. Fichte nehme so, wenn auch unbewusst, eine präreflexive Existenz des Ichs an. (Vgl. ebd., S. 171.) Fichte geht es aber gerade darum zu zeigen, dass das absolute Ich als unhintergehbares Selbstverhältnis verstanden werden muss, bei welchem Sein und Selbstbewusstsein in einem symmetrischen Verhältnis stehen: Weder geht das Sein des Ichs dem Selbstbewusstsein voraus, noch geht das Selbstbewusstsein dem Sein voraus. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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3) Problematisierung des Für-sich-Seins des absoluten Ichs: In der Fichte-Forschung ist es nun höchst umstritten, ob und wenn ja, inwiefern das absolute Ich als Selbstbewusstsein verstanden werden darf.73 Eine mögliche Deutung betrachtet das absolute Ich so nicht als Selbstbewusstsein im prägnanten Sinne, da es sich bei diesem um eine bloße Ermöglichungsbedingung von Selbstbewusstsein handle. Von Selbstbewusstsein im vollen Wortsinne ließe sich so nur sprechen, wenn das Ich im dritten Grundsatz gegen das Nicht-Ich bestimmt ist, da erst hiermit das für Bewusstsein notwendige Moment der Differenz expliziert würde. In Bezug auf die selbstbewusstseinstheoretische Interpretation des absoluten Ichs stellen sich so zwei wesentliche Fragen: 1) Mit welchem Recht lässt sich das absolute Ich als Selbstbewusstsein bezeichnen? 2) Wenn die Kennzeichnung des absoluten Ichs als Selbstbewusstsein gerechtfertigt ist, um was für eine Art von Selbstbewusstsein handelt es sich dann? Gegen die Interpretation des absoluten Ichs als Selbstbewusstsein ließe sich nun folgender Einwand vorbringen: Als unterschiedslose, unbestimmte Einheit kann das absolute Ich kein Selbstbewusstsein darstellen, da dieses als Wissen von sich selbst eine begriffliche Bestimmung und damit eine Abgrenzung gegen ein anderes verlangen würde.74 Man könnte hierauf nun ent 73 Während z. B. Henrich und Gloy (vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 198-200; Gloy, Die drei Grundsätze, S. 296-298) das absolute Ich als Selbstbewusstsein interpretieren, stellt dieses Hanewald, Schäfer, Metz und Vrabec zufolge gerade kein Selbstbewusstsein dar. (Vgl. Schäfer, Johann Gottlieb Fichtes „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, S. 39; Metz, Die produktive Reflexion als Prinzip des wirklichen Bewusstseins, S. 71, Anm.; Hanewald, Christian, Apperzeption und Einbildungskraft. Die Auseinandersetzung mit der theoretischen Philosophie Kants in Fichtes früher Wissenschaftslehre, Berlin/New York, 2001, S. 35-36; Vrabec, Martin, „Verfügt das absolute Ich aus der ‚Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‘ über ein Selbstbewusstsein?“, in: Fichte-Studien 42 (2016), S. 95-105.) 74 Andreas Schmidt sieht so den Übergang zu Fichtes Spätphilosophie in der ungelösten Problematik des Für-sich-Seins des absoluten Ichs begründet. Insofern Für-sich-Sein qua Negation von Unmittelbarkeit nicht als absolute Gewissheit zu verstehen sei, müsse die absolute Gewissheit jenseits des Selbstbewusstseins verortet werden. Schmidt vertritt so zwar die These von der unveränderten Lehre der fichteschen Philosophie, da sowohl in der Früh- als auch in der Spätphilosophie die Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft als Systemgrund fungiere. Während allerdings in der Frühphilosophie das Selbstbewusstsein auf den absoluten Akt des Ichs selbst bezogen sei, werde es in der Spätphilosophie von Fichte auf der Seite der Erscheinung verortet. (Vgl. Schmidt, Der Grund des Wissens, S. 61-62.) Zur Konzeption des SelbstbewusstSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
§ 1: Das absolute Ich als Selbstbewusstsein
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gegnen, dass das absolute Ich ja nicht als Selbstbewusstsein im prägnanten Sinne verstanden werden dürfe, sondern vielmehr als das isolierte Moment der Identität des Selbstbewusstseins. Es könne sich so noch gar nicht um die vollständige, transzendentale Struktur von Selbstbewusstsein handeln, da Fichte diese erst im Zusammenhang der drei Grundsätze expliziere. Die Unbestimmtheit des absoluten Ichs und dessen Charakterisierung als Selbstbewusstsein würde so gar keinen Widerspruch darstellen. Aus einer solchen Interpretation ergeben sich nun aber weitere Probleme: Die unmittelbare Gewissheit des absoluten Ichs impliziert, dass es sich hierbei um ein Wissen handelt und zwar um ein im Modus der Unmittelbarkeit Gewusstes. Absolutes und teilbares Ich stellen so zwei verschiedene Wissensmodelle dar: 1) Das absolute Ich ist ein Selbstbewusstsein als unmittelbare Gewissheit. 2) Das teilbare Ich ist ein Selbstbewusstsein als ein mit sich selbst begrifflich vermitteltes Wissen, das gegen ein anderes abgegrenzt ist. Es stellt sich hierbei die Frage, wie nun beide Modelle aufeinander bezogen werden können. Man könnte nun vorschlagen, dass die unmittelbare Gewissheit des absoluten Ichs als Vorstufe des begrifflichen Selbstverhältnisses des teilbaren Ichs zu verstehen sei. Hiergegen könnte man allerdings den Einwand erheben, dass, wenn das absolute Ich bereits als unmittelbare Gewissheit zu betrachten sei, gerade keine begriffliche Vermittlung für das Vorliegen von Selbstbewusstsein notwendig sei. So handelt es sich bei den beiden Ichformen eigentlich um zwei konträre Modelle. Fichte erhebt ja gerade, da er das absolute Ich als unmittelbare Existenzgewissheit betrachtet, den Anspruch, dass es sich bei diesem um ein Selbstbewusstsein im vollen Sinne und nicht nur um ein Teilmoment desselben handelt. Selbst wenn man so die Selbstanschauung des absoluten Ichs als „Unterlage“ eines begrifflichen Selbstverhältnisses betrachtet, dann gesteht man hiermit doch gerade zu, dass ein Wissen eigentlich nur über eine begriffliche Vermittlung zu generieren ist. Fichte schließt mit seinem Ichbegriff an Kants Konzeption der reinen Apperzeption an, die zwar Ermöglichungsbedingung aller Begriffe, selbst aber kein Begriff ist. Er bestimmt das absolute Ich dabei als Für-sich-Sein, um der gegenüber Kant vorgebrachten Kriseins in Fichtes Spätphilosophie vgl. auch Schmidt, Andreas, „Jenseits des Selbstbewusstseins: Zur intellektuellen Anschauung in Fichtes Wissenschaftslehre von 1810“, in: Fichte-Studien 28 (2006), S. 85-98. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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tik Aenesidemus-Schulzes zu entgehen, nach welcher Subjektivität nicht als ein unerkennbares Ding an sich konzipiert werden dürfe: A. [Aenesidemus, S.D.] wirft die Frage auf, ob das Gemüth, als Ding an sich, oder als Noumenon, oder als transscendentale Idee, Grund der Erkenntnisse a priori sey? Als Ding an sich nicht, wie er ganz richtig läugnet. […] In so fern das Gemüth der letzte Grund gewisser Denkformen überhaupt ist, ist es Noumenon; in so fern diese als unbedingt nothwendige Gesetze betrachtet werden, ist es transcendentale Idee; die aber von allen andern dadurch sich unterscheidet, daß wir sie durch intellectuelle Anschauung, durch das Ich bin, und zwar: ich bin schlechthin weil ich bin, realisiren. Alle Ansprüche Aenesidems gegen dieses Verfahren gründen sich bloß darauf, daß er die absolute Existenz, und Autonomie des Ich – wir wissen nicht wie, und für wen – an sich gültig machen will; da sie doch nur für das Ich selbst gelten soll. Das Ich ist, was es ist, und weil es ist, für das Ich. Ueber diesen Satz hinaus kann unsre Erkenntniß nicht gehen. (AR, GA I,2, 56-57)75
Indem Fichte das Verhältnis von analytischer Einheit der Apperzeption, d. h. der Vorstellung der Identität des Bewusstseins, und synthetischer Einheit der Apperzeption, d. h. der Verbindung der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen in einem Bewusstsein, umkehrt,76 75 Hierzu Rohs: „ […] dass nach Fichte das Spezifische von Subjektivität auf der Art des Prozesses beruht, den sie darstellt, und dass Subjekte Entitäten sind, die nur in solchen Prozessen und zufolge von ihnen bestehen können. Die Meinung, dass dies widerspruchsvoll ist, ist unbegründet. Gegen die FichteDeutung Henrichs, die Fichtes ‚ursprüngliche Einsicht‘ vornehmlich in der Entdeckung des Problems des Selbstbewusstseins sieht, möchte ich aber betonen, dass die Veranlassung zu dieser Konzeption nicht darin liegt, dass die Möglichkeit des Selbstbewusstseins zum Problem geworden war, sondern darin, dass von Schulze-Aenesidemus und anderen die Frage nach dem Status des ‚Gemütes‘, in dem nach Kant die apriorischen Formen bereitliegen sollen, gestellt worden war. Diese Frage bedurfte einer Antwort, und diese Antwort musste so beschaffen sein, dass sie mit der üblichen Theorie kompatibel war und nicht das Ergebnis nach sich zog, eine theoretische Erkenntnis dieses ‚Gemütes‘ sei gerade nach der vorgelegten gar nicht möglich, weil z. B. die Kategorien gar nicht auf es angewandt werden könnten. In diesem Problembereich liegt, was zu der Konzeption des ‚Sich-Setzens‘ geführt hat. Sie ist keineswegs durch die mit der reflexiven Struktur des Selbstbewusstseins als solcher verbundenen Probleme veranlasst wurden.“ (Rohs, Fichte, S. 156.) Vgl. dazu auch Klotz, Christian, „Reines Selbstbewusstsein und Reflexion in Fichtes Grundlegung der Wissenschaftslehre (1794 – 1800)“, in: Fichte-Studien 7 (1995), S. 27-48, hier: S. 33. 76 Hierzu der späte Fichte: „Wir sind in dem vorhergehenden gekommen auf den Grund der Apperception. d.i. das Bewußtseyn, selbstbewußtseyn in allem Wissen. Kant: Einheit, u. Deduktionsgrund aller Denkgesetze, Kategorien. muß Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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transformiert sich diese Einheit: Das absolute Ich ist kein Resultat der Synthesis des Mannigfaltigen, sondern als ein unmittelbar Gewisses dessen Deduktionsgrund. So tritt nun die Frage nach der Verfasstheit des Ichs in den Fokus. Insofern das Ich als SelbstbewusstSein aufzufassen ist, fallen Setzen und Sein im Ich zusammen: Fichte geht es hierbei um die Einheit von Grund und Gehalt. Im Sich-selbstSetzen bringt das Ich als Grund sich selbst als Inhalt des Setzens hervor. Nach Fichte ist das Ich, das sich selbst setzt, nun durch (Grund seiner selbst) und für sich selbst (Selbstbewusstsein). Die Einheit von Selbstbegründung und Selbstbewusstsein impliziert hierbei eine Vermittlungsstruktur. Fichte sagt nun aber, dass das Sein des Ichs schlechthin und damit voraussetzungslos, also unmittelbar ist. Wenn er das Ich als reine und damit unvermittelte, begriffslose Tätigkeit ausweist, dann kann Fichte nicht einsichtig machen, wie das Ich als absolutes Ich für und durch sich selbst gesetzt ist. Die Spannung von absolutem Ich als relationsloser Einheit und Selbstbewusstsein als mit sich selbst vermittelter Struktur zeigt sich so in der Gegenüberstellung der Sätze „Ich bin“ und „Ich bin Ich“: Während der Satz „Ich bin“ das Ich als bloßes Sein im Sinne einer reinen Tätigkeit behauptet, expliziert der Satz „Ich bin Ich“ demgegenüber die Identifikation des Ichs mit sich selbst und damit eine Reflexionsstruktur. Der Begriff der Reflexion umfasst dabei drei Bedeutungen: Strukturell meint Reflexion eine Selbstbeziehung, epistemisch begriffliches Denken, optisch Spiegelung.77 Das absolute Ich als Sich-Setzen erfüllt nun den heißen: alle Denkgesetze und alles nach ihnen zustande gekommene Denken sind jene Apperception selbst, nur weiter bestimmt, durch besondere Fälle der Anwendung. Dies ist nun die grosse, das Wissen eigentl. neu schaffende Behauptung Kants: die bei ihm freilich nur Ahnung geblieben, Genieblick, ohne daß er sie klar dargelegt, oder bewahrheitet […] die synthetische Einheit der Apperception [ist] bloß Nachbild der analytischen. Nun könnte es seyn, daß grade dieses Nachbild, dieses Bewußtseyn der ursprünglichen Identität bedingt wäre durch die materiale Einheit des Mannigfaltigen im Bilde, die Geschlossenheit…“ (ULP, GA II,14, 244-245) Es soll hier die These vertreten werden, dass sich diese Umkehrung bereits beim frühen Fichte findet. 77 Dieser Aspekt tritt erst in der WL nova methodo hervor, insofern Fichte das Ich hier als einen sich selbst abspiegelnden Spiegel kennzeichnet. (Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 49; WLnm-K, GA IV,3, 366) Der Terminus Reflexion entstammt der Optik, weshalb dieser mit der Metapher des Spiegels verbunden bleibt. In den philosophischen Sprachgebrauch findet der Reflexionsbegriff unter Bezug auf Descartes durch John Locke Eingang. Die Vorgeschichte des philosophischen Begriffs der Reflexion reicht dabei bis zu Platon und Aristoteles zurück. Zur Genese des Reflexionsbegriffs vgl. Zahn, Lothar, „Reflexion“, in: Historisches Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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ersten Bedeutungsaspekt, insofern es die Struktur der Selbstbeziehung aufweist, was im Reflexivpronomen sich zum Ausdruck gebracht wird. Die Reflexionsform kann hier aber nicht einlösen, was sie verspricht: Beim absoluten Ich handelt es sich um eine unbestimmte Tätigkeit (Tathandlung), die gerade nicht als Denken verstanden werden darf. Denken als begriffliche Aktivität gewährt Bestimmtheit, indem es durch die Zuschreibung von Prädikaten etwas gegen ein anderes abgrenzt, auf das diese nicht zutreffen. Der erste Grundsatz als Ausdruck des Unbedingten holt die Tathandlung, die ihm vorausliegt, so nicht ein. Als Satz drückt er mehr aus, als er auszudrücken vermag, insofern sich die Tathandlung der Wissenschaftslehre als System von Sätzen entzieht. Die Unbestimmtheit des absoluten Ichs kann sich so nicht als Wissensstruktur stabilisieren, insofern Wissen nur über die Vermittlung des Begriffs möglich ist.78 Das absolute Ich des § 1 ist nicht für sich, es weiß nicht von sich, da es sich nicht objektiv wird. Da das Ich nicht auf sich selbst zurückkommt, sich als ein mit sich Identisches sich nicht von sich selbst unterscheidet, läuft seine absolute Produktivität ins Leere. Das Sein des Ichs soll Selbstbewusst-Sein sein, diese Bestimmung kann es aber nicht einlösen, insofern es reine Tätigkeit, Tätig-Sein ist. Wie kann das Ich als Wissensstruktur konzipiert werden, ohne dessen Produktivität zu suspendieren? Dieses Problem wird Fichte in § 5 der Grundlage zu lösen versuchen. Es stellt sich hierbei die Frage, ob nicht doch eine interne Struktur des Selbstbewusstseins unabhängig von der Bestimmung des Ichs gegen das Wörterbuch der Philosophie, Band 8: R – Sc, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Basel, 1992, Sp. 396-405. 78 Hierzu auch Christian Klotz: „Um sich in Übereinstimmung mit dem angenommenen Status von ‚Ich bin‘ als Grundsatz allen Wissens zu halten, müsste das in ihm ausgedrückte Fürsichsein des Subjekts als unabhängig von aller Reflexion und deren Bedingungen beschrieben werden können – es soll keine durch Prädikatgebrauch ermöglichte Selbsterkenntnis des Subjekts oder wesentlich an eine solche gebunden sein, und soll doch eine Gewissheit des Subjekts in Bezug auf sich als etwas, nämlich als Tathandlung sein. Wäre ein solches Ichbewusstsein unmöglich, so müsste Fichtes Darstellung von ‚Ich bin‘ als ‚in sich‘ gewisses Urteil dem Verdacht unterzogen werden, ‚transzendent‘ und somit unkritisch zu sein – sie würde eine Selbstgewissheit des Subjekts behaupten, die für kein Subjekt möglich ist. ‚Absolutes Subjekt‘ wäre ein Subjekt ‚für sich‘ nur, wenn es über eine Selbstgewissheit verfügte, die als solche nicht verständlich ist – womit die Wendung ‚für sich‘ unter eine Bedingung gestellt wäre, die sie jeder antidogmatischen Kraft beraubt.“ (Klotz, Reines Selbstbewusstsein und Reflexion, S. 34.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
§ 1: Das absolute Ich als Selbstbewusstsein
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Nicht-Ich angenommen werden muss, auch wenn dieses in § 1 bloß als Ermöglichungsbedingung des Selbstbewusstseins im starken Sinn, d. h. von wirklichem Selbstbewusstsein, interpretiert werden muss. So müsste auch das abstrakte Selbstbewusstsein eine interne Struktur aufweisen, wenn es als Bedingung von wirklichem Selbstbewusstsein fungieren soll.79 Während auf der Seite des Ich-Prinzips das Problem besteht, dass die absolute Subjektivität als unbegriffliche Tätigkeit kein Wissen von sich selbst erlangen kann, so stellt sich auch auf der Seite des Philosophen die Frage, wie diese unbegriffliche Tätigkeit zu erfassen ist. Fichte blendet in der Grundlage die intellektuelle Anschauung aus,80 die er in den vorausgehenden Schriften Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie (1793/94) und der Aenesidemus-Rezension vom Februar 1794 erwähnt. Für das Fehlen der intellektuellen Anschauung in der Grundlage werden in der Forschung dabei folgende Gründe in Betracht gezogen: Zum Ersten könnte Fichte der kantischen Kritik an der intellektuellen Anschauung zu entsprechen versuchen.81 Zum Zweiten könnte aber auch die noch unausgereifte Konzeption der intellektuellen Anschauung deren Fehlen in der Grundlage erklären.82 Zum Dritten wäre denkbar, dass Fichte mit der abstrahierenden Reflexion im Ausgang vom Satz der Identität „A = A“ eine intersubjektiv nachvollziehbare Methode an den Anfang der Grundlage stellen wollte.83 Als weitere mögliche Gründe für das Ausblenden der intellektuellen Anschauung in der Grundlage werden Fichtes Ablehnung einer festen Terminologie, die in der Grundlage entfaltete Dialektik sowie der Status der Grundlage als bloßer Grundlagentheorie angeführt. Insofern Fichte die intellektuelle Anschauung aber bereits vor der Grundlage in der Aenesidemus-Rezen 79 Hierfür spricht die Einführung der Formel des Sich-Setzens als sich setzend in § 5 und die Neukonzeption des Ich-Prinzips in der WL nova methodo. Vgl. dazu die Kapitel III.5 und IV.2. 80 Fichte verweist allerdings auf die intellektuelle Anschauung in der Vorrede der Grundlage. (Vgl. GWL, GA I,2, 253) Zudem besteht ein Zusammenhang zwischen produktiver Einbildungskraft und intellektueller Anschauung. So bestimmt Fichte die produktive Einbildungskraft als Anschauen (vgl. GWL,GA I,2, 371) und als adäquates Medium, die Wissenschaftslehre aufzufassen (vgl. GWL, GA I,2, 415). 81 Vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 165. 82 Vgl. Mittmann, Das Prinzip der Selbstgewissheit, S. 197-198. 83 Vgl. Schäfer, Johann Gottlieb Fichtes „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, S. 33-34. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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sion erwähnt, scheint Kants Verdikt keine plausible Erklärung für das Fehlen der intellektuellen Anschauung in der Grundlage abzugeben. Fichte geht es so in den Eingangsparagraphen der Grundlage vielmehr um eine Ausführung der Verhältnisbestimmung von Wissenschaftslehre und Logik, wie er sie in der Begriffsschrift entwirft. Die Tathandlung ist Fichte zufolge dabei als das bestimmt, was notwendig hinzugedacht werden muss. Zum einen stellt sich nun die Frage, wie das absolute Ich als Tathandlung hinzugedacht werden kann, wenn es doch als ein Prädikatloses undenkbar ist. Fichtes Argumentation in § 1 mündet zum anderen in einen infiniten Regress, da das objektivierte Ich die Annahme eines Subjekts notwendig macht, welches aber auch nur als Objekt gedacht werden kann und so die Voraussetzung eines weiteren Subjekts erfordert. Fichte setzt sich dann im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre und in der WL nova methodo mit dem Problem des Bewusstseinsregresses auseinander. Hier findet sich die Bestimmung des Ichs als Subjekt-Objekt.84 Die Kennzeichnung des reinen Ichs als „absolutes Subjekt“ offenbart so die Einseitigkeit der Ich-Konzeption in § 1 der Grundlage, da hier, insofern das gedachte Selbstbewusstsein selbst kein Bewusstsein darstellt, ein Hiatus zwischen dem Selbstbewusstsein des reinen Ichs und dem Selbstbewusstsein des Philoso 84 Mit der Frage nach dem Zugang zum Grundprinzip setzt sich Fichte in der WL nova methodo kritisch auseinander. Hier heißt es: „Das Ich ist gar nicht Subject, sondern Subject=Object; sollte es bloß Subject sein, so fällt man in die Unbegreiflichkeit des Bewustseins, soll es bloß Object sein, so wird man getrieben, ein Subject auser ihm zu suchen, das man nie finden wird.“ (WLnm-K, GA IV,3, 346) Die Bezeichnung Subjekt-Objekt findet sich erstmals in der Schrift Vergleichung des von Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre (1796). Hier schreibt Fichte: „In dieser absoluten Identität des Subjects und Objects besteht die Ichheit: Ich ist dasjenige, was nicht Subject seyn kann, ohne in demselben ungetheilten Acte Object, und nicht Object seyn kann, ohne in demselben ungetheilten Acte Subject zu seyn; und umgekehrt, was so ist, ist Ich: beide Ausdrücke sagen bestimmt dasselbe. Aus dieser Identität nun, und aus ihr allein, so dass man nicht das mindeste weiter hinzusetzen braucht, geht die ganze Philosophie hervor; durch sie wird die Frage vom Bande des Subjects und Objects auf einmal für immer beantwortet, indem sich zeigt, dass sie gleich ursprünglich in der Ichheit verbunden sind. Durch sie wird der kritische Idealismus gleich zu Anfange aufgestellt, die Identität der Idealität und Realität; der kein Idealismus ist, nach welchem das Ich nur als Subject, und kein Dogmatismus, nach welchem es nur als Object betrachtet wird.“ (V, GA I,3, 253) Fichte versucht in einer Fußnote der dritten Auflage der Grundlage von 1802 eine nachträgliche Angleichung, wenn er das Sein-Setzen als Subjekt-Objekt kennzeichnet. (Vgl. GWL, GA I,2, 261) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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phen besteht. Der Zusammenhang von Für-sich-Sein des absoluten Ichs und Für-mich-Sein des Philosophen bleibt so im Dunkeln, was sich darin zeigt, dass Fichte einfach von diesem zu jenem ohne Erklärung übergeht. (Vgl. GWL, GA I,2, 260) So hat sich in Fichtes Entwurf eines absoluten Ichs in § 1 eben jene Transzendenz eingeschlichen, die Schulze an Kants Subjektivitätskonzeption kritisiert und welche durch die Bestimmung des absoluten Ichs als Für-sich-Sein abgewehrt werden sollte. Für Hölderlin besteht nun ein Zusammenhang zwischen der Immanenz des absoluten Ichs als omnitudo realitas und dessen Transzendenz. Immanenz meint hierbei nun nicht, wie in Fichtes Argumentation gegen Spinoza, dass im Bezug auf Objekte nicht vom Ich abstrahiert werden könne, sondern dass es keinen Bezug auf ein vom Ich externes Objekt gibt, insofern das Ich alle Realität enthält. Insofern das absolute Ich alle Realität enthalte, könne es nicht in Bezug zu einem differenten Objekt stehen, und damit auch für sich selbst kein Objekt sein. Selbstbewusstsein sei nun aber nur durch Selbstverobjektivierung möglich. Hölderlin wirft Fichte so vor, dass das absolute Ich kein Selbstbewusstsein sei, da es für sich kein Objekt sein könne: Anfangs hatt’ ich ihn [Fichte, S.D.] ser im Verdacht des Dogmatismus; er scheint, wenn ich mutmaßen darf auch wirklich auf dem Scheidewege gestanden zu seyn, oder noch zu stehn – er möchte über das Factum des Bewußtseins in der Theorie hinaus, das zeigen ser viele seiner Äußerungen, und das ist eben so gewis, und noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Dasein der Welt hinaus wollten – sein absolutes Ich ( = Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles, u. außer ihm ist nichts; es giebt also für dieses abs. Ich kein Object, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Object ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Object bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit seyn, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich hab ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) nichts.85 85 Hölderlin, Friedrich, Brief an Hegel vom 26.01.1795, in: Große Stuttgarter Ausgabe, IV, 1, hg. v. Friedrich Beissner, Adolf Beck, Stuttgart, 1943-1985, S. 155. Der Vorwurf, das absolute Ich sei ein dem Bewusstsein Transzendentes, wird Fichte dazu bewegen, in der WL nova methodo auf die intellektuelle Anschauung zurückzugreifen. Diese bezieht sich hier sowohl auf das Ich-Prinzip selbst als auch auf die Methode, dieses im Bewusstsein nachzuweisen, wodurch der BeSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Dass Fichte das absolute Ich im ersten Grundsatz als Für-sich-Sein kennzeichnet, obgleich dasselbe keine interne Struktur aufweist, macht das Problem, mit welchem seine Grundsatzkonzeption konfrontiert ist, deutlich: Zum einen soll die Philosophie mit einem Voraussetzungslosen und daher Unbestimmten einsetzen, zum anderen soll dieses Unbestimmte als reines Selbstbewusstsein, als „Förmlichkeit überhaupt“ (GWL, GA I,2, 265), die Einheit des empirischen Bewusstseins garantieren. Das Sich-Setzen, das nur die Selbstgleichheit des Ichs zu erklären vermag, kann nicht explizieren, wie aus dem Ich ein anderes als das Ich, d. h. das Nicht-Ich und damit das Objektbewusstsein, hervorgehen soll.
2) § 2: Die Entgegensetzung des Nicht-Ichs Fichte gewinnt den zweiten Grundsatz in Analogie zur Verfahrensweise des ersten Grundsatzes im Ausgang vom logischen Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch „A nicht = – A“, welcher von Aristoteles als sicherstes unter allen Prinzipien verstanden wurde, d. h. als Prinzip aller anderen Axiome, das selbstevident und unbegründbar sei. Für Fichte ist demgegenüber der Satz vom Widerspruch zum einen nicht erstes, sondern zweites logisches Prinzip, zum anderen bedarf er wie alle logischen Sätze der Begründung in einer transzendentalen Handlung des Ichs. Der Satz vom Widerspruch fungiert dabei nicht primär als aussagenlogisches Prinzip, sondern ist vielmehr Ausdruck der transzendentalen Handlung des Entgegensetzens. Dieser hat Fichte zufolge den Satz der Identität zu seiner Voraussetzung: So ist im Satz vom Widerspruch sowohl A mit A als auch – A mit – A identisch. Des Weiteren setzt die Negation – A die Position A voraus. Für Fichte steht so der Satz vom Widerspruch unter der Einheit des Bewusstseins als höchster Form, „Förmlichkeit überhaupt“. Auch bei Kant ist das mit sich selbst identische Ich Voraussetzung der Bildung der Kategorien. Die Negation bezieht sich nun zwar auf eine Position, sie ist aber nicht aus dieser ableitbar, da aus „A = A“ nur „– A = – A“ abgeleitet werden kann, nicht aber die Negation der Relation selbst „A nicht = – A“. Es handelt sich beim zweiten griff der Immanenz eine Umdeutung erfährt. Die Tathandlung ist nun bestimmt als Postulat, welches „nichts anderes heißen [soll], als man soll innerlich handeln, und diesem Handeln zusehen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 344) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
§ 2: Die Entgegensetzung des Nicht-Ichs
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Grundsatz so in gewisser Weise um einen zweiten Anfang gegenüber § 1. Während im ersten Grundsatz sowohl Form (Sich-Setzen qua Identität) als auch Gehalt (die Tätigkeit als solche) unbedingt, da unableitbar sind, ist im zweiten Grundsatz die Form unbedingt, so stellt das Entgegensetzen eine gegenüber dem Setzen fundamental neue Leistung des Ichs dar, der Gehalt aber bedingt, insofern das Entgegensetzen sich auf einen vorausgehenden Setzungsakt bezieht. Der erste Grundsatz ist im Gegensatz zum zweiten und dritten Grundsatz kategorisch notwendig, zweiter und dritter Grundsatz sind hingegen nur hypothetisch notwendig. Während Fichte in § 1 das Ich als Produkt seiner Selbstsetzungstätigkeit versteht, kennzeichnet er in § 2 das Nicht-Ich als Produkt des Aktes des Entgegensetzens. Das Nicht-Ich darf dabei nicht als Ding an sich interpretiert werden, da es nicht unabhängig vom Subjekt besteht. Es handelt sich bei diesem lediglich um die Negation des Ichs, um die bloße Möglichkeit der Entgegensetzung oder Unterscheidung im Bewusstsein als einer Struktur, die durch den Gegensatz von Subjekt und Objekt, Vorstellendem und Vorgestelltem definiert ist. Fichte zufolge kann der Begriff des Nicht-Ichs so nicht durch Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen werden, wie im Empirismus behauptet, sondern dieser stellt vielmehr einen apriorischen, ursprünglichen Begriff dar, durch welchen die Möglichkeit von Erfahrung erst gewährleistet werden kann: Damit etwas, d. h. ein konkretes Objekt, erfahren werden kann, muss das Subjekt bereits den Unterschied von Subjekt und Objekt gesetzt haben. Das Nicht-Ich hat in § 2 dabei noch keine Realität, es ist vielmehr eine bloße Negation, ein „Nichts“ (vgl. GWL, GA I,2, 271), also ein leerer Begriff, der erst durch die Ableitung von Vorstellung und Ding im theoretischen Teil der Grundlage gefüllt wird. Durch das Verfahren der doppelten Abstraktion leitet Fichte nun vom zweiten Grundsatz „Ich nicht = Nicht-Ich“ in einem ersten Schritt durch Abstraktion vom Gehalt des Grundsatzes den logischen Satz vom Widerspruch, in einem zweiten Schritt durch die Abstraktion von der Form des Urteils die Kategorie der Negation ab. Die Berechtigung des zweiten Grundsatzes wird nun bereits durch Hegel in Frage gestellt, welcher kritisiert, dass Fichte keine immanente Deduktion des Nicht-Ichs leiste. So heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in Bezug auf Fichtes zweiten Grundsatz: „Der Satz ist unabhängig danach – das Nicht-Ich, als Inhalt, vom Ich –, oder umgekehrt durch die Form der EntgegensetSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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zung, die nicht aus dem Ersten abgeleitet werden kann; hier ist’s denn schon mit dem Ableiten aus.“ (GdPh, TWA 20, 396) Auch Vittorio Hösle bemängelt, dass die Entgegensetzung des Nicht-Ichs in Widerspruch zum Ausgang vom Ich als absolutem Prinzip stehe, da dessen Absolutheit hierin ja gerade in Frage gestellt werde.86 Gegen die Forderung einer immanenten Deduktion könnte man nun einwenden, dass es sich beim absoluten Ich lediglich um das Moment der Identität im Selbstbewusstsein handelt, dass also die transzendentale Struktur von Bewusstsein erst durch die drei Grundsätze expliziert wird, insofern das absolute Ich nicht das ganze Prinzip der Wissenschaftslehre darstellt. Zudem könnte man argumentieren, dass die Absolutheit des ersten Grundsatzes nicht durch den zweiten und dritten Grundsatz in Frage gestellt wird, da sowohl zweiter als auch dritter Grundsatz zum Teil durch den ersten Grundsatz bedingt sind (der zweite Grundsatz dem Gehalt/der dritte Grundsatz der Form nach), welcher insofern eine Sonderstellung im Gefüge der drei Grundsätze einnimmt, als er sowohl der Form als auch dem Gehalt nach unbedingt ist. In welcher Hinsicht könnte die Einführung des Nicht-Ichs im zweiten Grundsatz nun aber dennoch als problematisch betrachtet werden? Inwiefern könnte eine immanente Deduktion des Nicht-Ichs von Vorteil sein? 1) Die Entgegensetzung des Nicht-Ichs ist zwar auch auf einen Setzungsakt des Ichs zurückzuführen („Das Entgegengeseztseyn überhaupt ist schlechthin durch das Ich gesezt.“ (GWL, GA I,2, 266)), es bleibt hierin aber unklar, ob es sich um das Ich des Philosophen oder doch um das absolute Ich handelt, welches das Nicht-Ich setzt. Fichte müsste ja gerade zeigen können, will er seiner eigenen Forderung nach einer Einheit des Bewusstseins Genüge leisten, dass Setzen und Entgegensetzen demselben Ich zugeschrieben werden können, weswegen das das Entgegensetzen Setzende das absolute Ich sein müsste. So heißt es: Aber selbst die Möglichkeit des Gegensetzens an sich sezt die Identität des Bewustseyns voraus […] Diesem A als Objekte der Reflexion, wird durch eine absolute Handlung entgegengesezt -A, und von diesem wird geurtheilt, daß es auch dem schlechthin gesezten A entgegengesezt sey, weil das erstere dem leztern gleich ist; welche Gleichheit sich (§.1.) auf 86 Vgl. Hösle, Hegels System, S.42. Zudem habe Fichte nicht gezeigt, dass das Ich das einzige reflexive Prinzip sei. Ein anderes mögliches reflexives Prinzip wäre Intersubjektivität. (Vgl. ebd., S. 40-41.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
§ 2: Die Entgegensetzung des Nicht-Ichs
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die Identität des setzenden, und des reflektirenden Ich gründet, – Ferner wird vorausgesezt, daß das in beiden Handlungen handelnde, und über beide urtheilende Ich das gleiche sey. Könnte dieses selbst in beiden Handlungen sich entgegengesezt seyn, so würde -A seyn = A. Mithin ist auch der Uebergang vom Setzen zum Entgegensetzen nur durch die Identität des Ich möglich. (GWL, GA I,2, 265)
2) Soll die Ableitung des Nicht-Ichs aus dem absoluten Ich vollzogen werden, dann stellt sich allerdings die Frage, wie sich die unterschiedslose Einheit des absoluten Ichs ein Nicht-Ich entgegensetzen kann und damit einen Unterschied generiert. 3) Das Entgegensetzen ist seiner Form nach eine bloß mögliche, aber keine notwendige Handlung. (Vgl. GWL, GA I,2, 266) Für die Explikation von Bewusstsein ist die Setzung des Nicht-Ichs aber eine notwendige Bedingung. 4) Die Ableitung des Nicht-Ichs wird nicht aus dem absoluten Ich gezeigt und bleibt damit nur äußerlich. Das Entgegensetzen wird quasi als eigenständiger Akt neben dem Setzen des Ichs im Bewusstsein gefunden. Insofern das absolute Ich als reine Selbstbestimmung zu charakterisieren ist, müsste die Ableitung des Nicht-Ichs aber immanent sein. Es müsste gezeigt werden können, inwiefern auch die Form des Entgegensetzens aus der Form des Setzens generiert werden kann. Insofern es sich bei der Setzung des absoluten Ichs in § 1, der Entgegensetzung des Nicht-Ichs in § 2 und der Teilbarsetzung von Ich und Nicht-Ich in § 3 um die transzendentale Grundstruktur von Bewusstsein handelt, würde eine immanente Ableitung der Form des Nicht-Ichs aus der Selbstbestimmung des Ichs auch nicht dem Vorwurf anheimfallen, dass hierdurch einem radikalen Konstruktivismus Vorschub geleistet werde, da sich das Nicht-Ich qua Unterschied zum Ich nur auf die Möglichkeit, ein Objekt zu denken, nicht aber auf die Produktion des empirischen Objekts bezieht. Dies wäre nur der Fall, wenn das absolute Ich als konkretes empirisches Ich und das Nicht-Ich als empirische Realität missverstanden werden würden. 5) Als omnitudo realitas müsste das absolute Ich bereits den Unterschied des Nicht-Ichs enthalten, da Fichte das Nicht-Ich in § 3 und dann im theoretischen Teil der Grundlage als Realität bestimmt. (Vgl. GWL, GA I,2, 271; GWL, GA I,2, 291-294)
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3) § 3: Die Teilbarkeit von Ich und Nicht-Ich als Bewusstseinsmodell In § 3 entwickelt Fichte die Grundstruktur von Bewusstsein und damit auch die Struktur von endlichem Selbstbewusstsein. Zunächst legt er in einem ersten Schritt den aus den beiden vorhergehenden Grundsätzen resultierenden Widerspruch dar, welchen er in einem zweiten Schritt durch das Modell der Teilbarkeit von Ich und Nicht-Ich auflöst. In einem dritten Schritt beschreibt Fichte dann das sich aus der Konzeption der Teilbarkeit ergebende Bewusstseinsmodell und rechtfertigt die Lösung des Widerspruchs. In einem vierten Schritt expliziert er die logische Struktur des dritten Grundsatzes durch den Satz des Grundes sowie das antithetisch-synthetische Verfahren als Methode der Grundlage. Außerdem entwickelt Fichte hier eine Urteilstheorie und geht abschließend auf das Verhältnis der Wissenschaftslehre als Kritizismus zum Dogmatismus ein. 1) Der Widerspruch von absolutem Ich und Nicht-Ich Fichte leitet die Aufgabe von § 3 durch eine Deduktion im Sinne einer Analyse ab, d. h., er legt die in den ersten beiden Grundsätzen inhärenten Folgerungen frei. Fichte führt dabei zwei Teilwidersprüche an: Teilwiderspruch 1 Der zweite Grundsatz hebt sich auf und hebt sich nicht auf: Der zweite Grundsatz hebt sich auf, da das Nicht-Ich als Negation des Ichs das Ich zum einen aufhebt und zum anderen das Nicht-Ich das Ich gerade nicht aufhebt, da das Nicht-Ich im Ich gesetzt ist und dieses damit voraussetzt. Ich und Nicht-Ich sind im Ich als identischem Bewusstsein gesetzt. Wenn Fichte das Ich hierbei als Raum versteht, in welchem Ich und Nicht-Ich gesetzt sind, nimmt er die Konzeption der Teilbarkeit, die er als Lösung des Widerspruchs präsentieren wird, bereits vorweg. Hieraus resultiert eine paradoxe Konsequenz: Der zweite Grundsatz hebt sich nur auf, insofern er Gültigkeit hat, da die Kategorie der Aufhebung oder Negation im zweiten Grundsatz abgeleitet wird. Wenn er sich selbst aufhebt, hat er aber keine Gültigkeit. Die selbstreflexive Anwendung des zweiten Grundsatzes führt so in einen Widerspruch, da die Negation, die sich selbst negiert und damit zur Position wird, sich hierin gerade als Negation bestätigt. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Der zweite Grundsatz bestätigt sich also in Bezug auf den Vollzug der Handlung des Aufhebens, in Bezug auf die Aufhebung als deren Resultat bestätigt er sich aber nicht. Bei Fichte hat Aufheben dabei die Bedeutung von Negieren, während Hegel den Begriff dann im Rahmen seiner spekulativen Dialektik in der dreifachen Bedeutung von Bewahren, Negieren und Erheben (conservare, negare und elevare) verwendet. Teilwiderspruch 2 Auch der erste Grundsatz hebt sich nun auf und hebt sich auch nicht auf. Gilt „Ich = Ich“, dann gilt alles, was im Ich gesetzt ist (im Ich ist alle Realität) und demnach auch das Nicht-Ich als Negation des Ichs. Der zweite Grundsatz führt dabei zur Negation des ersten Grundsatzes, d. h., der erste Grundsatz hebt sich auf, zugleich ist der erste Grundsatz aber Bedingung des zweiten Grundsatzes, d. h., der erste Grundsatz hebt sich nicht auf. 2) Die Auflösung des Widerspruchs Fichte zufolge muss nun der Widerspruch von absolutem Ich und Nicht-Ich gelöst werden, da ansonsten die Forderung nach einer Identität des Bewusstseins als „absolute[m] Fundament unsers Wissens“ (GWL, GA I,2, 269) nicht aufrechterhalten werden könnte. Da aber ein mit sich identisches Bewusstsein vorliegt, weil sonst so etwas wie Selbstbewusstsein (als Vorstellung der Identität des Selbst in einer Aufeinanderfolge differenter Erfahrungen) gar nicht möglich wäre, muss das von Fichte als X Bezeichnete als Lösung des Widerspruchs bereits im Bewusstsein als solchem enthalten sein. Fichte kennzeichnet X dabei als Bedingung der Handlung des Entgegensetzens, wie Ich und Nicht-Ich sei X Produkt einer ursprünglichen Handlung des Ichs, welche Fichte als Y bezeichnet. Insofern die Handlung Y als notwendige Handlung des Geistes gefunden (und nicht erfunden) werden soll, muss der Philosoph hierfür ein Experiment durchführen, wobei Fichte ein Gedankenexperiment meint: Die Opponenten A und – A, Sein und Nicht-Sein, Realität und Negation sollen zusammengedacht werden, ohne dass sie sich hierin wechselseitig aufheben. Fichte charakterisiert nun die Handlung Y als Einschränken Entgegengesetzter, das gesuchte X als Schranken. Der Begriff der Schranken ist für Fichte hierbei kein analytischer Begriff, insofern die Art der Vereinigung von erstem und drittem Grundsatz durch die Synthese im dritten Grundsatz nicht in diesen Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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enthalten ist. Der Begriff der Schranken umfasst nun die Kategorien von Realität und Negation, die Handlung des Einschränkens ist Fichte zufolge so ein teilweises Aufheben von Realität durch Negation. Der zuvor aufgestellte Widerspruch wird also durch die Teilbarsetzung von Ich und Nicht-Ich gelöst. Fichte identifiziert dabei Entgegensetzen und Teilbarsetzen, da, würde das Entgegensetzen dem Teilbarsetzen vorhergehen, sich das Entgegensetzen selbst aufheben würde. Das Entgegensetzen kann aber auch nicht auf das Teilbarsetzen folgen, da der zu lösende Widerspruch ja erst mit dem Entgegensetzen von Ich und Nicht-Ich entsteht und demnach gar kein Widerspruch bestehen und damit für die Handlung des Teilbarsetzens auch kein Teilbares gegeben sein würde. 3) Die Exposition der Bewusstseinsstruktur Stellte sich in § 1 die Frage, um was für eine Art von Selbstbewusstsein es sich beim absoluten Ich handelt, so muss diese Frage nun auch in Bezug auf das teilbare Ich in § 3 gestellt werden. Fichte depotenziert so das absolute Ich in § 3 zu einem teilbaren, endlichen Ich, welches durch den Gegensatz zum Nicht-Ich bestimmt ist, wobei das Nicht-Ich die Realität des Ichs zum Teil negiert und umgekehrt. Ich und Nicht-Ich sind nun, insofern sie gegeneinander bestimmt sind, etwas. Fichte unterscheidet dabei drei Stufen von Bestimmtheit: a) Das absolute Ich an sich ist insofern unbestimmt und unbestimmbar, als ihm nichts entgegengesetzt ist. Es umfasst als omnitudo realitas alle Realität, da es als Sich-Setzen die Kategorie der Realität als solche generiert. b) Das absolute Ich als Vorgestelltes, d. h. als begriffliche Vorstellung des Philosophen, ist bereits bestimmt durch den ganz abstrakten Gegensatz von absolutem Ich und Nicht-Ich als Nichts, d. h. als purer oder reiner Negativität. Das Nicht-Ich stellt als bloße Negation, d. h. als Abwesenheit von Tätigkeit, genau wie das absolute Ich eine reine Unbestimmtheit dar. So ist das Nicht-Ich hier keine Größe, kein etwas, insofern absolutes Ich und Nicht-Ich als Unbestimmtheit eigentlich identisch sind. c) Das teilbare Ich, dem ein teilbares Nicht-Ich entgegengesetzt ist. Das Nicht-Ich ist hier genau wie das Ich selbst etwas, eine negative Größe und damit selbst Positivität. Das teilbare Ich hat nun, insofern es als etwas bestimmt ist, eine prädikative Bestimmung, wähSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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rend das absolute Ich kein Prädikat hat und auch kein Prädikat haben kann. Das absolute Ich ist als unmittelbare Gewissheit eine reine Unbestimmtheit, eine bloße Unmittelbarkeit. Fichte expliziert in der Grundlage nicht den Modus dieser Unmittelbarkeit als Anschauung. Aufgrund des Charakters der Unmittelbarkeit könnte das absolute Ich aber als intellektuelle Anschauung, als Selbstanschauung verstanden werden. Erst das teilbare Ich ist nun ein prädikativ, d. h. begrifflich, bestimmtes Ich, d. h. das Ich im Sinne eines begrifflichen Selbstverhältnisses, einer Reflexion. Insofern Fichte aber nicht zeigt, dass das teilbare Ich sich selbst als solches bestimmt, ist es problematisch, das Ich hier als reflektierendes Ich zu verstehen. Die Teilbarsetzung von Ich und Nicht-Ich als Bestimmung wird so durch das absolute Ich als Setzendes initiiert. Die Lösung des aus den ersten beiden Grundsätzen resultierenden Widerspruchs besteht in einer Aufteilung der Ansprüche von Ich und Nicht-Ich, die Formel für die drei Grundsätze lautet so: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen.“ (GWL, GA I,2, 272) Durch eine doppelte Abstraktion leitet Fichte dabei von den Grundsätzen der Wissenschaftslehre in einem ersten Schritt die logischen Sätze der Identität, des ausgeschlossenen Widerspruchs und des zureichenden Grundes, in einem zweiten Schritt die kantischen Kategorien der Qualität Realität, Negation und Limitation ab. Insofern das absolute Ich unbestimmbar ist, fällt es aus der Teilbarkeitssynthese heraus: Das Ich wird selbst in einen niedern Begriff, den der Theilbarkeit, herabgesezt, damit es dem Nicht-Ich gleich gesezt werden könne; und in demselben Begriffe wird es ihm auch entgegengesezt. Hier ist also gar kein Heraufsteigen, wie sonst bei jeder Synthesis, sondern ein Herabsteigen. Ich und Nicht-Ich, so wie sie durch den Begriff der gegenseitigen Einschränkbarkeit gleich und entgegensezt werden, sind selbst beide etwas (Accidenzen) im Ich, als theilbarer Substanz; gesezt durch das Ich, als absolutes unbeschränkbares Subjekt, dem nichts gleich ist, und nichts entgegengesezt ist. (GWL, GA I,2, 279)
Aus dem Überschuss an Unbestimmtheit des absoluten Ichs resultiert hierbei ein Vermittlungsproblem: Gegen das Missverständnis einer Identifikation von absolutem Ich und teilbarer Substanz in § 3 ist vorzubringen, dass das absolute Ich nicht den Raum der Grundsynthese aus teilbarem Ich und teilbarem Nicht-Ich bildet, sondern Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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außerhalb der Grundsynthese steht und somit vom Substanz-Ich als Teilbarkeitsraum zu unterscheiden ist.87 Es gilt so die Teilbarkeitsstruktur in § 3 als Ausdruck einer bloß äußerlichen, quantitativen Dialektik von einer echten Widerspruchsdialektik zu unterscheiden, welche die Unbestimmtheit als Unbestimmtheit zu integrieren vermag.88 Die Teilbarkeitsstruktur stellt dabei insofern eine bloß äußerliche Bestimmungsstruktur dar, als sich endliche Teilbarkeitssphäre (§ 3) und unendliches, absolutes Ich (§ 1) unvermittelt gegenüberste-
87 Fichte vertritt hier eine gegenüber der Begriffsschrift veränderte Konzeption. So heißt es in dieser noch: „Also wäre das Ich in zweyerlei Rüksicht zu betrachten; als dasjenige, in welchem das Nicht-Ich gesetzt wird; und als dasjenige, welches dem Nicht-Ich entgegengesetzt, und mithin selbst im absoluten Ich gesetzt wäre. Das letztere Ich sollte dem Nicht-Ich, in so fern beide im absoluten Ich gesetzt sind, darin gleich seyn, und es sollte ihm zugleich in eben der Rücksicht entgegengesetzt seyn.“ (BWL, GA I,2, 150) 88 In der Forschung wird Fichtes Dialektik diskutiert als 1) Vorstufe zu Hegels Dialektik (Hartkopf, Werner, „Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik“, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 21/2 (1967), S. 173-207), 2) limitative Dialektik (Janke, Wolfgang, „Limitative Dialektik. Überlegungen im Anschluss an die Methodenreflexion in Fichtes Grundlage 1794/95 § 4 (GA I,2,283-85)“, in: Fichte-Studien 1, (1990), S. 9-24), 3) Bindeglied zwischen alter und neuer Dialektik (Krämer, Felix, „Fichtes frühe Wissenschaftslehre als dialektische Erörterung“, in: Sein – Reflexion– Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, hg. v. Christoph Asmuth, Amsterdam/Philadelphia, 1997, S. 143-157) und 4) praxologische Dialektik (Hammacher, Klaus, „Fichtes praxologische Dialektik“, in: Fichte-Studien 1 (1990), S. 25-40). Zur Unterscheidung von Gegensatz- und Widerspruchsdialektik vgl. Gloy, Karen, „Fichtes Dialektiktypen“, in: FichteStudien 17 (2000), S. 103-124. Während nach Gloy der frühe Fichte eine Gegensatzdialektik entwickle, finde sich beim späten Fichte eine immanente Widerspruchsdialektik, in welcher das Unbestimmte nicht wie bei Hegel aufgehoben sei, sondern welche durch eine Paradoxie von Unbestimmtheit und Bestimmtheit zu charakterisieren sei. Hier soll die These vertreten werden, dass bereits der frühe Fichte ein Modell immanenter Widerspruchsdialektik entwickelt und zwar in der Konzeption der produktiven Einbildungskraft. Vgl. zum Bestimmungsmodell der produktiven Einbildungskraft Kapitel III.4. Zur Kritik an der Konzeption der Teilbarkeit vgl. Onnasch, Ernst-Otto, „Ich und Vernunft. Ist J. G. Fichte die Begründung seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 gelungen?“, in: Fichte-Studien 20 (2003), S. 53-66. Insofern die Kategorie der Limitation nur quantitativ und nicht qualitativ als unendlicher Selbstbezug bzw. Für-sich-Sein bestimmt sei, sei die Bestimmung des Ichs im dritten Grundsatz eine nur äußerliche, formale. (Vgl. ebd., S. 58.) Es bestehe so eine Differenz zwischen qualitativer Ich-Einheit als Prinzip und quantitativer Ich-Einheit. (Vgl. ebd., S. 63.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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hen.89 Die Vermittlungsproblematik der ersten drei Grundsätze resultiert nun aber gerade aus der Prädikatlosigkeit des absoluten Ichs, als Unbestimmtes und Unbestimmbares fällt es aus dem Bestimmungsprozess, d. h. der Verendlichung des Bewusstseins in § 3, heraus, den es allerdings als Setzendes in Gang setzt.90 In der Konzeption der produktiven Einbildungskraft in § 4 entwickelt Fichte dann ein neues Bestimmungsmodell und damit auch das Modell einer neuen Dialektik, welche gegenüber der äußerlichen Dialektik der Teilbarkeitsstruktur als immanente Dialektik gekennzeichnet werden kann. In der Konzeption der Einbildungskraft verbindet sich das Motiv des Anstoßes als Implikat des Teilbarkeitsmodells aus § 3 mit dem neuen Modell einer immanenten Selbstbestimmung. Es handelt sich also hierbei um eine noch nicht ausgereifte Konzeption, insofern sich in der Grundlage zwei verschiedene Bestimmungsmodelle überlagern.91 Ein immanenter Bestimmungsprozess ist nur möglich, wenn sich das Ich qua Unbestimmtes selbst als Unbestimmtes bestimmt und sich hierin von seiner eigenen Unbestimmtheit unterscheidet und damit Unbestimmtheit und Bestimmtheit als verschiedene Positionen gegeneinander bestimmt. Hierin wäre Unbestimmtheit aber entgegen Fichtes Behauptung aus § 3 selbst ein Prädikat. So bleibt die Differenz von Unbestimmtheit und Bestimmtheit in der Teilbarkeitssynthese in § 3 unreflektiert. Für den frühen Baumanns besteht in der Konzeption der drei Grundsätze hierbei kein Vermittlungsproblem, da das absolute Ich nicht mit dem Absoluten identifiziert werden dürfe. Dieses stelle vielmehr ein bloß relatives Absolutes dar, bei welchem es kein als oder für gebe.92 Die hegelsche Kritik treffe so nicht die Grundlage, da Fichte hier keine Metaphysik des Absoluten, 89 So unterscheidet Stolzenberg eine Logik des absoluten Bestimmens, welche die interne Struktur einer unbestimmten Bestimmtheit expliziert, vom quantitativen Modell der Teilbarkeit als einer Logik des endlichen Bestimmens. Stolzenberg sieht dabei gerade in der Prädikatlosigkeit des absoluten Ichs das Grundmoment einer Logik des absoluten Bestimmens. (Vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 171.) 90 Zu den verschiedenen Bedeutungen des absoluten Ichs in der Grundlage vgl. Baumanns, J. G. Fichte: kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie, S. 76-77. Baumanns zufolge ist das absolute Ich 1) unterschiedsfreies Sich-Setzen, 2) Identität des Bewusstseins, 3) unterschiedsaffizierende Ichheit und 4) Idee. Baumanns zufolge besteht hierbei ein Widerspruch zwischen dessen Gegensatzlosigkeit und der Entäußerung als Substanz. 91 Zum Problem des Anstoßes vgl. Kapitel III.4 und IV.2.2. 92 Vgl. Baumanns, Fichtes ursprüngliches System, S. 44. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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sondern eine ethische Anthropologie entwerfe.93 Gegen eine solche Deutung ist einzuwenden, dass Fichte zum einen das absolute Ich als Für-sich-Sein versteht, zum anderen ist hierdurch nicht die Äußerlichkeit der Bestimmung in der Teilbarkeitssynthesis gerechtfertigt. Fichte konzipiert so das absolute Ich zwar nicht als das Absolute im Sinne Gottes, sondern als Unbestimmtheitshorizont menschlicher Subjektivität. Hierin ist es allerdings kein relatives Absolutes, sondern als unhintergehbarer Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre eine radikale Unbestimmtheit, die keine Position außerhalb ihrer zulässt.94 Neben der Problematik einer Vermittlung von Unbestimmtheit und Bestimmtheit, Unendlichkeit und Endlichkeit stellt sich generell die Frage, inwiefern eine quantitative Teilbarkeitsstruktur eine angemessene Beschreibung des Bewusstseins liefern kann, insofern hier bloß aus einer externen Perspektive etwas gegen etwas bestimmt ist, diese Bestimmung dann aber nicht als Selbstbestimmung expliziert werden kann. Das Dialektikmodell von § 4 lässt sich dabei als produktive Reflexion explizieren, in welcher die Unbestimmtheitsdimension des absoluten Ichs durch die Repräsentationspartikel als qua Unbestimmtheit zum Ausdruck gebracht ist. Dies korrespondiert der Formel des Sich-Setzens als sich setzend. Im dritten Grundsatz kommt so in der Synthesis der Teilbarkeit das Problem der Äußerlichkeit von Identität und Differenz zum Ausdruck: Die Unbestimmtheit des ersten Grundsatzes und die Bestimmtheit des zweiten Grundsatzes sind nicht aufeinander zu beziehen und können nur durch einen unbedingten, auf den praktischen Teil der Grundlage vorausweisenden Machtspruch der Vernunft vereinigt werden. Der aus dem zweiten Grundsatz aufgegebene Widerspruch von Ich und Nicht-Ich, welcher aus der Absolutheit des Ichs im ersten Grundsatz resultiert, ist dabei im dritten Grundsatz durch die Handlung des Teilbarsetzens nicht wirklich gelöst, insofern das Ich zugleich absolut und endlich ist.95 So wird sich die Grundlage in einem 93 Vgl. ebd., S. 52. 94 Zur Fehlinterpretation des absoluten Ichs als Gott vgl. Gloy, Die drei Grundsätze, S. 290-293. 95 Vgl. hierzu Duso, Giuseppe, „Absolutheit und Widerspruch in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, in: Der Grundansatz der ersten Wissenschaftslehre Fichtes. Tagung des Internationalen Kooperationsorgans der FichteForschung in Neapel, April 1995, hg.v. Erich Fuchs, Ives Radrizzani, Neuried, 1996, S. 145-157. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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theoretischen und einem praktischen Teil an dem Widerspruch von Absolutheit und Endlichkeit abarbeiten, trotz der Einsicht, dass der Machtspruch der Vernunft dem Versuch einer Vermittlung von Absolutheit und Endlichkeit nur Einhalt gebieten, diesen aber nicht einer Auflösung zuführen kann. Die logischen Sätze der Identität und des ausgeschlossenen Widerspruchs sind so zwar miteinander kompatibel, sie verweisen aber auf einen fundamentalen Widerspruch in der Tiefenstruktur des Bewusstseins, der dessen Einheit zu suspendieren droht. Verfällt die theoretische Vernunft bei Kant im Rahmen der Transzendentalen Dialektik zwar in Widersprüche, ist sie anders als die Vernunft bei Fichte hierin selbst aber nicht antinomisch verfasst. Die ursprüngliche Struktur des Bewusstseins lässt sich so wie folgt beschreiben: Während der erste Grundsatz das Moment der Unbestimmtheit expliziert, d. h. das absolute Ich als reine Tätigkeit, kommt im zweiten Grundsatz das Moment der Bestimmtheit, das Nicht-Ich als Negation von Tätigkeit, zum Ausdruck. Im dritten Grundsatz entfaltet Fichte die Form einer unbestimmten Bestimmtheit oder bestimmten Unbestimmtheit in der Konzeption der Teilbarsetzung von Ich und Nicht-Ich. Das absolute Ich als Unbestimmbares wird hier zu einem endlichen Ich depotenziert, um eine Lösung des Widerspruchs von absolutem Ich und Nicht-Ich, Unbestimmtheit und Bestimmtheit herbeizuführen. Endliches Ich und endliches Nicht-Ich sind nun einander gleich- und entgegengesetzt. Der dritte Grundsatz fungiert dabei als Ausgangspunkt der Systemgenese, d. h. in der Grundlage der Entfaltung eines theoretischen (§ 4) und eines praktischen Teils (§§ 5 – 11). Während die höchste Synthesis in § 3 die Form des Systems generiert, soll die absolute Thesis die Vollendung des Systems sicherstellen, wobei das System insofern geschlossen ist, als es eine zirkuläre Struktur aufweist. Dialektik meint hierbei zum einen die extensive Entfaltung der Triade der drei Grundsätze, zum anderen das im Ausgang vom dritten Grundsatz entwickelte intensive antithetisch-synthetische Verfahren einer limitativen Dialektik96, das darin besteht, Teile zwischen unverbundene Glieder einzuschieben, ohne allerdings eine abschließende Verbindung zu erreichen.97 Die Herabstufung des absoluten zu einem 96 Vgl. hierzu Janke, Limitative Dialektik. 97 Zuerst von Dialektik spricht Schelling. Erst der späte Fichte spricht auch von Dialektik. Fichte gilt aber als erster Vertreter einer neuen Dialektik, die als positives Verfahren der Systemgenerierung zu kennzeichnen ist. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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endlichen Ich macht so zwar Ich und Nicht-Ich vereinbar, führt aber zu einem Widerspruch im Ich selbst, insofern sich nun absolutes und endliches Ich einander gegenüberstehen. Diese Antinomie formuliert Fichte im praktischen Teil der Grundlage als Hauptantithese von absolutem und intelligentem, theoretischem Ich. Die Teilbarsetzung von endlichem Ich und endlichem Nicht-Ich deutet voraus auf die Konzeption des praktischen Strebens, durch welche Fichte eine Auflösung des Widerspruchs von absolutem und endlichem Ich versucht. Fichte kennzeichnet seinen Idealismus so als einen praktischen, da dieser nicht deskriptiv festsetzt, was ist, sondern präskriptiv bestimmt, was sein soll. (Vgl. GWL, GA, I,2, 311) Das Ich nähert sich in einem unendlich-endlichen Streben an das absolute Ich qua Idee an, ohne die vollendete Unendlichkeit aber zu erreichen, insofern dies die Suspension des Selbstbewusstseins zur Folge hätte, da Selbstbewusstsein Beschränktheit, d. h. Endlichkeit, zu seiner Voraussetzung hat. Fichtes Anliegen ist es, das menschliche Wissen systematisch zu begründen, um dann dessen Struktur durch genetische Ableitung vollkommen durchsichtig zu machen. Fichte stößt hierbei im Zentrum des Wissens auf einen Opazitätskern, auf etwas Widerständiges, das sich entzieht, sobald man versucht, es aufzufassen. Insofern der Grund des Wissens Abgrund ist, stellt die Wissenschaftslehre ein zutiefst paradoxes Unternehmen dar. Das, aus dem alles Wissen begründet werden soll, ist selbst kein Wissen, das unmittelbar Gewisse ist ein Unbegreifbares. Friedrich Heinrich Jacobi bezeichnet Fichtes Wissenschaftslehre dann als „Nihilismus“98, als ein „Wißen des Nichts“99. Fichtes Ich sei nichts weiter als ein „Gespenst“100. Fichte hatte mit diesem „innern Grund der Dunkelheit“101 zeitlebens zu kämpfen. So versucht er in immer neuen Anläufen, sich dem Publikum verständlich zu machen. 98 Jacobi, Friedrich Heinrich, Jacobi an Fichte, Hamburg, 1799, S. 39. (in: GA III,3, 224-255, hier: 245) 99 Ebd., S. 39. (GA III,3, 245) 100 Ebd., S. 25. (GA III,3, 238) 101 So schreibt Fichte in einem Brief an Reinhold vom April 1795: „[D]er theoretische Theil der Grundlage der W.L. ist äußerst dunkel; ich weiß es sehrwohl, die W.L. hat überhaupt einen innern Grund der Dunkelheit, und sogar der Unverständlichkeit für manche Köpfe […] in sich selbst.“ (Fichte an Reinhold, Brief vom 28. April 1795, GA III,2, 315.) Fichte selbst sieht die Schwierigkeit des Verständnisses der Wissenschaftslehre in der Unbegreifbarkeit ihres Grundprinzips: „Der Eingang in meine Philosophie ist das schlechthin unbegreifliche; dies macht dieselbe schwierig, weil die Sache nur mit der Einbildungskraft, und gar nicht mit dem Verstande angegriffen werden kann; aber es verbürgt ihr zuSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die produktive Einbildungskraft
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4) Die produktive Einbildungskraft als alternatives Bestimmungsmodell Das absolute Ich des ersten Grundsatzes expliziert als Sich-Setzen nun zwar den Tätigkeitscharakter des Bewusstseins, allerdings nicht die für Bewusstsein maßgebliche Unterscheidung von Subjekt und Objekt, von Vorstellendem und vorgestelltem Gegenstand. Fichte nimmt daher einen zweiten Grundsatz an, welchem zufolge dem Ich ein Nicht-Ich schlechthin entgegengesetzt wird. Hieraus resultiert Fichte zufolge nun ein Widerspruch, der die Einheit des Bewusstseins zu suspendieren droht: Sich-Setzen und Entgegensetzen, Ich und Nicht-Ich, Realität und Negation, These und Anti-These stehen sich als gleichberechtigte Ansprüche unvermittelt gegenüber und heben sich hierin wechselseitig auf. In einem dritten Grundsatz qua Synthese schränkt Fichte so die konkurrierenden Ansprüche von Ich und Nicht-Ich ein. Beide sind als Teilbare im Bewusstseinsraum der teilbaren Ich-Substanz einander gleich- und entgegengesetzt. Aus der triadischen Struktur des grundsätzlichen Teils der Grundlage entwickelt Fichte nun einen theoretischen und einen praktischen Teil. Im Ausgang vom dritten Grundsatz leitet er dabei zwei konträre Richtungen unseres Weltverhältnisses ab: In theoretischer Hinsicht setzt sich das Ich als bestimmt durch das Nicht-Ich, insofern es sich im Vorstellen des Objekts als passiv erfährt, da es dieses nicht einfach willkürlich erzeugen oder verändern kann. In praktischer Hinsicht setzt sich das Ich hingegen als das das NichtIch Bestimmende, insofern es im Handeln als Entscheidungsträger aktiv und damit frei ist. Die Pointe besteht nun darin, dass der Widerspruch des Bewusstseins in der Synthese des dritten Grundsatzes nicht wirklich gelöst ist, sondern durch die Aufspaltung des Ichs in ein unendliches, absolutes und ein endliches, beschränktes Ich erst hervortritt. So entfaltet der theoretische Teil der Grundlage die Bewusstseinsstruktur, indem immer neue Synthesen eingeführt werden, um den Widerspruch von Unendlichem und Endlichem zu lösen, wobei die produktive Einbildungskraft die Entgegengesetzten in einer höchsten Synthese vereinigen soll. Fichte führt so das „wunderbar[e] Vermögleich ihre Richtigkeit. Jedes begreifliche sezt eine höhere Sphäre voraus, in der es begriffen ist, und ist daher, gerade darum nicht das höchste, weil es begreiflich ist.“ (Fichte an Reinhold, Brief vom 2. Juli 1795, GA III, 2, 344-345.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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gen der Einbildungskraft“ (GWL, GA I,2, 353) ein, um zwischen der Selbst- und Fremdbestimmung des Ichs, d. h. zwischen einem einseitigen Idealismus (Konstruktivismus), welchem zufolge das NichtIch nur bloßes Produkt der Selbstbeschränkung des Ichs ist, und einem einseitigen Realismus, welchem zufolge das Ich lediglich ein Bewirktes des Nicht-Ichs ist, zu vermitteln. Die Einbildungskraft, welche eine Fortbestimmung des absoluten Ichs darstellt und auf die sich der ganze Mechanismus des menschlichen Geistes gründet, synthetisiert dabei Endliches und Unendliches in einer Wechselwirkung, einem Oszillieren, „welches zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt“ (GWL, GA I,2, 360). Hierzu Fichte: Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jetzt das Unendliche in die Form des Endlichen aufzunehmen versucht, jetzt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jetzt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft. (GWL, GA I,2, 359)
Fichte rekurriert in der Erklärung der Vorstellung hierbei auf ein realistisches Moment, einen Anstoß, welcher das Ich allerdings nicht einseitig bestimmt, sondern vielmehr dem Ich die Aufgabe gibt, sich selbst zu bestimmen. Idealismus und Realismus, Unendliches und Endliches sind für Fichte so nur in einer Konzeption der Bestimmbarkeit zusammenzubringen: Das Ich ist realistisch, d. h. durch den Anstoß, bestimmt, sich idealistisch selbst zu bestimmen.102 Die Einbildungskraft erfüllt dabei zwei für das Bewusstsein zentrale Funktionen: Zum einen produziert sie die Realität im Bewusstsein und expliziert damit die Vorstellung von etwas, das außer uns ist, zum anderen bringt sie als Schweben die Zeit hervor. Fichtes Bestimmung der Einbildungskraft unterscheidet sich dabei fundamental von dem ge102 Schmidt spricht von einer „Komplizenschaft“ von Ich und Anstoß, aus welcher das Für-sich-Sein des Ichs hervorgehe: „Erst indem die Freiheit sich nämlich gegen sich selbst wendet, mit dem Anstoß kooperiert und sich mit sich in Ungleichheit setzt, entsteht das Fürsichsein des Ichs, das schon in der Darstellung des ersten Prinzips gefordert wurde.“ (Schmidt, Der Grund des Wissens, S. 3334.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die produktive Einbildungskraft
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wöhnlichen Verständnis, wonach die Einbildungskraft die Fähigkeit ist, etwas auch ohne dessen Anwesenheit vorzustellen. Während bei Kant durch die produktive Einbildungskraft eine Vermittlung zwischen Sinnlichkeit, d. h. dem Mannigfaltigen der Anschauungen, und der Apperzeption des reinen Verstandes stattfindet, besteht die Funktion der Einbildungskraft bei Fichte anders als bei Kant nicht nur in der Formierung von Gegebenem, sondern diese erzeugt Realität und ist damit nicht nur formproduktiv, sondern inhaltsproduktiv.103 Insofern die Produktion der Realität durch die Einbildungskraft aber unbewusst ist, erscheint diese als das vom Ich radikal Verschiedene. Fichtes Programm besteht so darin, den Standpunkt des Lebens, d. h. den Glauben an eine bewusstseinsunabhängige Außenwelt, aus dem Standpunkt der Spekulation oder der Wissenschaftslehre abzuleiten. Weder ein einseitiger Idealismus noch ein einseitiger Realismus können hierbei das Bewusstsein erklären. Fichte konzipiert die Wissenschaftslehre als einen Ideal-Realismus oder Real-Idealismus: Die Erklärung des Bewusstseins muss vom Ich ausgehen, das Nicht-Ich ist aber nicht vollständig aus dem Ich zu erklären. Die produktive Einbildungskraft nimmt nun in Fichtes Frühphilosophie eine Schlüsselstellung ein, insofern sie die Möglichkeit von Bewusstsein überhaupt einsichtig machen soll. Darüber hinaus spielt sie aber auch eine zentrale Rolle für das Verständnis der Wissenschaftslehre. Die Wissenschaftslehre kann so allein durch das tätige Vermögen der Einbildungskraft104 aufgefasst werden, da ihr Gegenstand die Handlungen des menschlichen Geistes sind: Die Wissenschaftslehre ist von der Art, daß sie durch den blossen Buchstaben gar nicht, sondern daß sie lediglich durch den Geist sich mittheilen läßt; weil ihre Grundideen in jedem, der sie studirt, durch die schaffende Einbildungskraft selbst hervorgebracht werden müssen; wie es denn bei einer auf die lezten Gründe der menschlichen Erkenntniß zurükgehenden Wissenschaft nicht anders seyn konnte, indem das ganze Geschäft des menschlichen Geistes von der Einbildungskraft ausgeht, Einbildungskraft aber nicht anders, als durch Einbildungskraft aufgefaßt werden kann. (GWL, GA I,2, 415)
103 Vgl. Metz, Wilhelm, Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1991, S. 294-295. 104 Einbildungskraft und intellektuelle Anschauung können hier miteinander identifiziert werden. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Fichte setzt sich nun erneut mit dem Begriff des Für-sich-Seins in § 5 der Grundlage auseinander. Hier expliziert er das Für-sich-Sein des Ichs nicht als Sich-Setzen, sondern als in sich gedoppeltes SichSetzen durch die Formel des Sich-Setzens als sich setzend. Die Formel des Sich-Setzens als sich setzend findet sich dabei bereits im Rahmen der produktiven Einbildungskraft im theoretischen Teil der Grundlage. Fichte schreibt in § 4 der Grundlage: Die Aufgabe war die, die entgegengesezten, Ich und Nicht-Ich, zu vereinigen. Durch die Einbildungskraft, welche widersprechendes vereinigt, können sie vollkommen vereinigt werden. – Das Nicht-Ich ist selbst ein Produkt des sich selbst bestimmenden Ich, und gar nichts absolutes, und ausser dem Ich geseztes. Ein Ich, das sich sezt, als sich selbst setzend, oder ein Subjekt ist nicht möglich, ohne ein […] hervorgebrachtes Objekt (die Bestimmung des Ich, seine Reflexion über sich selbst, als ein bestimmtes ist nur unter der Bedingung möglich, daß es sich selbst durch ein entgegengeseztes begrenze). (GWL, GA I,2, 361)
Fichte entwickelt hier ein gegenüber der Konzeption der Teilbarkeit neues Modell von Bestimmung. So fasst er in der Konzeption der produktiven Einbildungskraft das Ich als Wechsel mit sich selbst, als Schweben zwischen Unendlichem und Endlichem, wobei es in diesem Schweben das Angeschaute (Nicht-Ich) produziert. Die Bedingung der Wechselwirkung der Einbildungskraft stellt Fichte zufolge dabei ein dem Ich wesensfremder, unhintergehbarer Anstoß (Faktum) dar, der die ins Unendliche gehende Tätigkeit des Ichs in einer äußeren Reflexion auf sich selbst zurückbiegt. Das angestoßene Ich kann nun aber keine Vorstellung vom Anstoß haben, wenn es sich selbst nicht in einer inneren Reflexion als durch diesen beschränkt bestimmt. Als Bedingung der Vorstellung kennzeichnet Fichte dabei die produktive Einbildungskraft. Damit sich das Ich selbst begrenzen kann, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: 1) Das Ich muss unendlich sein, um sich zu begrenzen. Das Ich muss über die Grenze des Anstoßes hinausgehen, d. h., es muss diesen inkorporieren. Ginge das Ich nur bis zur Grenze des Anstoßes, dann wäre es keine Tätigkeit und damit kein Bewusstsein. 2) Das Ich muss sich begrenzen, um unendlich zu sein. Das Ich muss sich als Unendliches bestimmen. Fichte fasst diese Bestimmung als eine prädikative, wenn er sagt, dass das Ich sich durch das Prädikat der Unendlichkeit bestimmt. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die produktive Einbildungskraft
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Realistisches Moment Voraussetzung der Tätigkeit der Einbildungskraft ist der Anstoß. Ohne Anstoß wäre das Ich nur unendliche Tätigkeit und damit unbestimmt. Erst durch den Anstoß kommt Endlichkeit ins Spiel, entsteht das Ich als unendlich-endliche Wechselwirkung. Der Anstoß stellt ein realistisches Moment dar, insofern er nicht aus dem Ich selbst erklärt werden kann: „kein Anstoß, keine Selbstbestimmung“ (GWL, GA I,2, 356) Idealistisches Moment Die Ich-Tätigkeit ist insofern Bedingung des Anstoßes, als ohne dieselbe kein Bewusstsein des Anstoßes möglich wäre: „keine Thätigkeit des Ich, kein Anstoß“ (GWL, GA I,2, 356) In der Wechselwirkung bestimmt sich das Ich selbst durch das Prädikat der Unendlichkeit, d. h., das Ich ist nicht unendlich, wenn es sich nicht als unendlich bestimmt und damit verendlicht: Das Ich […] bestimmt sich durch das Prädikat der Unendlichkeit: also es begrenzt sich selbst (das Ich) als Substrat der Unendlichkeit; es unterscheidet sich selbst von seiner unendlichen Tätigkeit (welches beides an sich Eins, und eben dasselbe ist); und so mußte es sich verhalten, wenn das Ich unendlich seyn sollte. (GWL, GA I,2, 358)
Der Wechsel des Ichs in und mit sich selbst kann als Oszillation zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit gekennzeichnet werden. Das Ich muss hierbei die unendliche Tätigkeit in sich aufnehmen, damit sie seine Tätigkeit ist (Kontraktion). Hierin aber ist die Tätigkeit des Ichs verendlicht, wodurch sie aus dem Ich herausgesetzt werden muss, damit sie unendlich ist (Expansion). In der endlich-unendlichen Wechselwirkung der produktiven Einbildungskraft wird die endliche Komponente über den Anstoß erklärt. In der Einbildungskraft hat Unendlichkeit nun aber selbst eine endliche Dimension, wobei es sich um ein gegenüber § 1 neues Bestimmungsmodell handelt. So widerspricht die Rede von einem Prädikat der Unendlichkeit der Behauptung, das absolute Ich des § 1 sei ohne Prädikat und könne auch kein Prädikat haben, insofern das absolute Ich selbst nun eine prädikative Form annimmt.105 Stellt aber Unendlichkeit 105 Jürgen Stolzenberg hingegen stellt die Formel des Sich-Setzens in § 1 im Sinne einer nicht-prädikativen Logik des absoluten Bestimmens als plausible ExpliSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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oder Absolutheit selbst eine prädikative Bestimmung dar, hieße das, dass die Unbestimmtheit des absoluten Ichs gerade seine Bestimmtheit ausmachen würde.106 Dass Unbestimmtheit selbst eine Bestimmtheit darstellt, gehört zu einer der zentralen Annahmen der hegelschen Philosophie. Für Hegel ist Fichtes Konzeption der Einbildungskraft hierbei „ein Bekation des Für-sich-Seins dar, der Als-Formel hingegen attestiert er in der Grundlage eine Logik des endlichen Bestimmens, welche Fichte im dritten Grundsatz entwickle, und in welcher das Ich bloß äußerlich gegen das NichtIch bestimmt sei. (Vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 168-171.) Stolzenberg übergeht die Konzeption der produktiven Einbildungskraft, wenn er behauptet, die Konzeption der Teilbarkeit sei maßgeblich für den gesamten Gang der Grundlage. Da die Grundlage Stolzenberg zufolge einer Theorie des absoluten Bestimmens ermangelt, erscheine § 1 als widersprüchlich, insofern Fichte hier das absolute Ich als Für-sich-Sein ausweist, obgleich dieses nicht als etwas bestimmt werden könne. Demgegenüber soll hier die These vertreten werden, dass der Begriff des absoluten Ichs in § 1 qua bloße Unbestimmtheit gerade nicht die Bestimmung als Für-sich-Sein erfüllt, weshalb Fichte eine Neubestimmung in § 5 vornimmt. 106 Auch Johannes Brachtendorf verweist auf eine Änderung von Fichtes Konzeption der Bestimmung im Gang der Grundlage. So entwickelt Brachtendorf zufolge Fichte in der Konzeption der Einbildungskraft ein neues Bestimmungsmodell, was sich eben dadurch auszeichnet, dass Unendlichkeit nun als Prädikat verstanden wird: „In der neuen Bestimmtheitstheorie, wie sie im § 4 E angedeutet ist, spielt der Einfluss des Nicht-Ich keine Rolle. […] Dieser Gedanke richtet sich im Grunde gegen das Konzept des absoluten oder reinen Ich des ersten Grundsatzes. Wenn das Ich nur das ist, als was es sich setzt, dann können Reflexivität und daraus folgend Bestimmtheit (ausgedrückt durch die Partikel ‚als‘) aus seinem Begriff nicht ausgeschlossen werden. Ein absolutes Ich, das kein Prädikat habe und keines haben könne […] trägt seinen Namen zu unrecht. Nur dann könne von einem Ich gesprochen werden, wenn dieses nicht nur unendlich sei, sondern sich auch als unendlich bestimme, oder aussagenlogisch gesprochen: sich selbst das ‚Prädicat der Unendlichkeit‘ beilege. Demnach läge die Selbstbestimmung bereits im Wesen des Ich. Sie resultiere nicht erst aus der Notwendigkeit, ein vorgängig gesetztes Nicht-Ich mit dem Ich kompossibel zu machen, sondern wäre mit dem Begriff des Ich schon verknüpft. Der Rekurs auf ein Nicht-Ich zur Erklärung von Bestimmtheit wäre überflüssig. Diese Auffassung wird bereits angedeutet im § 1, wo das Für-sichsein als Wesensmerkmal des Ich aufgeführt wird […] Doch werden an dieser Stelle keine bestimmtheitstheoretischen Konsequenzen gezogen. Vielmehr stellt Fichte die Idee des Für-sich-seins zurück zugunsten des Konzeptes eines reflexionslosen absoluten Ich, das erst durch einen „Anstoß“ auf seine ins Unendliche hinausgehende Tätigkeit zur Reflexion und Selbstbestimmung veranlasst wird …“ Brachtendorf macht dabei auf den Zusammenhang der neuen Bestimmtheitstheorie mit der Entwicklung der Als-Formel in § 5 aufmerksam. (Brachtendorf, Fichtes Lehre vom Sein, S. 148-150.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Neukonzeption des Für-sich-Seins in § 5
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stimmen des Geistes in ihm selbst“107. Ein in der Fichte-Forschung bislang weitgehend unbeachteter Zusammenhang ist der zwischen der Charakterisierung der produktiven Einbildungskraft und der Neufassung des Begriffs des Für-sich-Sein in § 5 der Grundlage. So bestimmt Fichte das Ich sowohl in der Konzeption der produktiven Einbildungskraft als auch in der Als-Formel in § 5 als Wechselbeziehung mit sich selbst, in welcher das Ich zugleich unendlich und endlich ist. Sowohl Einbildungskraft als auch die Formel des Sich-Setzens als sich setzend in § 5 werden von Fichte als Ermöglichungsbedingung von Leben und Bewusstsein gekennzeichnet.108
5) Die Neukonzeption des Für-sich-Seins in § 5 Fichte formuliert den dritten Grundsatz nun im theoretischen Teil der Grundlage durch den Satz „Das Ich sowohl als das Nicht-Ich, sind, beide durch das Ich, und im Ich, gesezt, als durcheinander gegenseitig beschränkbar, d. i. so, daß die Realität des Einen die Realität des Andern aufhebe, und umgekehrt (§.3.)“ (GWL, GA I,2, 285), um aus diesem zwei konfligierende Richtungen der Bestimmung abzuleiten. Zum einen liegt nach Fichte in dem angeführten Satz der Satz „das Ich sezt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich“ (GWL, GA I,2, 285), welcher Fichte zufolge der theoretischen Perspektive der Wissenschaftslehre entspricht. In der theoretischen Perspektive der Wissenschaftslehre bestimmt sich das Ich selbst als fremdbestimmt durch das Nicht-Ich. Diese Perspektive gilt es nun zu ergänzen durch eine zweite. So liegt nach Fichte in dem den dritten Grundsatz formulierenden Satz noch ein weiterer: „Das Ich sezt das Nicht-Ich, als beschränkt durch das Ich.“ (GWL, GA I,2, 285) Das Ich bestimmt sich demnach nicht bloß selbst als fremdbestimmt, sondern auch als das das Nicht-Ich Bestimmende und damit als 107 Hegels Philosophie des subjektiven Geistes/Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, hg. und übers., mit Einleitung und Erläuterungen v. Michael John Petry, 3 Bände, Band 3, Dordrecht/Boston, 1978, S. 294. 108 Carla de Pascale verweist auf die Verbindung von Ich-Prinzip qua intellektueller Anschauung und Einbildungskraft, die sie im Begriff des Schwebens gegeben sieht. (Vgl. Pascale, Carla de, „Das Problem der Vereinigung: Intellektuelle Anschauung und produktive Einbildungskraft“, in: Der Grundansatz der ersten Wissenschaftslehre Fichtes. Tagung des Internationalen Kooperationsorgans der Fichte-Forschung in Neapel, April 1995, hg. Erich Fuchs, Ives Radrizzani, Neuried, 1996, S. 193-204, hier: S. 203.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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selbstbestimmt, was der praktischen Perspektive der Wissenschaftslehre korrespondiert. Im praktischen Teil der Grundlage versucht Fichte nun zu beweisen, dass trotz des Widerspruchs von absolutem und dem im theoretischen Teil der Grundlage abgeleiteten vorstellenden, endlichen Ich die Forderung nach absoluter Kausalität und damit die Annahme einer unendlichen Tätigkeit des Ichs gerechtfertigt ist. Fichte führt nun zwei Beweise, um zu zeigen, dass der Ausgang von einem absoluten Ich als Grund des Bewusstseins trotz des Widerspruchs von absolutem und endlichem Ich plausibel ist: einen apagogischen und einen genetischen Beweis. Als Vereinigungspunkt von absolutem und endlichem Ich konzipiert der apagogische, indirekte Beweis (Schluss auf die beste Erklärung) das praktische Ich, das sich im Handeln an eine vollendete Unendlichkeit, in der das Nicht-Ich überwunden ist, annähert. Im Streben ist das Ich Fichte zufolge zugleich endlich und unendlich, da das Streben als Widerstreben das Nicht-Ich qua Gegenstand (im Sinne eines Wider- oder Gegenstehenden) aufzuheben sucht. Überwindet es diesen aber, so ist es kein Streben mehr, das Bewusstsein löst sich in vollkommener Differenzlosigkeit auf. Der apagogische Beweis präsentiert so die conditio humana selbst als widersprüchliche Doppelnatur, die Zerrissenheit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ist „das Gepräge unserer Bestimmung für die Ewigkeit“ (GWL, GA I,2, 404). Sind in der produktiven Einbildungskraft Ich und Nicht-Ich, Unendlichkeit und Endlichkeit vollkommen vereinigt, suspendiert Fichte diese Einheit in § 5, wenn er die Widersprüchlichkeit von absolutem und endlichem Ich in einem unendlichen Streben aufzulösen sucht. In der Fichte-Forschung ist es dabei umstritten, ob die Konzeption des Strebens auf ein Vermittlungsproblem hindeutet, d. h., Symptom einer bloß äußerlichen, quantitativen Dialektik ist,109 oder ob diese nicht vielmehr als Ausdruck der Grundverfassung des Menschen gelesen werden muss.110 Für die letztere Lesart spricht Fichtes Konzep-tion von Bildsamkeit als Ausdruck der Ver-
109 Diese Position vertritt Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 168-171. Vgl. auch Hegels Kritik in der Differenzschrift. (Differenz, TWA 2, 67-69) 110 Vgl. Baumanns, Fichtes ursprüngliches System, S. 36. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Neukonzeption des Für-sich-Seins in § 5
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fassung des Menschen. So schreibt Fichte in seiner Grundlage des Naturrechts von 1796/97: Iedes Thier ist, was es ist: der Mensch allein ist ursprünglich gar nichts. Was er seyn soll muß er werden: und da er doch ein Wesen für sich seyn soll, durch sich selbst werden. Die Natur hat alle ihre Werke vollendet, nur von dem Menschen zog sie die Hand ab, und übergab ihn gerade dadurch an sich selbst. Bildsamkeit, als solche, ist der Charakter der Menschheit. (GNR, GA I,3, 379)
Allerdings spricht die Rolle, die der Widerspruch in der Grundlage spielt, eher für die erstere Lesart. Fichtes Behandlung des Widerspruchs in der Grundlage ist so ambivalent: Am Anfang der Grundlage inszeniert Fichte den Widerspruch von Ich und Nicht-Ich als Problem, insofern dieser die Einheit des Bewusstseins aufzuheben droht. Er leitet so den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch aus dem zweiten Grundsatz ab, dieser bildet die logische Grundstruktur der ursprünglichen Handlung des Entgegensetzens. Fichte löst den Widerspruch von Ich und Nicht-Ich daher durch das Modell der Teilbarsetzung in § 3. Aber diese Lösung ist eine nur scheinbare: So entfaltet Fichte den theoretischen Teil der Grundlage im Ausgang vom Widerspruch von absolutem und endlichem Ich durch immer neue Synthesen, welche den Widerspruch immer weiter hinausschieben, aber nicht auflösen können. Im praktischen Teil der Grundlage stellt sich dann heraus, dass der Widerspruch von Ich und Nicht-Ich die transzendentale Bedingung von Bewusstsein darstellt, der Widerspruch also nicht nur methodisches Mittel zur Ableitung des Systems ist, sondern die reale Grundstruktur des Bewusstseins bildet. Eine Auflösung des Widerspruchs von Ich und Nicht-Ich würde so zur Auflösung des Bewusstseins selbst führen. Insofern der Widerspruch von Ich und Nicht-Ich die transzendentale Bedingung von Bewusstsein darstellt, kennzeichnet Fichte das Weltverhältnis des Ichs als Streben: Im Streben realisiert das Ich so progressiv seine Freiheit, indem es durch die Modifikation der Objekte seinen Wirkungsbereich sukzessive ausdehnt. Hätte das Ich eine absolute Kausalität auf das Nicht-Ich, dann wäre das Nicht-Ich als absolutes Produkt des Ichs nichts anderes als das Ich selbst. Hiermit gäbe es dann aber auch kein Bewusstsein, da die Differenz von Ich und Nicht-Ich notwendige Bedingung von Bewusstsein ist. Das Handeln des Ichs zielt so paradoxerweise auf die Auflösung des Bewusstseins. Hier stellt sich dann aber die Frage, warum das Bewusstsein seine eigene Vernichtung anSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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streben sollte. Fichtes Konzeption des Widerspruchs in der Grundlage ist also insofern problematisch, als sie zutiefst zweideutig ist.111 In der WL nova methodo spielt der Widerspruch dann keine Rolle mehr, da Fichte hier nicht mehr auf die dialektische Methode der Grundlage zurückgreift. Interessant ist nun die Fassung des absoluten Ichs im apagogischen Beweis, insofern diese die Kennzeichnung desselben als Fürsich-Sein im ersten Grundsatz revidiert. Das absolute Ich als Grund des Bewusstseins erscheint nun als bloße Idee im kantischen Sinne und damit als unerreichbares Ziel des Strebens. (Vgl. GWL, GA I,2, 399) So sagt Fichte nun, dass das absolute Ich aufgrund seiner vollkommenen Ununterschiedenheit für sich nichts sei, mithin gar kein Selbstbewusstsein darstellen könne: Das absolute Ich ist schlechthin sich selbst gleich: alles in ihm ist Ein und ebendasselbe Ich, und gehört […] zu Einem und ebendemselben Ich; es ist da nichts zu unterscheiden, kein mannigfaltiges, das Ich ist Alles, und ist Nichts, weil es für sich nichts ist, kein setzendes und kein geseztes in sich selbst unterscheiden kann. (GWL, GA I,2, 399)
In § 5 stellt Fichte nun wie Hölderlin einen Zusammenhang zwischen der Immanenz des absoluten Ichs („das Ich ist Alles“) und dessen Bewusstlosigkeit („das Ich […] ist Nichts, weil es für sich nichts ist“) her: Aufgrund einer fehlenden Differenz, also einer internen Struktur ist das absolute Ich für sich nichts, es hat also kein Bewusstsein von sich. Fichtes Ausführungen scheinen eine direkte Aufnahme der Kritik Hölderlins zu sein (Fichtes „absolutes Ich […] enthält alle Realität; es ist alles, u. außer ihm ist nichts; es giebt also für dieses abs. Ich kein Object, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Object ist aber nicht denkbar“112),
111 In der Forschung ist umstritten, ob in der Grundlage ein realer oder doch nur ein methodischer Widerspruch vorliegt. (Vgl. dazu Schick, Contradictio est regula veri, S. 251-256.) Gegen einen realen Widerspruch wird das Argument vorgebracht, dass dieser eben die Einheit des Bewusstseins suspendiert, die doch gerade erwiesen werden soll. Der von Fichte behauptete Widerspruch sei daher nur als ein methodischer zu verstehen. Im praktischen Teil der Grundlage zeigt sich nun aber, dass das Bewusstsein in sich selbst widersprüchlich verfasst ist, wobei das Streben hierbei als Vermittlungsinstanz eingesetzt ist. 112 Hölderlin, Friedrich, Brief an Hegel vom 26.01.1795, in: Große Stuttgarter Ausgabe, IV, 1, hg. v. Friedrich Beissner, Adolf Beck, Stuttgart, 1943-1985, S. 155. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Neukonzeption des Für-sich-Seins in § 5
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der bei Fichte in Jena hörte und mit diesem auch im Gespräch war.113 Zeigt der apagogische Beweis die Vereinigung von absolutem und endlichem Ich im Begriff des Strebens nur äußerlich, insofern das praktische Ich einfach als Einheitspunkt von absolutem und endlichem Ich behauptet wird, entwickelt der genetische Beweis demgegenüber das endliche Ich aus dem absoluten Ich. Er stellt hierbei die Frage nach der Möglichkeit eines Herausgehens aus dem absoluten Ich. Der genetische Beweis setzt dabei gegenüber dem apagogischen Beweis tiefer an, da nun der Vereinigungspunkt von absolutem, theoretischem und praktischem Ich aufgesucht werden soll. Soll wirkliches Bewusstsein abgeleitet werden, dann ist der Ausgang von einer bloß unbestimmten Idee nicht möglich, es muss sich eine Differenz im absoluten Ich selbst finden. (Vgl. GWL, GA I,2, 405) Das Ich müsse sich so setzen als sich setzend, um sich einer Einwirkung von außen zu öffnen: Das Ich sezt sich selbst schlechthin, und dadurch ist es in sich selbst vollkommen, und allem äussern Eindrucke verschlossen. Aber es muß auch, wenn es ein Ich seyn soll, sich setzen, als durch sich selbst gesezt; und durch dieses neue, auf ein ursprüngliches Setzen sich beziehende Setzen öfnet es sich, daß ich so sage, der Einwirkung von aussen; es sezt lediglich durch diese Wiederholung des Setzens die Möglichkeit, daß auch etwas in ihm seyn könne, was nicht durch dasselbe selbst gesezt sey. Beide Arten des Setzens sind die Bedingung einer Einwirkung des Nicht-Ich; ohne die erstere würde keine Thätigkeit des Ich vorhanden seyn, welche eingeschränkt werden könnte; ohne die zweite würde diese Thätigkeit nicht für das Ich eingeschränkt seyn; das Ich würde sich nicht setzen können, als eingeschränkt. So steht das Ich, als Ich, ursprünglich in Wechselwirkung mit sich selbst; und dadurch erst wird ein Einfluß von aussen in dasselbe möglich. (GWL, GA I,2, 409)
Anders als in der Konzeption der produktiven Einbildungskraft im theoretischen Teil der Grundlage, in welcher die Wechselbeziehung des Ichs mit sich selbst einen Anstoß durch das Nicht-Ich zu ihrer Bedingung hat, ist diese nun die Voraussetzung des Anstoßes. Fichte charakterisiert das Verhältnis von Sich-Setzen und Sich-Setzen als sich setzend als das einer bloß äußeren Perspektive auf das Ich zu 113 Vgl. Waibel, Violetta, Hölderlin und Fichte; 1794 – 1800, Paderborn/München/ Wien/Zürich, 2000, S. 49. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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einer Explikation des inneren Selbstverhältnisses des Ichs. So stellt Fichte das Ich dem Körper als bloßem Objekt gegenüber. Während das Ich für sich selbst Ich ist, ist der Körper nur für ein Ich, nicht aber für sich selbst: Wir schreiben dem Körper auch zu eine innere, durch sein bloßes Seyn gesezte Kraft; (nach dem Satze A = A.) aber, wenn wir nur transcendendtal philosophiren, und nicht etwa transcendent, nehmen wir an, daß durch uns gesezt werde, daß sie durch das bloße Seyn des Körpers (für uns) gesezt sey; nicht aber, daß durch und für den Körper selbst gesezt werde, daß sie gesezt sey: und darum ist der Körper für uns leblos, und seelenlos, und kein Ich. Das Ich soll sich nicht nur selbst setzen für irgend eine Intelligenz ausser ihm; sondern es soll sich für sich selbst setzen; es soll sich setzen, als durch sich selbst gesezt. Es soll demnach, so gewiß es ein Ich ist, das Princip des Lebens, und des Bewußtseyns lediglich in sich selbst haben. (GWL, GA I,2, 406)
Die transzendentale Perspektive berücksichtigt, dass der Körper für ein Subjekt gesetzt ist, während die transzendente Perspektive die Subjekt-Position nicht einbezieht. Fichte unterscheidet in einem weiteren Schritt die transzendentale Perspektive vom Für-sich-Sein des Ichs. Das Sich-Setzen des Körpers expliziert nur die „durch sein bloßes Seyn gesezte Kraft“, dessen Selbstgleichheit und damit den Aspekt der Produktivität, der als solcher bewusstlos ist. Diese Produktivität ist nur für uns als Philosophen, nicht aber für den Körper selbst. Das Ich muss damit zwei Kriterien erfüllen, um als Ich ausgewiesen werden zu können: Zum Ersten muss es wie der Körper für uns als ein Produktives objektiv gesetzt sein. Zum Zweiten muss es für sich selbst gesetzt sein, d. h., es muss sich selbst reflektieren, wodurch es als Subjektivität zu kennzeichnen ist. Dieser produktiv-reflexive Doppelcharakter des Ichs kommt in dessen Fassung als SichSetzen als sich setzend zum Ausdruck. Die Repräsentationspartikel als verweist dabei auf den Begriff. Das Ich begreift sich selbst als unendliche Produktivität, wodurch es erst eigentlich als Produktivität bestimmt werden kann: „Demnach muß das Ich, so gewiß es ein Ich ist, unbedingt, und ohne allen Grund das Princip in sich haben, über sich selbst zu reflektiren…“ (GWL, GA I,2, 406-407)114 114 Wilhelm Metz zufolge ist die Tiefenstruktur von Fichtes Ich-Konzeption gegen die Dichotomie von Reflexions- und Produktionsmodell bei Henrich und Gloy über den Zusammenhang von ursprünglicher Produktivität und Reflexion zu explizieren. Metz schlägt so eine Neubestimmung des Reflexionsbegriffs vor, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Neukonzeption des Für-sich-Seins in § 5
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Fichte charakterisiert hierbei die Tätigkeit des Ichs als zentripetal, insofern es als in sich zurückgehende Tätigkeit reflektierend ist und als zentrifugal („und zwar centrifugal in die Unendlichkeit hinaus“), insofern das Ich Gegenstand der Reflexion ist. (Vgl. GWL,
die nicht den von Henrich und Gloy behaupteten Mängeln der Reflexionstheorie unterliege: „Wird ‚Reflexion‘ verstanden als das bloße sich Richten im Nachhinein auf ein schon Gesetztes, ohne dass der Reflexion eine setzende Tätigkeit selbst zuerkannt wird, so bliebe die reflektierende Tätigkeit dem Reflektierten stets entgegensetzt. Der regressus ad infinitum der Reflexionsreihe wäre unvermeidlich, weil es zur Identität des Reflektierenden und Reflektierten niemals kommen könnte. – Beide Probleme lassen sich nur lösen, wenn der produktive Grundzug der von Fichte gedachten Reflexion herausgestellt wird. 1. Die Reflexion bestimmt das Reflektierte durch ein Entgegengesetztes, das für diese Bestimmung schlechthin hervorgebracht wird. Dieses entgegen Gesetzte wird mit dem zu Reflektierenden zusammen gesetzt, wodurch das Reflektierte eine Bereicherung bzw. Fortbestimmung erfährt, die die Reflexion selbst im Reflektierten mit absoluter Spontaneität setzt. Wird auf das so Weiterbestimmte wiederum (produktiv) reflektiert, so empfängt das zu Reflektierende weitere Charakteristika, die sich von den schon gesetzten Bestimmungen spezifisch unterscheiden. 2. Würde die Reflexion sich nur im Nachhinein auf das Reflektierte richten, blieben Reflektierendes und Reflektiertes unaufhebbar entgegengesetzt, weil das Reflektierte dem Reflektierenden immer schon voraus gesetzt sein müsste. Ist aber die Reflexion produktiv, so ist das durch sie selbst bestimmte und weiterbestimmte Reflektierte nicht mehr der Tätigkeit des Reflektierens voraus gesetzt, weil es ja als das so Bestimmte und Weiterbestimmte durch die Reflexion überhaupt erst entsteht. […] Die von Fichte gedachte Reflexion ist demnach nicht nur aus der prinzipiellen Produktivität der Vernunft zu entwickeln, sondern sie hat selbst produktiven Charakter. Ihr ursprüngliches Produkt ist das wirkliche Bewusstsein und Selbstbewusstsein; ihr künstliches und freies Produkt aber ist die Transzendentalphilosophie.“ (Metz, Die produktive Reflexion als Prinzip des wirklichen Bewusstseins, S. 80-81.) Zu Henrichs Kritik an der Reflexionstheorie vgl. Exkurs 1. Metz konzentriert sich in seiner Argumentation hierbei auf die Schlusspassagen des theoretischen Teils, d. h. auf die Deduktion der Vorstellung, und auf den praktischen Teil der Grundlage. Die in den drei Grundsätzen dargestellten ursprünglichen Handlungen des Ichs betrachtet Metz als Produktionen, die das Ganze des Bewusstseins umgrenzen. Im Rahmen der Grundsätze wird so Metz zufolge kein Selbstbewusstsein, sondern die ursprüngliche, vortheoretische und vorpraktische Charakteristik der Vernunft expliziert. Die hier vorgeschlagene Interpretation übernimmt Metz’ Vorschlag einer produktiven Reflexion, geht aber zum einen anders als Metz von einer Neukonzeption des Ich-Prinzips in § 5 der Grundlage aus, zum anderen wird bereits für § 1 ein Modell produktiver Reflexion angenommen, insofern das Sich-Setzen eine Reflexionsstruktur aufweist. Die strukturelle Bestimmung des Ichs als Reflexion steht hierbei in Spannung zur unmittelbaren Gewissheit, zur reinen Unbestimmtheit des absoluten Ichs, insofern Reflexion als begriffliche Selbstverendlichung des Ichs zu verstehen ist. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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GA I,2, 407) Fichte verwendet die Begriffe zentripetal und zentrifugal nun aber auch in Bezug auf das Anstoßtheorem: So ist die Richtung des absoluten Ichs zentrifugal, insofern dessen Tätigkeit in die Unendlichkeit hinausgeht. Auf das Ich geschieht Fichte zufolge nun ein Anstoß durch das Nicht-Ich, wodurch die Tätigkeit des Ichs reflektiert wird. Die zentripetale Richtung im Ich fasst Fichte daher als fremdartig auf, da sie dem Anstoß geschuldet ist. Wenn Fichte aber die zentripetale Richtung auch in Bezug auf das Sich-Setzen als sich setzend bezieht, dann ist das insofern problematisch, als er dieses als Bedingung einer Einwirkung des Nicht-Ichs auffasst. Das SichSetzen markiert nun aber nicht nur eine bloß externe Perspektive auf das Ich, sondern es weist das Ich, insofern es im Sich-Setzen nicht eigentlich für sich selbst Ich ist, als eine differenzlose Tätigkeit aus. Fichte betrachtet so das absolute Ich qua Sich-Setzen als eine bloß regulative Idee, welche den Vereinigungspunkt von absolutem, theoretischem und praktischem Ich darstellen soll: Dadurch haben wir endlich auch den gesuchten Vereinigungspunkt zwischen dem absoluten, praktischen, und intelligenten Wesen des Ich gefunden. – Das Ich fordert, daß es alle Realität in sich fasse, und die Unendlichkeit erfülle. Dieser Forderung liegt nothwendig zum Grunde die Idee des schlechthin gesezten, unendlichen Ich; und dieses ist das absolute Ich, von welchem wir geredet haben. (Hier erst wird der Sinn des Satzes: das Ich sezt sich selbst schlechthin, völlig klar. Es ist in demselben gar nicht die Rede von dem im wirklichen Bewußtseyn gegebnen Ich; denn dieses ist nie schlechthin, sondern sein Zustand ist immer, entweder unmittelbar, oder mittelbar durch etwas ausser dem Ich begründet; sondern von einer Idee des Ich, die seiner praktischen unendlichen Forderung nothwendig zu Grunde gelegt werden muß, die aber für unser Bewußtseyn unerreichbar ist, und daher in demselben nie unmittelbar, [wohl aber mittelbar in der philosophischen Reflexion] vorkommen kann.) (GWL, GA I,2, 409)
Die Einbildungskraft stellt nun die Klammer zwischen Theorie und Praxis dar. Die praktische Einbildungskraft geht dabei nicht auf ein wirkliches Objekt wie die theoretische Einbildungskraft, sondern auf ein eingebildetes, vom Ich selbst erzeugtes Objekt, d. h. ein Ideal, das nicht gefunden, sondern erfunden wird. Der Charakter der Einbildungskraft ist so eigentlich praktisch, insofern erst das Ideal ein Eingebildetes ist. Die ideale Dimension der theoretischen Einbildungskraft, in welcher die Einbildungskraft über den Anstoß hinausgeht, verweist bereits auf die Funktion der praktischen Einbildungskraft. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Neukonzeption des Für-sich-Seins in § 5
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Insofern das Ich über die Grenze des Anstoßes hinausgeht, ist es Streben. Auch die praktische Einbildungskraft als Streben ist endlich-unendliche Wechselwirkung. Während das wirkliche Objekt dabei ein bloß Endliches ist, zeigt das Ideal als „absolutes Produkt“ (GWL, GA I,2, 403) den Charakter des Endlich-Unendlichen an ihm selbst und zwar a) in der Verendlichung durch die Reflexion auf das unbestimmte Streben, aus welcher die Kontraktion des Ichs resultiert, auf welche dann b) wiederum die Expansion des Ichs folgt: Das unbestimmte Streben überhaupt […] ist unendlich; aber als solches kommt es nicht zum Bewußtseyn, noch kann es dazu kommen, weil Bewußtseyn nur durch Reflexion, und Reflexion nur durch Bestimmung möglich ist. Sobald aber über dasselbe reflektirt wird, wird es nothwendig endlich. So wie der Geist inne wird, daß es endlich sey, dehnt er es wieder aus; sobald er sich aber die Frage aufwirft: ist es nun unendlich, wird es gerade durch diese Frage endlich; und so fort in’s Unendliche. (GWL, GA I,2, 403)
Insofern die praktische Einbildungskraft die Grenze des wirklichen Objekts transzendiert, zeigt sich die Theorie als durch die Praxis begründet: kein Streben, kein Objekt. Dies zeigt sich sowohl in der Bedeutung des Terminus Gegenstand als Gegenstehendes oder Widerstehendes als auch in der des Terminus Objekt als Entgegengeworfenes. Fichte gibt in der WL nova methodo dann die künstliche Separierung von Theorie und Praxis auf. Die Mangelhaftigkeit einer solchen Trennung deutet sich in der Grundlage in der Konzeption der Einbildungskraft an. Fichte setzt die Konzeption der praktischen Einbildungskraft ein, um das Für-sich-Sein des Ichs zu explizieren: Dieses ist eine Wechselwirkung des Ichs mit sich selbst (Sich-Setzen als sich setzend), die Bedingung des Anstoßes ist (Abstraktion vom Anstoß). Eine Verschiedenheit im Ich findet sich in Bezug auf das praktische Ich (vor dem Anstoß), das absolute Ich ist hier bloße Differenzlosigkeit bzw. Unbestimmtheit. Während die praktische Einbildungskraft Bedingung des Anstoßes ist, ist der Anstoß Bedingung der theoretischen Einbildungskraft. Bezogen auf die Reflexion des Ichs heißt dies: a) Die praktische Einbildungskraft fungiert als Prinzip der Reflexion und expliziert damit die Möglichkeit des Bewusstseins. b) Die theoretische Einbildungskraft fungiert als wirkliche Reflexion und expliziert die Wirklichkeit des Bewusstseins. Fichte betrachtet in § 5 das Sich-Setzen des § 1 als reine, bestimmungslose Tätigkeit. Um für sich zu sein, muss sich das Ich aber verSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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endlichen, wobei die Repräsentationspartikel als für den Begriff des Ichs steht. Diese Verendlichung erklärt Fichte über eine Verdopplung des Sich-Setzens im neuen Modell des Sich-Setzens als sich setzend. Erst in der durch die Partikel als explizierten Repräsentation erfasst sich das Ich begreifend als Ich, erst hier ist es explizites, sich selbst denkendes Selbstbewusstsein. Der Gegenstand oder Begriff dieses Sich-Denkens ist aber nun selbst kein Denken, sondern reine, unbestimmte Tätigkeit. Die Zirkularität des Sich-Setzens fasst Fichte somit als bewusstlose Selbstbeziehung, diese komme auch dem Körper zu. Für die Explikation des Für-sich-Seins durch die Als-Formel in § 5 der Grundlage gibt es nun drei Erklärungsmöglichkeiten: a) Unterspezifikation Die Kennzeichnung des absoluten Ichs als Für-sich-Sein im ersten Grundsatz könnte auf einen noch nicht abgeleiteten Theoriestand vorausdeuten. Die Fassung des Für-sich-Seins als einfaches Sich-Setzen wäre hierbei unterbestimmt und könnte erst eine ausreichende Explikation mit der Ableitung von theoretischem und praktischem Ich erfahren. So ersetzt die Formel des Sich-Setzens als sich setzend nach Peter Baumanns nicht das Sich-Setzen des § 1. Das Sich-Setzen des § 1 stelle lediglich das Moment der Absolutheit dar, während das Sich-Setzen als sich setzend auf das endliche Ich zu beziehen sei. Für Baumanns kann es so kein als oder für in Bezug auf das absolute Ich geben.115 b) Standpunktunterscheidung Weiterhin kann das Verhältnis von Sich-Setzen und Sich-Setzen als sich setzend als das Verhältnis einer äußeren (transzendentalen) zu einer inneren Reflexion (Für-sich-Sein) gefasst werden. Diese Position wird von Wolfgang Janke vertreten, der den Gang zum Sich-Setzen als sich setzend als Vertiefung der Eingangsformel des Sich-Set-
115 Vgl. Baumanns, Fichtes ursprüngliches System, S. 42-45. Stolzenberg liefert eine andere Deutung: So sei Fichte zufolge das absolute Ich in § 5 kein Für-sichSein, da nun aus der Perspektive einer Logik des endlichen Bestimmens argumentiert werde und nicht mehr wie in § 1 aus der Perspektive einer Logik des absoluten Bestimmens. (Vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 168-171.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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zens zu einer absoluten Reflexion betrachtet.116 Hier wäre das absolute Ich des § 1 nur für den Wissenschaftslehrer, d. h. den Philosophen, nicht aber für sich selbst. Diese Interpretation wäre möglich aus der Perspektive der Standpunktunterscheidung der Neuen Darstellung: So unterscheidet Fichte im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von 1797/98 den Standpunkt des ursprünglichen Ichs vom Standpunkt des Philosophen im Anschluss an die Unterscheidung von beobachtendem und beobachtetem Ich in der Begriffsschrift und in der Grundlage. c) Neubestimmung des Begriffs des Für-sich-Seins Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass Fichte den Begriff des Für-sich-Seins im Gang der Grundlage revidiert und damit die Konzeption des Selbstbewusstseins des ersten Grundsatzes als ungenügend ausweist. So betrachtet Dieter Henrich die Als-Formel als Weiterentwicklung der Formel des Sich-Setzens, er verortet diese aber erst in der Wissenschaftslehre nova methodo, insofern Fichte im praktischen Teil der Grundlage im Sinne einer bloßen Forderung sage, das Ich solle sich setzen als sich setzend.117 Im Folgenden sollen nun alle drei Deutungsmöglichkeiten auf ihre Berechtigung hin befragt werden, indem dargelegt wird, wie Fichte den Begriff des Für-sich-Seins in § 5 einführt. Im Falle einer Unterspezifikation gibt es zwei Möglichkeiten: a) Das Für-sich-Sein des absoluten Ichs in § 1 könnte als präreflexives Für-sich-Sein interpretiert werden. Hier besteht nun aber das Problem, dass ein präreflexives Selbstbewusstsein nicht als Selbstbewusstsein betrachtet werden kann, der Begriff des Für-sich-Seins 116 Wolfgang Janke fasst die Reflexion im ersten Grundsatz als äußere Reflexion auf, da das bloße Setzen des Ich nur aus der Perspektive des Philosophen als Reflexion betrachtet werden kann. Janke geht nun nicht von einer Änderung von Fichtes Begriff des Für-sich-Seins im Gang der Grundlage aus, sondern nach Janke vertieft Fichte im Gang vom ersten Grundsatz in den praktischen Teil der Grundlage die äußere Reflexion zu einer inneren Reflexion, in welcher sich das Wissen selbst reflektiert. So betrachtet Janke das Sich-Setzen als sich setzend als absolute Reflexion. (Vgl. Janke, Sein und Reflexion, S. 19-20.) So schreibt Janke: „Ichsein bedeutet letztlich nicht einfach die gediegene Tathandlung, die unterschiedslose Identität von Subjekt und Objekt und die sich durchsetzende Kraft der Selbstbestimmung. Der Begriff der absoluten Reflexion vertieft das unbedingte Sichsetzen zum Handlungsgefüge, in welchem das Ich sich schlechthin setzt als sich setzend.“ (Ebd., S. 81-82.) 117 Vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 226. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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als eines expliziten Selbstbewusstseins wäre in der Annahme eines ursprünglichen, präreflexiven Für-sich-Seins ad absurdum geführt. Einer Deutung des absoluten Ichs des § 1 als eines ursprünglichen Für-sich-Seins widerspricht nun auch Fichtes Auffassung in § 5 der Grundlage. Hier sagt Fichte, dass das absolute Ich für sich nichts sei, wodurch er den Begriff des Für-sich-Seins des ersten Grundsatzes als defizient ausweist. Für sich ist gemäß der Formel des Sich-Setzens als sich setzend nur ein sich selbst verendlichendes, reflektierendes Bewusstsein. b) Es könnte sich in § 1 bereits um ein verdoppeltes Sich-Setzen handeln, das nur noch nicht als ein solches ausgewiesen wäre. Das Sich-Setzen in § 1 müsste demnach eine Verkürzung des Sich-Setzens als sich setzend darstellen. Gegen eine solche Interpretation ist zweierlei einzuwenden: Zum Ersten findet sich in § 1 nicht die Doppelstruktur des Sich-Setzens als sich setzend, das Ich setzt sich hier nur als Sein, zum Zweiten heißt es in § 5 ausdrücklich, dass die Struktur des einfachen Sich-Setzens kein Für-sich-Sein explizieren könne. In Bezug auf die Anstoßkonzeption findet sich in § 1 aber tatsächlich ein noch nicht abgeleiteter Wissensstand. Das Sich-Setzen setzt die Reflexion durch den Anstoß voraus. Das absolute Ich des § 1 hat Fichte zufolge keine Richtung, es ist vielmehr bloß ein Punkt: Nach der äussersten Strenge genommen ist in der gegenwärtigen Vorstellungsart das Bild des Ich ein mathematischer, sich selbst durch sich selbst konstituierender Punkt, in welchem keine Richtung, und überhaupt nichts zu unterscheiden ist; der ganz ist, wo er ist, und dessen Inhalt und Grenze (Gehalt, und Form) Eins, und eben dasselbe ist. (GWL, GA I,2, 406)
Erst durch den Anstoß ist die Unterscheidung zweier Richtungen (Wechselbegriff) möglich. 1) Die Tätigkeit des Ichs geht ins Unendliche hinaus: Ihre Richtung ist zentrifugal. 2) Die Tätigkeit des Ichs wird durch den Anstoß reflektiert: Ihre Richtung ist zentripetal. Insofern die zentripetale Richtung des Ichs auf den Anstoß zurückgeht, ist sie nicht aus dem Ich ableitbar (fremdartig), nur der Aspekt der Tätigkeit gehört zum Wesen des Ichs. Fichte verwendet die Unterscheidung von zentrifugaler und zentripetaler Richtung nicht nur im Hinblick auf das beobachtete Ich selbst, sondern auch in Bezug auf den Unterschied von transzendentaler Perspektive (Beobachterstandpunkt) und Für-sich-Sein des Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Ichs. Diese Unterscheidung findet sich in Bezug auf die Formel des Sich-Setzens als sich setzend als Wechselwirkung des Ichs mit sich selbst. In der Reflexion des Ichs ist dieses dabei sowohl Subjekt als auch Objekt: Zum einen ist die Richtung des Ichs in der Reflexion auf das Ich (genitivus obiectivus) zentrifugal. Zum anderen ist die Richtung des Ichs zentripetal, insofern dieses selbst reflektierend (genitivus subiectivus) ist. (Vgl. GWL, GA I,2, 407) Wird nun davon ausgegangen, dass das Verhältnis von Sich-Setzen und Sich-Setzen als sich setzend im Sinne eines Unterschieds einer äußeren zu einer inneren Perspektive auf das Ich verstanden werden kann, dann würde das Sich-Setzen als sich setzend eine interne Explikation der Formel des Sich-Setzens des ersten Grundsatzes darstellen. Fichte gibt nun selbst Anlass zu dieser Interpretation, wenn er eine externe und eine interne Perspektive auf das Ich unterscheidet. Gegen eine solche Deutung spricht nun aber, dass Fichte in Bezug auf Sich-Setzen und Sich-Setzen als sich setzend von zwei Arten des Setzens spricht, wobei er das Sich-Setzen bloß noch als reine Tätigkeit auffasst, die in ihrer Totalität bloße Idee ist, das SichSetzen als sich setzend aber im Sinne eines Für-sich-Seins betrachtet. Auch dass Fichte die Als-Formel als Wiederholung des Sich-Setzens versteht, spricht gegen die Annahme, dass diese eine bloße Explikation des Sich-Setzens ist. Die Wiederholung des Sich-Setzens meint dabei nicht eine bloße Aneinanderreihung, sondern eine innere Selbstverdopplung, die ein Selbstverhältnis darstellt.118 Fichte hebt in § 5 deutlich hervor, dass das bloße Sich-selbst-Setzen nicht als Für-sich-Sein gekennzeichnet werden kann. Im ersten Grundsatz betrachtet er aber das sich-selbst-setzende Ich als absolutes Subjekt im Sinne eines Für-sich-Seins. Es ist zwar richtig, dass im Rahmen der drei Grundsätze die Grundstruktur des Bewusstseins aus der Perspektive des Philosophen durch eine abstrahierende Reflexion 118 Hierzu auch Ivaldo: „‚Wiederholung des Setzens‘ heißt keineswegs Verdoppelung (Reduplikation) des Grundprinzips; ebensowenig bringt sie Zweideutigkeit noch Veränderung in die Vernunft hinein. Sie bedeutet, die Vernunft als geistiges Sein sei in einem vollkommen und offen; sie ermöglicht als geistiges Prinzipiieren die Relation, die das Wissen konstituiert, ohne in ihrem Grundgesetz relativiert zu werden und ihre ‚Wesenheit‘ preiszugeben.“ (Ivaldo, Marco, „Setzen in praktischer Sicht. Überlegungen zu § 5 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, in: Der Grundansatz der ersten Wissenschaftslehre Fichtes. Tagung des Internationalen Kooperationsorgans der Fichte-Forschung in Neapel, April 1995, hg. v. Erich Fuchs, Ives Radrizzani, Neuried, 1996, S. 216229, hier: S. 225.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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freigelegt wird. Jankes Deutung, dass damit das Ich-Prinzip nur als Sich-Setzen, nicht aber als Sich-Setzen als sich setzend eingeführt wird, ist m. E. aber nicht nachvollziehbar, da gerade die externe Perspektive des Philosophen in § 1 der Grundlage der Hinführung zur internen Perspektive des Grundprinzips dient. So taucht dann in § 1 der WL nova methodo bereits die Formel des Sich-Setzens als sich setzend auf, welche hier auf die Perspektive des Philosophen bezogen ist.119 c) Fichte unterscheidet den Standpunkt des Philosophen vom Standpunkt des ursprünglichen Ichs explizit erst in der Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Erst hier beschreibt er das Ich als doppelte Reihe von Sein und Sehen, was in der Fassung des Ichs als sich selbst sehendes Auge zum Ausdruck kommt, die ein Novum der Neuen Darstellung ist. In der Neuen Darstellung steht die Als-Formel am Anfang des Systems, insofern das „sich Setzen als setzend […] die Grundlage des ganzen hier vorzutragenden Systems ausmacht.“(VnD, GA I, 4, 276) Die Als-Formel expliziert dabei in der Neuen Darstellung sowohl die Reflexion des Philosophen als auch die Reflexion des ursprünglichen Ichs (§ 1 und § 3 WL nova methodo). Dies widerspricht einer Restriktion der Als-Formel auf die Perspektive des Philosophen. So kennzeichnet Fichte die intellektuelle Anschauung als Sich-Setzen als sich setzend und versteht diese sowohl als Methode, das Ich-Prinzip einsichtig zu machen (Ich des Philosophen) als auch als Ich-Prinzip selbst (ursprüngliches Ich). Der Begriff des absoluten Ichs wird von Fichte bereits im praktischen Teil der Grundlage in doppelter Weise verwendet: Zum einen als unbestimmte Idee. In dieser Hinsicht sagt Fichte vom absoluten Ich, es sei für sich nichts. Zum anderen steht der Begriff des absoluten Ichs hier aber auch für den Grund des Bewusstseins, der eine ursprüngliche Verschiedenheit in sich aufweisen muss, um das Herausgehen des Ichs aus sich selbst einsichtig machen zu können. In der Zweiten Einleitung des Versuchs macht Fichte dann auf eine „sonderbare Verwechslung“ zwischen zwei differenten Ich-Konzepten aufmerksam: Zum einen zwischen dem Ich als intellektueller Anschauung, mit welchem die 119 Nach Katja Crone gilt es allerdings auch in der WL nova methodo Sich-Setzen qua Grundprinzip vom Sich-Setzen als sich setzend als begrifflicher Explikation des Grundprinzips durch den Philosophen zu unterscheiden. (Vgl. Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 51-52.) Hierin übersieht Crone aber die Doppelstruktur des ursprünglichen Ichs in §§ 3/4 der WL nova methodo. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Wissenschaftslehre beginne, und zum anderen mit dem Ich als Idee, mit welchem sie schließe: Im Ich als intellectueller Anschauung liegt lediglich die Form der Ichheit, das in sich zurückgehende Handeln, welches freilich auch selbst zum Gehalte desselben wird […] Das Ich ist in dieser Gestalt nur für den Philosophen, und dadurch, daß man es fasst, erhebt man sich zur Philosophie. Das Ich, als Idee, ist für das Ich selbst, welches der Philosoph betrachtet, vorhanden; und er stellt es nicht auf, als seine eigne, sondern als Idee des natürlichen, jedoch vollkommen ausgebildeten Menschen […] Von dem ersten geht die gesammte Philosophie aus, und es ist ihr GrundBegriff; zu dem letztern geht sie hin: nur im praktischen Theile kann diese Idee aufgestellt werden, als höchstes Ziel des Strebens der Vernunft. Das erstere ist, wie gesagt, ursprüngliche Anschauung, und wird auf die zur Gnüge beschriebne Weise Begriff: das letztere ist nur Idee; es kann nicht bestimmt gedacht werden, und es wird nie wirklich seyn, sondern wir sollen dieser Idee uns nur ins unendliche annähern. (ZwE, GA I,4, 265-266)
Wenn Fichte in § 5 der Grundlage sagt, das Ich solle sich setzen als sich setzend, handelt es sich hierbei entgegen Henrichs Deutung lediglich um eine Forderung an den Philosophen, weshalb hier die Position vertreten werden soll, dass Fichte bereits im praktischen Teil der Grundlage das Ich-Modell aus § 1 revidiert. So sagt Fichte hier explizit, dass das Ich das Prinzip der Reflexion in sich führen müsse. (Vgl. GWL, GA I,2, 406-407) Im genetischen Beweis stellt Fichte die Frage, wie im Ausgang vom Für-sich-Sein des Ichs Objektivität eingeholt werden kann. Er gelangt hierbei zu der Einsicht, dass Objektivität bereits in der Reflexion des Ichs auf sich selbst ins Spiel kommen muss. Das AnstoßTheorem hindert Fichte aber daran, dieser Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen. In der WL nova methodo knüpft Fichte insofern an § 5 der Grundlage an, als er das Sich-Setzen als sich setzend zum Grundprinzip der Wissenschaftslehre macht. Da er das Nicht-Ich nun aus der Reflexionsbestimmtheit des Ichs ableiten kann, verabschiedet er das Anstoßtheorem, das er selbst anscheinend als mangelhaft ansah, und ersetzt dieses durch die Konzeption einer ursprünglichen Gebundenheit. Die Kennzeichnung der Wissenschaftslehre als IdealRealismus oder Real-Idealismus bezieht sich in der WL nova methodo so nicht mehr wie in der Grundlage auf das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich (Anstoß), sondern auf die interne Bestimmtheit des Ichs, das Fichte nun in Bezug auf das Ich des Philosophen als Einheit von Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Ich-Anschauung und Ich-Begriff, in Bezug auf das ursprüngliche Ich als Einheit von realer und idealer Tätigkeit charakterisiert. Das Ich ist nun wesentlich als „sein eigener Gedanke von sich“ (ZwE, GA I,4, 215) und als „endliche Vernunft überhaupt“ (WLnm-H, GA IV,2, 27; WLnmK, GA IV,3, 341) bestimmt.
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IV. Wissenschaftslehre nova methodo (1796 – 1799)
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Einordnung und Grundstruktur der WL nova methodo 119
1) Einordnung und Grundstruktur der WL nova methodo Schon bald nach Erscheinen der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre zeigt Fichte sich mit dieser unzufrieden. Er konzipiert daher eine neue Darstellung der Wissenschaftslehre, die sogenannte Wissenschaftslehre nova methodo. Diese Wissenschaftslehre wurde wie auch alle nachfolgenden Wissenschaftslehren von Fichte nicht für den Druck autorisiert.120 Sie ist in Form dreier Vorlesungsnachschriften erhalten: Dazu gehören: Die Hallesche Nachschrift121, die vollständig zuerst 1937 von Hans Jacob veröffentlicht wurde, die durch Erich Fuchs 1982 zum ersten Mal veröffentlichte Krause-Nachschrift122 und die unvollständige Eschen-Nachschrift123, die erst 1992 aufgefunden wurde. Fichte hat zudem begonnen, die Wissenschaftslehre nova methodo im Philosophische[n] Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, welches er seit 1797 zusammen mit Niethammer herausgab, zu veröffentlichen: Der sogenannte Versuch einer neuen
120 Fichtes Ringen um eine adäquate Form der Wissenschaftslehre, aber auch der Wille zu beständiger Selbstkorrektur, kommt so in deren zahlreichen Versionen zum Ausdruck, wobei Fichte nach der Grundlage außer einer kurzen Zusammenfassung von 1810 („Die Wissenschaftslehre, in ihrem allgemeinen Umrisse dargestellt“) keine Wissenschaftslehre mehr publiziert hat. Fichte kann so im Anschluss an Platon als ein Kritiker der Schriftlichkeit gekennzeichnet werden, wofür sich drei wesentliche Gründe anführen lassen: Zum Ersten Fichtes Misstrauen gegen die Objektivität des Buchstabens. So schreibt Fichte: „Der Buchstabe tödtet ganz besonders in der Wissenschaftslehre; welches theils an dem Wesen dieses Systems selbst, theils wohl auch an der bisherigen Beschaffenheit des Buchstabens liegen mag.“ (Fichte an Ernst Christian Schmidt, Brief vom 16. September 1798, GA III,3, 142.) Zum Zweiten wollte Fichte seine Lehre nicht mehr den Missverständnissen des Publikums aussetzen: „Der Erfinder, durch seine vieljährige Beobachtung des sogenannten litterarischen Publikum sattsam überzeugt […] ist nicht gesonnen, seine Entdeckung in ihrer dermaligen Form durch den Druck dem allgemeinen Misverständniß, und Verdrehung Preiß zu geben.“ (Fichte an das Königliche Kabinett in Berlin, Brief vom 3. Januar 1804, GA III,5, 223.) Zum Dritten wäre auch eine theoretische Unzufriedenheit als Grund anzuführen. Vgl. etwa Fichtes Verweis auf die Dunkelheit der Grundlage im Brief an Reinhold. (Vgl. Fichte an Reinhold, Brief vom 28. April 1795, GA III,2, 315.) 121 Wissenschaftslehre nach den Vorlesungen von Hr. Pr. Fichte; Nachschrift Halle an der Saale; in: GA IV,2, 17-266. 122 Vorlesungen über die Wissenschaftslehre gehalten zu Jena im Winter 17981799; Nachschrift Karl Christian Friedrich Krause, in: GA IV,3, 323-535. 123 Vier Fragmente einer Kollegnachschrift der Wissenschaftslehre nova methodo; Nachschrift Friedrich August Eschen; in: GA IV,3, 151-196. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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WISSENSCHAFTSLEHRE NOVA METHODO (1796 – 1799)
Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98) besteht aus einer Ersten und einer Zweiten Einleitung sowie aus einem ersten Kapitel. Fichte hielt eine neue Darstellung der Wissenschaftslehre dabei aus drei Gründen für erforderlich: Zum Ersten gilt es die künstliche Trennung der Grundlage in einen theoretischen und einen praktischen Teil aufzugeben, wobei nun vom Praktischen ausgegangen werden soll.(Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 380) Zum Zweiten soll statt der in der Grundlage vorherrschenden analytischen Methode eine synthetische Methode maßgebend sein. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 380) Zum Dritten soll durch einen phänomenologischen Zugang zum Ich-Prinzip in Form eines Reflexionspostulats dieses direkt im Bewusstsein nachgewiesen werden. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 343-345/ WLnm-H, GA IV,2, 30-31) Der Aufbau der WL nova methodo lässt sich wie folgt beschreiben: Die §§ 1 – 5 haben die Exposition der abstrakten Grundstruktur des Ich-Prinzips zu ihrem Gegenstand. In den §§ 6 – 12 deduziert Fichte die Bedingungen des raum-zeitlichen, empirischen Ichs, d. h. die empirische Handlungsstruktur, Raum, Zeit und Leib, wodurch die Grundstruktur des Ichs konkretisiert wird. In § 13 ist dann das theoretische Niveau erreicht, um das individuelle Ich zu deduzieren.124 124 Zu unterscheiden sind hierbei Individuum als gegen fremde Subjektivität abgegrenzte Subjektivität und Person als konkretes Einzelindividuum. Fichte geht es in § 13 also nicht um eine Ableitung der Person. Vgl. zur Deduktion des individuellen Ichs Kapitel IV.5. Vgl. zur Unterscheidung von Person und Individuum bei Fichte Crone: „Der Begriff des Individuums kennzeichnet das einzelne Subjekt, das sich im (faktischen) Vollziehen seiner Denkakte als Identisches bewusst ist. Diese Form des konkreten epistemischen Selbstbewusstseins ist von dem unbestimmten Begriff des Ich überhaupt als System allgemeiner Funktionen und Strukturen zu unterscheiden, das im Rahmen einer transzendentalphilosophischen Theorie als Bedingung für das selbstbewusste Denken angenommen wird. […] Ist demnach vom individuellen Selbstbewusstsein oder von dem Phänomen der konkreten Subjektivität die Rede, dann sind damit kognitive Akte und bestimmte Bewusstseinsphänomene gemeint, die sich das Subjekt zuschreibt, das sich darin seiner Identität bewusst ist. Davon abzugrenzen ist der […] Begriff der Person. Dieser enthält über das Konzept des einzelnen, differenzierten Subjekts hinaus qualitativ bestimmte Merkmale, die eine Unterscheidung nach bestimmten Eigenschaften ermöglichen.“ (Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 21.) Hierzu auch das von ihr angeführte Zitat aus Fichtes System der Sittenlehre, durch welches eine Unterscheidung von Individuum und Person bei Fichte nahegelegt wird: „Nun liegt es in der Ichheit […] daß jedes Ich Individuum sey; aber nur Individuum überhaupt, nicht das bestimmte Individuum A oder B oder C u. S. f.“ (SL, GA I,5, 209) Hierzu Crone: „Dieser Aussage zufolge ist die Person, das hier bezeichnete Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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Das Ich wird hier fortbestimmt zum reinen Willen als einem synthetischen Begriff. Das Ich in der WL nova methodo ist so selbst synthetisch verfasst, Fichte bestimmt es als Wechselwirkung mit sich selbst. Mit § 13 wird die Hauptsynthesis von geistiger Welt und Sinnenwelt (§§ 17 – 19) eingeleitet. Das Individuum fungiert hierbei als Vermittlungsglied zwischen beiden Welten.
2) Das Grundprinzip (§§ 1 – 5) 2.1) Das Ich des Philosophen (§ 1) Das, was ich mittheilen will, ist etwas, das gar nicht gesagt, noch begriffen, sondern nur angeschaut werden kann; was ich sage, soll nichts weiter thun, als den Leser so leiten, daß die begehrte Anschauung sich in ihm bilde.125
Die Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797) gibt die Aufgabe der Philosophie damit an, den Grund „des Systems der vom Gefühle der Nothwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühls selbst“ (ErE, GA I,4, 186), d. h. von Objekterkenntnis oder kantisch gesprochen von Erfahrung, zu explizieren. Da der Grund dabei außerhalb des Begründeten liegt, besteht die an den Philosophen ergehende Forderung in der Lösung aus der Verstricktheit des Alltagsbewusstseins in die Welt der Dinge, dem selbstvergessenen Verschwinden im Objekt, durch eine Erhebung auf den Standpunkt der Spekulation126. Fichte unterscheidet hierbei zwei Typen von Vorstellungen als unmittelbare Bestimmungen des Bewusstseins (vgl. ErE, GA I,4, 186): Zum einen solche, die abhängig von der Freiheit des Subjekts sind, d. h., denen nichts außerhalb des Subjekts entspricht. Hierbei handelt es sich in theoretischer Hinsicht um Produkte der Fantasie, in praktischer Hinsicht um Bestimmungen des Willens. Den Vorstellungen, die vom Gefühl der Freiheit begleitet sind, stellt Fichte die Vorstellungen entgegen, die vom Gefühl der Notwendigkeit begleitet ‚bestimmte Individuum‘, nicht ausschließlich aus den Grundstrukturen von Subjektivität allgemein abzuleiten, sondern wird zudem durch andere, der Subjektivität äußerliche – kontingente – Faktoren mitbestimmt.“ (Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 22.) 125 Fichte an Reinhold, Brief vom 2. Juli 1795, GA III,2, 344. 126 Zur Verwendung des Begriffs der Spekulation bei Fichte vgl. etwa WLnm-K, GA IV,3, 342; ZwE, GA I,4, 210-211, Anm.; ZwE, GA I,4, 219; ZwE, GA I,4, 274. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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sind. Diese sind insofern gebunden, als sie auf eine vom Subjekt unabhängige Wahrheit bezogen sind, der Inhalt der Erkenntnis ist hierbei nicht frei durch das Subjekt bestimmbar. Insofern die von der Freiheit abhängigen Vorstellungen allein von der Selbstbestimmung des Subjekts abhängig sind, stellt sich für Fichte hier nicht die Frage nach deren Grund, sie basieren auf der Begründung des Subjekts und sind so für dieses nachvollziehbar. Anders verhält es sich mit den vom Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, zu welchen Fichte sowohl die innere Erfahrung, d. h. die Erfahrung seelischer Vorgänge als Erscheinungen in der Zeit, als auch die äußere Erfahrung, d. h. die Erfahrung externer, zeitlich-räumlicher Objekte, zählt. Diese sind in ihrer Bestimmung nicht vom Subjekt abhängig und verlangen damit eine externe Begründung. Fichte versteht die Wissenschaftslehre als Bewusstseinstheorie, insofern das Selbst deren Thema ist. Die Wissenschaftslehre als Transzendentalphilosophie soll dabei die Bedingungen der Möglichkeit von Bewusstsein angeben und damit eine Begründung der Bewusstseinsstruktur leisten. Insofern das Bewusstsein auch als Erfahrung bestimmt werden kann, hat die Wissenschaftslehre Fichte zufolge den Grund von Erfahrung anzugeben. Das Objekt der Philosophie darf somit nicht in der Sphäre der Erfahrung liegen, da dann ein vitiöser Zirkel, d. h. eine Begründung von Erfahrung durch Erfahrung, vorliegen würde. Fichte kritisiert hier Reinholds Ausgang von einer Tatsache des Bewusstseins und damit von der inneren Erfahrung. Als Metaphysik hat die Wissenschaftslehre die Erfahrung als Physik zu begründen: „Physik ist der Umkreis der Erfahrung; die Philosophie, die sich drüber erhebt ist also Metaphysik.“(WLnm-K, GA IV,3, 332)127 Fichtes Begriff der Erfahrung ist dabei ambivalent: Zum einen bestimmt er Erfahrung als das System der vom Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, zum anderen betont Fichte aber die Zufälligkeit von Erfahrung, wenn er behauptet, dass nur bei einem als zufällig Bestimmten, d. h. bei der Erfahrung, die Frage nach einem Grund zulässig sei. Er schließt damit an den Erfahrungsbegriff Kants an: Kant bestimmt Erfahrung als eine Erkenntnis, welche Produkt der Synthesis der sinnlichen Wahrnehmung und der Kategorien des Verstandes als synthetischen Erkenntnissen a priori ist. 127 Fichte verwendet den Begriff der Physik hier im Sinne von Erfahrung und nicht im Sinne der Einzelwissenschaft, wobei er Erfahrung als Physik und Philosophie als Metaphysik kontrastiert. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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Die Erfahrung hat, insofern sie wandelbar ist, nur komparative Notwendigkeit bzw. Allgemeinheit durch Induktion, nicht aber wahre bzw. strenge Allgemeinheit. (Vgl. KrV B 3) Das Erfahrbare meint die Erscheinung, während das Ding an sich, das als solches unerkennbar ist, nicht Gegenstand der Erfahrung sein kann. Nach Kant lehrt uns die Erfahrung, dass etwas auf eine bestimmte Weise beschaffen ist, aber nicht, dass es nicht auch anders sein könne. (Vgl. KrV B 3) Erfahrung ist so zum einen determiniert, insofern sie dem Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung unterworfen ist, zum anderen aber auch zufällig, da auch eine andere kausale Verknüpfung der Ereignisse möglich wäre. Für Fichte stellt sich die Frage nach einem Grund nur bei einem Zufälligen, d. h. bei etwas, das auch anders sein könnte, das aber nicht durch Freiheit bestimmt ist. (Vgl. ErE, GA I,4, 187) Hier sind zwei Begründungsmodelle zu unterscheiden: Zum Ersten ein Modell transferierender Begründung, bei welchem Grund und Begründetes divergieren, zum Zweiten ein Modell von Selbstbegründung, welches durch die Einheit von Grund und Begründetem zu charakterisieren ist und durch die Selbstbestimmung des Ichs expliziert wird. Fichte verbindet dabei beide Begründungsmodelle: Er begründet die externe Bestimmung der Erfahrung in der Selbstbestimmung des Ichs, d. h. in den notwendigen Handlungen des Geistes, wodurch die zunächst scheinbar theoretische Verengung der Philosophie als Begründungstheorie von Erfahrung auf einen Primat der praktischen Selbstgesetzgebung der Vernunft zurückgeführt wird.128 Anders als das Objekt des Dogmatismus129, das Ding an sich, welches, insofern es bloß eine durch Freiheit hervorgebrachte Vorstellung und damit eine „bloße Erdichtung“ sei, sei das Ich an sich als Objekt der Wissenschaftslehre eine reale Entität, die im Bewusstsein nachgewiesen werden könne. (Vgl. ErE, GA I,4, 190) Fichte verweist hierbei auf die zirkuläre Struktur des Ichs, dessen Dasein vorausgesetzt werden müsse: Daß ich mir gerade so bestimmt erscheine und nicht anders, gerade als denkend, und unter allen möglichen Gedanken gerade das Ding an sich denkend, soll meinem Urtheil nach abhängen von meiner Selbstbestimmung: ich habe zu einem solchen Objecte mit Freiheit mich gemacht. Mich selbst an sich aber habe ich nicht gemacht, sondern ich bin genöthigt, mich als das zu bestimmende der Selbstbe128 Vgl. zur Bedeutung des Begriffs des Praktischen bei Fichte Kapitel IV.5. 129 Vgl. zu Fichtes Kritik des Dogmatismus Kapitel IV.3. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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WISSENSCHAFTSLEHRE NOVA METHODO (1796 – 1799) Objekt Dogmatismus
Objekt Wissenschaftslehre
Ich an sich
Erfahrung
Ding an sich
Beschaffenheit
bestimmbar
bestimmt
hervorgebracht durch Vorstellung
Dasein
vorhanden
vorhanden
hervorgebracht durch Vorstellung
Freiheit/ Notwendigkeit
Notwendigkeit
Freiheit
Begr¨ undung
Grund Selbstbestimmung
grundlos
Abb. 1: Objekt Wissenschaftslehre vs. Objekt Dogmatismus stimmung voraus zu denken. Ich selbst also bin mir ein Object, dessen Beschaffenheit unter gewissen Bedingungen lediglich von der Intelligenz abhängt, dessen Daseyn aber immer vorauszusetzen ist. (ErE, GA I,4, 189-190)
Die Einnahme des künstlichen Standpunktes der Spekulation kennzeichnet Fichte als Experiment.130 Der Begriff des Experiments umfasst dabei folgende Momente: 1) Es handelt sich um eine wissenschaftliche Versuchsanordnung, in welcher eine Hypothese aufgestellt wird, welche entweder bestätigt oder widerlegt wird. Die Wissenschaftslehre geht dabei von der Annahme aus, dass die Erfahrung aus der intellektuellen Anschauung der absoluten Selbsttätigkeit abgeleitet werden kann. 130 Die Rede vom Experiment schließt an die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft an. Kant sagt dort, die großen Naturforscher nötigen die Vernunft, auf ihre Fragen zu antworten: „Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ (KrV B XIII) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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2) Die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit: Die Wissenschaftslehre stellt keine willkürliche Konstruktion des Philosophen dar, sondern die transzendentalphilosophisch präparierte Vernunft antwortet planmäßig auf bestimmte Fragen. (Vgl. WLnm-K, GA, IV,3, 350) Insofern der Gegenstand der Wissenschaftslehre die selbsttätige Vernunft ist, unterscheidet Fichte zwei Reihen des geistigen Handelns: „In der WissenschaftsLehre giebt es zwei sehr verschiedene Reihen des geistigen Handelns: die des Ich, welches der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen.“ (ZwE, GA I,4, 210) Hier gilt es mit einem Missverständnis aufzuräumen: Experiment meint bei Fichte keinen empirischen Vorgang, sondern vielmehr das Zusehen der objektiven Selbstkonstruktion des Ich-Prinzips, in dessen Dienst die intellektuelle Anschauung als reine Anschauung gestellt ist.131 Die Erhebung auf den Standpunkt der Spekulation geschieht durch einen willkürlichen Akt der Freiheit, die Konstruktion des Prinzips erfolgt aber notwendig und objektiv: „Die WißenschaftsLehre ist nicht etwa selbst Erzeugerin einer Erkenntniß, sie ist bloß Beobachtung des menschlichen Geistes im ursprünglichen Erzeugen aller Erkenntniß“. (WLnm-K, GA IV, 3, 480) 3) Die Wissenschaftslehre ist keine Formularphilosophie, sondern sie weist einen Realgehalt auf, ihr Prinzip „ist nicht ein todter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhalte, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas mache, sondern es ist ein Lebendiges und Thätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt und welchem der Philosoph bloß zusieht.“ (ZwE, GA, I,4, 209) Insofern Fichte in der WL nova methodo auf die unmittelbare Evidenz der intellektuellen Anschauung132 rekurriert, lässt sich diese auch 131 So schreibt Fichte in der Neuen Bearbeitung der W.L.: „Es soll dem Leser hier gar nichts einer Begebenheit ähnliches, positives, erzählt werden, kein Resultat vorausgesezt, keine Geschichte eines fremden Denkens. Man ist an die psychologische Ansicht so gewöhnt, daß man gar nicht darüber hinweg kommen kann. Hier ist nun schlechterdings nie Psychologie.“ (NB, GA II,5, 333) 132 Die Behauptung einer unmittelbaren Evidenz hat Fichte dabei skeptische Einwände eingebracht, da diese ein nicht zu Begründendes ist und damit als dogmatische Voraussetzung kritisiert werden könnte. (Vgl. etwa die Kritik Hegels, dazu Exkurs 3). Fichte würde hiergegen wohl einwenden, dass die unmittelbare Evidenz der intellektuellen Anschauung gerade keine dogmatische Voraussetzung darstellt, da im Bewusstsein vom Ich nicht abstrahiert werden könne und dieses als unmittelbare Einheit von Gedanke und Existenz keine willkürlich postulierte Entität sei. Für Hegel gibt es hingegen nichts, was nicht zugleich unmittelbar und vermittelt ist. (Vgl. WdL,TWA 5, 66) Dies gilt auch Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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als Phänomenologie verstehen. Die Konzeption einer pragmatischen Geschichte des Geistes133, die einen eminenten Einfluss auf Schelling und Hegel ausübte, und die Fichte in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre erst ab Ende der „Grundlage des theoretischen Wissens“ entfaltet, avanciert in der WL nova methodo zum Programm.134 vom Begriff des Ichs, insofern dieser sowohl das Einzelne und damit Unmittelbare (konkretes Individuum) als auch das durch einen Abstraktionsakt konstituierte Allgemeine (jeder ist Ich) und damit eben nicht Unmittelbare expliziert. (Vgl. WdL, TWA 6, 253) Das Ich fungiert dabei für Hegel allerdings nicht als Grundprinzip, insofern hierdurch das Missverständnis nahegelegt wird, das empirische Ich sei hiermit gemeint, sondern das Denken des Denkens. Dieses ist zugleich unmittelbar und mittelbar, insofern es lediglich durch sich selbst vermittelt ist. 133 Zur Bedeutung des Terminus der pragmatischen Geschichte des Geistes bei Fichte vgl. etwa Andreas Schmidt, der auf die Bedeutung von „pragmatisch“ bei Kant hinweist, wonach eine Geschichte pragmatisch sei, insofern sie klug mache: „Fichtes Geschichte des Selbstbewusstseins ist pragmatisch, weil sie demonstriert, wie das Ich durch eine Reihe von Fehlversuchen schließlich zum adäquaten Selbstbewusstsein findet. Sie bewertet die in der Erfahrung aufgefundenen Tatsachen des Bewusstseins hinsichtlich ihrer Nähe oder Ferne zum absoluten Ich und beschränkt sich nicht darauf, sie zu beschreiben.“ (Schmidt, Der Grund des Wissens, S. 52, Anm. 41.) 134 Dies ist vorzubringen gegen die Behauptung Ulrich Claesges’, das Programm einer Geschichte des Selbstbewusstseins sei nur beim frühen Fichte bis 1795 relevant. Claesges zufolge fällt durch das Wegfallen der dialektischen Methode der Grundlage in der WL nova methodo, also durch die erste Reihe, nun auch die zweite Reihe, d. h. die Geschichte des Selbstbewusstseins, weg: „Jener Neuansatz [der der Neuen Darstellung, S.D.] hat aber weitreichende Konsequenzen für die Gesamtgestalt der Wissenschaftslehre. Mit ihm fällt nämlich der für die frühe Wissenschaftslehre konstitutive Unterschied der Reflexionsreihen fort und damit die Möglichkeit, die zweite Reihe als Geschichte des Selbstbewusstseins zu interpretieren. Ist das Selbstbewusstsein […] ein über die intellektuelle Anschauung zu explizierendes Gefüge von Anschauung und Begriff, von Handeln und Sein, von Selbstbestimmung und Bestimmtheit, so muss es (das Selbstbewusstsein) nicht mehr als Resultat einer Geschichte seiner selbst entwickelt werden.“ (Claesges, Ulrich, Geschichte des Selbstbewusstseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 – 95, Den Haag, 1974, S. 4.) Hierdurch wird das Programm einer Geschichte des Selbstbewusstseins aber gerade prägnant, da die WL nova methodo gegenüber der Grundlage mit dem konkreten Aufweis des Selbstbewusstseins einsetzt, das es schrittweise zu rekonstruieren gilt. Dazu auch Klaus Düsing: „Doch nicht nur das Prinzip des reinen Ich, auch die konkreteren Bestimmungen müssen die unendliche Iteration des Ich in der Selbstvorstellung und den Zirkel vermeiden. Solche konkreteren Bestimmungen werden in der von Fichte konzipierten […] idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins entwickelt. Die idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins, die für Fichte in der Grundlage von 1794/95 zunächst nur für einen Teil der WissenschaftsSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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lehre, innerhalb der WL nova methodo aber im Prinzip den ganzen transzendentalen Idealismus ausmacht, vermeidet sowohl das bloße Nebeneinanderstellen der Vermögen wie in der empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts, somit den ‚Sack voller Vermögen‘, wie Hegel spottet, als auch die Schilderung einer lediglich empirisch-zeitlichen Entwicklung eines Vermögens nach dem anderen wie etwa im Sensualismus Condillacs als auch die apriorische statische Systematik der Vermögen, wie Kant sie aufstellt. Die idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins soll für Fichte als transzendentalphilosophische Fundierung von Anthropologie und Psychologie vielmehr die ideale Genesis erfüllten Selbstbewusstseins aufzeigen. Dabei hat sie zwei grundlegende Aufgaben zu bewältigen: Sie muss zum einen die verschiedenen Vorstellungsvermögen und –leistungen in systematisch geregeltem Zusammenhang stufenweise idealgenetisch entwickeln, bis komplexe, erfüllte Selbstvorstellung erreicht wird. Sie muss zum anderen zwischen dem betrachtenden, vollständig entwickelten philosophischen Ich einerseits und dem betrachteten Ich, das entwickelt wird, andererseits prinzipiell unterscheiden und in der Explikation der Entwicklung der Vermögen zeigen, wie das betrachtete Ich oder das IchObjekt sich im Fortgang zunehmend mit Bestimmungen der Subjektivität anreichert, bis es die Struktur des vollentwickelten Ich und dessen Selbstvorstellung erreicht, so dass sich dieses im Ich-Objekt vollständig wiederfindet. Die systematische Kombination beider Aufgaben findet sich dann deutlicher in Schellings System des transzendentalen Idealismus und in Hegels Phänomenologie.“ (Düsing, Klaus, „Strukturmodelle des Selbstbewusstseins. Ein systematischer Entwurf“, in: Fichte-Studien 7 (1995), S. 7-26, hier: S. 14.) Vgl. auch Düsing, Edith, Intersubjektivität und Selbstbewusstsein, S. 260-262. Vgl. in diesem Sinne auch Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 45. Zur Konzeption der Geschichte des Selbstbewusstseins vgl. auch Stolzenberg, Jürgen, „‚Geschichte des Selbstbewusstseins‘. Reinhold – Fichte – Schelling“, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Konzepte der Rationalität, hg. v. Karl Ameriks, Jürgen Stolzenberg, Band 1 (2003), S. 93-113. Breazeale unterscheidet (mit Fichte, vgl. WLnm-H, GA IV,2, 107-108) drei synthetische Methoden bei Fichte: Erstens eine dialektisch-synthetische Methode im zweiten Teil der Grundlage und in den späteren Passagen des Naturrechts, zweitens eine phänomenologisch-synthetische oder auch genetische Methode im dritten Teil der Grundlage, im ersten Teil der WL nova methodo und in den ersten sechs Paragraphen des Naturrechts und drittens eine Mischform beider Methoden im zweiten Teil der WL nova methodo. Während in der dialektischen Methode von einem Widerspruch ausgegangen wird, der synthetisch zu lösen versucht werde, wird in der genetischen Methode mit einer Hauptaufgabe oder einem Postulat begonnen, welche durch eine Reihe mittelbarer Sätze ausgeführt wird. Bei der Mischform beider wird mit einem bereits aufgestellten, aber noch unbestimmten Grundsatz begonnen, was dem Ausgang von einem Widerspruch in der dialektischen Methode entspricht, welcher dann schrittweise aufgeklärt wird. Der genetischen Methode korrespondiere dabei Fichtes Konzeption einer pragmatischen Geschichte des Geistes. Es handle sich hierbei um eine Methode innerer Beobachtung, in welcher es die apriorischen Bedingungen des Bewusstseins, d. h. die reinen, notwendigen Handlungen des Ichs. aufzuweisen gelte. Im Sinne einer deskriptiven reellen Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Dem Gehalt der Wissenschaftslehre ist hierbei insofern Realität zuzuschreiben, als die Wissenschaftslehre in einer Reflexion der Reflexion die Handlungen des menschlichen Geistes systematisch rekonstruiert.135 Zur Geschichte des menschlichen Geistes äußert sich Fichte dabei bereits in den Eignen Meditationen (vgl. EM, GA II, 3, 107) und dann auch in der Begriffsschrift. Hier geht es um den Unterschied von Wissenschaftslehre als Darstellung des Systems des menschlichen Geistes und des Systems des Geistes selbst. Die Rede von „Geschichte“ Philosophie werde der Gegenstand nicht fabriziert, sondern in innerer Anschauung entdeckt. Der Philosoph sei hierbei nicht nur in der passiven Rolle des Beobachters, sondern auch in der aktiven Rolle des reinen Ichs, wobei die Aufdeckung der notwendigen Bedingungen des Ichs insofern auch logisch sei, als sie den erst zu explizierenden Denkgesetzen unterworfen ist. (Vgl. Breazeale, Daniel, „Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens. Kantische Fragen, Fichtesche Antworten“, in: Kant und der Frühidealismus, hg. v. Jürgen Stolzenberg, Hamburg, 2007, S. 81-102.) Bezeichnenderweise spricht Fichte ja auch in der WL nova methodo von einer „Geschichte des Bewusstseins“: „Die Beschränktheit von der geredet worden, ist also eine die ich mir selbst zufüge zufolge eines ursprünglich in mir vorhandenen Begriffs, es wäre demnach ein Anfang zu machen die Geschichte des entstehenden Bewußtseins zu beschreiben.“ (WLnm-K, GA IV, 3, 464) 135 So schreibt Fichte in der Grundlage: „Die vorhergehende Reihe der Reflexion, und die künftige sind zuvörderst unterschieden ihrem Gegenstande nach. In der bisherigen wurde reflektirt über Denkmöglichkeiten. Die Spontaneität des menschlichen Geistes war es, welche den Gegenstand der Reflexion sowohl […] als die Form der Reflexion, die Handlung des Reflektirens selbst, hervorbrachte. Es fand sich, daß das, worüber sie reflektirte, zwar etwas reelles in sich enthielt, das aber mit leerem Zusatz vermischt war, der allmählich abgesondert werden mußte, bis das für unsre Absicht, d.i. für die theoretische Wissenschaftslehre, hinlänglich wahre, allein übrig blieb. – In der künftigen Reflexionsreihe wird reflektirt über Fakta; der Gegenstand dieser Reflexion ist selbst eine Reflexion; nemlich die Reflexion des menschlichen Geistes über das in ihm nachgewiesne Datum (das freilich bloß als Gegenstand dieser Reflexion des Gemüths über dasselbe ein Datum genannt werden darf, denn ausserdem ist es ein Faktum). Mithin wird in der künftigen Reflexionsreihe der Gegenstand der Reflexion nicht erst durch die gleiche Reflexion selbst hervorgebracht, sondern bloß zum Bewußtsein erhoben. – Es geht daraus zugleich hervor, daß wir es von nun an nicht mehr mit bloßen Hypothesen zu thun haben, in denen der wenige wahre Gehalt von dem leeren Zusatze erst geschieden werden muß; sondern daß allem, was von nun an aufgestellt wird, mit völligem Rechte Realität zuzuschreiben sey. – Die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes. Bis jezt haben wir gearbeitet, um nur erst einen Eingang in dieselbe zu gewinnen; um nur ein unbezweifeltes Faktum aufweisen zu können. Wir haben dieses Faktum; und von nun an darf unsre, freilich nicht blinde sondern experimentirende Wahrnehmung, ruhig dem Gange der Begebenheiten nachgehen.“ (GWL, GA I,2, 364) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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bezieht sich also auf die systematische Rekonstruktion des Systems des Geistes durch den Philosophen: Das System des menschlichen Geistes, dessen Darstellung die Wissenschaftslehre seyn soll, ist absolut gewiß und infallibel; alles, was in ihm begründet ist, ist schlechthin wahr; es irrt nie, und was je in einer Menschenseele gewesen ist, oder seyn wird, ist wahr. Wenn die Menschen irrten, so lag der Fehler nicht im Nothwendigen, sondern die reflektirende Urtheilskraft machte ihn in ihrer Freiheit; indem sie ein Gesetz mit einem andern verwechselte. Ist unsre Wissenschaftslehre eine getroffene Darstellung dieses Systems, so ist sie schlechthin gewiß und infallibel, wie jenes; aber die Frage ist eben davon, ob und in wie fern unsre Darstellung getroffen sei; und darüber können wir nie einen strengen, sondern nur einen Wahrscheinlichkeit begründenden Beweiß führen. Sie hat nur unter der Bedingung, und nur in so fern Wahrheit, als sie getroffen ist. Wir sind nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern seine Historiographen; freilich nicht Zeitungsschreiber, sondern pragmatische Geschichtsschreiber. (BWL, GA I,2, 146-147)
4) Der genetische Charakter der Wissenschaftslehre: Im Anschluss an den genetischen Beweis der Grundlage weist die WL nova methodo eine genetische Methode auf. Im genetischen Beweis in § 5 der Grundlage sucht Fichte die Frage nach der Möglichkeit eines Herausgehens aus dem Ich durch den Aufweis einer internen Strukturierung des Ichs zu beantworten. Fichte bestimmt das Für-sich-Sein des Ichs hier als ein in sich gedoppeltes Sich-Setzen, was er in der Formel des Sich-Setzens als sich setzend zum Ausdruck bringt.136 Die 136 Auch Frederick Neuhouser betont die revidierte Konzeption des Grundprinzips in der Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Neuhouser zufolge kommt es hierbei zu zwei grundlegenden Änderungen: Erstens: Während Fichte 1794 einen bloß theoretischen Anfang ansetze, wobei das Problem bestehe, dass hieraus nicht das Vermögen der praktischen Vernunft deduziert werden könne, beginne er 1797 mit einem praktischen Prinzip, wodurch es gelinge, die Einheit von Theorie und Praxis einsichtig zu machen. Am Anfang stehe so nicht mehr nur eine Aussage über das Selbstbewusstsein des theoretischen Subjekts, sondern ein Prinzip, das die Fähigkeit zu praktischer Selbstbestimmung behauptet. Zweitens: Das erste Prinzip drücke nicht mehr ein absolut gewisses Faktum aus, sondern hat den Status eines Glaubens, der im eigenen Interesse der Autonomie begründet ist. (Vgl. Neuhouser, Fichte’s Theory of Subjectivity, S 57.) Die hier vorgeschlagene Lesart ist eine etwas andere: So müssen methodischer Zugang zum Grundprinzip und Binnenstruktur des Grundprinzips unterschieden werden. In Bezug auf den methodischen Zugang ist zu sagen, dass die Grundlage theoretisch verfährt, die Neue Darstellung hingegen praktisch, was in der GegenüberSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Neukonzeption des Ichs als produktiv-reflexive Doppelstruktur kann dabei als Replik auf Friedrich Hölderlins Kritik gelesen werden, das absolute Ich des § 1 sei, da es alle Realität enthalte und es für dasselbe kein Objekt gebe, sich selbst nicht objektiv und damit kein Für-sich-Sein, sondern ein dem Bewusstsein Transzendentes.137 Das Ich ist so nur für sich, indem es sich selbst im Begreifen seiner unendlichen Produktivität als Ich repräsentiert. Fichte bestimmt das Grundprinzip in der WL nova methodo so als endliche Vernunft überhaupt: Der Idealismus geht aus von dem Sichsetzen des Ich, oder von der endlichen Vernunft überhaupt; aber wenn von einem überhaupt die Rede ist, so ist dieß ein unbestimmter Begriff, er geht also von einem unbestimmten Begriffe aus, nun sieht der Idealist dem Bestimmen der Vernunft in ihren Begrenzungen zu, und läßt durch das Bestimmen ein vernünftiges Individuum, ein würkliches Vernunftwesen werden, welches etwas ganz anderes ist als der unbestimmte Begriff vom Ich. (WLnm-K, GA IV,3, 341)
Die Transformation des Grundprinzips vom absoluten Ich zu einer endlichen Vernunft überhaupt138 im Anschluss an § 5 der Grundlage stellung von Grundsatz und Postulat zum Ausdruck kommt. In Bezug auf die Binnenstruktur versucht Fichte das Grundprinzip bereits in der Grundlage als Einheit von Theorie und Praxis auszuweisen, wobei allerdings das Sich-Setzen qua bloß unbestimmte Tätigkeit die theoretische Dimension des Wissens nicht zu explizieren vermag. Dies gelingt erst mit der Repräsentationsstruktur des Sich-Setzens als sich setzend. 137 Vgl. Waibel, Hölderlin und Fichte, S. 49. 138 Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 27; WLnm-K, GA IV,3, 341. Auch Hanewald nimmt für die WL nova methodo eine Neukonzeption des Ich-Prinzips an, das nun als endliche Vernunft zu charakterisieren sei (vgl. zur Neukonzeption des Grundprinzips als endliche Vernunft in der WL nova methodo Hanewald, Apperzeption und Einbildungskraft, S. 215-258): „Bei diesen eigentümlichen Veränderungen, die Inhalt und Methode der Wissenschaftslehre in der neuen Darstellung erfahren, ist es durchaus nicht mehr selbstverständlich, inwiefern das ursprüngliche Ich weiterhin als absolut bezeichnet werden kann. In der Grundlage ist ihm dieses Attribut wohl aufgrund zweier Umstände beizulegen: Erstens ist es vollständig unbedingt, so dass ihm im System weder etwas Höheres vorausgeht noch der Fortgang desselben in der Darlegung seiner Bedingungen besteht. […] Zweitens ist das reine Ich aufgrund dieser Vorgaben als unendlich zu bestimmen, da ihm zunächst nichts entgegensetzt ist, durch das es seine Einschränkung erfährt. Beide Merkmale entfallen nun jedoch in der Wissenschaftslehre nova methodo: Das Sich-Setzen wird keineswegs mehr als unbedingt angenommen; vielmehr ist es Charakteristikum des veränderten methodischen Fortschreitens, sukzessive seine Bedingungen zu entwickeln. Dies Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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führt in der WL nova methodo zur Neuorganisation der Wissenschaftslehre. Während in der Grundlage Synthesen eingeschoben werden, um den Widerspruch von absolutem und durch das Nicht-Ich bestimmtem, endlichem Ich hinauszuschieben, meint Synthesis in der WL nova methodo ein Herausgehen aus dem Ich, ein Anknüpfen eines Neuen mittels des Reflexionsgesetzes der Entgegensetzung. 5) Das Experiment fordert zum aktiven Nachvollzug und involviert so den Rezipienten der Wissenschaftslehre unmittelbar. Wem der Nachvollzug der geforderten Handlung nicht gelingt, dem bleibt die Wissenschaftslehre unverständlich und verschlossen. Philosophieren ist für Fichte wesentlich „Selbstdenken“ (WLnm-H, GA IV,2, 25; WLnm-K, GA IV,3, 339). Fichte will so eine „feste Terminologie“ vermeiden,139 diese sei „das bequemste Mittel für Buchstäbler jedes System seines Geistes zu berauben“. (GWL, GA I,2, 252) Um den Vorwurf des „Transscendentismus“140 (GWL, GA I,2, 414), der an der Konzeption des absoluten Ichs der Grundlage neben Hölderlin auch von Friedrich Immanuel Niethammer und Fichtes Jenaer Kollegen Karl Chr. E. Schmid geübt wurde,141 zu entkräften, greift Fichte in der WL nova methodo auf die in den Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie und der Aenesidemus-Rezension erwähnte, in der Begriffsschrift und der Grundlage aber ausgesparte Konzeption der intellektuellen Anschauung zurück.142 Fichte gibt so
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140 141 142
gelingt in einem ersten Schritt aufgrund der Endlichkeit und Bestimmtheit des Subjekts, die ein ergänzendes Entgegensetzen erforderlich machen. Unbedingt ist das absolute Ich hingegen wohl insofern, als auch das Nicht-Ich keine von außen an es herantretende, gleichursprüngliche Entität darstellt, was nach Fichte einem Dualismus gleichkäme…“ (Hanewald, Apperzeption und Einbildungskraft, S. 257.) Fichte betont so in Bezug auf die verschiedenen Versionen der Wissenschaftslehre, dass es sich hierbei lediglich um verschiedene Darstellungen seines Grundgedankens, nämlich eines Systems der Freiheit, handelt. Vgl. zur Kontinuität von Fichtes Grundgedanken: Schmidt, Der Grund des Wissens. Der Begriff „Transscendentismus“ wird vor Fichte bereits von Niethammer gebraucht. (Vgl. Waibel, Hölderlin und Fichte, S. 51-52.) Zum Vorwurf des Transzendentismus vgl. auch Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 26. Vgl. hierzu Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 11-12. Crone geht es um die Plausibilisierung der Notwendigkeit der Annahme einer transzendentalen Subjektivität, da konkrete Subjektivität, d. h. intentionales Bewusstsein, nicht aus sich selbst heraus verständlich zu machen sei. (Vgl. Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 29.) Sie will dabei durch das Aufzeigen der Einbettung von transzendentaler in konkreter Subjektivität die Kritik an Fichtes Konzeption eines transzendentalen Ichs (Hegel; sprachanalytische Philosophie) entkräften. Fichtes Ansatz bestehe so nicht darin, nur die Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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dem Begriff der Tathandlung in der WL nova methodo eine neue Bedeutung: Während Tathandlung in § 1 der Grundlage die reine Tätigkeit des absoluten Ichs als Einheit von Setzen und Sein bezeichnet, die als Voraussetzung nur notwendig hinzugedacht werden könne, deutet Fichte den Begriff nun im Sinne eines Postulats als Aufforderung zu einer Handlung: Der Begriff der Tathandlung „soll nichts anderes heißen, als man soll innerlich handeln, und diesem Handeln zusehen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 344) Das Postulat setzt sich dabei aus zwei Handlungsanweisungen zusammen: „Es denke nun jeder sein Ich, u. gebe dabey achtung wie er es mache.“ (WLnm-H, GA IV,2, 29) Erstens soll man sich selbst denken. Zweitens soll das Sich-Denken Gegenstand einer erneuten Reflexion werden, insofern zu bemerken ist, wie man verfährt, während man sich denkt. Um das Postulat zu verdeutlichen und sicherzustellen, dass dieses adäquat verstanden wird, expliziert Fichte den Begriff des Ichs, indem er diesen vom Gegenstandsbewusstsein abgrenzt.143 Während im Bewusstsein eines Objekts Subjekt und Objekt differieren, wobei die Tätigkeit des Ichs nach außen gerichtet ist, fallen sie im Ichbewusstsein als Sich-Denken zusammen, die Tätigkeit des Ichs geht in sich selbst zurück. Da im Sich-Denken Denkendes und Gedachtes identisch sind, handelt es sich für Fichte bei diesem um ein unmittelbares Sich-Anschauen. Die Bestimmung des Ich-Prinzips als intellektuelle Anschauung wird dabei der Verfassung des Grundes der Wissenschaftslehre gerecht: Zum Ersten kann die Anschauung die Ich-Tätigkeit explizieren, das Ich-Prinzip ist kein leerer Begriff, sondern es hat qua Tätigkeit Gehalt. Zum Zweiten bringt die Anschauung die Unmittelbarkeit des unbedingten Grundes der Wissenschaftslehre zum Ausdruck. Fichte kennzeichnet das Ich so als unmittelbares Bewusstsein. Als absolute Identität von Subjekt und Objekt ist das Ich durch nichts anmethodologische Notwendigkeit der Annahme der Allgemeingültigkeit empirischer Denkleistungen durch ein transzendentales Ich darzulegen, da dieses dabei ein Transzendentes wäre, sondern vielmehr um den Aufweis des transzendentalen Ichs als Bedingung empirischen Denkens als diesem immanentes Prinzip. (Vgl. ebd., S. 31-32.) 143 Schwabe ergänzt das Doppelpostulat um ein drittes implizites Postulat. Dieses bestehe in der Aufforderung, aus der individuellen intellektuellen Anschauung qua Phänomen, welche durch das Doppelpostulat vollzogen werde, den Begriff des reinen Ichs qua reine intellektuelle Anschauung zu extrahieren, weshalb Fichte an das Doppelpostulat eine Beschreibung des reinen Ichs anschließe. (Vgl. Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 370-373.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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deres, sondern nur durch sich selbst begründet. Die Anschauung expliziert so den Charakter des Ich-Prinzips, das als unbedingter Grund einen absoluten Gehalt aufweist. Das Ich ist zum Dritten als unhintergehbares Selbstverhältnis in sich zurückgehende Tätigkeit, weshalb Fichte die intellektuelle Anschauung als reine Reflexion bestimmt: Alles Bewustsein ist begleitet von einem unmittelbaren Selbstbewustsein, genannt, intellectuelle Anschauung, und nur in Voraussetzung dessen, denkt man. Das Bewustsein aber ist Thaetigkeit und das Selbstbewustsein insbesondere in sich zurükgehende Thaetigkeit der Intelligenz, oder reine Reflexion. (WLnm-K, GA IV,3, 350)
Im Folgenden soll nun die interne Struktur des Ichs in § 1 der WL nova methodo analysiert werden: a) Explikation des Begriffs des Ichs Fichte expliziert zunächst den Begriff des Ichs anhand des Vollzugs des Reflexionspostulats: Man denke sich den Begriff Ich, und denke dabei an sich selbst. Jeder versteht, was dieß heißt, jeder denkt darunter etwas, er fühlt sein Bewustsein auf eine gewiße Weise bestimmt, daß er sich eines gewißen bewust ist. Man bemerke nun, wie man es mache, indem man diesen Begriff denkt. (WLnm-K, GA IV,3, 345)
Dieses besteht aus zwei Handlungsanweisungen: 1) Den Begriff des Ichs zu denken, wodurch die unmittelbare Evidenz bzw. der Gehalt des Postulats gesichert werden soll. 2) Auf das Verfahren des SichDenkens selbst zu reflektieren, wodurch der erste Schritt des Postulats expliziert werden soll. Fichte charakterisiert den Begriff des Ichs als Einheit von Subjekt und Objekt, welche durch ein selbstbezügliches Handeln zustande komme. Die Einheit von Tätigkeit und IchBegriff, von Subjekt und Objekt beschreibt Fichte dabei als absolut: So entsteht der Begriff des Ichs einerseits nur durch eine in sich zurückgehende Tätigkeit und durch keine andere Tätigkeit. Andererseits ist der Begriff des Ichs das einzig mögliche Produkt der in sich zurückgehenden Tätigkeit. In sich zurückgehende Tätigkeit und Begriff des Ichs sind identisch. Aus der Beschreibung des Begriffs des Ichs als in sich zurückgehende Tätigkeit resultiert für Fichte nun ein Einwand gegen sein Modell:
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Das Ich ist nicht Seele, die Substanz ist; jeder denkt sich bei dem Ich noch etwas im Hinterhalte. Man denkt: ehe ich so und so es machen kann, muß ich sein. Diese Vorstellung muß gehoben werden. Wer dieß behauptet, behauptet daß das Ich unabhängig von seinen Handlungen sei; oder man sagt ferner: ehe ich handeln konnte, mußte doch ein Object sein, auf das ich handelte. Aber was will denn dieser Einwurf sagen? wer machte denn diesen Einwurf? Ich selbst; ich setzte mich also vorher selbst, und der ganze Einwurf ließe sich auch so ausdrücken: ich kann das Setzen des Ich nicht vornehmen, ohne ein Gesetztsein des Ich durch sich selbst anzunehmen. (WLnm-K, GA IV,3, 345)
Fichte zufolge lässt sich der Einwand der Zirkularität gegen sein Ich-Modell dabei sowohl im Ausgang vom Ich als Subjekt als auch vom Ich als Objekt formulieren. Gegen das Argument, das Ich-Subjekt müsse als Urheber der in sich zurückgehenden Tätigkeit vorausgesetzt werden, wendet Fichte ein, dass das Ich nicht unabhängig von seiner Tätigkeit als externe Substanz (Seele) verstanden werden dürfe.144 Ich und Tätigkeit seien, wie bereits ausgeführt, identisch. Zum anderen könne argumentiert werden, dass das Ich als Objekt, als Produkt der in sich zurückgehenden Handlung vorausgesetzt werden müsse. Die Handlung müsse also bereits ein Ziel haben, auf das sie ausgerichtet ist. Fichte gibt hierbei zu bedenken, dass bereits der Einwurf das Ich voraussetze, dass also vom Ich nicht abstrahiert werde könne. Die Voraussetzung des Gesetztseins des Ichs als Objekt ist notwendig mit der zirkulären Struktur der in sich zurückgehenden Tätigkeit verbunden. Wie bereits in Bezug auf die Explikation des Ich-Begriffs ausgeführt, gibt es keine Ich-Tätigkeit ohne Ich-Begriff als deren Produkt und umgekehrt auch keinen Ich-Begriff ohne Ich-Tätigkeit. Anschließend an den zweiten Schritt des Reflexionspostulats („Was hat man nun gethan, indem [während, S.D.] man handelte, und wie hat man es gemacht?“ (WLnm-K, GA IV,3, 346)) lässt sich 144 Fichte schließt sich hier Kant an, der im Paralogismen-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft das Substanzmodell des Ichs, wie es in Descartes’ Konzeption einer res cogitans zum Ausdruck kommt, kritisiert. Kant kann so nicht als Vertreter eines Reflexionsmodells betrachtet werden, da die reine Apperzeption lediglich eine irreflexive Leerstelle, die weder Anschauung noch Begriff ist, darstellt. So ist der von Kant beschriebene Zirkel kein Signum der Reflexionstheorie, sondern er expliziert vielmehr die konstruktive Verstellung des transzendentalen Ichs als einer logischen Voraussetzung. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Fichte zufolge nun ein weiterer Einwand, nämlich der eines infiniten Regresses, gegen sein Ich-Modell formulieren: Man hat bisher so gefolgert: Entgegen gesezter Dinge oder äußerer Objekte können wir uns nicht bewußt seyn ohne uns selbst bewußt zu seyn, d. h. uns selbst Objekt zu seyn. Durch den Akt unsers Bewußtseyns, dessen wir uns dadurch bewußt werden können, daß wir uns wieder als Objekt denken, und dadurch Bewußtseyn von unserm Bewußtseyn erlangen. Dieses Bewußtseyns von unserem Bewußtseyn werden wir […] nur dadurch bewußt, daß wir dasselbe abermahls zum Objekt machen, u. dadurch Bewußtseyn von dem Bewußtseyn unseres Bewußtseyns erhalten, und so ins Unendliche fort. – Dadurch aber wurde dieses unser Bewußtseyn nicht erklärt, oder es giebt dem zu Folge gar kein Bewußtseyn, indem man es als Zustand des Gemüths oder als Objekt annimmt, u. daher immer ein Subjekt voraussetzt, dieses aber niemahls findet. Diese Sophisterei lag bisher allen Systemen – selbst dem Kantischen – zum Grunde. (WLnm-H, GA IV,2, 30)
Fichte skizziert nun zunächst das Modell, aus dem der Einwand resultiert, um diesen dann zu widerlegen. Er weist Selbstbewusstsein hierbei zunächst als Bedingung von Objektbewusstsein aus, da Objektbewusstsein aufgrund der radikalen Differenz von Subjekt und Objekt kein Bewusstsein darstellen würde, wenn Selbstbewusstsein (als Subjekt-Objekt-Einheit) nicht als Vermittlungsinstanz eintreten würde. Selbstbewusstsein charakterisiert Fichte als eine Art Meta-Bewusstsein, als Bewusstsein des Aktes des Bewusstseins. Als solches müsste Selbstbewusstsein nun aber wiederum durch ein höherstufiges Bewusstsein repräsentiert werden. Dieses Erklärungsmodell würde allerdings in einen infiniten Regress führen, da jedes Bewusstsein selbst wieder durch ein weiteres Bewusstsein repräsentiert werden müsste, wobei kein Bewusstsein sich selbst repräsentieren würde. Die einseitige Auffassung des Bewusstseins als eines bloßen Objekts würde so die Voraussetzung des Bewusstseins als Subjekt implizieren. Fichte zufolge lässt sich dieser Einwand nur durch die Charakterisierung des Selbstbewusstseins als eines unmittelbaren Bewusstseins widerlegen, d. h. als unmittelbare Einheit von Subjekt und Objekt: „Dieser Einwurf ist nur so zu heben, daß man ein Object des Bewustseins finde, welches zugleich Subject wäre; dadurch ein ummittelbares Bewustsein aufgezeigt würde, ein Object, dem man nicht ein neues Subject entgegenzusezen hat.“ (WLnm-K, GA IV,3, 346) Der zweite Schritt des Reflexionspostulats zeigt so auf, dass das Sich-Denken eben jenes unSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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mittelbare Bewusstsein darstellt. („Antwort auf obige Frage: wie wurden wir uns des Handelns bewust, wir beobachteten uns, und wurden uns deßen im Handeln bewust. Ich der ich handelte, wurde mir bewust meines Handelns. – Das Bewustsein des Handelnden und des Handelns war eins, durch unmittelbares Bewustsein.“ (WLnm-K, GA IV,3,346, Anm.)) Fichte kennzeichnet das unmittelbare Bewusstsein qua Sich-Setzen als Anschauung: „Ein solches Bewustsein ist Anschauung, und Anschauung ist ein sich selbst setzen als solches, kein bloßes Setzen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 346, Anm.) Er identifiziert hierbei Tätigkeit und Anschauung: „Der Begriff der Thätigkeit braucht nicht erklärt zu werden, wir sind uns derselben unmittelbar bewust, sie besteht in einem Anschauen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 345) b) Explikation des unmittelbaren Bewusstseins Zum Ersten charakterisiert Fichte das unmittelbare Bewusstsein als Bedingung von Objektbewusstsein. So sei das Ich nicht Bestandteil der Vorstellung als Sich-Setzen, sondern dessen Bedingung. Fichte kritisiert hier implizit Reinholds Bewusstseinsmodell, in welchem das Subjekt nur ein Teilmoment der Vorstellungsstruktur darstellt. Zweitens expliziert Fichte das unmittelbare Bewusstsein als absolute Identität von Subjekt und Objekt. Diese könne weder erlernt noch erfahren werden, sondern stelle vielmehr die Ermöglichungsbedingung dafür dar, dass etwas erlernt bzw. erfahren werden könne (das Ich wäre sonst kein unmittelbares Bewusstsein). Sowohl die einseitige Fassung des Ichs als Subjekt als auch als Objekt könne die Explikation von Bewusstsein nicht leisten: „Das Ich ist gar nicht Subject, sondern Subject=Object; sollte es bloß Subject sein, so fällt man in die Unbegreiflichkeit des Bewustseins, soll es bloß Object sein, so wird man getrieben, ein Subject auser ihm zu suchen, das man nie finden wird.“ (WLnm-K, GA IV,3, 346) Fichte zufolge könne das Ich so nicht als Subjekt, Seele oder Gemüt verstanden werden, ein Subjekt sei es nur in Bezug auf den Akt des Vorstellens. Er kritisiert hier wiederum das Verständnis des Ichs als eines bloß theoretischen, nicht praktischen Selbstbewusstseins. Insofern Selbstbewusstsein eine Verobjektivierung erfordert, ist das Ich als bloß Subjektives Fichte zufolge unbegreiflich, d. h. nicht denkbar. Wird dem Ich als einem bloßen Objekt hingegen jede subjektive Bewusstseinstätigkeit abgesprochen, so führt dies in den bereits beschriebenen infiniten Regress. Zum Dritten verweist Fichte auf die systematische DiSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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mension des unmittelbaren Bewusstseins als Begründungsinstanz für unser Wissen. Die unmittelbare Subjekt-Objekt-Einheit sei unhintergehbar für die Vernunft: „[Ü]ber die anderen Bestimmungen, die im Bewustsein vorkommen, laßen sich Gründe angeben, von dieser aber nicht, das unmittelbare Bewustsein ist selbst der erste Grund, der alles andre begründen soll, biß zu ihm muß man gehen, wenn unser Wißen einen Grund haben soll.“ (WLnm-K, GA IV,3, 347) c) Das Ich als intellektuelle Anschauung Insofern das nmittelbare Bewusstsein als Letztbegründungsinstanz fungiert, ist es nicht weiter begründet und damit durch keine andere Instanz bestimmt. Ist das unmittelbare Bewusstsein aber unbestimmt, dann stellt sich die Frage, ob es noch rational ausweisbar ist oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um eine dogmatische Voraussetzung handelt. Fichte führt so die intellektuelle Anschauung als epistemische Vermittlungsinstanz ein. Insofern das unmittelbare Bewusstsein sprachlich beschreibbar ist, muss es epistemisch repräsentiert werden können: Wir müssen von diesem lezten Grunde wissen, denn wir sprechen davon, wir kommen dazu durch unmittelbare Anschauung, wir schauen unsere unmittelbare Anschauung selbst wieder unmittelbar an; dieß wäre unmittelbare Anschauung der Anschauung. Es ist also reine Anschauung des Ich als Subject-Object möglich, eine solche heißt, da sie keinen sinnlichen Stoff an sich hat, mit Recht: intellectuelle Anschauung. (WLnm-K, GA IV,3, 347)
Die intellektuelle Anschauung stellt so als Subjekt-Objektivität eine doppelte Anschauung dar. Diese umfasst zwei Positionen: Zum Ersten die unmittelbare Tätigkeit des Anschauens. Zum Zweiten die Vergegenwärtigung, das Bewusstsein dieser Tätigkeit. Während die erste Anschauung reine Tätigkeit ist, meint die zweite Anschauung eine bereits vermittelte Anschauung, eine Anschauung, die erneut angeschaut und damit Gegenstand eines Begriffs wird. So schreibt Fichte in der Zweiten Einleitung: Der Philosoph schaut sich selbst zu in jenem Handeln, wodurch er den Begriff seiner selbst für sich selbst construirt […] und er denkt dieses Handeln, setze ich hier hinzu. – Der Philosoph weiß ohne Zweifel von dem, wovon er redet; aber eine bloße Anschauung giebt kein Bewusstseyn; man weiß nur von demjenigen, was man begreift, und denkt. (ZwE, GA I,4, 245) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Um seinen Begriff der intellektuellen Anschauung zu präzisieren, stellt Fichte einen Bezug auf Kant her, der die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung bestreitet, indem er den Begriff der Anschauung auf sinnliche Anschauung restringiert: „Wenn einer behauptet, er schaue das Ich an als ein Ding, wie Platner, oder wenn einer eine unmittelbare Offenbarung in sich anzuschauen glaubt, gegen den hat Kant recht.“ (WLnm-K, GA IV,3, 347) Fichte zufolge beziehe sich sein Begriff der intellektuellen Anschauung aber nicht auf ein räumliches Objekt, sondern auf ein Handeln und sei damit implizit in Kants Transzendentalphilosophie als Spontaneität des Verstandes vorausgesetzt: Kants ganze Philosophie ist ein Resultat dieser Anschauung, denn er behauptet, daß die nothwendigen Vorstellungen Producte des Handelns des Vernunftwesens seien, und nicht des Leidens. […] Bey Kant findet Selbstbewustsein statt; Bewustsein des Anschauens in der Zeit; wie kommt er dazu? Doch nur durch eine Anschauung, und diese ist doch wohl eine intellectuelle. (WLnm-K, GA IV,3, 347-348)
Fichte kritisiert dann auch Kants Bestimmung der Philosophie als einer „Vernunfterkenntnis aus Begriffen“. Diese Bestimmung sei insofern unzutreffend, als Kant selbst behaupte, dass der Begriff ohne Anschauung leer sei. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 349) d) Die Entstehung des Ich-Begriffs In der Grundlage beschreibt Fichte das absolute Ich in § 1 als unterschiedsfreies Sich-Setzen. Ist das Ich als reine Tätigkeit aber bloß unbestimmt, dann fragt sich, wie es hierin als Selbstbewusstsein ausgewiesen werden kann. Dieses Problem versucht Fichte in § 1 der WL nova methodo einer Lösung zuzuführen, indem er dem Ich nun eine interne Struktur zuweist. Insofern Fichte in der Kritik am Substanz-Modell das Ich als Tätigkeit versteht, ist es zunächst nur Unbedingtheit und damit Unbestimmtheit. Um aber das Ich als ein Unbestimmtes auffassen zu können, muss die Position der Unbestimmtheit gegen die Position der Bestimmtheit bestimmt sein. So schließt Fichte insofern an Spinozas Diktum „omnis determinatio est negatio“ an, als er sagt, dass Bestimmung nur über Entgegensetzung, d. h. über Ausschluss einer Sphäre aus einer anderen, möglich ist. Dieses Bestimmungsgesetz bezeichnet Fichte als „Reflexionsgesetz“:
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Um mich selbst als mich selbst setzend wahrnehmen zu können, müßte ich mich schon als gesezt voraussetzen; zu der Thätigkeit, mit der ich mich setze, gieng ich über von einer Ruhe, Unthätigkeit, die ich der Thätigkeit entgegensetze. Anders konnte man die Vorstellung der Thätigkeit nicht bemerken; sie ist ein Losreißen von einer Ruhe, von welcher zur Thätigkeit übergegangen wird. Also nur durch Gegensatz war ich vermögend, mir meiner Thätigkeit klar bewust zu werden, und eine Anschauung derselben zu bekommen. (WLnm-K, GA IV,3, 348)
Der Terminus Reflexion verweist hierbei auf den begrifflichen, selbstreflexiven Charakter der Bestimmung. Die Position der Unbestimmtheit kennzeichnet Fichte nun in Anlehnung an Kant als Anschauung, die der Bestimmtheit als Begriff. Während die Anschauung einen unmittelbaren Bezug auf die Ich-Tätigkeit meint, stellt der Begriff einen vermittelten Bezug dar. Im Gegensatz zu Kant, der nur eine sinnliche Anschauung annimmt, den Begriff demgegenüber dem Verstand zuordnet, überträgt Fichte das Verhältnis von Anschauung und Begriff auf die Ich-Struktur selbst: „Das ICH ist also ein Begrif u. Anschauung zugleich. Dies ist das Eigenthümliche dieses Systems auch vor [gegenüber, S.D.] dem Kantischen.“ (WLnm-H, GA IV,2, 38) Fichte geht es nun darum, die Entstehung des Begriffs zu erklären, da er das Ich zunächst nur als bloße Tätigkeit bestimmt hat: „Wer sich das Ich zuerst dachte, der hatte einen Begriff davon; wie kommt dieser Begriff zu Stande?“ (WLnm-K, GA IV,3, 348) Er expliziert die Entstehung des Begriffs zunächst über das Sich-Setzen: „Der Begriff des Ich entsteht dadurch daß ich mich selbst setze, daß ich auf mich zurückgehend handle.“ (WLnm-K, GA IV,3, 346) Zugleich fasst Fichte aber das Sich-Setzen als Anschauung auf: „Ich setze mich schlechthin. Ein solches Bewustsein ist Anschauung, und Anschauung ist ein sich selbst setzen als solches, kein bloßes Setzen“ (WLnm-K, GA IV,3, 346, Anm.) Indem Fichte nun die Frage aufwirft, wie das Ich von sich wissen kann, gelangt er zu einer Beschreibung der intellektuellen Anschauung als eines höherstufigen Selbstverhältnisses, als Anschauung der Anschauung. Das Wissen des Ichs expliziert Fichte dabei über den Gegensatz von Anschauung und Begriff („Nur durch Gegensatz ist ein bestimmtes klares Bewustsein möglich.“ (WLnm-K, GA IV,3, 348)), wobei er den Begriff als Produkt der Anschauung versteht und damit als eine mit sich selbst vermittelte Anschauung, eine Anschauung der Anschauung: Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Zustand der Ruhe, in dieser Ruhe wird das, was eigentlich ein Thätiges ist, ein Gesetztes, es bleibt keine Thätigkeit mehr, es wird ein Product, aber nicht etwa ein anderes Product als die Thätigkeit selbst, kein Stoff, kein Ding, welches vor der Vorstellung des Ich vorherging; sondern bloß, das Handeln wird dadurch daß es angeschaut wird, fixirt; so etwas heißt ein Begriff, im Gegensatz der Anschauung, welche auf die Thätigkeit, als solche, geht. (WLnm-K, GA IV,3, 348)
Die intellektuelle Anschauung stellt die Repräsentation des unmittelbaren Bewusstseins durch den Begriff dar.145 Fichte weist somit das unmittelbare Bewusstsein als Einheit von Anschauung und Begriff als Ursprung des Bewusstseins aus, wenn er die Gleichursprünglichkeit von Anschauung und Begriff behauptet: „Der Begriff entsteht mit der Anschauung in demselben Moment, und ist von ihm unzertrennlich.“ (WLnm-K, GA IV,3, 349) Die Unbestimmtheit der Ich-Anschauung ist nur wahrnehmbar über den Gegensatz des IchBegriffs: „Man muß daher beide zugleich ansehen, um eins von beiden einzeln ansehen können.“ (WLnm-K, GA IV,3, 348) Insofern IchAnschauung und Ich-Begriff nur zusammen auftreten, bedingen sie sich wechselseitig. Die Anschauung kann nur als Anschauung wahrgenommen werden im Gegensatz zum Begriff. Anschauung und Begriff sind also gleichursprünglich. Das Konzept der Gleichursprünglichkeit umfasst dabei drei Momente: Zum Ersten ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis, zum Zweiten die Rückführung auf einen gemeinsamen Ursprung (die reine Tätigkeit) und zum Dritten die Differenzierung qua Selbstspaltung durch einen Sprung und damit ein Modell der Unerklärbarkeit bzw. der Unhintergehbarkeit der Bestimmung. Der Begriff als positiv Fixiertes, d. h. als Bestimmtheit im Gegensatz zur Anschauung als Unbestimmtheit bzw. Negativität oder Ruhe, entsteht durch die Anschauung der in sich zurückgehenden 145 Schwabe unterscheidet unmittelbares Bewusstsein und intellektuelle Anschauung. Während es sich beim unmittelbaren Bewusstsein um ein unbegriffenes Sich-Denken handle, transformiere sich dieses erst in eine Anschauung, wenn es vom Begriff erfasst, d. h. reflektiert, werde. Die intellektuelle Anschauung stelle Schwabe zufolge so ein Sich-Denken dar, das als Einheit von Denken und Anschauen zu verstehen sei und damit als Korrelat eines Begriffs. Schwabe zufolge zeigt Fichte in § 1 dabei die Ableitung des Ich-Begriffs aus der Ich-Anschauung, um den Vorwurf eines dualistischen Systems zu entkräften. (Vgl. Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 407-408.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Tätigkeit des Ichs, die Fichte zuvor mit der Anschauung identifiziert hat. Es handelt sich hierbei um das unmittelbare Bewusstsein als Einheit von Subjekt (Anschauung) und Objekt (Begriff). Der Begriff ist demnach Produkt der Anschauung der Anschauung als reiner Tätigkeit bzw. Handeln. Fichte behauptet zunächst die Einheit von Anschauung als reiner Tätigkeit und Begriff als fixierter Tätigkeit bzw. Tätigkeit in Ruhe, um dann auf deren Differenz zu verweisen. So sei die Anschauung nur anschaubar, aber nicht denkbar, der Begriff hingegen nur denkbar, aber nicht anschaubar: In dieser in sich zurückgehenden Thätigkeit, als ruhend angeschaut, fällt Subject und Object zusammen, und dadurch entsteht das positiv fixierte. Dieses Zusammenfallen beider, und wie dadurch die Anschauung in einen Begriff verwandelt wird, läßt sich nicht anschauen, sondern nur denken. Nur die Anschauung läßt sich anschauen, nicht denken; das Denken läßt sich nur denken, nicht anschauen. Jede Aueserung des Gemüths läßt sich nur durch sich selbst auffaßen. Dieß bestätigt die oben aufgestellte Theorie des Bewustseins. (WLnm-K, GA IV,3, 348-349)
Anschauung und Begriff verhalten sich somit, insofern sie einander ausschließen, kontradiktorisch zueinander. Es stellt sich so die Frage, wie dann aber überhaupt das unmittelbare Bewusstsein als Einheit von Anschauung und Begriff möglich sein soll und wie es einen Übergang von der Anschauung zum Begriff geben kann. Wie funktioniert der Übergang von der Anschauung zum Begriff? Wie sind die Behauptung der Einheit und die der Differenz von Anschauung und Begriff zu vereinbaren? Insofern es sich beim Begriff um eine mit sich selbst vermittelte Anschauung, eine Anschauung der Anschauung handelt, besteht eine Identität zwischen Anschauung und Begriff. Stolzenberg spricht hier von einer bloß formalen Differenz zwischen Anschauung und Begriff.146 Anschauung und Begriff sind dabei insofern aber inhaltlich miteinander zu identifizieren, als sie Formen der ursprünglichen Ich-Tätigkeit sind. Während es sich bei 146 Stolzenberg zufolge „lässt sich die Thematisierung des freien Aktes so verstehen, dass durch seinen Vollzug eine Differenz zur Form des unmittelbaren Bewusstseins etabliert ist, gegen die der Vollzug sich selbst bestimmt. Da dieser Vollzug nicht ein Anderes gegenüber jener Form des unmittelbaren Bewusstseins ist, sondern eine ihm selber immanente Qualität, die durch die Thematisierung des realen Vollzugs nur als solche gesetzt ist, bestimmt das unmittelbare Bewusstsein in dieser Differenz sich selbst als das, was es in Wahrheit ist, ein in sich unterschiedenes, intern bestimmtes Selbstverhältnis zu sein.“ (Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 228.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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der Anschauung um die ursprüngliche Tätigkeit als solche handelt, stellt der Begriff demgegenüber ein Derivat der ursprünglichen Tätigkeit dar, welche in der Form der Ruhe, d. h. als Bestimmtheit, aufgefasst wird. Die Anschauung der Anschauung ist demnach keine einfache Anschauung, da sie bereits das Moment der Differenz bzw. Vermittlung beinhaltet und damit in der Form des Begriffs nur denkbar und nicht anschaubar ist. Nur die erste (einfache) Anschauung, d. h. die Tätigkeit als solche, kann angeschaut werden. Sowohl die Entstehung des Begriffs aus der Anschauung als auch die Einheit von Anschauung und Begriff sind nun nur denkbar, da sie ein klares Bewusstsein als Bewusstsein der Differenz von Anschauung und Begriff zu ihrer Voraussetzung haben. Insofern die Anschauung der Tätigkeit nur durch den Gegensatz der Ruhe möglich ist, wäre eine reine Anschauung des Ichs ohne Gegensatz des Begriffs gar keine Anschauung und mithin gar kein Bewusstsein. Die Anschauung fordert so die Repräsentation durch den Begriff. In der Grundlage bestimmt Fichte das absolute Ich im ersten Grundsatz als Sich-Setzen, als Tathandlung und damit als Einheit von Tätigkeit und Produkt der Tätigkeit. Insofern Fichte in § 1 der WL nova methodo den Begriff als Produkt der Tätigkeit des Ichs ausweist, knüpft er an die Bestimmung der Tathandlung der Grundlage an, wobei er das Ich nun als Einheit von Anschauung und Begriff kennzeichnet. Fichte stellt hierbei selbst einen Bezug zur Grundlage her: „ICH BIN – in dieser Rücksicht heißt seyn so viel als Gegenstand eines Begriffs.“ (WLnm-H, GA IV,2, 33) Während in der Grundlage vom Begriff zur Anschauung übergegangen werde, finde in der WL nova methodo allerdings ein Übergang von der Anschauung zum Begriff statt. (WLnm-K, GA IV,3, 349) Im Anschluss an § 5 der Grundlage bestimmt Fichte das unmittelbare Bewusstsein dabei durch die Formel des Sich-Setzen als sich setzend: [S]onach komme der Begriff des Ich zu Stande nur durch in sich zurückgehende Thätigkeit, und umgekehrt durch diese Thätigkeit komme kein anderer Begriff zu Stande als dieser. Indem man in dieser Thätigkeit sich beobachte, werde man sich derselben unmittelbar bewust, oder man setze sich als sich setzend. Dieses als das einzige unmittelbare Bewustsein sei der Erklärung alles anderen möglichen Bewustseins voraus zusetzen. Es heißt die ursprüngliche Anschauung des Ich. (WLnm-K, GA IV,3, 349-350)
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In § 1 der WL nova methodo erfüllt der Begriff die Funktion, die Frage zu beantworten, wie ein Wissen des unmittelbaren Bewusstseins möglich ist. Da die Ich-Anschauung als Tätigkeit als solche, der IchBegriff demgegenüber als Tätigkeit in Ruhe bestimmt ist, hat die IchAnschauung den Primat gegenüber dem Ich-Begriff.147 So nimmt Fichte zufolge alles Denken seinen Ausgang vom Anschauen. Insofern Fichte im Gegensatz zu Kant die Anschauung als produktiv und nicht als rezeptiv betrachtet, versteht er den Ich-Begriff als abgeleitete Bestimmtheit als ein Produkt der Ich-Anschauung als unbestimmter reiner Tätigkeit. Fichte präsentiert dabei die Explikation der Entstehung des Begriffs als Antwort auf die bereits behandelte Zirkelproblematik. So heißt es in der Halleschen Nachschrift: Um aber das ICH denken, und auf dasselbe handeln zu können, muß man sich es ja schon als Gesezt voraus denken; muß ich ein Gesezt seyn vor meinem Setzen voraus setzen? Dieser Einwurf wurde schon oben angemerckt […] Er will kurz so viel sagen: Wie kommt der Begrif des Ich zu Stande? (WLnm-H, GA IV,2, 31)
Der Begriff besteht so, insofern er der Anschauung, d. h. der Tätigkeit des Ichs im Denken, vorausgesetzt wird, aufgrund der Diskursivität des Denkens scheinbar vor der Anschauung. In Wahrheit ist er aber deren Produkt, welches allerdings mit der Anschauung zugleich entsteht. Fichte spricht hier von einem Übergang, welchen er als „Losreißen“ bezeichnet, vom Begriff als Ruhe zur Anschauung als Tätigkeit: Um mich selbst als mich selbst setzend wahrnehmen zu können, müßte ich mich schon als gesezt voraussetzen; zu der Thätigkeit, mit der ich mich setze, gieng ich über von einer Ruhe, Unthätigkeit, die ich der Thätigkeit entgegensetze. Anders konnte man die Vorstellung der Thätigkeit nicht bemerken; sie ist ein Losreißen von einer Ruhe, von welcher zur Thätigkeit übergegangen wird. Also nur durch Gegensatz war ich vermögend, mir meiner Thätigkeit klar bewust zu werden, und eine Anschauung derselben zu bekommen. (WLnm-K, GA IV,3, 348)
147 Fichte schreibt in der Neuen Bearbeitung: „Es ist die unmittelbare intellectuelle Anschauung; die nie wieder objektiv wird, der ich daher nur durch das niedere, das Denken, inne werde.“ (NB, GA II,5, 344) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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2.2) Die Deduktion des Nicht-Ichs (§ 2) a) Das Ich als bestimmte Tätigkeit Fichte charakterisiert die Tätigkeit des Ichs, die er in § 1 zunächst als Position der Unbestimmtheit eingeführt hat,148 nun als eine bestimmte Tätigkeit: Jezt ist unser Zweck, besonders anschaulich zu machen, daß das Ich nicht durch alle Thätigkeit, sondern bloß durch in sich zurückgehende Thätigkeit charakterisirt würde. Es ist nehmlich nicht gesagt worden; durch alles Handeln, sondern durch ein bestimmtes Handeln ist der Begriff des Ich zu Stande gekommen. (WLnm-K, GA IV,3, 350)
Er bestimmt die Tätigkeit hierbei als Einheit von Abstraktion und Reflexion: „Dieses Abziehen von jedem möglichen Gegenstande und Hinrichtung auf ein bestimmtes war eben diese Thätigkeit.“ (WLnm-K, GA IV,3, 351) Fichte zufolge ist so alles Handeln ein Bestimmen, „ein Einschränken in eine gewiße Sphäre“ (WLnm-K, GA IV,3, 351) Das Bewusstsein der Selbsttätigkeit des Ichs sei zu betrachten als Bewusstsein des Einschränkens der Tätigkeit. Eine Anschauung der Tätigkeit als bestimmter Tätigkeit sei nun aber nur möglich durch den Gegensatz der Position der Unbestimmtheit. Die Position der Unbestimmtheit ist dabei durch die ihr entgegengesetzte Position der Bestimmtheit bestimmt und damit selbst eine Position der Bestimmtheit. Fichte reformuliert hier die Positionen von Anschauung und Begriff (§ 1) durch die Positionen der Unbestimmtheit und Bestimmtheit, wobei er nun die Anschauung der Position der Bestimmtheit, den Begriff als Voraussetzung hingegen der Position der Unbestimmtheit zuordnet. Er charakterisiert die Position der Unbestimmtheit dabei als Bestimmbares, d. h. als Möglichkeit von Bestimmtheit, insofern diese nur in Bezug zur Bestimmtheit definiert wird: Alles Bewustsein der Selbstthätigkeit ist ein Bewustsein unseres Einschränkens unserer Thätigkeit, nun kann ich mich nicht anschauen als beschränkend, ohne ein Uibergehen von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit zu setzen, also ohne die Unbestimmtheit mit zu setzen, 148 So ist Fichte zufolge (§ 1) der Begriff der Tätigkeit nicht zu definieren. Während er den Begriff des Ichs hier als positiv Fixiertes bestimmt, charakterisiert er die Anschauung demgegenüber als unmittelbare Einheit von Subjekt und Objekt und als Tätigkeit als solche. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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und dem Bestimmten entgegenzusetzen. Auf diesen Punct kommt viel an. Das bestimmte, auf das Ich beschränkte wird als Thätigkeit gesetzt und kommt als solche[s] zum Bewustsein, mithin kommt auch das Unbestimmte nur durch Thätigkeit zum Bewustsein, welches wir, weil es in Beziehung auf das Bestimmtsein und mit ihm zugleich gesetzt wird, das Bestimmbare nennen wollen. (WLnm-K, GA IV,3, 350-351)
Fichte zufolge handelt es sich hierbei nicht um ein induktives Verfahren, bei welchem das Allgemeine (Bestimmbares) aus dem Besonderen (bestimmte Tätigkeit des Ichs) abgeleitet wird, da die notwendige Entgegensetzung von Bestimmtem und Bestimmbarem auf der Selbstbestimmung des Ichs basiere: „alles was vorkommt ist Product der Thätigkeit des Ich; kommt nun ein bestimmtes Product vor, so ist es Product einer bestimmten Thätigkeit des Ich, da nun keine bestimmte Thätigkeit des Ich gesezt werden kann ohne eine bestimmbare, so gilt dieser Satz allgemein.“ (WLnm-K, GA IV,3, 351) b) Die Ableitung des Nicht-Ichs Fichte macht nun die Notwendigkeit des Rekurses auf Anschauung in Bezug auf die vorzunehmende Deduktion deutlich. So handle es sich bei der Tätigkeit des Ichs nicht um eine „bestimmte Thätigkeit überhaupt“, sondern um eine „besondre bestimmte Thätigkeit“ (WLnm-K, GA IV,3, 351), d. h. um keinen abstrakten Begriff, sondern um eine real angeschaute Tätigkeit. Das Reflexionsgesetz könne somit nicht bewiesen werden, sondern dieses beziehe seine Gültigkeit aus seiner unmittelbaren Evidenz. Die Selbstanschauung des Ichs stellt hierbei Fichte zufolge eine Selbstbeschränkung dar: „Dieses sich selbst beschränken, sich setzen, sich unmittelbar anschauen, sich seiner selbst bewust werden, ist eins, es bedeutet immer das Anschauen seiner selbst“ (WLnm-K, GA IV,3, 351) Gemäß dem in § 1 eingeführten Reflexionsgesetz kann die bestimmte Tätigkeit des Ichs nicht ohne ihr Gegenteil gesetzt werden, d. h., nur durch Setzung ihres Gegenteils ist ein Bewusstsein der bestimmten Tätigkeit möglich. Das Gegenteil der bestimmten Tätigkeit qua Sich-Setzen bestimmt Fichte dabei als Sichnicht-Setzen, als Tätigkeit, welche nicht im Ich, sondern in dessen Gegenteil, im Nicht-Ich, als ihrem Produkt resultiert: „Die vorher als bestimmbare Thätigkeit überhaupt zu sezende Thätigkeit, wird […] gesezt als nicht ich, sie geht auf das Gegentheil des Ich.“ (WLnm-K, GA IV,3, 352) Das gefundene Nicht-Ich ist kein Produkt der Freiheit, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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sondern ein Produkt der Notwendigkeit, bedingt durch das Sich-Setzen des Ichs: „Ich denke mir das ich klar, heißt: ich fordere etwas, das NichtIch sein soll.“ (WLnm-K, GA IV,3, 352) Im Anschluss an die Grundlage betont Fichte so den apriorischen Charakter des NichtIchs als Produkt der ursprünglichen Ich-Tätigkeit: „Der Begriff des NichtIch ist kein Erfahrungsbegriff, er läßt sich nur aus der Handlung ableiten, durch die er construirt wird.“ (WLnm-K, GA IV,3, 352) c) Explikation der Deduktion Fichte expliziert das Verfahren der Ableitung mittels Entgegensetzung als Synthesis (nur durch Entgegensetzung sei etwas anschaubar und denkbar), wobei er nun eine Parallele zwischen § 1 und § 2 herstellt. Fichte setzt das Reflexionsgesetz somit nicht nur als Mittel ein, die interne Struktur des Ichs zu entwickeln, sondern auch, um die externe Bestimmtheit des Ichs gegen das Nicht-Ich abzuleiten. Die interne Bestimmtheit des Ichs als unbestimmte Bestimmtheit bzw. bestimmte Unbestimmtheit lässt sich dabei als Herausgehen aus der Ich-Anschauung zum Ich-Begriff explizieren. Die externe Bestimmtheit des Ichs bezieht sich hingegen auf das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich, welche als Herausgehen aus dem Ich zum NichtIch expliziert werden kann. Während § 1 der WL nova methodo die Hervorbringung des Ichs durch den Philosophen zum Thema macht, zeigt § 2, wie aus diesem das Nicht-Ich als Sein abgeleitet wird. Insofern die Ableitung aber noch auf der Ebene des Ichs des Philosophen verbleibt, also nur aus einer Repräsentation des unmittelbaren Bewusstseins deduziert ist, muss § 3 zeigen, wie das ursprüngliche Ich als Prinzip der Wissenschaftslehre für sich objektiv wird, da nur so die Ableitung des Nicht-Ichs aus dem Ich-Prinzip selbst begründet werden kann. So ergibt sich für Fichte in § 2 folgendes Problem: Nun fragt es sich: ist unser bisheriges Raesonnement eine Deduction, oder ist wieder etwas vorausgesezt worden wie im vorigen §.? […] Die Voraussetzung liegt darin: wir sind ausgegangen von dem Gedanken, wenn das Ich selbst wieder Object unsers Bewustseins sein soll, so folgt, daß ein NichtIch gesezt werden muß. Aber soll denn das Ich Object des Bewustseins werden? Dieß ist nicht bewiesen. (WLnmK, GA IV,3, 352-353)
Das in § 1 eingeführte unmittelbare Bewusstsein sei als Bedingung des Bewusstseins Fichte zufolge ein lediglich Subjektives und damit Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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eine bloße Idee, welche durch den Begriff repräsentiert werde:149 „Das Bewustsein, aus dem wir jetzt argumentirt haben, ist nicht unmittelbar, es ist Repraesentation des unmittelbaren, aber selbst es nicht. Das unmittelbare ist Idee und kommt nicht zum Bewustsein. Das erste Denken des Ich war ein freies Handeln, aber daraus folgt kein nothwendiges.“ (WLnm-K, GA IV,3, 353) Das postulierte NichtIch sei so bisher weder erwiesen, d. h. als notwendig aufgezeigt, noch bewiesen, d. h. abgeleitet, sondern bewiesen sei lediglich die Wechselwirkung von Ich und Nicht-Ich. d) Vergleich Synthesis § 1/§ 2 Fichte setzt nun die Ableitung des Nicht-Ichs in § 2 mit der Ableitung des Begriffs in § 1 in Beziehung, wobei er die Anschauungstätigkeit des Ichs in § 1 mit der bestimmten Tätigkeit in § 2 identifiziert. Es handelt sich Fichte zufolge in beiden Fällen um dieselbe Tätigkeit, wobei diese in § 2 spezifiziert werde: „Durch Vergleichung dieser Synthesis mit der vorigen sehen wir, daß immer wieder dasselbe vorkomme […] daß es im Grunde nur eine Handlung sey. Nur im Systeme einer Wiss.=Lehre ist sie als eine Reihe von Handlungen dargestellt.“ (WLnm-H, GA IV,2, 36) Zudem werde dasselbe Verfahren, d. h. die Ableitung mittels Reflexionsgesetz, angewendet. Auch die jeweiligen Resultate des Übergehens, d. h. die Position der Ruhe in § 1 und die der Bestimmbarkeit in § 2, seien identisch: Die bestimmbare Tätigkeit weise den Charakter der Ruhe auf und sei so eigentlich gar keine wirkliche Tätigkeit, sondern wie der Begriff eine mögliche Tätigkeit, ein „Vermögen“ als Ermöglichungsbedingung von wirklicher Tätigkeit: „Vermögen ist nicht Handlung sondern das wodurch Handlung erst möglich wird.“ (WLnm-K, GA IV,3, 353) Nachdem Fichte Begriff und Bestimmbarkeit identifiziert hat, weist er auf eine für die Deduktion des Nicht-Ichs und die Explikation des Unterschieds von intellektueller und sinnlicher Anschauung wesentliche Differenz hin: Während der Begriff in § 1 als Gegenteil der 149 In § 1 identifiziert Fichte terminologisch unmittelbares Bewusstsein und Repräsentation des unmittelbaren Bewusstseins, wenn er dieses durch die Formel des Sich-Setzens als sich setzend charakterisiert. In der Neuen Bearbeitung heißt es dann: „Postulat. Des unmittelbaren Selbstbewußtseyns, als nothwendiger Bedingung alles andern Bewußtseyn. Halt es geht so nicht: zum Bewußtseyn wird jenes unmittelbare Selbstbewußtseyn nicht erhoben, noch kann es überhaupt. Sobald darauf reflectiert wird, hört damit es auf zu seyn, was es ist: u. es entschwebt in eine höhere Region…“ (NB, GA II,5, 335) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Anschauung lediglich durch die Position der Ruhe charakterisiert ist, fungiert er in § 2 als Vermittlungsglied zwischen der Tätigkeit der Anschauung und dem Nicht-Ich. Die bestimmbare Tätigkeit in § 2 als Fortbestimmung des Begriffs in § 1 qua fixierte Tätigkeit bzw. Tätigkeit in Ruhe ist so in Bezug auf die Anschauung durch die Position der Ruhe bestimmt, in Bezug auf das Nicht-Ich aber selbst eine Tätigkeit und damit Anschauung: Dadurch daß Thätigkeit in Ruhe angeschaut wird, wird sie zum Begriff. Man könnte auch umgekehrt sagen: so ists mit der Bestimmbarkeit. Nur ist hier die Bemerkung zu machen, dieser Begriff ist nur Begriff in Beziehung auf die Anschauung des Ich, in Beziehung auf das NichtIch ist sie selbst Anschauung. In der Anschauung ist die Thätigkeit in Action, im Begriff nicht, sondern da ist sie bloßes Vermögen; wird aber diese Thätigkeit im Begriff bezogen auf das NichtIch, so ist sie Anschauung. Wir dürfen sonach 2 Anschauungen bekommen, innere und äusere; intellectuelle und eine andere, die sich aufs NichtIch bezieht. (WLnm-K, GA IV,3, 353-354)
Bei dieser äußeren Anschauung handelt es sich, insofern sie nicht wie die intellektuelle Anschauung auf das Ich, sondern auf das NichtIch bezogen ist, um die sinnliche Anschauung.150 Um die Ableitung 150 Brachtendorf hält die Ableitung des Nicht-Ichs in der WL nova methodo nicht für plausibel, da diese zum Ersten von Fichte nur für den Philosophen, nicht aber für das ursprüngliche Ich gezeigt werde. Zum Zweiten kritisiert Brachtendorf die bloße Formalität der Deduktion des Nicht-Ichs: So sei die Negation ein bloß logisches Verfahren, woraus die bloße Begrifflichkeit des Nicht-Seins qua Sein resultiere. Fichte könne so Sein nicht als faktisch Existierendes explizieren, insofern er das Nicht-Ich nicht als Erfahrungsbegriff auffasse, könne er nicht die Anschaubarkeit und damit den Realitätsgehalt desselben darlegen. Brachtendorf betrachtet die Ableitung des Nicht-Ichs aber in der WL nova methodo als Fortschritt gegenüber der Grundlage: So sei erst die WL nova methodo im Gegensatz zur Grundlage Metaphysik, da das Nicht-Ich hier nicht mehr wie in der Grundlage einzelne Entität, sondern als Sein allgemeines Merkmal sei. Erst die WL nova methodo entwickle so eine Ontologie. (Vgl. Brachtendorf, Fichtes Lehre vom Sein, S. 217-219.) Zum ersten Kritikpunkt: Brachtendorf beachtet nun nicht, dass Fichte in § 3 die Ableitung des Begriffs aus dem ursprünglichen Ich darstellt und damit auch die Möglichkeit einer Ableitung des Nicht-Ichs aus dem ursprünglichen Ich. Fichte leistet dann in § 7 eine erneute Ableitung des Nicht-Ichs im Ausgang vom ursprünglichen Ich. Diese expliziert er als Selbstspaltung der aktiv-passiven Einheit des Gefühls qua Bewusstsein der ursprünglichen Beschränktheit des Ichs in Objekt und ideale Tätigkeit (Anschauung), wobei er auf das Modell des Losreißens (§ 1) zurückgreift. Zum zweiten Kritikpunkt: Fichte geht es darum, Anschauung und Begriff in der IchKonzeption auf reine Tätigkeit zurückzuführen. Auch das Gesetz der AbleiSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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zu verdeutlichen, unterscheidet Fichte vier Positionen: A als in sich zurückgehende wirkliche Tätigkeit (intellektuelle Anschauung), B als durch diese hervorgebrachter Begriff, C als bestimmbare Tätigkeit und D als Produkt der bestimmbaren Tätigkeit, d. h. als NichtIch. Während A und B der Sphäre des Beabsichtigten bzw. Subjektiven zuzuordnen sind, bilden C und D die Sphäre des Gegebenen bzw. Objektiven. Unter der Sphäre des Gegebenen ist hierbei kein extern Gegebenes zu verstehen, sondern das, was durch Reflexionsgesetze der Vernunft gefunden wird. (Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 36) Fichte spezifiziert nun die Position A als mit Willkür hervorgebrachte Repräsentation des unmittelbaren Bewusstseins, das als Bedingung von Bewusstsein nur subjektiv sei: „Das unmittelbare Bewustsein ist in allem Bewustsein das Bewustseiende, aber nicht das, deßen man sich bewust ist, das Auge sieht hier das Sehen des Auges.“ (WLnm-K, GA IV,3, 354) „Das Auge sieht dem Sehen zu d. h. das Auge ist das unmittelbare Bewußtseyn, das SEHEN alles andere Bewußtseyn, so wenig also das Sehen das Auge selbst ist, so wenig ist das Bewußtseyn das unmittelbare selbst.“ (WLnm-H, GA IV,2, 37) Fichte wirft nun die Frage auf, ob auch eine notwendige, und nicht nur willkürliche Repräsentation des unmittelbaren Bewusstseins möglich sei. Er wendet hierbei das Reflexionsgesetz an: So sei A als intellektuelle Anschauung nicht durch den beabsichtigten Begriff B, sondern durch den notwendigen Begriff C bedingt und damit notwendig repräsentiert: Dieser Begriff ist der unmittelbarste und höchste, gegründet auf die intellectuelle Anschauung, die als solche nie Object des Bewustseins wird; aber wohl als Begriff, in diesem Begriff und vermittelst dieses Begriffes findet das Ich sich selbst, und erscheint sich als gegeben. Ich kann mich nicht anders begreifen, denn als Ich, das heißt als sich selbst setzendes, also als anschauendes; jener Begriff ist also der Begriff eines Anschauens und in dieser Rücksicht selbst Anschauung zu nennen. […] Ich finde mich anschauend als anschauend Etwas x. (WLnm-K, GA IV,3, 354-355) tung, das Reflexionsgesetz, spiegelt die Dopplung von Anschauung und Begriff wider: So schließt das Reflexionsgesetz zum einen an Spinozas Satz „omnis determinatio est negatio“ an, zum anderen bezieht es für Fichte seine Evidenz direkt aus der Anschauung. Insofern Fichte die Ableitung des Nicht-Ichs über den Begriff vollzieht, der Begriff aber als Tätigkeit in Ruhe zugleich Anschauung und Begriff ist, ist das Nicht-Ich nicht bloß begrifflich, wie Brachtendorf bemängelt. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Während der Begriff C in § 1 nur Begriff im Gegensatz zur Anschauung ist, fungiert dieser in § 2 in der Deduktion des Nicht-Ichs sowohl als Begriff (in Bezug auf die intellektuelle Anschauung A) als auch als Anschauung (in Bezug auf das Nicht-Ich D). Der Begriff ist hierbei Vermittlungsglied zwischen intellektueller Anschauung und Nicht-Ich, insofern er als Einheit von Freiheit und Notwendigkeit zu kennzeichnen ist. Fichte identifiziert so die Begriffe B und C: „So ist zb B und C. Eins und ebendasselbe. B ist der Begrif des Ich durch A hervorgebracht; C ist der Begrif des Ich aber gegeben…“ (WLnm-H, GA IV,2, 39) Fichte charakterisiert nun den abgeleiteten Begriff des NichtIchs. Er bestimmt das Nicht-Ich zunächst als der Position des Begriffs qua Ruhe vorausgesetzte Position der Ruhe der Ruhe. Das Nicht-Ich ist, insofern es eine Repräsentation der Tätigkeit in der Position des Seins darstellt, diese also beinhaltet und nicht durch Abstraktion negiert, eine „reelle Negation“, eine „negative Größe“ (WLnm-K, GA IV,3, 355) Insofern das Nicht-Ich als Negation von Tätigkeit, d. h. von Anschauung, als Angeschautes zu kennzeichnen ist, kann es sich bei diesem um kein Ding an sich handeln, da es auf eine Anschauung bezogen werden muss. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 356) Während die intellektuelle Anschauung die interne Bestimmtheit des Ichs durch die Positionen von Anschauung und Begriff expliziert, rekurriert das Konzept der sinnlichen Anschauung auf die externe Bestimmtheit des Ichs, was sich folgendermaßen schematisieren lässt: Nicht-Ich Sinnliche Anschauung Externe Bestimmtheit
Subjekt
Interne Bestimmtheit
Anschauung
Ich
Begriff
Objekt
Intellektuelle Anschauung
Abb. 2: Verhältnis von intellektueller und sinnlicher Anschauung Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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e) Das Modell der Gebundenheit In § 2 zeigt Fichte, dass beim Setzen des Ichs das Setzen des NichtIchs notwendig mitzudenken ist. Das Ich kann sich nicht als ein mit sich selbst Identisches anschauen, ohne dass es sich zugleich im Begriff von sich unterscheidet und sich darin Objekt wird. Indem sich das Ich selbst Objekt wird, entsteht für es zugleich sein Anderes, das Nicht-Ich als eigentliches Objekt. Insofern der Begriff des Ichs als fixierte Tätigkeit, als unbestimmte Bestimmtheit zugleich Tätigkeit und Ruhe, Anschauung und Begriff ist, fungiert er als „Verbindungsmittel“ zwischen Ich-Anschauung und Nicht-Ich qua Nicht-Tätigkeit: „[D]ie Bestimmtheit des Ich ist zugleich Verbindungsmittel zwischen Ich und NichtIch.“ (WLnm-K, GA IV,3, 358)151 Fichte ersetzt hierbei die Konzeption des Anstoßes durch ein Modell der ursprünglichen Gebundenheit des Ichs,152 welches er in § 6 expliziert: „Was von Anstoß und Richtung gesagt wird, ist hier nicht gesagt worden, statt deßen aber Gebundenheit.“ (WLnm-K, GA IV,3, 382) In Bezug auf das Anstoßtheorem gibt es nun zwei grundlegende Deutungen: Zum Ersten kann die Formel des Sich-Setzens als sich setzend in § 5 der Grundlage als inhaltliche Neukonzeption des Grundprinzips verstanden werden. Damit in Verbindung steht die Deutung, dass die Annahme eines externen Anstoßes auf das Ich überflüssig wird, da nun das Ich als Grundprinzip eine interne Differenz aufweist, wes151 Fichte selbst versteht diese Änderung als eine methodische. So heißt es in Bezug auf die Ableitung des Nicht-Ichs in Grundlage und WL nova methodo: „Es wird da [Grundlage, S.D.] ausgegangen vom Entgegengesezten des NichtIch, und es wird postulirt als ABSOLUT (§ 2.) Aus diesem Entgegensetzen wird das Bestimmen abgeleitet (§ 3) Beide Wege sind richtig; denn die nothwendige Bestimmtheit des Ich und das nothwendige Sein des NichtIch stehen im Wechsel. Man kann von Einem zum andern übergehen. […] Der 3te § würde jetzt der 2te sein, und umgekehrt. Mit dem NichtIch ist abermal ein anderer Weg eingeschlagen worden, das NichtIch ist nicht unmittelbar, sondern mittelbar postulirt worden.“ (WLnm-K, GA IV,3, 358) 152 Fichte reformuliert allerdings das Anstoßtheorem in der WL nova methodo in der Konzeption der Aufforderung. So versteht Fichte in der Grundlage des Naturrechts den Anstoß als Aufforderung: „Die Frage war: wie vermag das Subjekt sich selbst zu finden als ein Objekt? […] Es konnte, um sich als Objekt (seiner Reflexion) zu finden, sich nicht finden, als sich bestimmend zur Selbstthätigkeit, […] sondern als bestimmt dazu durch einen äussern Anstoß, der ihm jedoch seine völlige Freiheit zur Selbstbestimmung lassen muß: denn ausser dem geht der erstere Punkt verloren, und das Subjekt findet sich nicht als Ich.“ (GNR, GA I,3, 343) Vgl. zum Begriff der Aufforderung in der WL nova methodo insbesondere die Paragraphen 16, 17 und 19. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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halb für das Ingangsetzen eines Bestimmungsprozesses, d. h. die Generierung von Differenz, so nicht mehr auf ein dem Ich äußerliches Element zurückgegriffen werden muss.153 In dieser Interpretation wird die Grundlage als dualistische Konzeption, die durch den Gegensatz von absolutem Ich und endlichem Ich/Nicht-Ich gekennzeichnet ist und die aus der Unbestimmtheit des absoluten Ichs in § 1 resultiert, gelesen, während der WL nova methodo demgegenüber eine monistische Konzeption attestiert wird. Die hegelsche Kritik an der Grundlage wird dabei als zutreffend betrachtet, für die WL nova methodo wird dann ein Bestimmungsmodell angenommen, das eine Verwandtschaft mit der hegelschen Bestimmungskonzeption aufweist. Zum Zweiten besteht die Möglichkeit, keine inhaltliche Neukonzeption des Grundprinzips anzunehmen, sondern der WL nova methodo bloß eine neue Methode zuzusprechen, welche in einer Umkehrung der Ableitungsrichtung gegenüber der Grundlage besteht.154 Die Aufgabe des Terminus Anstoß soll so bloß das Missverständnis vermeiden, diesen als ein vom Ich unabhängig bestehen153 Für die Suspension des Anstoßtheorems in der WL nova methodo plädieren Brachtendorf, Hanewald, Klotz und Rohs. So gilt für Klotz für die WL nova methodo im Gegensatz zur Grundlage, „dass die Struktur der Erfahrung nun ganz aus der Reflexion und der in ihr gegebenen Selbstgewissheit des Subjekts entwickelt wird, und nicht mehr aus deren Unverträglichkeit mit einer aller Reflexion vorgängigen Selbstgewissheit.“ (Klotz, Reines Selbstbewusstsein und Reflexion, S. 47.) Auch Brachtendorf vertritt die Position, dass in der WL nova methodo im Anschluss an die Neukonzeption des Ichprinzips in § 5 der Grundlage das NichtIch aus der Reflexionsbestimmtheit des Ichs abgeleitet wird: „Demnach läge die Selbstbestimmung bereits im Wesen des Ich. Sie resultierte nicht erst aus der Notwendigkeit, ein vorgängig gesetztes Nicht-Ich mit dem Ich kompossibel zu machen, sondern wäre mit dem Begriff des Ich schon verknüpft. Der Rekurs auf ein Nicht-Ich zur Erklärung von Bestimmtheit wäre überflüssig.“ (Brachtendorf, Fichtes Lehre vom Sein, S. 148-149.) Brachtendorf kritisiert dann aber die These der Identität von Ich und Sein in der WL nova methodo: „dass die idealistische Identitätsthese nicht zureichend begründet war, denn durch sie wurde das Sein als Erscheinungsweise des Ich definiert und die Möglichkeit, dass auch anderes als das Ich ebenso wie dieses selbstständig existieren könnte, ausgeschlossen.“ (Ebd., S. 232.) Für Rohs handelt es sich beim Anstoß um einen „Rest von Dualismus“, welcher in Widerspruch zu der Annahme stehe, dass alles aus dem Ich erklärt werden soll, weshalb Fichte in der Neuen Darstellung diese ohne Einschränkung durchzuführen versuche. (Vgl. Rohs, Fichte, S. 53.) 154 So bei Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 140-141. Anders Hanewald, der von einer inhaltlichen Neukonzeption des Grundprinzips in der WL nova methodo ausgeht und einer damit in Zusammenhang stehenden veränderten Ableitung des Nicht-Ichs. (Vgl. Hanewald, Apperzeption und Einbildungskraft, S. 255-256.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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des Nicht-Ich zu interpretieren.155 Hierbei gibt es dann zwei mögliche Deutungen für Grundlage und WL nova methodo: Zum einen könnte Hegels Kritik als zutreffend betrachtet werden, insofern sowohl Grundlage als auch WL nova methodo ein Dualismus von Ich und Nicht-Ich unterstellt wird. Zum anderen könnte Hegels Kritik sowohl für die Grundlage als auch für die WL nova methodo als verfehlt angesehen werden. Sowohl die Grundlage als auch die WL nova methodo würden dann im Sinne einer monistischen Konzeption interpretiert.156 Ob die Konzeption des Anstoßes nun dualistisch oder monistisch interpretiert werden muss, ist nicht einfach zu entscheiden: Zum einen bedingen sich Anstoß und Selbstbestimmung des Ichs in der Grundlage wechselseitig, d. h., der Anstoß bildet zwar die Voraussetzung der Selbstbestimmung des Ichs (äußere Reflexion), andererseits ist der Anstoß aber nur für das Ich Anstoß und hat somit seine Bedingung in der Selbstbestimmung des Ichs (innere Reflexion). So bestimmt sich das Ich in der produktiven Einbildungskraft selbst als fremdbestimmt, die Fremdbestimmung des Ichs durch den Anstoß ist in dessen Selbstbestimmung integriert. Man könnte nun die methodische Veränderung der WL nova methodo in dem Sinne deuten, dass sie eben dazu dienen soll, diese Konzeption durch eine Umkehrung der Ableitungsrichtung zu verdeutlichen. Nun weist die Anstoßkonzeption zum anderen aber auch Eigenschaften auf, die für eine dualistische Interpretation der Grundlage sprechen: So fasst Fichte in der Grundlage Ich und NichtIch als einander absolut Entgegengesetzte, als Opponenten auf, während er in der WL nova methodo das Nicht-Ich lediglich als eine andere Ansicht des Ichs betrachtet: 155 Nach Binkelmann stellt die Ersetzung des Konzepts des Anstoßes durch das der Gebundenheit nur eine terminologische Änderung dar, um den Vorwurf des Dualismus bzw. des Dogmatismus auszuschalten. (Vgl. Binkelmann, Christoph, Theorie der praktischen Freiheit: Fichte – Hegel, Berlin, 2007, S. 53, Anm. 7.) Binkelmann zufolge darf der Anstoß dabei nicht im Sinne des Dinges an sich verstanden werden: „Neben der Tatsache, dass […] der Anstoß eine weitaus geringere Funktion als das Ding an sich bei Kant erfüllt, zeigt sich ein bedeutender Unterschied bereits in der Benennung. […] Ist es noch sinnvoll anzunehmen, dass es Dinge an sich ohne menschliches Bewusstsein gibt, so ist es sinnlos zu fragen, ob ein Anstoß ohne ein Anzustoßendes sein kann.“ (Ebd., S. 53.) 156 Vgl. zur Interpretation des Anstoßes in diesem Sinne Förster, Eckart, Die 25 Jahre der Philosophie. Eine systematische Rekonstruktion, Frankfurt am Main, 2011, S. 200-201 u. 214. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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[…] auf der Nothwendigkeit des Entgegensezens beruht der ganze Mechanismus des menschlichen Geistes; die Entgegengesezten aber sind eins und daßelbe, nur angesehen von verschiedenen Seiten. Das Ich, welches in dem beabsichtigten liegt, und das NichtIch, welches in dem gegebenen liegt, sind 1 und daßelbe. Es sind nur zwei unzertrennliche Ansichten, darum weil das Ich Subject-Object sein muß. […] Beide Ansichten deßelben, Subjective und Objective sind beisammen heißt, sie sind nicht nur in der Reflexion unzertrennlich, sondern sie sind auch als Objecte der Reflexion eins und daßelbe. Die Thätigkeit, die in sich zurückgeht, welche sich selbst bestimmt, ist keine andere als die Bestimmbare, es ist dieselbe, und unzertrennliche. Das NichtIch ist also nichts anderes, als bloß eine andere Ansicht des Ich. Das Ich als Thätigkeit betrachtet giebt das Ich, das Ich in Ruhe betrachtet das NichtIch. (WLnm-K, GA IV,3, 356)
In der Grundlage stellt das Nicht-Ich so ein zweites Prinzip neben dem Ich dar, Fichte spricht hier noch vom Nicht-Ich als einer vom Ich unabhängigen Kraft,157 während es in der WL nova methodo ausdrücklich heißt, dass das Nicht-Ich nicht als unabhängige Kraft, sondern als bloßes Sein zu betrachten sei. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 382) In der Grundlage versteht Fichte das Objekt als ein durch Erfahrung Gegebenes, in der WL nova methodo integriert er demgegenüber das Nicht-Ich qua Objekt in die Subjekt-Objekt-Identität des Ichs. Demgegenüber heißt es noch in der Grundlage: „Das Objekt ist nicht a priori, sondern es wird […] erst in der Erfahrung gegeben; die objektive Gültigkeit liefert jedem sein eignes Bewußtseyn des Objekts, welches Bewußtseyn sich a priori nur postuliren, nicht aber deduciren läßt.“ (GWL, GA I,2, 390)
157 „Ursprüngliche Idee unsers absoluten Seyns: Streben zur Reflexion über uns selbst nach dieser Idee: Einschränkung, nicht dieses Strebens, aber unsers durch diese Einschränkung erst gesezten wirklichen Daseyns durch ein entgegengeseztes Princip, ein Nicht-Ich…“ (GWL, GA I,2, 410) „Soll ein solches wirkliches Leben möglich seyn, so bedarf es dazu noch eines besondern Anstoßes auf das Ich durch ein Nicht-Ich. Der lezte Grund aller Wirklichkeit für das Ich ist demnach nach der Wissenschaftslehre eine ursprüngliche Wechselwirkung zwischen dem Ich, und irgend einem Etwas ausser demselben, von welchem sich weiter nichts sagen läßt, als daß es dem Ich völlig entgegengesezt seyn muß. […] das Ich wird durch jenes Entgegengesezte bloß in Bewegung gesezt, um zu handeln, und ohne ein solches erstes bewegendes ausser ihm würde es nie gehandelt, und da seine Existenz bloß im Handeln besteht, auch nicht existirt haben.“ (GWL, GA I,2, 411) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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2.3) Das Grundprinzip der WL nova methodo: Das ursprüngliche Ich (§§ 3 – 5) Steht in § 1 der WL nova methodo das Ich des Philosophen im Fokus, kommt mit § 3 das eigentliche Objekt der Wissenschaftslehre, das ursprüngliche Ich, in den Blick und damit die Thematik der Bildung des Bewusstseins. Der Begriff der Bildung umfasst drei wesentliche Dimensionen: zum Ersten Genese, zum Zweiten Bild und zum Dritten Organizität. Der Einsatz des Begriffs der Bildung in Bezug auf die Explikation der Struktur des Grundprinzips steht dabei in einem direkten Zusammenhang mit der gegenüber der Grundlage veränderten Konzeption des Ich-Prinzips. 1) Bildung als Genese: Soll das Ich nicht nur ein leeres Schema, eine willkürliche Konstruktion des Philosophen sein, so muss aufgezeigt werden, dass die Struktur des Ichs des Philosophen mit der des Ich-Prinzips, des ursprünglichen Ichs, koinzidiert. Das Ich des Philosophen stellt so zwar den Anfang der Wissenschaftslehre dar, als ein bloß ideales Selbstbewusstsein ist es aber nicht deren Grund: „§. 1 und 2 war die Aufgabe, das Ich hervorzubringen. §. 3. hat es nun mit der Aufgabe zu thun: das Übergehen des Ich vom Bestimmbaren zur Bestimmung zu begründen. Jene beruhte auf der idealen Thätigkeit, diese auf der realen. Jene sah dem Machen zu, diese ist das Machen selbst.“ (WLnm-H, GA IV,2, 45) Erst das ursprüngliche Ich ist qua Ur-Sprung Grund des Systems der Wissenschaftslehre. Fichte führt hierbei, um den Wechsel der Perspektive zu verdeutlichen, eine neue Terminologie ein: Die IchAnschauung bezeichnet er nun als reale Tätigkeit, den Ich-Begriff als ideale Tätigkeit. Während die reale Tätigkeit als Produktion „wahre Thätigkeit“ und „Handeln“ ist, lässt sich die ideale Tätigkeit als Reflexion kennzeichnen, welche, da sie sich auf reale Tätigkeit als Objekt bezieht, als „Nachbilden“, „Thätigkeit in Ruhe“ und „Zusehen“ bestimmt ist: „Reflectiren heißt seine ideale Thätigkeit auf etwas richten.“ (WLnm-K, GA IV,3, 329) Fichte depotenziert nun das unmittelbare Bewusstsein zu einem Nicht-Bewusstsein, da es in der Gestalt des Ichs des Philosophen lediglich eine Repräsentation darstellt, die sich eigentlich nicht objektiv werden kann.158 Die ideale Tätigkeit als 158 Klotz moniert einen Widerspruch zwischen der Annahme eines unmittelbaren Selbstbewusstseins als Ergebnis des Regressarguments und dem Absprechen des Bewusstseinscharakters der intellektuellen Anschauung. So handle Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Zusehen ist blinder Fleck, insofern sich das Sehen hier selbst nicht sieht. Aus der Unbestimmtheit des unmittelbaren Bewusstseins müsse, um das Bewusstsein des Ichs als ein Bestimmtes zu bilden, herausgegangen werden. Hierzu die Krause-Nachschrift: [D]as unmittelbare Bewustsein ist gar kein Bewustsein, es ist ein dumpfes sich selbst sezen aus dem nichts herausgeht, eine Anschauung ohne daß angeschaut würde. Die Frage, wie kommt das Ich dazu aus dem unmittelbaren Bewustsein herauszugehen, und in sich das Bewustsein zu bilden, ist hier beantwortet. Soll das Ich sein, so muß das unmittelbare Bewustsein wieder gesezt werden durch absolute Freiheit. Dieses vor sich hinstellen durch absolute Freiheit ist frei, aber unter der Bedingung, daß das Ich sein soll ists nothwendig. (WLnm-K, GA IV,3, 361-362, Herv. S.D.) Das Anschauende und das Machende sind unmittelbar eins und daßelbe. Das Anschauende sieht seinem Machen zu. Es ist kein Object als Object unmittelbar Gegenstand des Bewustseins, sondern nur das Machen, die Freiheit. Der Satz: Das Ich sezt sich selbst, hat 2 unzertrennliche Bedeutungen, eine ideale und eine reale, welche beide in dem Ich schlechthin vereinigt sind. Kein ideales Sezen ohne reales Selbstanfangen, und umgekehrt; kein Selbstanschauen ohne Freiheit et vice versa. – ohne Selbstanschauung auch kein Bewustsein. (WLnm-K, GA IV,3,363) es sich bei der intellektuellen Anschauung als nicht-intentionales Bewusstsein gerade um ein Element des intentionalen Bewusstseins, weshalb es für Klotz eine fragwürdige Prämisse ist, die intellektuelle Anschauung sei noch kein IchBewusstsein, was in der widersprüchlichen Behauptung Fichtes, das unmittelbare Bewusstsein sei gar kein Bewusstsein, zum Ausdruck komme. (Vgl. Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 120.) Die von Klotz beklagte Widersprüchlichkeit von Fichtes Konzept des unmittelbaren Bewusstseins lässt sich nun durch die Unterscheidung der Perspektive des Ichs des Philosophen und des ursprünglichen Ichs auflösen. Fichte behandelt so das Regressargument in Bezug auf beide Ichformen. Während Fichte das Ich des Philosophen in § 1 durch die Doppelstruktur von Ich-Anschauung und Ich-Begriff als Bewusstsein expliziert, depotenziert er das unmittelbare Bewusstsein in § 3 zu einem Nicht-Bewusstsein, da das bislang behandelte unmittelbare Bewusstsein, d. h. das Ich des Philosophen, nur ein theoretisches Konstrukt und kein reales Selbstbewusstsein darstellt. Das reale Selbstbewusstsein müsse als Einheit von idealer und realer, d. h. von theoretischer und praktischer, Tätigkeit verstanden werden. Eine einseitig theoretische Konzeption von Selbstbewusstsein führe so in einen infiniten Regress. Es findet sich bei Fichte dabei eine Doppeldeutigkeit des Begriffs des unmittelbaren Bewusstseins bzw. der intellektuellen Anschauung: Zum einen gebraucht er diesen in Bezug auf die produktive, unreflektierte Dimension des Ichs, also die bloße Anschauung, zum anderen aber auch für die Reflexion dieser produktiven Tätigkeit. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Und in der Halleschen Nachschrift heißt es: „daß also das unmittelbare Bewußtseyn zum Bewußtseyn wird nemlich durch den Akt der Freiheit; indem nemlich das Bewußtseyn sich vor sich hinstellt, sich aus sich selbst producirt die Selbstthätigkeit, das Wesen des Ich.“ (WLnm-H, GA IV,2, 45) Die ursprüngliche Wechselwirkung zweier Tätigkeitsformen, einer bloß produktiven Tätigkeit und einer diese produktive Tätigkeit reflektierenden Tätigkeit wird nun zum Leitmodell für die Konzeption des ursprünglichen Ichs in der WL nova methodo.159 Fichte knüpft insofern an § 5 der Grundlage an, als er dort das sich selbst setzende Ich als ein in sich vollkommen Verschlossenes fasst, das sich erneut setzen müsse, um sich einer Einwirkung von außen zu öffnen. Während allerdings in § 5 der Grundlage das Sich-Setzen als sich setzend als Prinzip der Reflexion lediglich die Möglichkeit des Bewusstseins darstellt, da wirkliches Bewusstsein erst über einen dem Ich wesensfremden Anstoß zustande kommt, expliziert die Formel in der WL nova methodo ein wirkliches Bewusstsein.160 Das Selbstbewusstsein ist nun insofern ursprünglich, 159 Stolzenberg interpretiert die intellektuelle Anschauung im Anschluss an Henrich als ein nicht-reflektiertes Selbstverhältnis im Sinne einer Logik des absoluten Bestimmens, die er als nicht-prädikative Bestimmung auffasst. (Vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 185 und S. 171.) Auch Klotz betrachtet die intellektuelle Anschauung einseitig als präreflexives Bewusstsein. Fichte kennzeichnet die intellektuelle Anschauung aber als „REINE REFLEXION“ (WLnm-K, GA IV,3, 350), als Anschauung der Anschauung und in der Zweiten Einleitung explizit als Wissen. Klotz knüpft dabei an die unterbestimmte Fassung des unmittelbaren Bewusstseins als bloß subjektive Anschauung an, wobei er dieses nicht als defizient betrachtet, sondern es als Lösung des Regressproblems präsentiert. Die Lösung des Regressproblems besteht aber gerade im Ausweis des unmittelbaren Bewusstseins als Subjekt-Objekt und Einheit von Anschauung und Begriff. Die Als-Formel, durch die ein Wissen expliziert werde, stellt nach Klotz kein ursprüngliches Selbstbewusstsein dar. (Vgl. Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 96.) Fichte gebraucht die Als-Formel aber für die intellektuelle Anschauung gerade zur Lösung des infiniten Regresses. Klotz übersieht so die Unterspezifikation eines bloß subjektiven, präreflexiven Bewusstseins. Klotz diagnostiziert so auch die Fragwürdigkeit von Fichtes Argumentation für den Bewusstseinscharakter des unmittelbaren Bewusstseins. (Vgl. ebd., S. 83.) Für Klotz ist ein nicht-egologisches Bewusstsein kein Bewusstsein. Fichte geht es aber gerade darum, die Plausibilität eines nicht-egologischen Bewusstseins in der Annahme einer Subjekt-Objekt-Identität darzulegen. Klotz bemängelt weiterhin die Undifferenziertheit bei Fichte, verschiedene Tätigkeiten als In-sich-Zurückgehen zu kennzeichnen. (Vgl. ebd., S. 84.) 160 In der Forschung wird die Als-Formel im Anschluss an Henrich oft nur einseitig als Ausdruck des Begriffs gedeutet. Die Als-Formel expliziert nun aber die Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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als es grundlos ist, da es durch nichts anderes als durch sich selbst begründet ist. Fichte bringt dies in schöpfungsmetaphorischer Weise durch die Konzeption des Sprungs zum Ausdruck: Die Handlung des sich selbst sezens des Ich ist ein Uibergehen von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit; wir müßen darauf reflectiren, wie das Ich es macht, um von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit überzugehen. Hier giebt es keine Gründe; wir sind an der Grenze aller Gründe. Man muß nur zusehen, was man da erblicke. Jeder wird sehen: es giebt da kein vermittelndes. Das Ich geht über, weil es übergeht, es bestimmt sich, weil es sich bestimmt, dieß Uibergehen geschieht durch einen sich selbst begründenden Act der absoluten Freiheit; es ist ein erschaffen aus nichts, ein Machen deßen, was nicht war, ein absolutes anfangen. In der Unbestimmtheit liegt nicht der Grund der nachfolgenden Bestimmtheit, denn beide heben sich auf. Im Moment A war ich unbestimmt, mein ganzes Wesen wurde in dieser Unbestimmtheit aufgehoben. Im Momente B bin ich bestimmt, es ist etwas neues da; dieß kommt aus mir selbst; das Uibergehen geht durch einen sich selbst begründeten Act der Freiheit über. (WLnm-K, GA IV,3, 360)
Einheit von theoretischem und praktischem Ich. So ermöglicht Fichte zufolge die ideale Tätigkeit erst eine Vollendung der realen Tätigkeit im Für-sich-Sein. Es ist so auch plausibel, die Als-Formel als Ausdruck des Ich-Prinzips zu betrachten. Katja Crone vertritt die Position, Fichte habe in der WL nova methodo eine Theorie konkreter Subjektivität entwickelt. Vor diesem Hintergrund deutet Crone die intellektuelle Anschauung als konkretes Bewusstseinsphänomen und stellt diese in einen Gegensatz zum Begriff, den sie mit der Als-Formel identifiziert. (Vgl. Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 49-50.) Hierdurch übersieht Crone aber zum einen die Bedeutung der intellektuellen Anschauung für den Ableitungsgang der Wissenschaftslehre und damit deren systematische Schlüsselstellung. Zum anderen übergeht sie Textstellen, in denen Fichte darauf hinweist, dass es sich bei der intellektuellen Anschauung um gar kein Bewusstsein handelt, sondern dass diese bloß durch Reflexion und Abstraktion rekonstruierbar sei. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 439) Nach Henrich wird der Als-Formel kaum noch Bedeutung zugewiesen. So ist bei Klotz, Crone und Schwabe das Sich-Setzen Ausdruck des Ich-Prinzips, die Als-Formel hingegen steht für die bloß nachträgliche Applikation des Begriffs als Ausdruck des Versuchs der Erfassung des Ich-Prinzips durch das endliche Subjekt. Hierdurch wird aber die funktionale Stellung der Als-Formel im praktischen Teil der Grundlage ignoriert, wo sie das Für-sich-Sein des ursprünglichen Ichs explizieren soll. Oft wird das Sich-Setzen als sich setzend in der Fichte-Forschung auch auf das Sich-Setzen als setzend reduziert. Beide Formeln sind aber zu differenzieren. So schließt das Sich-Setzen als setzend auch vom Ich verschiedene Objekte ein. (Vgl. VnD, GA I,4, 276) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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In der Grundlage gebraucht Fichte sowohl den Begriff der Wechselbestimmung als auch den Begriff der Wechselwirkung. In der WL nova methodo bezeichnet der Begriff der Wechselwirkung die organische Struktur der Wissenschaftslehre und damit des Bewusstseins, der Begriff der Wechselbestimmung wird von Fichte hier nicht mehr verwendet. In der Grundlage lässt sich das Bestimmungsmodell der Einbildungskraft als Wechselwirkung interpretieren, obgleich Fichte hier zunächst nur von einem „Wechsel des Ich in und mit sich selbst“ spricht. An zwei Stellen im theoretischen Teil der Grundlage spricht Fichte dann aber von „Wechselwirkung“, welche die Einheit des Ichs expliziert. Diese Einheit ist auf die Einbildungskraft zurückzuführen: Nicht nur, die geforderte Wechselwirkung ist möglich, sondern auch das, was durch das aufgestellte Postulat gefordert wird, ist ohne eine solche Wechselwirkung gar nicht denkbar. Das was vorher bloß problematisch galt, hat jetzt apodiktische Gewißheit. – Dadurch ist denn zugleich erwiesen, daß der theoretische Theil der Wissenschaftslehre vollkommen beschlossen ist; denn jede Wissenschaft ist beschlossen, deren Grundsatz erschöpft ist; der Grundsaz aber ist erschöpft, wenn man im Gange der Untersuchung auf denselbsen zurükkommt. (GWL, GA I,2, 362)
Und weiter heißt es: „[U]nd so steht das Ich, insofern es endlich oder unendlich seyn kann, bloß mit sich selbst in Wechselwirkung: eine Wechselwirkung, in der das Ich mit sich selbst vollkommen vereinigt ist, und über welche keine theoretische Philosophie hinaufsteigt.“ (GWL, GA I,2, 384) Während das Modell der Wechselbestimmung in der Grundlage auf die Teilbarkeitssynthesis des § 3 bezogen ist, spricht Fichte dann zuerst von „Wechselwirkung“ im Zusammenhang mit der Einbildungskraft. Im Begriff der Wirkung kommt der Zusammenhang von Wirksamkeit und Wirklichkeit zum Ausdruck. So betrachtet Fichte die Einbildungskraft als Produktionsvermögen der Realität. Gegenüber der eher formalen Beziehung der Wechselbestimmung wäre dies ein gehaltvolles Verhältnis. Fichte selbst intendiert wahrscheinlich diese Interpretation, wenn er in der WL nova methodo den Begriff der Wechselwirkung zur Kennzeichnung der Grundstruktur des Bewusstseins einsetzt. Es wäre aber auch eine andere Interpretation möglich: Wechselbestimmung könnte im Sinne eines logischen Grund-Folge-Verhältnisses gedeutet werden, während hingegen Wechselwirkung im Sinne eines kausalen UrsacheWirkungs-Verhältnisses aufgefasst werden könnte. In dieser Hinsicht Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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wäre die Bezeichnung Wechselwirkung eher unpassend zur Kennzeichnung des Selbstverhältnisses des Ichs, das ja kein deterministisches, sondern ein freies Verhältnis darstellt. 2) Bildung als Bild: Die Wissenschaftslehre versteht sich als Projekt der Vollendung der kantischen Vernunftkritik durch Begründung in einem Prinzip, das als absoluter, d. h. nicht weiter zu begründender, Grund des Wissens fungiert. Fichte will den kantischen Dualismus einer in Theorie und Praxis gespaltenen Vernunft aufheben und der bloßen Koordination von Vermögen bei Kant die Grundlage nachreichen. In der WL nova methodo suspendiert Fichte nun die künstliche Trennung der Grundlage in einen theoretischen und einen praktischen Teil, „trägt Philosophie überhaupt vor – theoretische u. Praktische vereinigt, fängt nach einem weit natürlichern Gange vom praktischen an, oder zieht […] das Praktische ins Theoretische herüber um aus jenem dieses zu erklären.“ (WLnm-H, GA IV,2, 17) Während die reale Tätigkeit die praktische Dimension des Ichs expliziert, charakterisiert die ideale Tätigkeit dessen theoretische Dimension. Fichte fasst das Verhältnis von idealer und realer Tätigkeit in einem ersten Schritt als wechselseitiges Bedingungsgefüge: Die Produktivität des Ichs müsse so zum einen gesetzt, d. h. repräsentiert, werden, sonst wäre das Ich nicht für sich und damit kein Ich. Die Reflexion des Ichs müsse sich zum anderen aber auch objektiv werden. Objekt der Reflexion ist dabei das Ich selbst als Produktivität. In einem zweiten Schritt zeigt Fichte das Verhältnis von idealer und realer Tätigkeit als Identität auf. Die Identität ist dabei von zwei Seiten zu denken: Zum einen ist die Produktion des Ichs reflexiv. Die reale Tätigkeit ist als ein Übergehen von Bestimmbarkeit zu Bestimmtheit, von Möglichkeit zu Wirklichkeit noch unterbestimmt. Die ideale Tätigkeit kann der realen Tätigkeit aber nur zusehen, wenn diese als Produktivität selbst begrifflich verfasst ist. Die ideale Tätigkeit sieht so Fichte zufolge ein Bild in die reale Tätigkeit hinein. Dieses Bild ist nun Vorbild, da es als Ideal das wirkliche Handeln des Ichs leitet. Die Freiheit des Ichs ist bewusst. Fichte identifiziert dabei Bild und Begriff: Im System der Sittenlehre (1798) charakterisiert er das Nachbild als Erkenntnisbegriff, das Vorbild als Zweckbegriff. (Vgl. SL, GA I,5, 79)161 Der Begriff des Bildes erhält so eine doppelte 161 Zu Fichtes Konzeption des Bildes vgl. Drechsler, Julius, Fichtes Lehre vom Bild, Stuttgart, 1955; Janke, Wolfgang, Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge einer Phänomenologie Fichtes, Berlin, 1993. Vgl. auch Dürr, Suzanne, „Spiegel und Auge. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Bedeutung entsprechend den zwei Richtungen der Subjekt-ObjektRelation: Während beim Nachbild das Subjekt durch das Objekt bestimmt ist, ist beim Vorbild das Objekt durch das Subjekt bestimmt. Zum anderen ist die Reflexion des Ichs produktiv. Das Für-sich-Sein ist, insofern es ein In-sich-Zurückgehen ist, als Selbstbestimmung zu kennzeichnen. Das Bewusstsein des Ichs ist frei. Henrich zufolge hat Fichte die von Descartes bis zu Kant vorherrschende Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins durch ein Produktionsmodell zu überwinden versucht.162 Die Reflexionstheorie sei dabei zirkulär, da das Ich, um sich auf sich zurückzuwenden, bereits vorhanden sein und darüber hinaus von sich wissen müsse. Auch Fichte hat laut Henrich die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins nun nicht überwinden können, so verfalle er in seiner Konzeption des Selbstbewusstseins in die Aporien der Reflexionstheorie.163 Um Henrichs Deutung adäquat beurteilen zu können, gilt es zwei bereits im Kontext von § 1 diskutierte, grundlegende Zur Bildung des Bewusstseins in Fichtes ‚Wissenschaftslehre nova methodo‘“, in: Freiheit und Bildung bei Hegel, hg. v. Andreas Braune, Jiří Chotaš, Klaus Vieweg, Folko Zander, Würzburg, 2013, S. 121-137. 162 Vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 195. Der Interpretation Henrichs schließt sich Karen Gloy an. (Vgl. Gloy, Selbstbewusstsein als Prinzip neuzeitlichen Selbstverständnisses; Gloy, Bewusstseinstheorien, S. 202-237.) 163 Vgl. zur Fichte-Interpretation Henrichs Exkurs 1. Crone hält den von Henrich kritisierten Zirkel bei Fichte für ein Scheinproblem und meint diesen über einen Bezug des transzendentalen Grundprinzips auf konkrete Subjektivität auflösen zu können. So sei die Reflexion als Mittel philosophischer Analyse ungeeignet, da diese in einen infiniten Regress führe, weshalb Fichte auf die intellektuelle Anschauung als unmittelbaren Bewusstseinsmodus zurückgreife. Es bestehe in Bezug auf Fichtes Selbstbewusstseinsmodell so kein Zirkel, da das transzendentale Ich selbst unmittelbar und präreflexiv sei. Der von Henrich monierte Zirkel sei so lediglich ein methodischer Zirkel, welcher durch die Notwendigkeit der Vergegenständlichung des ungegenständlichen Grundprinzips in der Reflexion auftrete. So identifiziere Henrich fälschlicherweise SichSetzen und Reflexionsstruktur, weshalb er die Zirkelproblematik in Bezug auf das transzendentale Grundprinzip selbst gegeben sehe. Die intellektuelle Anschauung vermittle aber zwischen Grundprinzip und begrifflicher Reflexion. (Vgl. Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 38-43.) Wie Klotz betrachtet Crone so das Grundprinzip bei Fichte als präreflexiv. Dem widerspricht nun aber die Kennzeichnung des Prinzips als in sich zurückgehende Tätigkeit und als „REINE REFLEXION“ (WLnm-K, GA IV,3, 350). Der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Interpretation zufolge kritisiert Fichte zwar eine externe Reflexion, insofern der Versuch der Erfassung des Grundprinzips hierdurch in einen infiniten Regress gerate. Er versteht das Grundprinzip hierin allerdings als immanente Reflexion, wobei diese die präreflexive Tätigkeit des Ichs inkludiert, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Schwierigkeiten in der Explikation von Selbstbewusstsein zu differenzieren, die auch heute noch diskutiert werden: Zum Ersten das Problem des Zirkels, zum Zweiten das des infiniten Regresses.164 In der Zweiten Einleitung des Versuchs findet sich eine Passage zum Problem des Bewusstseinszirkels. (ZwE, GA I,4, 213-214) Diese gliedert sich in vier Abschnitte, hier bezeichnet als a, b, c und d. a) Zuförderst, was gehört in dem beschriebenen Acte dem Philosophen an, als Philosophen; – was dem durch ihn zu beobachtenden Ich? Dem Ich nichts weiteres, als das Zurückkehren in sich; alles übrige gehört zur Relation des Philosophen, für den als bloßes Factum das System der gesammten Erfahrung schon da ist, welches vom Ich unter seinen Augen zu Stande gebracht werden soll, damit er die Entstehungsart desselben kennen lerne. b) Das Ich geht zurück in sich selbst, wird behauptet. Ist es denn also nicht schon vor diesem Zurückgehen und unabhängig von demselben da für sich; muß es nicht für sich schon da seyn, um sich zum
welche hierbei allerdings nur einen Teil des Grundprinzips und nicht das ganze Prinzip ausmacht, wie in den Interpretationen von Klotz und Crone. 164 Klaus Düsing unterscheidet präzise Zirkelargument und Regressargument als zwei verschiedene Versionen eines Einwands. Demgegenüber setzt die Forschung oft Zirkel und Regress gleich, was dazu führt, dass Fichtes differenzierte Argumentation hier gar nicht wahrgenommen wird. Düsing unterscheidet den Einwand des Zirkels als methodischen Einwand, welcher auf die Definition von Selbstbewusstsein bezogen sei, vom Einwand der unendlichen Iteration, welcher sich auf die Selbstvorstellung des Ichs beziehe. Der Einwand der Iteration könne dabei sowohl auf der Subjekt- als auch auf der Objektseite entwickelt werden. Während Fichte den Einwand der unendlichen Iteration von der Subjektseite diskutiert, findet sich dieser im Ausgang von der Objektseite bei seinem Schüler Herbart. Während die Iteration auf der Subjektseite daraus resultiert, dass sich das Subjekt in der Selbstverobjektivierung selbst entgeht, kommt die Iteration auf der Objektseite dadurch zustande, dass sich das SichVorstellende als Objekt auch nicht endgültig erfassen kann, weshalb es sich wieder als Sich-Vorstellendes voraussetzen muss. Der Zirkel in der Definition von Selbstbewusstsein resultiere daraus, dass Termini vorstellender Selbstbeziehung in der Definition selbst wieder die Definition durch selbstbezügliche Termini fordern. Der Einwand der Iteration in der Selbstvorstellung wiederhole sich so auf methodischer Ebene. Auch der Einwand des Zirkels in der Semantik der ich-Rede, d. h. die Kritik, dass der Akteur der Selbstbeziehung vorausgesetzt werden müsse (diese Version findet sich bei Fichte), führt Düsing zufolge zum Einwand der Iteration, welcher methodisch als Zirkel umformuliert werden könne. (Vgl. Düsing, Klaus, Strukturmodelle des Selbstbewusstseins, S. 8-10. Hierzu auch ders., Selbstbewusstseinsmodelle, S. 106-109.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Ziele eines Handelns machen zu können; und, wenn es so ist, setzt denn nicht eure Philosophie schon voraus, was sie erklären sollte? c) Ich antworte: keineswegs. Erst durch diesen Act und lediglich durch ihn, durch ein Handeln auf ein Handeln selbst, welchem bestimmtem Handeln kein Handeln überhaupt vorhergeht, wird das Ich ursprünglich für sich selbst. Nur für den Philosophen ist es vorher da, als Factum, weil dieser die ganze Erfahrung schon gemacht hat. Er muß sich so ausdrücken, wie er sich ausdrückt, um nur verstanden zu werden; und er kann sich so ausdrücken, weil er alle die dazu erforderlichen Begriffe schon längst aufgefasst hat. d) Was ist nun, um zuförderst auf das beobachtete Ich zu sehen, dieses sein Zurückgehen in sich selbst; unter welche Classe der Modificationen des Bewußtseyns soll es gesetzt werden? Es ist kein Begreifen: Dies wird es erst durch den Gegensatz eines NichtIch, und durch die Bestimmung des Ich in diesem Gegensatze. Mithin ist es eine bloße Anschauung. – Es ist sonach auch kein Bewusstseyn, nicht einmal ein SelbstBewusstseyn; und lediglich darum, weil durch diesen bloßen Act kein Bewusstseyn zu Stande kommt, wird ja fortgeschlossen auf einen andern Act wodurch ein NichtIch für uns entsteht; ledigich dadurch wird ein Fortschritt des philosophischen Räsonnements, und die verlangte Ableitung des Systems der Erfahrung möglich. Das Ich wird durch den beschriebenen Act bloß in die Möglichkeit des SelbstBewusstseyns, und mit ihm alles übrigen Bewusstseyns versetzt; aber es entsteht noch kein wirkliches Bewusstseyn. Der angegebene Act ist bloß ein Theil, und ein nur den Philosophen abzusondernder nicht aber etwa ursprünglich abgesonderter Theil der ganzen Handlung der Intelligenz, wodurch sie ihr Bewusstseyn zu Stande bringt.
Fichte stellt zunächst die Form des In-sich-Zurückgehens als einziges Merkmal des beobachteten Ichs als Grundprinzip heraus. Insofern es sich hierbei um eine selbstreflexive und damit zirkuläre Struktur handelt, besteht das Problem eines vitiösen Zirkels, d. h., das, was erklärt werden soll, wird bereits vorausgesetzt. Fichte benennt so selbst einen möglichen Einwand gegen sein Modell von Selbstbewusstsein, um diesen daraufhin zu entkräften. So stellt sich die Frage, ob das Ich nicht bereits für sich sein müsse, um sich zum Zielpunkt seines eigenen Handelns zu machen. Das Modell eines sich selbst produzierenden Selbstbewusstseins beinhaltet dabei zwei Aspekte: Zum Ersten das Problem des epistemischen Zirkels. Dieser zielt auf die Beschreibung des Seins des Ichs als Für-sichSein. Das Ich müsse hierbei sich seiner selbst bereits bewusst sein, d. h., sich qua Ich wissen, um sich selbst als Wissen hervorzubringen. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Zum Zweiten das Problem des ontologischen Zirkels. Dieses betrifft die Seinsdimension des Selbstbewusstseins. Das Ich müsse so bereits vorhanden sein, um sich als Ich ins Dasein zu setzen. Fichte bietet dann eine mögliche Lösung im nächsten Abschnitt (c) an, indem er das Für-sich-Sein des ursprünglichen Ichs expliziert. Er stellt hier zunächst die Behauptung auf, dass das ursprüngliche Ich nicht vorausgesetzt werden dürfe, da es ursprünglich für sich werde, d. h., es ist als Produkt seiner Selbstsetzung zu verstehen und kann damit der Selbstsetzung nicht vorhergehen.165 Fichte charakterisiert die Entstehung des ursprünglichen Für-sich-Seins hierbei als einen Akt selbstbezüglichen Handelns, als „ein Handeln auf ein Handeln“, also als ein Handeln, das sich auf sich selbst qua Objekt bezieht. Lässt die Betonung des Prozesscharakters des Für-sich-Seins vermuten, dass dieses eine bloß unbestimmte Tätigkeit darstellt, behauptet Fichte nun, dass dieses ein „bestimmtes Handeln“ ist, dem aber kein (es bestimmendes) anderes Handeln vorauszusetzen ist. Das Für-sich-Sein des Ichs als Handeln ist so nicht gegen ein anderes Handeln, sondern lediglich durch sich selbst bestimmt, insofern es sich selbst als Für-sich-Sein produziert. Es handelt sich somit um ein unbedingtes und damit „ur-sprüngliches“ Sich-Setzen. Das Modell einer Entstehung der ursprünglichen Selbstsetzung des Ichs ist nun allerdings problematisch: Der Begriff des Entstehens impliziert eine zeitliche Struktur, das Für-sich-Sein des ursprünglichen Ichs soll 165 Für Klotz besteht hier eine Spannung zwischen der produktiven und der reflexiven Dimension in Fichtes Ich-Konzeption: „Die Verbindung der Konzeption des Ich als bewusstseinsinternem Anschauungsinhalt mit der Beschreibung der Anschauung als Selbstbezug führt also zu einem Konzept der Selbstproduktion des Ich. Der Gedanke, durch einen Akt der Selbstbezugnahme komme erst dasjenige zum ‚Sein‘, welches sich hier auf sich bezieht, lässt sich aber nicht verständlich machen. Denn die Rede von einem Selbstbezug setzt bereits dasjenige Subjekt als Vollzugsinhalt voraus, welches doch erst mit diesem Akt hervorgehen soll.“ (Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 113.) Fichte löse diese Spannung durch zwei Argumente auf: 1) Fichte vertrete die These, es gebe kein Subjekt als Bezugsgegenstand oder Urheber der Anschauung. 2) Die Rede vom In-sich-Zurückgehen der Ich-Tätigkeit verweise auf ein Darstellungsproblem, die Beschreibung des ursprünglichen Selbstbewusstseins müsse auf die in Bezug auf die Beschreibung des phänomenalen Selbstbewusstseins ausgebildete Sprache rekurrieren, um verständlich zu sein, sei aber dem zu beschreibenden Gegenstand unangemessen. (Vgl. ebd., S. 114-116.) Gegenüber Klotz’ Behauptung einer Spannung zwischen Produktion und Reflexion soll hier die These vertreten werden, dass Fichte beide Momente im Modell einer produktiven Reflexion verbindet. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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aber notwendig sein, d. h. allgemeingültig, rein, nicht-empirisch und objektiv. So heißt es in der WL nova methodo: „Was ist denn nun die intellectuelle Anschauung selbst, und wie entsteht sie? Entstehen ist ein Zeitbegriff, ein sinnliches, aber die intellectuelle Anschauung ist nicht sinnlich, sie entsteht also nicht, sie ist; und es kann nur von ihr gesprochen werden im Gegensatz der sinnlichen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 438) Fichtes Erläuterungen in Abschnitt (c) gehen auf dieses Problem ein. Fichte wirft hier die Frage auf, wie genau das Für-sich-Sein des ursprünglichen Ichs zu verstehen ist. Die Selbstproduktion des ursprünglichen Ichs stellt eine transzendentale, nicht-empirische Bildung des Selbstbewusstseins dar. Diese paradoxe Figur erklärt Fichte durch die Notwendigkeit einer sprachlichen Beschreibung. Er behauptet, dass das Ich als Faktum, d. h. als unableitbar Gegebenes, bereits vorhanden sei, da der Philosoph die Erfahrung der Ich-Bildung schon gemacht habe. Für den Philosophen sei also gegeben, was erst entsteht. Das Problem eines vitiösen Zirkels sei somit auf ein Darstellungsproblem zurückzuführen: Der Philosoph müsse und könne sich nur so ausdrücken, d. h., der Philosoph kann sich nur durch Begriffe ausdrücken, diese hat er dabei aber bereits gebildet. Während für den Philosophen das Ich ein unableitbar Gegebenes ist, handelt es sich beim ursprünglichen Ich um eine ursprüngliche Selbst-Produktion, die transzendentale Struktur eines produktiven Zirkels. Fichte behauptet nun in Bezug auf die Struktur des In-sich-Zurückgehens, dass diese kein Selbstbewusstsein im vollen Sinne, sondern nur ein potentielles Selbstbewusstsein expliziere (Abschnitt d). Dies macht Fichte anhand der Unterscheidung der Komponenten Anschauung, Begriff und Nicht-Ich deutlich. Erst durch die begriffliche Repräsentation der ursprünglichen Anschauung und die Entgegensetzung des Nicht-Ichs komme wirkliches Selbstbewusstsein zustande.166 166 Düsing zufolge sind weder Fichtes Konzeption der intellektuellen Anschauung noch die idealistische Geschichte des Selbstbewusstseins vom Einwand des Zirkels bzw. der Iteration betroffen. Sowohl Henrich als auch Tugendhat würden den Einwand der Iteration bzw. des Zirkels überschätzen, da dieser nur für das Modell symmetrischer Subjekt-Objekt-Beziehung gelte, bei welchem Subjekt und Objekt als voneinander getrennte Instanzen behauptet werden. Die intellektuelle Anschauung unterliege so qua ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt, als einfacher Akt des ursprünglichen spontanen, unmittelbaren Sich-Gewahrens des Ichs nicht dem Einwand der Iteration bzw. des Zirkels, da dieser aus der Annahme der Differenz der Relata resultiere. Auch die Konzeption einer idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins sei hiervon Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Während Fichte die Kennzeichnung des Ichs als einer in sich zurückgehenden Tätigkeit gegen den möglichen Einwand der Zirkularität verteidigt, führt er dessen Bestimmung als Subjekt-Objekt in kritischer Wendung gegen die Tradition der Subjektivitätstheorie an. Das Problem des Regresses behandelt Fichte sowohl für das Ich des Philosophen (§ 1) als auch für das ursprüngliche Ich (§ 4).167 Die Argumentation Fichtes ist hierbei deckungsgleich. So heißt es in § 4: Denn nach §.1. ist Bewußtseyn ein sich selbst Idealiter setzen: Ein Sehen und zwar Ein Sich sehen. In dieser Bemerkung liegt der Grund aller Irrthümer anderer philosophischer Systeme, selbst des Kantischen. Sie betrachten das Ich als einen Spiegel, in welchem ein Bild sich abspiegelt, nun aber sieht bey ihnen der Spiegel nicht selbst, es wird daher ein 2ter Spiegel für jenen Spiegel erfordert u. s. f. Dadurch aber wird das Anschauen nicht erklärt, sondern nur ein Abspiegeln. Das Ich in der Wiss=Lehre hingegen ist kein Spiegel, sondern ein Auge; es ist ein sich Abspiegelnder Spiegel, ist Bild von sich; durch sein eigenes sehen wird das Auge (die Intelligenz) sich selbst zum Bilde. (WLnm-H, GA IV, 2, 48-49)168
Was im § 4 im Zentrum von Fichtes Kritik steht, ist eine einseitig theoretische Ich-Konzeption: Der Spiegel ist ein passives Medium, das zwischen Subjekt und Objekt eingeschaltet ist, und dem das von ihm reflektierte Bild äußerlich ist. Der Spiegel bildet so zum einen ein ihm fremdes Objekt ab. Das Bild des Spiegels wird zum anderen nur von einem externen Betrachter gesehen. Der Spiegel ist hierbei einem Auge vergleichbar, das sich, da sein Blick nach außen gerichtet ist, selbst nicht sieht. Im Ich fallen Subjekt und Objekt demgenicht betroffen, da in der komplexen Ausdifferenzierung der Subjektivitätsstruktur das Ich-Objekt dem Ich-Subjekt nicht in gleicher Bedeutung vorausgehe wie im Einwand der Iteration bzw. des Zirkels. (Vgl. Düsing, Klaus, Strukturmodelle des Selbstbewusstseins, S. 10 -15.) 167 Henrich bezieht sich auf § 1. (Vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 195-196.) 168 Die Rede vom Auge findet sich dabei bereits im Naturrecht und nicht erst in der WL nova methodo, wie von Henrich und Gloy behauptet: „Was den schon gebildeten Menschen am ausdrückendsten charakterisiret, ist das geistige Auge […] Ich mache darauf aufmerksam, daß das Auge selbst und an sich dem Menschen nicht blos ein todter, leidender Spiegel ist […] Es ist ein mächtiges Organ, das selbstthätig die Gestalt im Raume umläuft, abreisset, nachbildet […] das Auge verklärt sich selbst zum Lichte, und wird eine sichtbare Seele. – Daher, jemehr geistige Selbstthätigkeit jemand hat, desto geistreicher sein Auge; je weniger, destomehr bleibt es ihm ein trüber, mit einem Nebelflore überzogener Spiegel.“ (GNR, GA I,3, 382-383) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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genüber in eins: Das Ich ist sowohl Bild von sich (Objekt) als auch Bild für sich (Subjekt). Als Selbstbild ist das Ich sich seiner selbst bewusst und als solches Begriff seiner selbst. Hierin wird die Kritik an Kant deutlich: Bei Kant ist die reine Apperzeption so zwar Vehikel aller Begriffe, selbst aber kein Begriff, weshalb die analytische Einheit der Apperzeption (Vorstellung der Identität des Bewusstseins) Resultat der synthetischen Einheit der Apperzeption (Verbindung der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen in einem Bewusstsein) ist. Fichte kehrt das Verhältnis von analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption nun um, wenn er das Mannigfaltige aus der Identität des Ichs ableitet. Sowohl die ideale als auch die reale Tätigkeit sind hierbei für sich genommen defizient, insofern sie gleichermaßen unbestimmt sind: Die ideale Tätigkeit ist als eine einseitig theoretische Reflexion nur leere Spiegelung. Das Ich entzieht sich im Spiegelkabinett der äußeren Reflexion dem verobjektivierenden Zugriff des Begriffs ins Unendliche. Das Ich als bloße Objektivität resultiert so in einem infiniten Regress: Es verlangt ein Subjekt, das aber in der Hypostasierung ein weiteres Subjekt erfordert usw. Der Begriff ist nur leere Hülle, reine Form, der Realität fehlt. Die reale Tätigkeit ist hingegen eine bewusstlose Produktivität, Realität, die aber kein Bewusstsein ihrer selbst hat. Das Modell einer Bildung des Bewusstseins führt somit theoretische und praktische Dimension des Ichs zusammen: Fichte konzipiert das Ich als einen sich selbst abspiegelnden Spiegel, ein sich selbst sehendes Auge, da es sich selbst als Ich bestimmt. Das Ich als Freiheit, d. h. Selbsttätigkeit, ist sich hierin selbst Objekt: „[D]ie Freiheit ist das erste und unmittelbare Object des Bewustseins.“ (WLnmK, GA IV,3, 362) Die Augenmetapher stellt dabei eine direkte Kritik an Reinholds einseitig theoretischem Modell von Selbstbewusstsein dar, da für Reinhold das Selbstbewusstsein gerade kein sich selbst sehendes Auge sein könne. So könne das zwischen Subjekt und Objekt Unterscheidende „nicht zugleich das Unterschiedene seyn – (so wenig als das Auge sich selbst sehen kann)“.169 Die Begriffe Subjekt und Objekt sind hierbei als Funktionsbezeichnungen zu verstehen: Objekt meint zum einen die Hypostasierung des Begriffs und damit eine bloße Form (§ 1), zum anderen aber auch den Gehalt des Ich169 Vgl. Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen. Erster Band, S. 197. Zu Reinholds Selbstbewusstseinstheorie vgl. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Karl Leonhard Reinhold, S. 144-153. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Prinzips und damit Tätigkeit oder Produktivität (§ 3/4). In § 3 ist das Objekt so die reale Tätigkeit, da sich das Ich hier selbst objektiv wird. Subjekt meint in § 1 die Tätigkeit (bloße Anschauung) des Ichs, in § 3 aber dann das Zusehen. Der Perspektivenwechsel in § 3 führt so eine Drehung der Subjekt-Objekt-Relation mit sich. Dies ist auch daran abzulesen, dass Fichte in § 1 den infiniten Regress auf die einseitige Fassung des Ichs als Objekt, in § 4 aber auf die einseitige Fassung als Subjekt zurückführt. In § 1 führt demgegenüber die einseitige Fassung des Ichs als Subjekt zum Problem der Unbegreiflichkeit.170 Das Ich als ursprüngliche Synthesis von Subjektivität und Objektivität171 lässt sich somit als produktive Reflexion kennzeichnen. Es stellt sich dabei die Frage, ob hier ein neuer Anfang gegenüber der Grundlage vorliegt. In der Aenesidemus-Rezension kritisiert Fichte an Reinhold den Ausgang vom Satz des Bewusstseins als einer Synthesis, die auf eine Thesis und Antithesis zurückgeführt werden müsse. (Vgl. AR, GA I,2, 45) Mit der Konzeption der ursprünglichen Synthese fasst Fichte in der WL nova methodo nun aber die drei Grundsätze der Grundlage in einem einheitlichen Prinzip zusammen. So heißt es in der WL nova methodo: Es wäre sonach zu unterscheiden, eine ursprüngliche Thesis, oder da in ihr ein Mannigfaltiges gesetzt wird, eine ursprüngliche Synthesis, von der Analysis dieser Synthesis, wenn nehmlich wieder auf das Reflectirt wird, was in der ursprünglichen Synthesis liegt; die gesammte Erfahrung ist nun bloße Analysis dieser ursprünglichen Synthesis. Das ursprüngliche Sezen kann nicht im würklichen Bewustsein vorkommen, weil es erst die Bedingung der Möglichkeit alles Bewustseins ist. (WLnm-K, GA IV,3, 329) 170 So heißt es in § 1: „Das Ich ist gar nicht Subject, sondern Subject=Object; sollte es bloß Subject sein, so fällt man in die Unbegreiflichkeit des Bewustseins, soll es bloß Object sein, so wird man getrieben, ein Subject auser ihm zu suchen, das man nie finden wird.“ (WLnm-K, GA IV,3, 346) In § 4 heißt es: „Das Ich der bisherigen Philosophien ist ein Spiegel, nun aber sieht der Spiegel nicht […] Auf dem Spiegel liegt das Bild, aber er sieht es nicht; die Intelligenz wird sich zum Bilde; was in der Intelligenz ist, ist Bild und nichts andres. Aber ein Bild bezieht sich auf ein Object; wo ein Bild ist, muß etwas sein, das abgebildet wird. So ist auch die ideale Thätigkeit geschildert worden, als ein Nachmachen, als Nachbilden. Wird ein Bewustsein angenommen, so wird auch ein Object deßelben angenommen. Dieß kann nur Handeln des Ich sein, denn alles Handeln des Ich ist nur unmittelbar anschaubar, alles übrige nur mittelbar; wir sehen alles in uns, wir sehen nur uns, nur als handelnd, nur als übergehend vom Bestimmbaren zum bestimmten.“ (WLnm-K, GA IV,3, 365-366) 171 Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 48; WLnm-K, GA IV,3, 365. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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In der Konzeption der produktiven Reflexion sind dabei alle drei Bedeutungen des Reflexionsbegriffs zur Geltung gebracht: 1) Epistemische Dimension (Begriff): Indem sich das Ich selbst als Produktivität begreift und damit bestimmt, ist es für sich. 2) Strukturelle Dimension (lat. ‚Rückbeugung‘): Hierin kommt ein Selbstverhältnis des Ichs zum Ausdruck: Im Für-sich-Sein wird sich das Ich selbst objektiv. 3) Optische Dimension (Spiegelung): Das sich selbst objektive Ich ist als ein sich abspiegelnder Spiegel und damit als Bild von sich zu kennzeichnen. Die Wissenschaftslehre ist damit Spekulation im dreifachen Wortsinne: 1) specula als ‚Anhöhe‘, 2) speculum als ‚Spiegel‘, 3) speculari als ‚beobachten‘. Fichte ist so zum Ersten kein Kritiker eines Verständnisses von Reflexion als Rückbeugung, wie Dieter Henrich behauptet, sondern er kritisiert an der Tradition bis hin zu Kant ein empiristisches Modell von Reflexion als einer Spiegelung, die sich selbst nicht objektiv wird.172 Zum Zweiten wird das Modell einer produktiven Reflexion nicht von Henrichs Einwänden gegen die Reflexionstheorie getroffen, da die produktive Reflexion des Ichs kein formales Ergreifen eines bereits vorhandenen Wissens, sondern eine Produktion von Wissen expliziert.173 Die WL nova methodo verfügt im Gegensatz zur Grundlage über eine Intersubjektivitätstheorie. Das Grundprinzip der WL nova methodo, die endliche Vernunft überhaupt, ist dabei ein noch unterbestimmtes Konzept, insofern ein wirkliches Bewusstsein im eigentlichen Sinne erst entsteht, wenn sich das Ich in der Aufforderung durch das andere Ich aus dem Vernunftreich herausgreift und sich so selbst als individuelles Ich bestimmt. Im Prinzip der endlichen Vernunft überhaupt ist hierbei das individuelle Ich enthalten, da jenes aus dieser deduziert werden soll. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 341) Die Metapher des sich selbst sehenden Auges enthält so bereits den 172 In der Zweiten Einleitung von 1797 wirft Fichte nur den Kantianern vor, dass sie das Ich „aus einem Mannichfaltigen von Vorstellung zusammenstoppeln, in deren keiner einzigen es war“. (ZwE, GA I,4, 228) Aber auch hier deutet sich die Kritik an Kant an: So habe Kant, da er nicht die Grundlage aller Philosophie behandelt habe, nicht die Frage nach dem Bewusstseinsstatus des kategorischen Imperativs gestellt. (Vgl. ZwE, GA I,4, 225) Karen Gloy deutet das oben angeführte Zitat als Beleg dafür, dass Fichte das Reflexionsmodell im Sinne Henrichs zurückweise. (Vgl. Gloy, Selbstbewusstsein als Prinzip neuzeitlichen Selbstverständnisses, S. 65.) Fichte fasst aber das Ich qua sich selbst abspiegelnder Spiegel als in sich gedoppelte Reflexion und damit als produktive Reflexion. Zu Fichtes Bezug auf Locke und Hume vgl. Kapitel IV.2.5 und IV.3. 173 Vgl. zum Modell der produktiven Reflexion insbesondere Exkurs 1. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Bezug auf ein anderes Ich: Das Ich braucht das andere Ich, um sich selbst zu spiegeln und sich darin selbst objektiv zu werden. 3) Bildung als Organizität: In dem Manuskript Neue Bearbeitung der W.L. von 1800 kennzeichnet Fichte die Wissenschaftslehre als „transscentalphilosophische[s] Leben“, das „eine getroffene Abbildung des wirklichen Lebens ist.“ (NB, GA II,5, 334) Insofern der Philosoph als endliches Vernunftwesen den Gesetzen des diskursiven Denkens unterliegt, entfaltet sich die Wissenschaftslehre linear, obgleich sie als Darstellung des zirkulären Bewusstseins, das „auf einen Schlag“ (WLnm-H, GA IV,2, 27) hervortritt, ein organisches Ganzes bildet. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 495) Die Intention von Kants Kritik war es, die Philosophie auf den sicheren Weg einer Wissenschaft zu bringen und dem blinden Herumtappen der Metaphysik durch die Verankerung der Objekterkenntnis in den apriorischen Strukturen der Subjektivität ein Ende zu machen. Fichte zeigt nun, dass Philosophie nur den Namen einer Wissenschaft verdient, wenn sie als Metawissenschaft auf das Wissen selbst reflektiert, indem sie die Frage nach ihrer eigenen Möglichkeit zum Gegenstand macht. Fichte zufolge hat Wissenschaft also nach ihrem eigenen Grund zu fragen. Erst durch Begründung ist die Wissenschaft ein System und damit wirklich. Aus dem selbstreflexiven Grund des Wissens soll dabei durch Deduktion, d. h. durch Ableitung, das System der Wissenschaft generiert werden. Die Wissenschaftslehre als in sich geschlossener Begründungszusammenhang ist so ein Unternehmen der Selbstbegründung, da sie den Grund des Wissens als selbsttätige SubjektObjektivität fasst. Der selbstreflexive Grund des Wissens lässt sich als produktive Reflexion, als Selbst-Bildung charakterisieren, die als höherstufige Reflexion, als aufsteigende Reflexion der Reflexion Bestimmungen produziert, wobei der Aufstieg der Reflexion aus der jeweiligen Unterbestimmtheit des aktuell erreichten Wissensstandes resultiert. In § 5 wirft Fichte die Frage nach der Verfasstheit des Produkts der Selbstbestimmung des Ichs, d. h. einer wirklichen Handlung des Ichs und denen sich aus dieser ergebenden Konsequenzen, auf. Fichte möchte hierbei aufzeigen, inwiefern dieses Produkt angeschaut werden kann. Hierfür muss das bereits eingeführte Prinzip des ursprünglichen Ichs in einer Meta-Reflexion erneut reflektiert werden. Insofern Fichte hier die Frage nach der Möglichkeit der Anschauung des Ichs stellt, nimmt er eine transzendentale Perspektive auf das zunächst als „Faktum“ vorausgesetzte Grundprinzip ein. Das Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Grundprinzip wurde so bestimmt als Selbstanschauung, es wurde aber nicht aufgezeigt, wie diese Anschauung selbst möglich sein soll. Nun wird deutlich: Das bisher aufgestellte formale Schema von Bestimmbarkeit > Übergehen > Bestimmtheit ist nicht ausreichend, um Struktur und Funktionsweise des Bewusstseins zu explizieren. Nachdem Fichte kurz die Zielstellung von § 5 umrissen hat, bestimmt er das Produkt der Selbstbestimmung mittels des bereits zuvor zur Anwendung gebrachten Reflexionsgesetzes der Entgegensetzung. Insofern das Produkt der Selbstbestimmung als Angeschautes der idealen Tätigkeit als Anschauung entgegengesetzt ist, wobei die ideale Tätigkeit in § 3 als „gebunden“ bestimmt wurde, schließt Fichte nun von der Beschaffenheit der idealen Tätigkeit auf das Angeschaute als ihr Produkt und bestimmt dieses damit als „Haltendes“. Um das Verhältnis des Produkts der Selbstbestimmung des Ichs, d. h. der Realität, und der praktischen Tätigkeit, d. h. des Handelns des Ichs, zu bestimmen, expliziert Fichte in einem nächsten Schritt den Charakter der praktischen Tätigkeit. Während Fichte in § 4 das Merkmal der Gebundenheit nur der idealen Tätigkeit zuschrieb, die reale Tätigkeit demgegenüber aber als „wahre Thätigkeit“ bestimmte, nimmt er für die praktische Tätigkeit nun eine Einschränkung vor, indem er diese genauer spezifiziert. Fichte definiert zunächst den Zweckbegriff als Bestimmtheit, welche aus der Summe der Bestimmbarkeit durch das wählende, zwecksetzende Ich quasi „herausgerissen“ wird. Die Selbstbestimmung des Ichs ist demnach eine „Wahl […] nach dem Begriffe“ (WLnm-K, GA IV,3, 368). Fichte kennzeichnet die reale Tätigkeit als Einheit von Gebundenheit und Ungebundenheit. Ungebunden ist sie dabei insofern, als das Bestimmbare, also der Raum der Handlungsmöglichkeiten, potenziell unendlich teilbar ist, gebunden ist sie, da das Ich aus dem Raum der Bestimmbarkeit wählen muss. Während die ideale Tätigkeit also bloß (durch die reale Tätigkeit) gebunden ist, ist die reale Tätigkeit durch die Doppelfunktion von Gebundenheit und Ungebundenheit charakterisiert. Man könnte nun in Bezug auf die Charakterisierung der realen Tätigkeit als gebunden einwenden, dass das Ich sich ja auch dagegen entscheiden könnte, aus dem Raum der Bestimmbarkeit zu wählen, dass es folglich gar nicht wählen muss. Fichte würde hier entgegnen, dass auch ein Nicht-Handeln des Ichs als Handeln zu kennzeichnen ist, dass das Nicht-Handeln also auch eine Handlungsmöglichkeit darstellt, für die sich das Ich entscheidet. So heißt es in § 16: „[E]ntweder ich handele nach dem Willen oder nicht, habe ich die AufforSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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derung verstanden so entschließe ich mich doch durch Selbstbestimmung nicht zu handeln, der Aufforderung zu widerstreben, und handele durch nicht handeln.“ (WLnm-K, GA IV,3, 469) Und in der Grundlage des Naturrechts schreibt Fichte: Das Vernunftwesen soll seine freie Wirksamkeit realisiren; diese Anforderung an dasselbe liegt im Begriffe, und so gewiß es den beabsichtigten Begriff faßt, realisirt es dieselbe: entweder durch wirkliches Handeln […] oder durch Nichthandeln. Auch dann ist es frey; denn es soll unsrer Voraussetzung nach, den Begriff seiner Wirksamkeit gefaßt haben: als etwas gefordertes, und ihm angemuthetes. Indem es nun gegen diese Anmuthung verfährt, und sich des Handelns enthält, wählt es gleichfals frei zwischen Handeln, und Nichthandeln. (GNR, GA I,3, 343)
Darüber hinaus stellt sich die Frage, was Fichte damit meint, dass die Sphäre der Wahlmöglichkeiten unendlich teilbar sei, also dass es unendlich viele Handlungsmöglichkeiten gibt. Man könnte hier einwenden, dass der Raum der Handlungsmöglichkeiten ja durch einen konkreten Kontext eingeschränkt ist, dass es somit in einer bestimmten Situation nicht unendlich viele Handlungsalternativen gibt. Ziel von § 5 ist eine erste Konkretisierung des zunächst sehr abstrakten Grundprinzips und zugleich eine vollständige Bestimmung von dessen Grundstruktur, um die folgende Deduktion der notwendigen Bedingungen des Bewusstseins vorzubereiten.174 Während § 3 das bloß formale Schema der Selbstbestimmung des Ichs präsentiert („Die Selbstaffection (§ 3) war nur möglich auf eine Art.“ (WLnm-K, GA IV,3, 368)), zeigt Fichte nun durch die Spezifikation dieses formalen Schemas auf, wie eine Mannigfaltigkeit von verschiedenen Handlungen möglich ist. Damit, d. h. mit der Spezifizierung der realen Tä174 Gegenüber der Deutung von Schwabe soll so § 5 noch der Exposition des Grundprinzips zugerechnet werden. Insofern Fichte hier eine erste Konkretisierung des Grundprinzips vornimmt, gehört für Schwabe § 5 bereits zu der von ihm so bezeichneten „realen Synthesis“, an welche sich dann eine „ideale Synthesis“ anschließe. (Vgl. Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 459-465.) Hier soll demgegenüber die Position vertreten werden, dass § 5 noch der Spezifizierung des Grundprinzips dient, auf welche dann die Deduktion der Bewusstseinsbedingungen folgt. So heißt es zu Beginn von § 6: „Dieß ist nun, worinn alles Bewustsein enthalten ist, und woraus es deducirt wird, ist aufgezeigt: das subjective, das sich selbst sezende, das Objective, die praktische Thätigkeit, und das eigentliche objective, das NichtIch. […] Von nun an haben wir die Möglichkeit des bisher aufgestellten anzugeben, und die Bedingungen dieser Möglichkeit vollständig aufzuzählen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 373) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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tigkeit, beantwortet Fichte nun auch die Frage nach deren Anschaubarkeit. Das Handeln des Ichs ist demnach insofern anschaubar, als die Freiheit des Ichs gebunden ist. Das praktische Ich ist im Entwurf des Zweckbegriffs frei, in Bezug auf die sich aus der Realisierung der Handlung ergebenden Konsequenzen aber gebunden. Die Gebundenheit des Ichs bezieht sich also nicht nur auf die Sphäre des Bestimmbaren, also auf den Bereich möglicher Handlungen, sondern auch auf die Konsequenzen des wirklichen Handelns. Fichte differenziert so wirkliches und mögliches Handeln: Während bei einer nur möglichen Handlung praktisches Vermögen und Intelligenz (theoretisches Vermögen) insofern zusammenfallen, als das praktische Vermögen selbst Begriffe setzt (Zweckbegriff), ist dieses bei einer wirklichen Handlung realiter handelnd, wobei durch die Gebundenheit der praktischen Tätigkeit die Intelligenz als Anschauung der realisierten Handlung mitgebunden wird. Mit der Bestimmung der wirklichen im Gegensatz zur möglichen Handlung gibt Fichte eine Definition des Erfahrungsbegriffs: „Bewustsein des würklichen, Anschauung des würklichen heißt Erfahrung, also geht alles Denken von der Erfahrung aus, und ist durch sie bedingt. Nur durch Erfahrung werden wir für uns selbst etwas, hinterher können wir von der Erfahrung abstrahiren.“ (WLnm-K, GA IV,3, 371) Mit der Betonung der Bedeutung von Erfahrung für die Explikation von Bewusstsein wird deutlich, dass Fichte kein einseitig „idealistischer“ Denker ist. Bewusstsein lässt sich für Fichte so nur aus dem Zusammenhang von Idealem und Realem, Denken und Sein, Theorie und Praxis einsichtig machen. Fichte expliziert hierbei in Kritik am Standpunkt des gemeinen Bewusstseins den Begriff des Gegebenen: Das Bestimmbare ist zwar für das praktische, wählende Ich gegeben, aber nicht von außen, sondern durch die „Natur der Vernunft“, d. h. durch die Gesetze der idealen Tätigkeit. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 368) Diese ist also auch produktiv. (Vgl. § 4)
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2.4) Stolzenbergs Interpretation der intellektuellen Anschauung a) Stolzenbergs Kritik an Pothast Stolzenberg entwickelt seine Deutung von Fichtes Ich-Begriff als Modell einer Logik des absoluten Bestimmens in Auseinandersetzung mit der Fichte-Kritik von Ulrich Pothast175, die er als unzutreffend betrachtet. Pothast kritisiert Fichtes Modell von Selbstbewusstsein als zirkulär, wobei Pothast selbst versucht, eine nicht-zirkuläre Theorie des Ichs zu entwerfen. Pothast gibt dabei zwei Akte der Konstitution des Ichs an: 1) definierende Eigenschaft des Ichs: Das Ich bezeichnet sich selbst als Ich. 2) Zuschreibung Prädikat: Das Subjekt beobachtet die Eigenschaft, Ich zu sein, an sich und spricht sich diese zu. Stolzenberg kritisiert nun an Pothasts Konzeption, dass beide von Pothast angegebenen Akte selbst zirkulär seien: 1) Das Ich müsste sich schon als Ich wissen, um sich als Ich zu bezeichnen. 2) Dies gilt auch für den Akt der Selbstbeobachtung und Zuschreibung des Prädikats Ich. Der Zirkel könne auch nicht durch die Einheit der Akte vermieden werden, da diese deren Eigenbedeutung voraussetze.176 Stolzenberg zufolge unterliegt Pothast gerade der fehlerhaften IchKonzeption, die er Fichte unterstelle, die von Fichte aber selbst kritisiert werde. So unterstelle Pothast in Bezug auf Fichtes Modell der intellektuellen Anschauung als intentionaler Akt („Handeln auf“), dass das Ich als Objekt nicht Moment der Beziehung sei und dass dieses nicht durch den Vollzug hervorgebracht werde. Pothast missverstehe die intellektuelle Anschauung so als rezeptiven Akt, der sich auf bereits vorhandene Informationen beziehe, woraus die Zirkularität von Fichtes Ich-Modell resultiere.177 Laut Pothast sei die intellektuelle Anschauung bei Fichte nun nicht nur zirkulär, sondern unterliege auch dem Einwand des infiniten Regresses. So müsse das Wissen zum einen von sich selbst wissen, zum anderen aber auch von seinem Wissen von sich selbst, von welchem wiederum ein Wissen bestehen müsse. Für Stolzenberg resultiert der Regress aber daraus, dass das Wissen, das von seinem Wissen von sich weiß, nicht selbst Inhalt des Wissens sei. Dieser Einwand werde auch von Fichte diskutiert. Ein weiterer Punkt, den 175 Pothast, Ulrich, Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt am Main, 1971. 176 Vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 177. 177 Vgl. ebd., S. 180. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Pothast bemängelt, ist die Aporie, dass bei Fichte die Tätigkeit zugleich Begriff als auch nicht Begriff sei. Fichte könne so nicht die Einheit aus Anschauung (Objekt) und Begriff (Quasi-Subjekt/Wissen) ausweisen. Stolzenbergs Modell einer Logik des absoluten Bestimmens gilt nun dem Nachweis, dass Fichtes Konzeption der intellektuellen Anschauung weder einem Zirkel noch einem Regress unterliege noch in die eben angeführte Aporie führe. b) Die Logik des absoluten Bestimmens Für Stolzenberg handelt es sich bei der intellektuellen Anschauung um ein nicht-reflektiertes Selbstverhältnis als einen absoluten Akt des Bewusstseins.178 Die Fassung der intellektuellen Anschauung sei dabei in den Eignen Meditationen, der Rezension des Aenesidemus und der WL nova methodo identisch. Die Einwände Pothasts seien unzutreffend, da bei der intellektuellen Anschauung keine Bezugnahme auf ein Gegebenes vorliege. Stolzenberg versteht die intellektuelle Anschauung als Tätigkeit, welche ohne einen Bezug auf ein Unterschiedenes bzw. Gegebenes die ursprüngliche Konstitution des Status von Objektivität darstellt. Es handle sich um ein ursprüngliches Selbstverhältnis, welches als absolutes Bestimmen zu charakterisieren sei.179 Fichte expliziere die interne Verfassung des Selbstverhältnisses als Sich-selbst-Setzen als setzend dabei durch die Momente von Anschauung und Begriff, was in der Grundlage der Kennzeichnung „für das Ich“ entspreche. Stolzenberg zufolge trifft es nun auch in Bezug auf den Ichbegriff der WL nova methodo zu, dass dieser kein Prädikat aufweise.180 Aus der Nicht-Beschreibbarkeit des Ichs folge hier aber nicht wie in der Grundlage die Nicht-Explizierbarkeit des absoluten Selbstverhältnisses. Das einer prädikativen Logik unterstehende Reflexionsgesetz liege zwar der Darstellung der WL nova methodo zugrunde, dessen Anwendung führe aber zu einer Transformation der Logik der prädikativen Bestimmung zu einer Logik des absoluten Bestimmens. Nur für uns (als Philosophen) gelte die Logik 178 „Es ist offenbar genau dieser formale Charakter der Unmittelbarkeit und Nichtreflektiertheit des Selbstverhältnisses, der auch durch die Wahl des Terminus ‚Anschauung‘ zum Ausdruck gebracht werden soll. Der Begriff der intellektuellen Anschauung ist somit der Begriff des in sich nicht reflektierten, unmittelbaren, oder in der Form des Seins gesetzten Selbstverhältnisses der Tätigkeit des absoluten Darstellens oder Bestimmens.“ (Ebd., S. 150.) 179 Vgl. ebd., S. 186. 180 Vgl. ebd., S. 208. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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der Entgegensetzung und das Verhältnis von Anschauung und Begriff.181 In der Logik des absoluten Bestimmens sei die Tätigkeit des Ichs zugleich als Handeln und Nicht-Handeln bzw. Ruhe in der Form des Begriffs zu bestimmen, da es sich lediglich um eine formale Differenz handle, wobei die inhaltliche Bestimmung der Tätigkeit als Nicht-Handeln nicht negiert sei. Stolzenberg unterscheidet zwei Versionen des Reflexionsgesetzes: 1) Etwas wird als etwas Bestimmtes ausgezeichnet durch den Ausschluss des kontradiktorischen Gegenteils. 2) Die Bestimmung gemäß dem Verhältnis von Gattung (Bestimmbares) und Art (Bestimmtes). Der ersten Version entsprechend erscheint die Tätigkeit als Gegenteil der Ruhe. Der zweiten Version entsprechend erscheinen Ruhe und Tätigkeit als Bestimmungen der Tätigkeit des Ichs.182 Während das erste Reflexionsgesetz das Bewusstsein der Tätigkeit als Bedingung des Begriffs ausweist, geht es im zweiten Reflexionsgesetz um die Selbstbezüglichkeit der Tätigkeit als Bedingung des Begriffs.183 Die intellektuelle Anschauung als absolutes Bestimmen stellt keine Bestimmung von etwas als etwas dar, es handelt sich nicht um eine Bestimmung des Begriffs durch die Angabe seiner Prädikate bzw. Teilbestimmungen. Das absolute Bestimmen weist hierbei die Form einer unbestimmten oder bestimmbaren Bestimmtheit auf. Beim absoluten Bestimmen handelt es sich somit um die Grundform der prädikativen Bestimmung,184 um die ursprüngliche Konstitution der Positionen von Unbestimmtheit und Bestimmtheit, welche hierin absolut gesetzt sind, da sie keinen gemeinsamen Bezugspunkt haben.185 Stolzenberg stellt einer äußeren (§ 1) eine immanente Rekonstruktion (§ 3) des Ich-Begriffs in der WL nova methodo gegenüber. Für Stolzenberg verfehlen dabei beide Formen der Rekonstruktion entsprechend den beiden Versionen des Reflexionsgesetzes das ursprüngliche absolute Selbstverhältnis des Ichs, da sich dieses dem prädizierenden Denken gerade entzieht und so nicht durch eine Dualismen verhaftete Logik des endlichen Bestimmens, sondern nur durch eine Logik des absoluten Bestimmens expliziert werden könne, 181 182 183 184 185
Vgl. ebd., S. 209. Vgl. ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 198. Vgl. ebd., S. 199. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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welche die Prädikatlosigkeit des Ichs im Sinne einer Beschreibung eines Nicht-Beschreibbaren berücksichtigt. c) Kritik: Die intellektuelle Anschauung als produktive Reflexion Wie bei Stolzenberg soll auch hier die These vertreten werden, dass Fichtes Konzeption der intellektuellen Anschauung weder dem Zirkeleinwand noch dem Einwand eines infiniten Regresses unterliegt, insofern Fichte diese als ein produktives und nicht rezeptives Selbstverhältnis expliziert, bei welchem gerade nicht ein Bezug auf extern Gegebenes stattfindet. Hierbei wird aber eine andere Interpretation von Fichtes Ich-Modell gegeben: Dieses soll als produktive Reflexion verstanden werden. Insofern in der WL nova methodo anders als in der Grundlage nicht mehr das absolute Ich als Grundprinzip fungiert, gilt vom Ich hier nicht die Behauptung, dass es kein Prädikat aufweist. Fichtes Ausgangspunkt in der Neuen Darstellung der Wissenschaftslehre ist so das Ich als endliches Vernunftwesen, das Grundprinzip der WL nova methodo ist nicht mehr wie in der Grundlage das absolute Ich, sondern eine endliche Vernunft überhaupt. Die Dimension der Endlichkeit wird hierbei durch das Konzept der Reflexion zum Ausdruck gebracht, welche insofern die Bestimmung des Ichs expliziert, als sie die unbestimmte Einheit des reinen Ichs spaltet und damit differenziert. Statt mit einem Modell der Teilbarkeit, wie Fichte es in § 3 der Grundlage entwirft, operiert die WL nova methodo mit einem Modell der Reflexionsbestimmtheit, durch welches Fichte das Für-sich-Sein des Ich-Prinzips als duale Einheit expliziert. In Stolzenbergs Logik des absoluten Bestimmens bleibt so unberücksichtigt, dass Unbestimmtheit selbst ein Prädikat darstellt. So konzipiert Fichte in der Grundlage die produktive Einbildungskraft als Wechselwirkung zwischen Endlichem und Unendlichem, in welcher sich das Ich durch das Prädikat der Unendlichkeit als Unendliches bestimmt. Dieses Bestimmungsmodell dient dann als Vorlage für die Neufassung des Für-sich-Seins des Ichs als ursprüngliche Wechselwirkung in § 5 der Grundlage. Fichte geht es so in der Konzeption des Ichs als produktiv-reflexive Doppelstruktur gerade um die Selbstbestimmung des Ichs im Sinne einer Bestimmung als Unbestimmtheit. Eine nicht-prädikative Bestimmung wäre mithin gar keine Bestimmung. Der Begriff des Ichs kann dabei als Prädikat schlechthin, als Grundform der Prädikation überhaupt, als bestimmte Unbestimmtheit oder unbestimmte Bestimmtheit verstanden werden. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Wird Unbestimmtheit aber selbst als Prädikat verstanden, dann handelt es sich hierbei um ein anderes Modell der Bestimmung als das von Stolzenberg kritisierte Modell einer Logik des endlichen, prädizierenden Bestimmens als Bestimmung von etwas gemäß dem Modell der Teilbarkeit in § 3 der Grundlage. So explizieren die Positionen von Unbestimmtheit und Bestimmtheit, die als gegensätzliche prädikative Bestimmungen einander wechselseitig bestimmen, die Grundform der prädikativen Bestimmung, die allerdings selbst prädikativ ist. Die Prädikate von Unbestimmtheit und Bestimmtheit explizieren hier keinen spezifischen Gehalt. Wird einem Sachverhalt das Prädikat der Unbestimmtheit zugesprochen, dann wird von diesem die Aussage gemacht, dass dieser nicht durch (weitere) inhaltliche Bestimmungen bzw. Prädikate bestimmt ist. Wird ihm das Prädikat der Bestimmtheit zugesprochen, dann heißt dies, dass er eben durch inhaltliche Bestimmungen spezifiziert ist. Sowohl das Ich des Philosophen (§ 1) als auch das ursprünglich Ich (§ 3) weisen so ein begrifflich-reflexives Moment auf. Beide Ichformen sind zugleich endlich und unendlich, bestimmt und unbestimmt. Die Unbegreifbarkeit des Ichs ist dann nicht restringiert auf eine Logik des absoluten Bestimmens im Gegensatz zu einer Logik des endlichen Bestimmens (Teilbarkeit), sondern sie ist, insofern in der WL nova methodo das Ich als unbestimmte Bestimmtheit konzipiert ist, bezogen auf den Anteil der Unbestimmtheit des Ich-Prinzips, auf das im Begriff inkludierte Moment der Tätigkeit. Im Begriff deutet sich eine transzendente Dimension an, da die Tätigkeit des Ichs nicht vollständig begreifbar oder eben nur als Unbegreifbares begreifbar ist. Insofern sich in der WL nova methodo ein gegenüber dem Modell der Teilbarkeit neues Bestimmungsmodell findet, ist die äußere Rekonstruktion des Ich-Begriffs (§ 1) nicht Ausdruck eines solchen Modells der Teilbarkeit. Die Konzeption der Teilbarkeit als einer bloß äußeren Bestimmung ist so in der WL nova methodo verabschiedet. Inwiefern ist die Rede von äußerer vs. innerer Rekonstruktion aber dann noch berechtigt? Es handelt sich hierbei nicht um den Unterschied einer prädikativen, endlichen und einer nicht-prädikativen, absoluten Bestimmung, da Fichte in der WL nova methodo mit einem Bestimmungsmodell operiert, welches die unendliche, absolute Dimension des Ichs als prädikative Bestimmung versteht, insofern hier Unbestimmtheit als gegen Bestimmtheit bestimmte Unbestimmtheit betrachtet wird. Die Entgegensetzung von Unbestimmtheit und Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Bestimmtheit folgt so gerade dem Modell einer prädizierenden Logik, in welcher sich Bestimmtheit durch den Ausschluss ihres Gegenteils konstituiert: Es wurde auf das Zustandebringen des Begriffs vom Ich achtgegeben und auf nichts anderes. Diese Einschränkung wurde bemerkt, und nur in dieser Bemerkung wurde man sich der Thätigkeit bewust. Dieses Abziehen von jedem möglichen anderen Gegenstande und Hinrichtung auf ein bestimmtes war eben diese Thätigkeit. So läßt sich alles Handeln denken als ein Einschränken in eine gew[iße] Sphäre. Alles Bewustsein der Selbstthätigkeit ist ein Bewustsein unseres Einschränkens unserer Thätigkeit, nun kann ich mich nicht anschauen als beschränkend, ohne ein Uibergehen von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit zu setzen, also ohne die Unbestimmtheit mit zu setzen, und dem Bestimmten entgegenzusetzen. Auf diesen Punct kommt viel an. Das bestimmte, auf das Ich beschränkte wird als Thätigkeit gesetzt und kommt als solche[s] zum Bewustsein, mithin kommt auch das Unbestimmte nur durch Thätigkeit zum Bewustsein, welches wir, weil es in Beziehung auf das Bestimmtsein und mit ihm zugleich gesetzt wird, das Bestimmbare nennen wollen. (WLnm-K, GA IV,3, 350-351)186
Es handelt sich hierbei auch nicht um den Unterschied zweier verschiedener Richtungen, d. h. von außen und von innen, vom Begriff zur Anschauung und von der Anschauung zum Begriff, sondern um den Unterschied zweier Ebenen, nämlich der des Ichs des Philosophen und der des ursprünglichen Ichs, die Terminologie von „innen“ und „außen“ ist insofern missverständlich.187 Während in § 1 der Be186 Vgl. dazu Schwabe in Bezug auf die WL nova methodo, ohne allerdings das Problem der Prädikation zu diskutieren: „In der Tat lässt sich das reine Ich sowohl durch Unbestimmtheit als auch durch Bestimmtheit charakterisieren, und zwar sogar dergestalt, dass gerade die Unbestimmtheit des reinen Ich seine Bestimmtheit darstellt. Diese Ambivalenz liegt in der Natur der Unbestimmtheit als solcher begründet. Unbestimmtheit ist die Negation von Bestimmtheit. Als diese ist sie gegen die Bestimmtheit bestimmt. Indem sie dies ist, ist die Unbestimmtheit zugleich auch Bestimmtheit. Daher muss dem reinen Ich, wenn ihm Unbestimmtheit zukommt, zugleich auch Bestimmtheit zugeschrieben werden. Gerade die Unbestimmtheit des reinen Ich berechtigt Fichte also, dieser auch Bestimmtheit zuzusprechen.“ (Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 414.) 187 Fichte selbst sieht so den Unterschied von § 1 in Grundlage und WL nova methodo gerade darin, dass in der WL nova methodo von der Anschauung zum Begriff bzw. von der Tathandlung zur Tatsache gegangen werde, während es sich in der Grundlage umgekehrt verhalte. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 349; WLnm-H, GA IV,2, 33) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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griff als Produkt der Anschauung charakterisiert ist, ist in § 3 die dem Begriff korrespondierende ideale Tätigkeit der der Anschauung entsprechenden realen Tätigkeit nachgeordnet. Das Ich des Philosophen stellt also in dem Sinne nur eine äußere Perspektive auf das Grundprinzip dar, als es als Repräsentation desselben noch keine wirkliche Begründung leisten kann, dies vermag erst das in § 3 eingeführte ursprüngliche Ich als ursprüngliches Selbstverhältnis.188
2.5) Die Konzeption der intellektuellen Anschauung in der Zweiten Einleitung Bei Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung handelt es sich um kein eindeutiges Konzept. Der Interpret ist hier mit scheinbar widersprüchlichen Aussagen konfrontiert. Diese Uneindeutigkeit hat in der Forschung zu ganz verschiedenen, auch gegensätzlichen Deutungen geführt. Will man Fichtes Konzeption der intellektuellen Anschauung gerecht werden, dann müssen alle Aspekte berücksichtigt werden, es muss eine umfassende, vollständige Darstellung dieses Konzepts gegeben werden. Eine elaborierte Theorie der intellektuellen Anschauung präsentiert Fichte erst in der WL nova methodo und im Versuch einer neuen Darstellung der WL im Philosophische[n] Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Der Versuch bricht aber mit dem ersten Kapitel aus unbekannten Gründen ab.189 In Abschnitt 5 der Zweiten Einleitung gibt Fichte zunächst eine Definition der intellektuellen Anschauung. In einem zweiten Schritt bestimmt Fichte das Verhältnis von intellektueller Anschauung, sinnlicher Anschauung und Begriff. Abschließend verteidigt Fichte seine Konzeption der intellektuellen Anschau188 Nach Schwabe konzipiert Fichte das Verhältnis von Anschauung und Begriff in § 1 bloß antizipatorisch, während er es dann in § 3 systematisch entwickelt. (Vgl. Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 396 u. 434.) 189 Reinhard Lauth nennt in seinem Vorwort zur Grundlage als mögliche Gründe die Darstellung der Sittenlehre und den Atheismusstreit. (Vgl. GA I,2, 189) Eine Überarbeitung des Anfangs der WL nova methodo stellt das Manuskript Neue Bearbeitung der W.L. von 1800 dar. Insofern die Neue Bearbeitung bereits auf die Wissenschaftslehre von 1801/02 voraus verweist, soll diese an einigen Stellen nur herangezogen werden, um den Gedankengang der WL nova methodo zu verdeutlichen. (Vgl. zur Neuen Bearbeitung der W.L. Breazeale, Daniel, „Die Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre (1800): Letzte ‚frühere‘ oder erste ‚spätere‘ Wissenschaftslehre?“, in: Fichte-Studien 17 (2000), S. 43-67.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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ung, wobei er die Frage aufwirft, wie der Philosoph ein Wissen von der intellektuellen Anschauung haben kann. a) Die Definition der intellektuellen Anschauung Fichte bestimmt die intellektuelle Anschauung zunächst als Bewusstsein sowohl der Existenz (dass) als auch des Gehalts (was) der Tätigkeit, die der Philosoph im Befolgen des Postulats des Sich-Denkens ausführt und damit als Vollzugs- bzw. Aktbewusstsein: Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Acts, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn, daß ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es thue. Daß es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muß es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen. (ZwE, GA I,4, 216-217)
Die Existenz der intellektuellen Anschauung kann so aus einer bloß formal-begrifflichen Rekonstruktion nicht bewiesen werden, sie lässt sich nur durch die Evidenz des unmittelbaren Vollzugs belegen. Fichte bestimmt die intellektuelle Anschauung nun in einem zweiten Schritt im Anschluss an Kant als Begleitbewusstsein: Wohl aber lässt sich jedem in seiner von ihm selbst zugestandenen Erfahrung nachweisen, daß diese intellectuelle Anschauung in jedem Momente seines Bewusstseyns vorkomme. Ich kann keinen Schritt thun, weder Hand noch Fuß bewegen, ohne die intellectuelle Anschauung meines SelbstBewusstseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiß ich, daß ich es thue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objecte des Handelns. (ZwE, GA I,4, 217)
Die intellektuelle Anschauung muss Fichte zufolge alle Handlungen des Subjekts begleiten, d. h., nur durch die intellektuelle Anschauung kann ich mir meine eigenen Handlungen als die meinigen zurechnen und mich hierin als Akteur, d. h. als Urheber meines Handelns, verstehen. Zudem ist die intellektuelle Anschauung die Bedingung der Unterscheidung von Handlungen des Subjekts und dem, worauf diese Handlungen gerichtet sind, d. h. den vorgefundenen Objekten der sinnlichen Welt. Fichte unterscheidet hierbei unausgesprochen zwei Formen bzw. Varianten der intellektuellen Anschauung: Zum einen die intellektuSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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elle Anschauung des Philosophen, zum anderen die im Bewusstsein implizit enthaltene wirkliche intellektuelle Anschauung als Begleitbewusstsein. So schreibt Fichte im System der Sittenlehre:190 Ein unmittelbares Bewußtseyn heißt Anschauung; und da hier kein materielles Bestehen vermöge eines Gefühls, sondern die Intelligenz unmittelbar als solche, und nur sie angeschaut wird, heißt diese Anschauung mit Recht intellectuelle Anschauung. Sie ist aber auch die einzige in ihrer Art, welche ursprünglich, und wirklich, ohne Freiheit der philosophischen Abstraction, in jedem Menschen vorkommt. Die intellectuelle Anschauung, welche der Transscendental-Philosoph jedem anmuthet, der ihn verstehen soll, ist die bloße Form jener wirklichen intellectuellen Anschauung; die bloße Anschauung der innern absoluten Spontaneität, mit Abstraction von der Bestimmtheit derselben. Ohne die wirkliche wäre die philosophische nicht möglich; denn es wird ursprünglich nicht abstract, sondern bestimmt gedacht. (SL, GA I,5, 60)
Während bei Kant die Vorstellung „ich denke“ den Status einer notwendigen Möglichkeit des Bewusstseins hat („Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte; welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“ (KrV B 131-132)), ist die wirkliche intellektuelle Anschauung bei Fichte aktual, aber implizit, d. h., sie muss als wirkliche und nicht nur potenzielle Bedingung des Bewusstseins erst durch den Philosophen in einem Akt der Reflexion und Abstraktion explizit gemacht und damit zum Bewusstsein erhoben werden. Bei Fichte findet sich so eine stärkere Version der Bedingungsthese als bei Kant, nämlich die Behauptung, dass alles Objektbewusstsein durch das Selbstbewusstsein bedingt sei. So scheint es Kants Formulierung zufolge auch Objektbewusstsein ohne Selbstbewusstsein und damit Formen ichlosen Bewusstseins geben zu können.191 190 Vgl. Perrinjaquet, Alain, „‚Wirkliche‘ und ‚philosophische‘ Anschauung: Formen der intellektuellen Anschauung in Fichtes System der Sittenlehre“, in: Fichte-Studien 5 (1993), S. 57-81. 191 Eine Kritik an der Bedingungsthese findet sich bei Castañeda. Nach Castañeda liegt bei Kant zwar eine schwächere Formulierung der Bedingungsthese vor, in der Transzendentalen Deduktion vertrete Kant aber dann ebenfalls eine fichtesche Position, insofern er die Unterordnung des Objektbewusstseins unter das Selbstbewusstsein behaupte, da nur durch die Einheit des Selbstbewusstsein die Kategorien auf Objekte bezogen werden können. Damit gebe es auch für Kant kein vom Selbstbewusstsein unabhängiges Objektbewusstsein. CastaSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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ñeda kritisiert Fichtes idealistische These, dass alles Bewusstsein Selbstbewusstsein einschließt. Diese stehe zum einen im Widerspruch zu den Tatsachen der Erfahrung, zum anderen könne hierdurch nicht die Einheit tierischen Bewusstseins erklärt werden, insofern hier Objektbewusstsein ohne Selbstbewusstsein vorliege. Für Castañeda ist das Ich so lediglich ein flüchtiges, subjektives Einzelding, das nur als Gehalt von Erfahrung vorkomme, die Integration von Erfahrung im Ich setze hierbei bereits die Einheit der Erfahrung voraus. Es gebe somit auch keine wirkliche Selbstidentität im Sinne des Ich = Ich, sondern lediglich eine Selbigkeit des Ichs im Sinne von Ich-Gedanken der Form „ich denke, dass x“. Castañeda definiert Selbstbewusstsein dabei als doppelte Reflexivität: Zum Ersten als externe Reflexivität, welche aber als Fall von Tun auch unwissentlich und unabsichtlich vollzogen werden könne. („Jemand schneidet sich beim Rasieren.“) Zum Zweiten als interne Reflexivität, welche den eigentlichen Kern des Selbstbewusstseins ausmache und bei welcher es sich um die Reflexivität des Inhalts des Denkens in ich-Sätzen handle. Die idealistische Annahme einer selbstidentischen Entität im Sinne einer Ich-Substanz resultiere nun aus der fälschlicherweise vorgenommenen Identifikation von externer und interner Reflexivität. Das idealistische Problem einer Identifikation des Ichs als Subjekt mit dem Ich als Objekt sei so lediglich fiktiver Natur. Für Castañeda gibt es so kein externes Selbst, sondern nur ein internes Selbst, welches aber nicht als Substanz missverstanden werden dürfe, sondern bloß als Ich-Darstellung im Gehirn bzw. als Denken von Ich-Gehalten. (Vgl. Castañeda, Hector-Neri, „Self-Consciousness, I-Structures and Physiology“, in: Philosophy and Psychopathology, hg. v. Manfred Spitzer, Brendan A. Maher, Berlin/Heidelberg/New York, 1989, S. 118-145 (dt.: „Selbstbewusstsein, Ich-Strukturen und Physiologie“, in: Analytische Theorien des Selbstbewusstseins, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt am Main, 1994, S. 210-245).) Fichte unterscheidet nun in der Zweiten Einleitung aber den Standpunkt des gemeinen Bewusstseins vom Standpunkt des Philosophen: So behauptet er nicht, dass das Ich im empirischen Bewusstsein notwendig vorkommt, sondern dieses stellt vielmehr die implizite Bedingung von Objektbewusstsein dar. (Vgl. ZwE, GA I,4, 253-254) Zudem vertritt Fichte kein substanzialistisches Ich-Modell, das Ich ist für Fichte nichts weiter als Tätigkeit. Die Behauptung, dass das Ich lediglich ein Produkt der Erfahrung und nicht apriorisches Organisationsprinzip derselben sei, wäre für Fichte aber eine dogmatische, naturalistische These. So schreibt er in der Zweiten Einleitung in Bezug auf die Position der Kantianer: „Von welchem Ich ist hier die Rede? Etwa von dem, das die Kantianer getrost aus einem Mannichfaltigen von Vorstellungen zusammenstoppeln, in deren keiner einzigen es war, in allen zusammen aber ist; so, daß die angeführten Worte Kants die Bedeutung hätten: Ich, der ich D denke, bin derselbe Ich, der C und B und A gedacht hat, und durch das Denken meines mannichfaltigen Denkens werde ich mir erst ein Ich; nämlich das Identische im Mannichfaltigen? Dann wäre Kant gerade so ein armseliger Schwätzer, als dergleichen Kantianer; denn, dann wäre nach ihm die Möglichkeit alles Denkens bedingt durch ein anderes Denken, und durch das Denken dieses Denkens, und ich möchte wissen, wie wir je zu einem Denken gelangen sollten.“ (ZwE, GA I,4, 228) Fichtes Bedingungsthese findet sich innerhalb der analytischen Theorie des Selbstbewusstseins z. B. bei Shoemaker, Sydney, „Self-RefeSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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b) Das Verhältnis von intellektueller Anschauung, sinnlicher Anschauung und Begriff Fichte expliziert nun die wirkliche intellektuelle Anschauung, indem er diese innerhalb der Bewusstseinsstruktur verortet. Die intellektuelle Anschauung stelle so keinen vollständigen Bewusstseinsakt dar, sondern bilde erst in Verbindung mit sinnlicher Anschauung und Begriff das Ganze der Bewusstseinsstruktur. Die intellektuelle Anschauung als Selbsttätigkeit des Ichs setze zum einen ein in sinnlicher Anschauung gegebenes externes Objekt als Bezugsgegenstand voraus, zum anderen sei das Handeln auf einen Zweckbegriff orientiert, dessen Gegenstand die hervorzubringende Handlung ist. Fichte macht hierbei deutlich, dass es sich weder bei der intellektuellen noch bei der sinnlichen Anschauung um ein Bewusstsein handelt. Im Sinne von Kants Diktum, dass Anschauungen ohne Begriffe blind und Gedanken ohne Inhalt leer sind (vgl. KrV A 51/B 75), betont Fichte, dass erst durch den sich auf die intellektuelle Anschauung beziehenden Zweckbegriff ein Bewusstsein ermöglicht wird. Gleiches gelte für die sinnliche Anschauung, die erst durch den Begriff vom Objekt bzw. den Erkenntnisbegriff ein Bewusstsein darstelle. c) Verteidigung der intellektuellen Anschauung Fichte verteidigt sein Bewusstseinsmodell nun gegen einen möglichen Einwand, welcher besagt, dass es kein isoliertes Bewusstsein der intellektuellen Anschauung geben könne, da diese nur in notwendiger Verbindung mit der sinnlichen Anschauung auftrete. Fichte zufolge müsse dann aber ebenso die sinnliche Anschauung bestritten werden, da diese auch nur in Verbindung mit der intellektuellen Anschauung vorkomme. Fichte bestreitet so nicht den notwendigen Zusammenhang von intellektueller und sinnlicher Anschauung. In Bezug auf die zu Beginn von Abschnitt 5 präsentierte Konzeption der intellektuellen Anschauung des Philosophen ergibt sich nun aber ein Problem, das aus der Darstellung der Bewusstseinsstruktur resultiert: rence and Self-Awareness“, in: Journal of Philosophy 65 (1968), S. 555-567 (dt: „Selbstbezug und Selbstbewusstsein“, in: Analytische Theorien des Selbstbewusstseins, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt am Main, 1994, S. 43-66) und Chisholm, Roderick M., The First Person. An Essay on Reference and Intentionality, Brighton, 1981 (dt.: Die erste Person: Theorie der Referenz und Intentionalität, übers. v. Dieter Münch, Frankfurt am Main, 1992). Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Aber, wenn zugegeben werden muß, daß es kein unmittelbares, isolirtes Bewusstseyn der intellectuellen Anschauung giebt, wie kömmt denn der Philosoph zur Kenntniß und zur isolirten Vorstellung derselben? Ich antworte; ohne Zweifel so, wie er zur Kenntniß und zur isolirten Vorstellung der sinnlichen Anschauung kommt, durch einen Schluß, aus den offenbaren Thatsachen des Bewusstseyns. (ZwE, GA I,4, 218)
Fichte hatte zuvor aber behauptet, die intellektuelle Anschauung sei das unmittelbare Bewusstsein des eigenen Handelns. Insofern die intellektuelle Anschauung nur ein Teilbewusstsein darstellt und als solches erst zu einem Bewusstsein wird, indem sie begriffen wird, könne die intellektuelle Anschauung als Bestandteil des Bewusstseins nur erschlossen werden. Fichte behauptet nun, dass es kein unmittelbares Bewusstsein der intellektuellen Anschauung geben könne. Fichtes Konzeption der intellektuellen Anschauung erscheint so auf den ersten Blick widersprüchlich: Zum einen beschreibt Fichte die intellektuelle Anschauung phänomenologisch als unmittelbares Aktbewusstsein, zum anderen geltungstheoretisch als transzendentale Bedingung des Bewusstseins, die nur indirekt erschlossen werden kann. Die intellektuelle Anschauung fungiert dabei sowohl als Methode als auch als Prinzip192: Während die intellektuelle Anschauung des Phi192 So weist Peter Baumanns auf die Mehrfachbedeutung der intellektuellen Anschauung hin. Diese sei 1) transzendentalphilosophische Methode, 2) reines Selbstbewusstsein und 3) Sich-Setzen. Baumanns moniert hierbei den doppelten Gebrauch der intellektuellen Anschauung in der Bedeutung des reflexiven Für-sich-Seins und der präreflexiven Tathandlung. (Vgl. Baumanns, Fichtes ursprüngliches System, S. 81, Anm. 156.) In der Forschung findet dann aber oft eine bloß einseitige Interpretation der intellektuellen Anschauung statt. Crone interpretiert die intellektuelle Anschauung als reales Bewusstseinsphänomen im Rahmen ihrer Deutung der Wissenschaftslehre nova methodo als Theorie konkreter Subjektivität. Sie versteht so die intellektuelle Anschauung als Methode, das sich selbst setzende Ich als transzendentales Prinzip einsichtig zu machen. (Vgl. Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 50.) Crone unterscheidet dabei sich selbst setzendes Ich als transzendentales Selbstbewusstsein und intellektuelle Anschauung als reale Bewusstseinsform, welche im konkreten, sachbezogenen Bewusstsein enthalten sei. In formaler Hinsicht sei die intellektuelle Anschauung dabei identisch mit dem Begriff des sich selbst setzenden Ichs, insofern es sich in beiden Fällen um eine apriorische, vorbegriffliche und unmittelbare in sich zurückgehende Tätigkeit und SubjektObjekt-Identität handle. Die intellektuelle Anschauung erfülle hierbei zwei Funktionen: 1) In systematischer Hinsicht fungiere sie als Deduktionsprinzip der Kategorien. 2) In methodischer Hinsicht beziehe sich die intellektuelle Anschauung auf die Fähigkeit des Philosophen, das sich selbst setzende Ich als Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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losophen willkürlich und zeitlich ist, ist das Ich als Prinzip demgegenüber ursprünglich und notwendig, d. h. transzendentale Bedingung des empirischen Bewusstseins. Dieser Widerspruch lässt sich nun auflösen, wenn man berücksichtigt, dass Fichte intellektuelle Anschauung des Philosophen und wirkliche intellektuelle Anschauung unterscheidet. So kann der Philosoph die Aufforderung, sich zu denken, befolgen. Bei der intellektuellen Anschauung des Philosophen handelt es sich hierbei um ein Bewusstsein, da der Philosoph die unmittelbare Tätigkeit des Anschauens begrifflich repräsentiert. So schreibt Fichte in Abschnitt 7 der Zweiten Einleitung: Der Philosoph schaut sich selbst zu in jenem Handeln, wodurch er den Begriff seiner selbst für sich selbst construirt […] und er denkt dieses Handeln, setze ich hier hinzu. – Der Philosoph weiß ohne Zweifel von dem, wovon er redet; aber eine bloße Anschauung giebt kein Bewusstseyn; man weiß nur von demjenigen, was man begreift, vorbewusste Tätigkeit einsichtig zu machen. Die intellektuelle Anschauung habe so zum einen eine theorieimmanente Bedeutung, insofern bestehe eine formale Übereinstimmung zwischen intellektueller Anschauung und sich selbst setzendem Ich. Zum anderen müsse der intellektuellen Anschauung auch eine theorieexterne Bedeutung zugewiesen werden: Hierbei sei die intellektuelle Anschauung als Bewusstseinsphänomen zu verstehen, dessen methodische Funktion darin bestehe, das unbegreifbare, inhaltlich leere Ich-Prinzip als Grund des menschlichen Bewusstseins aufzuzeigen. Crone weist der intellektuellen Anschauung so eine genuin methodische Funktion zu, wobei sie diese als „Mannigfaltigkeit gesetzmäßiger subjektiver Denkstrukturen“ versteht. Die intellektuelle Anschauung stehe zwischen transzendentalem Prinzip und reflektiertem intentionalem Bewusstsein, indem sie das nicht-reflektierte transzendentale Prinzip des Ichs zum Gegenstand einer Reflexion und damit evident mache. (Vgl. Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 51.) Während Stolzenberg zufolge Fichte bereits im Verlauf der Eignen Meditationen die methodologische Konzeption der intellektuellen Anschauung aufgebe und diese somit in der WL nova methodo als theoretisches Prinzip verstehe (vgl. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, S. 148-153), um dem Vorwurf zu entgehen, die Aussagen der Wissenschaftslehre seien dann nur empirisch, greift Fichte in der Interpretation von Klotz in der WL nova methodo gerade auf die methodologische Konzeption der intellektuellen Anschauung in den Eignen Meditationen zurück, um seinen Ichbegriff gegen den Vorwurf der Transzendenz zu verteidigen, wobei hier dasselbe Motiv wie in den Eignen Meditationen zugrunde liege, da Fichte den methodologischen Anschauungsbegriff dort gegen Schulzes Kritik an der dogmatischen Vermögenstheorie der Elementarphilosophie einsetzte. (Zu Klotz’ Kritik an Stolzenberg vgl. Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 50-53.) So ist Klotz zufolge die Selbstbezüglichkeit des Grundprinzips allein nicht ausreichend, um dieses als Ich im Sinne von Selbstbewusstsein auszuweisen. (Vgl. ebd., S. 53.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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und denkt. Dieses Begreifen seines Handelns ist, wie gleichfalls schon oben erinnert worden, dem Philosophen, der ja schon im Besitz der Erfahrung ist, sehr wohl möglich: denn er hat einen Begriff vom Handeln überhaupt, und als solchem, im Gegensatze mit dem ihm gleichfalls schon bekannten Seyn; und einen Begriff von diesem besondern Handeln, indem es theils ein Handeln der Intelligenz als solcher, lediglich ideale Thätigkeit, keineswegs aber ein reelles Wirken, durch das praktische Vermögen im engern Sinne; theils unter den möglichen Handlungen dieser Intelligenz als einer solchen, nur das in sich selbst zurückgehende, nicht aber das nach außen auf ein Object gehende Handeln ist. (ZwE, GA I,4, 245) Nur ist dabei […] nicht aus der Acht zu lassen, daß die Anschauung die Unterlage des Begriffs, das in ihm Begriffene, ist und bleibt. Wir können uns nicht absolut erdenken, oder durch Denken erschaffen; nur das unmittelbar Angeschaute können wir denken; ein Denken, dem keine Anschauung zu Grunde liegt, das kein in demselben ungetheilten Momente vorhandenes Anschauen befasst, ist ein leeres Denken; ist eigentlich gar kein Denken; höchstens mag es das Denken eines bloßen Zeichens des Begriffs, und, wenn dieses Zeichen, wie zu erwarten, ein Wort ist, ein gedankenloses Aussprechen dieses Worts seyn. Ich bestimme mir durch das Denken eines Entgegengesetzten meine Anschauung; dies und nichts anders bedeutet der Ausdruck: ich begreife die Anschauung. (ZwE, GA I,4, 245-246)
Davon zu unterscheiden ist die Rekonstruktion der wirklichen intellektuellen Anschauung des ursprünglichen Ichs durch den Philosophen im Ausgang vom gemeinen Bewusstsein. Diese kann als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung lediglich erschlossen werden, insofern die wirkliche intellektuelle Anschauung reine präreflexive Tätigkeit ist. Die wirkliche intellektuelle Anschauung, die durch den Philosophen nur erschlossen werden kann, ist so gegenüber der intellektuellen Anschauung des Philosophen kein Vollzugsbewusstsein, sondern für den Philosophen ein bloßes Faktum: Sonach findet der Philosoph diese intellectuelle Anschauung als Factum des Bewusstseyns; (für ihn ist es Thatsache; für das ursprüngliche Ich ThatHandlung) nicht unmittelbar, als isolirtes Factum seines Bewusstseyns, sondern, indem er unterscheidet, was in dem gemeinen Bewusstseyn vereinigt vorkommt, und das Ganze in seine Bestandtheile auflöst. (ZwE, GA I,4, 218-219)
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d) Der Bezug auf Hume Fichte expliziert nun das Verfahren des Schlusses auf die intellektuelle Anschauung, indem er sein Modell von der Bewusstseinskonzeption Humes abgrenzt, wobei er Hume nicht explizit als Bezugspunkt nennt. Fichte zufolge zeigt sich das Vermögen zur Selbstbestimmung und damit unser Freiheitsbewusstsein, wenn man die Aufforderung, etwas zu denken bzw. zu handeln, befolgt. Der Entschluss impliziert hierbei die Wirklichkeit des Gedankens bzw. der Handlung, der Vorsatz fungiert als Realgrund.193 Wenn nur eine Beschreibung des Bewusstseins nach sinnlichen Gesetzen gegeben werde, die praktische Dimension des Bewusstseins also ausgeblendet werde, d. h., nur eine kausale Verknüpfung von Vorstellungen behauptet wird, könne die erste Vorstellung nicht als Realgrund der zweiten Vorstellung betrachtet werden. Das Bewusstsein sei in einem solchen Modell nur ein ruhender Schauplatz von Vorstellungen, es gebe kein tätiges Prinzip als deren Ursache. Hume vergleicht im Treatise of Human Nature den Geist mit einem Theater, in welchem die Perzeptionen aufeinander folgen.194 Für Hume gibt es somit kein kontinuitätsstiftendes Selbst, da alle einfachen Vorstellungen auf sinnlichen Eindrücken basieren. Das Ich ist damit nur Resultat der assoziativen Einheit, welche durch die Abfolge der Perzeptionen entsteht, ein mit sich identisches Selbst ist so nur eine Täuschung, welche aus der Bündelung der Perzeptionen resultiert. Hume zufolge gibt es keine Vorstellung mit dem Inhalt Ich, da es keinen entsprechenden sinnlichen Eindruck gibt. Fichte wendet gegen Humes Bewusstseinsmodell ein, dass das Bewusstsein nur erklärt werden könne, wenn die intellektuelle Anschauung als tätiges Prinzip angenommen werde. Diese sei als besonderes unmittelbares Bewusstsein zu verstehen, insofern sie nicht aus den sinnlichen Elementen des Bewusstseins begründet werden könne. Im Gegensatz zur sinnlichen Anschauung sei die intellektuelle Anschauung nicht auf eine materielle Substanz, sondern auf Tätigkeit bezogen. Hier wird nun deutlich: Die Wissenschaftslehre ist 193 Der Realgrund stellt im Gegensatz zum Idealgrund eine qualitative und nicht bloß quantitative Bestimmung des Subjekts dar. (Vgl. GWL, GA I,2, 309) 194 „The mind is a kind of theatre, where several perceptions successively make their appearance; pass, re-pass, glide away, and mingle in an infinite variety of postures and situations.“ (Hume, David, A Treatise of Human Nature (1739/40), edited by Lewis Amherst Selby-Bigge, with text revised and variant readings by Peter Harold Nidditch, Oxford, 1978, S. 253.) Zu Fichtes Bezug auf Hume vgl. auch Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 28-33. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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nur theoretische Repräsentation des vortheoretischen Freiheitsbewusstseins, die Spekulation nur Darstellung des Lebens, nicht aber dieses selbst. Humes Bewusstseinsmodell ist hierbei für Fichte insofern unzureichend, als es das Bewusstsein der Selbstbestimmung des Subjekts nicht verständlich machen kann. Hier ließe sich wiederum auf Fichtes Argumentation gegen den Dogmatismus verweisen: Das Bewusstsein der Freiheit kann eben keine Täuschung sein, da das Urteil, es gebe keine Freiheit, qua Urteilsakt, d. h. als Entscheidung für eine bestimmte und gegen eine andere Position, selbst eine Handlung der Freiheit darstellt, und damit in einem performativen Selbstwiderspruch resultiert. So impliziert die Annahme eines tätigen Prinzips im Bewusstsein die Annahme eines Ichs, wobei eine Abstraktion vom Ich aber nicht möglich ist, da dieses den absoluten Bezugspunkt des Bewusstseins bildet. Die Abstraktion vom Ich setzt das Ich voraus, das diese vornimmt.195 Ich bliebe bloß leidend, der ruhende Schauplatz, auf welchem Vorstellungen durch Vorstellungen abgelöst würden, nicht aber das thätige Princip, welches sie hervorbrächte. Nun aber nehme ich das letzte an, und ich kann diese Annahme nicht aufgeben, ohne mich selbst aufzugeben; wie komme ich dazu? In den angeführten sinnlichen Ingredienzien liegt dazu kein Grund; mithin ist es ein besonderes, und zwar ein unmittelbares Bewusstseyn, also Anschauung, und zwar nicht sinnliche Anschauung, die auf ein materielles Bestehen gienge, sondern Anschauung der bloßen Thätigkeit, die nichts stehendes ist, sondern ein fortgehendes, kein Seyn, sondern ein Leben. (ZwE, GA I,4, 218)
e) Intellektuelle Anschauung und Sittengesetz Um die intellektuelle Anschauung gegen den Verdacht der Täuschung, den der Dogmatismus gegen die Wissenschaftslehre erhebt, zu verteidigen, stellt Fichte einen Bezug zum Sittengesetz her. So muss, soll die Berechtigung des Glaubens an die Realität der intel-
195 Klotz zufolge bringt Fichte gegen Hume keine theoretischen Argumente vor, er könne nur auf die praktische Evidenz des Freiheitsbewusstseins rekurrieren. (Vgl. Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 31-32.) Fichtes Rekurs auf die Evidenz des Freiheitsbewusstseins ist aber in eine theoretische Argumentation eingebettet, was im Argument des performativen Selbstwiderspruchs deutlich wird. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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lektuellen Anschauung196 in der Wissenschaftslehre nachgewiesen werden, diese in etwas noch Höherem fundiert werden, wobei es sich Fichte zufolge um das Sittengesetz handelt. Das Sittengesetz fungiere hierbei als Medium, d. h. als Vermittlungsinstanz, der intellektuellen Anschauung als transzendentaler Bedingung des Bewusstseins. Die Wirklichkeit und damit auch die Wirksamkeit der intellektuellen Anschauung zeigt sich für Fichte so erst in der moralisch-praktischen Dimension des Bewusstseins. Wie für Kant erkennt das Subjekt seine Autonomie dabei in der Sollensbeschränkung des Sittengesetzes, d. h. in der Tatsache, dass es sich gegen die eigene Neigung für die moralische Pflicht entscheiden kann. Anders als Kant, der den kategorischen Imperativ über den Bezug auf die intersubjektive, überpersonelle Dimension von Moralität formuliert („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (AA IV, 421)), stellt Fichtes Konzeption des Sittengesetzes das subjektive Gewissen als unmittelbares Bewusstsein in den Mittelpunkt: So ist es Fichte zufolge eine absolute Pflicht, das eigene Handeln durch das Gewissen als unmittelbares Bewusstsein der absoluten Freiheit zu prüfen. (Vgl. SL, GA I,5, 161) Das Gewissen ist hierbei eine gegen Irrtum immune Prüfinstanz, da es das unmittelbare Bewusstsein des mit sich selbst identischen reinen Ichs darstellt. (Vgl. SL, GA I,5, 161)197 Im Gegensatz zu Kant ist das Sollen für Fichte dabei nicht nur bloßes Faktum der praktischen Vernunft, sondern aus dem Prinzip der Ichheit abzuleiten, insofern es sich bei Moralität um eine notwendige Bedingung von Selbstbewusstsein handelt. Erst durch das Bewusstsein des Sittengesetzes wird sich das Subjekt dabei seiner reellen Wirksamkeit als eines „fremdartige[n] Ingrediens“ (ZwE, GA I,4, 219) und damit seiner Freiheit bewusst. Die Wissenschaftslehre setzt also den moralisch-außerphilosophischen Standpunkt voraus, sie ist „Pro196 Vgl. zu Jacobis Einfluss auf Fichtes Verständnis eines Glaubens an die Realität der intellektuellen Anschauung Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 34-44. Fichtes Verhältnis zu Jacobi sei dabei durch eine Ambivalenz geprägt: Zum einen durch den Rekurs auf die Evidenz des Glaubens in Übereinstimmung mit Jacobis Kritik an einer bloß theoretischen Spekulation, zum anderen aber durch die rekonstruktiv-genetische Ableitung des Standpunktes des Lebens im Ausgang von der Spekulation. 197 Vgl. zum Zusammenhang von intellektueller Anschauung und Gewissen Janke, Wolfgang, „Intellektuelle Anschauung und Gewissen. Aufriss eines Begründungsproblems“, in: Fichte-Studien 5 (1993), S. 21-55. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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duct der praktischen Nothwendigkeit“ (ZwE, GA I,4, 219) und als solches die „einzige pflichtmäßige Denkart der Philosophie“ (ZwE, GA I,4, 219). Fichte formuliert den Standpunkt der Wissenschaftslehre in der Form des Imperativs: „Ich soll in meinem Denken vom reinen Ich ausgehen, und dasselbe absolut selbstthätig denken, nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern die Dinge bestimmend.“ (ZwE, GA I,4, 219-220) Die moralisch-praktische Begründung der intellektuellen Anschauung garantiert dabei deren systematische Stellung als „einzige[r] feste[r] Standpunkt für alle Philosophie“ (ZwE, GA I,4, 219), nur durch die Annahme der intellektuellen Anschauung sei eine Erklärung des Bewusstseins möglich. Sowohl aus der im Sittengesetz zum Ausdruck kommenden moralischen Dimension des Bewusstseins als auch aus Begriffen mit praktischem Gehalt wie z. B. „Recht“ und „Tugend“ resultiert für Fichte die Notwendigkeit der Annahme der intellektuellen Anschauung. So können praktische Begriffe nicht über die sich auf das theoretische Bewusstsein beziehenden kantischen Anschauungsformen Raum und Zeit expliziert werden, da sie weder zeitlich noch räumlich, sondern bloß verortet im raum-zeitlichen Kontext seien. Fichte zufolge müsse so die intellektuelle Anschauung als eine dritte Anschauung neben den Anschauungsformen von Raum und Zeit angenommen werden. Praktische Begriffe wie der des Rechts explizieren so eine interne Beschränkung des Handelns und nicht wie Begriffe der sinnlichen Anschauung (z. B. „Baum“/ „Tier“) eine Beschränkung des Raums. Fichtes Ansatz lässt sich somit als pragmatistisch kennzeichnen, in der WL nova methodo deduziert Fichte den Begriff als „Tätigkeit in Ruhe“ aus der Anschauung als reiner Tätigkeit. Begriffe sind Fichte zufolge so genetisch deduziert aus dem ursprünglichen Handeln des Ichs, das Handeln bzw. die Freiheit fungiert als „Unterlage“ der Konstruktion von Begriffen. (Vgl. ZwE, GA I,4, 245) Insofern Fichte in der Grundlage die Gesetze des Denkens, d. h. die logischen Gesetze und die Kategorien, aus den Grundhandlungen des Ichs ableitet, behauptet er eine Einheit von Geltung und Genese. Die intellektuelle Anschauung der Selbsttätigkeit des Ichs ermöglicht so erst eine begriffliche Konzeption des Handelns, insofern diese als Selbstbestimmung nicht aus dem mechanistisch-materiellen Kausalzusammenhang der Natur erschlossen werden kann. Erst eine Konzeption des Handelns macht dabei ein einheitliches Modell von sinnlicher Welt (Natur) und intelligibler Welt (Vernunft) mögSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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lich. Fichte löst den Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft so durch den Begriff des Handelns auf, insofern dieser beide Dimensionen des Selbst-Welt-Verhältnisses zusammenführt: Während das Ich in Bezug auf die sinnlich-theoretische Dimension bestimmt ist, da die sinnliche Welt einen Widerstand für das Handeln des Ichs darstellt, ist es im praktischen Weltverhältnis selbst bestimmend, da die intelligible Welt ein Produkt des Handelns des Ichs ist. Fichte verdeutlicht die einheitsstiftende Funktion der intellektuellen Anschauung dabei über den Begriff der Tathandlung: Nur durch die Tathandlung als Grundbegriff der Philosophie können theoretische und praktische Dimension des Handelns, sinnliche und intelligible Welt verbunden werden. Fichte definiert Tathandlung hier im Gegensatz zur Tatsache als vorgegebenem Faktum als reine Tätigkeit, die kein Objekt voraussetzt wie im theoretischen Weltverhältnis, sondern dieses produziert, wo also das Handeln, d. h. die Tätigkeit, zur Tat, d. h. zum Produkt der Tätigkeit, werde. (Vgl. ZwE, GA I,4, 221) Ist der Begriff der Tatsache dem Bereich des Endlichen, d. h. dem bloß objektiv-deterministischen Kausalzusammenhang der sinnlichen Welt, zuzuordnen, könne durch den Begriff der Tathandlung ein Übergang des Endlichen zum Unendlichen bzw. Übersinnlichen, also zum Bereich praktisch-theoretischer Selbstbestimmung als Charakteristikum von Subjektivität hergestellt werden. Für Fichte ist das theoretische Weltverhältnis, d. h. der Bereich der Tatsachen, so im praktischen Weltverhältnis der Tathandlung des Ichs fundiert. f ) Einwände gegen die intellektuelle Anschauung In den Abschnitten 7-12 der Zweiten Einleitung (vgl. ZwE, GA I,4, 245269) geht Fichte auf mögliche Einwände gegen die intellektuelle Anschauung ein. Undenkbarkeit des Ichs Insofern alles Denken auf ein Sein bezogen sei, könne das Ich der Wissenschaftslehre einem prominenten Einwand zufolge nicht gedacht werden, da es gerade nicht auf ein Sein bezogen sei. Fichte konstatiert hier einen performativen Widerspruch: Das unmittelbare Leugnen der Möglichkeit der Handlung (des Sich-Denkens) sei selbst eine Handlung (des Sich-Denkens). Der Grund des Einwands basiere dabei darauf, dass der Begriff des Seins auf reales Sein verSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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engt werde, während der Begriff des Ichs auf ein ideales Sein bezogen sei: „Wenn sie recht hätten, so wäre freilich keine Metaphysik möglich, denn der Begriff des Ich wäre undenkbar; dann wäre aber auch kein SelbstBewusstseyn, und daher auch überhaupt kein Bewusstseyn möglich.“ (ZwE, GA I,4, 248) Gegen den aus der Logik geführten Beweis durch einen Rekurs auf den Satz des Widerspruchs macht Fichte geltend, dass in Bezug auf die ursprüngliche Bestimmung von Begriffen auf die intellektuelle Anschauung als unmittelbares Vollzugsbewusstsein rekurriert werden müsse.198 Ableitung des Seins Damit in Zusammenhang steht der Einwand, dass aus dem Ich, insofern dieses kein Sein sei, auch kein Sein abgeleitet werden könne. Fichte unterscheidet hier wieder den Gesichtspunkt des Philosophen und den des gemeinen Bewusstseins: Für den Philosophen sei das Ableitungsprodukt des Ichs ein Handeln, vom realistischen Standpunkt des beobachteten Ichs hingegen ein Sein. Der Begriff des Seins sei kein ursprünglicher, sondern ein abgeleiteter Begriff. (Vgl. ZwE, GA I,4, 252) Keine Abstraktion vom Ich Es werde unterstellt, dass der Wissenschaftslehre zufolge vom Ich nicht abstrahiert werden könne, d. h., dass nie eine andere Vorstellung als die des Ichs möglich sei. Fichte stellt hier im Anschluss an Kants Bestimmung der Apperzeption als Begleitbewusstsein richtig, dass dies zwar für den Standpunkt des Philosophen zutreffend sei, insofern das Ich zu allen Objekten des Bewusstseins als Ermöglichungsbedingung des Bewusstseins notwendig hinzugedacht werden müsse, dass dies allerdings nicht für den Gesichtspunkt des gemeinen Bewusstseins gelte. Insofern nicht vom Denken abstrahiert werden könne, gebe es auch kein vom Bewusstsein unabhängiges Ding an sich.
198 „Ob es wirklich einen Begriff gebe, der ursprünglich […] nicht durch jenes Prädicat des reellen Seyns bestimmt werde, darüber haben sie sich lediglich bei der Anschauung zu erkundigen…“ (ZwE, GA I,4, 250) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Ich als Person Einem weiteren Einwand zufolge sei das (reine) Ich der Wissenschaftslehre ein bloß unbestimmtes „Es“, insofern nur sinnvoll vom Ich als Person geredet werden könne. Fichte unterscheidet hierbei zwei Lesarten des Einwands: 1) In Bezug auf die ursprünglich reelle Synthesis des Begriffs des Individuums: Der Begriff des Individuums sei nur als Synthese des Begriffs des Objekts überhaupt (Es) und der Unterscheidung von anderen Es zu verstehen. 2) In Bezug auf den Sprachgebrauch: In der Sprache sei mit Ich nur das Individuum bezeichnet. 1) Fichte kritisiert nun am vorgeschlagenen Modell der Synthese, dass durch Unterscheidung von Objekten nur ein bestimmtes Objekt entstehe, nicht aber der Begriff der Person. So müsse der Ichheit als Subjekt-Objektivität ursprünglich eine bloße Objektivität (Es) thetisch bzw. absolut entgegengesetzt werden. Der Begriff des Du, also ein Modell von Intersubjektivität bzw. Interpersonalität, resultiere dabei aus der Synthese von Ichheit und ursprünglicher Objektivität, wobei der in uns selbst gefundene Begriff der Ichheit auf den Anderen als Objekt übertragen werde. Der Begriff des Individuums entstehe durch die Synthese des Ichs mit sich selbst. Durch Abstraktion vom Begriff des Individuums komme so nicht der Begriff des Objekts überhaupt (Es), sondern der des Ichs überhaupt als Nicht-Objekt zustande. 2) Fichte wendet nun ein, dass das Fehlen einer Bezeichnung nicht als Argument gegen die Notwendigkeit der Bezeichnung einer bestimmten Entität angeführt werden dürfe. Weiterhin sei der Vorwurf auch nicht zutreffend in Bezug auf den philosophischen Sprachgebrauch. So finde sich der Begriff des reinen Ichs bereits bei Kant und Reinhold. Zudem sei die Unterscheidung des Ichs vom Objekt auch im gemeinen Sprachgebrauch anzutreffen und damit auch implizit das Konzept des reinen Ichs. Die Gegner der Wissenschaftslehre verfügten so bereits über den Begriff des Ichs, nicht aber über den Begriff dieses Begriffs. Wissenschaftslehre als Schwärmerei Ein weiterer Einwand lässt sich wie folgt formulieren: Insofern die Wissenschaftslehre nicht auf begriffliche Mitteilung rekurriere, sei sie ein exklusives Unternehmen für „privilegirte Geister“ und als solches „heillose Schwärmerei“ (ZwE, GA I,4, 258). Fichte weist diesen Einwand zum Ersten durch die Feststellung zurück, dass die Wissenschaftslehre keinen angeborenen Unterschied zwischen Menschen Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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in Bezug auf die Vernunft behaupte, da alle vernünftigen Wesen über dieselbe Anlage zur Vernunft verfügten. Das reine Ich als Grundprinzip liege so allem Denken zugrunde. Das Denken dieses Denkens, d. h. die Reflexion auf das reine Ich als Grundprinzip, könne aber nur durch Freiheit ausgebildet werden. Nur durch eine Bildung zur Freiheit sei ein Verständnis der Wissenschaftslehre möglich. Zum Zweiten verweist Fichte auf seine Konzeption des Beweisens durch den Ausgang von einem unmittelbar Gewissen. Zum Dritten sei das Ich trotz seines intersubjektiven Charakters gebunden an die Perspektive des Subjekts. Die Wissenschaftslehre könne nur eine Anleitung geben, bestimmte Gedanken selbst zu denken, insofern das Verhältnis zwischen freien Wesen als Wechselwirkung durch Freiheit zu verstehen sei. Zum Vierten sei der Status der Wissenschaftslehre als Wissenschaft nicht davon abhängig, ob diese allgemeingeltend sei. Verwechslung des Ichs als intellektueller Anschauung und als Idee Gegen die mit dem Vorwurf der Undenkbarkeit des Ich-Prinzips in Zusammenhang stehende Auffassung des Ichs als einer bloßen Idee verweist Fichte auf die Notwendigkeit der Unterscheidung von Ich als intellektueller Anschauung und als Idee. Die intellektuelle Anschauung als Ausgangspunkt der Philosophie stelle nur die Form der Ichheit dar und sei lediglich für den Philosophen vorhanden. Während die intellektuelle Anschauung begrifflich erfasst werden könne, könne das Ich als Idee nicht bestimmt gedacht werden, insofern diese die gesamte Materie der Ichheit umfasse.199 Das Ich als Idee sei so das höchste Ziel des Strebens der Vernunft, an welches nur eine unendliche Annäherung möglich sei, d. h., welches nicht realisiert werden könne, und existiere als solches für den natürlichen, vollkommen ausgebildeten Menschen. Egoismus (Solipsismus) Gegen den Einwand eines sowohl theoretischen als auch praktischen Solipsismus macht Fichte geltend, dass die Wissenschaftslehre auf allgemeine Vernunft und nicht auf Individualität rekur-
199 Vgl. hierzu auch die Argumentation im praktischen Teil der Grundlage. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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riere, also auf die intersubjektive Dimension von Vernunft, die allen Subjekten gemeinsamen Vernunftstrukturen abziele.200
2.6) Das Reflexionspostulat im Ersten Kapitel des Versuchs § 1 der WL nova methodo korrespondiert das erste Kapitel des Versuchs einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1798). Um den bereits dargestellten Argumentationsgang von § 1 der WL nova methodo zu präzisieren und zu ergänzen, soll das erste Kapitel des Versuchs einer eingehenden Analyse unterzogen werden. Im ersten Kapitel des Versuchs tritt so der in § 1 der WL nova methodo eher verdeckte Zusammenhang von Zirkel- und Regressproblematik und Reflexionspostulat deutlich hervor.
2.6.1) Das Problem des Bewusstseinszirkels (Erstes Kapitel: Abschnitt 1) Fichte setzt sich nun nicht nur in Abschnitt 4 der Zweiten Einleitung mit dem Problem des Bewusstseinszirkels auseinander, sondern auch im ersten Abschnitt des ersten Kapitels des Versuchs im Rahmen der Explikation des Reflexionspostulats. Er expliziert das Reflexionspostulat dabei in drei Schritten. In einem vierten Schritt geht er dann auf den Einwand der Zirkularität ein, welcher gegen das Reflexionspostulat erhoben werden könnte. Schritt 1: Bestimmtheit des Bewusstseins Das Denken des Ich-Begriffs impliziert die Bestimmtheit des Bewusstseins, indem hierin das Denken von anderen Gehalten ausgeschlossen wird. Fichte geht es zunächst um eine allgemeine, noch unterspezifizierte Bestimmung des Ich-Begriffs. Ziel ist es dabei sicherzustellen, dass der Leser das geforderte Postulat richtig aus-
200 „Wenn z. B. ein System, dessen Anfang, und Ende, und ganzes Wesen darauf geht, daß die Individualität theoretisch vergessen, praktisch verläugnet werde, für Egoismus ausgegeben wird; von Leuten dafür ausgegeben wird, die gerade darum, weil sie selbst versteckte theoretische Egoisten, und offenbare praktische Egoisten sind, sich nicht zur Einsicht in dieses System erheben können…“ (ZwE, GA I,4, 267) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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führt, um die intersubjektive Gültigkeit des Reflexionspostulats zu gewährleisten. Schritt 2: Erste Spezifizierung des Reflexionspostulats In einem zweiten Schritt beantwortet Fichte die Frage, worin genau der spezifische Charakter des Denkens besteht. Das Denken des Ichs stellt Fichte zufolge einen Akt der Freiheit dar, insofern der Leser sich dafür entscheiden muss, die Aufforderung, sich zu denken, zu befolgen und den Begriff des Ichs zu realisieren. Ebenso gut hätte der Leser auch die Aufforderung, ein externes Objekt (z. B. Tisch) zu denken, befolgen können. Insofern Fichte Freiheit und Tätigkeit identifiziert, bestimmt er das Denken als Handeln und als unmittelbares Bewusstsein von Tätigkeit. Das bestimmte Denken ist damit ein bestimmtes Handeln, wobei durch die Form des Denkens qua Handeln der Gehalt des Denkens bestimmt wird. Schritt 3: Spezifizierung des Begriffs des Ichs als selbstbezügliches Handeln Während Fichte in Schritt 1 und 2 zunächst den ersten Teil des Reflexionspostulats („Denke dich!“) expliziert hat, geht es in Schritt 3 nun darum, den zweiten Teil des Postulats („dir eigentlich und innigst bewusst zu werden, wie du verfährst, wenn du denkst: Ich“ (VnD, GA I,4, 272)) verständlich zu machen. Es soll also das Verfahren, durch welches der Gedanke Ich entsteht, erklärt werden. Erst so erfährt der Begriff des Ichs eine ausreichende Spezifizierung, die die Objektivität des Reflexionspostulats garantieren kann. Fichte exemplifiziert dabei das Verfahren des Sich-Denkens über eine Kontrastierung von Selbstbewusstsein und Objektbewusstsein. Im Verfahren des Denkens eines externen Objekts ist der Denkende (hier der, der bewusst auf das Verfahren achtet) zwar selbst das Subjekt des Denkens, nicht aber dessen Objekt. Im Fall des Selbstbewusstseins ist der Denkende hingegen als Subjekt zugleich Objekt des Denkens, das Denken als Handeln hat hierbei eine selbstreflexive Struktur. Fichte bestimmt das Sich-Denken somit als in sich zurückgehendes Handeln: „[D]ein Handeln im Denken soll auf dich selbst, das Denkende, zurückgehen.“ (VnD, GA I,4, 272) Er definiert nun den Begriff des Ichs: „Also – der Begriff oder das Denken des Ich besteht in dem auf sich Handeln des Ich selbst; und umgekehrt, ein solches Handeln auf sich selbst giebt ein Denken des Ich, und schlechthin kein anderes Denken.“ (VnD, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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GA I,4, 272) Satz 1 zufolge ist der Begriff des Ichs definiert als selbstreferentielles Handeln des Ichs, d. h., aus der Aufforderung, sich zu denken, folgt, wie bereits gezeigt, notwendig der Vollzug des Aktes des selbstreferentiellen Handelns. Satz 2 gemäß gilt nun auch die Umkehrung von Satz 1: Aus dem Akt des in sich zurückgehenden Denkens folgt notwendig der Begriff des Ichs, d. h., es kann aus diesem unmöglich ein anderer Begriff (wie z. B. der eines externen Objekts) resultieren. Fichte betont dabei noch einmal den selbstreflexiven Charakter des Ichs, indem er den Begriff des Ichs mit dem in sich zurückkehrenden Denken bzw. dem Sich-selbst-Setzen identifiziert. Zwischen dem Akt des selbstreferentiellen Handelns und dem Ich-Begriff besteht also eine notwendige Beziehung: Das Ich ist zum einen das einzig mögliche Produkt des Aktes des selbstbezüglichen Denkens bzw. Handelns, d. h., es gibt keine anderen Produkte des Aktes außer das Ich. Und der Akt des in sich zurückgehenden Denkens bzw. Handelns ist zum anderen der einzig mögliche Akt, aus dem das Ich als Produkt resultiert, d. h., es gibt daneben keine anderen Akte, aus denen das Ich als Produkt hervorgeht. Aus der eineindeutigen Zuordnung von in sich zurückgehendem Handeln und Begriff des Ichs folgt deren absolute Identität: Das Ich ist nur das Sich-selbst-Setzende und das Sich-selbst-Setzende ist nur das Ich. Abschließend rechtfertigt Fichte das Verfahren des Reflexionspostulats. So erfährt der Begriff Fichte zufolge nur eine zureichende Bestimmung durch die Angabe des Aktes, durch welchen er entsteht. Hier zeigt sich Fichtes pragmatistisches Verständnis: Begriffe sind für Fichte so keine formalen abstrakten Bestimmungen, sondern Produkte der Tätigkeit des Subjekts: „Thue, was ich dir sage, so wirst du denken, was ich denke.“ (VnD, GA I,4, 272) So ist die Bezeichnung Ich ambig: Sie bezieht sich zum einen auf das konkrete Einzelindividuum, zum anderen auf das transzendentale Ich, also die allen Individuen gemeinsame Struktur von Subjektivität. Nur durch den Vollzug des Aktes des bloßen Zurückgehens des Denkens auf sich selbst kann sichergestellt werden, dass sich der von Fichte explizierte Begriff des Ichs auf die allgemeine, transindividuelle Form von Subjektivität bezieht, nur der Vollzug des Aktes des SichDenkens gewährleistet eine zureichende inhaltliche Bestimmung des Ich-Begriffs und garantiert die objektive Gültigkeit des Reflexionspostulats.
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Schritt 4: Zirkeleinwand Fichte schränkt nun den Gültigkeitsbereich der bisher aufgestellten Sätze ein: Gegen diese könnte nur ein Einwand erhoben werden, wenn sie für mehr als den bloß unmittelbaren Ausdruck der Beobachtung gehalten würden. Der Einwand besagt dabei Folgendes: Der Ich-Begriff wurde von Fichte als Resultat eines in sich zurückgehenden Handelns definiert. Soll das Ich aber als Produkt eines selbstreferentiellen Handelns verstanden werden, dann muss zweierlei vorausgesetzt werden: Zum Ersten das Subjekt, das den Denkakt vollzieht. Zum Zweiten das Objekt, auf welches sich der Denkakt bezieht. Sowohl das Subjekt als Denkendes als auch das Objekt als Gedachtes werden dabei als „ein von dem Denken und Gedachtseyn deiner selbst unabhängiges, und demselben vorauszusetzendes, Daseyn deiner selbst“ (VnD, GA I,4, 273) postuliert. Die Behauptung eines vom Denken unabhängigen Daseins des Ichs („vor deinem Denken“ (VnD, GA I,4, 274)) ist nun aber in doppelter Hinsicht widersprüchlich: Zum einen impliziert die Behauptung ein Subjekt des Denkens. Zum anderen handelt es sich beim Behaupten selbst um einen Akt des Denkens. Die vom Denken unabhängig behauptete Existenz des Ichs stellt also selbst einen Gedanken dar, der als solcher ein Subjekt des Denkens voraussetzt. Fichte bestimmt dabei die Behauptung eines vom Denken unabhängigen Daseins des Ichs als einen notwendigen und sich aufdrängenden Gedanken. (Vgl. VnD, GA I,4, 274) Der Zirkeleinwand resultiert so notwendig aus der Struktur des Ich-Begriffs, es handelt sich nicht um einen willkürlichen Gedanken, sondern um einen Gedanken, der mit dem Denken des Ich-Begriffs verbunden ist. Fichte hält den Einwand des Zirkels nicht für eine ungerechtfertigte Kritik. Seine Berechtigung erhält der Einwand aber nur, wenn man seine Gültigkeit einschränkt. Fichte wendet so ein, dass die Unterstellung eines vom Denken unabhängigen Seins widersprüchlich ist, da sie die dogmatische Konzeption eines Dinges an sich implizieren würde. Das Ich kommt nur durch das Zurückgehen des Denkens auf sich selbst zu Stande, sage ich: und rede dabei lediglich von demjenigen, was durch bloßes Denken zu Stande kommen kann; was, wenn ich so denke, unmittelbar in meinem Bewusstseyn vorkommt, und was, wenn du so denkst, unmittelbar in deinem Bewusstseyn vorkommt; kurz, ich rede nur vom Begriffe des Ich. Von einem Seyn des Ich außer dem Begriffe, ist hier noch gar nicht die Rede; ob und in wiefern von
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einem solchen Seyn überhaupt die Rede entstehen könne, wird sich zu seiner Zeit zeigen. (VnD, GA I,4, 273)
Dem zum deutlichen Bewusstsein201 erhobenen Setzen muss Fichte zufolge so zwar ein unbewusstes Setzen, „ohne deutliches Bewusstseyn geschehen“ (VnD, GA I,4, 274), vorausgesetzt werden, das als Bedingung des bewussten Setzens gedacht werden muss (Ableitung Begriff aus Anschauung) und auf welches sich das bewusste Setzen als sein Objekt bezieht. (Vgl. VnD, GA I,4, 274) Das Gesetz, auf welches Fichte hier anspielt, ist das in der WL nova methodo explizierte Reflexionsgesetz. Eine Erklärung von Bewusstsein durch Bewusstsein wäre so im schlechten Sinne zirkulär.202 Das unbewusste, dem bewussten Setzen vorauszusetzende Setzen, muss hierbei aber als solches gedacht werden, das Postulieren eines vom Denken unabhängigen Setzens wäre ein selbstwidersprüchlicher Gedanke. Eine Abstraktion vom Denken ist aufgrund der positiv zirkulären Struktur des Denkens nicht möglich. So hatte Fichte in § 1 der Grundlage gezeigt, dass eine Abstraktion vom Ich als Tathandlung nicht vollzogen werden kann. Während Fichte im Ersten Kapitel des Versuchs im Zusammenhang der Diskussion des Zirkeleinwands das Problem der Annahme eines vom Denken unabhängigen Seins des Ichs erläutert, geht es im vierten Abschnitt der Zweiten Einleitung um das Problem der Voraussetzung des ganzen Ichs als Selbstbewusstsein. Fichte 201 Die Unterscheidung von klarer und deutlicher Erkenntnis geht auf Descartes zurück. Während eine „klare“ Erkenntnis die unmittelbare Präsenz eines Sachverhalts meint, ist eine „deutliche“ Erkenntnis eine solche, die nicht nur klar ist, sondern sich darüber hinaus gegen anderes abgrenzen lässt. (Descartes, René, Die Prinzipien der Philosophie (Erstdruck unter dem Titel „Principia philosophiae“, Amsterdam, 1644. Text nach der Übersetzung durch Julius Heinrich von Kirchmann von 1870), in: René Descartes’ philosophische Werke. Abteilung 3, Berlin, 1870, Erster Teil, §§ 45-46, S. 21-22.) Manfred Frank kritisiert nun eine Zweideutigkeit in Fichtes Konzeption von Bewusstsein: „Da Fichte […] Bewusstsein im Sinne von deutlichem Bewusstsein verwendet, gleichzeitig aber Selbstbewusstsein für völlig unmittelbar bewusst erklärt […], gerät er in eine terminologische Zweideutigkeit. Bald betont er, dass Anschauung nicht nur unmittelbar, sondern auch bewusst sei, bald sagt er, Bewusstsein setze begriffliche Distinktion (und mithin: Mittelbarkeit) voraus. Zuweilen spricht er der Anschauung nur das ‚deutliche Bewusstsein‘ (im Sinne der Descartes-Leibnizschen distinctio) ab, belässt ihr aber die Klarheit […], die ja, gemäß der Leibniz-Wolffschen-Sprachregelung, Verworrenheit (confusionem) nicht ausschließt.“ (Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewusstseins-Theorie, S. 451.) 202 Vgl. hierzu Fichtes Auseinandersetzung mit Schulz. (ZwE, GA I,4, 225-227) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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wirft hier zunächst die Frage auf, was in Bezug auf die intellektuelle Anschauung des Philosophen dem Philosophen und was dem ursprünglichen Ich als Beobachtungsgegenstand zugerechnet werden muss. Er stellt hierbei fest, dass das In-sich-Zurückgehen des Ichs (Sich-Setzen) dem beobachteten Ich zugeordnet werden müsse. Dies entspricht dem ersten Teil des Reflexionspostulats: „Denke dich, konstruiere den Begriff deiner selbst“. Die Reflexion, d. h. die Thematisierung der Konstruktion des Ich-Begriffs, rechnet Fichte hingegen dem Ich des Philosophen zu, was dem zweiten Teil des Reflexionspostulats entspricht: „und bemerke, wie du das machst“ (Sich-Setzen als sich setzend). Das In-sich-Zurückgehen des Ichs bildet somit die Schnittstelle zwischen Ich des Philosophen und ursprünglichem Ich und garantiert die Objektivität des Verfahrens der Rekonstruktion des ursprünglichen Ichs durch den Philosophen.203 Fichte wendet hier gegen den sich aus der Struktur des In-sich-Zurückgehens resultierenden Einwand der Zirkularität, also die Frage, ob das Ich nicht schon für sich da sein müsse, um in sich zurückzugehen, ein, dass das In-sich-Zurückgehen des Ichs als bloße Anschauung nur einen Teilakt des Ichs und damit kein vollständiges Selbstbewusstsein darstelle. Es handle sich bei diesem um ein bloß mögliches, aber nicht um ein wirkliches Selbstbewusstsein, da die Anschauung zum einen begrifflich repräsentiert werden müsse (interne Bestimmtheit des Ichs) und das Ich zum anderen durch den Unterschied zum Nicht-Ich bestimmt werden müsse (externe Bestimmtheit des Ichs). In § 3 der WL nova methodo expliziert Fichte so das wirkliche Bewusstsein als Einheit von realer und idealer Tätigkeit. In § 5 der Grundlage hatte Fichte vom Sich-Setzen gesagt, dieses sei kein Für-sich-Sein, das Ich müsse sich setzen als sich setzend, um ein Sein für sich zu werden. Hier wird deutlich: Das Sich-Setzen expliziert kein Selbstbewusstsein im starken Sinne, d. h. kein wirkliches Selbstbewusstsein, sondern nur ein mögliches Selbstbewusstsein. Insofern In-sich-Zurückgehen und Selbstbewusstsein nicht identifiziert werden dürften, könne das ganze Ich nicht bereits vorausgesetzt werden. Fichte definiert das Ich in der WL nova methodo so als Einheit von Anschauung und Begriff. Die Voraussetzung des 203 In der WL nova methodo expliziert Fichte in § 1 das Ich des Philosophen als Einheit von Anschauung und Begriff. Dem entspricht die Beschreibung des ursprünglichen Ichs als Beobachtungsgegenstand des Philosophen in § 3 als Einheit von realer und idealer Tätigkeit. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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ganzen Ichs sei lediglich eine Projektion des Philosophen, welcher die Erfahrung der Entstehung des Ichs bereits gemacht habe. Insofern das In-sich-Zurückgehen nur einen Teilakt des Selbstbewusstseins darstellt, müsse Fichte zufolge notwendig auf einen weiteren Akt (Ableitung Begriff/Nicht-Ich mittels Reflexionsgesetz) geschlossen werden, der die Entstehung des Ichs als Selbstbewusstsein erklärt. Die Voraussetzung der gesamten Ich-Struktur würde das von Henrich als Kritikpunkt des fichteschen Selbstbewusstseinsmodells herausgestellte Reflexionsmodell mit der Struktur „Ich = Ich“ implizieren. Fichte kritisiert aber nicht die reflexive Struktur (im strukturellen Sinne, nicht im Sinne von Begriff) des In-sich-Zurückgehens, wie von Henrich unterstellt, sondern die Voraussetzung der vollständigen Ich-Struktur. Die selbstbezügliche Struktur des In-sich-Zurückgehens ist hierbei Teil einer komplexeren, mehrfach reflexiven Gesamtstruktur aus Anschauung, Begriff und Nicht-Ich (ausgedrückt in der Formel des Sich-Setzens als setzend). Während Henrich die Konzeption einer Reflexionsstruktur des Ichs als problematisch betrachtet, weshalb Fichte diese durch ein Produktionsmodell des Ichs ersetze, ist es für Fichte gerade die reflexive Struktur des Ichs, die dessen (selbst)produktiven Charakter ausmacht. Die selbstbezügliche Struktur des Ichs und von dessen Teilhandlungen kann so erst die Ausdifferenzierung des Selbstbewusstseins im System der Wissenschaftslehre verständlich machen. Insofern Fichte das Selbstbewusstsein aus einem unbewussten Teilakt expliziert, ist Henrichs Kritik, Fichte verfalle mit der Konzeption eines Produktionsmodells selbst in die Aporien der Reflexionstheorie, gegenstandslos. Bei Fichte findet sich somit bereits die von Henrich zur Explikation von Bewusstsein in Anschlag gebrachte anonyme Dimension. Diese ist bei Fichte aber kein bewusstloses Bewusstsein (Henrich), sondern ein bloßer Teilakt (Anschauung), der erst im Zusammenspiel mit anderen Bewusstseinsakten die vollständige Bewusstseinsstruktur expliziert.204 204 Vgl. hierzu auch die Kritik an Henrich von Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 94-96. Fichte versuche den Bewusstseinsregress (bzw. -zirkel) nicht durch die Als-Wendung und damit durch die begriffliche Explikation von Selbstbewusstsein, wie von Henrich behauptet, sondern durch die Ansetzung des ursprünglichen Selbstbewusstseins als eines praktischen Selbstbewusstseins zu lösen. (Vgl. ebd., S. 96.) Zu unterscheiden sind aber Fichtes Argumentationen in Bezug auf Zirkel und Regress. Während das gegen den Zirkel vorgebrachte Argument auf einen produktiv-nicht-begrifflichen Teilakt des Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Es lassen sich bei Fichte also zwei Erwiderungen auf den ZirkelEinwand unterscheiden: 1) Es darf nicht das ganze Ich als Selbstbewusstsein, sondern nur eine bloße Anschauung als Teilbewusstsein vorausgesetzt werden. 2) Es darf kein vom Denken unabhängiges Dasein des Ichs als Substanz (als Träger des Ich-Bewusstseins) vorausgesetzt werden. Fichte konzipiert das Ich so als bloße Tätigkeit: „Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Thun, und absolut nichts weiter; nicht einmal ein Thätiges soll man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas Bestehendes gedeutet wird, welchem die Thätigkeit beiwohne.“ (ErE, GA I,4, 200) Während Fichte die Anschauung dabei als reine Tätigkeit bestimmt, definiert er den Begriff als fixierte Tätigkeit, als Tätigkeit in Ruhe. Die Charakterisierung des Ichs als Tätigkeit beinhaltet dabei drei Aspekte (vgl. ErE, GA I,4, 199-200): a) Das Ich ist absolut und nicht leidend, da es das Grundprinzip („Erstes und Höchstes“) der Wissenschaftslehre ist. b) Das Ich ist kein Sein, da es mit nichts in Wechselwirkung steht, wobei Sein als Resultat der Wechselwirkung zu verstehen ist. Stünde das Ich mit etwas in Wechselwirkung, dann wäre es durch dieses bedingt und damit nicht absolut. c) Das Ich ist kein Subjekt (Tätiges) im Sinne eines Trägers von Tätigkeit, sondern die Tätigkeit selbst.
2.6.2) Regressproblem und unmittelbares Bewusstsein (Erstes Kapitel: Abschnitt 2) Im zweiten Abschnitt des Ersten Kapitels betont Fichte die Relevanz der nun folgenden Argumentation, indem er diese als Hauptpunkt der Wissenschaftslehre bestimmt. Fichte weist hierbei auf die besondere Schwierigkeit des zu behandelnden Punktes hin, weswegen er eine hinführende Einleitung gibt, um dem Leser die Beobachtung des präsentierten Phänomens zu ermöglichen. Reflexionspostulat 2: Reflexion der Reflexion Im zweiten Abschnitt des Ersten Kapitels formuliert Fichte ein neues Postulat: Gegenstand der Reflexion soll nicht das Sich-Setzen des Ichs wie im ersten Abschnitt sein (Reflexionsebene 1), sondern das Selbstbewusstseins rekurriert, ist für die Argumentation gegen den Bewusstseinsregress die Als-Formel von zentraler Bedeutung. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Verfahren der Reflexion des ersten Postulats (Reflexionsebene 2): „Jetzt aber sage ich dir: bemerke dein Bemerken deines SelbstSetzens; bemerke, was du in der so eben geführten Untersuchung selbst thatest, und wie du es machtest, um dich selbst zu bemerken. Mache das, was bisher das Subjective war, selbst zum Objecte einer neuen Untersuchung“. (VnD, GA I,4, 274) Fichte unterscheidet hierbei in Bezug auf Reflexionspostulat 1 („Denke dich, und bemerke, wie du das machst“ (VnD, GA I,4, 274)) einen subjektiven und einen objektiven Anteil: Die Aufmerksamkeit auf uns selbst, d. h. die Reflexion des Sich-Setzens, stellt das gemeinschaftlich Subjektive dar, das Sich-Setzen als Gegenstand der Reflexion das gemeinschaftlich Objektive. Die Reflexion, also das Bemerken des Sich-Setzens war dabei notwendig, um die intersubjektive Gültigkeit des Verfahrens des SichSetzens zu garantieren („um in deiner eigenen Erfahrung als wahr zu befinden, was ich dir sagte“ (VnD, GA I,4, 274)). Fichte fordert nun die Einnahme eines höheren Standpunktes der Spekulation, d. h. die Erhebung auf eine höhere Reflexionsebene. Selbstbewusstsein als Bedingung von Objektbewusstsein Fichte bestimmt in einem ersten Schritt Selbstbewusstsein als Bedingung von Objektbewusstsein: Das Bewusstsein eines Objekts ist Fichte zufolge das Bewusstsein des Denkens des Objekts, d. h., es inkludiert eine Art Meta-Bewusstsein. Das Bewusstsein des Denkens hat hierbei wiederum Selbstbewusstsein zu seiner Voraussetzung, da Selbstbewusstsein nichts anderes als die Tätigkeit des Subjekts selbst ist: „Indem du irgend eines Gegenstandes – es sey derselbe die gegenüberstehende Wand – dir bewusst bist, bist du dir, wie du eben zugestanden, eigentlich deines Denkens dieser Wand bewusst, und nur inwiefern du dessen dir bewusst bist, ist ein Bewusstseyn der Wand möglich.“ (VnD, GA I,4, 274-275) Insofern Selbstbewusstsein die Bedingung von Objektbewusstsein ist, kann Objektbewusstsein nur durch die Explikation von Selbstbewusstsein verständlich gemacht werden. Fichte unternimmt zunächst den Versuch, Selbstbewusstsein in Analogie zur Funktionsweise von Objektbewusstsein durch die Unterscheidung von denkendem Ich (Subjekt) und gedachtem Ich (Objekt) zu erklären. Es geht Fichte dabei darum, das eigene Modell von Selbstbewusstsein ex negativo, d. h. durch die Problematisierung des zunächst naheliegenden Modells, zu profilieren. Die Schwierigkeit ist hierbei folgende: Das Denkende (Subjekt) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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müsste auch hier wie beim Objektbewusstsein zugleich Objekt eines höherstufigen Denkens sein, d. h., jedes Bewusstsein müsste als solches selbst wieder thematisch und damit bewusst sein, da es sonst nicht als Bewusstsein charakterisiert werden könnte. Es wäre eine Art unbewusstes Bewusstsein und damit kein Bewusstsein im eigentlichen Sinne.205 Fichtes These ist es hierbei im Anschluss an Kants Modell der reinen Apperzeption als Begleitbewusstsein, dass es kein bloßes Objektbewusstsein gibt, dass also das Bewusstsein eines Objekts ohne Bezug auf Selbstbewusstsein gar kein Bewusstsein darstellen würde. Ich muss mir bewusst sein, dass ich es bin, der Bewusstsein von einem Objekt hat, wobei das Selbstbewusstsein hierin nicht unbedingt explizit sein muss. Jedes Bewusstsein eines Objekts muss so als Bewusstsein selbst wieder bewusst und damit repräsentiert sein, da es ansonsten kein Bewusstsein wäre. Das gängige Bewusstseinsmodell, wie es in Reinholds Satz des Bewusstseins formuliert ist, versteht Bewusstsein als Differenz von Subjekt und Objekt, welche durch das Subjekt zugleich aufeinander bezogen werden. Hierbei stellt sich nun aber die Frage, ob nicht das Subjekt, das Subjekt und Objekt voneinander unterscheidet und aufeinander bezieht, nicht selbst wieder bewusst sein müsste. Kann das gängige Bewusstseinsmodell auch als Explikation der Struktur von Selbstbewusstsein fungieren? Das Problem des Regresses, das aus dem Versuch der Anwendung des gängigen Bewusstseinsmodells auf die Erklärung von Selbstbewusstsein resultiert, basiert auf folgender Schwierigkeit: Das Subjekt als Selbstbewusstsein müsste selbst wieder Objekt eines höheren Bewusstseins sein, für welches es bewusst wäre. Hierin wäre es aber nicht für sich selbst bewusst. Würde Selbstbewusstsein nach dem Schema von Objektbewusstsein funktionieren, dann könnte es Fichte zufolge kein wirkliches Bewusstsein geben, da es immer ein Bewusstsein geben würde, das als solches nicht bewusst wäre. Durch das gängige Modell von Bewusstsein kann also keine plausible Erklärung von Selbstbewusstsein gegeben werden. Aus der Existenz, d. h. dem phänomenalen Bestand von wirklichem Bewusstsein, schlussfolgert Fichte nun, dass das Erklärungsmodell von 205 Hierzu Fichte in der Neuen Bearbeitung: „Ein Denken, ohne Bewußtseyn dieses Denkens zu denken, kündigt sich uns an, als die äusserste Absurdität. (Das Denken ist gar nicht anders zu denken, denn als eine Art des Bewußtseyns.“ (NB, GA II,5, 339) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Bewusstsein als Differenz von Subjekt und Objekt für die Explikation von Selbstbewusstsein unzutreffend ist. Aus der Falschheit des Modells folgt für Fichte hierbei die Gültigkeit des entgegengesetzten Modells: Selbstbewusstsein müsse als absolute Einheit von Subjekt und Objekt verstanden werden. Selbstbewusstsein sei so selbst nicht wieder Gegenstand eines höheren Bewusstseins wie im Fall von Objektbewusstsein, sondern qua Subjekt für sich selbst Objekt. Nur ein solches unmittelbares Bewusstsein könne als Bedingung und Erklärungsgrundlage von Objektbewusstsein fungieren. Explikation des unmittelbaren Bewusstseins Was heißt „unmittelbar“? Nachdem Fichte in einem logischen Beweisgang die Notwendigkeit der Annahme des unmittelbaren Bewusstseins demonstriert hat, betont er nun dessen phänomenologische Evidenz, um damit seine Annahme inhaltlich zu belegen und einen möglichen Zweifel an seinem Argument als einem bloß formalen abzuwehren: „Wie kamst du nun zu diesem Bewusstseyn deines Denkens? Du wirst mir antworten: ich wusste es unmittelbar.“ (VnD, GA I,4, 276) Fichte expliziert nun den Charakter des Bewusstseins des Denkens. Zunächst betont er noch einmal dessen objektive bzw. intersubjektive Gültigkeit als eines kommunizierbaren Wissens (in Bezug auf Existenz, Gehalt und Form: „daß, und was, und wie du dachtest“ (VnD, GA I,4, 276)). Fichte charakterisiert dabei das Bewusstsein des Denkens als unmittelbares Wissen, wobei er ein solches Wissen als unmittelbar definiert, das nicht in einer externen Beziehung zu seinem Gegenstand steht. Es handelt sich also um kein zufälliges additives Wissen, ein „hinterher dazu gesetztes“ (VnD, GA I,4, 276), sondern um ein Wissen, das notwendig mit seinem Objekt verknüpft ist.206 Fichte zufolge ist so das Denken ohne das Bewusstsein des Denkens nicht denkbar. Insofern das Bewusstsein des Denkens im Begriff des Denkens enthalten ist, handelt es sich hierbei um einen analytischen Begriff im Sinne Kants. So definiert Fichte den Begriff in der Neuen Bearbeitung: „Unmittelbar bedeutet: kein besondrer Akt […] sondern es ist allgegenwärtig, u. unzertrennlich damit vereinigt.“ (NB, GA II,5, 342) 206 Fichte spricht dem unmittelbaren Bewusstsein an dieser Stelle den Charakter des Wissens zu, während er in § 3 der WL nova methodo behauptet, dass das unmittelbare Bewusstsein gerade kein Bewusstsein darstelle. Zur Interpretation von § 3 vgl. Kapitel IV.2.3. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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Das unmittelbare Bewusstsein als Selbstbewusstsein
Fichte definiert nun das Bewusstsein des eigenen Denkens als Einheit von Subjektivem und Objektivem als unmittelbares Bewusstsein. Er expliziert das unmittelbare Bewusstsein des Denkens hierbei als Selbstbezug der inneren, auf ein Objekt gerichteten Tätigkeit, sowohl in Bezug auf deren Form („geht in sich selbst zurück“) als auch auf deren Gehalt („geht auf sich selbst zurück“). Fichte identifiziert nun mit Verweis auf die bereits entwickelte Konzeption des Ichs in sich zurückgehende Tätigkeit und Ich. Er definiert hierbei das unmittelbare Bewusstsein des Denkens, „sey es, daß ein Object, oder daß du selbst gedacht wurdest“ (VnD, GA I,4, 276), als Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein stellt demnach die „unzertrennliche“, d. h. unmittelbare und absolute, Einheit von Subjekt und Objekt dar. Das unmittelbare Bewusstsein als Anschauung Fichte bestimmt nun weiterhin das unmittelbare Bewusstsein als Anschauung („mit dem wissenschaftlichen Ausdrucke“ (VnD, GA I,4, 276), also im Gegensatz zum den Status von Vermittlung explizierenden Begriff). Diese Anschauung beschreibt er dabei als ein „SichSetzen als setzend“: Die Anschauung, von welcher hier die Rede ist, ist ein sich Setzen als setzend, (irgend ein Objectives, welches auch ich selbst, als bloßes Object, seyn kann,) keineswegs aber etwa ein bloßes Setzen; denn dadurch würden wir in die so eben aufgezeigte Unmöglichkeit, das Bewusstseyn zu erklären, verwickelt. Es liegt mir alles daran, über diesen Punkt, der die Grundlage des ganzen hier vorzutragenden Systems ausmacht, verstanden zu werden, und zu überzeugen. (VnD, GA I,4, 276)
Eine Anschauung, die als bloßes Setzen verstanden werden würde, könnte Fichte zufolge so keine Erklärung von Bewusstsein leisten, da diese als bloß subjektive Tätigkeit die Repräsentation durch einen verobjektivierenden Akt fordern und damit in den von Fichte beschriebenen infiniten Regress führen würde. Die Formel des Sich-Setzens als setzend lässt sich dabei über ihre Teilbestandteile explizieren: 1) Sich-Setzen: selbstbezügliche Tätigkeit, In-sich-Zurückgehen, bloße Anschauung, mögliches Selbstbewusstsein (subjektiver Anteil) 2) als setzend: Bewusstsein des DenSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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kens entweder eines externen Objekts oder von mir selbst als bloßes Objekt, Repräsentation, Verobjektivierung der selbstbezüglichen Tätigkeit (objektiver Anteil). Die Formel bringt so das Setzen „irgend ein[es] Objektice[n], welches auch ich selbst, als bloßes Object, seyn kann“ (VnD, GA I,4, 276) zum Ausdruck. Fichte zufolge handelt es sich hierbei um die Grundlage des Systems der Wissenschaftslehre, also um das Grundprinzip des Systems. Während sich die in der WL nova methodo angeführte Formel des Sich-Setzens als sich setzend nur auf die Explikation von Selbstbewusstsein bezieht, ist die vom Umfang weitere Formel des Sich-Setzens als setzend sowohl auf Selbstbewusstsein als auch auf Objektbewusstsein bezogen. Die intellektuelle Anschauung kann somit als Selbstbewusstsein verstanden werden, welches als Begleitbewusstsein von Objektbewusstsein fungiert. Die Formeln des Sich-Setzens als sich setzend und des Sich-Setzens als setzend können hierbei wie folgt dargestellt werden:
Ich
Beobachtetes Ich Produktion (Anschauung/reale T¨atigkeit)
Ich des Philosophen Reflexion (Begriff/ideale T¨atigkeit)
Abb. 3: intellektuelle Anschauung als Sich-Setzen als sich setzend (§ 5 GWL/WLnm)
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Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
Ich
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Objekt
Abb. 4: intellektuelle Anschauung als Sich-Setzen als setzend (1. Kapitel Versuch: Abschnitt 2)
Kritik am Dogmatismus/Funktion des unmittelbaren Bewusstseins Fichte stellt nun die Funktion des unmittelbaren Bewusstseins für das System der Wissenschaftslehre heraus: Das unmittelbare Bewusstsein fungiert als Einheitsgrund allen möglichen Bewusstseins von Objekten (als „Objektives für ein Subjekt“). Nur der Ausgang von einem unmittelbaren Bewusstsein als Subjekt-Objekt-Einheit könne die Beziehungsstruktur des Bewusstseins erklären. Ohne die Annahme des unmittelbaren Bewusstseins als ursprünglicher Einheit von Subjektivem und Objektivem könne nicht verständlich gemacht werden, wie ich mich als Subjekt auf ein Objekt als Gegenstand meines Vorstellens und Handelns beziehen könnte: „Man wird immer vergeblich nach einem Bande zwischen Subjecte und Objecte suchen, wenn man sie nicht gleich ursprünglich in ihrer Vereinigung aufgefasst hat.“ (VnD, GA I,4, 276-277) Eine Philosophie, die nicht das unmittelbare Bewusstsein ansetze, also der Dogmatismus, sei so Fichte zufolge „seicht“, d. h. unbegründet und „unvollständig“, also dualistisch und damit kein adäquates Erklärungsmodell für Bewusstsein, d. h. in letzter Konsequenz gar keine Philosophie, insofern für Fichte Philosophie nur als System möglich ist. Fichte identifiziert dabei unmittelbares Bewusstsein und Anschauung des Ichs: Indem das Ich sich notwendig selbst setzt, realisiert es sich selbst als Einheit von Subjektivem und Objektivem. Das unmittelbare Bewusstsein fungiert als Begründungsinstanz, als „Anknüpfungspunkt“ allen andeSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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WISSENSCHAFTSLEHRE NOVA METHODO (1796 – 1799)
ren Bewusstseins und stellt hierbei erst dessen Bewusstseinscharakter her, insofern das Bewusstsein durch das unmittelbare Bewusstsein bedingt und vermittelt ist: „Alles andere Bewusstseyn wird an dieses angeknüpft und durch dasselbe vermittelt; wird lediglich durch die Verknüpfung damit zu einem Bewusstseyn“. (VnD, GA I,4, 277) Lediglich das unmittelbare Bewusstsein als Grundprinzip der Wissenschaftslehre sei durch keine andere Instanz vermittelt oder bedingt. Fichte charakterisiert das unmittelbare Bewusstsein so als „absolut möglich“ und „schlechthin notwendig“. Absolut möglich ist es, da in ihm Form (Sich-Setzen) und Existenz eine Einheit bilden, der Gedanke des Ichs qua Vollzug notwendig an die Existenz des Ichs gebunden ist. Als absolute, d. h. uneingeschränkte, Möglichkeit ist das Ich notwendig realisiert und folglich wirklich. Zudem ist das Ich schlechthin notwendig, d. h., es ist nicht ein zufälliges Produkt der Tätigkeit des Sich-Setzens, sondern dessen einzig mögliches Resultat. Fichte kritisiert so die Annahme, das Ich sei ein bloßes Subjekt, welche in fast207 allen bisherigen Subjektivitätsmodellen vertreten werde. Eine solche Konzeption von Selbstbewusstsein würde das Problem des Regresses implizieren, da das Ich als bloßes Subjekt die Repräsentation durch ein höherstufiges Bewusstsein verlangt. Fichte geht nun noch einmal auf das bereits im Zusammenhang des Zirkeleinwands erörterte Problem der Annahme einer vom Bewusstsein unabhängigen Existenz des Ichs als eines Dinges an sich ein. Er identifiziert hierbei Selbstanschauung und Sein des Ichs: „Ich bin diese Anschauung und schlechthin nichts weiter, und diese Anschauung selbst ist Ich.“ (VnD, GA I,4, 277) Fichte formuliert hier die Grundthese seines Idealismus: Es gibt kein vom Bewusstsein unabhängiges Sein des Ichs. Er skizziert dabei zwei mögliche Modelle: Modell 1 Das Ich als bewusstseinsunabhängige Existenz ist Produkt der Selbstanschauung. Ein Produkt des Bewusstseins, das selbst nicht bewusst (für das Ich) wäre, wäre Fichte zufolge aber eine absurde, insofern selbstwidersprüchliche Annahme.
207 Im Text: „beinahe durchgängig“ (VnD, GA I,4, 277). Zu fragen wäre, auf wen Fichte hier anspielt. So kritisiert er in der WL nova methodo einen Regress an allen Subjektivitätsmodellen bis hin zu Kant. (Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 30) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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Modell 2 Andererseits könnte das Ich als Ding an sich als Bedingung der Selbstanschauung verstanden werden. Hiergegen sprechen nun aber zwei Punkte: 1) Es kann keine Aussage über etwas gemacht werden, das nicht bewusst ist. (gilt für Modell 1 und 2) 2) Das Selbstbewusstsein ist die Grundbedingung allen Bewusstseins. Die Annahme eines Ichs als Ding an sich als Bedingung der Selbstanschauung wäre so entweder eine Aussage über etwas, von dem kein Wissen besteht, oder falls behauptet würde, dass vom Ich als bewusstseinsunabhängiger Existenz ein Bewusstsein besteht208 („so könnt ihr nicht hinwiederum ein Bestimmtes, dessen ihr euch bewußt seyd, die von allem Anschauen und Denken unabhängig seyn sollende Existenz des Ich, jenes SelbstBewusstseyn bedingen lassen“ (VnD, GA I,4, 277)), dann wäre dieses die Bedingung der Selbstanschauung und damit des Selbstbewusstseins. Der Standpunkt des transzendentalen Idealismus, d. h. die These, dass es kein vom Bewusstsein unabhängiges Sein gibt, ist somit nach Fichte die einzig überzeugende Position und zwar „nicht nur für den angeführten, sondern für alle mögliche Fälle“ (VnD, GA I,4, 277). Abschließend bestimmt Fichte die beschriebene Anschauung als intellektuelle Anschauung und gibt eine Definition der intellektuellen Anschauung. Er rechtfertigt hierbei seine terminologische Wahl. Die intellektuelle Anschauung sei so als Selbstanschauung der Intelligenz zu verstehen, wobei die Selbstanschauung den inhaltlichen Kern (das Wesen) der Intelligenz darstelle. Der Terminus intellektuelle Anschauung bringe dabei den Unterschied zu einer anderen möglichen Anschauung, gemeint ist die sinnliche Anschauung, zum Ausdruck. Fichte identifiziert nun Intelligenz und Ichheit, wobei er den Terminus Ichheit für die adäquatere Bezeichnung des Grundprinzips der Wissenschaftslehre hält, da diese „das Zurückgehen der Thätigkeit in sich selbst […] am unmittelbarsten bezeichnet.“ (VnD, GA I,4, 278)209 208 Das Ich wäre hier nur Objekt des Bewusstseins, nicht aber Subjekt und Objekt, also kein unmittelbares Bewusstsein. 209 Während der Terminus Intelligenz in der Grundlage das theoretische Ich bezeichnet, gebraucht Fichte ihn nun für die Bezeichnung des Grundprinzips. Fichte kritisiert hierbei die Bezeichnung Selbst, da diese die Beziehung auf ein bereits Gesetztes zum Ausdruck bringe und damit den Begriff des Ichs bereits Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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WISSENSCHAFTSLEHRE NOVA METHODO (1796 – 1799) Reflexionsebene 1
Ich
Denke dich!“ ” = Objektives
Zirkel
Und bemerke, wie ” du das machst!“ = Subjektives/Objektives
Reflexionsebene 2 Bemerke dein Bemerken ” deines Selbst-Setzens!“ = Subjektives
Infiniter Regress
Abb. 5: Reflexionspostulat 1 + 2
Abbildung 5 expliziert nun das Verhältnis der beiden Reflexionspostulate: Während das erste Reflexionspostulat die Struktur des SichDenkens bzw. des Sich-Setzens und damit die Entstehung des Ich-Begriffs zum Gegenstand hat, wird im zweiten Reflexionspostulat das Verfahren der Reflexion selbst zum Inhalt der Reflexion (Reflexion der Reflexion). Der subjektive Anteil von Reflexionspostulat 1 („bemerke, wie du das machst“), dessen Objekt die Entstehung des IchBegriffs (das Sich-Setzen) war, wird nun in Reflexionspostulat 2 („bemerke dein Bemerken“) zum Objekt der Reflexion. Steht so im Zusammenhang von Reflexionspostulat 1 die zirkuläre Struktur des Sich-Setzens im Zentrum, aus welcher der Vorwurf der Zirkularität des Verfahrens des Sich-Denkens resultiert, ergibt sich die Problematik des infiniten Regresses im Kontext von Reflexionspostulat 2 aus dem Verfahren einer höherstufigen Reflexion, in welcher das, was zuvor Subjekt war, nun zum Objekt der Reflexion wird. Die Verobjektivierung verlangt hierbei aber jeweils die Position eines Subjekts, das als solches selbst wieder zum Objekt der Reflexion wird. Das Problem des Regresses zeigt sich so erst durch eine Methodenreflexion. Fichte zieht hierbei den Schluss, dass Bewusstsein nicht durch eine höherstufige Reflexion expliziert werden könne, sondern durch ein unmittelbares Bewusstsein, welches er als intellektuelle Anschauung und Sich-Setzen als setzend charakterisiert. Beim unmittelbaren Bevoraussetzte. Im populären Vortrag sei der Begriff allerdings gerechtfertigt. (Vgl. VnD, GA I,4, 278, Anm.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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wusstsein handelt es sich so um keine externe, sondern um eine immanente Reflexion, in welcher das Denken (Subjektives) und das Bewusstsein des Denkens (Objektives) notwendig verbunden sind.210 210 Eine zu Fichtes Position analoge Konzeption von Selbstbewusstsein findet sich innerhalb der analytischen Theorie des Selbstbewusstseins bei Sydney Shoemaker. Shoemaker rekurriert hierbei auf Wittgensteins im Blue Book vorgenommene Unterscheidung von Subjekt- und Objektgebrauch in der Verwendung des Pronomens ich. Während sich der Subjektgebrauch auf innere Zustände bezieht (z. B. „Ich habe Zahnschmerzen.“), ist der Objektgebrauch auf externe körperliche Merkmale („Mein Arm ist gebrochen.“) bezogen. Beim Subjektgebrauch von ich ist so im Gegensatz zum Objektgebrauch, da hier keine Erkenntnis der Person impliziert ist, ein Irrtum durch Fehlidentifizierung (z. B. durch einen Doppelgänger im Spiegel) nicht möglich. Das Pronomen ich im Subjektgebrauch funktioniere so wie ein singulärer referentieller Ausdruck ohne Identifizierung, weswegen hier dann auch in Bezug auf die vorgenommene Selbstzuschreibung eine Immunität gegen Irrtum durch Fehlidentifizierung vorliege. Shoemaker bezieht sich hierbei auf die in Descartes’ cogito-Argument postulierte unmittelbare Gewissheit in der Selbstzuschreibung. Bei Selbstbewusstsein handelt es sich so für Shoemaker nicht um ein identifikatorisches Wissen, sondern um eine unkörperliche Vertrautheit mit sich selbst, wobei der Subjektgebrauch von ich nicht durch dessen Objektgebrauch, d. h. durch externe Beobachtungsprädikate bzw. Körperzuschreibungen, ersetzt werden könne. Die nicht-körperliche Selbstzuschreibung qua Selbstbewusstsein bildet somit die Voraussetzung für die Selbstzuschreibung von körperlichen Prädikaten in der Selbstidentifikation als Objekt in der Welt. Epistemische Selbstreferenz ohne Selbstidentifizierung fungiert demnach als Bedingung des Gebrauchs von psychologischen und physischen Prädikaten (P-Prädikaten und M-Prädikaten im Sinne Strawsons). Jede Selbstkenntnis durch Identifikation würde Shoemaker zufolge in einen infiniten Regress führen. Selbstbewusstsein ist für Shoemaker so keine Erkenntnis im Sinne eines Sich-selbstWahrnehmens bzw. eines inneren Sinnes, da diese eine Selbst-Identifikation beinhalten würde. Shoemaker zieht hieraus aber nicht wie Wittgenstein die Schlussfolgerung, dass es sich bei ich um ein Pseudo-Subjekt handelt, da das Subjekt dann kein Bewusstsein hätte. Shoemaker zufolge liegt in Bezug auf Selbstbewusstsein so zwar keine identifikatorische Selbsterkenntnis vor, dennoch aber eine Selbstreferenz mit unbezweifelbarer Kenntnis des Bezugsgegenstandes als einem Subjekt, in dem ein psychologisches Prädikat instantiiert sei, z. B. das Bewusstsein, dass das Attribut hat Schmerzen in einem selbst exemplifiziert ist. (Vgl. Shoemaker, Self-Reference and Self-Awareness.) Auch Fichte behauptet eine unmittelbare Gewissheit des Ichs. Beim Ich als absolutem Bezugspunkt des Bewusstseins ist hierbei keine Fehlidentifizierung möglich, da das Ich als unmittelbare Einheit von Anschauung und Begriff nur sich selbst zum Gegenstand hat. Obgleich Fichtes Konzeption eines unmittelbaren Bewusstseins so zwar die Position des Begriffs und damit ein propositionales Moment beinhaltet, kann der sich auf die Ich-Anschauung beziehende Ich-Begriff diese doch nicht verfehlen, da es sich beim Ich-Begriff um das Produkt der IchAnschauung und damit nicht um einen externen Bezug handelt. Die erkenntnisSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Zwei Modelle der intellektuellen Anschauung? Die für die Problematik des infiniten Regesses als Lösungsvorschlag präsentierte Konzeption der intellektuellen Anschauung als SichSetzen als setzend im zweiten Abschnitt des Ersten Kapitels des Versuchs wirft die Frage auf, wie sich die nun eingeführte Beschreibung der intellektuellen Anschauung als unmittelbares Bewusstsein der Tätigkeit des Denkens zur Konzeption der wirklichen intellektuellen Anschauung im fünften Abschnitt der Zweiten Einleitung verhält. Fichte hatte die wirkliche intellektuelle Anschauung, d. h. die intellektuelle Anschauung des ursprünglichen Ichs, dort in Reaktion auf den Einwand von Schulz211, das reine Selbstbewusstsein dürfe nicht als Vorstellung verstanden werden, als transzendentale Bedingung des Bewusstseins charakterisiert, welche durch den Philosophen nur erschlossen werden könne. Fichte hatte dabei ausdrücklich intellektuelle Anschauung und Begriff unterschieden, weshalb der intellektuellen Anschauung als Teilbewusstsein hier der Bewusstseinscharakter abgesprochen werden musste, da für Fichte der Begriff notwendige Bedingung von Bewusstsein ist. (Vgl. ZwE, GA I,4, 214; 215; 245) Ein vollständiges Bewusstsein, so hatte Fichte an dieser Stelle betont, komme eben nur durch die Verbindung von intellektueller Anschauung, sinnlicher Anschauung und dem sich auf diese jeweils beziehenden Zweckbegriff und Objekt- bzw. Erkenntnisbegriff zustande. Die Abbildungen 6 und 7 zeigen nun Fichtes und Schulz’ Bewusstseinsmodelle im Vergleich:
theoretische Begründungsfunktion von Selbstbewusstsein betont auch Chisholm. Chisholm zufolge basiert (indirekte) Fremdattribution auf (direkter) Selbstattribution, d. h., propositionale Formen der Zuschreibung sind nur durch die nicht-propositionale Grundform des ich zu explizieren. Die Objektivität der Referenz ist so nur garantiert, insofern ich als Bezugspunkt fungiere, wobei hierin das Objekt der direkten Attribution bzw. der Selbstattribution der Attribuierende selbst ist. (Vgl. Chisholm, The First Person, Kapitel 4.) 211 Johann Friedrich Schultz (auch Johann Schulz/Schulze; 1739-1805), Theologe, Mathematiker und Philosoph, Freund Kants und Hofprediger an der Königsberger Schlosskirche; Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft, 2 Teile (1791/1794). Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Das Grundprinzip (§§ 1 – 5) Theorie
Praxis
Sinnliche Anschauung
Intellektuelle Anschauung
Erkenntnisbegriff
Zweckbegriff
erkennen
handeln
Objekt
Handlung
Primat der Praxis
Abb. 6: Fichtes Modell Vorstellung (Zweite Einleitung: Abschnitt 5)
reines Selbstbewusstsein
Vorstellung
= Anschauung = Vorstellung
Abb. 7: Schulz’ (Kants) Modell Vorstellung
Während Fichte der wirklichen intellektuellen Anschauung so im fünften Abschnitt der Zweiten Einleitung den Status von Bewusstsein aberkennt, fasst er die intellektuelle Anschauung nun im Ersten Kapitel des Versuchs explizit als Bewusstsein auf. Fichte macht hier deutlich, dass die intellektuelle Anschauung als Grundlage des ganzen Systems der Wissenschaftslehre als Einheit von Denken und Bewusstsein des Denkens verstanden werden müsse, wobei die Formel des Sich-Setzens als setzend die Repräsentation des unmittelbaren Bewusstseins durch sich selbst zum Ausdruck bringt. Nur durch ein unmittelbares Bewusstsein, das als Subjekt-Objekt-Einheit das Bewusstsein seiner selbst beinhaltet, könne das wirkliche Bewusstsein erklärt werden und ein infiniter Regress in der Explikation von Bewusstsein vermieden werden. Wie können nun beide Modelle der intellektuellen Anschauung in einen kohärenten Interpretationszusammenhang gebracht werSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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WISSENSCHAFTSLEHRE NOVA METHODO (1796 – 1799)
den? Ein erster Lösungsansatz könnte dafür argumentieren, dass die intellektuelle Anschauung als Sich-Setzen als setzend im Ersten Kapitel des Versuchs eben nicht die wirkliche intellektuelle Anschauung meine, sondern auf die intellektuelle Anschauung des Philosophen abziele. Dieser Erklärungsversuch muss aber sogleich zurückgewiesen werden: Die intellektuelle Anschauung als Sich-Setzen als setzend bezieht sich so zwar auf die Rekonstruktion des Grundprinzips der Wissenschaftslehre durch den Philosophen, insofern sie im Rahmen des zweiten Reflexionspostulats auftritt. Zugleich muss sie aber als Repräsentation der wirklichen intellektuellen Anschauung verstanden werden, da Fichte sie als Grundlage des Systems und als Explanans des wirklichen Bewusstseins charakterisiert. Das Grundprinzip der intellektuellen Anschauung darf eben nicht nur subjektive Konstruktion des Philosophen sein. Ein Lösungsansatz zur Plausibilisierung der Annahme der zwei Modelle kann so nicht auf den Unterschied von ursprünglichem Ich und Ich des Philosophen, von wirklicher intellektueller Anschauung und intellektueller Anschauung des Philosophen, rekurrieren. Eine weitere Erklärung bestünde nun in der Möglichkeit, die wirkliche intellektuelle Anschauung als Teilbewusstsein (Zweite Einleitung/Abschnitt 5) der Perspektive einer externen Reflexion zuzuordnen, während die intellektuelle Anschauung als Sich-Setzen als setzend (Erstes Kapitel/Abschnitt 2) einer immanenten Reflexion zugerechnet werden müsste, welche die notwendige Ableitung des Begriffs aus der Anschauung berücksichtigt. Die zwei verschiedenen Modelle der intellektuellen Anschauung sind dabei zwei verschiedenen Argumentationsstrategien zuzuordnen: Während das erste Modell, in welchem der intellektuellen Anschauung der Bewusstseinscharakter abgesprochen wird, im Kontext der Argumentation gegen den Zirkeleinwand zu verorten ist, soll das zweite Modell, welches die intellektuelle Anschauung als Form von Bewusstsein versteht, den Einwand des Regresses bzw. der unendlichen Iteration widerlegen. Fichte argumentiert so gegen den Einwand des Zirkels durch die Behauptung einer ursprünglich produktiven Tätigkeit, welche kein Bewusstsein darstellen darf, da sonst bereits das ganze Ich vorausgesetzt werden müsste. Gegen den Einwand des Regresses führt Fichte hingegen das unmittelbare Bewusstsein als Form einer immanenten produktiven Reflexion an, welche als Bewusstsein zu verstehen ist, insofern der Vorwurf des Regresses aus dem dualistischen Modell einer externen Reflexion resultiert. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Grundprinzip (§§ 1 – 5)
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2.6.3) Das Verhältnis von Anschauung und Begriff (Erstes Kapitel: Abschnitt 3) Im dritten Abschnitt des Ersten Kapitels expliziert Fichte das erste Reflexionspostulat anhand einer Darstellung des Verhältnisses von Anschauung und Begriff, und zwar zum Ersten in Bezug auf das Verhältnis von Selbst- und Objektbewusstsein und zum Zweiten in Bezug auf die interne Struktur des Selbstbewusstseins. Abschließend definiert er den Begriff des Ichs und erläutert dessen Funktion für das Bewusstsein. Der Übergang vom Objekt- zum Selbstbewusstsein Fichte wirft nun die Frage auf, wie überhaupt ein Bewusstsein der Tätigkeit und damit das unmittelbare Bewusstsein möglich ist. Er beschreibt hierbei zunächst den Übergang vom Objekt- zum Selbstbewusstsein, welcher dem ersten Teil des ersten Reflexionspostulats („Denke dich!“) korrespondiert. Fichte definiert die sowohl beim Objekt- als auch beim Selbstbewusstsein beteiligte Tätigkeit zum einen als eine bestimmte Form der Aktivität, d. h. als „Agilität“ und „innere Bewegung“, und zum anderen als ein Übergehen, d. h. als ein „Hinwegreißen über absolut Entgegengesetzte“ und „Losreißen“, wobei er den Gegensatz zur Tätigkeit als „Ruhe“ bestimmt. (Vgl. VnD, GA I,4, 279) Eine bloße Tätigkeit wäre als solche nicht wahrnehmbar, nur über den Gegensatz zur Ruhe kann die Tätigkeit als solche gedacht werden. Fichte betont hierbei nochmals, dass die Tätigkeit nicht extern durch eine begriffliche Demonstration (Beweisführung) gedacht werden kann, sondern dass diese den aktiven internen Nachvollzug verlangt. Der Übergang vom Objekt- zum Selbstbewusstsein vollzieht sich dabei in zwei Stufen: Der Gedanke des Objekts als Zustand der Kontemplation212 wird aufgrund der Aufforderung, sich zu denken, hervorgebracht, wobei die Tätigkeit hierbei unbewusst bleibt. Das Selbstbewusstsein wird nun erst durch den Gegensatz zum Objektbewusstsein, d. h. als Losreißen von der Ruhe („Anhalten und Fixirtseyn der innern Kraft“ (VnD, GA I,4, 279)), welche aus dem Denken des Objekts resultiert, als solches gedacht. Nur durch den
212 Fichte zitiert hier Vergil: „Du verweiltest unbewegt bei jenem Anblick.“ (obtutu haerebas fixus in illo) (VnD, GA I,4, 279) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Gegensatz zur Ruhe ist ein Bemerken der Tätigkeit möglich, welches dem zweiten Teil des ersten Reflexionspostulats entspricht. Die interne Struktur des Selbstbewusstseins Fichte spezifiziert nun die Bestimmtheit des Denkens im Reflexionspostulat: Welche besondere Bestimmtheit deines Denkens war es nun, die als Ruhe, derjenigen Thätigkeit, durch die du dich selbst dachtest, unmittelbar vorher gieng; oder genauer ausgedrückt, die damit unmittelbar vereiniget war, so daß du das eine nicht ohne das andere wahrnehmen konntest? (VnD, GA I,4, 279)
Er expliziert hierbei die beiden Schritte des Reflexionspostulats: Während aus der Aufforderung, sich zu denken, der Vollzug der Tätigkeit folgt, welche hierin aber unbewusst ist und daher als solche gar nicht erkannt wird, resultiert aus dem zweiten Schritt des Postulats, nämlich der Aufforderung, die Tätigkeit zu bemerken, der Vollzug der Tätigkeit mit Bewusstsein. Der erste Teil des Postulats führt so zwar zu einem unmittelbaren Verständnis. Hierbei besteht aber kein Wissen, dass das Ich eine in sich zurückgehende Tätigkeit darstellt. Das Handeln des Ichs wird auf eine gewisse Weise bestimmt gefunden, d. h., es ist für das Bewusstsein als Zustand der Ruhe, als Bestimmtheit unmittelbar vorhanden. Erst durch den zweiten Schritt des Reflexionspostulats („bemerke, wie du das machst“) entsteht ein Bewusstsein von der Tätigkeit des Sich-Denkens. Die Bestimmtheit des Denkens durch das Denken erscheint für das Ich als Ruhe, von welcher es sich zur Tätigkeit losreißt. Erst mit dem zweiten Schritt des Reflexionspostulats wird das Ich so als in sich zurückgehende Tätigkeit erkannt. Die Explikation des Begriffs des Ichs Fichte gibt abschließend eine Definition des Begriffs. Er identifiziert dabei Anschauung und Begriff, indem er den Begriff als Anschauung in der Form der Ruhe bestimmt: „Der Begriff ist überall nichts anders, als die Thätigkeit des Anschauens selbst, nur nicht als Agilität, sondern als Ruhe und Bestimmtheit aufgefasst; und so verhält es sich auch mit dem Begriffe des Ich.“ (VnD, GA I,4, 280) Der Begriff stellt somit die Einheit des Ichs als Tätigem, d. h. als Subjekt, und des Ichs als Objekt der Tätigkeit dar. Erst durch die notwendige Einheit von Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Anschauung und Begriff ist das Bewusstsein möglich, der Begriff fungiert somit als Instanz, welche ein vollständiges und damit wirkliches Bewusstsein herstellt: „denn der Begriff erst vollendet und umfasst das Bewusstseyn.“ (VnD, GA I,4, 280) Aus den bisherigen Ausführungen zum Verhältnis von Anschauung und Begriff resultiert nun ein Problem: Zum einen ist der Begriff als Anschauung in Form der Ruhe ein Derivat der Tätigkeit des Anschauens und dieser damit nachgeordnet. Zum anderen ist der Begriff in der Ausführung des Reflexionspostulats der Anschauung vorgeordnet, insofern Fichte diese als ein „Losreißen von der Ruhe“ und damit vom Begriff als fixierter Tätigkeit bestimmt. Fichte löst nun diesen scheinbaren Widerspruch, indem er den Standpunkt des gemeinen Bewusstseins vom Standpunkt der philosophischen Reflexion unterscheidet. So existierten vom Standpunkt des gemeinen Bewusstseins als Standpunkt des Gegebenen213 nur Begriffe und keine Anschauungen als solche, da der Begriff das bewusstlose Produkt der Anschauung sei. Erst die philosophische Reflexion könne den Begriff als Produkt der Anschauung aufzeigen. Auf dem Standpunkt des gemeinen Bewusstseins bzw. auf der ersten Stufe des Reflexionspostulats („Denke dich!“) erscheint der Begriff (des Ichs) als gegeben, da die Anschauung, aus welcher der Begriff hervorgeht, unbewusst bleibt. Daher ist auf diesem Standpunkt der Begriff vor der Anschauung vorhanden. Erst durch den zweiten Schritt des Reflexionspostulats wird vom Begriff zur Anschauung übergegangen, die Tätigkeit des Anschauens wird hier bewusst durch den Gegensatz zum Begriff. So erscheint erst auf dem Standpunkt des Philosophen der Begriff als ein Produkt der Anschauung, da nun die Anschauung als das dem Begriff Zugrundeliegende bewusst gemacht wird. Die Erhebung zum Bewusstsein der Anschauung erfordert so einen Akt der Freiheit. Der Philosoph muss sich bewusst dafür entscheiden, auf die Tätigkeit des Denkens zu reflektieren. Der Begriff fungiert hierbei als das das Handeln des Ichs Bestimmende: Zum Bewusstseyn der Anschauung erhebt man sich nur durch Freiheit, wie es so eben in Absicht des Ich geschehen ist; und jede Anschauung mit Bewusstseyn bezieht sich auf einen Begriff, der der Freiheit die Richtung andeutet. Daher kommt es, daß überhaupt, so 213 Vgl. zu einer Kritik am Standpunkt des Gegebenen als „myth of the given“ Sellars, Wilfrid, Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass./London, 1997. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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wie in unserm besondern Falle, das Object der Anschauung vor der Anschauung vorher daseyn soll. (VnD, GA I,4, 281)
3) Idealismus und Realismus In dem Entwurf eines Briefes an den Jenaer Studenten und begeisterten Anhänger der Französischen Revolution Johann Franz Jakob Brechtel214 vom April/Mai 1795 bezeichnet Fichte die Wissenschaftslehre als „das erste System der Freiheit“: Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation [die französische, S.D.] von den äußern Ketten den Menschen losreis’t, reis’t mein System ihn von den Feßeln der Dinge an sich, des äußern Einflußes los, die in allen bisherigen Systemen, selbst in dem Kantischen mehr oder weniger um ihn geschlagen sind, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbstständiges Wesen hin. (GA III,2, 298)
Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit findet sich in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797). So stellt Fichte hier im Anschluss an Schellings Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795) Idealismus und Dogmatismus als die einzigen möglichen philosophischen Systeme gegenüber. Insofern der Grund der Erfahrung, welche sich Fichte zufolge aus den Komponenten Intelligenz und Ding bzw. Subjekt und Objekt zusammensetzt, außerhalb dieser liegt, führt er die Philosophie, welche den Grund der Erfahrung anzugeben hat, auf einen Akt der Abstraktion zurück. Es könne hierbei entweder vom Ding abstrahiert werden, wobei die Intelligenz qua Ich an sich als Grundprinzip der Philosophie aufgestellt werde. Oder es werde von der Intelligenz abstrahiert, wodurch das Ding an sich zum Prinzip der Philosophie gemacht werde. Während Fichte das erste Verfahren als Idealismus bezeichnet, bestimmt er das zweite Verfahren als Dogmatismus. Da sowohl Idealismus als auch Dogmatismus von einem nicht ableitbaren Grundprinzip ausgehen, wobei Ich an sich und 214 Der Brief war wahrscheinlich nicht an Jens Immanuel Baggesen gerichtet, wie immer wieder in der Forschung behauptet. Diesen Hinweis verdanke ich Klaus Vieweg. (Vgl. Vieweg, Klaus, „Französische Revolution, Schweizer Intellektuelle und Deutsche klassische Philosophie. Zwei Briefe von Johann Gottlieb Fichte an Franz Bernhard Meyer von Schauensee aus dem Jahre 1794 sowie Hinweise auf zwei neue Dokumente für die Fichte-Forschung“, in: Fichte-Studien 8 (1995), S. 291-308, hier: S. 302.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Ding an sich einen Gegensatz bilden, ist eine theoretische Vermittlung zwischen beiden Systemen ausgeschlossen. Fichte führt die Wahl eines philosophischen Systems daher auf eine Verschiedenheit des Interesses zurück. So gibt es Fichte zufolge zwei Hauptgattungen der Menschheit: Während der idealistisch veranlagte Mensch sein Selbstbewusstsein als Selbstständiges, Selbstbestimmtes verstehe, betrachte der dogmatisch veranlagte sein Ich lediglich als ein Abbild der Dinge:215 „[S]ie haben nur jenes zerstreute, auf den Objekten haftende, und aus ihrer Mannichfaltigkeit zusammen zu lesende Selbstbewußtseyn. Ihr Bild wird ihnen durch die Dinge, wie durch einen Spiegel, zugeworfen; werden ihnen diese entrissen, so geht ihr Selbst zugleich mit verloren.“ (ErE, GA I,4, 194) Fichte resümiert: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist.“ (ErE, GA I,4, 195) Man wäre nun versucht zu meinen, die Entscheidung für oder gegen den Idealismus sei, insofern nur auf ein psychologisches Interesse zurückzuführen, nicht sachlich zu begründen. Fichte belässt es aber nicht hierbei, sondern er schließt eine Argumentation an, die den Dogmatismus als theoretisch inkonsistent und daher unsystematisch entlarvt: Während der Idealismus die Intelligenz als SichSehen durch die doppelte Reihe von Zusehen und Sein, Idealem und Reellem expliziert, setze der Dogmatismus im Sinne der UrsacheWirkungs-Relation des Naturmechanismus nur die einfache Reihe des Reellen an. Im Dogmatismus sei im Ausgang vom Ding so keine Ableitung der Vorstellung möglich, er sei nur eine „ohnmächtige Behauptung“ (ErE, GA I,4, 198), da die Dogmatiker „einen ungeheuern Sprung in eine ihrem Princip ganz fremde Welt“ (ErE, GA I,4, 197) vollziehen. Der Dogmatismus sei so gar keine Philosophie, eine immanente Explikation des Bewusstseins sei hier nicht möglich, vielmehr sei das „Seyn für eine mögliche Intelligenz außer demselben“ (ErE, GA I,4, 197). Die Argumentation des Dogmatismus mündet so letztlich in einen performativen Selbstwiderspruch: Indem der Dogmatiker das Bewusstsein bloß als ein „Resultat der Wechselwirkung der Dinge“ (ErE, GA I,4, 197) und damit als „eine sonderbare Täuschung“ (ErE, GA I,4, 199) betrachte, wodurch er die Freiheit des Bewusstseins anzweifle, handle er bereits frei, das Leugnen des Den215 Vgl. auch das bekannte Zitat aus der Grundlage: „Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.“ (GWL, GA I,2, 326, Anm.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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kens sei selbst ein Denken: „Indem sie die Möglichkeit, ihrer Freiheit und Ichheit sich bewusst zu werden, in Zweifel ziehen, sind sie schon jetzt versteckterweise über diesen Punkt in Zweifel.“ (ZwE, GA I,4, 247) Zudem sei das Ding an sich lediglich eine Fiktion, während das Ich an sich im Bewusstsein vorkomme. (Vgl. ErE, GA I,4, 190) Da das Für-sich-Sein des Ichs in der Neuen Darstellung über die doppelte Reihe von Zusehen und Sein bestimmt ist, inkludiert es anders als das Für-sich-Sein des absoluten Ichs in § 1 der Grundlage nun bereits das Sein des Nicht-Ichs und damit Objektbewusstsein. So schreibt Fichte in der Ersten Einleitung: Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst Sehen, geht unmittelbar auf alles, was sie ist, und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seyns, und des Sehens, besteht die Natur der Intelligenz. Was in ihr ist, und was sie überhaupt ist, ist sie für sich selbst; und nur in wie fern sie es für sich selbst ist, ist sie es, als Intelligenz. (ErE, GA I, 4, 196)
Die Konzeption der Wissenschaftslehre als Ideal-Realismus oder RealIdealismus soll die durch Jacobi aufgedeckte Problematik des Dinges an sich und damit den Widerspruch zwischen empirischem Realismus und transzendentalem Idealismus in der kantischen Transzendentalphilosophie lösen.216 Fichte sucht so eine Lösung der Idealismus-Realismus-Problematik durch die Konzeption des Grundprinzips der Wissenschaftslehre als Subjekt-Objektivität. Als Ideal-Realismus ist die Wissenschaftslehre weder bloßer Realismus, der einseitig vom Objekt ausgeht, noch transzendenter Idealismus, der einseitig mit dem Subjekt anhebt. Beide leisten keine Deduktion und haben damit das Problem des Gegebenen. Im Ausgang vom Grundprinzip der Subjekt-Objektivität soll so der Standpunkt des Lebens, d. h. die Annahme einer bewusstseinsunabhängigen Realität, genetisch abgeleitet werden, insofern die Reflexion des Ichs selbst als produktiv aufgezeigt wird. Diese Produktion liegt dem Bewusstsein allerdings im Rücken, weshalb erst die Wissenschaftslehre die scheinbare Unabhängigkeit des Dinges revidiert: Der Realismus, der sich uns allen, und selbst dem entschiedensten Idealisten aufdringt, wenn es zum Handeln kömmt, d. h. die An216 Vgl. zu Jacobis Kant-Kritik Sandkaulen, Birgit, „Das leidige Ding an sich. Kant – Jacobi – Fichte“, in: Kant und der Frühidealismus, hg. v. Jürgen Stolzenberg, Hamburg, 2007, S. 175-203. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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nahme, daß Gegenstände ganz unabhängig von uns außer uns existiren, liegt im Idealismus selbst, und wird in ihm erklärt, und abgeleitet; und die Ableitung einer objectiven Wahrheit, sowohl in der Welt der Erscheinungen, als auch in der intelligiblen Welt, ist ja der einzige Zweck aller Philosophie. – Der Philosoph sagt nur in seinem Namen: Alles, was für das Ich ist, ist durch das Ich. Das Ich selbst aber sagt in seiner Philosophie: So wahr ich bin und lebe, existirt etwas außer mir, daß nicht durch mich da ist. Wie es zu einer solchen Behauptung komme, erklärt der Philosoph aus dem Grundsatz seiner Philosophie. Der erstere Standpunkt ist der rein speculative, der letztere der des Lebens und der Wissenschaft (Wissenschaft im Gegensatze mit der WissenschaftsLehre genommen). Der letztere ist nur vom erstern aus begreiflich; außerdem hat der Realismus zwar Grund, denn er nöthigt sich uns durch unsere Natur auf; aber er hat keinen bekannten und verständlichen Grund: der erstere ist aber auch nur lediglich dazu da, um den letztern begreiflich zu machen. Der Idealismus kann nie Denkart seyn, sondern er ist nur Speculation.“ (ZwE, GA I,4, 210-211, Anm.)
Fichte führt daher drei Stufen der Entwicklung des Bewusstseins an, welche im Sinne einer Bildung zur Freiheit gedeutet werden können: Auf der ersten Stufe steht das Kind. Es handelt zwar nach Gesetzen der Vernunft, diese bleiben aber unbewusst. Die zweite Stufe ist bezeichnet durch den Dogmatismus, welcher die Resultate der Begriffe als Dinge an sich interpretiert. Die dritte Stufe wird expliziert durch die Wissenschaftslehre als das Bewusstsein, dass die Begriffe auf dem gesetzmäßigen Handeln des Ichs und damit auf der Freiheit des Bewusstseins selbst basieren. (Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 26; WLnmK, GA IV,3, 341) Da der Dogmatismus das Ich als bloßes Produkt der Dinge auffasse, handelt es sich für Fichte hierbei um eine materialistische Position. Mit der Kritik am Dogmatismus übt Fichte nun aber auch zugleich Kritik an der empiristischen Philosophie: Fichte hat sich insbesondere mit Hume217 und Locke218 auseinandergesetzt. Für Hume gibt es kein 217 Vgl. Brief an Hufeland vom 3. August 1795: „Es ist mir auch ganz neuerlich durch das Studium der Humischen Schriften ganz ein neues Licht (aufgegangen) – nicht darüber, was dem Kantischen System noch fehlt; […] sondern, wozu eigentlich K. dieses Werk bestimmt hatte…“ (GA III,2, 359) 218 Fichte schreibt im Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das theoretische Vermögen (1795): „Das Ding wirkt durch, und vermittelst dieser seiner Aeusserung auf das Ich selbst, und das Ich ist gar nicht mehr Ich, das durch sich selbst gesezte, sondern es ist in dieser Bestimmung das durch das Ding gesezte. (Die Einwirkung des Dinges auf das Ich, oder der Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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kontinuierliches Selbst, sondern das Bewusstsein des Selbst ist bei ihm nur Produkt einer Abfolge von Perzeptionen. Fichte bezieht sich mit der Kritik an der Auffassung des Bewusstseins als eines bloßen „Schauplatzes“ von Gehalten indirekt auf Hume, der den Geist mit einem Theater vergleicht. Bei Locke ist das Ich durch das Ding gesetzt. So vergleicht Locke den Verstand mit einem passiven Spiegel, der die Bilder der Außenwelt lediglich reflektiert.219 Wissenschaftslehre
Dogmatismus
Philosoph
Subjekt t¨ atig
Philosoph
Intellektuelle Anschauung intern/immanent Rekonstruktion
Methode
Begreifen extern willk¨ urliche Konstruktion
Subjekt–Objekt 1. Begriff+Anschauung Tathandlung/Ich/Vernunft
Objekt 1. Begriff Objekt
2. t¨ atig
2. leidend
3. Form/Gehalt
3. Form
Abb. 8: Methode Wissenschaftslehre vs. Methode Dogmatismus
physische Einfluß der Lockianer, und der neuern Eklektiker, die aus den ganz heterogenen Theilen des Leibnitzischen, und Lockischen Systems ein unzusammenhängendes Ganzes zusammensetzen, welcher aber von dem gegenwärtigen Gesichtspunkte aus, aber auch nur von ihm aus, völlig gegründet ist.)“ (GE, GA I,3, 192) 219 „In the reception of simple ideas, the understanding is for the most part passive. […] These simple ideas, when offered to the mind, the understanding can no more refuse to have, nor alter, when they are imprinted, nor blot them out, and make new ones in itself, than a mirror can refuse, alter, or obliterate the images or ideas, which, the objects set before it, do therein produce.“ (Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding (1689), abridged and edited, with an introduction and notes, by Kenneth P. Winkler, Indianapolis, 1996; II.1.25, S. 39.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Fichtes Auseinandersetzung mit Kant
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4) Fichtes Auseinandersetzung mit Kant Ich möchte die Kommentierung der WL nova methodo und des Versuchs einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre nun unterbrechen, um Fichtes Kantbezug einer detaillierten Analyse zu unterziehen. Fichte setzt sich mit Kant insbesondere in der Ersten Einleitung der Krause-Nachschrift der WL nova methodo und in Abschnitt 6 der Zweiten Einleitung des Versuchs auseinander.220 Dabei sind drei Punkte zentral: Zum Ersten Kants Kritik der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung, zum Zweiten Kants Konzeption des Dinges an sich und zum Dritten Kants Begriff der Deduktion. In Abschnitt 6 der Zweiten Einleitung argumentiert Fichte gegen die von vielen Zeitgenossen und auch von Kant selbst vertretene Position, die Wissenschaftslehre sei ein von der Philosophie Kants gänzlich verschiedenes System. Fichtes Strategie ist es hierbei, die behaupteten Unterschiede auf bloß terminologische Differenzen oder auf Fehlinterpretationen zurückzuführen.
4.1) Kants Verdikt der intellektuellen Anschauung Fichte führt Kants Kritik der intellektuellen Anschauung darauf zurück, dass Kant ein von der Wissenschaftslehre abweichendes Konzept der intellektuellen Anschauung zugrunde lege: So beziehe sich Kants Begriff der intellektuellen Anschauung auf die Hervorbringung eines nicht-sinnlichen Seins durch den Verstand, „also ein Erschaffen des Dinges an sich, durch den Begriff“ (ZwE, GA I,4, 224), wodurch Kants Kritik der intellektuellen Anschauung als „heilloseste[r] Schwärmerei“ (ZwE, GA I,4, 224) eine Strategie zur Abwehr 220 Fichte studiert 1790 Kants Kritik der praktischen Vernunft. Um diese besser zu verstehen, studiert er auch Die Kritik der reinen Vernunft, daneben auch Die Kritik der Urteilskraft. (Vgl. dazu das Manuskript Der Transscendentalen ElementarLehre. Zweiter Theil, in: GA II,1, 299-318; Versuch eines erklärenden Auszugs aus Kants Kritik der Urteilskraft, in: GA II,1, 325-373.) Seine Begeisterung über die Lektüre der Kritik der praktischen Vernunft artikuliert Fichte in einem Brief an seinen Freund Friedrich August Weißhuhn: „Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. […] Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u.s.w. sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher.“ (Fichte an Friedrich August Weißhuhn, Brief vom August/September 1790, GA III,1, 167.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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des Dinges an sich sei. Fichte konzediert nun, dass auch die Wissenschaftslehre ein solches Konzept der intellektuellen Anschauung ablehne, da sie wie Kant nur ein sinnliches Sein annehme und das Ding an sich als ein Unding betrachte. Er unterlegt dem Begriff des Dinges an sich dabei eine von Kant abweichende Bedeutung: Während das Ding an sich bei Kant als epistemologischer Grenzbegriff fungiert und im Kontext der Auflösung der Freiheitsantinomie zu verankern ist, verortet Fichte den Begriff des Dinges an sich im Zusammenhang mit der Zurückweisung des Dogmatismus in einem begründungstheoretischen Kontext. Ding an sich ist hierbei ein durch Abstraktion gewonnenes Prinzip. Insofern Fichte in der Argumentation gegen die Kritik der intellektuellen Anschauung das Ding an sich als ein durch den Verstand hervorgebrachtes, nicht-sinnliches Sein betrachtet, gebraucht er den Begriff des Dinges an sich aber auch im Sinne Kants: Ding an sich ist hier nicht Prinzip, sondern ein Produkt des Verstandes. Die Konzeption der intellektuellen Anschauung, die die Wissenschaftslehre vertrete, sei demgegenüber gar nicht auf ein Sein, sondern auf ein Handeln bezogen, und finde ihre Entsprechung in Kants Begriff der reinen Apperzeption: Die intellectuelle Anschauung, von welcher die WissenschaftsLehre redet, geht gar nicht auf ein Seyn, sondern auf ein Handeln, und sie ist bei Kant gar nicht bezeichnet, (außer, wenn man will, durch den Ausdruck reine Apperception). (ZwE, GA I,4, 225)
An diese Richtigstellung schließt Fichte eine Kritik an Kant an: So habe Kant die reine Apperzeption nicht als Grundlage der Philosophie aufstellen können, da er von der Dichotomie von Theorie und Praxis ausgegangen sei. Indem Kant nicht aufzeigen könne, wie ein unmittelbares Bewusstsein des kategorischen Imperativs möglich sei, könne er Bewusstsein nicht als Selbstbestimmung ausweisen und damit nicht erklären. Im Fortgang des Abschnitts 6 verfolgt Fichte diese Kritik aber nicht weiter, sondern er versucht darzulegen, dass die Wissenschaftslehre die Vollendungsgestalt der kantischen Transzendentalphilosophie darstellt und er nicht angetreten ist, diese zu verabschieden. Nachdem Fichte die Identität von Kants reiner Apperzeption und dem reinen Ich der Wissenschaftslehre als intellektueller Anschauung herausgestellt hat, versucht er diese nun zu belegen. Fichte geht es darum aufzuzeigen, dass die reine Apperzeption als Selbstbewusstsein und damit als intellektuelle Anschauung aufzufassen ist. Er geht dabei auf zwei mögliche EinSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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wände gegen die Identifikation von reiner Apperzeption und intellektueller Anschauung ein: 1. Einwand Dem Kantianer Schulz zufolge kann das reine Selbstbewusstsein bei Kant nicht als intellektuelle Anschauung verstanden werden, da jede Anschauung eine Vorstellung ist. Das reine Selbstbewusstsein sei nun aber nur die transzendentale Bedingung der Vorstellung und damit selbst keine Vorstellung. Fichte widerlegt diesen Einwand durch zwei Argumente: Zum Ersten unterscheidet er den Standpunkt des ursprünglichen Ichs vom Standpunkt des Philosophen. So sei das reine Selbstbewusstsein auf dem Standpunkt des Philosophen eine Vorstellung, da der Philosoph eine begriffliche Konzeption des reinen Selbstbewusstseins habe. Auf dem Standpunkt des ursprünglichen Ichs, auf welchen sich Schulz’ Argument beziehe, sei das reine Selbstbewusstsein hingegen keine Vorstellung, sondern nur deren transzendentale Ermöglichungsbedingung. Schulz’ Vorwurf basiere so auf einer mangelnden Unterscheidung von ursprünglichem Ich und Ich des Philosophen. Fichte macht nun zum Zweiten in Bezug auf den Standpunkt des ursprünglichen Ichs geltend, dass das reine Selbstbewusstsein als intellektuelle Anschauung auch in der Wissenschaftslehre nicht als Vorstellung zu verstehen sei, da eine Vorstellung als vollständiges Bewusstsein aus den Teilelementen intellektuelle Anschauung, sinnliche Anschauung und Begriff bestehe. Schulz’ Einwand sei so unzutreffend, da die Identifikation von intellektueller Anschauung und Vorstellung auf dem Standpunkt des ursprünglichen Ichs auch in der Wissenschaftslehre unzulässig sei. 2. Einwand Kant zufolge müssen alle Vorstellungen begleitet sein können von der Vorstellung „ich denke“. Diese sei nur Produkt der Synthese der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, nicht aber deren Ableitungsprinzip. Fichte unterscheidet hierbei die Position Kants von der Position der Kantianer. Während bei Kant das Ich das Denkende im Denken sei, sei es bei den Kantianern nur ein „mannichfaltiges Denken“ oder ein „Denken überhaupt“. (ZwE, GA I,4, 228, Anm.) Fichte wirft den Kantianern hier eine empiristische Position vor, welcher zufolge das Ich nur Resultat der Vorstellungen, selbst aber kein Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Selbstbewusstsein sei. Diese Position führt nach Fichte in einen infiniten Regress: Das Ich sei nur bedingt durch ein anderes Denken, dieses müsse aber, um bewusst zu sein, selbst wieder gedacht werden und so fort. Fichte verteidigt Kant hierbei gegen die Fehlinterpretation der Kantianer, indem er sich auf eine Stelle in § 16 der Kritik der reinen Vernunft bezieht, an welcher Kant die reine Apperzeption als Selbstbewusstsein bestimmt und dieses als Grund der Vorstellung „ich denke“ ausweist. (Vgl. KrV B 132) In der Halleschen Nachschrift der WL nova methodo trägt Fichte demgegenüber eine verschärfte Kritik an Kant vor, wenn er dessen Ich-Konzeption zum Ersten einen infiniten Regress vorwirft und diesen zum Zweiten darin begründet sieht, dass Kants Ich nur ein Spiegel sei, wodurch Fichte Kants IchKonzeption dem Dogmatismus zuordnet. (Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 49) In einem Brief an Reinhold vom 28. September 1799 bezeichnet Fichte Kant dann als „Dreiviertelskopf“221. Der Ansatzpunkt dieser Kritik findet sich, wie gezeigt, bereits in der Zweiten Einleitung: Durch die Trennung von Theorie und Praxis kann Kant die reine Apperzeption nicht als Selbstbewusstsein qua Selbstbestimmung ausweisen. Die reine Apperzeption stelle bei Kant so nur den höchsten Punkt der theoretischen Philosophie, nicht aber das gemeinsame Prinzip von theoretischer und praktischer Philosophie dar. In der achten Vorlesung der Kollegnachschrift Vom Unterschiede zwischen der Logik und der Philosophie selbst, als ein Grundriss der Logik und Einleitung in die Philosophie (1812/13) heißt es: Ich nannte vorher die Einheit Apperception, Selbstbewußtseyn. Und so möchten wir in dem vorherigen gekommen seyn auf den Grund der Apperception und auf das Bewußtseyn oder Selbstbewußtseyn in allem Wissen. Kant hat diese Apperception erkannt als die Einheit und den Deductionspunct aller Denkgesetze oder Categorien. Das heißt populär: Alle Gesetze des Denkens seyen im Grunde nichts anderes und alles unter diesen Gesetzen als möglich gesetzte Denken sey nichts anders, als jene Apperception selbst, nur weiter bestimmt, die factischen und besonders modifizirten Erscheinungen jenes Grundgesetzes. So spricht er in der Critik der reinen Vernunft; vollzieht aber dort die Deduction selbst nicht; obgleich ein Capitel die Ueberschrift führt: Deduction der Categorien. Doch das sagt er darin: die synthetische Einheit der Apperception, das Ich denke müsse alle meine Vorstellungen begleiten können. Dieß der große Genieblick Kants welcher das ganze Wissen umschuf, Rechenschaft gab er darüber nicht 221 Fichte an Reinhold, Brief vom 28. September 1799, GA III,4, 93. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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und die Wissenschaftslehre ist auch nichts anders als die Klarmachung dieses Gedankens. Darum erscheint in ihr das Ich als Grundlage. Aber Kant sagt, die Apperception sey eine synthetische Einheit, damit meint er, die Einheit komme zu Stande durch Verbindung eines Manichfaltigen […] Ich dagegen habe die Einheit beschrieben nicht als eine synthetische, sondern als eine analytische Einheit; dieses A, als die absolute Sichanschauung der Erscheinung als eines Absoluten, ist; sie wird nicht. Die Selbstanschauung ist die Grundform der Erscheinung und so absolut wie sie selbst mit ihrem Seyn an Gott: also absolute seyend, schlechthin nicht werdend. Ferner habe ich die Sache nicht so dargestellt, als ob die Einheit gesehen würde durch die Manichfaltigkeit hindurch, sondern die Manichfaltigkeit durch die Einheit; die Einheit wird nicht herausgesehen aus dem Manichfaltigen; sondern dieses aus jener. Die Einheit ist nicht Produkt des Manichfaltigen, sondern das Manichfaltige Produkt der Einheit. Also durch eine Analysis der Einheit habe ich entstehen lassen die Manichfaltigkeit. Die Zerstreuung der absoluten Manichfaltigkeit über die Einheit ist ein Hauptpunkt meiner ganzen Philosophie. Die Einheit, Einheit bleibend, erstreckt sich über ein Manichfaltiges hin und äußert sich über ein Manichfaltiges. Es kann wohl seyn, daß Kant auch Recht hat; aber nur untergeordnet. Nehmlich: Nicht zwar absolut ist sie eine synthetische Einheit; sondern eine synthetische ist sie erst unter Voraussetzung, daß eine analytische ist; synthetische erst vermittelst des Hindurchgehens durch das Manichfaltige. In so fern wäre Kantens Satz richtig; der Satz der synthetischen Einheit; nur ist es nicht der erste, der absolute Satz. (ULP-H/L, GA IV,5, 325-326)
Die Umkehrung des Verhältnisses von analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption gegenüber Kant findet sich dabei bereits in Fichtes Frühphilosophie, insofern Fichte das absolute Ich hier als atemporalen Einheitspunkt des Systems konzipiert, welcher die Generierung von Bestimmtheit (Mannigfaltigem) aus Unbestimmtheit (Einheit) leistet. Obgleich Fichte das Prinzip des reinen Ichs im Sinne der Wissenschaftslehre bei Kant findet, muss er, um die Plausibilität der Wissenschaftslehre zu erweisen, die kantische Transzendentalphilosophie als unvollendet aufzeigen. So unterscheidet Fichte Bedingung und Bestimmung: Nach Kant ist alles Bewusstseyn durch das Selbstbewusstseyn nur bedingt, d. h. der Innhalt desselben kann durch irgend etwas außer dem Selbstbewusstseyn begründet seyn; die Resultate dieser Begründung nun müssen den Bedingungen des Selbstbewusstseyns nur nicht widersprechen; die Möglichkeit desselben nur nicht aufheben: aber sie Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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brauchen eben nicht aus ihm hervorzugehen. Nach der WissenschaftsLehre ist alles Bewusstseyn durch das Selbstbewusstseyn bestimmt, d. h. alles, was im Bewusstseyn vorkömmt, ist durch die Bedingungen des Selbstbewusstseyns begründet, gegeben, herbeigeführt; und einen Grund desselben außer dem Selbstbewusstseyn giebt es ganz und gar nicht. (ZwE, GA I,4, 229)
Das Ich als bloß Bedingendes fungiere bei Kant so nur als ein rein formales Prinzip, weshalb Kant aus diesem nicht die Verstandesbegriffe oder Kategorien und die Anschauungsformen Raum und Zeit ableite. Darüber hinaus deutet Fichte in der Unterscheidung von Bedingung und Bestimmung einen Dualismus von Inhalt und Form, Materie und Geist bei Kant an.
4.2) Das Problem des Dinges an sich Fichtes Bewertung der kantischen Konzeption des Dinges an sich ist ambivalent: Auf der einen Seite verteidigt Fichte diese gegen die realistische Fehlinterpretation der Kantianer. Fichte beruft sich hierbei auf Jacobi. Es ist nun aber gerade die Interpretation Jacobis, die der bis in die Gegenwart reichenden realistischen Deutung des Dinges an sich Vorschub leistet. Fichte betont so, dass das Ding an sich bloßes Noumenon, d. h. ein nur notwendig Hinzuzudenkendes, ist. Andererseits kritisiert Fichte den Aspekt des Gegebenen in Bezug auf die Selbstbewusstseinskonzeption Kants. Kant erkläre so nicht, woher der Stoff, d. h. das Materiale der Vorstellung, komme.222 Das Ich sei bei Kant nur Spiegel, da es nicht produktiv sei.223 Fichte sieht so ein Problem in der Entgegensetzung eines spontanen Verstandes und einer rezeptiven Anschauung bei Kant. Fichte zufolge musste Kant allerdings die intellektuelle Anschauung angenommen haben, er habe nur nicht auf diese reflektiert. Bereits in der Aenesidemus-Rezension (1794) entwickelt Fichte die Grundargumentation zum Problem des „leidigen“ Dinges an sich. Die Hauptthese ist hierbei, dass die ursprüngliche Subjekt-ObjektStruktur des Bewusstseins die Unmöglichkeit des Dinges an sich impliziert. Für Fichte wird das Nicht-Ich als absolutes Objekt so nicht 222 Vgl. Fichte an Jacobi, Brief vom 30. August 1795, GA III,2, 391. 223 In der Kritik der reinen Vernunft sei das Ich bei Kant nicht für sich, aber in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Kritik der Urteilskraft. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 442-443) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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durch einen rezeptiven Akt empirischer Anschauung gegeben, sondern durch eine intellektuelle Anschauung produziert: Das ursprüngliche Object wird überhaupt nicht wahrgenommen, und kann nicht wahrgenommen werden. Vor aller andern Wahrnehmung vorher also kann die Anschauung auf ein, ursprünglich dem Subjecte entgegengesetztes, Object, das Nicht-Ich, bezogen werden, welches Nicht-Ich überhaupt nicht wahrgenommen, sondern ursprünglich gesetzt wird. (AR, GA I,2, 47)
Fichte führt die seiner Ansicht nach empirische Vorstellungsstruktur in Reinholds Satz des Bewusstseins dabei auf eine apriorische SubjektObjekt-Struktur zurück. Während das reine Bewusstsein durch die Unmittelbarkeit von Subjekt und Objekt gekennzeichnet ist, sind diese im empirischen Bewusstsein als Vorstellendes und Vorgestelltes vermittelt durch den Akt der Vorstellung. Durch die Vermittlungsstruktur des empirischen Bewusstseins erscheint das Nicht-Ich hierbei als ein extern Gegebenes, während es allerdings im reinen Bewusstsein als transzendentale Differenz zum Ich ein vom Ich Gesetztes ist. Fichte unterscheidet nun skeptisches und kritisches System. Während im Skeptizismus Humes über die Begrenzung des menschlichen Geistes auf ein von diesem unabhängiges Ding an sich hinausgegangen werde, zeige das kritische System gerade die Unmöglichkeit eines solchen Hinausgehens auf. Im Gegensatz zum skeptischen System verfährt das kritische System so negativ-dogmatisch. (Vgl. AR, GA I,2, 57) Fichte führt hierbei die kantische Opposition von Ding an sich und Erscheinung darauf zurück, dass Kants Transzendentalphilosophie lediglich eine Propädeutik und kein System darstelle. So basiere die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung als Unterscheidung der Möglichkeit zweier differenter Formen von Subjektivität, d. h. einem menschlichen und einem nicht-menschlichen Vorstellungsvermögen, darauf, dass Kant die Formen der Anschauung Raum und Zeit nicht auf einen gemeinsamen Grundsatz zurückgeführt habe. (Vgl. AR, GA I,2 61) Gegen Kant macht Fichte so geltend, dass es letztlich nur eine Form von Subjektivität geben könne, nämlich menschliche Subjektivität als absolute, unhintergehbare Subjektivität, welche er in einem absoluten, unmittelbar gewissen Grundsatz zu fundieren sucht. Die Möglichkeit zweier konträrer Formen von Subjektivität würde so dem Programm einer absoluten Begründung von Wissen widersprechen, die ein monistisches System fordert. Bei Kant geht es demgegenüber darum, die Perspektivität Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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menschlicher Subjektivität durch den Gegensatz der Denkbarkeit eines nicht räumlich-zeitlichen Dinges an sich für ein nicht-menschliches Vorstellungsvermögen auszuweisen. Fichte kritisiert so die Koordination von transzendentaler Ästhetik und transzendentaler Logik bei Kant, wobei er gegenüber Kant, welcher den transzendentalen Idealismus im Ausgang von der transzendentalen Ästhetik entwirft, diesen im Anschluss an Kants transzendentale Logik, d. h. die transzendentale Apperzeption („ich denke“ als Grundsatz), entwickelt.224 Vor diesem Hintergrund wird dann auch Fichtes Hauptargument in Bezug auf die Konzeption des Dinges an sich verständlich: Fichte moniert so, dass es sich bei diesem um einen paradoxen Gedanken handle, nämlich die Behauptung, das Ding an sich sei zugleich ein bloß Gedachtes und ein Reales. Der Gedanke eines vom Denken unabhängigen Dinges an sich ist für Fichte ein undenkbarer Gedanke, den noch nie ein Mensch gedacht habe. (Vgl. AR, GA I,2, 61) Ein solches Modell schreibt Fichte Schulze zu, während Kant das Ding an sich als ein Noumenon, d. h. als etwas, das zu allem Denken hinzugedacht werden müsse, verstehe. Fichte ordnet so Kants Ansatz der kritischen Philosophie zu, kritisiert aber, dass Kant diese nicht als System ausgeführt habe. Bezieht Kant allerdings die Denkbarkeit des Dinges an sich auf einen potenziell denkbaren, nicht-menschlichen Verstand, geht es Fichte um die Denkbarkeit des Dinges an sich überhaupt. Als von einem ausgezeichneten Begründungspunkt des Systems der Transzendentalphilosophie könne vom Denken nicht abstrahiert werden, wird die Unabhängigkeit des Dinges an sich vom Denken behauptet, so ist das Ding an sich hierin dennoch ein Gedachtes, nämlich etwas, das als unabhängig vom Denken gedacht werde: [U]nd so haben wir denn zum Grunde dieses neuen Skepticismus ganz klar, und bestimmt den alten Unfug, der bis auf Kant mit einem Dinge an sich getrieben worden ist; gegen den selbst dieser, und Reinhold, so wie es wenigstens dem Rec. scheint, sich noch lange nicht laut und stark genug erklärt haben; und der die gemeinschaftliche Quelle aller skeptischen so wohl als dogmatischen Einwendungen gewesen ist, die sich gegen die kritische Philosophie erhoben haben. Aber es ist der menschlichen Natur gar nicht eingepflanzt, sondern
224 Vgl. Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 124-129. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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es ist ihr vielmehr geradezu unmöglich, sich ein Ding, unabhängig von irgend einem Vorstellungsvermögen, zu denken. (AR, GA I,2, 61)
Und weiter heißt es in der Aenesidemus-Rezension: Den Gedanken des Aenesidemus aber von einem Dinge, das nicht nur von dem menschlichen Vorstellungsvermögen, sondern von aller und jeder Intelligenz unabhängig, Realität und Eigenschaften haben soll, hat noch nie ein Mensch gedacht, so oft er’s auch vorgeben mag, und es kann ihn keiner denken; man denkt allemal sich selbst, als Intelligenz, die das Ding zu erkennen strebt, mit hinzu. (AR, GA I,2, 61)
Ferner: „daß der Gedanke von einem Dinge, das an sich, und unabhängig von irgend einem Vorstellungsvermögen, Existenz, und gewisse Beschaffenheiten haben soll, eine Grille, ein Traum, ein NichtGedanke ist“ (AR, GA I,2, 57). In Abschnitt 6 der Zweiten Einleitung verteidigt Fichte Kant nun gegen die Fehlinterpretation der Kantianer, welche Kants transzendentalen Idealismus im Sinne eines Dogmatismus deuteten. Fichte reagiert hierbei auf Reinholds Vorwurf, er selbst missverstehe Kant, insofern Kant die Erfahrung durch das Ding an sich als eine vom Ich differente Entität begründe, was durch Fichte geleugnet wird. Er führt nun zwei Argumente für seine Kant-Interpretation an: a) Anwendungsbereich der Kausalitätskategorie Bekanntlich wirft Aenesidemus-Schulze Kant eine unzulässige Anwendung der Kausalitätskategorie in Bezug auf das Verhältnis von Erscheinung und Ding an sich vor, obwohl diese ja lediglich auf den Bereich der Erscheinung beschränkt sei. Fichtes Argument gegen Schulzes Kant-Kritik ist hierbei folgendes: Insofern die kategoriale Struktur von Subjektivität nicht transzendiert werden kann, ist die Annahme eines hiervon unabhängigen Dinges an sich nicht möglich, dieses wird bei Kant vielmehr als Grund der Erscheinung als Begründetem erschlossen. b) Ding an sich als Noumenon Fichte spezifiziert nun dieses Argument in einem zweiten Schritt, indem er den Akt des Schließens als notwendiges Denken bestimmt. Beim Ding an sich handle es sich um ein Noumenon, d. h. um etwas, das notwendig zur Erscheinung hinzugedacht werden müsse. Das Begründungsverhältnis von Ding an sich und Erscheinung ist für Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Fichte so ein nur logisches und kein reales. Die Kantianer vertreten Fichte zufolge eine Kombination aus Idealismus und Dogmatismus, insofern sie das Ding an sich zum einen als bloßen Gedanken verstehen, zum anderen diesem aber dann eine reale Wirkung auf das Ich zuschreiben. Hier liege also ein Zirkel in Bezug auf die Bestimmung der Beziehung von Ding an sich und Empfindung (als Materie bzw. Reales der Anschauung) vor. Für Fichte ist das kantische Modell der Transzendentalphilosophie so kohärent, die scheinbar widersprüchlichen Behauptungen zum Ding an sich (als Gedachtes vs. als Gegebenes) können dabei durch die These aufgelöst werden, dass der Gegenstand bei Kant lediglich als affizierend bzw. gegeben gedacht werde. Der Dogmatismus stelle zwar eine notwendige, aber bloß vorläufige Stufe in der Erschließung der kantischen Transzendentalphilosophie dar und resultiere daraus, dass Kants Interpreten die Teile des kantischen Systems erst synthetisieren müssten, während Kant von der Idee des Ganzes ausgehe und dieses analysiere. (Vgl. ZwE, GA I,4, 238-239) Obgleich Jacobi richtig gesehen habe, dass Kant kein vom Ich verschiedenes Ding an sich annehme, unterlaufe auch ihm der Fehler, Idealismus und Realismus als zwei konträre Systemansätze und nicht als zwei verschiedene Standpunkte zu deuten. Jacobi behaupte so fälschlicherweise gegen den Idealismus Kants einen Realismus, da er unterstelle, der transzendentale Idealismus fordere die idealistische Denkart in Bezug auf den Standpunkt des Lebens. Fichte expliziert nun das Verhältnis von Ding an sich und Empfindung bei Kant im Rahmen der eigenen Konzeption des Sich-Setzens. Kant bestimmt die Empfindung als Materie der Anschauung, welche eine subjektive Reaktion des Bewusstseins auf die Affektion durch die Sinnlichkeit darstellt. Die Empfindung darf hierbei allerdings nicht als eine Repräsentation der Eigenschaften des Dinges an sich verstanden werden. (Vgl. KrV B 60) Fichte unterscheidet nun in Analogie zur Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Inhalt bei Kant eine ursprüngliche Beschränktheit von einer bestimmten Beschränktheit des Ichs. (Vgl. ZwE, GA I,4, 242) Die ursprüngliche Beschränktheit des Ichs stellt dabei die bloße Form von Bestimmtheit dar, die bestimmte Beschränktheit hingegen eine inhaltliche Bestimmtheit. Fichte zufolge ist die aus der Möglichkeit des Ichs notwendig resultierende ursprüngliche Beschränktheit nun die Bedingung dafür, dass das Ich sich setzt:
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Diese meine Beschränktheit ist, da sie das Setzen meiner selbst durch mich selbst bedingt eine ursprüngliche Beschränktheit. – Man könnte hier noch weiter erklären wollen; entweder die Beschränktheit meiner, als des Reflectirten, aus der nothwendigen Beschränktheit meiner, als des Reflectirenden, so daß ich mir endlich würde, weil ich nur das Endliche denken kann; oder umgekehrt die Beschränktheit des Reflectirenden aus der Beschränktheit des Reflectirten, so daß ich nur das Endliche denken könnte, weil ich endlich bin; aber eine solche Erklärung würde nichts erklären; denn ich bin ursprünglich weder das Reflectirende, noch das Reflectirte, und keins von beiden wird durch das andere bestimmt, sondern ich bin beides in seiner Vereinigung; welche Vereinigung ich freilich nicht denken kann; weil ich eben im Denken Reflectirtes und Reflectirendes absondere. (ZwE, GA I,4, 242)
Insofern das Sich-Setzen eine unbedingte, absolute Tätigkeit darstellt, kann dieses eigentlich nicht weiter in einer ursprünglichen Beschränktheit fundiert sein. Fichtes Ausführungen im angeführten Zitat lassen sich nun über einen Rückgriff auf die Eingangsparagraphen der WL nova methodo spezifizieren. Fichte führt hier die Beschränktheit des Ichs auf eine ursprüngliche, unbeschränkte Einheit zurück, welche durch Reflexion differenziert wird. Die Ebene der ursprünglichen Beschränktheit bildet dabei gleichsam die formale Bedingung für die Ebene der bestimmten Beschränktheit. Während die erstere die bloße Form der Ichheit expliziert, bezieht sich die letztere auf die empirische Bestimmung der transzendentalen IchStruktur als Mensch und Person. Um nicht einem absoluten Apriorismus bzw. einem bloß subjektiven Idealismus Vorschub zu leisten, spezifiziert Fichte nun die bestimmte Beschränktheit als Zufälliges oder Empirisches der Erkenntnis wiederum als Bedingung der formalen Struktur der Ichheit. Der empirische Inhalt ist hierbei aber nicht aus der transzendentalen Ich-Form abzuleiten:225 Es ist […] aus der Möglichkeit des Ich die Nothwendigkeit einer Beschränktheit desselben überhaupt abgeleitet worden. Die Bestimmtheit derselben aber kann daher nicht abgeleitet werden, denn sie selbst ist ja […] das Bedingende aller Ichheit. Hier sonach hat alle Deduction ein Ende. Diese Bestimmtheit erscheint als das absolut Zufällige, und liefert das bloß Empirische unserer Erkenntniß. (ZwE, GA I,4, 242) 225 Im Gegensatz zu Fichte deduziert Hegel die Kategorie der Zufälligkeit bzw. Kontingenz in der Wissenschaft der Logik. (Vgl. WdL, TWA 6, 202-207) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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4.3) Das Problem der Deduktion Während sich der Begriff der Deduktion in der Begriffsschrift nicht findet, verwendet Fichte diesen in der Grundlage sowohl im Rahmen der drei Grundsätze als auch in der „Deduktion der Vorstellung“. Eine Definition des Deduktionsbegriffs gibt Fichte dann in der WL nova methodo. Hier heißt es: Der Beweiß durch Deduction geht so: Wir können es als das Wesen des menschlichen Geistes annehmen, daß das Ich sich selbst seze, und sich ein Nichtich entgegensetze, nehmen wir dieß aber an, so müßen wir noch manches andere annehmen; dieß heißt DEDUCIREN, von etwas anderm ableiten. Kant sagt: ihr verfahret nur immer nach den Kategorien, die WißenschaftsLehre aber sagt: so gewiß ihr euch, als Ich sezt, müßt ihr so verfahren. In den Resultaten sind beide einig, nur knüpft die WißenschaftsLehre noch an etwas höheres an. (WLnm-K, GA IV,3, 327-328)
Fichte versteht hier unter Deduktion die Ableitung der Bedingungen des Bewusstseins, wobei diese aus dem Zusammenspiel von Analyse und Synthese resultiert. Er macht dabei für die WL nova methodo ein neues Verfahren gegenüber der Grundlage geltend. Fichte grenzt nun zunächst sein Verfahren von dem Reinholds ab, so habe Reinhold lediglich eine Analyse seines Grundsatzes, des Satzes des Bewusstseins gegeben, weshalb seine Philosophie bloß leer, d. h. formal, sei. Im Folgenden möchte ich insbesondere zwei Fragen klären: 1) Wie genau funktioniert das Verfahren der Deduktion bei Fichte und zwar sowohl in Bezug auf die Generierung der Form als auch in Bezug auf die Generierung des Gehalts der Wissenschaftslehre? 2) Welcher Zusammenhang besteht zwischen Deduktion und Grundprinzip der Wissenschaftslehre? 1) In der Ersten Einleitung beschreibt Fichte seine Methode folgendermaßen: Der Weg dieses Idealismus geht, wie man sieht, von einem im Bewußtseyn, aber nur zufolge eines freien DenkActs, Vorkommenden zu der gesammten Erfahrung. […] Das schlechthin Postulirte ist nicht möglich, erweiset er, ohne die Bedingung eines zweiten, dieses zweite nicht, ohne die Bedingung eines dritten u. s. f.; also, es ist unter allem, was er aufstellt, gar keines einzeln möglich, sondern nur in der Vereinigung mit allen ist jedes einzelne möglich. Sonach kommt, seiner eignen Behauptung nach, nur das Ganze im Bewußtseyn vor, und dieses Ganze ist eben die Erfahrung. Er will es näher kennen lernen, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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darum muß er es analysiren, und zwar nicht durch ein blindes Herumtappen, sondern nach der bestimmten Regel der Composition, so daß er unter seinen Augen das Ganze entstehen sehe. (ErE, GA I,4, 206-207)
Während Fichte unter Analyse das Zergliedern eines bereits Vorhandenen versteht, definiert er den Begriff der Synthese in Abgrenzung von dessen Bedeutung bei Kant nicht als bloßes Verbinden, sondern als Entwickeln, als Generierung eines neuen Gehalts. (Vgl. WLnm-H, GA IV,2, 192) Es lassen sich dabei drei Hauptmomente des Konzepts der Deduktion bei Fichte unterscheiden: a) Selbstkonstruktion des Grundprinzips/Deduktion als Synthese Fichte konzipiert sein Grundprinzip als Subjekt-Objekt. Dieses sei kein einseitig Objektives wie Reinholds Satz des Bewusstseins, der eine bloße Tatsache, aber keine Tathandlung expliziere. Wäre das Ich lediglich ein Objekt, dann wäre nur eine Analyse desselben, aber keine Generierung eines neuen Gehalts möglich. Das Grundprinzip konstruiert sich Fichte zufolge so selbst, während der Philosoph dessen Selbstkonstruktion lediglich zusieht. Die Deduktion meint also keine externe Ableitung aus dem Ich-Prinzip vom Standpunkt des Philosophen, sondern eine immanente Selbstdifferenzierung des Ich-Prinzips. Die Deduktion als Selbstkonstruktion ist aber nicht nur subjektiv, womit sie eine willkürliche Konstruktion wäre. Dass die Ableitung im Ausgang vom Ich selbst erfolgt, soll gerade deren Objektivität sichern. So handelt es sich nicht um eine Erfindung des Philosophen, sondern dieser rekonstruiert gerade die notwendige Selbstkonstruktion des Ichs selbst. Die WißenschaftsLehre stellt zuerst auf ein Ich, dieß will sie aber nicht analysiren; dieß würde eine leere Philosophie sein, sondern sie läßt dieses Ich nach seinen eignen Gesetzen handeln, und dadurch eine Welt construiren, dieß ist keine Analyse, sondern eine immer fortschreitende Synthese. (WLnm-K, GA IV,3, 344)
b) Deduktion als Analyse Die Deduktion verfährt allerdings nicht nur synthetisch. Fichte betont auf der anderen Seite die Relevanz des Moments der Analyse. Im Grundprinzip des reinen Ichs ist so bereits die gesamte Erfahrung enthalten. Fichte will also in Kritik an Kant zeigen, wie eine imSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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manente Ableitung des Stoffs der Erfahrung möglich ist. (Vgl. WLnmH, GA IV,2, 148-149) Er bestimmt das Grundprinzip in der WL nova methodo so als ursprüngliche Synthese, wobei er Erfahrung als Analyse dieser Synthese versteht. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 329) Fichte kritisiert im Anschluss an Reinhold, dass Kant keine Deduktion der Kategorien leiste, eine Kritik, die dann auch für Hegel in der Wissenschaft der Logik zentral wird.226 Während Fichte aber in der Grundlage noch eine, wenn auch nicht vollständige, Ableitung der Kategorien und eine rudimentäre Ableitung der Urteilsformen leistet, scheint er dieses Projekt in der WL nova methodo aufgegeben 226 So schreibt Hegel: „So wie die Kantische Philosophie die Kategorien nicht an und für sich betrachtete, sondern sie nur aus dem schiefen Grunde, weil sie subjektive Formen des Selbstbewußtseins seien, für endliche Bestimmungen, die das Wahre zu enthalten unfähig seien, erklärte, so hat sie noch weniger die Formen des Begriffs, welche der Inhalt der gewöhnlichen Logik sind, der Kritik unterworfen; sie hat vielmehr einen Teil derselben, nämlich die Funktionen der Urteile für die Bestimmung der Kategorie aufgenommen und sie als gültige Voraussetzungen gelten lassen. Soll in den logischen Formen auch weiter nichts gesehen werden als formelle Funktionen des Denkens, so wären sie schon darum der Untersuchung, inwiefern sie für sich der Wahrheit entsprechen, würdig. Eine Logik, welche dies nicht leistet, kann höchstens auf den Wert einer naturhistorischen Beschreibung der Erscheinungen des Denkens, wie sie sich vorfinden, Anspruch machen.“ (WdL, TWA 6, 268-269) Ein Vorwurf, der sich bereits bei Reinhold findet: „Es muss dabei die Vollständigkeit dieser Formen selbst erwiesen werden; es muss gezeigt werden, daß nur die vier angegebenen Momente (der Quantität, der Qualität, der Relation und Modalität) und nicht mehr und nicht weniger; und in jedem derselben nur drey Formen der Urtheile und nicht mehr und nicht weniger möglich sind.“ (Reinhold, Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band, S. 315.) Fichte wirft Kant weiterhin vor, er habe den Begriff der Kategorie nicht definiert: „Kant sagt er sei im Besitz der Definition der Kategorie und wolle sie nicht geben, um sich gewißen Einwendungen nicht auszusetzen, deren er sich überheben könnte; dieß ist Kant als ehrlichem Manne zu glauben, jene Schwierigkeiten laßen sich auch wohl einsehen; er war nehmlich ängstlich, seinen Idealismus unverdächtig darzustellen; dieß wird völlig klar, denn wenn man die verschiedenen Ausgaben der Critiken vergleicht, so findet man, daß Kant in der zweiten zurückgegangen ist; er würde diese Zurückhaltung nicht gebraucht haben, wenn er sich Gewandtheit der Sprache zugetraut hätte. Hätte er die Definition gegeben so wäre sein System ganz anders erschienen. Die Kategorien sind die Weisen, wie das unmittelbare Bewustsein zu einem mittelbaren wird, die Weisen wie das Ich aus dem bloßen Denken seiner selbst herausgeht zu dem Denken eines anderen; sie sind nicht etwan etwas bloß verknüpfendes sondern sie sind die Weisen ein Einfaches zu einem Mannigfaltigen zu machen, das Einfache doppelt anzusehen…“ (WLnm-K, GA IV,3, 485) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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zu haben. Man muss hierbei aber Kant insofern in Schutz nehmen, als ihm kein Programm einer logisch-systematischen Deduktion im Sinne einer Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen vorschwebt, sondern dass es ihm vielmehr um die Rechtmäßigkeit der Anwendung von Begriffen a priori auf sinnliche Gegenstände geht. Im Anschluss an Kant bezeichnet Fichte die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori hierbei als Hauptfrage der Philosophie. In der Grundlage behauptet Fichte im dritten Grundsatz, diese Frage durch die Synthesis von Ich und Nicht-Ich beantwortet zu haben. Anscheinend hält Fichte die Frage demnach durch Kant für nicht hinreichend beantwortet. Fichte kritisiert weiterhin, dass es analytische Urteile im Sinne Kants gar nicht gebe, wobei er Synthesis und Analysis qua Verbinden und Trennen als untrennbare Beziehungsstruktur des Bewusstseins kennzeichnet. Er nimmt hierbei allerdings eine Umdeutung von analytisch gegenüber Kant vor. Kant operiert in seiner Urteilslehre mit der Subjekt-Prädikat-Struktur der traditionellen Logik. Analytische Urteile sind nach Kant solche, bei welchen der Prädikatbegriff im Subjektbegriff bereits enthalten ist und somit durch eine Begriffsanalyse freigelegt werden kann. Der Terminus synthetisch ist bei Kant bloß negativ bestimmt als Gegenbegriff zu analytisch. So inkludiert bei synthetischen Urteilen der Subjektbegriff nicht den Prädikatbegriff, weshalb dieser eine materiale und nicht bloß eine formale Erkenntniserweiterung wie bei analytischen Urteilen impliziert. Während analytische Urteile per se a priori, d. h. erfahrungsunabhängig, sind, unterscheidet Kant bei synthetischen Urteilen zwei Klassen: Zum Ersten synthetische Urteile a posteriori, d. h. Erfahrungs- oder Wahrnehmungsurteile. Zum Zweiten synthetische Urteile a priori, wodurch Kant eine gegenüber der Tradition neue Klasse von Urteilen einführt. Indem Kant zeigt, dass Erkenntnis aus der Synthese von apriorischen, transzendentalen Subjektstrukturen (Kategorien) und sinnlich gegebenem Material generiert wird, versucht er, Humes Skeptizismus zu widerlegen, welcher die Allgemeingültigkeit von Erfahrung aufgrund der NichtVerallgemeinerbarkeit von Einzelbeobachtungen durch Induktion leugnet. Die transzendentale Dialektik zeigt demgegenüber, dass die synthetischen Urteile a priori in der Metaphysik unzulässig sind, insofern sie die Grenzen der Erfahrung transzendieren, diese haben also keine konstitutive, sondern qua Ideen nur regulative Funktion. Fichte kritisiert an der Tradition in der WL nova methodo, dass sie die Frage nach objektiver Gültigkeit nur in Bezug auf die Ideen von Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Gottheit, Unsterblichkeit und Freiheit, nicht aber in Bezug auf den Gegenstandsbezug von Vorstellungen überhaupt gestellt habe. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 324) An anderer Stelle kritisiert Fichte, Kant habe nicht erklärt, woher das Materiale der Erkenntnis als Gegebenes komme. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 435) Fichte beantwortet nun die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori mit der Konzeption der Philosophie als Deduktionsprogramm. So grenzt er in der WL nova methodo den eigenen Begriff der Synthesis von dem Kants ab: „Bey Kant heist, wie schon mehrmal gesagt worden, Synthesis bloß die Vereinigung der schon gegebenen Theile […] Bey Fichte aber heißt Synthesis eine Entwickelung, ein Anknüpfen eines ganz neuen vorher nicht vorhanden gewesenen an das vorige.“ (WLnm-H, GA IV,2, 192) In einem Brief an Jacobi heißt es: Sie sind ja bekanntermaßen Realist, und ich bin ja wohl transcendentaler Idealist, härter als Kant es war: denn bei ihm ist doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung; zwar mag Gott wissen, wie und woher, gegeben, ich aber behaupte […], daß selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen producirt werde.227
Insofern Fichte zum einen Synthesis im Sinne einer genetischen Ableitung als immanente Selbstkonstruktion des Bewusstseins auffasst, zum anderen Synthesis und Analysis als zwei Momente einer Beziehungsstruktur versteht, verkürzt sich der bei Kant in dem Dualismus zweier Erkenntnisstämme, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, fundierte Unterschied von a priori und a posteriori auf eine bloß perspektivische Differenz. Wenn man aber das was Kant besonders in der Kritik der reinen Vernunft sagt, daß er die Frage der Philosophie sich richtig gedacht hat; er drückt sie so aus: wie sind synthetische Urteile a Priori möglich, und beantwortet sie so: es giebt eine gewiße Nothwendigkeit, gewiße Gesetze nach denen die Vernunft handelt in Hervorbringung der Vorstellungen, was durch diese Nothwendigkeit, durch diese Gesetze zu Stande gebracht wird, hat Objective Gültigkeit; also von Dingen an sich, von einer Existenz ohne Beziehung auf ein Vorstellendes ist bei Kant nicht die Rede. Es war ein großer Missverstand, daß man das was Kant in seinen Kritiken vortrug für System hielt
(WLnm-K, GA IV,3, 325)
227 Fichte an Jacobi, Brief vom 30. August 1795, GA III,2, 391. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Fichte beantwortet die Frage, warum Kant die von ihm angekündigte Deduktion der Kategorien im Ausgang vom Prinzip „ich denke“ nicht gelungen sei, dahingehend, dass Kant in Bezug auf sein Prinzip in einen „sonderbaren Zirkel“ verfalle: So sagte Kant in einem Abschnitte den er Deduction der Kategorien überschrieb, und stellte jenes Ich denke ausdrüklich als Princip einer solchen Deduction auf. Wäre es von diesem hellen Blike aus, nun nur wirklich zu der angekündigten Deduction gekommen, und wäre der unbegreifliche Mann nicht gleich wieder (von) seinem sonderbaren Zirkel ergriffen worden, worauf er mit seinem ohnmächtigen Bestreben daher in Nichts endet; so wären schon ihm die Ansichten der Wissenschaftslehre entstanden, u. seine Philosophie hätte andere Verdienste als die (einzelner) durchaus vortrefflicher Blike. Jenen durchaus durchgehenden Blik aber hat er denn doch gethan, und durch ihn ist der transscendentale Idealismus (wirklich) erfunden. Er bleibt daher, was er auch jetzt sage der Zeit nach der erste Erfinder desselben. (Vgl. NB, GA II,5, 346, Anm.)
Fichte bestimmt nun die Differenz von a priori und a posteriori zum Ersten mittels der Unterscheidung von Standpunkt des Lebens und Standpunkt der Spekulation: Während a posteriori die Perspektive des gemeinen Bewusstseins beschreibt, in welchem Dinge bereits gegeben sind und damit die Differenz von Vorstellung und Ding vorausgesetzt wird, expliziert a priori die Perspektive des Philosophen, welche eine Ableitung des Dinges aus dem Ich und damit dessen genetische Herkunft sichtbar macht. Zum Zweiten erklärt Fichte die Differenz in Anlehnung an Kant: A priori ist hier gefasst als Strukturierung des Mannigfaltigen durch das Denken, a posteriori ist demgegenüber das, was durch ein Gefühl reiner Anschauung gegeben ist. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 435) Dass für das gemeine Bewusstsein die Deduktion des Dinges (Nicht-Ich) aus dem Ich unsichtbar bleibt, führt Fichte zum einen auf die unbewusste Produktion des Dinges durch die Einbildungskraft und zum anderen auf den nachbildenden Charakter der idealen Tätigkeit zurück.228 Fichte wirft Kant also 228 In § 9 der WL nova methodo leitet Fichte das Ding im Ausgang von der Begrenztheit des Gefühls ab. Das Ich reißt sich hierbei von der Begrenztheit des Gefühls los und projiziert diese als Ding. Für Fichte ist Wahrheit keine Abbildung der Realität gemäß der Repräsentationstheorie als Übereinstimmung von Vorstellung und Ding, sondern vielmehr die Übereinstimmung von Gefühl und Vorstellung. Für Fichte gibt es so keinen transzendenten Dingbezug, sondern lediglich einen immanenten Bezug des Ichs auf das Gefühl. Wahrheit sei Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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das Fehlen eines Systems vor.229 Es lassen sich hierbei zwei Hauptkritikpunkte unterscheiden: Zum Ersten moniert Fichte, Kant habe die Gesetze des geistigen Handelns bloß willkürlich aufgerafft, insofern er diese lediglich aus der Erfahrung übernommen habe: „Das gesammte Handeln des menschlichen Geistes, und die Gesetze dieses Handelns sind bei Kant nicht systematisch aufgestellt, sondern bloß aus der Erfahrung aufgegriffen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 325) Hieraus resultieren dann drei Unterpunkte: Weder sei die Vollständigkeit dieser Gesetze erwiesen noch deren Geltungsbereich ausgewiesen. Darüber hinaus seien die Vermögen Denken, Wollen sowie Lust und Unlust bloß koordiniert, ihr Zusammenhang bleibe im Dunkeln, da sie nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden. Zum Zweiten kritisiert Fichte, Kant habe die objektive Gültigkeit der Vorstellungen nicht bewiesen. Dies sei damit zu erklären, dass Kant nicht deduktiv, sondern nur induktiv verfahre, die Erklärung des Bewusstseins bei Kant gelte daher nur als bloße Hypothese. (Vgl. WLnm-K, so zu verstehen als „Uibereinstimmung mit uns selbst“ (WLnm-K, GA IV,3, 408). Das Ich findet dabei das Gefühl als ursprüngliche Beschränktheit in sich, ohne dieses bewusst zu produzieren. Durch die Reflexion auf sein Begrenztsein setzt sich das Ich hierbei ein Begrenzendes gegenüber. Fichte unterscheidet nun Vorstellung und Ding als zwei Perspektiven auf die ursprüngliche Beschränktheit des Ichs und damit auf den Gegenstand: „Einmal die Reflexion als solche, ohne daß über sie reflectirt werde, und dieß giebt das ohne Zuthun des Ich vorhandne Ding, einmal die Reflexion als eine Bestimmung der Freiheit, und selbst REFLECTIRT, und dieß gibt die Vorstellung des Dings.“ (WLnm-K, GA IV,3, 409) 229 Kant erklärt sich dann gegen Fichtes Deutung: „Hierbey muß ich noch bemerken, daß die Anmaßung, mir die Absicht unterzuschieben: ich habe bloß eine Propädeutik zur Transscendental-Philosophie, nicht das System dieser Philosophie selbst, liefern wollen, mir unbegreiflich ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in Gedanken kommen können, da ich selbst das vollendete Ganze der reinen Philosophie in der Crit. der r. V. für das beste Merkmal der Wahrheit derselben gepriesen habe.“ (Kants Erklärung vom 28. August 1799, AA, XII, 371) So heißt es in den Prolegomena: „Es kann einem Philosophen nichts erwünschter sein, als wenn er das Mannigfaltige der Begriffe oder Grundsätze, die sich ihm vorher durch den Gebrauch, den er von ihnen in concreto gemacht hatte, zerstreut dargestellt hatten, aus einem Princip a priori ableiten und alles auf solche Weise in eine Erkenntniß vereinigen kann. Vorher glaubte er nur, daß, was ihm nach einer gewissen Abstraction übrig blieb und durch Vergleichung unter einander eine besondere Art von Erkenntnissen auszumachen schien, vollständig gesammelt sei, aber es war nur ein Aggregat; jetzt weiß er, daß gerade nur so viel, nicht mehr, nicht weniger, die Erkenntnißart ausmachen könne, und sah die Nothwendigkeit seiner Eintheilung ein, welches ein Begreifen ist, und nun hat er allererst ein System.“ (AA, IV, 322) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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GA IV,3, 325) Während der erste Kritikpunkt die formale Dimension einer fehlenden Deduktion in den Fokus rückt, geht es im zweiten Kritikpunkt um deren inhaltliche Dimension. Erst durch Deduktion, d. h. durch systematische Ableitung, sei zum einen ein System als strukturiertes, in sich logisch kohärentes Ganzes möglich, zum anderen könne erst durch Begründung objektive Gültigkeit, d. h. die Wahrheit von Vorstellungen, bewiesen werden. 2) Als Reaktion auf die Kritik Friedrich Karl Forbergs macht Fichte deutlich, dass das Grundprinzip kein absolut Unbestimmtes, sondern ein durch sich selbst Bestimmtes sei. So schreibt Forberg im Philosophische[n] Journal: Was nicht gedacht werden kann, ist ohne Zweifel als Nichts zu betrachten. Ist das absolute Ich ein Undenkbares, so ist es Nichts; und vom Nichts alles Etwas abzuleiten, das Nichts als Princip alles Wissen aufzustellen – man muß gestehen, mit einer frappanteren Paradoxie könnte sich die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts nicht schließen!230
Fichte antwortet hierauf in Abschnitt 7 der Ersten Einleitung wie folgt: Aber von einem Unbestimmten läßt sich nicht bestimmtes ableiten, die Formel aller Ableitung, der Satz des Grundes, findet da keine Anwendung. Mithin müßte jenes zum Grunde gelegtes Handeln der Intelligenz, ein bestimmtes Handeln seyn, und zwar, da die Intelligenz selbst der höchste Erklärungsgrund ist, ein durch sie selbst, und ihr Wesen, nicht durch etwas außer ihr, bestimmtes Handeln. Die Voraussetzung des Idealismus wird sonach diese seyn: die Intelligenz handelt; aber sie kann vermöge ihres eignen Wesens, nur auf eine gewisse Weise handeln. Denkt man sich diese nothwendige Weise des Handelns abgesondert vom Handeln, so nennt man sie sehr passend, die Gesetze des Handelns: also es giebt nothwendige Gesetze der Intelligenz. (ErE, GA I,4, 200)
Fichte profiliert so seine Version des transzendentalen Idealismus zum einen gegen einen transzendenten Idealismus und zum anderen gegen einen „halben“ Kritizismus. Während der transzendente Idealismus231 bestimmte Vorstellungen aus dem gesetzlosen Han230 Forberg, Friedrich Karl, Briefe über die neueste Philosophie, in: Philosophisches Journal, 6. Band, 1. Heft, (1797), S. 44-88, hier: S. 55-56. 231 In der Grundlage verweist Fichte auf das Modell einer prästabilierten Harmonie und damit auf Leibniz. Der transzendente Idealismus ist hierbei insofern Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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deln der Intelligenz ableite, leite die Wissenschaftslehre aus dem durch die Intelligenz selbst bestimmten Handeln bestimmte Vorstellungen ab, wobei das Gefühl der Notwendigkeit, das die Vorstellungen begleite, auf die Schranken der Intelligenz selbst und nicht auf einen äußeren Eindruck zurückzuführen sei. Das im Dogmatismus zentrale Gesetz der Kausalität sei dabei kein erstes und ursprüngliches Gesetz, sondern nur eine Weise der Verbindung des Mannigfaltigen unter anderen.232 Fichte unterscheidet weiterhin zwei Methoden des transzendentalen Idealismus: Zum Ersten die Ableitung der objektiven Vorstellungen aus den Grundgesetzen der Intelligenz, also die Methode der Wissenschaftslehre. Zum Zweiten die Auffassung der Gesetze, wie sie auf Objekte angewendet werden. Hierbei handle es sich um die „tiefste Stufe“ der Gesetze der Vernunft, die hier als „Kategorien“ bezeichnet würden, wobei behauptet werde, dass die Objekte durch die Kategorien bestimmt werden. Fichte zufolge ist dieses Verfahren als Methode eines halben Kritizismus in folgenden Hinsichten problematisch: 1) Die Gesetze der Intelligenz seien als bloß formale Bestimmungen der Objekte keine materiellen Gesetze. 2) Es werde kein Grund dafür angegeben, dass es immanente Gesetze der Intelligenz seien. Die Gesetze der Intelligenz seien so nur durch Abstraktion aus der Erfahrung, d. h. durch Induktion, gewonnen. Dies gelte auch für den Fall, dass die Gesetze der Intelligenz aus der Logik abgeleitet werden, da die Logik auch nur Abstraktionsprodukt der Objekte und damit der Erfahrung sei. So seien die Gesetze der Intelligenz im Dogmatismus nur allgemeine, im Wesen der Dinge begründete Eigenschaften. 3) Es werde nicht erklärt, warum die Intelligenz auf eine bestimmte Weise handelt. 4) Die Entstehung des Objekts werde nicht erklärt, insofern nicht einsichtig gemacht werde, woher der Stoff, der durch die Gesetze der transzendent, als er das notwendige Handeln der Intelligenz durch eine prästabilierte Harmonie und damit von außen erklärt: „daß das Ich schlechthin und unabhängig von aller Einwirkung des Nicht-Ich ein Vermögen habe, willkührlich ein vermindertes Quantum der Realität in sich zu setzen; die Voraussetzung des transscendenten Idealismus, und namentlich der prästabilirten Harmonie, welche ein solcher Idealismus ist.“ (GWL, GA I,2, 303) In der Zweiten Einleitung vertritt Fichte allerdings eine positive Leibniz-Deutung, wenn er diesen als einzigen in der Geschichte der Philosophie bezeichnet, der von seinem System überzeugt sein konnte. (Vgl. ZwE, GA I,4, 265) 232 So leitet Fichte im theoretischen Teil der Grundlage die kantischen Kategorien der Relation Inhärenz-Subsistenz, Kausalität-Dependenz und Gemeinschaft (Wechselwirkung) ab. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Intelligenz bestimmt werde, komme. Der halbe Kritizismus leiste so keine wirkliche Kritik am Dogmatismus, da er nicht die Entstehung des Dinges erkläre. 5) Es werden nur die Gesetze der theoretischen Vernunft, nicht aber die der praktischen Vernunft und der Urteilskraft aufgestellt, d. h., es werde nur die äußere Erfahrung erklärt. (Vgl. ErE, GA I,4, 201-203) In einer Anmerkung nennt Fichte als Beispiel hierfür Jacob Sigismund Becks Einzig möglichen Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurtheilt werden muß (1796). (Vgl. ErE, GA I,4, 203, Anm.) In der WL nova methodo führt Fichte die genannte Kritik, wie gezeigt, explizit gegen Kant an. Die Wissenschaftslehre als vollständiger transzendentaler Idealismus gehe demgegenüber von einem einzigen Grundgesetz der Vernunft aus, welches unmittelbar im Bewusstsein nachgewiesen werde. Das Reflexionspostulat expliziere dabei die Einheit von Freiheit und Notwendigkeit im Grundprinzip: Durch die Aufforderung, einen bestimmten Begriff mit Freiheit zu denken, werde der Aufgeforderte zu einem bestimmten Verfahren genötigt. Der geforderte Denkakt werde so zum einen durch Freiheit vollzogen, zum anderen sei dieser Vollzug nur auf eine bestimmte notwendige Weise möglich. Es handle sich um ein Gefundenes, dessen Finden aber durch Freiheit bedingt sei. Das durch Notwendigkeit charakterisierte Grundprinzip fungiere als Grundgesetz der ganzen Vernunft, aus welchem das System der notwendigen Vorstellungen abgeleitet werde und das sind für Fichte hierbei nicht nur die theoretischen Vorstellungen der Welt, sondern auch die Vorstellungen von uns selbst als praktischen Wesen unter Gesetzen. (Vgl. ErE, GA I,4, 204-205) Hierin kommt noch einmal die theoretisch-praktische Doppelfunktion des Grundprinzips der Wissenschaftslehre zum Ausdruck.
5) Die Fortbestimmung des Grundprinzips zum reinen Willen (§ 13) In einem Brief an Jacobi vom 30. August 1795 schreibt Fichte: „Mein absolutes Ich ist offenbar nicht das Individuum: so haben beleidigte Höflinge und ärgerliche Philosophen mich erklärt, um mir die schändliche Lehre des praktischen Egoismus anzudichten. Aber das Individuum muß aus dem absoluten Ich deducirt werden.“233 In der WL nova methodo 233 Fichte an Jacobi, Brief vom 30. August 1795, GA III,2, 392. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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führt Fichte diese Deduktion vor, nun allerdings im Sinne der veränderten Konzeption im Ausgang vom Prinzip der endlichen Vernunft überhaupt: Fichte vertritt also keinen Solipsismus, sondern muss vielmehr als Entdecker des Intersubjektivitätsproblems betrachtet werden. Der Idealismus geht aus von dem Sichsetzen des Ich, oder von der endlichen Vernunft überhaupt; aber wenn von einem überhaupt die Rede ist, so ist dieß ein unbestimmter Begriff […] nun sieht der Idealist dem Bestimmen der Vernunft in ihren Begrenzungen zu, und läßt durch das Bestimmen ein vernünftiges Individuum, ein würkliches Vernunftwesen werden, welches etwas ganz anderes ist als der unbestimmte Begriff vom Ich. (WLnm-K, GA IV,3, 341)
So depotenziert Fichte das Bewusstsein des Ichs in § 13 zum zweiten Mal: Ich hat uns bisher bedeutet in sich zurückgehende Thätigkeit, aber damit können wir jetzt nicht weiter auskommen: dieses charakterisirt nur vernünftige Wesen vor anderen vernunftlosen Objecten, auch wird sich in Zukunft zeigen, daß in sich zurückgehende Thätigkeit auch den organischen Naturproducten zukomme. Wir müßen daher noch dieses hinzusetzen: daß mit der in sich zurückgehenden Thätigkeit der Gedanke derselben verbunden sei. Es entsteht aus der Bestimmtheit durch mich selbst ein Gefühl, und aus diesem der Gedanke meiner selbst. Also ich finde mich als Object und bin mir selbst Object; aber ich kann mich unter keiner anderen Bedingung finden, als daß ich mich finde als INDIVIDUUM unter mehreren geistigen Wesen. (WLnm-K, GA IV,3, 445)
Die Einführung des reinen Willens Die Konkretisierung des Grundprinzips in den §§ 6 – 12 hat zu einem unbefriedigenden Resultat geführt: Das Verhältnis von reeller Wirksamkeit und Erkenntnis des Objekts, von praktischem und theoretischem Weltbezug stellt einen Zirkel dar, welcher die Erklärung des Bewusstseins unmöglich macht. Bereits in § 4 hat Fichte die praktisch-theoretische Einheitsstruktur des Grundprinzips des Ichs aufgezeigt. Die Konkretisierung der abstrakten Grundstruktur fördert nun einen Zirkel zutage, welcher seine Auflösung im reinen Willen als einem synthetischen Begriff findet.234 Dieser Zirkel resultiert aus 234 Vgl. zur transzendentalen Fundierung des Zirkels Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 148-152; Schwabe, Individuelles und Transindividuelles Ich, S. 513-526; Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 87-93. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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der Subjekt-Objekt-Differenz im Weltbezug des empirischen Ichs. Objekt der Erkenntnis und des empirischen Wollens ist hier ein vom Ich verschiedener Gegenstand: [D]er Umfang unserer Untersuchung, von der äusersten Grenze des gesamten Bewustseins aus, hat sich mir verengert, wir sind dem Mittelpuncte näher gekommen; wir sehen jetzt ein, in welchen Zirkel wir uns verwickelt haben, und durch das Aufzeigen dieses Zirkels werden wir weiter kommen. Handeln ist nur unter Bedingung des Erkenntißes vom Objecte möglich, lezteres aber ist nur möglich unter Bedingung des Handelns; von der Einsicht in diesen Zirkel hängt die Einsicht in den kritischen Idealismus ab. (WLnm-K, GA IV,3, 435-436)
a) Charakterisierung des reinen Willens Der reine Wille stellt eine Fortbestimmung oder Spezifikation des Grundprinzips dar. So fungiert er als Einheitsgrund des theoretischpraktischen Ichs. Die ursprüngliche Synthesis des Ichs als SubjektObjekt wird von Fichte somit nun als „reiner Wille“ oder auch als „bloße Form des Wollens“ (WLnm-K, GA IV,3, 439) bezeichnet. b) Funktionen des reinen Willens In § 3 kennzeichnet Fichte Freiheit als unmittelbares Objekt des Bewusstseins. Dieses Objekt spezifiziert Fichte in § 13 als reinen Willen. Der reine Wille stellt dabei die transzendentale, apriorische Grundstruktur des empirischen Wollens dar. Es handelt sich um den theoretisch-praktischen Einheitspunkt des Bewusstseins, eine abstrakte, allgemeine Form des Wollens. Der reine Wille kann nun nur Objekt des Bewusstseins und damit der idealen Tätigkeit als Reflexion sein, wenn er in sich selbst eine Differenz enthält. So versteht Fichte den reinen Willen als einen synthetischen Begriff und charakterisiert diesen als Einheit von Freiheit und Beschränktheit: „Wir müßten eine Freiheit aufzeigen die nicht Freiheit wäre, wenn sie nicht beschränkt würde, und eine Beschränkung die nicht beschränkt würde, wenn sie nicht frei wäre. Es müßte ein X geben, in welchem beide vereinigt wären.“ (WLnm-K, GA IV,3, 436) Ferner: „Unser synthetischer Begriff ist Freiheit und Bestimmtheit in Einem, Freiheit in wiefern angefangen wird, Bestimmtheit in wiefern nur so angefangen werden kann.“ (WLnm-K, GA IV,3, 438) Diese basale Struktur lässt sich als unbestimmte Bestimmtheit oder bestimmte Unbestimmtheit charakterisieren. Bereits in § 5 der Grundlage sagt Fichte, dass das absolute Ich Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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in sich eine Verschiedenheit aufweisen müsse, um einer Bestimmung von außen zugänglich zu sein. Die Freiheit des Ichs lässt sich explizieren als ursprüngliche Selbstbestimmung, die sowohl praktisch (Freiheit als Unbestimmtheit) als auch theoretisch (Beschränktheit als Bestimmtheit) ist. Auf der einen Seite ist die Freiheit im reinen Willen beschränkt: Das Ich ist als Selbstbestimmung bestimmt. Auf der anderen Seite ist die Beschränktheit hierin selbst frei: Das Ich ist dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen.235 Diese basale Einheitsstruktur fungiert zum Ersten als Ableitungspunkt des Individuums, d. h. des empirischen Wollens und damit des gesamten Bewusstseins. Zum Zweiten garantiert erst die allgemeine Struktur des reinen Willens die Identität des Individuums. Zum Dritten stellt der reine Wille die Schnittstelle von intelligibler und sinnlicher Welt dar und erfüllt hierbei die Funktion eines Verbindungsglieds. Fichte bezeichnet den reinen Willen im Anschluss an Kant dabei als kategorischen Imperativ. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 440) c) Primat der Praxis Nur weil wir in unserem praktischen Weltbezug Zwecke entwerfen, erkennen wir Objekte. Der theoretische Weltbezug hat somit den praktischen Weltbezug zu seiner Voraussetzung. So schreibt Fichte in der Grundlage des Naturrechts: Es wird behauptet, daß das praktische Ich das Ich des ursprünglichen Selbstbewußtseins sei, daß ein vernünftiges Wesen nur im Wollen unmittelbar sich wahrnimmt, und sich nicht, und demzufolge auch die Welt nicht wahrnehmen würde, mithin auch nicht einmal Intelligenz sein würde, wenn es nicht ein praktische Wesen wäre. Das Wollen ist der eigentliche Charakter der Vernunft […] Das praktische Ver-
235 Laut Zöller liegt der Konzeption des reinen Willens ein veränderter Freiheitsbegriff zugrunde: „Wenn Freiheit ‚rein gedacht‘ wird, dann handelt es sich nicht mehr um die Freiheit der Wahl zwischen alternativen Triebzielen. Mit dem Begriff des reinen Willens verlässt Fichte die von Reinhold vorgenommene Einschränkung des Willens auf die Willkür und die damit einhergehende Reduktion von praktischer Freiheit auf Wahl- oder Willkürfreiheit. Er schließt sich jetzt explicite Kants diesbezüglicher Kritik an Reinhold an und übernimmt grundsätzlich das Kantische Bikonditional von Freiheit und sittlicher Autonomie.“ (Zöller, Günter, „Bestimmung zur Selbstbestimmung: Fichtes Theorie des Willens“, in: Fichte-Studien 7 (1995), S. 101-118, hier: S. 115.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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mögen ist die innigste Wurzel des Ich, auf dieses wird erst alles andere aufgetragen und daran geheftet. (GNR, GA I,3, 322)
Es lassen sich dabei drei Dimensionen des Praktischen bei Fichte unterscheiden, welchen drei verschiedene Ebenen der Wissenschaftslehre korrespondieren, die im Sinne einer zunehmenden Konkretisierung interpretiert werden können:236 In der ersten, weitesten Bedeutung meint praktisch die Einheit von Theorie und Praxis auf der Ebene der allgemeinen Wissenschaftslehre als prima philosophia. Diese kommt in der Kennzeichnung des absoluten Ichs als Tathandlung und der Auffassung der Vernunft als Tun zum Ausdruck. Fichtes Wissenschaftslehre lässt sich in dieser Hinsicht als Handlungstheorie charakterisieren. Die zweite Dimension des Begriffs des Praktischen bezieht sich auf die praktische Dimension der Wissenschaftslehre im allgemeinen Sinne, wie sie Fichte im praktischen Teil der Grundlage expliziert. Praktisch meint hierbei die Objektkonstitution durch das Streben des Ichs, d. h. dessen sinnlich-praktischen Aspekt. So kommt die grundlegende Bestimmungsstruktur von Identität und Widerspruch in der Selbstbestimmung des Ichs, welches sich als das das Nicht-Ich Bestimmende bestimmt, zum Ausdruck. Die in den ersten drei Grundsätzen der Grundlage entwickelte Bestimmungsstruktur bildet das logische Grundgerüst des theoretischen und des praktischen Teils der Grundlage. Im dritten Sinne bezieht sich der Begriff des Praktischen bei Fichte auf die moralisch-ethische sowie rechtliche Dimension des Ichs. Am Ende der WL nova methodo nimmt Fichte eine Deduktion der Einteilung der Wissenschaftslehre vor. Fichte unterscheidet die allgemeine Wissenschaftslehre, d. h. die Grundlage, von deren Anwendung, der konkreten Wissenschaftslehre. Während die Grundlage die Grundbegriffe der Wissenschaftslehre erörtert, leistet die besondere Wissenschaft, welche sich in theoretische und praktische Wissenschaft differenzieren lässt, deren vollständige Bestimmung. So konzipiert Fichte die besondere Wissenschaftslehre als System der Sittenlehre und Grundlage des Naturrechts, welche logisch-deduktiv nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, d. h. dem Komplex der ursprünglichen Handlungen des Ichs, entfaltet werden. Dabei ist sowohl der Rechts- wie der Sit236 Hierzu Breazeale, Daniel, „Die systematischen Funktionen des Praktischen bei Fichte und dessen systematische Vieldeutigkeit“, in: Fichtes praktische Philosophie. Eine systematische Einführung, hg. v. Hans Georg von Manz, Günter Zöller, Hildesheim, 2006, S. 39-72. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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tenlehre eine logisch-dialektische Grundstruktur unterlegt, welche die logische Verfassung der hier entfalteten Interpersonalitätstheorie expliziert.237 Klaus Hammacher spricht in diesem Zusammenhang von einer praxologischen Dialektik bei Fichte.238 So korrespondiert z. B. der Teilbarkeitssynthesis der drei Grundsätze der Grundlage in der Grundlage des Naturrechts die Struktur des ersten Hauptstücks.239 Hier findet sich in Bezug auf die Genese des konkreten Selbstbewusstseins, des endlichen vernünftigen Wesens die triadische Form von erstens Sich-Setzen durch die Zuschreibung einer freien Wirksamkeit, zweitens Entgegensetzung von Sinnenwelt und Alter Ego und drittens die wechselseitige Limitation der freien Handlungen der verschiedenen Vernunftwesen in einer rechtmäßigen Aufteilung ihrer Freiheitssphären.240 Während die Grundlage des Naturrechts die äußeren Bedingungen der Freiheit erörtert, stehen im System der Sittenlehre deren innere Bedingungen zur Debatte. Das System der Sittenlehre entfaltet so eine Struktur interner Selbstbeschränkung gemäß dem Sittengesetz. In Bezug auf die in der angewandten praktischen Philosophie präsentierte Aufforderungs- und Anerkennungslehre ist allerdings zu fragen, ob sich hier eine mit dem Ansatz der Limitation nicht mehr vollkommen zur Deckung zu bringende dialektische Struktur findet. Fichte expliziert die Aufforderung in der WL nova methodo als Bestimmbarkeit, in welcher das Ich zugleich gebunden und ungebunden ist, und damit als offene Bestimmung, als Bestimmung zur Selbstbestimmung. Ein freies Wesen ist demnach insofern bestimmt zur Freiheit, als es sich in der Aufforderung durch ein anderes freies Wesen einen Zweckbegriff entwirft, in welchem Selbst- und Fremdbestimmung ineinandergreifen. Statt der statischen Teilbarkeitsstruktur des dritten Grundsatzes findet sich hier ein Modell dynamischer Wechsel237 Zur Unterscheidung von Interpersonalitäts- und Intersubjektivitätstheorie vgl. Crone, Fichtes Theorie konkreter Subjektivität, S. 127. Während im Naturrecht die Theorie der Intersubjektivität auf das faktische Handeln im Rechtsverhältnis bezogen sei, integriere Fichte in der WL nova methodo die Intersubjektivitätslehre in die transzendentale Grundlagentheorie. In Bezug auf das Naturrecht sei so die Rede von Interpersonalität angebracht, während in Bezug auf die WL nova methodo von Intersubjektivität gesprochen werden könne. So heißt es in der WL nova methodo: „Das NaturRecht bezieht sich lediglich auf den empirischen Willen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 441) 238 Vgl. Hammacher, Fichtes praxologische Dialektik. 239 Vgl. Düsing, Edith, Intersubjektivität und Selbstbewusstsein, S. 245. 240 Vgl. ebd., S. 245. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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wirkung, insofern nun nicht mehr eine äußerliche Bestimmung von Ich und Nicht-Ich, sondern das Verhältnis von gleichberechtigten Individuen im Fokus steht. d) Warum wird sich das Ich im Wollen objektiv? Das Objekt-Werden des Ichs weist eine intersubjektive Dimension auf: Der reine Wille stellt insofern die Grundform von Intersubjektivität dar, als das Ich erst in der Aufforderung durch das andere Ich, d. h. in der Wechselwirkung zwischen verschiedenen Ichen, ein Wollendes ist. Das Ich findet sich selbst als Ich im Wollen, wobei dieses auf die Aufforderung zu handeln zurückzuführen ist. Wollen stellt hierbei die Ermöglichungsbedingung des Handelns dar. Das empirische Wollen ist so in einem reinen Wollen fundiert. Dieser reine Wille ist etwas bloß intelligibles, wird aber in wiefern es sich durch ein Gefühl des Sollens äusert, und zufolge deßen gedacht wird, aufgenommen in die Form des Denkens überhaupt als ein bestimmtes im Gegensatze eines bestimmbaren, dadurch werde ich das Subject dieses Willens, ein Individuum, und als bestimmbares dazu wird mir ein Reich vernünftiger Wesen. (WLnm-K, GA IV,3, 447)
e) Wie wird sich das Ich im reinen Wollen selbst objektiv? Fichte kennzeichnet das reine Wollen im Anschluss an Kant als kategorischen Imperativ, d. h. als unbedingte Forderung. Der reine Wille wird sich selbst objektiv, insofern er sich reflektiert. Fichte bezeichnet die Reflexion dabei als Selbstbestimmung. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 498) Im reinen Wollen wird nichts Bestimmtes gewollt, es handelt sich vielmehr um die Grundform des Wollens, d. h. um kein individuelles, kontingentes, sondern um ein überindividuelles Wollen, die allgemeine Struktur von Subjektivität. Fichte geht es hierbei um eine apriorische, prinzipielle Grundlegung des empirischen Wollens. Er charakterisiert den reinen Willen so als reine Selbstbestimmung und das reine Wollen als „wahre[s] Ich“ (WLnm-K, GA IV,3, 439). Während der Mechanismus als Übergehen von Bestimmtheit zu Bestimmtheit, d. h. als deterministische Kausalkette, zu betrachten ist, lässt sich Freiheit als Übergehen von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit kennzeichnen. Was Freiheit ausmacht, ist somit das Ansetzen eines Möglichkeitsraums, aus dem durch das Bewusstsein gewählt wird. Unbestimmtheit macht also die zentrale Komponente aus, die den Mechanismus von Bewusstsein als Freiheit unSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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terscheidet. Freiheit ist hierbei das zentrale Charakteristikum von Bewusstsein. Fichte zufolge behauptet Kant einen Dualismus von Sinnenwelt und intelligibler Welt, von Notwendigkeit und Freiheit. Diesen Gegensatz versucht Fichte in einem ursprünglich synthetischen Begriff zu überwinden. Dieser fungiert als Brücke, d. h. als Mittelglied, zwischen beiden Welten. In der Grundlage garantiert das absolute Ich als „Förmlichkeit überhaupt“ die Einheit des Bewusstseins. In der WL nova methodo erfüllt diese Funktion der reine Wille und damit ein primär praktisch konnotiertes Grundprinzip. Fichte geht es hierbei aber um die Erklärung des Bewusstseins überhaupt. Das so reformulierte Prinzip darf daher nicht einseitig praktisch interpretiert werden, sondern es handelt sich bei diesem vielmehr um den theoretisch-praktischen Einheitsgrund des Bewusstseins.241 Mit der Einführung des reinen Willens sucht Fichte dabei eine Frage zu beantworten, die bislang noch keine befriedigende Antwort erhalten hat: Wie ist ein Herausgehen aus dem unmittelbaren Bewusstsein (§ 3) möglich? In § 5 der Grundlage schreibt Fichte: Soll aber das Nicht-Ich überhaupt etwas im Ich setzen können, so muß die Bedingung der Möglichkeit eines solchen fremden Einflusses im Ich selbst, im absoluten Ich, vor aller wirklichen fremden Einwirkung vorher gegründet seyn; das Ich muß ursprünglich, und schlechthin in sich die Möglichkeit setzen, daß etwas auf dasselbe einwirke; es muß sich, unbeschadet seines absoluten Setzens durch sich selbst, für ein anderes Setzen gleichsam offen erhalten. Demnach müßte schon ursprünglich im Ich selbst eine Verschiedenheit seyn, wenn jemals eine darein kommen sollte; und zwar müßte diese Verschiedenheit im absoluten Ich, als solchem, gegründet seyn. (GWL, GA I,2, 405)
Ein Herausgehen aus dem Ich wäre demnach nur möglich, wenn dieses eine interne Struktur, d. h. eine interne Differenz, aufweisen würde.242 Fichte spezifiziert den reinen Willen qua Erklärungsgrund des Bewusstseins als Synthese von Freiheit und Beschränktheit und somit als basale Form einer unbestimmten Bestimmtheit oder bestimmten Unbestimmtheit, als Identität der Identität und der Differenz. Das Herausgehen aus dem reinen Willen lässt sich als Empirisierung durch Selbstverobjektivierung bestimmen. Fichte führt den 241 Wäre der reine Wille ein bloß praktisches Prinzip, dann wäre die Reflexion qua ideale Tätigkeit nicht zum Grundprinzip gehörig. 242 Vgl. hierzu auch Zöller, Bestimmung zur Selbstbestimmung, S. 112-117. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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reinen Willen so zunächst nur als Hypothese, d. h. als bloßen Erklärungsgrund, des Bewusstseins ein. Soll der reine Wille aber als Realgrund und damit als Ableitungsprinzip des Bewusstseins fungieren, dann muss Fichte zeigen, wie der reine Wille Objekt des Bewusstseins werden kann. Dies führt er in der Ableitung des empirischen Wollens aus dem reinen Willen vor.243 f ) Rückbezug auf die intellektuelle Anschauung In § 1 wies die intellektuelle Anschauung eine genuin theoretische Prägung auf: Sie war eingeführt als unmittelbares Bewusstsein des Sich-Denkens. Aber bereits hier wurde der praktische Charakter des Ichs angedeutet: Das Sich-Denken ist Fichte zufolge ein Handeln, welches sich auf ein Handeln bezieht, und welches durch eine Aufforderung erfolgen soll. So kommt bereits in § 1 die intersubjektive Dimension des Ichs ins Spiel, wenngleich diese als Voraussetzung noch unexpliziert bleibt. Fichte greift die intellektuelle Anschauung in § 13 in der Reformulierung des Grundprinzips als reiner Wille wieder auf. In § 1 kennzeichnete Fichte die intellektuelle Anschauung als Sich-Setzen als sich setzend. Diese Bestimmung erweist sich allerdings als Unterspezifikation, als Vorgriff auf einen noch nicht abgeleiteten Wissensstand. So heißt es zu Beginn von § 6: Wir haben jezt unser bestimmtes Ziel, bei dem wir ankommen müßen, wir haben schon die Vollendung im Auge. Wenn wir dahin kommen, wo wir begreifen, daß das Ich sich selbst seze, als durch sich selbst gesezt, so ist unser System geschloßen, und dieß ist der Fall beim Wollen. (WLnm-K, GA IV,3, 373)
In § 13 erhält die intellektuelle Anschauung nun eine praktische Bedeutung, sie ist hier gefasst als intellektuelle Anschauung des Wollens. Wie charakterisiert Fichte die intellektuelle Anschauung in 243 Edith Düsing zufolge ist die Theorie der Intersubjektivität kein Bestandteil der Wissenschaftslehre qua prima philosophia. Die Aufforderung als empirische Variante des Anstoßes tauche so nur in der WL nova methodo auf, da diese nicht mehr wie die Grundlage eine bloße Prinzipientheorie sei, sondern auch die Herabstufung des allgemeinen Ichs zum konkreten Subjekt beinhalte. (Vgl. Düsing, Edith, Intersubjektivität und Selbstbewusstsein, S. 261-262.) Fichte reagiert in der WL nova methodo nun aber gerade auf den gegenüber der Grundlage geäußerten Vorwurf des Solipsismus, indem er Intersubjektivität in die Wissenschaftslehre qua Prinzipientheorie integriert. Bereits der praktische Teil der Grundlage ließ ja eine mögliche Interpretation des Anstoßes im Sinne der Aufforderung zu. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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§ 13? Die intellektuelle Anschauung ist, da sie als unbedingte Tätigkeit bestimmt ist, nicht zeitlich. Erst durch das diskursive Denken wird die Einheit der intellektuellen Anschauung geteilt und fällt so in die Zeit. Fichte zufolge stellt das Übergehen von Bestimmbarkeit zu Bestimmtheit die Form der sinnlichen Anschauung dar, die intellektuelle Anschauung versteht er als unmittelbares Anschauen einer bloßen Bestimmtheit. In den Eingangsparagraphen war das Ich aber nun gerade als Übergehen von Unbestimmtheit oder Bestimmbarkeit zu Bestimmtheit gekennzeichnet, die intellektuelle Anschauung als Zusehen explizierte hier das Für-sich-Sein des Ichs, das als sich selbst sehendes Auge sowohl reale als auch ideale Tätigkeit umfasste. In § 13 kommt es zu einer seltsamen Wendung, die in Zusammenhang mit einer erneuten Depotenzierung des Ichs steht. Bestimmt Fichte die intellektuelle Anschauung als unmittelbares Bewusstsein, so heißt es nun von dieser, dass sie eben nicht unmittelbar sei, sondern nur durch Reflexion und Abstraktion zustande zu bringen sei. Wie sind beide Behauptungen zu vereinbaren? Schon in § 1 war deutlich, dass die intellektuelle Anschauung als in sich gedoppelte Anschauung der Anschauung, soll sie als Wissen ausgewiesen werden können, den Begriff inkludieren muss. Eine bloße Tätigkeit als reine Unbestimmtheit ist nicht denkbar. In § 3 reformuliert Fichte den Begriff als ideale Tätigkeit und expliziert durch diesen das Für-sich-Sein des Ichs. Die intellektuelle Anschauung kann so, wenn sie nicht die Form des Übergehens aufweist, gar nicht als Anschauung charakterisiert werden, die Anschauung des Wollens wäre demnach gar keine Anschauung, da sie nicht bewusst wäre. Die Freiheit des Ichs bliebe, insofern sie nicht wirklich wäre, bloße Hypothese. Der reine Wille als intellektuelle Anschauung des Wollens ist also genauso unterspezifiziert wie das unmittelbare Bewusstsein in § 3. Um als Wissen ausgewiesen werden zu können, muss eine Reflexion durch ideale Tätigkeit erfolgen. Erst die Verzeitlichung des reinen Willens kann so die Freiheit des Ichs explizieren. Bisher haben wir gesagt: Freiheit sei ein absolutes Uibergehen von Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit. Aber schon im § 1 haben wir gesehen, daß dieß Bedingung der Anschauung durch ideale Thätigkeit sei. Sonach liegt in unserem Begriffe noch etwas fremdartiges, die Form der Anschauung. Da wir nun hier die Freiheit vor aller Anschauung, und als Bedingung aller Möglichkeit des Bewustseins und der Anschauung aufstellen wollen, so müßen wir dieß, erst durch das Bewustsein hinzugekommene fremdartige absondern; und sonach Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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bleibt nichts übrig als Absolutheit. Aber Absolutheit läßt sich nicht einmal denken, wenn wir nicht etwas empirisches hinzuthun, das aber der Reinheit keinen Abbruch thut, nehmlich die Reihe der Dependenz in der Zeit, und Freiheit wäre das Vermögen absolut anzufangen. (WLnm-K, GA IV,3, 437)
Das Anliegen der kantischen Transzendentalphilosophie ist es, Philosophie als Wissenschaft zu etablieren durch eine Selbstbegrenzung des Erkenntnisvermögens, die Selbstkritik der Vernunft, aus deren überfliegendem Gebrauch Metaphysik als bloße Scheinwissenschaft resultiert. Bei Kant folgt hierbei auf die Kritik der Vernunft als Transzendentalphilosophie die Metaphysik der Sitten und der Natur. Kant nimmt nun zwei Entitäten an, um die Grenze der Vernunft zu markieren: Phänomena und Noumena, Sinnes- und Verstandeswesen. Erkenntnis wird bei Kant durch zwei wesentliche Elemente konstituiert: Zum einen die Form des Denkens, den Begriff, zum anderen den Gehalt, das Objekt des Denkens, welcher in einer Anschauung gegeben ist. Während der transzendentale Gebrauch des Begriffs auf Dinge an sich bezogen ist, geht dessen empirischer Gebrauch auf Erscheinungen als Gegenstände möglicher Erfahrung. Zulässig ist Kant zufolge nur der empirische Gebrauch des Begriffs, die Möglichkeit des Objekts hat sinnliche Anschauung zu ihrer Bedingung, nur diese garantiert objektive Gültigkeit, da sie den Begriff mit Gehalt erfüllt. Insofern Kant eine intellektuelle, intuitive Anschauung ablehnt, welche auf das Noumenon bezogen ist, ist dieses für ihn ein bloßer Grenzbegriff und nur von negativer Bedeutung. Das Noumenon steckt die Grenzen möglicher Erkenntnis ab und ist so nur „unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken.“ (KrV A 256/B 312) Während bei Kant das Noumenon als Grenzbegriff nur negative Bedeutung hat, wendet Fichte den Begriff ins Positive, indem er ihn in Form des reinen Willens zum Erklärungs- und Ableitungsgrund des Bewusstseins macht. Kant konzipiert das Noumenon als Einheit von Begriff und einem Gehalt, der dem Denken in einer intellektuellen Anschauung gegeben ist. Das Noumenon stellt die gehaltliche Dimension des Verstandes dar. Bei Fichte ist der reine Wille als unmittelbares Objekt des Bewusstseins der Gehalt des Bewusstseins. Fichte versteht das Ich hierbei als Einheit von Begriff und Anschauung, von Form und Gehalt. Gegenüber Kant bestimmt Fichte die Tätigkeit des Ichs und damit kein Ding an sich als Gehalt der intellektuellen Anschauung. Das Ich fungiert so qua Proto-Objekt als Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Ableitungsgrund aller anderen Objekte, es stellt in Form des Begriffs die Grundform des Objekts dar. Fichte expliziert den Begriff so im Ausgang von der Selbstreflexivität des geistigen Handelns des Ichs. Die intellektuelle Anschauung des Wollens weist nun eine intersubjektive Dimension auf: Die intelligible Welt ist für Fichte eine allgemeine Subjektivität, eine Gemeinschaft von Ichen. Kants Grundfehler liegt nach Fichte darin, dass er nur eine sinnliche Anschauung zulässt. So bleibt bei Kant die Grundstruktur von Subjektivität als selbstreflexiver Tätigkeit unreflektiert, wodurch der Begriff des Noumenon unterspezifiziert bleibt.244 Während bei Kant die Transzendentalphilosophie eine bloß theoretische Dimension aufweist, hat sie bei Fichte theoretisch-praktischen Charakter. Fichte kennzeichnet dabei sowohl Ich als auch Nicht-Ich als Noumena. Insofern Fichte die Sinnenwelt aus der intelligiblen Welt deduziert, unterläuft er die kantische Differenz von Noumenon und Phänomen. Dieser unmittelbare Begriff vom Wollen ist die Grundlage des Systems der Begriffe, die Kant Noumene nennt und durch welche er ein System der intelligiblen Welt begündet. Sie haben zu vielen Misverständnißen Anlaß gegeben, und stehen in dem Kantschen Systeme abgerißen und getrennt von dem übrigen da. Kant sagt zwar, daß man sie denken müße, aber nicht wie, und warum? Sie sind bei ihm Qualitas Occultae; er behauptet: es giebt keine Brücke von der sinnlichen zur übersinnlichen Welt. Dieß kam daher, weil er in der Kritik der reinen Vernunft das Ich einseitig und nur als das mannigfaltige ordnend, nicht aber als producirend dachte. Die WißenschaftsLehre schlägt diese Brücke leicht. Nach ihr ist die intelligible Welt die Bedingung der Welt der Erscheinungen; die letztere wird auf die erstere gebaut; die erstere beruht auf ihrem eigentlichen Mittelpuncte, dem Ich, das nur im Wollen ganz ist. Alle Vorstellungen gehen aus vom Denken des Wollens. (WLnm-K, GA IV,3, 424)
244 „Ein Begriff, der uns in die intelligible Welt führt (ein NOUMEN) wäre also etwas, das durch bloßes Denken hervorgebracht würde, so wie die Begriff der äuseren Gegenstände, von denen wir behaupten, daß sie nicht durch bloßes Denken hervorgebracht werden, sinnliche heißen. Daher daß Kant unterließ, die Frage zu beantworten, woher kommt das NOUMEN? kam es auch, daß er die intelligible Anschauung leugnete.“ (WLnm-K, GA IV,3, 424-425) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Empirisierung des reinen Willens (§§ 14 – 16)
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6) Die Empirisierung des reinen Willens (§§ 14 – 16) Mit der Einführung des reinen Willens wird das Grundprinzip der endlichen Vernunft überhaupt auf eine neue Ebene transponiert. Durch dessen Spezifizierung wird das Verhältnis von intelligibler und sinnlicher Welt aufgeklärt. Fichte unterteilt die WL nova methodo so in zwei Teile: Dem Aufstieg zum reinen Willen als höchstem Punkt des Bewusstseins folgt der Abstieg von der intelligiblen Welt zur Sinnenwelt. So ist der Zirkel von Erkenntnis- und Zweckbegriff durch die Einführung des reinen Willens in § 13 Fichte zufolge nur halb gelöst, wenn nicht gezeigt wird, wie der reine Wille das empirische Wollen fundiert. In § 1 der Grundlage war es Fichte nicht gelungen, das absolute Ich als „Förmlichkeit überhaupt“ auszuweisen, da dieses als reine Tätigkeit eine radikale Unbestimmtheit darstellte. Unter Rückgriff auf die Neukonzeption des Ich-Prinzips in § 5 der Grundlage fasst Fichte den reinen Willen nun als interne Differenz von Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Die interne Struktur des reinen Willens ermöglicht so eine Fundierung der Sinnenwelt in der intelligiblen Welt: Wie kann das Vernunftwesen zum Bewußtseyn dieses seines gantzen Zustandes kommen? […] Und durch Beantwortung dieser Frage weicht die gegenwärtige Darstellung der Wiss=Lehre von der gedrukten ab. In dieser war nach Veranlassung damaliger Zeitumstände der Hauptzweck zu zeigen, all unser Bewußtseyn habe seinen Grund in unsern Denkgesetzen, welches immer wahr bleibt. Durch gegenwärtige Darstellung aber erhalten wir zugleich ein festes Substrat der Intelligiblen Welt für die Empirische. (WLnm-H, GA IV,2, 150)
Gegenüber der Grundlage tritt der Begriff des Nicht-Ichs dabei in den Hintergrund, er findet nach § 2 kaum noch Erwähnung und wird durch den Begriff der Sinnenwelt und damit durch eine organische Naturkonzeption ersetzt. Fichte kennzeichnet den reinen Willen als ursprünglichen Zweckbegriff. Der reine Wille ist gefasst als Objekt der Erkenntnis und zugleich als Wirksamkeit. Der Zweckbegriff stellt eine hybride Form zwischen Theorie und Praxis dar: Als Begriff, d. h. in formaler Hinsicht, ist der Zweckbegriff zum einen theoretisch. Insofern der Zweckbegriff aber einen Handlungsentwurf zu seinem Inhalt hat und damit auf Handeln ausgerichtet ist, weist der Zweckbegriff zum anderen einen dezidiert praktischen Charakter auf. Bereits in § 3 hat Fichte das Ich als Einheit von realer und idealer Tätigkeit ausgewiesen. Der reine Wille als reales VermöSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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gen spaltet sich nun in ein Objekt und in eine Reflexion als ideale Tätigkeit. Die Reflexion kann hierbei nicht äußerlich zum reinen Willen hinzutreten, sondern ist dem reinen Willen, der sich in einer Selbstreflexion zum Objekt macht, inhärent. Insofern Fichte den reinen Willen als einen bloß intelligiblen Begriff als Synthese von Freiheit und Beschränktheit konzipiert, versucht er den kantischen Dualismus von intelligibler Welt (Freiheit) und Sinnenwelt (Beschränktheit) aufzulösen. Da das Vernunftreich bereits den Charakter der Beschränktheit aufweist, erklärt Fichte die Sinnenwelt als Erscheinung des reinen Willens, diese ist damit nichts ursprüngliches, sondern bloß aus dem reinen Willen abgeleitet. Der reine Wille ist der ursprüngliche Zweckbegriff, der Urzweck, da sich das Ich als Objekt hierin selbst Zweck ist: [D]as Objekt dieser höchsten Reflexion ist von der Art daß es mit ihr zusammen fällt, denn es ist Wille, ich denke das Wollen und ich will ist schlechthin eins. Das Objekt dieser Reflexion ist Wille, sonach kommt mir in dieser Reflexion nichts vor als der Wille. Diese freie Reflexion ist das empirische Wollen selbst. (WLnm-E, GA IV,3, 182)
In Bezug auf den reinen Willen stellt sich nun das Problem der Bestimmung: Absolutheit ist als bloße Unbestimmtheit nicht denkbar und kann so nicht als Ableitungsgrund fungieren. Um zu explizieren, wie im Ausgang vom reinen Willen Bestimmtheit generiert werden kann, muss dieser reflektiert werden, der reine Wille muss empirisch, d. h. ein wirkliches Wollen in Raum und Zeit, sein: Die Frage ist: nach der Möglichkeit eines Objekts der Reflexion als solcher ihrer Form nach, d. h. als Reflexion überhaupt – als ursprünglich aller andern Reflexion vorhergehend. Die Frage ist also nach etwas, auf welches die Reflexion möglich ist – nach dem Herkommen des Begränzten. Wie in dem Reinen Willen als dem ursprünglichen Objekt der Reflexion ein Mannigfaltiges vorkommen oder eine Begränztheit seyn könne? (WLnm-H, GA IV,2, 159)
Wie kann nun im Ausgang von der Unbestimmtheit des reinen Willens Mannigfaltigkeit, d. h. Differenz, generiert werden? Der Wille ist nur frei, wenn er aus einem Pool von Möglichkeiten wählen kann, wobei dann eine bestimmte Möglichkeit als Handeln realisiert wird. Der Wille fordert also eine Mannigfaltigkeit als Bestimmbarkeitssphäre. Fichte setzt dabei die Reflexion ein, um zwischen reinem Willen und Begrenztheit, Unbestimmtheit und Bestimmtheit zu Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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vermitteln. Ursprünglich ist der reine Wille so Fichte zufolge kein Mannigfaltiges, dieses wird er erst durch den Bezug auf eine ursprüngliche Begrenztheit, welchen die Reflexion als synthetisches Vermögen herstellt. Fichte spezifiziert hier das Ich als Einheit von realer und idealer Tätigkeit. Der reine Wille als reales Vermögen ist nicht fähig, das Für-sich-Sein des Ichs zu explizieren. Erst durch die Reflexion als ideale Tätigkeit entsteht das Bewusstsein: „Der reine Wille ist als Idee gedacht worden; wird er nun gedacht oder nicht?, wird er überhaupt nicht gedacht, so können wir nicht davon sprechen, wird er aber gedacht, so fällt er in die Geseze des Denkens und wird sinnlich.“ (WLnm-K, GA IV,3, 449) Fichte resümiert: „Und hiermit wäre die Frage beantwortet, die bisher noch von keinem Philosophen beantwortet wurde; nemlich: woher kommt der Stoff oder das Materiale der Gefühle?“ (WLnm-H, GA IV,2, 148-149) Die Hauptschwierigkeit war: das Bewustsein kann weder durch Wollen noch Erkennen allein angeknüpft werden sondern von beiden, aber diese sind von einander unabhängig? – allerdings hebt es von beiden an, nur ist die Erkenntniß von der es anhebt Aufforderung zur freien Thätigkeit, Kenntniß davon daß uns ein Zweck gegeben wird, an diese schließt sich in demselben Momente ein Wollen an. In diesem X ist Wollen und Erkennen vereint. (WLnm-K, GA IV,3, 469-470)
Während der Erkenntnisbegriff lediglich einseitig theoretisch verfasst ist, bildet der Zweckbegriff, insofern er als Begriff auf ein mögliches Handeln bezogen ist, den Einheitspunkt von Theorie und Praxis. Der reine Wille als ursprünglicher Zweckbegriff ist daher von Fichte als Erklärungsgrund des Bewusstseins eingesetzt. Er stellt die Einheit von Erkennen und Wollen dar, und fungiert somit als Ableitungsgrund des empirischen Wollens, wobei Fichte das Produkt der Selbstverobjektivierung des reinen Willens als Leib, als „ursprüngliches Wollen, aufgenommen in die Form der äuseren Anschauung“ (WLnm-K, GA IV,3, 454) bestimmt.245 245 „Mit der REFLEXION auf das reine Wollen ist Anschauung eines Objects (meines Leibes) verbunden, von der Wahrnehmung deßselben (des Leibes) geht alle sinnliche Wahrnehmung aus.“ (WLnm-K, GA IV,3, 454) Die Ableitung des Leibes als eines transzendentalen Begriffs resultiert hierbei aus der notwendigen Verbindung von Anschauung und Begriff: „Auf das erste, das Wollen […] geht ein bloßes reines Denken, und dieß ist das einzige reine Denken, was im würklichen Bewustsein vorkommt und dieß einzige reine Denken ist das empirische Wollen selbst. Auf das 2te, das Sein, geht eine Anschauung, und mit dieser auch das Denken, denn keine Anschauung ist ohne Begriff, dieß ist aber kein reines Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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7) Die Hauptsynthesis (§§ 17 – 19) Unsere Aufgabe ist längst die: die Bedingungen des Bewustseins nach den schon bekannten Regeln zusammen zu setzen, und das Bewustsein vor unseren Augen gleichsam zu Construiren, nur nicht wie der Geometer thut, der sich um die Frage, woher die Fähigkeit Linien zu ziehen und Raum herkomme, nicht bekümmert, dieser sezt schon WißenschaftsLehre voraus; denn die WißenschaftsLehre muß das womit sie verfährt sich selbst erkämpfen und in dieser Rücksicht hat das System bestimmt 2 Theile, bis dahin wo gezeigt wurde, reiner Wille ist das wahre Object des Bewustseins, wurde ausgemittelt womit verfahren werden sollte. Von da gieng der andere Theil an; wir construiren nun würlich. (WLnm-K, GA IV,3, 470)
a) Das Problem der Undenkbarkeit (Unbestimmtheit) der Ichheit Im Zentrum der Hauptsynthesis steht die absolute Identität von Idealem und Realem, Denken und Sein, die Fichte durch den Begriff der Ichheit expliziert. Die Hauptsynthesis ist Fichte zufolge nun als reine Unbestimmtheit weder denkbar noch anschaubar. Es handelt sich um eine Idee, d. h., das Denken der Einheit ist eine bloße Aufgabe. Diese Unbestimmtheit stellt nun aber ein Problem dar: Ziel der Wissenschaftslehre ist es so gerade aufzuzeigen, wie aus Unbestimmtheit Bestimmtheit generiert werden kann, die Unbestimmtheit muss sich ausdifferenzieren, soll die Struktur des wirklichen Bewusstseins, welches durch die Differenz von Subjekt und Objekt gekennzeichnet ist, einsichtig gemacht werden. Die absolute Identität von Denken und Sein ist dabei unbestimmt und damit undenkbar, insofern sie weder extern gegen anderes bestimmt ist noch eine interne Differenz aufweist. Die Wissenschaftslehre als System setzt ein mit der Ichheit als einem Voraussetzungslosen und damit Unbestimmten. Nach Fichte ist die Ichheit als Grundprinzip nun aber dadurch bestimmt, sich absolut selbst zu bestimmen. Aber warum muss aus der Unbestimmtheit der Ichheit zur Bestimmtheit des Bewusstseins herausgegangen werden? Hierfür lassen sich zwei Gründe anführen: 1) Fichte kennzeichnet die Ichheit als reine Tätigkeit, wobei Tätigkeit mit Selbstbestimmung gleichgesetzt werden kann. 2) Unbestimmtheit stellt einen defizienten Zustand dar, sie muss in Bestimmtheit überführt werden. Fichte gibt der Unbesondern objectives Denken. Denken und Anschauung sind nothwendig vereinigt und in dieser Vereinigung entsteht die Vereinigung des Denkens und Wollens selbst im Ich.“ (WLnm-K, GA IV,3, 453) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Hauptsynthesis (§§ 17 – 19)
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stimmtheit so eine positive Bedeutung: Sie ist geradezu notwendig, um Bestimmtheit zu generieren. Die Hauptsynthesis weist dabei einen paradoxen Charakter auf: Sie ist zugleich offen und geschlossen, unbestimmt und bestimmt. Wie kommt man nun von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit und warum ist dieser Übergang notwendig? Es müssen hierbei folgende Schritte unterschieden werden: Schritt 1: Die absolute Identität ist eine reine Unbestimmtheit. Wir können unser Bestimmen nur denken als ein Uibergehen oder ein Schweben zwischen mehreren Entgegengesetzten. Nun sollen wir aber diese Thätigkeit ohne Rücksicht auf das beide entgegengesetzte […] beschreiben, um dieß zu thun müßten wir ganz andere Denkgesetze haben […] Sollte die bloße Bestimmung gedacht werden, so müßte das Bestimmbare weggedacht werden; dieß ist nicht möglich, denn dann müßte die bloße Ichheit oder das sich selbst Faßen und Ergreifen gedacht werden und schon in den letzteren Ausdrücken ist schon sinnliche Unterscheidung des Ergreifenden von dem Ergriffenen. […] Dieses sich bestimmen ist der absolute Anfang alles Lebens und Bewustseins, eben deshalb ists unbegreiflich, weil unser Bewustsein immer etwas voraus sezt. (WLnm-K, GA IV,3, 493)
Fichte rekurriert hierbei auf die Einbildungskraft als Schweben: „Die Einbildungskraft und ihre ganze Function ist bloß die Möglichkeit das Handeln des Ich in seinem Bestimmen anzusehen. Im Denken ist kein Fließen, da ist lauter Stehen, bloß in der Einbildungskraft ist die Basis alles Bewustseins, soll das Bewustsein dieses Fließens sein.“ (WLnm-K, GA IV,3, 494) Das Ich sei so erst durch die Vereinigung von Denken und Anschauen bzw. Einbildungskraft möglich. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 494) Schritt 2: Unbestimmtheit ist nicht denkbar, da sie weder intern noch extern bestimmt ist. Unbestimmtheit ist so nur als Unbestimmtheit denkbar. Damit ist diese aber doch bestimmt und zwar als Unbestimmtheit. Hierzu Fichte: „In der Deduction hebt das Bewustsein von selbst an als dem Bewustsein eines unendlichen und nur dadurch daß ich die Unendlichkeit nicht faßen kann, dadurch daß sich mit der unendlichen Anschauung die Endlichkeit des empirischen Denkens verknüpft, werde ich mir zum endlichen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 505)246 246 Anders als für Hegel, der das Denken des Denkens als reines Selbstverhältnis versteht, ist Denken für Fichte hierbei diskursiv und damit empirisch. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Schritt 3: Die Unbestimmtheit muss sich als Unbestimmtheit bestimmen, da sie ihr einziger und damit absoluter Gehalt ist. Die Ichheit bestimmt sich selbst, d. h., es handelt sich nicht um eine externe, sondern um eine immanente Bestimmung. Die Deduktion darf so nicht additiv verfahren, sondern sie muss notwendig sein: „Das Reflectirende ist Ich und zwar Ideales Vermögen, welches durch die oben aufgezeigte Bestimmung des Realen Ich nicht bestimmt ist. Aber es ist Charakter der Ichheit, sich schlechthin selbst zu bestimmen, absolut erstes nie zweites zu sein; die Reflexion ist absolut frei.“ (WLnm-K, GA IV,3, 451) Und weiter heißt es: „Das sich bestimmende, sich selbst zu etwas bestimmten machende ist das Ich; das Ich findet sich heißt daher: es findet dieses sich selbst bestimmen, denn es ist nicht wie der Dogmatiker sagt, so daß Begriffe in mir als etwas fertiges erstes lägen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 499) Unbestimmtheit fungiert somit als Bestimmungsgenerator, insofern sie als Möglichkeitsraum (Bestimmbarkeit) erst Bestimmung zulässt. Demgegenüber ist Bestimmtheit als Resultat von Bestimmung bereits determiniert. b) Die Grundstruktur der Hauptsynthesis Die WL nova methodo hat die Darstellung der organischen Grundstruktur des Bewusstseins zu ihrem Gegenstand.247 Eine organische Struktur lässt sich hierbei durch Geschlossenheit (Zirkularität) und interne Organisation charakterisieren. Alle Teile stehen hier im Zusammenhang und sind auf das Ganze hin ausgerichtet, d. h. organisiert. Die WL nova methodo gelangt so erst an ihr Ende, wenn das Bewusstsein vollständig entfaltet ist. In der Begriffsschrift sagt Fichte, die Wissenschaftslehre als System müsse, soll sie vollendet sein, eine zirkuläre Struktur aufweisen, d. h., der Grundsatz muss sowohl Grund als auch Resultat der Wissenschaftslehre sein. In der Grundlage versucht Fichte dies einzulösen, indem er das absolute Ich als Grund des Bewusstseins (§ 1) und als praktische Idee (§ 5) konzipiert. Die WL nova methodo konzipiert nun das Bewusstsein selbst als zirkuläre Struktur, welche Fichte in den §§ 17 – 19 in der Hauptsynthesis entwirft. 247 „So ist die WißenschaftsLehre organisch und discursiv. Sie enthält lauter Synthesen. Gegenwärtige ist die Grundsynthesis in der erst das discursive Denken entsteht.“ (WLnm-K, GA IV,3, 495) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Hauptsynthesis (§§ 17 – 19)
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Geht es in § 13 um die Fundierung des Zirkels von Theorie und Praxis in der zugrundeliegenden Einheitsstruktur des reinen Willens, zeigt sich der Zirkel nun als Grundstruktur des Bewusstseins selbst. Fichte fasst den Zirkel also nicht als eine petitio principii, bei welcher die Konklusion bereits in der Prämisse vorausgesetzt wird, sondern dieser hat eine systematische Dimension: Man beschreibe erst den Mittelpunct; dieser ist das sich selbst bestimmende unmittelbare nicht durch etwas anderes hindurch gesehene. Das Bewustsein ist gleichsam der Zirkel, das Intelligible der Mittelpunct; die Peripherie ist nach nothwendigen Gesetzen des Denkens an den Mittelpunct angeknüpft, sie enthält alles empirische, sinnliche. (WLnm-K, GA IV,3, 493)
Den Mittelpunkt der Hauptsynthesis bildet das selbsttätige Ich als Identität von Denken und Sein, von Subjekt und Objekt. An diesen schließt sich von jeder Seite jeweils die theoretische und praktische Ausdifferenzierung der Subjekt-Objekt-Identität an.248 Auf der einen Seite schließt sich als praktische Dimension das ideale Denken, der Zweckbegriff an, auf der anderen als theoretische Dimension das reale Denken, der Erkenntnisbegriff. Als basales Bestimmungsmodell lässt sich die Struktur Bestimmendes > Bestimmung > Bestimmtes kennzeichnen. Während im praktischen Weltbezug das Subjekt das Bestimmende, das Objekt das Bestimmte ist, ist es im theoretischen Weltbezug umgekehrt: das Objekt ist hier das das Subjekt Bestimmende. An das Zentrum der Hauptsynthesis schließt sich mit Zweckund Erkenntnisbegriff jeweils ein Bestimmtes an, welchem es ein Bestimmbares vorauszusetzen gilt. Soll das Bewusstsein ein Zirkel sein, dann müssen die Außenglieder jeweils wieder verbunden sein. So stehen alle Glieder der Hauptsynthesis in Wechselwirkung. Dem Zweckbegriff ist als Bestimmbares das Vernunftreich vorauszusetzen, dem Erkenntnisbegriff liegt das Sinnenreich voraus. Die Synthese von Vernunft- und Sinnenreich bildet Fichte zufolge dabei der Leib des Individuums als materialisierte Geistigkeit bzw. als geistige Materialität. Die Hauptsynthesis lässt sich insofern als ideal kennzeichnen, als sie vom Denken als idealer Tätigkeit ihren Ausgang nimmt. So kann es für Fichte ein Sein nur für das Denken geben, ein 248 Fichte spricht hier von einer „ursprünglichen DUPLICITAET“ (WLnm-K, GA IV,3, 475). Vgl. hierzu auch Zöller, Günter, „Die Einheit von Intelligenz und Wille in der ‚Wissenschaftslehre nova methodo‘“, in: Fichte-Studien 16 (1999), S. 91-114. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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vom Denken unabhängiges Sein würde einen Dogmatismus implizieren.249 Es ist eine WechselWirkung, die wir aufgestellt haben; zuförderst: die Vernunftwelt steht mit sich selbst in Wechselwirkung, Id Est vernünftige Wesen wirken auf einander ein, oder transcendental: in jedem Individuum ist etwas, weshalb es auf Vernunftwesen auser sich schließen muß; eben so steht die Sinnenwelt mit sich selbst in Wechselwirkung; denn das aufgestellte Gesetz der Organisation ist bloß Zusammenwirken aller Naturkräfte, im Universum. Die VernunftWelt steht in Wechselwirkung, die Sinnenwelt, und beide Welten stehen wieder in gegenseitiger WechselWirkung und erscheinen so: zuförderst in artikulirten Leibern greift Natur und Freiheit in einander, vermittelst der Freiheit des In und so wirkt die ganze Freiheit in die ganze Natur; umgekehrt die Natur bringt erst artikulirte Leiber hervor, und producirt auf dem gemeinen Gesichtspuncte Vernunftmöglichkeit, und greift ins Reich vernünftiger Wesen ein, dadurch ist unsre Synthesis geschloßen, und da alles was im Bewustsein vorkommt sie enthält, so ist unsre Aufgabe vollständig gelößt und unsre Arbeit vollendet. (WLnm-K, GA IV,3, 518)
c) Synthese und Analyse A: Ausgangspunkt ist die ursprüngliche Synthesis von Subjekt und Objekt, das ursprüngliche Bewusstsein (Masse des Denkens) als synthetisches Denken. Diese erfährt eine doppelte Aufspaltung in Abhängigkeit von der Spezifizierung des Objekts des Denkens. B: Zum Ersten kann das Denken qua Denken sein eigenes Objekt sein. Dies entspricht der Duplizität von Ich-Anschauung und IchBegriff. Das Ich wird sich selbst objektiv, indem es sich als Anschauung begreift. Fichte spricht von einem mittelbaren Bewusstsein. Indem sich das Ich selbst Objekt wird, eröffnet sich die Differenz des Weltbezugs.
249 Dies ist gegen Schwabes Annahme einer realen Synthesis bei Fichte einzuwenden. Fichte ist allerdings mit der in der WL nova methodo konzipierten Synthese noch nicht zufrieden. So zeigt er im dritten Buch der Bestimmung des Menschen (1800), dass die Synthesis der Geisterwelt durch einen göttlichen Willen begründet ist. Hierzu der Brief an Schelling vom 31.Mai/7. August 1801: „Es fehlt der Wissenschaftslehre durchaus nicht in den Principien; wohl aber fehlt es ihr an Vollendung; die höchste Synthesis nemlich ist noch nicht gemacht, die Synthesis der GeisterWelt. Als ich Anstalt machte, diese Synthesis zu machen, schrie man eben Atheismus.“ (GA III, 5, 45) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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C: So kann zum Zweiten das Objekt des Denkens vom Ich verschieden sein. Es handelt sich hierbei um ein durch Sinnlichkeit vermitteltes Denken. Der Objektbezug lässt sich gemäß zweier Richtungen ausdifferenzieren: 1) Das ideale Denken des Zwecks (praktischer Weltbezug: Subjekt bestimmt Objekt), 2) das reale Denken des Objekts des Willens (theoretischer Weltbezug: Objekt bestimmt Subjekt). Der Zusammenhang von A, B und C ist nun wie folgt zu charakterisieren: A fungiert synthetisierend-analysierend in Bezug auf B und C, B fungiert synthetisierend-analysierend in Bezug auf C. Was ist hiermit gemeint? Bestimmungsgenese ist zugleich synthetisierend und analysierend, verbindend und trennend. Zum einen trennt sich die ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt (Analyse). Zum anderen sind die Glieder dieser Trennung auf die ursprüngliche Einheit bezogen, insofern sie aus dieser hervorgehen (Synthese). In der Hauptsynthesis besteht dabei ein Problem, das bislang noch keiner Lösung zugeführt wurde: Das konstruierte Ich ist zwar für den Philosophen, der dasselbe entwirft, nicht aber für das Ich selbst. Als Ich ist nun aber gerade das bestimmt, was Bewusstsein seiner selbst hat, d. h., was für sich selbst Ich ist. Die Ichheit als Identität von Sein und Denken ist bloß eine Konstruktion des Philosophen, selbst aber noch kein Ich. Ichheit besteht in der absoluten Identität des idealen und realen, sie ist eine Intelligenz auser dem entstehenden Bewustsein nur für den Philosophen, aber wie wird sie für das Ich, das wir construiren? Wie kommen wir dazu, den absolut unmittelbaren, den ersten Punct deßelben aufzuzeigen? (WLnm-K, GA IV,3, 472) Das Denken eines Zwecks und das eines Objects sind eigentlich daßelbe, nur sind sie es von verschiedenen Seiten angesehen. […] So ist es für uns die wir philosophiren, wir sehen die Identität des Seins und Denkens ein, aber das hilft uns noch nichts; wir müßen die selbe Ansicht dem untersuchten Ich unterlegen, als eine ihm nothwendige. (WLnm-K, GA IV,3, 473)
Am Anfang der Philosophie steht ein wirkliches Bewusstsein, das als unreflektiertes Alltagsbewusstsein zum einen durch das Verschwinden des Ichbewusstseins im Objektbewusstsein und zum anderen durch die Annahme einer unüberbrückbaren Differenz von Ich und Welt gekennzeichnet ist. Die Wissenschaftslehre als Experiment erzeugt in einer Art Laborsituation auf der Grundlage dieses wirkliSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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chen primären Bewusstseins ein künstliches sekundäres Bewusstsein. Der Gegenstand des Experiments ist also kein vom Bewusstsein differentes Objekt, sondern es ist vielmehr das Bewusstsein selbst, welches sich zum Gegenstand seiner Untersuchung macht. So schreibt Fichte im System der Sittenlehre: […] daß die bloße Reflexion zum Objecte einer neuen Reflexion gemacht werde. – Es mag dem Unphilosophen sonderbar, und vielleicht lächerlich vorkommen, daß man eines Bewußtseyns sich bewußt werden solle. Er beweis’t dadurch weiter nichts, als seine Unkunde der Philosophie, und seine gänzliche Unfähigkeit zu derselben. (SL, GA I,5, 47)
Hierdurch kommt es dann zu einer Aufspaltung in zwei verschiedene Reihen des Denkens: Dem wirklichen Ich ist das Ich des Philosophen gegenüberzustellen. Ziel des Experiments der Wissenschaftslehre ist es, das Bewusstsein über seine eigene Struktur, seine eigene Entwicklungsgeschichte aufzuklären. Die Wissenschaftslehre soll so das Bewusstsein für sich selbst transparent machen. Erst durch die Selbstkonstruktion des künstlich erzeugten Bewusstseins, welcher der Philosoph zusieht, kann dabei die Funktionsweise des wirklichen Bewusstseins rekonstruiert werden. Die Wissenschaftslehre setzt ein mit der Forderung, den Begriff des Ichs zu denken, wobei dieses SichDenken durch eine Reflexion des Ichs auf sich selbst und eine Abstraktion vom Objektbewusstsein zustande gebracht wird. Das reine Ich oder die intellektuelle Anschauung als Ausgangspunkt der Wissenschaftslehre konstruiert sich dabei selbst. Der Ausgangspunkt muss nun zum einen die gesamte Bewusstseinsstruktur beinhalten, da diese sonst nicht aus jenem abgeleitet werden könnte. Zum anderen muss der Anfang der Wissenschaftslehre unterspezifiziert sein, da sonst keine Notwendigkeit bestehen würde, über diesen hinauszugehen. Der Anfang ist also zugleich unbestimmt und bestimmt. Die Ableitung des Bewusstseins charakterisiert Fichte dabei als Synthese. Diese ist aber zugleich als Analyse zu kennzeichnen. Synthese und Analyse, Verbinden und Trennen sind die wesentlichen Momente des Entwicklungsprozesses des Bewusstseins. Eine einseitige Analyse des Grundprinzips wäre eine bloß äußerliche Zergliederung desselben. Das Prinzip der Wissenschaftslehre ist aber selbstkonstruierend: Synthese und Analyse greifen so ineinander:
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Die WißenschaftsLehre stellt zuerst auf ein Ich, dieß will sie aber nicht analysiren; dieß würde eine leere Philosophie sein, sondern sie läßt dieses Ich nach seinen eignen Gesetzen handeln, und dadurch eine Welt construiren, dieß ist keine Analyse, sondern eine immer fortschreitende Synthese. (WLnm-K, GA IV,3, 344)
Am Ende der Ableitung der Wissenschaftslehre steht das Ganze des Bewusstseins oder der Erfahrung. Die Ableitung ist als Spezifizierung der Struktur des Bewusstseins, als Konkretisierung durch die Ergänzung von dessen Bedingungen zu verstehen. Das Bewusstseinsganze wird so abgeleitet durch das Zusammenfügen der Teile des Bewusstseins. Erst durch die Differenz der einzelnen Teile oder Glieder des Bewusstseins wird die Struktur des Bewusstseinsganzen sichtbar gemacht. Am Ende der Selbstkonstruktion des Bewusstseins fallen Ich des Philosophen und wirkliches Ich zusammen. Das wirkliche Ich ist aber doch nur für sich durch die Konstruktion des Philosophen, da erst die Selbstkonstruktion des Ichs, wie sie vom Philosophen in Gang gesetzt wurde, eine Einsicht in die Geschichte des Bewusstseins eröffnet. Das Ich des Philosophen ist aber zugleich wirkliches Ich, obgleich als ein sich selbst durchsichtiges Ich. Am Ende der Wissenschaftslehre steht so das gemeine Bewusstsein, aber in der Weise, dass dessen Annahme der Differenz von Ich und Außenwelt als Schein entlarvt ist. Im Zentrum der Synthesis befindet sich dabei die intellektuelle Anschauung, in welcher sich das Ich sich selbst als sich selbst bestimmend denkt. Diese Kennzeichnung lässt sich als Reformulierung der Formel des Sich-Setzens als sich setzend erkennen. Das Ich muss so, um für sich zu sein, sich selbst als sich selbst bestimmend, d. h. als frei, bestimmen und damit von seiner Selbstbestimmung wissen, da es sonst kein freies Ich wäre. So stellt sich am Ende der Wissenschaftslehre die Geschichte des Bewusstseins als Selbstbestimmung des Ichs dar. Bereits in der Grundlage (§ 7) schreibt Fichte: Ieder, der mit uns die gegenwärtige Untersuchung anstellt, ist selbst ein Ich, das aber die Handlungen, welche hier deducirt werden, längst vorgenommen, mithin schon längst ein Nicht-Ich gesezt hat (von dem er eben durch gegenwärtige Untersuchung überzeugt werden soll, daß es sein eignes Produkt sey.) Er hat das ganze Geschäft der Vernunft schon mit Nothwendigkeit vollendet, und bestimmt sich jezt, mit Freiheit, die Rechnung gleichsam noch einmal durchzugehen, dem Gange, den er selbst einmal beschrieb, an einem andern Ich, das er willkührlich sezt, auf den Punkt stellt, von welchem er Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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selbst einst ausging, und an welchem er das Experiment macht, zuzusehen. Das zu untersuchende Ich wird einst selbst auf dem Punkte ankommen, auf welchem jezt der Zuschauer steht, dort werden beide sich vereinigen, und durch diese Vereinigung wird der aufgegebne Kreisgang geschlossen seyn. (GWL, GA I,2, 420)
8) Vergleich von Grundlage und WL nova methodo Bei der WL nova methodo handelt es nicht nur, wie der Titel des Werkes suggeriert, um eine methodische Neukonzeption der Wissenschaftslehre, d. h. eine nur veränderte Darstellung der Grundlage. Fichte reagiert hier auch mit inhaltlichen Änderungen auf die an der Grundsatzkonzeption der Grundlage geübte Kritik, welche sich auf drei Hauptpunkte eingrenzen lässt: Zum Ersten den Vorwurf des Transzendentismus (Hölderlin/Niethammer/Schmid), zum Zweiten den Vorwurf des Solipsismus (Niethammer/Novalis) und zum Dritten die Problematik einer Ableitung von Bestimmtheit im Ausgang vom absoluten Ich als reiner Unbestimmtheit (Forberg). Anstelle des absoluten Ichs setzt die WL nova methodo so endliche Vernunft überhaupt als Grundprinzip an. Diese weist im Gegensatz zum absoluten Ich als unbestimmter Bestimmtheit oder bestimmter Unbestimmtheit eine interne Struktur auf. Fichte schließt hierin an die Neukonzeption des Ich-Prinzips in § 5 der Grundlage an. Das absolute Ich in § 1 der Grundlage konzipiert Fichte als Sich-Setzen. Dieses ist zum einen als reine Tätigkeit produktiv, zum anderen als Fürsich-Sein selbstreflexiv. In § 5 der Grundlage setzt sich Fichte mit dem Vorwurf des Transzendentismus auseinander, welcher darin besteht, dass das absolute Ich aufgrund seiner Immanenz in sich indifferent sei und damit kein Für-sich-Sein explizieren könne. Als Lösung konzipiert Fichte das Ich nun als in sich gedoppeltes Sich-Setzen durch die Formel des Sich-Setzens als sich setzend. Diese kann im Sinne eines Modells produktiver Reflexion interpretiert werden. Das so neu konzipierte Grundprinzip fungiert nun als Ausgangspunkt der WL nova methodo. Während in § 1 der WL nova methodo das Ich des Philosophen als Einheit von Ich-Anschauung und Ich-Begriff und damit als ein nur ideales Selbstbewusstsein thematisiert wird, hat § 3 das ursprüngliche Ich als Einheit von realer und idealer Tätigkeit qua reales Selbstbewusstsein zum Gegenstand. Die interne Struktur des GrundprinSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
VERGLEICH VON GRUNDLAGE UND WL NOVA METHODO
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zips macht Fichte nun in doppelter Weise fruchtbar: Zum Ersten in Bezug auf das Problem des Objektbewusstseins (Nicht-Ich/Sein), zum anderen im Hinblick auf die Frage der Intersubjektivität (individuelles Ich). Während Fichte in der Grundlage die Konzeption der intellektuellen Anschauung in § 1 ausklammert, da es ihm hier um eine Exemplifikation des Verhältnisses von Logik und Wissenschaftslehre geht, präsentiert er in der WL nova methodo nach den Andeutungen in vorhergehenden Schriften wie den Eignen Meditationen ueber ElementarPhilosophie, der Aenesidemus-Rezension und Ueber den Unterschied des Geistes, u. des Buchstabens in der Philosophie eine elaborierte Theorie der intellektuellen Anschauung. Anschließend an den genetischen Beweis der Grundlage entfaltet die WL nova methodo eine genetische Methode, das Programm einer pragmatischen Geschichte des Geistes, wie Fichte sie in der Grundlage erst ab Ende des theoretischen Teils entfaltet, wird in der WL nova methodo maßgebend. Sind in der Grundlage absolutes Ich und Nicht-Ich als einander absolut Entgegengesetzte konzipiert, nutzt Fichte in der WL nova methodo die interne Bestimmtheit des IchPrinzips für eine direkte Ableitung des Nicht-Ichs, wodurch er das Anstoßtheorem suspendiert. In der Grundlage setzt Fichte beim Widerspruch von absolutem und endlichem Ich an und entfaltet die Systemstruktur durch das Einschieben von immer neuen Synthesen, welche den Widerspruch zwar nicht aufzulösen vermögen, ihn aber immer weiter hinausschieben. Im praktischen Teil bietet Fichte als Lösungsansatz der Haupt-Antithese dann eine Vermittlung in der Konzeption eines unendlich-endlichen Strebens an. Die Grundlage entwirft so zwar gemäß der Vorgabe der Begriffsschrift eine geschlossene, zirkuläre Struktur, so konzipiert Fichte an deren Ende das moralische Bewusstsein als Harmonie und das absolute Ich sowohl als Grund des Bewusstseins als auch als Idee des praktischen Ichs. Das Streben des Ichs als unendliche Annäherung bietet allerdings keine geschlossene Struktur, die Vermittlung von absolutem und endlichem Ich bleibt somit unvollständig. Indem Fichte in der WL nova methodo das Nicht-Ich aus dem Grundprinzip der endlichen Vernunft überhaupt deduziert, suspendiert er die Konzeption des Strebens im Sinne der Grundlage. Streben ist nun gefasst als der produktive Aspekt der Ich-Tätigkeit. Die WL nova methodo weist so gegenüber der Grundlage eine geschlossene Struktur auf, welche Fichte als organisch kennzeichnet. Das Verfahren der WL nova methodo lässt sich dabei wie folgt beschreiben: In den Eingangsparagraphen entwirft Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Fichte die abstrakte Grundstruktur des Ich-Prinzips. Diese erfährt dann eine Konkretisierung, indem dessen Bedingungen abgeleitet werden. Da die zunächst präsentierte Fassung des Grundprinzips durch den Prozess der Konkretisierung nun nicht mehr theoretisch befriedigend ist, da sie hinter dem erreichten Theoriestand zurückbleibt, reformuliert Fichte das Grundprinzip als reinen Willen, welcher als Ausgangspunkt der Deduktion des Individuums fungiert. Die Dimension der Endlichkeit, der Bestimmtheit, wie sie in der ursprünglichen Beschränktheit des Grundprinzips der endlichen Vernunft überhaupt zum Ausdruck gebracht ist, dient nun als Ansatzpunkt der Entwicklung einer Intersubjektivitätstheorie. Das im Ausgang von einer allgemeinen Vernunftstruktur abgeleitete Konzept des Individuums stellt dabei die Vermittlungsbasis von Vernunft- und Sinnenwelt dar. Es findet sich so eine Neukonzeption der Bestimmtheitstheorie in der WL nova methodo: In § 1 der Grundlage konzipiert Fichte das Grundprinzip der Wissenschaftslehre, das absolute Ich als voraussetzungslosen Anfang des Systems als reine Unbestimmtheit, dieses hat daher für Fichte kein Prädikat, als ein Unbestimmbares lässt es sich durch das thetische Urteil „Ich bin“ explizieren, dessen Prädikatstelle für eine Bestimmung ins Unendliche freigelassen ist. Fichte entwirft dieses zwar als Einheit von Produktion (Tätigkeit) und Reflexion (Für-sich-Sein) und damit in der Kritik an Kant und Reinhold als Einheit von Praxis und Theorie. Insofern Selbstbewusstsein aber eine interne Struktur zu seiner Voraussetzung hat, bleibt das Grundprinzip in theoretischer Hinsicht defizient, es kann kein Fürsich-Sein explizieren. In § 5 der Grundlage reagiert Fichte dann auf den von Friedrich Hölderlin vorgebrachten Vorwurf der Transzendenz des absoluten Ichs. Dieses könne, so Hölderlins Kritik, kein Bewusstsein darstellen, da es aufgrund der Eigenschaft, alle Realität zu enthalten, ein Differenzloses und damit ein dem Bewusstsein Transzendentes sei. Fichte charakterisiert das Ich-Prinzip als Für-sich-Sein nun durch die Formel des Sich-Setzens als sich setzend und ersetzt damit die Formel des Sich-Setzens aus § 1. Er fasst das Ich-Prinzip hier als Einheit zweier Tätigkeitsformen, einer bloß produktiven, bewusstlosen und einer diese Tätigkeit reflektierenden Tätigkeit, und damit als Wechselwirkung mit sich selbst. Fichte greift in der Neukonzeption des Ich-Prinzips dabei auf ein im Rahmen der produktiven Einbildungskraft entwickeltes, gegenüber der Konzeption der Teilbarkeit aus § 3 neues Bestimmungsmodell zurück, welchem zufolge sich das Ich, um unendlich zu sein, durch das Prädikat der UnSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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endlichkeit bestimmen müsse, wodurch es sich als Unendliches von sich selbst unterscheide. Das absolute Ich in § 1 hatte Fichte zuvor als ein Prädikatloses und damit Undenkbares gekennzeichnet. Dieses neue Bestimmungsmodell, welches sich als ein Modell der Selbstbestimmung ohne dualistische Elemente kennzeichnen lässt, findet nun seine Ausarbeitung in der WL nova methodo.250 Es besteht dabei ein Zusammenhang zwischen der inhaltlichen Neufassung des Grundprinzips und der veränderten Methodik: Im Anschluss an den genetischen Beweis der Grundlage operiert die WL nova methodo mit einer genetischen Methode. Im genetischen Beweis in § 5 der Grundlage versucht Fichte so die Frage nach der Möglichkeit eines Herausgehens aus dem Ich durch den Aufweis einer internen Ich-Struktur zu beantworten. Während in der Grundlage Synthesen eingeschoben werden, um den Widerspruch von absolutem und durch das Nicht-Ich bestimmtem, endlichem Ich hinauszuschieben, meint Synthesis in der WL nova methodo ein Herausgehen aus dem Ich, ein Anknüpfen eines Neuen mittels des Reflexionsgesetzes der Entgegensetzung. Obgleich Fichte in der Grundlage ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Selbstbestimmung und Anstoß annimmt, betrachtet er den Anstoß als notwendiges Moment der Verendlichung des Ichs. Auf die unendliche Tätigkeit des Ichs müsse so ein Anstoß wirken, um diese in einer äußeren Reflexion auf sich selbst zurückzuwenden (Für-sich-Sein). Das Ich verendlicht sich somit nicht selbst, sondern es bedarf einer äußeren Kraft, die seine Verendlichung bewirkt. Zwar muss das Ich in einer inneren Reflexion dieses externe Moment in seine Struktur integrieren, insofern es diese äußere Reflexion nachvollzieht, was für eine monistische Lesart sprechen würde. Fichte behauptet aber den Anstoß als Ursache der Verendlichung des Ichs, insofern die äußere Reflexion durch den Anstoß Bedingung der inneren Reflexion des Ichs ist. In der WL nova methodo vertritt Fichte demgegenüber im Anschluss an die Als-Formel des § 5 der Grundlage ein Modell der Selbstverendlichung des Ichs. Das Moment der Unbestimmtheit wird hier selbst als Bestimmtheit gefasst, sodass sich das Ich als Un250 Insofern Hegels Fundamentalgedanke darin zu sehen ist, dass Unbestimmtheit selbst eine Bestimmtheit darstellt, ließe sich die WL nova methodo diesbezüglich in einer komparatistischen Perspektive mit der hegelschen Subjektivitätskonzeption konfrontieren. Dies würde allerdings den Rahmen der Untersuchung sprengen. Vgl. zu Hegels Bezug auf Fichte Exkurs 3. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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bestimmtes selbst bestimmt und seine Verendlichung somit keines externen Moments bedarf. Fichte konzipiert das Grundprinzip hier als endliche Vernunft überhaupt. Es gibt aber noch einen möglichen Einwand in Bezug auf das Konzept einer ursprünglichen Gebundenheit: Auch die ursprüngliche Beschränktheit des Ichs in der WL nova methodo, die Fichte als System der Sensibilität kennzeichnet, ist qua Widerstand durch Unableitbarkeit charakterisiert und stellt so wie der Anstoß in der Grundlage ein unhintergehbares Faktum dar. Während der Anstoß in der Grundlage aber von außen auf das unbeschränkte, absolute Ich geschieht, expliziert das System der Sensibilität die interne Beschränktheit des Ichs. Fichte unterscheidet so in der WL nova methodo eine ursprüngliche, apriorische Beschränktheit (Dass) von einer empirischen Bestimmung des Ichs (Was), d. h. das System der Sensibilität von bestimmten Gefühlen, während er in der Grundlage das Objekt per se als etwas Empirisches auffasst. Indem in der WL nova methodo die Frage leitend wird, wie das Ich aus sich selbst herausgehen könne, übt Fichte implizit Kritik an der Grundsatzkonzeption der Grundlage. So schließt sich das Nicht-Ich im zweiten Grundsatz der Grundlage insofern bloß äußerlich an das absolute Ich des ersten Grundsatzes an, als Fichte das Entgegensetzen der Form nach als unbedingt kennzeichnet, seine Form also nicht aus dem Sich-Setzen des ersten Grundsatzes gewonnen werden kann. Diese Äußerlichkeit des zweiten Grundsatzes, die ihren Ausdruck in der absoluten Entgegensetzung von absolutem und endlichem Ich findet, mündet im praktischen Teil der Grundlage in den Ansatz des Strebens als unendlicher Annäherung. Während Fichte in der Grundlage Ich und Nicht-Ich noch als einander absolut Entgegengesetzte betrachtet, behauptet er in der WL nova methodo nun ihre Identität, indem er das Nicht-Ich hier direkt aus der internen Bestimmtheit des Ichs deduziert. Fichte führt so die Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich auf eine ursprüngliche Einheit zurück, die im Ich als Subjekt-Objekt selbst begründet ist. In der WL nova methodo suspendiert Fichte die Konzeption des Strebens im Sinne der Grundlage bzw. deutet diese um, da sich das Ich nun nicht mehr in einem unendlichen Streben von der Fremdheit des NichtIchs durch die „Verichlichung“ desselben im Handeln zu befreien sucht.251 Das Theorem des Strebens tritt in der WL nova methodo 251 Brachtendorf zufolge gibt Fichte in der WL nova methodo mit der Verabschiedung der These der Unvereinbarkeit von Ich und Nicht-Ich den Ansatz des Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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somit in den Hintergrund. Streben ist hier nicht mehr Annäherung zum Unendlichen, sondern gefasst als die produktive Dimension der Ich-Tätigkeit. Fichte entwickelt in der WL nova methodo so einen gegenüber der Grundlage neuen Freiheitsbegriff, welcher Freiheit nicht mehr bloß negativ als Freiheit von Bestimmtheit und damit als radikale Unbestimmtheit, sondern vielmehr als Selbstbestimmung, die die Dimension der Bestimmtheit umfasst, versteht.252 So heißt es hier in Bezug auf die Selbstbestimmung des individuellen Ichs: „[D]ie Freiheit ist nicht wie Sein beschränkt, sie muß ihre Begrenztheit umfassen, sie muß sich selbst begrenzen.“ (WLnm-K, GA IV,3, 509)
Strebens bzw. des praktischen Idealismus sowie die Konzeption der Einbildungskraft in ihrer alten Funktion auf. (Vgl. Brachtendorf, Fichtes Lehre vom Sein, S. 180-181.) Dies ist aber nicht der Fall für die Sittenlehre, die zur gleichen Zeit wie die WL nova methodo entstanden ist. Hier findet sich weiterhin das Konzept einer absoluten Freiheit, an welche sich das Ich nur ins Unendliche annähern kann, die aber unerreichbar ist. So heißt es hier: „objective Thätigkeit, deren Endzweck absolute Freiheit, absolute Unabhängigkeit von aller Natur ist: – ein unendlicher nie zu erreichender Zweck; daher unsere Aufgabe nur diese seyn kann, anzugeben, wie gehandelt werden müsse, um jenem Endzwecke sich anzunähern.“ (SL, GA I,5, 126) Eine Realisierung von Freiheit als Harmonie von Begriff und Ding findet so nur in einzelnen Momenten statt. Wäre das Ich absolut frei, dann wäre es nicht mehr menschlich, sondern göttlich. 252 Hegel kritisiert in der Differenzschrift Fichtes im Naturrecht dargestellte Konzeption einer Beschränkung der Freiheit im Interpersonalitätsverhältnis als Ausdruck eines defizitären Freiheitsbegriffs, welcher gerade aus dem Problem einer Vermittlung von Unbestimmtheit und Bestimmtheit resultiere: „In der lebendigen Beziehung ist allein insofern Freiheit, als sie die Möglichkeit, sich selbst aufzuheben und andere Beziehungen einzugehen, in sich schließt; d. h. die Freiheit ist als ideeller Faktor, als Unbestimmtheit weggefallen; die Unbestimmtheit ist in einem lebendigen Verhältnisse, insofern es frei ist, nur das Mögliche, nicht ein zum Herrschenden gemachtes Wirkliches, nicht ein gebietender Begriff. Aber die aufgehobene Unbestimmtheit ist unter der freien Beschränkung seiner Freiheit im System des Naturrechts nicht verstanden; sondern indem die Beschränkung durch den gemeinsamen Willen zum Gesetz erhoben und als Begriff fixiert ist, wird die wahre Freiheit, die Möglichkeit, eine bestimmte Beziehung aufzuheben, vernichtet.“ (Differenz, TWA 2, 83) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs Folgt man der Fichte-Deutung Dieter Henrichs, dann besteht die Aktualität der Philosophie Fichtes in ihrer Theorie der Subjektivität. So ist laut Henrich Fichte der Erste, der nach der strukturellen Verfasstheit des Selbstbewusstseins als solchem fragt, indem er die bis zu Kant vertretene Reflexionstheorie des Bewusstseins in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt,253 wobei dann bereits bei Hegel wieder ein Rückfall ins Reflexionsmodell zu verzeichnen sei. Die Reflexionstheorie erklärt nach Henrich Selbstbewusstsein in Analogie zum Subjekt-Objekt-Modell der Gegenstandserkenntnis als Rückbeugung, in welcher sich das Ich als Subjekt auf sich selbst als Objekt zurückwendet. Nach Henrich weist die Reflexionstheorie dabei zwei gravierende Mängel auf: Zum Ersten wird der Reflexionstheorie zufolge ein bereits vorhandenes Wissen ergriffen, wenn das Ich als Subjekt sich auf sich selbst als ein Objekt richtet, d. h., das Ich als Objekt muss dem Ich als Subjekt vorhergehen, was aber nicht möglich ist, insofern Ich-Subjekt und Ich-Objekt identisch sein müssen. Zum Zweiten muss das Ich-Subjekt schon von sich wissen, um auf sich reflektieren zu können. Die Reflexionstheorie setzt somit nach Henrich in doppelter Hinsicht voraus, was sie zu erklären vorgibt: Nicht nur muss das Ich-Objekt vor dem Ich-Subjekt vorhanden sein, auch das Wissen vom Ich-Objekt als Gewusstem muss seinem Gegenstand vorausliegen.254 Fichte ersetzt in der Interpretation Henrichs das Reflexionsmodell durch ein Produktionsmodell, Fichte habe hierbei aber die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins nicht überwinden können, insofern er in die Aporien der Reflexionstheorie zurückfalle. Manfred Frank übernimmt diese Deutung Henrichs, wobei er einen Bezug zur frühromantischen Theorie des Selbstbewusstseins herstellt. Die Frühromantiker vermögen so nach Frank die Aporien der Reflexionstheorie zu lösen, indem sie die Reflexion auf einen trans-
253 Vgl. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 195. 254 Vgl. ebd., S. 193-195. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
zendenten Grund hin übersteigen.255 Fichte gehe es zwar in seiner Ichkonzeption um einen Gegenentwurf zur Reflexionstheorie, er falle aber hierin in das Reflexionsmodell zurück. Die verschiedenen Entwicklungsstufen in der fichteschen Selbstbewusstseinstheorie seien vor diesem Hintergrund zu verstehen: Fichte gehe es eben um die Vermeidung der Probleme der Reflexionstheorie. Henrich geht von drei Entwicklungsstufen der Konzeption des Selbstbewusstseins in der Philosophie Fichtes aus, denen drei IchFormeln korrespondieren sollen. Die erste Ich-Formel entwickelt Fichte Henrich zufolge im ersten Grundsatz der Grundlage. Sie lautet: „das Ich setzt sich schlechthin“.256 Das Sich-Setzen meint nach Henrich bei Fichte hierbei die Unmittelbarkeit, in welcher das Ich als Ganzes hervortritt.257 Selbstbewusstsein kann so nicht als Produkt eines Ich-Subjekts verstanden werden. Insofern die Formel vom schlechthinnigen Sich-Setzen nach Henrich nicht zu erklären vermag, was sie zu erklären vorgibt, erweitert sie Fichte 1797 zur Formel vom „Sich-Setzen als sich setzend“.258 Die dritte Ich-Formel entwickelt Fichte Henrich zufolge 1801, indem er Selbstbewusstsein nun als „Tätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist“ auffasst.259 Henrich liest Fichte zuerst als Theoretiker des Selbstbewusstseins. Er unternimmt dabei den Versuch einer Reaktualisierung der fichteschen Philosophie, insofern er ihm ein innovatives Produktionsmodell zuschreibt, welches gegen die Tradition der Reflexionstheorie gerichtet sei. Henrich deutet Fichtes Selbstbewusstseinstheorie dabei im Sinne einer Fortschrittsgeschichte, wobei er eine Nähe des fichteschen Spättheorems zur eigenen Konzeption konzediert, die Bewusstsein ex negativo zum Reflexionsmodell als anonyme Dimension versteht.260 Die verschiedenen Entwicklungsstufen in der fichteschen Selbstbewusstseinstheorie seien vor diesem Hintergrund zu verstehen: Die erste Formel sei insofern defizitär, als das Sich-Setzen als ein bloßes „Auftreffen des umgewendeten Aktes auf seine eigene Aktuosität“261 kein Wissen explizieren könne. Die zweite Formel expliziere nun zwar 255 Vgl. Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewusstseins-Theorie, S. 449476. 256 Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 198. 257 Vgl. ebd., S. 199. 258 Vgl. ebd., S. 202. 259 Vgl. ebd., S. 206. 260 Vgl. Henrich, Selbstbewusstsein, S. 281. 261 Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 201. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
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ein in sich geschlossenes Wissen, aber es bestehe auch hier die Notwendigkeit der Revision und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen auf der Seite des Wissens: Das Ich müsse sehen, wie aus ihm die Dopplung der Selbsterkenntnis von Anschauung und Begriff bzw. Haben und Wissen entspringt. Zum anderen auf der Seite der Produktion: Die Produktion müsse im Produkt gewusst sein.262 Die gleichursprüngliche Einheit von Ich-Anschauung und Ich-Begriff verweise auf einen ihr vorausliegenden tätigen Grund, woraus die dritte Formel resultiere. Das Ich als Für-sich-Sein müsse so als Resultat von der Ich-Tätigkeit unterschieden werden, woraus die dritte Formel resultiere. Henrich hat einen eminent wichtigen Beitrag zur Fichte-Forschung und darüber hinaus zur Theorie des Selbstbewusstseins geleistet. So kommt erst mit Henrich eine systematisch und nicht mehr nur historisch ausgerichtete Fichte-Forschung in Gang, was auch durch das Erscheinen der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ab 1962 begünstigt wird, durch welche erst eine kritisch gesicherte Textbasis zur Verfügung steht. Wer sich mit Fichtes Selbstbewusstseinstheorie beschäftigt, kommt damit an Henrich nicht vorbei. Wenn Henrich Fichte als Kritiker der Reflexionstheorie kennzeichnet, dann ist das zunächst einmal äußerst irritierend, da der Begriff der Reflexion in der fichteschen Wissenschaftslehre sehr oft Verwendung findet. Reflexion bezieht sich dabei sowohl auf das Prinzip der Philosophie als auch auf deren Methode. Es stellen sich daher folgende Fragen: Welche Bedeutung hat der Begriff der Reflexion bei Fichte? Welche Bedeutung weist Henrich dem Begriff der Reflexion zu? Sind beide Konzepte deckungsgleich oder gibt es eine Divergenz, die Henrichs Diagnose, Fichte sei ein Kritiker der Reflexionstheorie des Ichs, als berechtigt ausweist? Der Terminus der Reflexion tritt bei Fichte in fünf zentralen Kontex262 Henrich zufolge kann die Zirkelproblematik nur durch eine nicht-egologische Bewusstseinstheorie gelöst werden, welche Bewusstsein nicht im Ausgang von einem Subjekt oder Ich erkläre. Gegen Henrichs Behauptung, Fichte verfalle auch noch in der WL nova methodo den Aporien des Reflexionsmodells, macht Klotz geltend, dass die intellektuelle Anschauung ein vorreflexives, nicht-intentionales Bewusstsein darstelle, welches als Ermöglichungsbedingung des auf Gegenstände bezogenen intentionalen Bewusstseins fungiere. Bei Fichte finde sich so bereits ein Ansatz für die von Henrich vorgeschlagene nicht-egologische Theorie des Selbstbewusstseins, insofern er den Ursprung des Ichs in einem unbewussten Akt des Anschauens fundiere. (Vgl. Klotz, Selbstbewusstsein und praktische Identität, S. 123.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
ten auf: a) abstrahierende Reflexion als Abstraktion vom empirischen Bewusstsein, b) Sich-Setzen als sich setzend als Prinzip der Reflexion (Prinzip des Lebens und des Bewusstseins), c) intellektuelle Anschauung als reine Reflexion oder In-sich-Zurückgehen, d) pragmatische Geschichte des Geistes als Reflexion der Reflexion und e) Reflexionsgesetz. Drei zentrale Aspekte gilt es im Folgenden zu diskutieren: Zum Ersten Henrichs Darstellung der Reflexionstheorie, zum Zweiten Henrichs Interpretation von Fichtes Selbstbewusstseinsmodell und zum Dritten Henrichs eigenes Modell von Selbstbewusstsein.
1) Henrichs Kritik des Reflexionsmodells Henrich unterscheidet drei Epochen innerhalb der Theorie des Selbstbewusstseins. Nach einer Vorgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit, in der Selbstbewusstsein eine eher marginale Rolle spielt, wird in der zweiten, mit Descartes einsetzenden Epoche Selbstbewusstsein zu einem Begründungsprinzip, wobei allerdings nicht die Struktur von Selbstbewusstsein im Fokus steht, da dieses lediglich in seiner Relation zu anderen Faktoren Berücksichtigung findet. Fichte steht für Henrich am Anfang der dritten Epoche der Selbstbewusstseinstheorie, insofern er die Grundstruktur von Selbstbewusstsein in den Mittelpunkt seiner Wissenschaftslehre stellt. Alle Theorien von Descartes bis Kant operieren Henrich zufolge dabei mit demselben Modell von Selbstbewusstsein. Insofern dessen Struktur unhinterfragt bleibt, wird diese Konzeption von Selbstbewusstsein einfach aus der Tradition übernommen. Die mit dieser Struktur operierenden Theorien fasst Henrich unter dem Signum „Reflexionstheorie“ zusammen: Bringt man sie auf eine kurze Formel, so kann man sie die Theorie vom Wesen des Ich als Reflexion nennen. Sie nimmt zunächst ein Subjekt des Denkens an und betont, dass dieses Subjekt in einer stetigen Beziehung zu sich selbst steht. Dann behauptet sie weiter, diese Beziehung komme dadurch zustande, dass sich das Subjekt zu seinem eigenen Gegenstand macht, die Tätigkeit des Vorstellens, die ursprünglich auf Gegenstände bezogen ist, in sich selbst zurückwendet und so den einzigen Fall einer Identität von Tätigkeit und Getätigtem bewerkstelligt.263 263 Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 192. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Henrichs Kritik des Reflexionsmodells
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Henrich erläutert dann die wesentlichen Charakteristika der sogenannten Reflexionstheorie in Bezug auf Kant. Bei Kant sei so das Ich als ein Akt konzipiert, in welchem das Subjekt des Wissens erstens von allen besonderen Gegenständen abstrahiert, dabei zweitens auf sich reflektiert und so drittens fortwährend die Einheit mit sich wahrt. Das Reflexionsmodell weist für Henrich hierin folgende Merkmale auf: 1) Das Selbstbewusstsein wird über drei Elemente expliziert: Subjekt, Objekt und die Relation zwischen beiden. 2) Die Relation zwischen Subjekt und Objekt lässt sich als Selbstbeziehung beschreiben, in welcher sich das aktive Subjekt selbst zu einem passiven Objekt macht, d. h., sich selbst vergegenständlicht. 3) Durch den Akt der Selbst-Verobjektivierung wird eine Identität zwischen Subjekt und Objekt hergestellt, d. h., die Relation von Subjekt und Objekt lässt sich als Identitätsbeziehung kennzeichnen. Die Subjekt-Objekt-Identität lässt sich so durch die Gleichung „Ich = Ich“ explizieren. 4) Die Selbstbeziehung weist eine zirkuläre, nicht-lineare Struktur auf. 5) Zwischen Subjekt und Objekt besteht ein Grund-Folge-Verhältnis, d. h., das Objekt ist das Produkt des Subjekts. 6) Es handelt sich nicht um eine bloß temporäre, sondern um eine permanente Selbstbeziehung. 7) Die Reflexion nimmt ihren Ausgang von einer Abstraktion vom Objektbewusstsein, in welchem Subjekt und Objekt differieren. Das Reflexionsmodell resultiert so aus einer Übertragung des Modells des Objektbewusstseins auf das Selbstbewusstsein. 8) Die Selbstbeziehung ist rein formal und damit leer. Es findet keine Erweiterung der Erkenntnis der Wirklichkeit statt, da das Wissen des Objekts bereits im Subjekt als Wissendem enthalten, mit diesem also deckungsgleich ist. 9) Die Rückbeugung des Ichs wird aus der Freiheit des Ichs erklärt. So ist Henrich zufolge das Ich im „ich denke“ bei Kant nicht leidend, sondern selbstbestimmt, was Henrich als Beleg dafür anführt, dass Kant ein Vertreter des Reflexionsmodells ist. Für Henrich ist die Zirkularität der Selbstbeziehung nun problematisch und zwar in doppelter Hinsicht: Das erste Problem lässt sich dabei als ontologischer Zirkel oder Seinszirkel, das zweite als episteSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
mischer Zirkel oder Wissenszirkel bezeichnen.264 Henrichs Kritik der Reflexionstheorie erfolgt nun im Ausgang von Fichte, wobei Fichte allerdings das Problem des Seinszirkels in den Fokus stelle. Das Selbstbewusstsein als wissende Selbstbeziehung weist eine ontologisch-epistemologische und eine rein epistemologische Dimension auf: In ontologischer Hinsicht meint die Reflexion das Ergreifen und Explizit-Machen eines bereits vorhandenen Wissens. Das Ich ist hierbei sowohl Voraussetzung als auch Resultat der Reflexion. Die die Reflexionstheorie explizierende Gleichung „Ich = Ich“ ist bereits im Subjekt in Anspruch genommen, obwohl sie erst durch die Reflexion zustande kommen soll. Der Seinszirkel besteht also in dem Problem, dass das Ich, um sich auf sich beziehen zu können, schon vorhanden sein muss. Das Subjekt muss also ein vollständiges Ich sein, da Selbstbewusstsein als Identität von Subjekt und Objekt definiert ist. Die Erklärung des Selbstbewusstseins als Ganzes von Subjekt und Objekt im Ausgang vom Moment des Subjekts scheitert aber. Die dogmatische Voraussetzung des Selbstbewusstseins in dessen Explikation führt zur Suspension des Selbstbewusstseins. Dieser erste Einwand steht Henrich zufolge bei Fichte im Mittelpunkt, es gibt aber noch einen zweiten Einwand, den Henrich für den entscheidenden hält und durch dessen Nicht-Berücksichtigung es Fichte nach Henrich nicht gelingt, einen unangreifbaren Gegenentwurf zur Reflexionstheorie zu präsentieren. So ist das Modell der Reflexion nicht nur in ontologischer, sondern auch in epistemologischer Hinsicht zirkulär. Insofern die Identität von Subjekt und Objekt nicht durch eine dritte Instanz vermittelt ist, stellt sich die Frage, wie das Ich von sich ein Wissen erlangen kann. Das Ich muss sich selbst wissen, um sich selbst auf sich zurückzuwenden, d. h., es muss bereits wissen, dass das Objekt, welches es in der Rückbeugung ergreift, es selbst ist. So ist die Formel „Ich = Ich“, die als Lösung des Problems des Selbstbewusstseins präsentiert wird, ein zweites Mal in dessen Herleitung in Anschlag gebracht. Da es sich beim Selbstbewusstsein um eine unmittelbare Selbstbeziehung handelt, kann der Zirkel auch nicht
264 Ein Wissenszirkel besteht dabei auch in Bezug auf Objektbewusstsein, da ich auch im Bezug auf ein externes Objekt dieses als Objekt wissen muss, um es als solches zu identifizieren. Die von Henrich allein für die Selbstbeziehung geltend gemachte Problematik der Zirkularität betrifft so vielmehr Wissensrelationen im Allgemeinen. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Henrichs Kritik des Reflexionsmodells
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durch die Einführung einer dritten, externen Instanz gelöst werden. Im Folgenden gilt es nun zu prüfen, ob Henrichs Darstellung und Kritik der Reflexionstheorie zutreffend ist. Henrich zufolge steht in der Reflexionstheorie die Begründungsfunktion des Ichs im Mittelpunkt, so dass dessen interne Verfasstheit unhinterfragt bleibt. Bei Fichte rücke dann zum ersten Mal die Frage nach der Struktur des Selbstbewusstseins in den Fokus. Gegen eine solche Interpretation muss nun eingewendet werden, dass Selbstbewusstsein bei Fichte nicht losgelöst von dessen Begründungsfunktion thematisiert wird. Insofern Fichte die kantische Philosophie systematisieren will und damit im Anschluss an Reinhold das für den Deutschen Idealismus zentrale Systemprojekt initiiert, ist die Begründungsfunktion, die das Selbstbewusstsein bei Fichte zu erfüllen hat, eine gegenüber Kant sehr viel umfassendere. Kants und Fichtes Konzeptionen von Selbstbewusstsein trennt also nicht ein Vorrang der Begründungsfunktion auf Seiten Kants. Vielmehr fungiert bei Kant Selbstbewusstsein als formales Begründungsprinzip. So ist die reine Apperzeption eingesetzt als höchster Punkt der Transzendentalphilosophie, der Logik und des Verstandesgebrauchs, während bei Fichte das absolute Ich als materiales Deduktionsprinzip fungiert. Insofern das absolute Ich als unbedingter Systemanfang die Einheit von Form und Gehalt darstellt, stellt sich für Fichte erst die Frage nach dessen interner Struktur. Bei Kant kann demgegenüber von einer Struktur des Selbstbewusstseins gar nicht die Rede sein, da dieses für Kant als letzter Bezugspunkt der Transzendentalphilosophie eine bloß formale Voraussetzung ist. So leistet das Selbstbewusstsein bei Kant die Synthesen der Begriffe zu Urteilen und kann damit selbst kein Begriff sein, d. h., es weist keine reflexive Struktur auf, sondern ist vielmehr irreflexiv.265 Fichte definiert demgegenüber das Ich in der WL nova methodo als Einheit von Anschauung als Gehalt und Begriff als Form. So ergibt sich der Verdacht, dass die Reflexionstheorie gar nicht die vorherrschende Theorie vor Fichte war, sondern dass Henrichs Kritik gegen eine fiktive Theorie gerichtet ist. Auch das von Henrich angeführte Zitat, das belegen soll, dass Kant ein Reflexionsmodell vertritt, behauptet ja lediglich
265 Vgl. hierzu der Exkurs zu Kant. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
den Spontaneitätscharakter des Ichs, nicht aber, dass dasselbe eine reflexive Struktur aufweist.266 Um Fichtes Kritik eines ontologischen Zirkels in Bezug auf die Tradition der Reflexionstheorie zu belegen, führt Henrich folgendes Zitat aus der WL nova methodo an: Dieses Bewußtseyns von unserem Bewußtseyn werden wir […] nur dadurch bewußt, daß wir dasselbe abermahls zum Objekt machen, u. dadurch Bewußtseyn von dem Bewußtseyn unseres Bewußtseyns erhalten, und so ins Unendliche fort. – Dadurch aber wurde dieses unser Bewußtseyn nicht erklärt, oder es giebt dem zu Folge gar kein Bewußtseyn, indem man es als Zustand des Gemüths oder als Objekt annimmt, u. daher immer ein Subjekt voraussetzt, dieses aber niemahls findet. Diese Sophisterei lag bisher allen Systemen – selbst dem Kantischen – zum Grunde. (WLnm-H, GA IV,2, 30)
Es gilt nun aber in Bezug auf die Explikation des Selbstbewusstseins zwei verschiedene Problembestände zu unterscheiden: Zum einen das Problem des Zirkels, zum anderen das des infiniten Regresses. Fichte nimmt diese terminologische Unterscheidung nicht vor, wenn er sowohl einen Zirkel als auch einen Regress problematisiert, wobei er in beiden Fällen von einem Zirkel spricht. Henrich identifiziert nun den von Fichte monierten Regress mit dem Problem des 266 „Der Ausdruck: ich denke (dieses Objekt), zeigt schon an, daß ich in Ansehung der Vorstellung nicht leidend bin.“ (Reflexionen zur Metaphysik, AA XVII, 463.) Becker betont die Ambivalenz des kantischen Selbstbewusstseinsmodells: Zum einen kritisiere Kant im Rahmen der theoretischen Philosophie mit seiner Konzeption der reinen Apperzeption das Reflexionsmodell aufgrund von dessen Zirkularität im Paralogismen-Kapitel aus logischen Gründen. Hierdurch sei sein Modell von Selbstbewusstsein aber widersprüchlich, da die anonyme Apperzeption aufgrund ihrer Unbestimmtheit nicht mehr als Selbstbewusstsein ausgewiesen werden könne. Das reine Selbstbewusstsein sei so nur durch das zweistellige, zirkuläre Reflexionsmodell zu explizieren. Innerhalb seiner praktischen Philosophie rekurriere Kant hingegen mit seiner Konzeption einer spontanen Vernunft auf das Reflexionsmodell, insofern die Spontaneität des Ichs an die Erfahrung sich vergegenständlichender Selbstvergewisserung im Modus reflexiver Selbstbeziehung gebunden sei. (Vgl. Becker, Idealismus und Skeptizismus, S. 68-73.) In Selbstbewusstsein unterscheidet Henrich dann zwei Varianten der Reflexionstheorie: „Nun muss man freilich zwei Varianten der Reflexionstheorie des Bewusstseins voneinander unterscheiden. Die eine, die Kantische, versteht Reflexion als eine Aktivität des Ich, während die andere sie nur als eine wissende Selbstbeziehung beschreibt, über deren Ursprung sie keine Aussagen zu machen verspricht.“ (Henrich, Selbstbewusstsein, S. 265.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Fichtes Konzeption als Produktionsmodell
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ontologischen Zirkels. Der von Fichte beschriebene Regress resultiert dabei aus einer bloß äußerlichen Verobjektivierung des Ichs und damit aus einem Dualismus von Subjekt und Objekt: Die externe Verobjektivierung hypostasiert das Ich einseitig zu einem Gegenstand, wodurch dessen Tätigkeitscharakter verloren geht. Daher erfordert die Vergegenständlichung des Ichs die Voraussetzung eines weiteren Subjekts, das wieder verobjektiviert wird und ein weiteres Subjekt verlangt und so fort ins Unendliche. Das Subjekt ist hierbei auch nur ein dem Ich-Objekt gegenüber Äußerliches. Es ist also nur ein fiktives Subjekt, das der Philosoph konstruiert, um das Selbstbewusstsein zu erklären. Im Zentrum von Fichtes Kritik steht dabei nicht der Akt der Selbst-Verobjektivierung, sondern das Problem einer Verobjektivierung, die dem Ich äußerlich ist. Der Seinszirkel resultiert nun aber gerade daraus, dass der Akt der Rückbeugung bereits ein seiendes Ich voraussetzt, weshalb hierin die Selbst-Verobjektivierung des Ichs problematisch ist. So konzipiert Fichte in der WL nova methodo das Ich qua Selbstbeziehung als interne SelbstVerobjektivierung.
2) Fichtes Konzeption von Selbstbewusstsein als Produktionsmodell In der Interpretation Henrichs hat Fichte zuerst die Zirkularität des Reflexionsmodells durchschaut und das traditionelle Paradigma durchbrochen, indem er dieses durch ein Produktionsmodell zu ersetzen versucht. Da Fichtes Kritik sich dabei allerdings nur auf das Problem des Seinszirkels konzentriere, kann Fichte Henrich zufolge das Reflexionsmodell nicht überwinden. Das Produktionsmodell kann nun in Bezug auf folgende Punkte als Gegenmodell zum Reflexionsmodell verstanden werden: 1) Statt eines Dualismus von Subjekt und Objekt, der trotz der behaupteten Identität der Relata im Reflexionsmodell aus der Annahme einer Gleichwertigkeit des Inhalts von Subjekt und Objekt resultiert, behauptet das Produktionsmodell deren unmittelbare Identität. 2) Der bloß formale Akt der Reflexion wird durch einen realen Akt der Produktion ersetzt. 3) Statt eines Nacheinanders der Relata behauptet das Produktionsmodell das Zugleich von Subjekt und Objekt. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
4) Zwischen Reflexions- und Produktionsmodell besteht ein Richtungsunterschied: Statt einer regressiven, rückwärts gerichteten Rückbeugung des Subjekts auf das Objekt nimmt das Produktionsmodell ein progressives, vorwärts gerichtetes Hervorbringen des Objekts durch das Subjekt an. 5) Statt der bloßen Voraussetzung der Selbstbeziehung im Reflexionsmodell expliziert das Produktionsmodell deren Entstehung. Als Signum eines Produktionsmodells bei Fichte betrachtet Henrich dessen Rede vom Sich-Setzen des Ichs. Henrich stellt heraus, dass Fichte keine Definition des Begriffs des Setzens gibt267 und versucht daher, eine Definition nachzuliefern: „Fichtes Rede vom ‚Setzen‘, die er niemals definiert, eignet sich dazu, beides in einem zu formulieren: Dass etwas ohne vorgängigen Bestand hervortritt und dass es im Hervortreten in Beziehung zum Wissen kommt.“268 Zum einen besteht beim Sich-Setzen also kein Bezug auf ein bereits zuvor schon Gesetztes, d. h., es ist schlechthin oder auch unbedingt. Zum anderen handelt es sich beim Sich-Setzen um eine unmittelbare Produktion von Wissen, d. h., das Sich-Setzen ist als unmittelbarer Akt der Hervorbringung des Wissens zu verstehen. Henrich bringt nun zwei Einwände gegen Fichtes Produktionsmodell vor. Das Problem des Reflexionsmodells besteht ja darin, dass das Ganze der Relation von Subjekt und Objekt qua Relation aus dem einzelnen Moment des Subjekts erklärt wird. Im Produktionsmodell ist das Sich-Setzen als Produktion demgegenüber als ganze Relation gefasst, wobei der Versuch unternommen wird, die Subjekt-Objekt-Relation in den unmittelbaren Vollzug der Tätigkeit selbst zu integrieren. Das Produktionsmodell ist so für Henrich in seiner Kritik am Reflexionsmodell nicht radikal genug. Da es das Wissen des Ichs als Auftreffen auf sich konzipiert und damit die Richtung der Selbstbeziehung im Reflexionsmodell lediglich umkehrt, schleichen sich Elemente der Reflexionstheorie in ihren Gegenentwurf ein. Die Umkehrung der Richtung der Selbstbeziehung kann also nicht den Zirkel des Reflexionsmodells verabschieden. So handelt es sich beim Sich-Setzen auch um eine Selbstbeziehung, wenn auch um eine produktive, wobei deren reflexive Struktur im 267 Fichte gibt aber eine Definition des Setzens, er versteht dieses als „die gesammte Thätigkeit des menschlichen Geistes“. (Fichte an Reinhold, Brief vom 2. Juli 1795, GA III,2, 344.) 268 Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 199-200. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Reflexivpronomen sich expliziert wird. Indem das Produktionsmodell versucht, das Reflexionsmodell durch die Konzeption von Wissen als unmittelbarer Tätigkeit zu überwinden, gerät es in eine zweite Schwierigkeit: Das Sich-Setzen als unmittelbares Auftreffen auf sich ist insofern unterbestimmt, als es die begrifflich vermittelte Selbst-Repräsentation des Selbstbewusstseins und damit dessen Wissenscharakter nicht zu explizieren vermag. Insofern das SichSetzen kein Wissen verständlich machen könne, nimmt Fichte Henrich zufolge eine Selbstkorrektur vor. So erweitere er die Formel des Sich-Setzens 1797 zur Formel vom Sich-Setzen als sich setzend. Die Repräsentationspartikel als bringt dabei zum Ausdruck, dass es sich beim Ich um ein Wissen von etwas als etwas Bestimmtem handelt. Die erste Formel konnte noch nicht, da sie lediglich das SichSetzen als in sich zurückgehende Tätigkeit konzipierte, den Unterschied von organischer Natur oder Leben und Ich als Bewusstsein einsichtig machen. Die Erweiterung der Ich-Formel bezieht dabei Henrich zufolge ihre Legitimation aus der Kritik am Zirkel der Reflexionstheorie: Ist das Ich nicht für sich, dann ist es notwendig für ein anderes Ich und damit selbst kein Ich als selbstbezügliches Selbstbewusstsein. So unterliegt die erste Formel eben selbst Fichtes Einwand gegen die Reflexionstheorie. Wie bereits gezeigt, kritisiert Fichte an seinen Vorgängern allerdings keinen Zirkel, sondern einen infiniten Regress. Es ist aber zutreffend und hierin ist Henrich zu folgen, dass diese Kritik auch Fichtes eigene Ich-Konzeption aus § 1 der Grundlage trifft. Die neue Formel des Sich-Setzens als sich setzend fasst das Ich nicht mehr nur als reale Tätigkeit, sondern als gleichursprüngliche Einheit von Wirklichkeit und Selbsterkenntnis, von Anschauung und Begriff, Objekt und Subjekt, wodurch sich der Unmittelbarkeitscharakter der ersten Formel in der zweiten Formel nach Henrich noch verstärke. Obgleich die zweite Formel das Ich als ein in sich geschlossenes Wissen konzipiere, verstärke sich bei dieser aber auch die Problematik der ersten Formel. Bereits diese inkludiere trotz der Behauptung der Unmittelbarkeit eine Relation und damit ein Moment der Vermittlung. Henrich bringt nun zwei Kritikpunkte gegen die zweite Formel vor, wobei diese jeweils bei gegensätzlichen Richtungen des Verhältnisses von Produktion und Reflexion ansetzen: Zum einen müsste das Ich die Produktion des Wissens wissen, d. h., das Ich müsste Einsicht in seine eigene Entstehung haben. Das Ich als Selbstbewusstsein müsste sich selbst durchsichtig sein. Wissen Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
ist nur über eine begriffliche Vermittlung möglich, was Fichte durch die Repräsentationspartikel als zum Ausdruck bringt. Ich-Anschauung und Ich-Begriff sind allerdings von Fichte als gleichursprünglich konzipiert und damit unmittelbar. Die zweite Formel liefert nach Henrich somit nur eine ungenügende Explikation von Wissen, da die Produktionskraft für das Ich im Dunkeln bleibt. Zum anderen besteht das Problem, dass die Produktion im Produkt gewusst sein müsste. Ist die Produktion aber unmittelbar, dann entgeht sie dem vermittelnden Zugriff des Wissens. Es müssen also zwei Probleme unterschieden werden: Zum Ersten müsste das Wissen des Ichs unmittelbar sein. Zum Zweiten müsste die Produktion des Wissens vermittelt sein. Auch bei der Als-Formel besteht nun die Schwierigkeit, dass über den Aspekt der Vermittlung des Wissens die Problematik der Zirkularität ins Spiel kommt. Die Erweiterung der ersten Formel ergänzt den Wissensaspekt. Damit tritt aber mit dem Reflexivitätscharakter des Wissens auch die Problematik der Zirkularität hervor. So erzwingt nach Henrich die zweite Formel den Überstieg auf einen bewusstseinstranszendenten Grund. Die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins ist für Henrich so nur zu retten, wenn diese in einen dem Ich vorgängigen, irreflexiven Grund verlagert wird. Erst das Resultat dieses Grundes kann nach Henrich als Ich bezeichnet werden. Reflexion als Für-sich-Sein stelle demnach ein sekundäres Phänomen dar. Die dritte Formel, welche Henrich als „Tätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist“ charakterisiert, ist nach Henrich als Versuch Fichtes zu verstehen, die Problematik der zweiten Formel zu lösen. Für die dritte Formel sind dabei zwei Aspekte zentral: Zum einen soll das Wissen des Ichs aus einer ichtranszendenten Instanz expliziert werden. Dies kommt in der passivischen Form „eingesetzt ist“ zum Ausdruck, welche das Verhältnis des Auges als Selbsterkenntnis des Ichs zu einer ursprünglichen Tätigkeit beschreibt. Zum anderen deutet Henrich die dritte Formel als den Versuch, die Spannung zwischen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit in der zweiten Formel über die Struktur einer fünffachen Synthesis zu beheben. Diese fünffache Struktur kennzeichnet Henrich als Doppelstruktur von anschaulich präsentierter Tätigkeit als Unmittelbarkeit und begrifflich vermittelter Tätigkeit als Mittelbarkeit, wobei diese beiden Pole in einem Verhältnis der Wechselbestimmung stehen. Die dritte Formel integriert dabei den Wissenscharakter der zweiten Formel, d. h. das Moment der Als-Repräsentation im Selbstbezug des Auges, das Fichte als ein sich selbst sehendes Auge bestimmt. Die Metaphorik des Auges ist Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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in der Perspektive Henrichs nun nicht als unwissenschaftlich zu bewerten, sondern vielmehr als Versuch zu deuten, eine neue Einsicht sprachlich zu formulieren, die mit den Mitteln der in der räumlichen Erfahrungswelt ausgebildeten Sprache nicht zu formulieren ist. Henrich spricht so in Bezug auf das Modell des Selbstbewusstseins als Auge von einer „Lichtwelt“269.
3) Henrichs Modell von Selbstbewusstsein In der Perspektive Henrichs gerät die Reflexionstheorie in einen Zirkel, da sie den Ursprung des Selbstbewusstseins zu explizieren versucht. So resultiere der Zirkel in der Struktur des Selbstbewusstseins aus dessen inadäquater Beschreibung: Nicht das Ich, sondern die Theorie vom Ich sei zirkulär. Es liege also eine Verwechslung zweier verschiedener Ebenen vor: Die Beschreibung des Phänomens Selbstbewusstsein werde fälschlicherweise mit dem Phänomen selbst identifiziert. Die Reflexion stelle aber ein gegenüber dem Selbstbewusstsein sekundäres Phänomen dar. Während sich in dem Aufsatz Fichtes ursprüngliche Einsicht (1966) nur vage Andeutungen zu Henrichs eigener Konzeption von Selbstbewusstsein finden, präsentiert er diese dann in dem wenig später folgenden Aufsatz Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie (1970). Henrich prüft hier zunächst nicht-egologische und egologische Theorien von Bewusstsein. Seine These hierbei ist, dass beide Typen der Bewusstseinstheorie mit dem Reflexionsmodell operieren. Als Gegenreaktion auf diese Theorien stellt Henrich dann drei Reduktionismen vor, wobei Selbstbewusstsein auf Verhalten, Intersubjektivität oder Materie reduziert wird. Diese fallen zwar nicht der Kritik am Reflexionsmodell anheim, können auf der anderen Seite aber nicht den Sachverhalt der unmittelbaren Vertrautheit des Bewusstseins mit sich selbst als einer irreduziblen Tatsache erklären. Henrich versucht mit seinem eigenen Modell einen Mittelweg zwischen der Reflexionstheorie einerseits und den reduktionistischen Bewusstseinstheorien andererseits einzuschlagen. Er bezeichnet sein Modell so als ein „Minimalprogramm“, da es sich um einen Reduktionismus handelt, der allerdings den Aspekt 269 „Die Augentätigkeit ist eine Lichtwelt mit undurchdringlichen Grenzen. Weil es so ist, versagt jedes räumliche Modell und mit ihm die Sprache, die in der Welt des Raumes ausgebildet wurde.“ (Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, S. 208.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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der Vertrautheit des Bewusstseins mit sich berücksichtigt. Henrichs Methode besteht zum einen in einer Orientierung an der Methode der analytisch-empiristischen Tradition der Philosophie, zum anderen kennzeichnet Henrich sein Vorgehen als ein Kontrastverfahren, ein Verfahren ex negativo zur Reflexionstheorie. Die Ausführungen Henrichs fallen hierbei sehr knapp aus, da er nur eine „Skizze“ liefern möchte. Henrich schließt dann mit einer historischen und praktischen Perspektive auf Bewusstseinstheorien im Ausgang vom eigenen Modell. Henrich entwirft ein Zwei-Ebenen-Modell von Bewusstsein: Die erste, untere Ebene stellt dabei ein ichloses Bewusstsein dar, das den Horizont der zweiten, oberen Ebene bildet, welche durch das Selbst als aktives, sich selbst steuerndes Prinzip gekennzeichnet ist, dessen Funktion in der Organisation des Bewusstseinsraums besteht. Bei Selbstbewusstsein handelt es sich Henrich zufolge somit um einen Funktionszusammenhang dreier Elemente: Erstens Bewusstsein als Dimension, zweitens die Kenntnis der Öffnung dieser Dimension und drittens ein aktives, in der Dimension bekanntes Selbst. Bewusstsein ist für Henrich so keine Selbstbeziehung, d. h. keine sich selbst identifizierende Leistung, sondern ein singuläres, beziehungsloses Ereignis, eine anonyme Dimension, ein passives Medium. Bewusstsein als Dimension sei dabei insofern exklusiv, als jedes Bewusstsein zu einem anderen Bewusstsein niemals einen derartigen Zugang habe wie zu sich selbst (unmittelbarer vs. mittelbarer Zugang). Wie erklärt Henrich nun das Wissen des Bewusstseins um sich, dessen Explikation ja das eigentliche Problem aller Bewusstseinstheorien ist? Da für Henrich Bewusstsein nicht relational und damit vermittelt sein kann, ist das Wissen des Bewusstseins von sich selbst unmittelbar.270 Dieses bezeichnet Henrich als „Kenntnis“ oder 270 Manfred Frank fasst im Anschluss an Dieter Henrich Selbstbewusstsein als Unmittelbarkeit, da eine Auffassung des Selbstbewusstseins im Sinne eines begrifflichen Bewusstseins in einen Zirkel führe und so unhaltbar sei. Die Präreflexivität des Selbstbewusstseins vereine dabei drei Aspekte, welche Selbstbewusstsein negativ bestimmen als ein solches, welches nicht durch die Dualität zweier Relata zu verstehen sei: Zum Ersten sei Selbstbewusstsein kein Produkt einer zielgerichteten Handlung. Zum Zweiten sei Selbstbewusstsein kein Fall von Wissen, da Wissen begrifflich ist. Zum Dritten sei Selbstbewusstsein kein Fall einer echten Identifikation, da diese die Verschiedenheit der Relata inkludiert. (Vgl. Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewusstseins-Theorie, S. 448-449.) Frank zufolge kann Fichte trotz seiner Kritik am Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins dieses nicht überwinden, da er Identität im Sinne einer GleichsetSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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„Bekanntschaft“ seiner selbst.271 Henrich gibt zu bedenken, „dass nämlich Bewusstsein ohne Kenntnis von sich nicht auftreten kann, eine letzte irreduzible Tatsache für die Beschreibung dessen, was wir Bewusstsein nennen können.“272 Diese sei in der Bewusstseins-Dimension implizit enthalten, Henrich zufolge bestehe eine Koexistenz des Bewusstseins als Dimension und der Kenntnis des Bewusstseins mit sich selbst. Bei Selbstbewusstsein als explizitem Bewusstsein handle es sich so um ein sekundäres Phänomen, das das ursprüngliche, unmittelbare Wissen der anonymen Bewusstseins-Dimension bloß nachbilde, was zu der Täuschung führe, Selbstbewusstsein sei primär als aktives Prinzip zu verstehen. Die sekundäre Selbstaneignung des ursprünglichen, passiven Bewusstseins durch das aktive Selbst sei einer produktiven Selbsterzeugung ähnlich. Bewusstsein ist für Henrich somit nicht selbstgenügsam, sondern nur verständlich durch Rückführung auf einen selbstentgrenzten Horizont, ein implizites, selbstloses Bewusstsein vom Selbst.273 Henrichs Modell läuft so auf eine Umkehrung der Bewusstseinsrelation hinaus: Nicht das Subjekt habe Bewusstsein, sondern das Bewusstsein habe vielzung von Verschiedenen verstehe. Frank interpretiert dabei im Ausgang vom dritten Grundsatz den ersten Grundsatz der Grundlage, wodurch er die Selbstgleichheit des absoluten Ichs im Sinne der Konzeption der Teilbarkeit auffasst. Damit übersieht Frank aber die Unbestimmtheit des absoluten Ichs im ersten Grundsatz. Die Formel der intellektuellen Anschauung kann für Frank so nicht die Nichtunterschiedenheit und Einfachheit des Ichs zum Ausdruck bringen, insofern sie die Differenz von Bewusstseinssubjekt und -objekt, von Anschauung und Begriff impliziere. Dadurch gerät Fichte nach Frank in eine Zweideutigkeit: Zum einen betrachte Fichte Bewusstsein als begriffliches, deutliches Bewusstsein, zum anderen nehme er aber dann ein unmittelbares Bewusstsein an. (Vgl. ebd., S. 449-453.) Frank weist so Fichtes Ich-Konzeption als ungenügend zurück, da sie hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleibe, nämlich einer Überwindung der Reflexionstheorie des Ichs. Frank knüpft hierbei an die frühromantische Konzeption des Selbstbewusstseins als bloße Unmittelbarkeit an. Es stellt sich nun aber die Frage, ob Selbstbewusstsein durch eine präreflexive Unmittelbarkeit, die Mit-sich-Vertrautsein, aber kein Wissen sein soll, zu erklären ist. Mit der Behauptung der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins bleibt der Zusammenhang von Sprache und Bewusstsein im Begriff des Ichs im Dunkeln. Darüber hinaus kann das Verhältnis von Selbst- und Objektbewusstsein nicht einsichtig gemacht werden. Wenn auch hier die Behauptung der Unmittelbarkeit die Lösung des Problems bereitstellen soll, dann ist nicht einzusehen, wie überhaupt begriffliches Bewusstsein möglich sein soll. 271 Vgl. Henrich, Selbstbewusstsein, S. 277-278. 272 Ebd., S. 278. 273 Pothast charakterisiert Bewusstsein in der Verschärfung der Kritik Henrichs als objektiven Prozess. (Vgl. Pothast, Über einige Fragen der Selbstbeziehung, S. 76.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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mehr das Subjekt. Henrich nimmt nur noch eine graduelle Differenz von implizitem und explizitem Bewusstsein an, wodurch er die Differenz von Bewusstem und Unbewusstem unterläuft. Er glaubt hierdurch zwei basale Probleme lösen zu können: Zum Ersten revidiert er die strikte Differenz von Mensch und Tier, zum Zweiten expliziert er die intersubjektive Dimension von Freiheit als Überwindung von selbstbezogener Reflexion.274 274 Eine sprachanalytische Kritik der Positionen Fichtes und Henrichs findet sich bei Ernst Tugendhat.Tugendhat unterscheidet in Bezug auf die traditionelle Selbstbewusstseinstheorie drei Modelle, die gleichsam drei verschiedene Momente eines komplexen Gesamtmodells bilden: Zum Ersten das Substanzmodell, zum Zweiten das Subjekt-Objekt-Modell und zum Dritten das Wahnehmungsmodell (Metapher des inneren Auges bzw. des Sehens als Grundmetapher). (Vgl. Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, S. 33-34.) Die drei Momente des traditionellen Modells stehen dabei in einem notwendigen Zusammenhang: Indem das traditionelle Modell einfach die Struktur des Gegenstandsbewusstseins auf das Selbstbewusstsein übertrage, wird dieses 1) als Substanz hypostasiert, was in der Verwendung des Substanzprädikats Ich zum Ausdruck komme, 2) als Subjekt-Objekt-Struktur expliziert, in welcher sich nicht wie beim Gegenstandsbewusstsein das Subjekt auf ein von ihm differentes Objekt bezieht, sondern sich selbst Objekt ist und 3) dieses interne Subjekt-Objekt-Verhältnis als innere Wahrnehmung der Entität des Ichs verstanden. Eine Kritik des traditionellen Selbstbewusstseinsmodells findet sich nach Tugendhat bei der von ihm als Heidelberger Schule bezeichneten Richtung der Selbstbewusstseinstheorie im Anschluss an Dieter Henrich. Die Vertreter der Heidelberger Schule haben dabei die Paradoxien des traditionellen Modells im Versuch der Explikation der Wissensstruktur aufgedeckt (hierzu gehören neben Henrich Ulrich Pothast und Konrad Cramer). Für das Subjekt-Objekt-Modell diskutiert Tugendhat die zwei von Henrich angeführten Schwierigkeiten, d. h. zum Ersten das Problem des Seinszirkels und zum Zweiten das Problem des Wissenszirkels. Insofern das Subjekt-Objekt-Modell in der Perspektive Tugendhats nur einen Aspekt der traditionellen Selbstbewusstseinstheorie darstellt, ist Tugendhats Kritik weiter als die Kritik Henrichs an der Reflexionstheorie, wodurch auch die Position Henrichs noch von Tugendhat kritisiert wird. So ordnet Tugendhat auch die Position Henrichs noch der traditionellen Theorie des Selbstbewusstseins zu, obgleich er diese als deren Endpunkt auffasst. Nach Tugendhat ist Henrich in seiner Kritik an der Reflexionstheorie nun nicht weit genug gegangen, insofern die Paradoxien des Reflexionsmodells, die Henrich mit einem Überstieg auf einen dem Bewusstsein transzendenten Grund zu vermeiden sucht, lediglich Symptom eines fehlgeleiteten Denkens sind. Tugendhat zufolge verzichtet Henrich dabei lieber auf das Phänomen des Selbstbewusstseins anstatt das traditionelle Modell preiszugeben. Statt des Phänomens gilt es Tugendhat zufolge aber das traditionelle Modell des Selbstbewusstseins zu suspendieren. Tugendhat radikalisiert so Henrichs Kritik, wobei er zeigen will, dass Henrichs Ausgangsfrage bereits falsch gestellt ist. Die erste Schwierigkeit des Reflexionsmodells besteht darin, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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dass das Ich, um sich selbst auf sich zu beziehen, bereits vor dem Akt der Bezugnahme vorhanden sein muss. Diese Schwierigkeit resultiert nun Tugendhat zufolge daraus, dass im traditionellen Modell der Ausdruck ICH als Substanzprädikat und nicht als Personalpronomen verstanden werde. Das traditionelle Modell beruhe so auf dem Missverständnis, dass das Ich ein etwas qua ein sound-so sei, insofern es die Struktur der Subjekt-Objekt-Identität aufweist. Das Bewusstsein sei aber gar nicht bezogen auf Objekte, sondern auf Propositionen, d. h. sprachlich formulierte Sachverhalte. Bewusstsein weise so die Struktur „Bewusstsein, dass p“ auf. Die erste Schwierigkeit sei somit Resultat der Hypostasierung des Ichs und verschwinde mit der Verabschiedung des traditionellen Subjekt-Modells. Da es keine Ich-Entität gebe, sei der ontologische Zirkel ein bloßes Scheinproblem. Während Tugendhat den Seinszirkel zu eliminieren glaubt, indem er das Substanzmodell suspendiert, versucht er den Wissenszirkel durch eine Übersetzung der Bewusstseinsstruktur des traditionellen Modells in eine sprachliche Form aufzulösen. Tugendhat kritisiert so am Subjekt-Objekt-Modell nicht eine doppelte Zirkularität wie Henrich, da diese nur Ausdruck der Unbrauchbarkeit des Modells sei. Wissen habe so nicht die Form der Selbstbeziehung, wie die Verbindung von Identitäts- und Wissensrelation im traditionellen Modell suggeriere, sondern es bestehe gar keine Identität zwischen Wissendem und Gewusstem, Subjekt und Objekt, da es sich beim Gewussten um eine Proposition handle: „dass der Ausdruck ‚etwas‘ in der Rede vom Bewusstsein von etwas zwar nicht falsch ist, aber doch eine Unterbestimmung dessen nahelegt, worum es sich handelt, eine Unterbestimmung, wie sie in der gängigen Rede von der ‚Subjekt-Objekt‘-Beziehung zum Ausdruck kommt. Das Bewusstsein von etwas […] ist propositional. Es bezieht sich nicht auf Objekte im üblichen Sinn dieses Wortes, sondern auf Propositionen. Es hat oder impliziert die Struktur Bewusstsein dass p.“ (Ebd., S. 21.) Das von Henrich in Anspruch genommene Phänomen sei so a priori unmöglich. Die Konzeption der sich wissenden Identitätsbeziehung sei dabei verbunden mit dem Modell der inneren Wahrnehmung einer Ich-Entität, wobei die Hypostasierung des Ichs die räumliche Metapher des Sichzurückwendens impliziere. Nach Henrich handelt es sich beim Ich so um etwas, „was wir alle erblicken, sofern wir von uns selbst wissen“. (Ebd., S. 55.) Das Modell einer inneren Wahrnehmung sei so nur subjektiv, da eine solche Wahrnehmung gar nicht intersubjektiv ausweisbar sei. Tugendhats Kritik am traditionellen Modell lässt sich so folgendermaßen zusammenfassen: Das Substanzmodell operiere mit einem hypostasierten Ich, das bloß eine fiktionale Konstruktion sei. Das Subjekt-Objekt-Modell basiere auf einem Fehlverständnis der Wissens- und Identitätsrelation. Das Modell der inneren Wahrnehmung könne dem Anspruch der intersubjektiven Ausweisbarkeit nicht Genüge leisten, es sei zum einen bloß subjektiv und rekurriere zum anderen auf Metaphern. Es stellt sich dabei die Frage, ob die Struktur der Selbstbeziehung, die Tugendhat verabschieden will, nicht doch implizit in seinen Ausführungen enthalten ist. So expliziert Tugendhat zum einen Selbstbestimmung als reflektiertes Selbstverhältnis, zum anderen geht es ihm aber gerade darum, die Struktur des Für-sich-Seins zu eliminieren. Die Aufgabe der Philosophie besteht Tugendhat zufolge in der Analyse der Sprache, der Aufklärung der Verwendung von Begriffen. Diese Sprachanalyse ist bei Tugendhat aber eingebunden in eine philoSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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4) Kritik von Henrichs Selbstbewusstseinsmodell Henrichs Ziel ist die Konzeption einer nicht-widersprüchlichen Theorie vom Bewusstsein, im Zuge des Verfahrens ex negativo zur Reflexionstheorie gerät sein eigenes Modell dann aber auch in Widersprüche: So stellt die Rede von einem „selbstlosen Bewusstsein vom Selbst“ eine contradictio in adiecto dar: „Die wissende Selbstbeziehung, die in der Reflexion vorliegt, ist kein Grundsachverhalt, sondern ein isolierendes Explizieren, aber nicht unter der Voraussetzung eines wie immer gearteten implizierten Selbstbewusstseins, sondern eines (impliziten) selbstlosen Bewusstseins vom Selbst.“275 Henrich kann hierbei nicht einsichtig machen, wie das Bewusstsein Kenntnis seiner selbst erlangt. Beobachtung, Introspektion und Reflexion scheiden Henrich zufolge aus, da sie eine relationale Struktur zur Explikation von Bewusstsein ansetzen. Henrich postuliert so die Selbstkenntnis des Bewusstseins als irreduzible Tatsache. Selbstbewusstsein liege als ein nicht zu erkläsophische Theorie der Selbstbestimmung. Damit kommen aber die philosophischen Termini, insofern sie nicht in einer bloßen Sprachanalyse aufgehen, wieder ins Spiel. Tugendhat bleibt so eine Explikation der Begriffe Selbstbewusstsein, Denken, Selbstbestimmung und Selbstbeziehung schuldig. Dass Tugendhat eine reflexive Struktur in Anspruch nimmt, zeigt, dass eine Suspension des Subjekt-Objekt-Modells, der Struktur der Selbstbeziehung gar nicht möglich ist, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Eine Analyse der Verwendung des Personalpronomens ich erklärt so nicht das Problem, warum wir uns als selbstbestimmte, selbstbewusste Wesen verstehen. Die sprachanalytische Philosophie kann nur die Philosophie im traditionellen Sinne ergänzen, diese aber nicht ersetzen. Der Kunstausdruck Ich bringt anders als das Personalpronomen ich ein philosophisches Problem zum Ausdruck, das als Frage nach der strukturellen Verfasstheit des Für-sich-Seins verstanden werden kann. Tugendhat zufolge leiste das traditionelle Modell keine argumentative Begründung, insofern es auf Metaphern, d. h. primitiven Vorstellungen, basiere, bleibe die Ebene der Sprache, d. h. die Tatsache, dass Denken sich in Sprache vollzieht, unberücksichtigt. Es ist aber fraglich, ob Denken auf Sprache reduzierbar ist. Fichte versteht so das Denken gegenüber der Sprache, die bloß sinnliches Medium ist, als primär: „Ich beweise hier nicht, daß der Mensch ohne Sprache nicht denken, und ohne sie keine allgemeinen abstracten Begriffe haben könne. Das kann er allerdings vermittelst der Bilder, die er durch die Phantasie sich entwirft. Die Sprache ist meiner Ueberzeugung nach für viel zu wichtig gehalten worden, wenn man geglaubt hat, daß ohne sie überhaupt kein Vernunftgebrauch Statt gefunden haben würde.“ (US, GA, I,3, 103, Anm.) Henrich verteidigt sich dann auch gegen Tugenhats Kritik: Vgl. Henrich, Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewusstsein. 275 Henrich, Selbstbewusstsein, S. 280. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Kritik von Henrichs Selbstbewusstseinsmodell
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rendes Faktum vor, die Reflexionstheorie, welche ein Modell zur Erklärung von Bewusstsein darstellt, ist für Henrich ja gescheitert. Darüber hinaus stellt sich die Frage, warum Henrich, wenn Bewusstsein als anonyme Dimension bereits über die Kenntnis seiner selbst verfügt, noch ein Selbst als aktives Prinzip braucht. Letztlich kann Henrich also doch nicht auf ein aktives Prinzip und damit auf Reflexion verzichten, da Bewusstsein zu seiner Voraussetzung eben eine Differenz, d. h. eine relationale Struktur, hat. Die nachträgliche Aneignung des Bewusstseins durch das Selbst kann so eigentlich nur durch Reflexion geleistet werden. So expliziert die Rede von Bewusstsein als „Ereignis“ und „Dimension“ eigentlich kein Bewusstsein. Insofern Henrich eine positive Deutung des Bewusstseinszirkels nicht in Betracht zieht, bleibt ihm als einzig mögliches Modell eine irreflexive Deutung von Bewusstsein, wodurch er eigentlich an Kant anschließt, wobei Kant für Henrich allerdings ein Reflexionsmodell vertritt. Die positive Interpretation des Zirkels in den idealistischen Bewusstseinstheorien kann dabei nur durch eine Berücksichtigung des systematischen Kontextes, in welchem Selbstbewusstsein als Prinzip steht, geleistet werden. Durch die Ausblendung der Funktion von Selbstbewusstsein qua reiner Subjektivität als Deduktionsprinzip zur Generierung des Systems bleibt Henrich die Möglichkeit einer positiven Deutung von Zirkularität bei Fichte und Hegel verborgen. Henrich geht es in seinem Modell so auch nicht um reine Subjektivität, sondern um Bewusstsein als empirisches Phänomen. Gänzlich unberücksichtigt bleibt hierbei die Frage, inwiefern eine Theorie reiner Subjektivität für die Bewusstseinstheorie fruchtbar zu machen ist und in welchem Verhältnis reine zu empirischer Subjektivität steht. Durch die vorschnelle Zurückweisung des Reflexionsmodells erwägt Henrich nicht, dass die Methoden der Deutschen Idealisten auf einem Niveau mit denen der analytischen Philosophie stehen könnten. Henrich sagt ja so selbst, dass Hegel eine Theorie der Relationalität konzipiert, die eine andere Interpretation von Selbstbewusstsein als in der Reflexionstheorie ermöglicht,276 welche Hegel angeblich vertritt. 276 „Im Unterschied zu Fichte ging Hegel immer davon aus, dass Selbstbewusstsein nicht aus sich selbst verständlich gemacht werden kann. Wie wir heute wissen, ist er auch der Erste gewesen, der eine Analyse von Relationen des Typs gegeben hat, in dem die Relata voneinander unabhängig und doch notwendigerweise aufeinander bezogen sind. Anders als Fichte hat er sich aber niemals von der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins gelöst und damit dafür gesorgt, dass der Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
Henrich präzisiert in Selbstbewusstsein seine früheren Ausführungen in Fichtes ursprüngliche Einsicht, indem er nun zwei Varianten der Reflexionstheorie unterscheidet. Während die erste Variante, welche sich bei Kant finde, Reflexion als Aktivität eines Ichs betrachte, suspendiere die zweite Variante das hypostasierte Subjekt und fasse Reflexion selbst als wissende Selbstbeziehung. Setzt die erste Variante ein wissendes Subjekt voraus, geht die zweite Variante von einer ursprünglich wissenden Selbstbeziehung aus. Entweder setzen die egologischen Bewusstseinstheorien Henrich zufolge Selbstbewusstsein bereits voraus, was zu einem Zirkel führe, oder es wird eine nachträgliche Identifikation angenommen, wodurch auch kein Selbstbewusstsein zu erklären sei, da das, was zu identifizieren ist, bereits als solches bekannt sein müsste. Selbstbewusstsein sei so gerade durch die Unmöglichkeit einer Fehlidentifikation charakterisiert, weshalb es sich bei Selbstbewusstsein um eine ursprüngliche Vertrautheit ohne Selbstidentifikation handle.277 Folgt aber aus der Unmöglichkeit einer Fehlidentifikation in Bezug auf den Indikator ich, dass das Modell der Reflexion zu verabschieden ist? Henrich schließt aus der Unmöglichkeit einer Fehlidentifikation, dass das Moment der Vermittlung Bewusstsein nicht explizieren könne, weshalb es sich hierbei um ein bloß unmittelbares Wissen handle. Andererseits behauptet Henrich, dass sich Bewusstsein als Dimension öffne, woraus folgt, dass eine Differenz im Bewusstsein auftritt. Sowohl bei Fichte als auch bei Hegel wird Bewusstsein aus dem Zusammenspiel der Momente Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit expliziert, welches den Zusammenhang von Selbst- und Objektbewusstsein einsichtig machen kann. Selbstbewusstsein ist so zum einen unmittelbare Einheit von Form und Gehalt. Als diese Unmittelbarkeit ist das Selbstbewusstsein aber gesamte Hegelianismus in der Bewusstseinstheorie dogmatisch und unproduktiv geblieben ist.“ (Henrich, Selbstbewusstsein, S. 281.) 277 „Jede Rückbeziehung des Ich auf sich setzt eine Vertrautheit mit ihm voraus, die zudem von der Art sein muss, dass es sie auf sich zu beziehen vermag.“ (Henrich, Selbstbewusstsein, S. 267.) Frank unterscheidet Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Selbstbewusstsein stelle so eine unmittelbare Gewissheit, Selbsterkenntnis ein propositionales Wissen dar. (Vgl. Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis, S. 163.) Fichtes Konzeption des unmittelbaren Selbstbewusstseins umfasst nun aber sowohl die Position der unmittelbaren Ich-Anschauung als auch die Position des propositionalen Ich-Begriffs und beinhaltet damit die Momente von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis im Sinne Franks. Fichte versucht dabei eine Auflösung der Zirkelproblematik durch die Behauptung des Primats der unmittelbaren Ich-Anschauung gegenüber dem Ich-Begriff. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Modell der produktiven Reflexion
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zugleich mit sich selbst vermittelt, da die einzige Bestimmung von Unbestimmtheit oder Unmittelbarkeit eben darin besteht, unbestimmt zu sein. Durch die Annahme einer ursprünglichen Selbstvermittlung des Bewusstseins lässt sich die Differenz im Bewusstsein erklären, die Öffnung des Selbstbewusstseins und damit das Bewusstsein eines Objekts, das nicht das Bewusstsein selbst ist.278
5) Das Modell der produktiven Reflexion Im Zentrum von Henrichs Kritik des Reflexionsmodells steht die Problematik der Zirkularität. Soll Henrichs Position kritisiert werden, dann ist zu zeigen, dass Zirkularität per se nicht fehlerhaft ist, sondern dass auch eine positive Deutung des Zirkels möglich ist. Ein solches Modell ließe sich als produktiver Zirkel oder produktive Reflexion bezeichnen. Fichte gibt so entgegen Henrichs Interpretation dem Zirkel eine positive Bedeutung, wenn er das Ich qua Grundprinzip als selbstreflexives Sich-Setzen auffasst.279 Fichte kritisiert 278 Der von Henrich gegen eine Theorie des Selbstbewusstseins vorgebrachte Zirkeleinwand trifft darüber hinaus auch das Objektbewusstsein: Obwohl im Objektbewusstsein Subjekt und Objekt different sind, müsste das Subjekt bereits vom Objekt wissen, um sich auf dieses zu beziehen. Auch müsste das Objekt bereits vorm Subjekt vorhanden sein. Dies kann aber nicht zutreffen, da das Objekt nur für das Subjekt ist, insofern Subjekt und Objekt aufeinander verweisen. Das Objekt ist als Bewusstes nicht ohne das Subjekt als Bewusstseiendes zu denken, wäre das Objekt vor dem Subjekt vorhanden, dann würde hierdurch die Ebene des Bewusstseins verlassen werden. Selbstbewusstsein sollte so nicht als einfache Unmittelbarkeit gefasst werden, sondern als ein solches, das sich als Unbegreifbares begreift, nicht als bloße Unbestimmtheit, sondern als unbestimmte Bestimmtheit und damit als Selbstbestimmung. Vermittelnder Begriff und Unmittelbarkeit müssen so zusammengedacht werden, insofern der Begriff des Ichs im Begreifen seiner selbst mit sich selbst zusammenfällt. Vgl. zu Fichtes Modell des Begreifens eines Unbegreifbaren Asmuth, Christoph, Begreifen des Unbegreiflichen: Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800 – 1806, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1999. 279 Becker zufolge rekurriert Fichte mit seiner Konzeption des reinen Selbstbewusstseins auf das Reflexionsmodell, wodurch drei wesentliche Funktionen für seinen Idealismus erfüllt werden: 1) Die Selbstständigkeit des Selbstbewusstseins gegenüber dem Objektbewusstsein kann dargelegt werden. 2) Das Selbstbewusstsein wird damit als solches ausgezeichnet. 3) Die Ableitung des Objektbewusstseins bzw. von Gegenständlichkeit überhaupt aus dem reinen Selbstbewusstsein kann gezeigt werden. Fichte ersetze so durch den Rekurs auf das Reflexionsmodell die anonyme Faktizität der Apperzeption bei Kant, Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
dabei an seinen Vorgängern keinen Zirkel, sondern einen infiniten Regress, welcher nicht aus einem fehlerhaft zirkulären, sondern aus einem dualistischen Selbstbewusstseinsmodell resultiert. Diesem welche nicht von ichfremdem Sein unterschieden werden könne. Für Becker sind vier Momente für Fichtes Position kennzeichnend: 1) absolute Selbstständigkeit des Selbstbewusstseins gegenüber dem Objektbewusstsein (im Anschluss an Descartes), 2) die idealistische Fassung des Objektbewusstseins als bloßes Gesetztsein, 3) der Gebrauch des Reflexionsmodells für die Explikation des selbstständigen Selbstbewusstseins, 4) die Erweiterung der Bedingungsfunktion des Selbstbewusstseins zu einer absoluten Begründungsfunktion. Die letzten beiden Punkte seien spezifisch für Fichtes Idealismus. Während bei Kant das Ich nur als bedingendes Prinzip fungiere, werde es bei Fichte, insofern dieser nach dem Grund von Erfahrung und nicht bloß nach den Bedingungen von Erfahrungserkenntnis frage, zu einem selbstständigen, absoluten, nicht mehr von äußeren Bedingungen abhängigem Sachverhalt. Sind aber die Gegenstände lediglich aus der Subjektivität produziert, dann werde der Begriff der Erkenntnistheorie sinnlos. Bei Fichte kulminiere so die bereits bei Descartes angelegte Trennung von Selbstbewusstsein und Objektbewusstsein. Descartes gelinge so nur der Aufweis von Selbstgewissheit durch die Aufhebung von ichfremder Gegenständlichkeit in seiner Konzeption eines entkörperlichten ego cogitans. Becker kritisiert dabei die Konzeption eines reinen, spontanen Selbstbewusstseins. Bewusstsein sei so immer mit Körperlichem verbunden. In der Nutzung des Reflexionsmodells für die Ableitung von Gegenständlichkeit sieht Becker Fichtes genialische Leistung. Für Becker ist der Versuch einer Konzeption von Selbstbewusstsein, die auf eine reflexive Struktur zurückgreift, allerdings nicht gelungen: So scheitere Fichtes Modell an der Unvereinbarkeit der durch das Reflexionsmodell eingekauften Differenz und der postulierten Identität des Selbstbewusstseins. Fichtes subjektivistischer Idealismus münde so in einen systematischen Skeptizismus, da die gestellte Aufgabe, d. h. die Herstellung der Identität des Selbstbewusstseins, nicht gelöst werden könne. Dies zeige sich anhand von zwei Punkten: 1) Der unabschließbaren Deduktion der Grundlage. 2) Dem mit dem Setzen gleichursprünglichen Entgegensetzen, welches ein Setzen von Differenz im Gegensatz zum Setzen von Identität darstelle. Der Versuch, den Mangel des Reflexionsmodells, nämlich dessen zirkuläre Struktur, affirmativ in seiner Konzeption eines produktiven Setzens, bei welchem sich die Prämisse erst in der und durch die Konklusion bestimme, umzudeuten, müsse bei Fichte so als gescheitert angesehen werden. Becker möchte so Henrichs Deutung erweitern, indem er die These vertritt, dass Fichtes Wissen um den Mangel der Reflexionstheorie einen systemimmanenten Niederschlag finde. (Vgl. Becker, Idealismus und Skeptizismus, S. 73-85.) Becker expliziert seine These hierbei aber lediglich anhand eines Rückgriffs auf die drei Grundsätze der Grundlage. Die Selbstbewusstseinskonzeption der WL nova methodo und des Versuchs einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre lässt er unberücksichtigt. Hier versucht Fichte aber gerade die Problematik einer Unvereinbarkeit von Differenz und Identität durch eine synthetische Ableitung aus einem Prinzip zu lösen. Zu einer Kritik an der zirkulären Struktur des Ichs bei Fichte vgl. auch Lenk, Kritik der logischen Konstanten, S. 200-202. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Das Modell der produktiven Reflexion
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Selbstbewusstseinsmodell könnte man allerdings auch einen Zirkel vorwerfen, da es mit der Voraussetzung eines höheren (externen) Subjekts operiert. Gegen den Vorwurf der Zirkularität, welcher sich gegen sein eigenes Subjektivitätsmodell richtet, führt Fichte dabei zwei Argumente an: 1) Die selbstreflexive Form des Sich-Setzens als Subjekt-Objekt-Einheit widerspricht der Annahme eines externen Subjekts bzw. Objekts, wie im Zirkeleinwand behauptet. 2) Insofern sich das Ich im Sich-Setzen selbst produziert, darf hier kein vollständiges Selbstbewusstsein, welches durch die Gesamtstruktur von Anschauung, Begriff und Nicht-Ich charakterisiert ist, vorausgesetzt werden. Das In-sich-Zurückgehen des Ichs als Anschauung sei so ein lediglich potenzielles Selbstbewusstsein. Das Ich wird somit in Fichtes Modell des Sich-Setzens nicht als Ganzes vorausgesetzt. In Bezug auf den ersten Punkt resultiert das Argument gegen den Zirkeleinwand nun gerade aus der selbstreflexiven Struktur des Sich-Setzens: Insofern eine Abstraktion vom Denken nicht möglich ist, ist die Voraussetzung eines externen Subjekts bzw. externen Objekts nicht sinnvoll. Im zweiten Argument bestimmt Fichte die selbstreflexive Struktur des Sich-Setzens als immanente, sich selbst produzierende Reflexion, wobei er das Modell einer externen Reflexion kritisiert, in welchem das Ich bzw. das Selbstbewusstsein als Ganzes bereits vorausgesetzt wird und auf welches sich das Ich dann in einem Akt der Reflexion nachträglich bezieht. Beim Sich-Setzen als Anschauung handelt es ich so um einen selbstreflexiven, hierin allerdings nichtbegrifflichen und damit unbewussten Teilakt des Selbstbewusstseins, wobei durch einen Akt immanenter Bestimmung dieser Anschauung die Positionen von Begriff und Nicht-Ich abgeleitet werden, wodurch das wirkliche Selbstbewusstsein als Reflexionsstruktur konstituiert wird. Darüber hinaus ist aber auch in Bezug auf das Modell der produktiven Reflexion zu prüfen, ob die zwei Einwände, die Henrich gegen die Reflexionstheorie erhebt, hier zutreffen. Dabei soll insbesondere die Problematik von Unmittelbarkeit und Vermittlung bzw. von Unbestimmtheit und Bestimmtheit Berücksichtigung finden.280 Inwiefern divergieren die von Fichte behandelte Problematik des Regresses und das von Henrich als zentral herausgestellte Problem des Wissens280 Stolzenbergs Modell einer absoluten Bestimmung versucht so eine positive Deutung des Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit in Bezug auf Fichtes Ich-Konzeption zu geben. (Vgl. hierzu Kapitel IV.2.4.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 1: Die Fichte-Interpretation Dieter Henrichs
zirkels? Henrich zufolge behandelt Fichte das Problem des Wissenszirkels nur beiläufig, er bringt hierfür aber keine Belegstelle vor. Fichte kritisiert nun in Bezug auf die Problematik des Regresses nicht, dass das Ich sich bereits wissen müsse, um auf sich reflektieren zu können. Im Mittelpunkt von Fichtes Kritik steht vielmehr das Problem des Dualismus von Subjekt und Objekt, das aus einer einseitig theoretischen, äußerlichen Verobjektivierung resultiert. So führt diese zu einer Abspaltung des Ich-Objekts, wobei es sich bei einem solchen gerade um kein Ich als selbstbezügliche Tätigkeit handelt. Dagegen führt Fichte die Konzeption einer unmittelbaren Einheit von Subjekt und Objekt an, welche sich als produktive Reflexion beschreiben lässt. Unabhängig aber von Fichtes eigenem Problembewusstsein stellt sich die Frage, ob nicht eben auch auf das Modell der produktiven Reflexion die Problematik zutrifft, dass das Ich sich bereits wissen muss, um sich auf sich selbst zurückzuwenden. So kritisiert Henrich an Fichte ja gerade das Modell einer Produktion des Wissens, das eine reflexive Struktur aufweist. Inwiefern entgeht das Modell der produktiven Reflexion den Einwänden gegen die Reflexionstheorie? Im Reflexionsmodell steht an den Positionen von Subjekt und Objekt ein jeweils vollständiges Ich, wobei beide Elemente durch die Relation der Selbstbeziehung verbunden sind. Dabei besteht das Problem, dass das Ganze der Subjekt-Objekt-Beziehung aus einem Teil, nämlich dem Subjekt, erklärt wird, wobei aber bereits die ganze Subjekt-ObjektEinheit vorausgesetzt wird. Das Modell der produktiven Reflexion unterscheidet sich nun in folgenden Punkten vom Reflexionsmodell Henrichs: 1) Das Modell der produktiven Reflexion operiert nicht mit einer Ich-Entität, insofern das Ich hier als selbstbezügliche Tätigkeit und nicht als Substanz aufgefasst wird. Es unterliegt somit nicht dem Problem des Seinszirkels. 2) Im Ausgang vom Verständnis des Ichs als Tätigkeit lässt sich auch das Problem des Wissenszirkels aufklären: So resultiert das Wissen des Ichs nicht aus einer äußerlichen Verbindung der Relata Subjekt und Objekt, sondern es ist die Relation selbst, die als Wissen zu kennzeichnen ist. 3) Die Relation ist selbst Relat. Es handelt sich hierbei um eine Unmittelbarkeit, die mit sich selbst vermittelt ist oder um eine Vermittlung, die selbst unmittelbar ist. Das Ich ist so als Tätigkeit, die sich selbst als Tätigkeit bestimmt, mit sich selbst vermittelt.
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Das Modell der produktiven Reflexion
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4) Es liegt keine symmetrische Relation von Subjekt und Objekt vor, d. h., die Relata sind nicht gleichberechtigt, sondern die produktive Reflexion ist eine aufsteigende Reflexion, die als höherstufiges Selbstverhältnis aus Unbestimmtheit Bestimmtheit generiert. Dabei ist auf der nächsthöheren Reflexionsebene die vorhergehende Reflexion Objekt der Reflexion. Die Reflexion erzeugt hierbei eine Struktur und fungiert als Mittel zur Anreicherung von Komplexität. 5) Obgleich die produktive Reflexion wie die gewöhnliche Reflexion auch als Selbstbeziehung zu kennzeichnen ist, unterscheiden sich beide Modelle doch hinsichtlich ihrer Richtung: Während sich die von Henrich kritisierte Reflexion auf ein bereits vorhandenes Wissen bezieht, dieses also bereits voraussetzt, handelt es sich bei der produktiven Reflexion um eine Produktion von Wissen, um ein Wissen, das sich selbst produziert und zugleich um eine Produktion, die sich als solche weiß. Diese Selbst-Produktion von Wissen hat sich also selbst zum Objekt, wobei es sich bei diesem Objekt um kein vom Ich-Subjekt abgespaltenes Ich-Objekt handelt. Statt eines regressiven Modells stellt die produktive Reflexion so ein progressives Modell von Selbstbewusstsein dar. 6) Während die gewöhnliche Reflexion als formales Selbstverhältnis zu betrachten ist, in welchem sich Subjekt und Objekt äußerlich gegenüberstehen, ist die produktive Reflexion eine inhaltlich erfüllte Selbstbeziehung, insofern hierin die Ich-Tätigkeit für sich selbst Objekt ist. Zum einen führt das durch die Einheit von Subjekt und Objekt, Form und Gehalt charakterisierte Selbstverhältnis nicht in einen infiniten Regress, da ein solcher aus dem Dualismus von Subjekt und Objekt resultiert. Zum anderen ist die Einheit von Form und Gehalt als Einheit von Ich-Anschauung und Ich-Begriff im Gegensatz zu einem begrifflichen Wissen, bei welchem der Begriff von außen auf ein externes Objekt angewendet wird, nicht irrtumsanfällig, da das Ich sich hierin selbst zum Gehalt hat.
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Exkurs 2: Kant 1) Die Konzeption der reinen Apperzeption Kant entwirft ein höchst ausdifferenziertes Selbstbewusstseinsmodell: Zum einen unterscheidet er als Erster reine und empirische Apperzeption, zum anderen differenziert er in Bezug auf die reine Apperzeption synthetische und analytische Einheit der Apperzeption. Den Terminus Apperzeption übernimmt Kant dabei von Leibniz. Dieser bezeichnet das die Wahrnehmung begleitende Bewusstsein (von ad-percipere ‚mit-wahrnehmen‘). Kants Konzeption einer reinen Subjektivität kann dabei nur im Kontext des Projekts der Transzendentalphilosophie einsichtig gemacht werden, wobei dieses als Reaktion auf die skeptizistische Position Humes zu verstehen ist. Hume bestreitet, dass es so etwas wie eine allgemeine, notwendige Erkenntnis geben könne, da die Erfahrung nur zur Gewohnheit führe, aber nicht zur Ableitung eines allgemeinen Prinzips berechtigt. Das Ich ist Hume zufolge so nur eine Fiktion, da sich aus bloßen Wahrnehmungseindrücken (impressions) nicht die Idee eines Ichs gewinnen lasse. Kants Strategie besteht nun darin, durch eine Unterscheidung von reinen, apriorischen Strukturen der Subjektivität (Kategorien) und sinnlicher Anschauung den Anspruch auf objektive Erkenntnis zu sichern, ohne aber die Bedeutung von Erfahrung abzustreiten. Während die sinnliche Anschauung das Material der Erkenntnis bereitstellt, erfüllen die formgebenden Kategorien die Funktion einer Strukturierung bzw. Ordnung des ungeordneten, diffusen Stoffs. Während der aktive, spontane Verstand formgebend ist, liefert die passive, rezeptive Anschauung den Gehalt der Erkenntnis. Das transzendentale Subjekt fungiert nun zum einen als Schnittstelle, die erklären soll, wie die Verstandesbegriffe auf sinnliches Material angewendet werden und so objektive Erkenntnis garantieren, zum anderen soll es die Kontinuität des Ich-Bewusstseins explizieren. Kants Konzeption von Transzendentalphilosophie richtet sich dabei sowohl gegen die Einseitigkeit des Empirismus als auch gegen die des Rationalismus. Indem Kant Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand als zwei gleichberechtigte Erkenntnisformen konzipiert, integriert er Elemente beider Positionen in seine Theorie. Diese ambivalente Kritik zeigt sich nun auch in Bezug auf Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 2: Kant
Kants Selbstbewusstseinsmodell: Zum einen kritisiert Kant das substantialistische Selbstbewusstseinsmodell des Rationalismus, wie es in Descartes’ Konzeption einer res cogitans zum Ausdruck kommt, zum anderen schließt er aber auch an den Rationalismus an, insofern er die höchste Vorstellung als Denken („ich denke“) bestimmt. Gegen die Annahme des Empirismus, das Ich sei bloß als eine Fiktion zu verstehen, macht Kant das logische Ich als kontinuitätsstiftendes Einheitsprinzip geltend, die Ich-Vorstellung konzipiert er dabei aber als Begleitbewusstsein, das auf das Gegebensein eines empirischen Materials angewiesen ist. Es sollen im Folgenden nun drei Fragen beantwortet werden: 1) Wie charakterisiert Kant das transzendentale Selbstbewusstsein bzw. welche Grundstruktur schreibt Kant der reinen Apperzeption zu? 2) Welche Funktion erfüllt dieses im Kontext des Projekts der Transzendentalphilosophie? 3) Was lässt sich aus dieser Analyse für die Interpretation des von Kant behaupteten Bewusstseinszirkels ableiten? Kant unterscheidet zunächst zwei Vorstellungen: Anschauung und Begriff. Als eine Vorstellung höherer Ordnung führt er in § 16 der Kritik der reinen Vernunft das „ich denke“ ein. Hierbei handelt es sich um eine Meta-Vorstellung, die insofern eine privilegierte Stellung einnimmt, als sie zwei basale Funktionen erfüllt: Sie fungiert als Begleitbewusstsein und macht zum Ersten die Vorstellungen, die sie begleitet zu etwas Objektivem, das Gegenstand des Denkens ist und stellt somit die Ermöglichungsbedingung von Objektbewusstsein dar. Zum Zweiten ermöglicht sie, dass die Vorstellungen Objekt für ein Subjekt (Für-mich) sind, d. h., sie ist auch die Ermöglichungsbedingung von Selbstbewusstsein. Das Bewusstsein „ich denke“ kann dabei als implizites Selbstbewusstsein verstanden werden, d. h. als Vorstellung, die andere Vorstellungen begleiten können muss, diese also nicht aktual begleiten muss. Als solches ist es eine notwendige Möglichkeit, eine implizite Bedingung von Bewusstsein. Während beim reinen Selbstbewusstsein ein expliziter Bezug auf die identitätsstiftende Vorstellung „ich denke“ vorliegt, findet sich ein solcher beim empirischen Bewusstsein nicht, dieses sei „zerstreut und ohne die Beziehung auf die Identität des Subjekts“ (KrV B 133). Kant identifiziert nun aber nicht reine Apperzeption und die MetaVorstellung „ich denke“, da er diese als ein Produkt der reinen Apperzeption, die insofern „ursprünglich“ ist, betrachtet. Der Vorstellung Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Die Konzeption der reinen Apperzeption
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„ich denke“ als höchster Vorstellung, die alle Vorstellungen begleiten können muss, aber von keiner weiteren Vorstellung begleitet werden kann, liegt somit die reine Apperzeption, die selbst keine Vorstellung ist und damit den Nullpunkt allen Bewusstseins bildet, zugrunde. In Bezug auf die reine Apperzeption unterscheidet Kant die synthetische Einheit der Apperzeption, d. h. die Vereinigung verschiedener Vorstellungen in einem Ich-Bewusstsein, von der analytischen Einheit der Apperzeption, d. h. der Vorstellung der Identität des IchBewusstseins, wobei Kant zufolge die synthetische Einheit der Apperzeption die Ermöglichungsbedingung der analytischen Einheit der Apperzeption ist. Erst die Verbindung verschiedener Vorstellungen macht so die Vorstellung eines identischen Ichs möglich. Die synthetische Einheit der Apperzeption nimmt somit eine privilegierte Stellung ein: Sie stellt den höchsten Punkt der Transzendentalphilosophie, der Logik und des Verstandesgebrauchs dar und ist für Kant so mit dem Verstand selbst gleichzusetzen. Kant unterscheidet also zwei Ebenen: Zum einen eine Form von Selbstbewusstsein, die als einheitsstiftend fungiert, indem sie die Verbindung von Vorstellungen leistet, zum anderen die Vorstellung dieses Selbstbewusstseins selbst, welche erst durch die Leistung der Verbindung generiert wird. Während Kant in § 16 der Kritik der reinen Vernunft die Konzeption der synthetischen Einheit der Apperzeption einführt, setzt er sich in § 15 mit dem Begriff der Verbindung auseinander. Legt Kants Verhältnisbestimmung von synthetischer und analytischer Einheit der Apperzeption in § 16 nahe, dass die Vorstellung der Einheit erst aus der Verbindungsleistung des transzendentalen Subjekts resultiert, bestimmt er in § 15 die Vorstellung der Einheit als Ermöglichungsbedingung des Begriffs der Verbindung. Insofern Kant hier Verbindung als die „Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen“ (KrV B 130-131) definiert, betrachtet er den Begriff der Einheit als im Konzept der Verbindung enthalten. Die Vorstellung der Einheit ist demnach nicht erst Resultat der Verbindung, sondern geht als apriorische Einheit dieser noch voraus, d. h., die Einheit des transzendentalen Subjekts kann nicht erst nachträglich aus der Synthese von empirischem Material entstehen, sondern muss als ein Strukturelement der Subjektivität immer schon vorausgesetzt werden. Diese basale Einheit ist dabei für Kant selbst keine Kategorie, sondern sie fungiert als Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen, da die Kategorien bereits die Einheit von Begriffen voraussetzen. Kant konzipiert also eine nicht-kategoriale, apriorische EinSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 2: Kant
heit, die als höchster Bezugspunkt des Verstandesgebrauchs fungiert, und die, insofern sie nicht-kategorial ist, nicht weiter expliziert werden kann. Beim reinen Selbstbewusstsein kann es sich so selbst um keinen Begriff handeln, da dies, insofern das reine Selbstbewusstsein die Synthese der Begriffe leistet, einen vitiösen Zirkel implizieren würde. In Bezug auf Kants Konzeption des reinen Selbstbewusstseins gilt es also zwei zentrale Komponenten zu unterscheiden: Zum einen ein implizites Selbstbewusstsein, das ein apriorisches Einheitsmoment inkludiert, das als Moment der die Verbindung des Mannigfaltigen generierenden synthetischen Einheit der Apperzeption verstanden werden muss. Zum anderen ein explizites Selbstbewusstsein, die analytische Einheit der Apperzeption als Vorstellung der Einheit des Subjekts, wie sie in der Meta-Vorstellung „ich denke“ zum Ausdruck kommt. Während die in der synthetischen Einheit der Apperzeption inkludierte Einheit kein Selbstbewusstsein im eigentlichen, starken Sinne darstellt, handelt es sich bei der analytischen Einheit der Apperzeption um ein Selbstbewusstsein im prägnanten Sinne, d. h. im Sinne eines sich selbst denkenden Selbstverhältnisses. Der von Kant beschriebene Zirkel verweist nun auf die ursprüngliche Einheit des Selbstbewusstseins, die als irreflexiver Nullpunkt, als unbestimmter, unhintergehbarer Horizont allen Bewusstseins verstanden werden muss, da es sich bei dieser um ein nicht-kategoriales, nicht-begriffliches Selbstbewusstsein handelt, das nicht gedacht werden kann, da es nicht objektiv werden kann. Wenn die synthetische Einheit der Apperzeption aber bereits ein apriorisches Einheitsmoment enthält, so stellt sich die Frage, ob Fichtes Kritik in der Vorlesung Vom Unterschiede zwischen der Logik und der Philosophie selbst, als ein Grundriss der Logik und Einleitung in die Philosophie (1812/13), die synthetische Einheit könne nicht Grund sein, dieser sei vielmehr als analytische Einheit zu konzipieren (vgl. ULP,-H/L GA IV,5, 326), berechtigt ist. Fichte zufolge könne so Differenz nur aus einer zugrundeliegenden Einheit abgeleitet werden, nicht aber umgekehrt Einheit im Ausgang von Differenz. So lässt sich auch für Kant aus der bloßen Addition von sinnlichem Material keine Einheit des Subjekts ableiten, diese muss als primäre Einheit vielmehr der Synthese vorausgesetzt werden.281 281 In der Zweiten Einleitung kritisiert Fichte an den Kantianern, dass die von ihnen angesetzte Einheit eine aus dem sinnlichen Material nur „zusammengeSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Der Bewusstseinszirkel
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2) Der Bewusstseinszirkel Kants berühmte Beschreibung des Bewusstseinszirkels in der Kritik der reinen Vernunft lautet folgendermaßen: […] die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich; von der man nicht einmal sagen kann, dass sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; einen Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewusstsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, so fern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, dass ich dadurch irgend etwas denke. (KrV B 404)
Für Kants Beschreibung des Bewusstseinszirkels gibt es nun zwei grundsätzliche Interpretationsmöglichkeiten: Zum Ersten wäre es möglich, den Zirkel als einen definitorischen zu deuten, d. h., der von Kant dargestellte Zirkel wäre als Versuch zu interpretieren, eine Antwort auf die Frage, was man unter Selbstbewusstsein zu verstehen hat, zu geben. Der Zirkel würde hierbei die Grundstruktur des Selbstbewusstseins explizieren, d. h., dem Selbstbewusstsein würde eine zirkuläre Struktur attestiert. Kants Selbstbewusstseinskonzeption wäre hierbei als Reflexionsmodell zu kennzeichnen, d. h., Kant würde ein Modell zugeschrieben, das Selbstbewusstsein als Subjekt-ObjektStruktur versteht, in welcher das Subjekt von sich Bewusstsein erlangt, indem es sich auf sich selbst als Objekt zurückwendet. Diese Deutung findet sich bei Henrich, der Fichtes Kritik an Kant als eine Kritik am Reflexionsmodell interpretiert, und im Anschluss an diesen bei Karen Gloy und Manfred Frank. Gegen Henrich könnte hierbei geltend gemacht werden, dass Kant bereits die Aporie des Reflexionsmodells erkannt hat, da der von Kant beschriebene Zirkel gerade als Ausdruck des Problems gefasst werden muss, dass sich das Selbstbewusstsein in der Reflexion insofern selbst entgeht, als es für sich stoppelte“ sei, während er Kant diese Position gerade nicht zuschreibt. (Vgl. ZwE, GA I,4, 228) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 2: Kant
eben nicht Objekt der Erkenntnis zu werden vermag. Somit könnte der Zirkel zum Zweiten nicht als ein definitorischer, sondern als ein methodischer aufgefasst werden. Der Zirkel würde sich hierbei nicht auf die Beschreibung der Grundstruktur von Selbstbewusstsein beziehen, sondern vielmehr das Problem eines Zugangs zum Selbstbewusstsein betreffen. Der Zirkel würde also auf die konstruktive Verstellung, d. h. die Unzugänglichkeit des Selbstbewusstseins, verweisen als einer in allem Denken bereits enthaltenen Voraussetzung und würde hierin gerade die irreflexive Verfasstheit von Selbstbewusstsein offenlegen, das damit gar nicht durch das Subjekt-Objekt-Modell interpretiert werden könnte. Selbstbewusstsein wäre demnach nicht als begriffliche, sich selbst verobjektivierende Struktur zu verstehen. Vielmehr würde es sich um eine implizite Voraussetzung handeln, die in jedem Erkenntnisprozess schon in Anspruch genommen ist, insofern es für das Verständnis von Selbstbewusstsein keinen externen Standpunkt gibt, d. h., die Position des Bewusstseins nicht überschritten werden kann. Denn das, was ein Bewusstsein als solches auffasst, ist selbst ein Bewusstsein.282
282 Eine solche Interpretation findet sich bei Klaus Düsing und bei Dieter Sturma. So heißt es bei Klaus Düsing: „Das Kantische Zirkelargument und das äquivalente Argument der Unmöglichkeit, das reine Ich als Objekt zu erfassen, enthalten […] Kants Kritik an der rationalen Psychologie; nicht ein Zirkel in der begrifflichen Definition von reinem Ich, sondern ein Zirkel im Beweis der substantiellen Existenz dieses Ich durch reines Denken ist offenbar gemeint; es kann durch reines Denken von sich nichts ‚urteilen‘, nämlich kein Erkenntnisurteil gewinnen; es wird sich im reinen Denken nicht Objekt als Anschauungsinhalt.“ (Düsing, Klaus, Selbstbewusstseinsmodelle, S. 104.) Hierzu auch Sturma: „dass Kant keine Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins in dem Sinne vertritt, dass im Selbstbewusstsein das Subjekt qua Reflexion sich in sich zurückwendet und so den einzigen Fall einer Identität von Subjekt und Objekt bewerkstelligt. Wenn Kant in einigen Textstellen ‚Reflexion‘ als Begriff für einen Apperzeptionsakt verwendet, dann meint er damit die konstitutive Funktion der Apperzeption, wie sie etwa im § 24 der TD B dargelegt wird, und eine so bestimmte Reflexion bzw. Apperzeption ist gerade kein in sich zurückgewandter Akt, denn Konstitutionsbestimmungen sind nach Kant allesamt transzendental und insofern irreflexiv.“ (Sturma, Dieter, Kant über Selbstbewusstsein. Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Theorie des Selbstbewusstseins, Hildesheim/Zürich/New York, 1985, S. 113-114.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Kants Kritik der intellektuellen Anschauung
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Ein angemessenes Verständnis von Kants Darstellung des Bewusstseinszirkels ist nur durch eine Einordnung in das Projekt der Vernunftkritik als einer Begrenzung der hybriden Erkenntnisansprüche der Metaphysik möglich. Die Kritik der Vernunft ist dabei im doppelten Sinne eines genitivus subiectivus und eines genitivus obiectivus zu lesen: In der Selbstkritik der Vernunft fungiert die Vernunft sowohl als Subjekt als auch als Objekt der Prüfung. Kant will hierbei zeigen, dass sich die bloß formal operierende, von Erfahrung unabhängige Vernunft in Widersprüche verstrickt, weshalb er die Dialektik als eine bloß negative Logik des Scheins konzipiert, die die Hybris der Vernunft in einem unvermittelten Nebeneinander gleichberechtigter, sich aber widersprechender Positionen sichtbar macht. Kants Gegenmittel ist eine Einschränkung des Anspruchs der Vernunft: Kant restringiert die Vernunft hierbei auf das Haben regulativer Ideen, die von erkenntniskonstituierenden Begriffen unterschieden werden müssen, welche zum Bereich des Verstandes gehören. Kant beschränkt so Erkenntnis auf das Vermögen des Verstandes. Erkenntnis resultiert für Kant hierbei aus dem Zusammenwirken zweier basaler Komponenten: Zum einen aus dem Begriff als der formalen Struktur der Subjektivität. Zum anderen aus der Anschauung als einem gegenüber dem Begriff externen Gehalt, der dem Subjekt von außen gegeben wird und durch dieses strukturiert wird. Interpretiert das Reflexionsmodell Selbstbewusstsein positiv als Subjekt-Objekt-Struktur, in welcher sich das Subjekt auf das Objekt zurückbeugt, betrachtet eine Deutung, die dem Selbstbewusstsein das Merkmal der Irreflexivität zuschreibt, dieses gerade negativ als Abwesenheit einer solchen Subjekt-ObjektStruktur und damit nicht als Selbstbestimmung, sondern als reine Unbestimmtheit.
3) Kants Kritik der intellektuellen Anschauung Kant konzipiert Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand als zwei komplementäre Erkenntnisquellen, die erst in ihrer Einheit Erkenntnis konstituieren. Er restringiert so den Begriff von Erkenntnis auf Erfahrung, eine von sinnlicher Anschauung unabhängige Erkenntnis ist für Kant nicht möglich. Für Kant gibt es so keinen internen Inhalt von Begriffen, sondern bloß einen externen Gehalt, der durch die Kategorien als Formen der Erkenntnis strukturiert wird. Kant kennzeichnet das Ich dabei als eine „an Inhalt leere VorstelSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 2: Kant
lung“, eine bloß logische Form, die an sich nicht erkannt werden kann, sondern nur durch ihre Gedanken als ihre Prädikate, von der also abgesondert kein Begriff erlangt werden kann. Insofern es sich bei der Vorstellung des Ichs um eine bloße Form handelt, Erkenntnis aber auf einen externen Gehalt angewiesen ist, d. h., erst aus dem Zusammenspiel von Form und Gehalt resultiert, gibt es für Kant keine erfahrungsunabhängige Erkenntnis des Ichs. Dieses wird erst in seiner syntheseleistenden Funktion als Einheitsvorstellung erkannt. Eine erfahrungsunabhängige Erkenntnis des Ichs wäre nur möglich, wenn Kant eine intellektuelle Anschauung annehmen würde. Die Möglichkeit einer solchen bestreitet Kant aber gerade. Kant vertritt insofern ein funktionalistisches Selbstbewusstseinsmodell, als er Selbstbewusstsein nicht durch seine Eigenschaften, sondern durch seine Funktion bestimmt. Beim Ich handle es sich so um eine unbestimmte Vorstellung, über die keine Aussagen getroffen werden können. Der Begriff der intellektuellen Anschauung ist dabei bei Kant doppelt bestimmt: Zum einen bezieht sich dieser auf die Produktion des Dinges durch einen göttlichen Verstand, zum anderen auf die Möglichkeit der Anschauung des Dinges an sich. Kants Leugnung der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung ist hierbei nur vor dem Hintergrund seines Projekts einer Begrenzung des Erkenntnisvermögens verständlich. Während die Erscheinung die durch die Struktur der Subjektivität bedingte Wahrnehmung des Gegenstandes, d. h. die Erfahrung des Gegenstandes, meint, bezieht sich der Begriff des Dinges an sich auf den der Erscheinung korrespondierenden, unerkennbaren Gehalt. Kant führt den Begriff des Dinges an sich dabei als epistemologischen Grenzbegriff ein: Insofern die Anschauung Kant zufolge rezeptiv ist, muss dieser eine logische Ursache, d. h. das Ding an sich, entsprechen. Kant lehnt so eine produktive, intellektuelle Anschauung ab, da eine solche das menschliche Erkenntnisvermögen überschreiten würde. Während Fichte Kants dualistische Konzeption durch eine Rehabilitierung der intellektuellen Anschauung zu überwinden versucht, weshalb diese dann zu einem Kernstück der fichteschen Philosophie avanciert, übernimmt Hegel Kants Kritik der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung, begründet diese aber anders als Kant.
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Probleme von Kants Selbstbewusstseinsmodell
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4) Probleme von Kants Selbstbewusstseinsmodell a) Das Problem der Kompatibilität Kant charakterisiert Anschauung und Begriff als einander entgegengesetzte Komponenten der Erkenntnis. Die Einheit von Anschauung und Begriff wird dabei durch die Einheit der Apperzeption geleistet, die weder als Anschauung noch als Begriff zu betrachten ist, insofern Kant diese aber mit dem Verstand selbst identifiziert, wohl eher mit dem Begriff als mit der Anschauung in Verbindung gebracht werden dürfte. Den Formen von Begriff und Anschauung korrespondieren die Erkenntnisstämme Verstand und Sinnlichkeit, die Kant zufolge eine gemeinsame Wurzel haben könnten, welche aber unbekannt ist. (Vgl. KrV B 29) Problematisch an der kantischen Konzeption ist nun, wie die Synthese von Begriff und Anschauung hergestellt werden kann. So bildet die Anschauung einen gegenüber dem Begriff wesensfremden Gehalt, der in einem zweistufigen Prozess auf die formale Struktur des Begriffs appliziert wird. Die Anschauung müsste hierbei aber bereits die Form des Begriffs aufweisen, um auf diesen bezogen werden zu können. Kant behauptet aber die Anschauung als einen Gehalt, der vor dem Denken gegeben sein kann. (Vgl. KrV B 132) Wie der Begriff ist die Einheit der Apperzeption eine bloß formale Struktur. Um eine Synthese von Anschauung und Begriff, von Form und Gehalt gewährleisten zu können, müsste die transzendentale Apperzeption als Schnittpunkt sowohl formal als auch inhaltlich verfasst sein. Insofern die Apperzeption aber eben gerade nicht als Einheitsmoment von Form und Gehalt ausgewiesen werden kann, ist fraglich, wie sie ihre einheitsstiftende Funktion erfüllen soll. Die durch die transzendentale Apperzeption hergestellte Einheit erscheint so nur als eine gegenüber Begriff und Anschauung äußerliche, die aber keine wirkliche, interne Einheit expliziert. b) Das Problem der strukturellen Unbestimmtheit Kant konzipiert die reine Apperzeption als irreflexive Einheit des Bewusstseins, damit sein Modell einer Synthese von Anschauung und Begriff nicht der Kritik eines vitiösen Zirkels ausgesetzt ist. Das, was die Synthese der Kategorien leistet, kann so nicht selbst begrifflich verfasst sein. Insofern die reine Apperzeption von Kant allerdings bloß negativ bestimmt ist und damit eine radikale Unbestimmtheit darstellt, ist zu fragen, wie sie die Funktion einer solchen Synthese überhaupt leisten kann. Diese Frage ließe sich auch folgenSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 2: Kant
dermaßen formulieren: Wie kann das radikal Unbestimmte einen Bestimmungsprozess initiieren? Wie kann, so ist weiter zu fragen, die Apperzeption, insofern sie sich selbst nicht objektiv zu werden vermag, Objektivität gewährleisten? Die strukturelle Unbestimmtheit und Unterbestimmtheit der kantischen Selbstbewusstseinskonzeption lässt so entscheidende Fragen offen.
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Exkurs 3: HEGEL 1) Hegels Fichte-Kritik 1.1) Hegels Kritik der kritischen Philosophie (Enz §§ 40 – 60) Bereits der Jenaer Hegel kritisiert die Philosophien Kants, Fichtes und Jacobis als „Reflexionsphilosophien283 der Subjektivität“, insofern diese bloß einen dualistischen Standpunkt des Verstandes und nicht einen monistischen Standpunkt der Vernunft explizieren. Obwohl sowohl die Differenzschrift (1801) als auch Glauben und Wissen (1802) dabei bereits Unterschiede in Bezug auf Schellings und Hegels Position enthalten, so versteht Hegel das Prinzip der Philosophie in der Differenzschrift als Identität der Identität und der NichtIdentität,284 was in der Auffassung der Vernunft als Reflexion zum Ausdruck kommt,285 löst sich Hegel erst in der Phänomenologie des 283 Hegel unterscheidet dabei Reflexion als Position des dualistischen Denkens des Verstandes und Spekulation als Position der monistischen Vernunft. Vgl. zu Hegels Fichte-Kritik in der Differenzschrift Dürr, Suzanne, „Hegels Kritik am Jenaer Fichte in der Differenzschrift“, in: Studien zum jungen Hegel, hg. v. Helmut Schneider, Klaus Vieweg, Bochum 2018. (im Erscheinen) 284 „Die Philosophie muß dem Trennen in Subjekt und Objekt sein Recht widerfahren lassen; aber indem sie es gleich absolut setzt mit der der Trennung entgegengesetzten Identität, hat sie es nur bedingt gesetzt, so wie eine solche Identität – die durch Vernichten der Entgegengesetzten bedingt ist – auch nur relativ ist. Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm.“ (Differenz, TWA 2, 96) Schelling übernimmt Hegels Konzeption der Identität der Identität und der Nicht-Identität in seinem Dialog Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge (1802). 285 „Die isolierte Reflexion, als Setzen Entgegengesetzter, wäre ein Aufheben des Absoluten; sie ist das Vermögen des Seins und der Beschränkung. Aber die Reflexion hat als Vernunft Beziehung auf das Absolute, und sie ist nur Vernunft durch diese Beziehung; die Reflexion vernichtet insofern sich selbst und alles Sein und Beschränkte, indem sie es aufs Absolute bezieht. Zugleich aber eben durch seine Beziehung auf das Absolute hat das Beschränkte ein Bestehen.“ (Differenz, TWA 2, 26) Schelling fasst die Reflexion als Geisteskrankheit und stellt dieser die irreflexive, intellektuelle Anschauung als „Zustande des Todes“, aus dem wir durch Reflexion erwachen, gegenüber. (Vgl. Schelling, F. W. J., Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795), in: Ausgewählte Werke. Schriften von 1794-1798, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1980, S. 161221, hier: S. 205.) „Die bloße Reflexion also ist eine Geisteskrankheit des MenSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 3: HEGEL
Geistes (1807) explizit von Schelling. Hegel kritisiert hier die Philosophie, die ihren Anfang im Ausgang vom Absoluten nimmt, das gleichsam „wie aus der Pistole“ (Phän, TWA 3, 31), bloße Versicherung sei. Diese als Kritik an der Grundsatzphilosophie bekannt gewordene Position bezieht Hegel dabei sowohl auf Schelling als auch auf Fichte.286 Insofern Hegel aber in der Phänomenologie Subjektivität zum Bewegungsprinzip der Entwicklung des Geistes macht, löst er sich von Schellings Identitätssystem, das Natur und Geist parallelisiert, und nähert sich der Subjektivitätstheorie Fichtes an. In einem ersten Schritt sollen nun die Hauptpunkte von Hegels Kritik am transzendentalen Idealismus Kants und Fichtes herausgearbeitet werden, wobei hierfür die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830) herangezogen werden soll, da hier die wichtigsten Kritikpunkte in komprimierter Form aufgeführt sind. schen, noch dazu, wo sie sich in Herrschaft über den ganzen Menschen setzt, diejenige, welche sein höheres Daseyn im Keim, sein geistiges Leben, welches nur aus der Identität hervorgeht, in der Wurzel tödtet.“ (Schelling, F. W. J., Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft, Einleitung (1797; 2. Auflage 1803), in: Ausgewählte Werke. Schriften von 1794-1798, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1980, S. 333-397, hier: S. 337.) Bei Hegel findet sich die negative Konnotation des Reflexionsbegriffs in der Rede von „Reflexionsphilosophien“, wobei Schelling diese in der 2. Auflage der Ideen von 1803 übernimmt, was sich in der Ersetzung des Terminus Spekulation durch den der Reflexion zeigt. Hegel hat allerdings in der Differenzschrift sowie in Glauben und Wissen noch keine Lösung für das Problem der Erkenntnisweise des Absoluten. So nimmt er hier noch (im Sinne Schellings) ein „Anschauen des Ewigen“ (GW, TWA 2, 298) an. So schreibt Hegel auch in der Differenzschrift: „Das transzendentale Wissen vereinigt beides, Reflexion und Anschauung; es ist Begriff und Sein zugleich.“ (Differenz, TWA 2, 42) 286 Vgl. zur Auseinandersetzung des Jenaer Hegel mit Fichte vor dem Hintergrund der Skeptizismus-Debatte Vieweg, Klaus, Philosophie des Remis, S. 177-178. Vgl. zur Bedeutung des Skeptizismus bei Fichte und Hegel auch Dürr, Suzanne, „The Reception of Aenesidemus in Fichte and Hegel“, in: Hegel-Jahrbuch Sonderband. Volume 10: Hegel and Scepticsm (2017), S. 185-193. Anders als bei Fichte, bei dem die Beschäftigung mit dem alten Skeptizismus fehlt, spielt die Auseinandersetzung mit dem pyrrhonischen Skeptiker Sextus Empiricus bei Hegel eine eminente Rolle: So immunisiert Hegel sein System gegen den Dogmatismus durch eine Integration des Skeptizismus als negativer Seite der Philosophie. Die Auseinandersetzung mit dem kritischen Skeptizismus Schulzes geht bei Fichte hingegen der Ausbildung der Wissenschaftslehre voraus, obgleich auch Fichtes System skeptische Merkmale aufweist wie z. B. das antithetischsynthetische Verfahren in der Grundlage. Zudem argumentiert Fichte wie auch Hegel gegen die Tropen des Zirkels und des Regresses mit einem Modell immanenter Begründung in Form eines Selbstverhältnisses, welches als Grundprinzip des Systems fungiert. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Hegels Fichte-Kritik
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Wie alle Kritik, die Hegel übt, ist auch die Kritik an der kritischen Philosophie ambivalent: So bewertet Hegel deren kritische Dimension, d. h. die Betonung der Selbstreflexivität des Denkens und die Methodenreflexion, als positiv, moniert aber die dualistische Systemkonzeption der kritischen Philosophie, in welcher für das Denken, insofern dieses als bloß verständig und damit endlich betrachtet werde, das Unendliche ein unerkennbares Transzendentes darstelle. Die kritische Philosophie wählt, indem sie die Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt stellt, in der Perspektive Hegels einen falschen Ausgangspunkt. Indem hierin die Inhalt-Form-Beziehung unreflektiert bleibe, münde sie in einen Dualismus. So operiere die kritische Philosophie mit einem reduktiven, formalistischen Objektivitätsbegriff, der Objektivität in die Sphäre des Subjektiven verlagere. Hegel nimmt hierbei drei Bedeutungen des Begriffs der Objektivität an: a) Objekte als äußere Gegenstände (gemeiner Sprachgebrauch), b) Objektivität als Allgemeinheit und Notwendigkeit (Kant), c) Objektivität als das gedachte An-sich bzw. die Sache selbst (Hegel). Objektivität in der dritten Bedeutung, d. h. als Ding an sich, sei nun bei Kant nicht objektiv, da dieses unerkennbar ist. Kant vertrete somit einen subjektiven Idealismus, da er Objektivität nicht als Bestimmung der Dinge selbst auffasse, sondern diese nur der Subjektivität attestiere. Die Denkbestimmungen seien bei Kant nicht wahrhaft allgemein und notwendig, die kantische Objektivität sei keine wahre Objektivität. Einer subjektiven Objektivität stehe bei Kant ein unerkennbares Ding an sich gegenüber. So verkenne die kritische Philosophie Hegel zufolge in der Untersuchung der Denkformen, dass das Denken als Tätigkeit nicht bloß ein formales Instrument der kritischen Prüfung darstellt, sondern sich hierin selbst zum Inhalt hat. Insofern das Denken als unbestimmte Tätigkeit selbst bestimmt ist, ist es aber über den Gegensatz von Subjektivität und einem für diese unerkennbaren An-sich bereits immer hinaus, das Denken ist an und für sich und damit als sein eigener Inhalt sowohl subjektiv (für sich) als auch objektiv (an sich). Nach Hegel sind die Denkbestimmungen nun nicht nur subjektiv, sondern sie sind auch Bestimmungen der Dinge selbst. Das Verhältnis von Inhalt und Form ist also von zwei Seiten her zu bestimmen: Zum Ersten ist das Denken selbst gegenständlich. Zum Zweiten sind die Gegenstände selbst begrifflich verfasst. So stellt die Untersuchung der Denkformen Hegel zufolge selbst ein Denken dar. Das Denken kann so nie aus sich herausgehen, es kann nicht von sich abSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 3: HEGEL
strahieren, da es sich in der Abstraktion, die ja selbst ein Denken ist, selbst wieder denkt. Hegel bemängelt so den bloß negativen Charakter der kritischen Philosophie, betrachtet diese hierbei aber auch als eine notwendige Stufe in der Geschichte der Philosophie. Insofern die kritische Philosophie darauf reflektiert, dass alles Erkannte ein erkennendes Subjekt zu seiner Voraussetzung hat, überwinde sie den dogmatischen Charakter der vormaligen Metaphysik, die kritische Philosophie verharre aber in der bloßen Destruktion der Metaphysik, ohne deren Resultate auf einem höheren Niveau neu zu reflektieren. Hegel diagnostiziert einen Überschuss an Unbestimmtheit oder auch einen Mangel an Bestimmtheit in der kritischen Philosophie. Hierbei lassen sich vier Aspekte unterscheiden: Zum Ersten die Unbestimmtheit des Ichs als Grundprinzip. Damit in Zusammenhang steht das Problem der Ableitung der Kategorien. Zum Zweiten die Unbestimmtheit oder Leere der Kategorien. Zum Dritten die Unbestimmtheit des Dinges an sich, welche im Problem von dessen Unerkennbarkeit zum Ausdruck komme. Zum Vierten die Unbestimmtheit oder Unerkennbarkeit Gottes. Hegel kritisiert nun die Unbestimmtheit in Bezug auf alle Punkte: 1) Das Ich ist nicht nur unbestimmte Voraussetzung, sondern eine sich selbst bestimmende Tätigkeit, die sich dirimiert (spaltet) und das Mannigfaltige aus sich selbst hervorbringt. 2) Die Kategorien sind nicht leer, sondern ihre Unbestimmtheit stellt gerade ihre Bestimmtheit dar, was aus der Einheit von Form und Inhalt resultiert. 3) Auch das Ding an sich ist in seiner Unbestimmtheit als Unbestimmtes bestimmt. Das Ding an sich ist nicht unerkennbare Grenze des Denkens, sondern es wird als Undenkbares, als Grenze des Denkens gedacht. Hegel greift hierbei Schulzes Kritik am kantischen Ding an sich auf. 4) Das Absolute ist nicht unerkennbar, sondern Geist oder das Denken selbst. Das Absolute ist nicht aufgrund der Endlichkeit des Verstandes nicht erkennbar, sondern es muss vom Verstand zur Vernunft fortgeschritten werden, um das Absolute zu erkennen. Erst die Einsicht, dass es sich bei Unbestimmtheit selbst um eine Bestimmtheit handelt, ermögliche die Konzeption eines monistischen Systems. Die kritische Philosophie stelle demgegenüber ein dualistisches System dar, da sie die Unerkennbarkeit des An-sich der Dinge für das Subjekt behaupte und eine Transzendierung der Grenzen der Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Hegels Fichte-Kritik
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Subjektivität damit leugne. Für Hegel ist die Einheit von Subjekt und Objekt, Inhalt und Form nicht nur eine transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins wie im subjektiven Idealismus Kants und Fichtes, sondern diese Einheit findet sich in der Welt selbst. Hegel fasst so die Einheit von Subjekt und Objekt als Absolutes. Die absolute Einheit des Mannigfaltigen kommt also nicht durch die subjektive Tätigkeit des Selbstbewusstseins zustande, sondern sie ist das Absolute, das Wahrhafte selbst. Das Selbstbewusstsein stellt lediglich eine Exemplifikation des Absoluten dar, welches, insofern es am Absoluten teilhat, sich auf dessen Einheit hin orientiert. Das Selbstbewusstsein hat Hegel zufolge also seinen Grund im Absoluten. Diese Position vertritt auch der späte Fichte. Im Unterschied aber zu Fichte, der das Absolute hierbei als einen dem Ich transzendenten Grund versteht, ist bei Hegel das Absolute im Denken aufgehoben, es ist das Denken selbst. Die kritische Philosophie mündet Hegel zufolge in einen unendlichen Progress, insofern sie die Einheit des Absoluten als eine nur gesollte betrachtet. Der Widerspruch von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit ist in der kritischen Philosophie nicht aufgehoben, sondern es handelt sich um einen perennierend gesetzten Widerspruch. Dieses Problem bezeichnet Hegel auch als schlechte Unendlichkeit. Der Begriff der Aufhebung hat dabei eine dreifache Bedeutung: a) Negation, b) Bewahrung und c) Erhebung. Hegel wirft Kant vor, er fasse Allgemeinheit nur als abstrakte, nicht aber als konkrete Allgemeinheit. Er bestimmt den Begriff des Absoluten hierbei so, dass das Absolute als Unendliches nicht dem Endlichen entgegengesetzt sein kann, da es hierin ein Bedingtes wäre, sondern das Endliche muss im Unendlichen, das Bestimmte im Unbestimmten aufgehoben sein. Die abstrakte Allgemeinheit stellt demgegenüber eine reine Unbestimmtheit dar, die der Bestimmtheit entgegengesetzt ist. Hegel rechnet nun neben Kant auch Fichte der kritischen Philosophie zu. Er stellt hierbei einen Zusammenhang zwischen der Konzeption des Anstoßes und dem Problem der Undenkbarkeit des Unendlichen bei Fichte her. Insofern die Selbstbestimmung des Ichs auf einen Anstoß zurückgeführt wird, ist das Ich ein bloß Bedingtes. Für eine nur endliche Subjektivität ist das Unendliche aber ein Unerkennbares. Hegel versteht die Anstoßkonzeption als eine Wiederaufnahme des kantischen Dinges an sich. Die fichtesche Wissenschaftslehre stellt so in der Perspektive Hegels wie Kants Kritik ein dualistisches System dar. Hegel attestiert Fichte hierbei aber das VerSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 3: HEGEL
dienst, die Kategorien aus dem Ich deduziert und hierin das Denken als ein sich selbst Bestimmendes ausgewiesen zu haben, während diese bei Kant nur aus den Urteilsformen entnommen und damit bloß empirisch aufgezählt seien, also nicht als logisch notwendig eingesehen werden können: „Der Fichteschen Philosophie bleibt das tiefe Verdienst, daran erinnert zu haben, daß die Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit aufzuzeigen, daß sie wesentlich abzuleiten seien.“ (Enz, TWA 8, § 42, 117) Und in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie setzt Hegel Fichte hierin sogar mit Aristoteles gleich: „Und näher sucht Fichte nun die besonderen Kategorien […] abzuleiten; woran von Aristoteles an kein Mensch gedacht hat – die Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit, ihrer Ableitung, ihrer Konstruktion aufzuzeigen –, dies hat Fichte versucht.“ (GdPh, TWA 20, 401) Hegel stellt allerdings einschränkend fest: „Das ist der erste vernünftige Versuch in der Welt, die Kategorien abzuleiten; dieser Fortgang von einer Bestimmtheit zu einer anderen ist Analyse vom Standpunkte des Bewußtseins aus, nicht an und für sich.“ (GdPh, TWA 20, 401) Fichte kann so Hegel zufolge das Ich nicht als ein Selbstbestimmtes und damit Freies darstellen, insofern er dessen Selbstbestimmung durch einen es bedingenden Anstoß erkläre. Hegel stellt hierbei die Unbestimmtheit des Konzeptes des Anstoßes als eines Unerkennbaren heraus: Dieser sei nur ein Abstraktum, eine reine Negativität, die in der formalen Kennzeichnung als Nicht-Ich zum Ausdruck komme. Auch bei Fichte besteht so Hegel zufolge ein Vermittlungsproblem zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Hegel interpretiert das fichtesche Ich als die kontinuierliche Tätigkeit des Sich-Befreiens vom Anstoß, wobei das Ich aber nie wirklich frei werde, da mit der Befreiung vom Anstoß das Ich selbst aufhöre, Ich zu sein. Insofern das Unendliche für die kritische Philosophie ein Unerkennbares sei, bestehe eine Nähe zum Empirismus, da der Gegenstand der kritischen Philosophie nur das Endliche, also das für eine endliche Subjektivität Erkennbare sei. So bringt auch das fichtesche Ich nach Hegel nur einen empirischen Inhalt hervor.
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Hegels Fichte-Kritik
1.2) Das Problem des Anfangs der Philosophie in der Perspektive Hegels Hegels Wissenschaft der Logik setzt ein mit der Frage: „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ Hegel geht dabei auf Fichte ein, ohne diesen aber explizit zu nennen. Er hebt Fichtes Anfang mit dem Ich zunächst als originell hervor, kritisiert diesen dann aber in mehreren Schritten. Es soll nun in einem ersten Schritt die Kritik Hegels analysiert werden. In einem zweiten Schritt soll dann Hegels eigene Konzeption des Anfangs der Philosophie kurz dargestellt werden, wobei zu fragen ist, inwiefern hierbei eine konzeptionelle Nähe zur fichteschen Wissenschaftslehre besteht. a) Kritik der Bezeichnung „Ich“ Die Bezeichnung des Grundes der Philosophie als Ich ist Hegel zufolge missverständlich, insofern sie an das empirische Ich erinnere. Prinzip der Philosophie sei aber das abstrakte Ich, das durch einen absoluten Akt der Reinigung des empirischen Bewusstseins (dieses Programm führt Hegel in der Phänomenologie durch) zustande gebracht werde. Das Prinzip sei daher besser als reines Wissen zu bezeichnen. Tatsächlich hat die Bezeichnung des Grundprinzips als Ich zu Missverständnissen der Philosophie Fichtes geführt.287 In der Darstellung der Wissenschaftslehre (1801/02) spricht Fichte dann auch vom absoluten Wissen, wobei Hegel den Begriff des absoluten Wissens in seiner Phänomenologie des Geistes von Fichte übernimmt.288 b) Kritik der Methode Die Methode der intellektuellen Anschauung stellt nach Hegel als unmittelbare Forderung ein subjektives Postulat, also eine nicht verifizierbare Behauptung, dar.289 Dem Anfang der Philosophie müsse aber, 287 Zu diesem Problem vgl. Schwabe, Individuelles und transindividuelles Ich, S. 324. So heißt es bei Fichte 1798: „Wer die Ausdrücke Ich, und Absolutes […] sich nicht will gefallen lassen, den kann man ohne Bedenken derselben ganz überheben.“ (NV, GA I,4, 465) 288 Vgl. hierzu Fulda, Hans Friedrich, „Das erscheinende absolute Wissen“, in: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, hg. v. Klaus Vieweg, Wolfgang Welsch, Frankfurt am Main, 2008, S. 601-624, hier: S. 611-612, Anm. 289 Wenn Hegel sich auf Fichtes Konzeption der intellektuellen Anschauung bezieht, so kann er hierbei nur auf die von Fichte zum Druck gegebenen SchrifSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 3: HEGEL
insofern er reines Wissen sei, eine Reinigung des empirischen Bewusstseins qua unmittelbares Bewusstsein vorgeschaltet sein. Laut Hegel erfüllt die Phänomenologie des Geistes dabei die Funktion der Einleitung in die Wissenschaft, indem sie die Fortbewegung des konkreten Ichs vom unmittelbaren Bewusstsein zum reinen (absoluten) Wissen durch seine eigene Notwendigkeit aufzeige. Das reine Ich sei so gerade nicht im gewöhnlichen Bewusstsein aufzufinden, wie es Fichtes Konzeption der intellektuellen Anschauung suggeriere. Hegel moniert die Unmittelbarkeit der intellektuellen Anschauung. So sei diese ein bloß willkürlicher Standpunkt, welcher durch die Berufung auf Glaube oder Offenbarung gerechtfertigt werde.290 Als ein bloß Subjektives werde die intellektuelle Anschauung nicht begründet. Fichte begründet nun aber doch in gewisser Weise den Einsatz mit dem Grundprinzip des reinen Ichs in den metatheoretischen Schriften Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre und den in der WL nova methodo vorausgeschickten und im Versuch veröffentlichten Einleitungen. Während Fichte in der Begriffsschrift die Form der Wissenschaftslehre qua System erörtert, haben die Einleitungen deren Gehalt zum Gegenstand. In der Begriffsschrift entwirft Fichte die Systemkonzeption der Wissenschaftslehre. Fichte zufolge muss ein System dabei zum Ersten begründet und zum Zweiten geschlossen sein. Begründung muss nach Fichte, will sie nicht in einen infiniten Begründungsregress geraten, mit einem Unbegründeten und damit Unbestimmten einsetzen. Der Ausgang von einem Unbegründeten wird von Fichte also argumentativ begründet. In der Grundlage steht so eine abstrahierende Reflexion am Anfang, in welcher von allen empirischen Bestimmungen abstrahiert werden soll, bis ten zurückgreifen, d. h. die Aenesidemus-Rezension, den Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre und die Sittenlehre. Die WL nova methodo konnte Hegel nicht kennen, da diese von Fichte nicht veröffentlicht wurde. 290 In Glauben und Wissen kritisiert Hegel hingegen den Formalismus der intellektuellen Anschauung, hält diese aber für ein allgemein verständliches Konzept: „Es ist allgemein über die schwere Forderung der intellektuellen Anschauung geklagt, es ist zu seiner Zeit erzählt worden, daß Menschen über dem Beginnen, den reinen Willensakt und die intellektuelle Anschauung zu produzieren, in Wahnsinn verfallen seien; beides ist ohne Zweifel durch den Namen der Sache veranlaßt worden, welche Fichte als einfach und gemein genug beschreibt […] In irgendeinem Wissen von allem bestimmten Inhalt abstrahieren und nur das reine Wissen, das rein Formelle desselben zu wissen, ist reines absolutes Wissen; diese Abstraktion ist doch leicht zu machen, und jeder weiß auch was, an dem er die Abstraktion machen könne.“ (GW, TWA 2, 398-399) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Hegels Fichte-Kritik
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das übrig bleibt, von welchem nicht weiter abstrahiert werden kann. Fichte sagt nun zwar, dass nur, wer die intellektuelle Anschauung des Ichs vollziehe, Zugang zur Wissenschaftslehre habe. Der Handlungsvollzug involviert den Philosophen so unmittelbar. Fichte sah sich nun mit dem Vorwurf konfrontiert, diesen Akt nicht vollziehen zu können. Fichte wendet hiergegen jedoch ein, dass die Anlage zur Vernunft allen Menschen gemeinsam sei, dass diese aber durch Freiheit erst ausgebildet werden müsse, sodass auf das Denken als solches reflektiert werden könne. Die Wissenschaftslehre sei so kein exklusives Unternehmen. Auch die Logik setzt mit der Forderung ein, absolut frei zu denken. Sowohl am Anfang der Wissenschaftslehre als auch des hegelschen Systems steht ein willkürlicher Akt der Freiheit. Auch bei Hegel muss der Philosoph als Individuum den Anfang des Systems subjektiv nachvollziehen. Im Gegensatz zur Konzeption Fichtes ist bei Hegel allerdings die Phänomenologie als sich selbst vollbringender Skeptizismus der Logik als Legitimation des Anfangs vorgeschaltet. Hegel kritisiert dabei Fichtes unmittelbaren Einsatz mit einem absolut-ersten Grundsatz. Demgegenüber betont Hegel, dass das Absolute Resultat sei, d. h., erst mit der Entfaltung des Systems, mit dem Gang in den Grund seine Rechtfertigung finde. Wie bereits gezeigt, ist Fichtes Systemkonzeption aber zweideutig: Fichte setzt so an den Anfang des Systems eine unmittelbare Gewissheit, der absolut-erste Grundsatz rechtfertigt sich für Fichte aber allerdings erst mit dem Durchgang durch das System, ist also an dessen Anfang problematisch, d. h. bloß möglich. Während Fichtes Modell der intellektuellen Anschauung aber auf eine Konzeption von unmittelbarer Evidenz bzw. Gewissheit rekurriert, resultiert bei Hegel die Selbsterkenntnis des Geistes in der absoluten Idee aus der rationalen Begründungsstruktur des Systems und markiert deren Endpunkt. Hegel lehnt so einen Rekurs auf unmittelbare Gewissheit als nicht rational ausweisbare und damit dogmatische Voraussetzung ab.291
291 Zum Zusammenhang des Problems des Anfangs der Philosophie mit dem Skeptizismus vgl. Vieweg, Klaus, „Der Anfang der Philosophie – Hegels Aufhebung des Pyrrhonismus“, in: Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht, hg. v. Klaus Vieweg, Wolfgang Welsch, München, 2007, S. 131-146. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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c) Kritik des Inhalts: Ich als bloß subjektiv Hegel verschärft nun seine Kritik. Die Bezeichnung des Prinzips als Ich sei nicht nur eine unpassende formale Benennung, sondern ein Ausdruck der inhaltlichen Einseitigkeit des Grundprinzips. So sei das Ich ein bloß Subjektives, dem das Objekt als ein anderes gegenüberstehe. Hegel charakterisiert Fichtes Ich in Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel (1828) als „jene Negativität überhaupt, die in der Steigerung bis zu ihrer abstrakten Spitze die Grundbestimmung der Fichteschen Philosophie ausmacht; im Ich = Ich ist alle Endlichkeit nicht nur, sondern überhaupt aller Gehalt verschwunden.“ (Solger, TWA 11, 254) Das Ich sei so noch in der Erscheinung befangen. Die Phänomenologie zeige hierbei das Hervorgehen des reinen Wissens als Identität von Subjekt und Objekt aus dem noch im Schein befangenen Bewusstsein.Während Fichte allerdings in der Grundlage einen strikten Gegensatz von Ich und Nicht-Ich behauptet, betont er in der WL nova methodo nun die Identität von Ich und Nicht-Ich, welche Resultat der Reflexionsbestimmtheit des Ichs ist. In der WL nova methodo verschärft Fichte so insofern den Idealismus der Grundlage, als er hier den Dualismus von Ich und Nicht-Ich revidiert. Nicht ein unableitbarer Anstoß erklärt hier die Ausdifferenzierung des Ichs, sondern diese wird auf eine interne Differenz im Ich selbst zurückgeführt. Damit einher geht dann auch die Verabschiedung des von Hegel kritisierten Strebensansatzes in der Version der Grundlage. d) Widersprüchlichkeit der Konzeption der intellektuellen Anschauung Hegel bemängelt die Uneindeutigkeit des Konzepts der intellektuellen Anschauung. So stelle die intellektuelle Anschauung zum einen eine einfache, unmittelbare Bestimmung dar, zum anderen sei sie aber auch ein Konkretes, das als vermittelnde Bewegung Bestimmungen enthalte. Der Anfang der Philosophie müsse aber scheinbar292 unmittelbar sein, da sonst keine Notwendigkeit eines logischen Fort292 So betont Hegel den notwendigen Zusammenhang von Unmittelbarkeit und Vermittlung: „Es ist hier nur zu betrachten, wie der logische Anfang erscheint; die beiden Seiten, nach denen er genommen werden kann, sind schon genannt, entweder als Resultat auf vermittelte oder als eigentlicher Anfang auf unmittelbare Weise. […] Hier mag […] nur dies angeführt werden, daß es Nichts gibt, […] was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die VermittSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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gangs bestünde: „denn nur im Einfachen ist nicht mehr als der reine Anfang; nur das Unmittelbare ist einfach, denn nur im Unmittelbaren ist noch nicht ein Fortgegangensein von einem zu einem anderen.“ (WdL, TWA 5, 79) Wie verhält es sich nun mit dem Anfang in der Wissenschaftslehre? Am Anfang der Wissenschaftslehre steht eine allgemeine, transindividuelle Subjektivitätsstruktur. Die intellektuelle Anschauung stellt somit keine Selbstanschauung des konkreten, individuellen Ichs dar, da der Unterschied von verschiedenen Ichen, der erst Individualität konstituiert, hier noch gar nicht gemacht ist. Fichte zufolge ist so der Perspektivenwechsel vom natürlichen zum philosophischen Bewusstsein nur durch eine Abstraktion und eine Reflexion zu vollziehen. Die intellektuelle Anschauung ist als ein unmittelbares Selbstbewusstsein zu charakterisieren, das aber zugleich vermittelt ist. So ist die intellektuelle Anschauung eine begriffene Anschauung, das an den Philosophen ergehende Postulat ist ein doppeltes: Zum Ersten fordert Fichte zu einer Reflexion auf, indem der Begriff des Ichs zu denken ist. Zum Zweiten soll hiermit eine Abstraktion vom individuellen Ich vorgenommen werden, indem das Sich-Denken erneut zum Gegenstand einer Reflexion gemacht und damit die allgemeine Struktur von Subjektivität freigelegt werden soll. Hegel zufolge muss sich ein System vom Abstrakten zum Konkreten hin entwickeln. Wird mit einem Konkreten begonnen, so ist dies in zweifacher Hinsicht problematisch: Zum Ersten ist dieses nicht voraussetzungslos, der Anfang darf aber noch keine Voraussetzungen machen, will er Anfang sein. Zum Zweiten kann das Konkrete nur als Resultat des Systems bewiesen werden. Steht es am Anfang, so fehlt der Beweis, es handelt sich dann um eine dogmatische Voraussetzung. Die Bestimmungen, die im Konkreten miteinander verbunden sind, müssen also zum einen generiert und zum anderen bewiesen werden. Nach Hegel muss das System so mit einem Leeren, Voraussetzungslosen und damit Unbestimmten einsetzen, wobei sich dessen Unbestimmtheit allerdings gerade als dessen Bestimmtheit herausstellt. Dieses bezeichnet Hegel als „reines Sein“ (WdL, TWA 5, 82). Auch der Anfang der Grundlage stellt nun eine radikale Unbestimmtheit dar, die von Fichte als Tathandlung, Sich-Setzen und auch als Sein bestimmt wird. Auch in der WL nova methodo geht lung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt.“ (WdL, TWA 5, 66) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Exkurs 3: HEGEL
Fichte von einer bloßen Unbestimmtheit aus, welche er hier als Einfachheit einer unmittelbaren Anschauung versteht. Diese resultiert aus dem Zusammenfallen von Sich-Denkendem und Gedachtem, von Subjekt und Objekt. Das Ich als Selbstbeziehung wird hierbei erst durch das Hinausgehen aus dieser Anschauung zum Begriff konstituiert. Im Gegensatz zur Grundlage, in welcher Fichte noch nicht explizit zwischen Ich des Philosophen und ursprünglichem Ich in Bezug auf das Grundprinzip unterscheidet, lassen sich in der WL nova methodo dabei Anfang und Grund unterscheiden. Am Anfang steht das Ich des Philosophen als ein nur ideales Selbstbewusstsein, als eine bloße Repräsentation des Ich-Prinzips. In § 3 führt Fichte dann das ursprüngliche Ich als Grundprinzip der Wissenschaftslehre ein. Aber erst mit der Einführung des reinen Willens in § 13, bei welchem es sich um eine Fortbestimmung des Grundprinzips handelt, die erst im Anschluss an die Konkretisierungsarbeit der vorhergehenden Paragraphen vorgenommen werden kann, gelangt die Wissenschaftslehre in ihren eigentlichen Grund. Dieser wird dann in der Hauptsynthese (§§ 17 – 19) in seiner Gesamtstruktur expliziert. Wie Hegel kritisiert Fichte in seinem Kommentar Zur Darstellung von Schelling’s Identitätssysteme (1801) so den Anfang mit dem Absoluten in Schellings Identitätssystem als zu voraussetzungsreich: „Der Anfang kann nur das Unbestimmteste, Unfertigste sein, weil wir sonst von ihm aus weiter zu gehen und ihn durch Fortdenken schärfer zu bestimmen gar keine Ursache hätten.“ (SI, GA II,5, 487) In der Perspektive Hegels würde es sich beim Grundprinzip Fichtes, dem Ich, aber dennoch insofern um ein Konkretes handeln, welches einem bloß empirischen Standpunkt zuzuordnen ist, als Fichte Subjektivität als eine endliche, nicht absolute Subjektivität versteht, für welche das Selbstbewusstsein Gottes ein Unbegreifliches ist und welche sich durch den Gegensatz zu einem Nicht-Ich konstituiert.293
293 Vgl. GW, TWA 2, 414. Vgl. zur Differenz von absoluter Subjektivität bei Hegel und endlicher Subjektivität bei Fichte auch Düsing, Klaus, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik: systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und der Dialektik, Bonn, 1995, S. 335346. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Hegels Modell der produktiven Reflexion
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2) Hegels Modell der produktiven Reflexion 2.1) Der Anfang der Logik als unterspezifizierte Subjektivität Gegen das Missverständnis, der Anfang der Logik sei insofern dogmatisch, als das Sein nicht den Bezug auf Subjektivität berücksichtige, ist vorzubringen, dass sich die Position des Seins gerade auf das Denken bezieht. Es soll so die These vertreten werden, dass bereits im Anfang der Logik die dialektische Grundstruktur der Subjektivität enthalten ist, wenn auch noch implizit, d. h. in unterspezifizierter Form. Der Gang der Logik stellt dann die Ausdifferenzierung dieser basalen Subjektivitätsstruktur dar, an deren Ende die absolute Idee als übergreifende Subjektivität steht. Fungiert zunächst die Phänomenologie als Einleitung in das hegelsche System, wird diese dann in die Konzeption des subjektiven Geistes der Enzyklopädie integriert und damit zum Teil des Systems. Am Anfang der Logik und damit des hegelschen Systems steht nun der Entschluss, rein denken zu wollen, d. h., von allen empirischen Bestimmungen zu abstrahieren. Das, von dem nicht abstrahiert werden kann, ist dabei das Denken selbst. Das reine Sein, mit dem die Logik einsetzt, stellt so das Sein des Denkens dar, d. h. den Sachverhalt, dass die Positivität oder das Dass des Denkens nicht zu negieren ist. Die Form des Denkens bildet hierbei den ganzen Inhalt des Denkens, Dass und Was des Denkens fallen zusammen. Zugleich zeigt sich im Anfang der Logik bereits die die absolute Idee kennzeichnende Einheit von Theorie und Praxis, wenngleich in noch unterbestimmter Form. So handelt es sich beim Entschluss, denken zu wollen, um eine Kategorie der praktischen Philosophie. Aber auch die Form des Denkens vereint theoretische und praktische Dimension: Denken ist zwar eine theoretische Kategorie, andererseits stellt Denken aber auch eine Tätigkeit dar und ist damit praktisch konnotiert. Es zeigen sich so erstaunliche Parallelen zum Anfang der Wissenschaftslehre beim frühen Fichte. So fasst Fichte in der Grundlage Sein als allgemeinste Bestimmung auf, wobei es sich hier um Sein als Bewusst-Sein handelt. Wie Fichte geht auch Hegel in der Logik vom allgemeinsten, abstraktesten Begriff aus. Während am Anfang der Grundlage ein Grundsatz steht, beginnt die WL nova methodo demgegenüber mit einem Postulat, d. h. der Aufforderung, sich in der Abstraktion vom Gegenstandsbewusstsein zu denken. Fichte geht es Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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dabei nicht darum, sich als Individuum zu denken, sondern die reine, selbstbezügliche Tätigkeit des Denkens selbst ist es, welche gedacht werden soll. Diese reine Tätigkeit versteht Fichte aber im Gegensatz zu Hegel als intellektuelle Anschauung. Auch die Aufforderung stellt eine Kategorie der praktischen Philosophie dar und verweist zudem auf die Intersubjektivität des Ichbegriffs. So geht es auch Fichte beim Anfang der Philosophie um die Einheit von Theorie und Praxis, welche im Tätigkeitscharakter des Sich-Denkens zum Ausdruck kommen soll.
2.2) Die Kategorie des Für-sich-Seins in der Seinslogik Hegel führt drei Momente des Für-sich-Seins an: 1) Unbestimmtheit/Unmittelbarkeit Das Für-sich-Sein als reine Selbstbeziehung ist bloße Unmittelbarkeit. Es enthält keine Differenz, Hegel bestimmt es als reine Negativität. 2) Bestimmtheit/Vermittlung Insofern das Für-sich-Sein eben als ein Negatives bestimmt ist, beinhaltet es die Negation. Es unterscheidet sich daher von sich selbst, wodurch aus der Einheit die Vielheit hervorgeht. Hierin zeigt sich die intersubjektive Dimension des reinen Für-sich-Seins: Die Einheit inkludiert die Vielheit und damit viele Eins. Hegel verwendet hier die aus der Physik entlehnten Begriffe der Repulsion (Abstoßung) und der Attraktion (Anziehung). Das Eins spaltet sich nun zunächst, indem es sich von sich selbst abstößt. Hegel übernimmt hierbei den fichteschen Begriff des Setzens: In der Selbstspaltung setzt die Einheit viele Eins. 3) Bestimmte Unbestimmtheit/vermittelte Unmittelbarkeit Das dritte Moment stellt die Aufhebung der ersten beiden Momente dar. Das Eins ist nicht nur als Vielheit zu bestimmen, sondern die Vielen sind jeweils Eins. Die Repulsion schlägt um in Attraktion. Die Differenz der Vielen stellt nicht nur ein äußerliches Nebeneinander dar, sondern, insofern jedes der Vielen selbst Einheit ist, sind die Vielen in der Einheit aufgehoben: Das Eins bezieht sich in den Vielen auf sich selbst. Das Für-sich-Sein hebt sich hierin auf. Insofern es die Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Differenz der Vielen inkludiert, ist es An-und-für-sich-Sein. Das Fürsich-Sein als bloße Negativität ist so im An-und-für-sich-Sein negiert, bewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben. Hegel als Vertreter des Reflexionsmodells zu kennzeichnen (Henrich/Frank/Gloy),294 greift zu kurz. Bereits bei Fichte stellt Selbstbewusstsein die Einheit von Reflexion und Produktion dar. Auch bei Hegel spielen die Aspekte der Reflexion und der Produktion eine Rolle. Beide Momente finden sich vereint im Begriff des Sich-Setzens: 1) Produktive Reflexion: Das Sich-Setzen produziert sich selbst als Wissen. 2) Reflexive Produktion: Das Sich-Setzen weiß sich als Produktion seiner selbst. Für-sich-Sein ist bei Hegel zum Ersten Reflexion, und zwar im Sinne von Selbstbeziehung295, zum Zweiten Produktion (Setzen vieler Eins) und zum Dritten reflektierte Produktion oder produktive Reflexion (Selbstbezug Eins in Vielen). Sowohl Fichte als auch Hegel fassen Selbstbewusstsein als Einheit von Unbestimmtheit und Bestimmtheit, von Reflexion und Produktion, wodurch sich ihre Konzeption von Selbstbewusstsein von Kants transzendentalem Ich als irreflexiver Voraussetzung von Objektbewusstsein absetzen lässt. Während 294 Vgl. hierzu Henrich: „[…] dass der gesamte Hegelianismus in der Bewusstseinstheorie dogmatisch und unproduktiv geblieben ist. Beharrlich beschreibt er das Selbstbewusstsein als Zusichkommen eines solchen, das an sich schon Selbstbeziehung ist, – und somit ganz nach dem Reflexionsmodell, das bereits alles voraussetzt. Und er tut das, obwohl ihm im Zusammenhang seiner Analyse von Relationen ganz andere Mittel zur Verfügung standen. Die Behauptung, dass er vom Reflexionsmodell nicht loskam, ist übrigens auch keineswegs deshalb einzuschränken, weil er meinte, die Reflexion könne nur im sozialen Interaktionszusammenhang zustande kommen. Die Rechenschaft über die Struktur dessen, was auf diese Weise entsteht, wird davon in keiner Weise beeinflusst.“ (Henrich, Selbstbewusstsein, S. 281.) Dieser Position schließt sich auch Karen Gloy an. (Vgl. Gloy, Selbstbewusstsein als Prinzip neuzeitlichen Selbstverständnisses, S. 43-44; Gloy, Bewusstseinstheorien, S. 202-203.) 295 Zur Gleichsetzung von Reflexion und Selbstbeziehung bei Hegel WdL, TWA 6, 571: „Vermöge der aufgezeigten Methode stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist.“ Hegel verwendet den Terminus der Reflexion aber primär als Signum der Position des Verstandesdenkens. Hier soll der Terminus aber auch im positiven Sinne von Selbstbeziehung verwendet werden. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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bei Fichte das Verhältnis von Unbestimmtheit und Bestimmtheit als ein Schweben oder eine Wechselwirkung charakterisiert ist, konzipiert Hegel es im Sinne des Modells der Aufhebung. Die Konzeption der Aufhebung beinhaltet dabei das Moment der Negation. Dies heißt aber, dass Unbestimmtheit als eine bloß einseitige Unbestimmtheit negiert ist, sie also nur in Bezug auf Bestimmtheit als Unbestimmtheit aufgefasst werden kann.
2.3) Hegels Konzeption des Begriffs Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frei ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtsein. Ich habe wohl Begriffe, d. h. bestimmte Begriffe; aber Ich ist der reine Begriff selbst; der als Begriff zum Dasein gekommen ist. […] Ich aber ist erstlich diese reine sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es Allgemeinheit; Einheit, welche nur durch jenes negative Verhalten, welches als das Abstrahieren erscheint, Einheit mit sich ist und dadurch alles Bestimmtsein in sich aufgelöst enthält. Zweitens ist Ich ebenso unmittelbar als die sich auf sich beziehende Negativität Einzelheit, absolutes Bestimmtsein, welches sich Anderem gegenüberstellt und es ausschließt; individuelle Persönlichkeit. Jene absolute Allgemeinheit, die ebenso unmittelbar absolute Vereinzelung ist, und ein Anunfürsichsein, welches schlechthin Gesetztsein und nur dies Anundfürsichsein durch die Einheit mit dem Gesetztsein ist, macht ebenso die Natur des Ich als des Begriffes aus; von dem einen und dem anderen ist nichts zu begreifen, wenn nicht die angegebenen beiden Momente zugleich in ihrer Abstraktion und zugleich in ihrer vollkommenen Einheit aufgefaßt werden. (WdL, TWA 6, 253)
Hegel wendet sich gegen ein Verständnis vom Begriff als eines bloß formalen Behälters für einen externen Gehalt. Hegel kritisiert so eine Position, die die Welt als Gesamtheit von Objekten, eines bloß unbestimmten sinnlichen Materials versteht, das erst nachträglich durch Begriffe der es auffassenden Subjektivität strukturiert wird. Im Hintergrund von Hegels Kritik steht hier Kants Konzeption des transzendentalen Idealismus. Gegen die Auffassung des Begriffs als einer abstrakten, allgemeinen Form macht Hegel geltend, der Begriff müsse als konkrete Totalität, als unendliche, sich selbst bestimmende Form verstanden werden, die zu ihrer Realisation keines äuSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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ßeren Stoffs bedarf, sondern die als Einheit von Form und Inhalt ihren eigenen Gehalt generiert. Gegen die Rede von Begriffen im Plural betrachtet Hegel den Begriff als Form absoluter Selbstbestimmung, die aus sich selbst als freier, schöpferischer Tätigkeit konkrete Bestimmungen produziert und sich damit als logische Struktur ausdifferenziert. Hegel vertritt hierbei ein organologisches Modell des Begriffs: Beim Begriff handelt es sich um eine Struktur, die sich durch den logischen Code der Momente Allgemeines, Besonderes und Einzelnes explizieren lässt. Jedes Begriffsmoment muss hierbei selbst wieder als Ganzes verstanden werden. Die Makrostruktur der Logik, d. h. die drei Stufen von Seins-, Wesens- und Begriffslogik, bildet sich dabei in der Mikrostruktur des Begriffs selbst ab, insofern diese als Stufengang von Unmittelbarkeit, Mittelbarkeit und vermittelter Unmittelbarkeit oder unmittelbarer Vermittlung gekennzeichnet werden kann. Hegel charakterisiert Selbstbewusstsein nun als „daseienden Begriff“, worin deutlich wird, dass er mit seiner Konzeption des Begriffs direkt an Kants Modell der transzendentalen Apperzeption als höchstem Punkt der Transzendentalphilosophie anschließt: Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der reinen Vernunft finden, daß die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des „Ich denke“ oder des Selbstbewußtseins erkannt wird.“ (WdL, TWA 6, 254)
Hegel versteht seine Logik als Fortführung des kantischen Projekts der Transzendentalphilosophie, wenn er die Begriffslogik oder auch subjektive Logik als höchste Stufe der Logik konzipiert. Er liefert hierbei aber eine gegenüber Kant andere inhaltliche Bestimmung dieses höchsten Punktes der Philosophie. Hegel kritisiert so den einseitigen Subjektivismus Kants, welcher aus der Grundanlage der kantischen Philosophie resultiere: An der apriorischen Synthesis des Begriffs hatte Kant ein höheres Prinzip, worin die Zweiheit in der Einheit, somit dasjenige erkannt werden konnte, was zur Wahrheit gefordert wird; aber der sinnliche Stoff, das Mannigfaltige der Anschauung war ihm zu mächtig, um davon weg zur Betrachtung des Begriffs und der Kategorien an und für sich und zu einem spekulativen Philosophieren kommen zu können. (WdL, TWA 6, 267)
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Die Begriffslogik ist in drei Teile gegliedert, wobei der erste Teil, der mit dem Titel Subjektivität überschrieben ist, wiederum aus drei Teilen besteht, nämlich Begriff, Urteil und Schluss. In dieser Gliederung wird die Kritik an der kantischen Subjektivitätskonzeption deutlich: So fungiert die transzendentale Apperzeption bei Kant als Prinzip der Urteilseinheit, es besteht für Kant also ein Zusammenhang zwischen Sein (dem ist des Urteils) und Denken („ich denke“ als Form des Urteils überhaupt). Für Hegel ist die transzendentale Apperzeption dabei eine bloß leere Identität, die auf einen externen, prinzipiell fremden Gehalt angewiesen ist. Das synthetische Urteil a priori ist bei Kant so als Verbindungsleistung der differenten Komponenten Begriff und Anschauung konzipiert. Hegel kritisiert hierbei Kants Annahme einer Anschauung vor allem Denken. Anschauung ist für Hegel also insofern intellektuell, als sinnliche Anschauung auch schon immer Denken ist, da sonst keine echte Synthese möglich wäre.296 Für Hegel handelt es sich beim Urteil aber lediglich um die zweite Stufe der Entfaltung des subjektiven Begriffs, insofern dieses zwar eine Synthese von Allgemeinem und Besonderem leistet, aber noch nicht die höchste Stufe der Aufhebung im Einzelnen in sich erreicht. Hegel verweist hierbei auf die Etymologie von Ur-Teilen als Ausdruck einer ursprünglichen Differenz, einer Ur-Teilung.297
2.4) Hegels Deutung des Bewusstseinszirkels Gewiß muß es zugegeben werden, daß man weder von Ich noch von irgend etwas, auch [nicht] von dem Begriff selbst den mindesten Begriff hat, insofern man nicht begreift und nur bei der einfachen, fixen Vorstellung und dem Namen stehenbleibt. Sonderbar ist der Gedanke – wenn es anders ein Gedanke genannt werden kann –, daß Ich mich des Ich schon bedienen müsse, um von Ich zu urteilen; das Ich, das sich des Selbstbewußtseins als eines Mittels bedient, um zu urteilen, dies ist wohl ein x, von dem man, so wie vom Verhältnis solchen Bedienens, nicht den geringsten Begriff haben kann. Aber lächerlich ist es wohl, diese Natur des Selbstbewußtseins – daß Ich 296 Hegel kritisiert dabei den Ausdruck Synthese als Signum einer bloß äußerlichen, additiven Vereinigung. (Vgl. WdL, TWA 5, 100) 297 Frank zufolge handelt es sich hierbei allerdings um eine etymologische Fehldeutung, welche sich auch bei Fichte, Hölderlin und Sinclair finde. (Vgl. Frank, Fragmente einer Geschichte der Selbstbewusstseins-Theorie, S. 463, insbesondere die Anmerkung.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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sich selbst denkt, daß Ich nicht gedacht werden kann, ohne daß es Ich ist, welches denkt – eine Unbequemlichkeit und als etwas Fehlerhaftes einen Zirkel zu nennen –, ein Verhältnis, wodurch sich im unmittelbaren empirischen Selbstbewußtsein die absolute, ewige Natur desselben und des Begriffes offenbart, deswegen offenbart, weil das Selbstbewußtsein eben der daseiende, also empirisch wahrnehmbare, reine Begriff, die absolute Beziehung auf sich selbst ist, welche als trennendes Urteil sich zum Gegenstande macht und allein dies ist, sich dadurch zum Zirkel zu machen. (WdL, TWA 6, 490)
Hegel diskutiert die Problematik des Bewusstseinszirkels im Rahmen der subjektiven Logik oder auch Begriffslogik und zwar im Abschnitt zur Idee des Erkennens. Er versteht hier Kants Auffassung des Zirkels nicht bloß als Ausdruck eines Missverständnisses, sondern als Kennzeichen einer defizitären Subjektivitätstheorie. Hegel stellt hierbei Kants negativer Deutung des Zirkels eine positive Deutung gegenüber: Der Zirkel sei nicht fehlerhaft, sondern charakteristisch für Selbstbewusstsein als absoluter Selbstbeziehung. Der Zirkel resultiere so aus der strukturellen Verfassung von Selbstbewusstsein, das zugleich Mittel und Gegenstand, Subjekt und Objekt der Selbstbeziehung ist. Anders als ein bloßes Ding, das als Einfaches keine zirkuläre Struktur aufweise, ist Selbstbewusstsein für Hegel durch eine Doppelstruktur charakterisiert. Selbstbewusstsein resultiere so aus der Selbstverdopplung des Subjekts, das damit zugleich Objekt ist. Hegel betrachtet Selbstbewusstsein als „daseienden Begriff“, d. h. als Konkretisierung des Begriffs als absoluter Selbstbeziehung. Selbstbewusstsein sei als Struktur zu verstehen, die sich von sich unterscheide und sich damit auf sich selbst beziehe. Das Ich müsse sich seiner somit bedienen, um von sich selbst als Ich zu urteilen, d. h., sich von sich selbst zu unterscheiden. Kants Subjektivitätskonzeption sei so in mehrfacher Hinsicht defizitär: Kants Begriff von Objektivität sei zu eng, da dieser lediglich auf zeitliche und räumliche Anschauung bezogen sei, nicht aber auf das Denken selbst. Hieraus resultiere dann ein Subjekt-Objekt-Dualismus. Kant operiere mit einer begrifflosen Vorstellung vom Ich, welche dem Standpunkt des alltäglichen Bewusstseins korrespondiere. Er bleibe bei der Erscheinung stehen, indem er nicht die Frage stelle, inwiefern die abstrakte Ich-Vorstellung an und für sich wahr sei, d. h., inwiefern dem alltäglichen, bloß subjektiven Ich-Bewusstsein eine wirkliche logische Struktur entspreche. Wenn Selbstbewusstsein nicht als Subjekt-Objekt-Einheit, sondern bloß einseitig entweder als Subjekt oder als Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Objekt aufgefasst werde, dann führe dies zu der Unbequemlichkeit, dass dann das fehlende Relat jeweils vorausgesetzt werden müsse. Objektivität ist für Hegel somit ein konstitutiver Bestandteil von Selbstbewusstsein. Die Unbequemlichkeit des Bewusstseinszirkels deutet Hegel so nicht nur als notwendiges Moment der Bewusstseinsstruktur, sondern auch als empirisches Faktum, worin die Unwahrheit einer bloß abstrakten Ich-Vorstellung zum Ausdruck komme.298 Hegel unterscheidet zwei Modelle von Zirkularität: Zum einen einen fehlerhaften, vitiösen Zirkel, der als Ausdruck einer defizitären theoretischen Struktur zu deuten sei, zum anderen einen positiven Zirkel im Sinne einer absoluten Selbstbeziehung.299 Von einem Zirkel im positiven Sinne kann hier allerdings nur metaphorisch gesprochen werden, da Zirkularität als Selbstverhältnis für Hegel durch die Asymmetrie der Relata gekennzeichnet ist, d. h., dem Subjekt kommt als Denkendem ein Vorrang gegenüber dem Objekt zu, was in der Rede von der Idee als „übergreifender Subjektivität“ zum Ausdruck kommt. In Bezug auf den vitiösen Zirkel unterscheidet Hegel wie auch Fichte zwei Formen: Zum einen den einseitigen Ausgang vom Subjekt, wobei vom Objekt abstrahiert werde, zum anderen den einseitigen Ausgang vom Objekt, wobei vom Subjekt abstrahiert werde: 298 Es stellt sich die Frage, ob Hegels Kant-Interpretation adäquat ist. Dem widerspricht Klaus Düsing: „Das Kantische Zirkelargument und das äquivalente Argument der Unmöglichkeit, das reine Ich als Objekt zu erfassen, enthalten vielmehr Kants Kritik an der rationalen Psychologie; nicht ein Zirkel in der begrifflichen Definition von reinem Ich, sondern ein Zirkel im Beweis der substantialen Existenz dieses Ich durch reines Denken ist offenbar gemeint; es kann durch reines Denken von sich nichts ‚urteilen‘, nämlich kein Erkenntnisurteil gewinnen; es wird sich im reinen Denken nicht Objekt als Anschauungsinhalt.“ (Düsing, Klaus, Selbstbewusstseinsmodelle, S. 104.) Hegel geht es aber gerade um den Aufweis der Einheit von Denken und Sein, die er bei Kant nicht realisiert sieht. 299 Vgl. hierzu auch Cramer, Konrad, „‚Erlebnis‘. Thesen zu Hegels Theorie des Selbstbewusstseins mit Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie“, in: Hegel-Studien, Beiheft 11 (1974), S. 537-603, hier: S. 592-603. Cramer vertritt hier die These, „dass Hegel eine Theorie des Zustandekommens des Zirkels entwirft, die es zu vermeiden gestattet, seine von Kant behauptete Unbequemlichkeit als letztes theoretisches Wort auszugeben. Unter diesem Aspekt kann Hegels Unternehmen als der Versuch der Konstruktion eines nicht-vitiosen Zirkels beschrieben werden. Sein Programm war nicht, den Zirkel zu vermeiden, sondern ihm eine neue Bedeutung zu geben.“ (Ebd., S. 597.) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Aber allerdings wenn Ich begrifflos als bloße einfache Vorstellung nach der Weise genommen wird, wie wir im alltäglichen Bewußtsein Ich aussprechen, so ist es die abstrakte Bestimmung, nicht die sich selbst zum Gegenstand habende Beziehung seiner selbst; – es ist so nur eins der Extreme, einseitiges Subjekt ohne seine Objektivität, oder es wäre auch nur Objekt ohne Subjektivität, wenn nämlich die berührte Unbequemlichkeit hierbei nicht wäre, daß sich von dem Ich als Objekt das denkende Subjekt nicht wegbringen läßt. Aber in der Tat findet dieselbe Unbequemlichkeit auch bei der ersteren Bestimmung, dem Ich als Subjekte, statt; das Ich denkt etwas, sich oder etwas anderes. Diese Untrennbarkeit der zwei Formen, in denen es [sich] selbst entgegensetzt, gehört zur eigensten Natur seines Begriffs und des Begriffs selbst; sie ist gerade das, was Kant abhalten will, um nur die sich in sich nicht unterscheidende und somit ja nur die begrifflose Vorstellung fest zu erhalten. (WdL, TWA 6, 491)
2.5) Die absolute Idee als übergreifende Subjektivität Die höchste Erkenntnisform und den Abschluss der Logik bildet die absolute Idee als Denken des Denkens. Es handelt sich hierbei um die höchste Form der Realisierung der Subjektivität. Die absolute Idee ist so die Einheit von subjektiver und objektiver Idee bzw. theoretischer und praktischer Idee, welche alle Bestimmungen des Systems der Logik in sich enthält und in sich aufgehoben hat. Die absolute Idee stellt die absolute Einheit von Form und Gehalt dar: In ihr sind die Unmittelbarkeit des Lebens als an sich seiende Idee und die Vermittlung des Erkennens als für sich seiende Idee zusammengeführt. Die absolute Idee ist insofern eine an und für sich seiende Einheit, als sich in ihr die reine Form des Begriffs sich selbst als ihr eigener Inhalt anschaut, die Subjektivität ist hierbei für sich, da sie sich selbst vollkommen transparent ist. Hegel vertritt hier ein organisches Modell von Subjektivität, in welchem alle Bestimmungen nur ihren Wert durch den Bezug auf das Ganze des Systems haben, wobei die Gesamtstruktur eben in der absoluten Idee repräsentiert wird.300 Hegel bestimmt die absolute Idee dabei als Subjekt-Objekt-Einheit 300 Hierin liegt nach Halbig/Quante der zentrale Unterschied der Subjektivitätsmodelle Fichtes und Hegels: „Fichte hält das oberste Prinzip für selbstevident, Schelling setzt es als seinerseits letztlich nicht mehr weiter begründbares Axiom und Hegel versucht, das Prinzip selbst durch seine Stellung im und seine Leistung für das Gesamtsystem holistisch zu fundieren.“ (Halbig, Quante, Absolute Subjektivität, S. 85.) In der WL nova methodo betont Fichte allerdings Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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als „übergreifende Subjektivität“, insofern es für dieselbe keinen externen Gehalt mehr gibt und damit die Objektivität in der Subjektivität, die Endlichkeit in der Unendlichkeit gänzlich aufgehoben ist: Aber in der negativen Einheit der Idee greift das Unendliche über das Endliche hinüber, das Denken über das Sein, die Subjektivität über die Objektivität. Die Einheit der Idee ist Subjektivität, Denken, Unendlichkeit und dadurch wesentlich von der Idee als Substanz zu unterscheiden, wie diese übergreifende Subjektivität, Denken, Unendlichkeit von der einseitigen Subjektivität, dem einseitigen Denken, der einseitigen Unendlichkeit, wozu sie sich urteilend, bestimmend herabsetzt, zu unterscheiden ist. (Enz, TWA 8, § 215, 372-373)
Als ihr eigenes Resultat ist die absolute Idee, insofern sie mit sich selbst vermittelt ist, zugleich unmittelbar und vermittelt. Die Selbstexplikation der absoluten Idee ist dabei sowohl analytisch, da diese als immanente Bestimmung auf keinen externen Gehalt rekurriert, als auch synthetisch, da erst die absolute Idee die vollständige Ausdifferenzierung der zunächst unterspezifizierten Subjektivitätsstruktur des Anfangs der Logik darstellt. Die absolute Idee als objektive Selbstkonstruktion der absoluten Subjektivität vereint somit subjektive und objektive Dimension: Die Selbstkonstruktion ist insofern objektiv, als die Subjektivität der Bewegung bzw. Selbstbestimmung der Idee passiv zusieht301 und diese als Objekt bloß analysiert. Sie verfährt zugleich aber auch subjektiv, da das philosophische Denken die aktive, d. h. sich selbst synthetisch konstruierende, Tätigkeit des Begriffs selbst expliziert. Hegels monistisches Subjektivitätsmodell führt so Spinozas Substanzmodell und Fichtes Subjektivitätsmodell zusammen: Die absolute Idee ist die Substanz, die sich als Subjekt bzw. Geist selbst bestimmt.
den organischen Charakter der Wissenschaftslehre. (Vgl. WLnm-K, GA IV,3, 495) 301 Vgl. zur Konzeption des Zusehens in Hegels Logik Wirsing, Claudia, „Das reine Zusehen: Absolute Bildung in Hegels Wissenschaft der Logik“, in: Bildung der Moderne, hg. v. Michael Dreyer, Michael Forster, Kai-Uwe Hoffmann, Klaus Vieweg, Tübingen, 2013, S. 181-196. Hegel verwendet hierbei den Begriff des Zusehens im Sinne von Fichtes Gebrauch in der Zweiten Einleitung (1797) für die Erkenntnisweise der objektiven Selbstkonstruktion der Subjektivität. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Vergleich der Konzeptionen Fichtes und Hegels
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3) Vergleich der Subjektivitätskonzeptionen Fichtes und Hegels Abschließend soll nun ein kurzer Vergleich der Subjektivitätskonzeptionen Fichtes und Hegels erfolgen. Ein detaillierter Vergleich würde den Rahmen der Untersuchung sprengen. Vielmehr sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Konzeptionen grob skizziert werden, um den Grundstein für ein solches Projekt zu legen. In einem ersten Schritt soll hierbei die Grundstruktur von Subjektivität im Fokus stehen. In einem zweiten Schritt gilt es dann das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Ontologie und Epistemologie zu analysieren, wobei speziell auf Hegels Kritik am subjektiven Idealismus Fichtes einzugehen ist. a) Die Bestimmungsstruktur von Subjektivität bei Fichte und Hegel Sowohl Fichte als auch Hegel explizieren Subjektivität als SubjektObjekt-Beziehung. Diese weist als Selbstbeziehung eine selbstreflexive Struktur auf. Insofern sich die Subjektivität hierin absolut selbst bestimmt, charakterisieren Fichte und Hegel diese als Tätigkeit, die sich auf sich selbst als Tätigkeit bezieht. Es handelt sich bei dieser Tätigkeit in beiden Modellen um eine reine Unbestimmtheit, die sich selbst als solche bestimmt und damit in sich selbst eine Differenz erzeugt. Sowohl Fichte als auch Hegel versuchen so im Sinne eines monistischen Systemmodells zu explizieren, wie aus Unbestimmtheit Bestimmtheit generiert werden kann und bieten als Lösung ein Modell produktiver Reflexion, wobei es sich hierbei um eine Einheit von theoretischer und praktischer Tätigkeit, von Sein und Denken handelt. Durch einen Akt der Selbstverobjektivierung generiert die Tätigkeit den Unterschied zum Objekt und damit Objektbewusstsein. Sowohl Fichte als auch Hegel konzipieren somit ein Modell von Subjektivität als Selbstbestimmung, als Selbstdifferenzierung einer zunächst unbestimmten, unterspezifizierten Struktur, wobei Subjektivität als Grundprinzip des Bestimmungsprozesses verstanden wird. Sowohl in den Modellen Fichtes als auch Hegels ist der Bestimmungsprozess dabei abgeschlossen, wenn eine Rückkehr in den Anfang zu verzeichnen ist, das System weist eine zirkuläre Struktur auf.302 302 Zum Unterschied der Subjektivitätskonzeptionen des Deutschen Idealismus von derjenigen Kants auch Quante: „Im dritten Teil seiner Wissenschaft der Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Es lassen sich aber auch grundlegende Differenzen in Bezug auf das zugrundeliegende Bestimmungsmodell bei Fichte und Hegel feststellen: Hegel kritisiert an den Konzeptionen Schellings und Fichtes, dass es keinen sich selbst begründenden, d. h. sich selbst legitimierenden, Anfang geben könne, da dieser eine dogmatische, willkürliche Behauptung darstellen würde. Das Absolute könne erst mit der Ableitung des Systems legitimiert werden, es müsse, da es immanent sei, das gesamte System in sich enthalten, erst dann sei das Absolute vollkommen durch sich selbst bestimmt. Für Hegel ist der absolute Grund des Systems so dessen Resultat. Bereits bei Fichte finden sich aber zwei konkurrierende Begründungsmodelle: Zum einen das Modell eines sich selbst begründenden Anfangs, zum anderen das Modell einer Begründung durch das Ganze des Systems. Um Hegels Kritik an Fichte zu entkräften, ließe sich anführen, dass Fichte mit der Rede vom „absoluten Ich“ gar kein Absolutes im Sinne Hegels meine, dass hiermit also gar nicht der Anspruch vollkommener Immanenz vertreten werde.303 Die Deutung des absoluten Ichs ist dabei in der Fichte-Forschung höchst umstritten.304 Ein weiterer Unterschied besteht in der Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Logik: Während Fichte die Logik als eine bloß theoretische, aus der Wissenschaftslehre abgeleitete, formale Wissenschaft betrachtet, identifiziert Hegel in der Wissenschaft der Logik Logik mit Metaphysik. Insofern Hegel hier Logik und Metaphysik in eins setzt, ist Logik, der die eigentliche Begriffslehre enthält, identifiziert Hegel den Begriff mit der transzendentalen Apperzeption Kants, mit der er die Momente des Selbstbezugs und des Synthetisierens, das heißt des Generierens neuer Bestimmungen, teilt. Im Gegensatz zum Kantischen Dualismus von Form und Inhalt deutet Hegel den ‚reinen Begriff‘ in Übereinstimmung mit Fichte und Schelling aber als Einheit von formaler und inhaltlicher Bestimmung. Der reine Begriff synthetisiert damit nicht, wie bei Kant, einen ihm von außen vorgegebenen Inhalt, sondern seine eigenen, im Gang der Selbstexplikation zuvor analysierten Bedeutungsmomente.“ (Quante, Michael, Die Wirklichkeit des Geistes, Berlin, 2011, S. 162.) 303 Vgl. etwa Baumanns, Fichtes ursprüngliches System, S. 48-49. Hierzu auch Klaus Düsing: „Das absolute Ich des ersten Grundsatzes, das in reiner Tathandlung sich selbst und sein Sein setzt, ist zwar nicht das Absolute, wie es Hegel in der Differenz-Schrift versteht; es ist nach Fichte vielmehr oberste Bedingung der Möglichkeit des endlichen Selbstbewusstseins. Aber es enthält doch die Prädikate des Absoluten und wird als das absolut Erste und Unbedingte, dem auch Sein zukommen soll, unausdrücklich von einer Konzeption des Absoluten her gedacht.“ (Düsing, Klaus, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, S. 327.) 304 Vgl. Gloy, Die drei Grundsätze. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Vergleich der Konzeptionen Fichtes und Hegels
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das Prinzip der Subjektivität durch die Formen Begriff, Urteil und Schluss selbst logisch strukturiert, wobei diese Struktur auch als Dialektik bezeichnet werden kann. Bei Fichte besteht hingegen zwischen Dialektik und Logik ein Unterschied zweier Ebenen. In der Grundlage sind so die Grundhandlungen des Ichs dialektisch strukturiert, deren formale Struktur durch die logischen Grundsätze von Identität, ausgeschlossenem Widerspruch und Grund expliziert wird. Fichte leitet hierbei die Kategorien und Urteilsformen bloß rudimentär ab, eine Ableitung der Schlussformen fehlt gänzlich. Den Versuch einer transzendentalen Ableitung der Logik gibt Fichte in der WL nova methodo dann auf. Hegel kritisiert weiterhin die Formulierung des Prinzips durch einen Satz, da dieses hierdurch zu einem Bedingten herabgesetzt werde. Expliziert Fichte in der Grundlage das Grundprinzip des absoluten Ichs durch den absolut-ersten Grundsatz „Ich bin Ich“, deutet er schon in der WL nova methodo den Grundsatz als Postulat, d. h. nicht mehr als theoretischen Satz, sondern als praktische Aufforderung, die Handlung des Sich-Setzens zu vollziehen. Zudem geben Fichte und Hegel eine verschiedene Bestimmung des Verhältnisses von Anschauung und Begriff: Während Fichte im Anschluss an Kant von einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Anschauung und Begriff mit einem Primat der Anschauung ausgeht, gibt es Hegel zufolge eine Hierarchie von Anschauung, Vorstellung und Begriff, wobei der Begriff aufgrund seiner komplexen Vermittlungsstruktur als einzige adäquate Weise, das Absolute als Denken des Denkens, als Selbstverhältnis zu erfassen, bestimmt ist. Während Fichte das Selbstbewusstsein aufgrund seiner unmittelbaren Evidenz als intellektuelle Anschauung bestimmt, kritisiert Hegel gerade ein solches Modell der Selbsterkenntnis als defizitär eben aufgrund des Charakters der Unmittelbarkeit der Anschauung. Für Hegel stellt die Anschauung als unmittelbar-rezeptives Verhältnis eines Subjekts zu einem externen Objekt so die tiefste Stufe von Erkenntnis dar. Die Vorstellung ist bereits eine anspruchsvollere Form der Erkenntnis, da sie als unmittelbare Beziehung zu einem internen Objekt eine Mittelstellung zwischen dem unmittelbaren SichBestimmt-Finden der Intelligenz in der Anschauung und der Freiheit des Denkens einnimmt. So ist das Subjekt hier insofern frei, als es das Objekt durch seine Subjektivität bildhaft internalisiert, es bezieht sich aber auf bereits vorgefundene Stoffe und ist hierin immer noch abhängig von einem externen Objekt. Die für Fichte zentrale Einbildungskraft bestimmt Hegel dabei als Medium der Vorstellung. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Die höchste Erkenntnisform ist für Hegel so das Denken als mit sich selbst vermitteltes Selbstverhältnis, wobei das Denken des Denkens in der absoluten Idee die höchste Stufe des absoluten Geistes darstellt. Während für Fichte das Denken empirisch, da diskursiv ist, handelt es sich Hegel zufolge beim Denken des Denkens gerade um kein empirisches, sondern um ein reines Selbstverhältnis. Das unmittelbare Bewusstsein als Grundprinzip stellt für Fichte so lediglich eine undenkbare Idee dar, die begrifflich repräsentiert wird. Für Hegel ist das Denken des Denkens demgegenüber eine realisierte Idee, eine für sich vollkommen transparente, sich selbst repräsentierende, begriffene Form von Subjektivität. b) Das Verhältnis von Subjekt und Objekt bei Fichte und Hegel Sowohl für Fichte als auch für Hegel gibt es kein vom Subjekt unabhängiges Objekt. Dies heißt aber nicht, dass das Objekt ein nur durch das Subjekt Produziertes ist. Fichtes Programm besteht in der Deduktion der Struktur des Bewusstseins. Fichte leitet aber nicht das Empirische ab, welches er in der Zweiten Einleitung als Grenze der Deduktion bezeichnet. (Vgl. ZwE, GA I,4, 242) In der Grundlage unterscheidet Fichte so Nicht-Ich und Objekt. Während das Nicht-Ich die apriorische Form von Bewusstsein darstellt, versteht Fichte hier das Objekt als ein dem Bewusstsein in der Erfahrung Gegebenes. Mit der veränderten Bestimmungstheorie fällt nun die Unterscheidung von Nicht-Ich und Objekt in der WL nova methodo fort, insofern Fichte das Grundprinzip des reinen Ichs hier selbst als Subjekt-Objekt bestimmt und damit das Nicht-Ich als Objekt aus der Bestimmungsstruktur des Ichs selbst generiert. Hegel bestimmt das Prinzip der Philosophie in der Logik als „übergreifende Subjektivität“. Dieses inkludiert das gesamte System, d. h. alle möglichen Weisen von Selbstbeziehung. Es handelt sich um eine Selbstbeziehung auf höchster Stufe. Objektivität ist hierbei im dreifachen Sinne im Modell der übergreifenden Subjektivität aufgehoben: Zum Ersten ist diese als subjektunabhängige Objektivität negiert. Zum Zweiten ist sie als eine Objektivität, die eigenständig gegenüber der Subjektivität ist, bewahrt. Zum Dritten ist die Objektivität als eine Objektivität, die als solche gewusst wird, auf eine höhere Stufe der Erkenntnis gehoben. Wie ist nun Hegels Vorwurf des subjektiven Idealismus in Bezug auf die Konzeption Fichtes zu bewerten? Der Vorwurf beinhaltet zwei Aspekte, die notwendig zusammengehören: Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Vergleich der Konzeptionen Fichtes und Hegels
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1) Das Nicht-Ich hat eigenständige Realität Das Nicht-Ich kann nicht aus dem Ich deduziert werden und tritt als Gegebenes quasi nur von außen zum Ich hinzu. Der subjektive Idealismus schlägt somit in einen Empirismus um, was sich bei Fichte insbesondere im Theorem des Anstoßes zeige. 2) Das Nicht-Ich hat keine eigenständige Realität Das Nicht-Ich ist Hegel zufolge nur ein im Bewusstsein Gegebenes und damit ein bloß subjektives Produkt der Einbildungskraft. Der erste Vorwurf zielt nun auf Fichtes Bestimmungsmodell ab, welches Hegel insofern als defizitär betrachtet, als Fichte keine immanente Deduktion leiste. Zur Problematik der Bestimmung bei Fichte ist dabei Folgendes anzumerken: In den drei Grundsätzen der Grundlage sind die Momente von Sich-Setzen, Entgegensetzen und Teilbarsetzen zwar als Einheitsstruktur des Bewusstseins konzipiert, diese sind aber nicht als immanente Bestimmungsstruktur entwickelt, sondern vielmehr als gleichwertige Momente konzipiert. Das Theorem des Anstoßes stellt dabei ein Lösungsangebot für die Problematik von Idealismus und Realismus dar. Die Wissenschaftslehre als Ideal-Realismus oder Real-Idealismus soll so weder ein einseitiger Realismus sein, welchem zufolge das Ich bloß ein Bewirktes des Nicht-Ichs und damit kein selbstbestimmtes Selbstbewusstsein sein würde, noch soll einem einseitigen Idealismus Vorschub geleistet werden, in welchem die Verendlichung des Ichs auf einen willkürlichen und damit unerklärbaren Bestimmungsakt des Ichs selbst zurückgeführt würde. Fichte entwirft so einen Anstoß auf das Ich, welchen er als Aufgabe für das Ich definiert, sich selbst zu bestimmen. Im Anstoß sind Selbst- und Fremdbestimmung des Ichs zusammengeführt: Das Ich ist durch das Nicht-Ich qua Anstoß bestimmt, sich selbst zu bestimmen. Das Ich ist somit weder nur aktivisch bestimmend noch passivisch bestimmt, es ist vielmehr in Fichtes Terminologie bestimmbar. Der Anstoß korrespondiert hierbei der Doppelbestimmung des Nicht-Ichs in § 2 der Grundlage. Dieses ist der Form nach unbedingt, d. h. partiell absolut, und damit nicht aus dem Ich ableitbar, dem Gehalt nach aber bedingt und damit bestimmt durch das absolute Sich-Setzen in § 1. In der WL nova methodo konzipiert Fichte dann allerdings ein Modell immanenter Deduktion, wodurch er den Prinzipiendualismus von Ich und Nicht-Ich verabschiedet. Das Nicht-Ich wird hier absolut, d. h. total, aus der apriorischen SubSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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jekt-Objekt-Struktur des Ichs deduziert. Dies heißt aber nicht, dass das Empirische abgeleitet werden kann. So bleibt das immanente Modell einer absoluten Bestimmung bezogen auf die transzendentale Struktur von Bewusstsein, nicht aber auf dessen empirische Bestimmungen. Während das Objekt in der Grundlage selbst noch empirisch ist, sind es in der WL nova methodo nur die zufälligen Bestimmungen des Objekts. Gegen den Vorwurf, das Nicht-Ich sei keine eigenständige Entität, sondern bloße Projektion des Ichs, ließe sich dabei Folgendes vorbringen: Der theoretische Teil der Grundlage baut auf dem Satz „Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich“ auf. Hierin wird das Nicht-Ich als bewusstseinsunabhängige Entität behauptet, die aber als solche im Bewusstsein gesetzt ist. Form und Gehalt sind hierbei zwar durch das Bewusstsein, genauer durch die Einbildungskraft, produziert, bei diesem Produkt handelt es sich aber um eine Repräsentation des Objekts durch das Bewusstsein. Insofern das Bewusstsein als notwendige Bedingung jeglichen Objektbezugs sich selbst nicht überschreiten kann, d. h., niemals von sich selbst abstrahieren kann, wäre ein einseitiger Realismus eine unhaltbare Position. Bei Fichte wie bei Hegel müssen die Fundamentalwissenschaft, also die Wissenschaftslehre bei Fichte und die Wissenschaft der Logik bei Hegel, von deren Anwendung, d. h. der Realphilosophie, unterschieden werden. In beiden Konzeptionen soll aber nicht das Empirische deduziert werden. Obgleich so das Objekt aus dem Subjekt deduziert wird, weist dieses gegenüber dem Subjekt dennoch eine gewisse Eigenständigkeit auf. Hegel konzipiert die absolute Idee als übergreifende Subjektivität. Hierin ist die Welt als Voraussetzung des Geistes zum einen von diesem unabhängig, zum anderen aber als Anderes des Geistes im Sinne eines Geistmonismus doch nichts anderes als der Geist selbst. Fichte entwirft in der WL nova methodo die Hauptsynthesis des Ichs als Wechselwirkung von Vernunft- und Sinnenwelt. Insofern die Natur als organisiertes Ganzes für Fichte ein „Analogon der Freiheit“ (WLnm-K, GA IV,3, 518; WLnm-H, GA IV,2, 259) darstellt, kann sie dabei auch bei Fichte als Vorstufe der Vernunft betrachtet werden. Hegel kritisiert allerdings Fichtes Modell der Wechselwirkung als unzureichend.305
305 Hegel verortet so die Kategorie der Wechselwirkung im Rahmen der Wesenslogik und damit auf der Stufe der Vermittlung bzw. der Differenz. (Vgl. WdL, TWA 6, 237-240) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Vergleich der Konzeptionen Fichtes und Hegels
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So inhäriert bei Hegel der Natur selbst eine logische Bestimmtheit und ist nicht nur Projektion des Subjekts wie bei Fichte.306 Hegel kritisiert das Modell der Wechselwirkung, des Schwebens der Einbildungskraft bei Fichte als eine defizitäre Vermittlungsform, da das Absolute hier nicht aufgehoben sei.307 Während für Fichte das Selbstbewusstsein Gottes unbegreifbar ist, da es sich dem diskursiven Denken entzieht, ist für Hegel das Absolute als Denken des Denkens bestimmt.308 Das Absolute ist Hegel zufolge durch eine totale Selbsttransparenz charakterisiert, es gibt für Hegel so kein Unbegreifbares, dem Denken Transzendentes. Insofern das Grundprinzip von Hegels Philosophie der Geist ist, expliziert das Ich als Selbstbewusstsein in der Wissenschaftslehre Hegel zufolge eine Position der Differenz und damit die Position des Verstandes, für welche das Objekt eben nicht aufgehoben, sondern ein externer Bezugsgegenstand ist, durch welchen der Absolutheitsanspruch des Ichs suspendiert werde.309 Fichtes Modell einer Ableitung der Bedingungen des Selbstbewusst-
306 Dass für Fichte die Natur Projektion des Subjekts ist, heißt aber nicht, dass hierin nicht die Realität sowohl der Natur als auch anderer Individuen unterstellt wird. Insofern der Standpunkt des Bewusstseins allerdings nicht überschritten werden kann, lässt sich dieser Realitätsanspruch aber nicht beweisen. 307 So ist Gloy zufolge die Widerspruchsdialektik des späten Fichte durch ein paradoxes Verhältnis von Unbestimmtheit und Bestimmtheit gekennzeichnet: „Diese Selbstsetzung und Selbstnegation, die zugleich Selbstwiderspruch einschließlich Neusetzung ist, nähern sich Hegels Widerspruchsdialektik an, unterscheiden sich aber in einem wesentlichen […] Punkt dahingehend, dass das Resultat der Negation der Negation nicht einfach die Position ist wie bei Hegel, sondern das Paradox von Position und Negation.“ (Gloy, Fichtes Dialektiktypen, S. 119.) Obgleich Fichte Unendlichkeit in der Konzeption der produktiven Einbildungskraft selbst als eine prädikative Bestimmung betrachtet, gibt es für ihn doch keine Aufhebung von Unendlichkeit im Sinne Hegels. Das Absolute hat für Fichte so lediglich den Status einer regulativen Idee im Sinne Kants. 308 Für Hegel ist Gott dabei das Absolute auf der Stufe der bildlichen Vorstellung. 309 Bei Hegel lassen sich so Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein und Subjektivität unterscheiden. Während sich der Begriff des Bewusstseins auf den empirischen Standpunkt der Phänomenologie bezieht, expliziert der Begriff der Subjektivität die reine Struktur von Vernunft in der Wissenschaft der Logik. Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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seins widerspricht für Hegel der Absolutheit des Ichs als Grundprinzip und damit der dem Ich zugeschriebenen Selbstbestimmung.310
310 Die Kritik an einem solchen Modell findet sich in der Differenzschrift als Kritik an der Grundsatzphilosophie: „Dieser Wahn, daß ein nur für die Reflexion Gesetztes notwendig an der Spitze eines Systems als oberster absoluter Grundsatz stehen müsse oder daß das Wesen eines jeden Systems in einem Satze, der fürs Denken absolut sei, sich ausdrücken lasse, macht sich mit einem System, auf das er seine Beurteilung anwendet, ein leichtes Geschäft; denn von einem Gedachten, das der Satz ausdrückt, läßt sich sehr leicht erweisen, daß es durch ein Entgegengesetztes bedingt, also nicht absolut ist; es wird von diesem dem Satze Entgegengesetzten erwiesen, daß es gesetzt werden müsse, daß also jenes Gedachte, das der Satz ausdrückt, nichtig ist.“ (Differenz, TWA 2, 36-37) Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Schlussbetrachtung Ziel der vorliegenden Untersuchung war eine systematische Rekonstruktion der fichteschen Subjektivitätstheorie der Jenaer Zeit (1794 – 1799). Im Zentrum der Wissenschaftslehre steht hier die Grundstruktur des Ichs, insofern dieses als Grundprinzip von Fichtes System fungiert. Fichte konzipiert so den Systemanfang als absolutes, d. h. sich selbst setzendes und damit sich selbst bestimmendes, Ich. Als sich selbst begründender, durch keine externe Größe begründeter Grund, d. h. als Subjekt-Objekt-Einheit, vermeidet das absolute Ich einen infiniten Regress, insofern ein solcher aus einer externen, nicht-immanenten Begründung resultiert. Als sich selbst produzierende, selbstreflexive Tätigkeit weist das Ich dabei eine produktive, positiv-zirkuläre Grundstruktur auf. Fichte wendet so den skeptischen Einwand der Zirkularität ins Positive. In der Grundlage expliziert Fichte nun die strukturelle Verfasstheit des Grundprinzips des absoluten Ichs und legt dessen systematische Bedeutung sowohl für das theoretische als auch für das praktische Selbstbewusstsein dar. Während in der Grundlage allerdings die Prinzipienfunktion des absoluten Ichs im Vordergrund steht, rückt in der WL nova methodo die Problematik des Selbstbewusstseins ins Zentrum, bedingt durch den an der Ich-Konzeption des § 1 der Grundlage geübten Vorwurf des Transzendentismus. Dies führt zum einen zu einer Transformation des Grundprinzips in der WL nova methodo zu einer endlichen Vernunft überhaupt. Zum anderen diskutiert Fichte hier nun die für die Problematik des Selbstbewusstseins zentralen Einwände des Zirkels und des infiniten Regresses. Fichtes Kritik an einer Version des Reflexionsmodells, in welcher ein Zirkel aus der Voraussetzung des ganzen Ichs resultiert, sollte dabei nicht zu dem Schluss verleiten, dass er Reflexivität in der Explikation von Selbstbewusstsein verabschiedet. Vielmehr geht es Fichte darum zu zeigen, dass diese mögliche Kritik an seiner eigenen Ich-Konzeption insofern unzutreffend ist, als sich das Ich gerade aufgrund seiner zirkulären Struktur als Selbstbeziehung selbst produziert und sich damit natürlich schon immer voraussetzt. In kritischer Wendung gegen den Dogmatismus betont Fichte, dass vom Ich nicht abstrahiert werden könne. Die Kritik an der Tradition der Subjektivitätstheorie zielt so auf einen infiniten Regress, der aus einer einseitig theoretisch-epistemischen Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
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Schlussbetrachtung
Explikation von Selbstbewusstsein resultiert, also aus der nicht ausgewiesenen praktisch-produktiven Dimension von Selbstbewusstsein und der damit einhergehenden externen Perspektive auf dasselbe. Fichtes Modell eines unmittelbaren Bewusstseins als Subjekt-Objektivität muss so als ein Modell von Selbstbewusstsein verstanden werden, das versucht, die theoretisch-reflexive und die praktisch-produktive Dimension von Selbstbewusstsein zusammenzuführen. Henrich zufolge handelt es sich bei Reflexion um ein formales Schema, das als adäquates Modell zur Erklärung von phänomenalem Selbstbewusstsein von ihm zurückgewiesen wird. Im Deutschen Idealismus geht es aber im Anschluss an Kant um das Problem, wie aus Unbestimmtheit Bestimmtheit, aus Allgemeinheit Vielheit generiert werden kann. Der Deutsche Idealismus entwickelt hierbei ein Modell produktiver Reflexion. Die Reflexion ist dabei eingesetzt, um die Differenzierung von Einheit als Selbstproduktion zu erklären. Der Begriff der Reflexion soll so etwas ganz anderes leisten als in Henrichs Darstellung der Konzepte Fichtes und Hegels. Es geht also primär nicht um die Frage, wie das phänomenale Ich von sich ein Wissen erlangen kann, sondern um die Explikation eines reinen oder absoluten Wissens, wobei Subjektivität als Bewegungsprinzip der Systementwicklung fungiert. Fichtes Ich stellt so kein Gegenmodell zur Reflexionstheorie dar, sondern die Tathandlung als Selbstproduktion des Ichs ist nur verständlich als ein Gegenentwurf zu Reinholds Modell der Vorstellung als einer Tatsache des Bewusstseins. So fungiert der Terminus Reflexion als ein Leitbegriff der Wissenschaftslehre, insofern er zur Explikation des Grundprinzips eingesetzt ist, was sich in der Rede vom „Princip […] über sich selbst zu reflectiren“ (GWL, GA I,2, 407) in § 5 der Grundlage und der Kennzeichnung der intellektuellen Anschauung als „reine Reflexion“ (WLnm-K, GA IV,3, 350) in der WL nova methodo zeigt. Bereits in § 1 der Grundlage geht es Fichte darum, das Ich als Einheit von Reflexion (Für-sich-Sein) und Produktion (Tätigkeit) zu konzipieren. Insofern das Sich-Setzen den Wissensaspekt des Ichs aber nicht adäquat zum Ausdruck zu bringen vermag, kann die Als-Formel in § 5 der Grundlage als Versuch gedeutet werden, sowohl den produktiven als auch den reflexiven Aspekt des Ichs zur Darstellung zu bringen. Bei der produktiven Reflexion des Ichs handelt es sich nun nicht um einen vitiösen, sondern um einen produktiven Zirkel, um eine produktive Selbstbeziehung, die aus sich Bestimmungen geneSuzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8
Schlussbetrachtung
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riert und so das System der Wissenschaftslehre entfaltet. Reflexion bedeutet hierbei kein formales, regressives Ergreifen eines bereits vorhandenen Wissens, sondern eine progressive Produktion von Wissen. Das Modell der produktiven Reflexion unterliegt dabei nicht dem in der aktuellen analytischen Theorie des Selbstbewusstseins zentralen Einwand der Fehlidentifizierung, sondern es weist eben jene für Selbstbewusstsein geforderte Immunität gegen Fehlidentifizierung auf, da es als selbstproduktive Selbstbeziehung auf keinen externen Gehalt bezogen ist, sondern nichts anderes ist als die reflexive Explikation seiner selbst als Gehalt.
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Suzanne Dürr - 978-3-8467-6343-8