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German Pages 158 [160] Year 1933
DAS PROBLEM DER
WILLENSFREIHEIT UNTER MEDIZINISCHEN UND NATURWISSENSCHAFTLICHEN GESICHTSPUNKTEN VON
CARL R.H.RABL
JULI MÜNCHEN UND BERLIN 1933
VERLAG VON R. OLDENBOURG
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten.
DRUCK VON R. OLDENBOURG, MÜNCHEN
Vorwort. Das Problem der Willensfreiheit beschäftigt den Arzt nicht nur, sofern er philosophische Neigungen hat; es drängt sich ihm bei Bearbeitung medizinischer Fragen auf, ganz besonders in der Praxis selbst. Nicht selten hängt der Krankheitsfall von einer ethischen Entscheidung, ja geradezu von einer Charakteränderung des Patienten ab, und die Heilung kann nicht erfolgen, solange der nötige Willensakt nicht zustande kommt. Dann erhebt sich im ärztlichen Denken die Frage nach der Freiheit des Willens. Irgendwie muß sich der Mediziner mit ihr auseinandersetzen. Die einfachste Antwort und zugleich die, die sich der meisten Anhänger erfreut, behauptet, daß alle Seelenvorgänge und damit auch alle Entscheidungen des Menschen lediglich die Wirkung vorausgegangener Ursachen seien, und daß es demnach eine Freiheit des Willens nicht gäbe. Dieser Weg scheint wissenschaftlich gut begründet. Und doch kommen wir von der Empfindung nicht los, daß hier ein Fehler verborgen liegt. Wenn der Arzt nun versucht, von den Philosophen eine bessere Aufklärung zu erhalten als von seinen eigenen Fachgenossen, so erfährt er nicht wesentlich mehr, als er schon wußte. Vor allem tritt ihm eine verwirrende Fülle entgegengesetzter Ansichten entgegen: Tot capita, tot censusl Wem soll er glauben ? Überdies macht ihn das Studium der philosophischen Literatur mißtrauisch, weil er nun entdeckt, daß zur Vertiefung des Problems die Vorkenntnis von Dingen gehört, die er als Naturforscher besser beherrscht als mancher Philosoph. Ja, er gewinnt beinahe den Eindruck, daß die Frage, deren Bearbeitung heute noch ebenso ausschließlich den Philosophen überlassen wird, wie vor hundertfünfzig Jahren die Frage nach dem Wesen der Materie und nach i»
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der Richtigkeit der Atomtheorie, in Zukunft vielleicht ein rein naturwissenschaftliches Problem sein wird. Aber so weit sind wir heute noch nicht. Wenn heute ein Mediziner seinen Fachgenossen über den Stand der Forschung auf diesem Gebiet berichten will, so muß er die Arbeit der Philosophen ebensosehr beachten wie die der Naturforscher. Infolgedessen hat manchmal die vorliegende Abhandlung eher einen geistes- als einen naturwissenschaftlichen Charakter. Im übrigen läßt sich aber bei diesem Problem eine scharfe Trennung von Philosophie und Medizin gar nicht durchführen. Schließlich hat jede Wissenschaft — die Physik, die Biologie, die Psychiatrie ebensogut wie die Geschichtsund die Rechtswissenschaft — ihre eigene Philosophie, und es ist eine durch nichts gerechtfertigte Forderung, daß die Sonderdisziplinen sich auf die Erforschung von Einzeltatsachen beschränken und ihre allgemeinen Probleme an eine Zentralwissenschaft abtreten sollen. Beinahe könnte man die Forderung umkehren und sagen: Nur insofern, als eine Wissenschaft den Sinn der Erscheinungen deutet, ist sie wahre Wissenschaft. Im voraus sei noch folgendes bemerkt. Nachdem in unseren Tagen die wichtigste Grundlage aller bisher bekannten Naturgesetzlichkeit erschüttert worden ist, und wir Grund zur Annahme haben, daß das Kausalprinzip nicht überall dicht hält, ist es Mode geworden, die schadhaften Stellen im Gebäude der Physik als Beweis dafür anzusehen, daß es eine Willensfreiheit gibt. So einfach liegen aber die Dinge keineswegs. Denn die modernen Physiker haben nur Lücken in der Kausalität aufgezeigt, d. h. einen chaotischen Rest, der von der Naturgesetzlichkeit nicht erfaßt wird. Sie räumen also dem Zufall ein kleines Feld im Weltgeschehen ein. Zufall ist aber mit Freiheit ebensowenig vereinbar wie eindeutige, kausale Bestimmtheit. Hier liegen eben die eigentlichen Schwierigkeiten.
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Inhalt. Seit«
Vorwort
III Jede Wissenschaft hat ihre Philosophie und ist berechtigt, sie zu vertiefen. Das Freiheitsproblem in diesem Sinne ein medizinisches Problem. A . Einleitung.
I. F r a g e s t e l l u n g und U n t e r s u c h u n g s m e t h o d e . . . . Kausalität und Finalität im vorwissenschaftlichen Denken. Die Naturwissenschaft lehnt im allgemeinen die Finalität ab, soweit diese nicht ihrerseits wieder kausal erklärbar ist. Echte Finalität des Willens bedeutet Freiheit. Willensfreiheit als Voraussetzung jeder tieferen Ethik. Versuch einer Lösung des Problems in Vaihingers Philosophie des Als Ob. Diese ein System der Inkonsequenzen, außerdem relativ und umkehrbar! Richtunggebend für naturwissenschaftliche Erkenntnis drei Prinzipien: i . Übereinstimmung von Denken und Erfahrung, 2. Ökonomie des Denkens, 3. Prinzip der Evidenz. Das dritte umstritten, aber unentbehrlich. Die Evidenz darf der Ökonomie des Denkens nicht geopfert werden. Willensfreiheit evident, daher nicht ohne weiteres der logischen Einfachheit zuliebe abzulehnen, sondern ernste Prüfung des Problems geboten.
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B. Die uns umgebende Weit und ihre Gesetzlichkeit. II. A u ß e n w e l t und Seele Vorbemerkung: Grenze des anschaulich Vorstellbaren keine Grenze der Naturwissenschaft. Der Materialismus beginnt bei der Außenwelt. Gerade diese am meisten problematisch. Der spiritualistische Monismus anderseits gibt keine befriedigende Erklärung für das Verhalten der Menschen zueinander und für das gemeinsame Erkennen des gleichen Objekts. Der gleiche Mangel in Kants Idealismus, jedoch gemildert durch den Begriff des Dinges an sich. Goethes Realismus gegen Kants Idealismus. Die Großtat Johannes Maliers, des Begründers der modernen Medizin: Entdeckung des Prinzips der spezifischen Sinnesenergien. Das moderne naturwissenschaftliche Weltbild.
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Joh. Müller in der Mitte zwischen Kant und Goethe. Weiterer Ausbau dieses Weltbildes durch die moderne theoretische Physik. Der Versuch, mit diesem System den Materialismus zu stützen, ist ernst zu nehmen, stößt aber auf große Schwierigkeiten. Joh. Mollers Grundansicht (Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, Vitalismus) auch heute noch bestes naturwissenschaftliches Weltbild. Unzulängliche Versuche, dieses durch „phänomenologische" Theorien zu ersetzen. III. Das Kausalprinzip Den Inhalt der Kausalität bilden die Naturgesetze, die erst nach ihrer Bestätigung a posteriori vom Menschen als gültig erkannt werden. Vollkommene Kausalität eine Hypothese, die auf die Welt der Erscheinungen nicht paßt. Unbestimmtheitsrelation der modernen Physik. Diese irrtümlich identifiziert mit Freiheit! Anmerkung: Naturgesetzlichkeit real existierend, nicht identisch mit der Substanz, sondern sie beherrschend. IV. Die lebende S u b s t a n z Die vitalistische Theorie in besserer Übereinstimmung mit den Erscheinungen als die mechanistische. Sowohl in der Biologie wie in der Physik Vielheit der Grundbegriffe nötig. Jeder derselben letzten Endes gleich „wunderbar". — Röntgenspektroskopie macht Aufbau der lebenden Substanz aus Kristallen wahrscheinlich. Besonderheit des Lebens kann daher nicht in der mechanischen Struktur liegen, wenn überhaupt die Besonderheit tatsächlich besteht. Unzulänglichkeit der Versuche, Anpassung, Zielstrebigkeit, Reiz, Reaktion in lebloser Substanz aufzuzeigen. Unterschied zwischen physikalischer und biologischer Teleologie. Drieschs Entelechiebegriff. Determination des Geschehens im Organismus nach physikalischen und nach biologischen Gesetzen. Die Mnemetheorie. Gedächtnis ein Sonderfall der physikalischen Hysteresis. Beweis: Retrograde Amnesie nach Gehirnerschütterung. Dennoch Unzulänglichkeit der Mnemetheorie: Gedächtnis allein kann Leben nicht erklären! C . Das biologische Freiheitsproblem. V. I s t die E n t e l e c h i e e i n u n v e r ä n d e r l i c h e s N a t u r gesetz von allgemeiner Gültigkeit ? Entelechie von Driesch (ganz im Sinne von Aristoteles) zunächst als ewig gleichbleibend aufgefaßt. Daher Entelechie ein Kausalfaktor. Änderung des Entelechiebegriffes in späteren Werken von Driesch: Die organische Entwicklung auf der Erde macht die Annahme einer Entelechie nötig, die sich im Laufe der Zeit geändert hat (oder die von der Zeit aus gesehen veränderlich erscheint!). Solche Hypothese
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widerspricht der herkömmlichen Naturwissenschaft, steht aber in Übereinstimmung mit den Erscheinungen. Entelechie nicht nur überindividuell, sondern zum Teil auch individuell. Begriff echter Individualität. VI. Das b i o l o g i s c h e F r e i h e i t s p r o b l e m 56 Echte Individualität, d.h. absolut einmalige Eigengesetzlichkeit, die noch dazu von der Zeit aus gesehen veränderlich erscheint, verträgt sich nicht mehr mit dem Kausalbegriff und bedeutet daher Freiheit. VII. B i o l o g i s c h e s F r e i h e i t s p r i n z i p und N a t u r w i s s e n schaftliche Forschung 60 Echte Individualität naturwissenschaftlich, sehr wohl faßbar. Alte Zweiteilung der Naturwissenschaft in Naturlehre und Naturgeschichte. Verwirrung dieser Begriffe durch Rickert. Zurücktreten der naturgeschichtlichen Betrachtungsweise in der Gegenwart. D . D a s Problem der Willensfreiheit. VIII. H e r a u s s c h ä l u n g des P r o b l e m s 65 Biologische, soziologische und Willensfreiheit nicht identisch! Natur des Willens selbst als Kernpunkt des Problems. IX. P r o b l e m der W i l l e n s f r e i h e i t in der K a n t s c h e n Philosophie 69 Vor eigener Stellungnahme Umschau in der Philosophie. Nicht zu berücksichtigen eine kritiklose Bejahung oder Ablehnung der Freiheit. Höhepunkt der kritischen Behandlung des Problems bei Kant. Zwei Lösungen des Problems bei Kant. Kants endgültige Stellungnahme von Volkelt treffend gekennzeichnet: Freiheit ein transzendentaler Schein. Ähnlicher Lösungsversuch von Nicolai Hartmann, ebenfalls keine echte Freiheit, die in dieser Welt möglich wäre. X. P s y c h o l o g i e und P h y s i o l o g i e des W i l l e n s , s o w e i t sie f ü r das F r e i h e i t s p r o b l e m von B e d e u t u n g sind 75 a) Läßt sich der Wille rational erklären? Auffassung des Willens als der „anderen Seite" der Welt (im Sinne Schopenhauers) unhaltbar. Ebensowenig ist der Wille auf Elemente der Empfindung zurückzuführen, auch nicht auf den Gefühlston. Wille ein selbständiges Urphänomen. b) Das Ich als Mittelpunkt der Persönlichkeit. Das Ich als Urphänomen nicht auf andere Phänomene zurückführbar, nicht in der gleichen Front wie die übrigen Bewußtseinsinhalte. Der Zensor Ich bei Freud. Selbständigkeit des Ich gegenüber dem Es. c) Wollen und Empfinden polarer Gegensätze. Der Wille in physiologischer Hinsicht die zeitliche wie kausale Um-
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kehrung der Empfindung. Die Empfindung fahrt von der Physis zur Psyche, der Wille von der Psyche zur Physis. Die Empfindung hangt grundsätzlich von der physikalischen Gesetzlichkeit ab, der Wille nicht. Dies noch keine Freiheit: Die Psyche könnte einer besonderen Art von Kausalität unterliegen. X I . Was spricht f ü r die v o l l k o m m e n k a u s a l e D e t e r m i n a t i o n des W i l l e n s ? 87 Die kausale Abhängigkeit des Willens von äußeren Faktoren eine sehr große. Kenntnis dieser Dinge wichtig für jeden, der sich mit dem Problem der Freiheit beschäftigt. Jedoch eine vollkommene kausale Abhängigkeit nicht nachweisbar. X I I . Die theoretischen S c h w i e r i g k e i t e n des F r e i h e i t s problems 92 Die mangelhafte Beweisbarkeit einer lückenlosen Kausalität wäre noch kein Grund fQr Annahme der Willensfreiheit. Diese wird erst nötig wegen der Erfahrungen aus Ethik und Pädagogik, zweier für den Arzt wichtiger Gebiete. Hypothese der Willensfreiheit widerspricht nicht naturwissenschaftlichen Tatsachen, sondern nur naturwissenschaftlichen Dogmen. Willensfreiheit weder Vorherbestimmtsein noch durch nichts Bestimmtsein. Dies ein logisch harter Schluß 1 Hier, d. h. bei der theoretischen Erklärung, nicht bei den Tatsachen liegt die eigentliche Schwierigkeit. Der logische Abgrund an sich überbrückbar: Die Psyche braucht nicht aus einer räumlich-zeitlich ( = dimensional) orientierten Sphäre herzustammen, ihre Bestimmungsgrande müssen von der Zeit aus gesehen nicht unwandelbar erscheinen. Diese Lösung würde der älteren Theorie Kants entsprechen, von der er jedoch wieder durch die aufblühende, kausalanalytische physiologische Wissenschaft abgelenkt worden ist.
E . Medizinische Sonderfragen zum Problem der Willensfreiheit. XIII. Die Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t 99 Zurechnungsfähigkeit als Fähigkeit zum wesensgemäßen Handeln. Auch wenn es keine echte Freiheit gäbe, würde der gesunde Mensch in diesem Sinne zurechnungsfähig sein. XIV. W i l l e n s f r e i h e i t und W i l l e n s s c h w ä c h e 101 Angeborene Willensschwäche als bequeme Ausrede nur teilweise berechtigt. Ärztlich wichtig besonders die Wunschneurose. Der Wille nicht gesund zu werden in der Begutachtungspraxis. Logische Unklarheiten in Wissenschaft und Begutachtung infolge Ablehnung der Willensfreiheit. F . Anmerkungen
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A . Einleitung. I. Fragestellung und Untersudiungsmethode. Wer ohne jedes wissenschaftliche Rüstzeug seine Gedanken auf Entdeckungsreisen schickt, um ein Bild von den Grundlagen der Welt zu gewinnen, der macht neben anderen Erfahrungen allgemeiner Art auch die, daß in allem Geschehen zwei Grundprinzipien walten, die wohl kein imbefangen nachdenkender Mensch übersehen kann: Als erstes drängt sich ihm der Eindruck auf, daß viele Dinge um eines Zweckes willen, also mit einer bewußten oder unbewußten Absicht geschaffen zu sein scheinen. Dieses Prinzip hat z. B. für die meisten Kinder eine solche Überzeugungskraft, daß ihnen eine Sache genügend geklärt erscheint, wenn sie sehen, wozu sie da ist. Mancher Mensch wagt gleich die Behauptung, es müsse doch wohl alles um eines Zweckes willen geschaffen sein, sonst wäre es ja überflüssig in der Welt. Das zweite Prinzip ist das entgegengesetzte: Vieles, was geschieht, folgt notwendig aus etwas anderem, Vorhergegangenem. Auch dieses Prinzip läßt sich verallgemeinern. Wenn der naive Beobachter seine Betrachtungen fortsetzt, so findet er, daß es in der Welt doch sehr viele Dinge gibt, die keinen Zweck erkennen lassen, während anderseits kaum etwas übrig bleibt, das nicht auf eine Ursache zurückzuführen wäre. Das erste Prinzip verblaßt also vor dem zweiten, es geht aber keineswegs ganz unter. Vor der Frage, ob beide sich vereinigen lassen, d. h. also, ob das auf einen Zweck gerichtete Geschehen das gleiche sein kann wie das von einer Ursache ausgehende, macht der primitive Denker freilich halt. Weiter pflegt nur der vorzudringen, der einen stärkeren Erkenntnisdrang in sich fühlt. Er läßt sich dann gerne von Büchern führen und — veri
führen. Die Bücher geben zwei verschiedene Antworten. Die eine heißt, daß erstens die offenkundige Zweckmäßigkeit der Natur bloß entstanden sei, weil unter den Billionen verschiedener Dinge, die das Durcheinander des physikalischen Geschehens gebildet hatte, nur das sich bis zu uns erhalten konnte, was zweckmäßig beschaffen war, und daß zweitens die Zwecksetzungen des Menschen auch rein kausal zu erklären wären: Auf Grund unserer Veranlagung würden wir durch eine gegebene Situation zwangsläufig bestimmt, unsere Handlung auf ein Ziel zu lenken. Die andere Antwort, die man heute freilich in den naturwissenschaftlichen Büchern ungleich seltener liest, meint, daß die Welt (oder wenigstens das Lebendige in ihr) tatsächlich um eines Zweckes willen sich entwickele, und daß zweitens die Zwecke, die der Mensch setzt, nicht rein kausal verursacht seien: Vielmehr habe der Mensch die Fähigkeit zu freiem Handeln, namentlich bei sittlichen Entscheidungen. Der naturwissenschaftlich gebildete Mensch kann nun mit dem philosophischen Freiheitsbegriff von vornherein nichts Rechtes anfangen. Manchem Philosophen von Fach geht es ebenso. Daß zu einer bestimmten Zeit ein gegebenes Individuum sich frei entscheiden könne, ohne daß diese Entscheidung eindeutig bestimmt sei durch gegebene Ursachen und feststehende Naturgesetze, erscheint ihm widersinnig. Und doch spricht manches für eine Freiheit des Willens. Erstens lassen sich die Zwecksetzungen und die auf ein Ziel hinstrebenden Handlungen des Menschen im einzelnen sehr viel schlechter kausal als final erklären. Das eigentliche Wesen der Finalität ist nur schwer aus der Kausalität abzuleiten. S c h o p e n h a u e r meint zwar, daß aus dem Motiv und der gegebenen Veranlagung zwangsläufig die Handlung folge. Dann müßte es also zur Veranlagung des Menschen gehören, daß er Finalreihen setzt und während des Handelns den äußeren Widerständen immer neue Ursachen entgegenstellt, die den Weg zum Ziel möglich machen. Da aber die äußeren Widerstände fortwährend in unvorhergesehener Weise wechseln, müssen auch die Abwehrmaßnahmen immerfort entsprechend wechseln, was sich aber aus g l e i c h b l e i b e n d e n inneren Ursachen nicht ohne weiteres erklären läßt. Es müßte 2
denn sein, daß für alle äußeren Angriffe eine bis in alle Einzelheiten vorbereitete Abwehrmaßnahme bereitsteht. Wir werden noch sehen (bei Besprechung der biologischen Anpassungsvorgänge), daß eine solche Annahme in Anbetracht der anscheinend unbegrenzt großen Zahl möglicher Abwehrmaßnahmen auf Schwierigkeiten stößt. Immerhin sind diese noch zu umgehen, wenn man im Lebendigen eine höchst eigenartige Kausalität annimmt, die dem Gesetz von Wirkung und Gegenwirkung zuwiderläuft, wie das schon Schopenhauer angenommen hatte. Hierbei muß also, um das Kausalprinzip zu retten, eines der wichtigsten Kausalgesetze (nämlich das von Wirkung und Gegenwirkung) geopfert werden. Zweitens erscheinen wir uns subjektiv als frei. Das eigene Denken und Handeln ist gar nicht möglich ohne fortwährendes Wählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Wählen bedeutet aber Freiheit haben zwischen verschiedenen Möglichkeiten : Wo keine Freiheit ist, gibt es auch keine Wahl, sondern nur jeweils einen einzigen Weg. Nun könnte allerdings das Bewußtsein uns täuschen. Aber dieser Auffassung stehen auch wieder ernste Bedenken entgegen. Wir setzen die Freiheit bei unseren Mitmenschen voraus und ziehen daraus schwerwiegende Schlußfolgerungen, indem wir den Begriff der Verantwortung darauf aufbauen und nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Mitmenschen „verantwortlich" machen. Wenn das Kausalprinzip richtig ist, dann braucht sich niemand zu verantworten. Denn wenn das Handeln des Menschen sich aus seiner Veranlagung und der Situation zwangsläufig ergibt, dann ist es durchaus unlogisch, dem Verbrecher vorzuwerfen, er hätte anders handeln sollen. Denn er konnte ja gar nicht anders, als er tat. Berechtigt ist es zwar, wenn wir ihn einsperren, um die Gesellschaft vor ihm zu schützen, richtig wäre es auch (obwohl aus anderen, hier nicht näher zu erörternden Gründen ebenfalls letzten Endes verkehrt) wenn wir ihn durch Gefängnishaft zu bessern suchen. Logisch folgerichtig wäre es schließlich noch, wenn wir uns über den Verbrecher zwangsläufig derart empören, daß wir automatisch an ihm Rache nehmen. Unlogisch aber ist es, die Strafe mit der Forderung zu begründen, daß er anders hätte handeln sollen. 3
Wenn dagegen umgekehrt der Vorwurf erlaubt ist, daß ein Mensch etwas anders hätte tun sollen, als er tat, und wenn wir wirklich mit Recht behaupten, daß er das Ereignis nicht nur verursacht hat, sondern dafür verantwortlich ist, dann mußte er die Möglichkeit zu freier Entscheidung haben. Denn es ist eben ein wesentlicher Bestandteil der moralischen Begriffe von Verantwortung und Schuld, daß der betreffende Mensch nicht zu seinem Handeln gezwungen war — weder durch äußere Ereignisse noch auch durch innere Veranlagung. Auch wer sich zu dieser Meinung bekennt, wird n a t ü r l i c h die ungeheure Macht von Umwelt und V e r a n l a g u n g 1 ) nicht leugnen. Nur wird er eben bezweifeln, daß diese beiden F a k t o r e n allmächtig sind. Unsere rationale Vernunft hält die erste Meinung für die allein richtige, im täglichen Leben aber urteilen wir nach der zweiten. Wenn wir ganz unvoreingenommen prüfen, dann können wir auch durch vernünftige Überlegungen keineswegs mit Sicherheit ausschließen, daß die Entscheidungen des Menschen nicht doch zu einem wesentlichen Teil aus jenem höchst merkwürdigen Faktor Freiheit entspringen, jenem höchst eigenartigen Ding, das nicht einfach dadurch erledigt ist, daß der Naturforscher es für subjektive Täuschung erklärt, und auch nicht etwa dadurch, daß er es einem „DurchNichts-Bestimmtsein" gleichsetzt, ähnlich der „Unbestimmtheitsrelation" der modernen Physik. Wenn uns der Widerspruch zwischen Moral und restloser Gültigkeit des Kausalprinzips im allgemeinen nicht mehr auffällt, so liegt das daran, daß wir entweder als Naturforscher nur das kausale Denken klar durchführen und das ethische halb unbewußt erledigen, oder aber umgekehrt die Naturwissenschaft vernachlässigen. Wer aber beide Seiten des Problems gleichermaßen würdigt, dem kann der Widerspruch nicht verborgen bleiben. So sieht sich z. B. der Naturforscher H. Driesch bei Behandlung ethischer Fragen zu folgenden Äußerungen genötigt (Die sittliche Tat, Leipzig, Reinicke 1927, S. 11): „Dieses Ich soll ist nämlich, wenn keine Freiheit besteht, nur im Sinne eines Als ob gemeint: es ist mir, „als ob" 4
ich soll, aber ich kann ja nur, wie mir bestimmt ist. Wenn Freiheit besteht, soll ich wirklich und „kann" im Sinne des J a und Nein. Aber da ich das Ich soll in beiden Fällen unmittelbar, als „Gewissen" erlebe und mir als naiver Mensch vom Freiheitsproblem und seinen Schwierigkeiten ja überhaupt keine Rechenschaft gebe, so läßt sich auch die Morallehre als Vorschriftenlehre mit und ohne echte Freiheit formen, nur daß sie freilich im zweiten Falle eine — Illusion ist für den, der auf die letzten Gründe schaut." Ferner S. 1 2 5 : „Im höchsten Sinne kann von Schuld wohl nur bei Annahme einer „Freiheit" der seelischen Aktivität oder wenigstens ihres „Ich"-Teiles die Rede sein. Daß der Mensch frei sei, heißt alsdann, daß . . . die . . . Handlung nicht durch ein ihm zugrunde liegendes beharrliches Wesen bestimmt sei, daß der Mensch vielmehr bei gleichen Umständen und bei gleicher Vorgeschichte im Sinne des A und des N o n A handeln könne." Driesch kann sich trotz der Evidenz dieser psychischen Tatsachen nicht zur Annahme einer echten Willensfreiheit entschließen; es bedeutet aber doch schon sehr viel, daß er in dieser Abhandlung die Freiheitsfrage als „unlösbar oder doch wenigstens ungelöst" bezeichnet. Theoretisch wäre es übrigens für die reine Naturwissenschaft gleichgültig, aus welchem Grunde ihr die Annahme einer Willensfreiheit nahegelegt wird. Mögen nun das subjektive Bewußtsein oder das sittliche Empfinden für sie sprechen: Eine unangenehme Komplikation des rationalen Denkens bedeutet sie in jedem Fall, und für die Naturwissenschaft allein ist sie nicht nötig. Darum wird man sie nicht ohne Not gelten lassen. Zu einem dringenden Postulat, dem sich auch der naturwissenschaftlich gebildete Mensch nicht ohne weiteres verschließen kann, wird die Annahme der Willensfreiheit erst durch die Ethik, also durch eine Wissenschaft, die unbestritten aus dem Machtbereich des Naturforschers herausragt. Dieses zum ersten Male klar erkannt und mit aller Schärfe betont zu haben, ist das große Verdienst K a n t s . Viele Philosophen sind ihm nachgefolgt. Auch der Verfasser des modernsten, größeren Werkes über die Willensfreiheit, N i c o l a i H a r t m a n n , geht ganz bewußt diesen Weg: Erst werden die sittlichen Probleme durchgesprochen,
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es wird ihre Evidenz aufgezeigt, und später folgt dann der Nachweis, daß ohne Willensfreiheit keine Ethik möglich ist. Strenge Naturforscher halten diesen Weg logisch nicht für erlaubt. Es wäre gewiß angenehm, einen sichereren Weg gehen zu können. Bisher hat die Philosophie keinen besseren gefunden. Auf jeden Fall aber kann das, was die Ethik als wahr erkannt hat, nicht im Bereich der Naturwissenschaften falsch sein, denn wir leben nur in einer Welt, wenn wir auch mit verschiedenen Methoden arbeiten. Es sei denn, daß entweder die Ethik oder die Naturwissenschaft auf einer Illusion beruht. Man hat immer wieder versucht, den Zwiespalt zwischen Kausalität und Ethik zu verdecken. Aber wo ein Widerspruch besteht, nützen alle Verschleierungen nichts, und jeder ehrliche Denker entdeckt den Fehler von neuem. Entweder sind Schuld und Verantwortimg Begriffe ohne tieferen Gehalt, oder es gibt eine echte Freiheit, und die Kette der Ursachen und Wirkungen wird gelegentlich im Menschen irgendwo unterbrochen. Vaihinger hat den berühmten Versuch gemacht, den Zwiespalt zwischen Kausalität und Ethik durch einen „gedanklichen Kunstgriff" zu vermeiden. Er sagte: Wir wissen zwar, daß wir unfrei sind, wir geben uns aber praktisch der Fiktion hin, als wären wir frei. Mit dieser Vaihingerschen Fiktion glaubt man heute die Schwierigkeiten überwunden zu haben, mit ihr beruhigt man seine inneren Widersprüche, mit ihr verteidigt man den Begriff der Verantwortlichkeit, ohne den unsere Moral und der größte Teil der Jurisprudenz hinfällig würden. Gegen diesen Standpunkt sind zwei grundsätzliche Einwände zu erheben. Erstens bedeutet diese wie auch jede weitere Vaihingersche Fiktion nichts anderes als eine gutmütig in Kauf genommene Inkonsequenz. Die ganze Lehre ist genau genommen ein System von logischen Widersprüchen, und neu ist an ihr eigentlich nur, daß der Philosoph sich durch die Inkonsequenzen nicht beunruhigen läßt. Zweitens ist die ganze Lehre Vaihingers höchst relativ, sie läßt sich ohne weiteres umkehren, ohne unlogisch zu werden und ohne irgendwelchen gesicherten Tatsachen im geringsten zu wider6
sprechen: Obwohl wir ganz genau a priori wissen, daß wir frei sind, arbeiten wir in der Naturwissenschaft mit der Hypothese, daß alle Vorgänge eindeutig bestimmt seien durch das Kausalgesetz. Auch dieser Standpunkt hätte seine Berechtigung, auch er könnte zum Ausgangspunkt der Forschung gemacht werden. Eine wirklich unbefangene Wissenschaft wird sich weder auf den einen noch auf den anderen festlegen; sie wird streben, ihre Theorien möglichst gut mit der Erfahrung in Einklang zu bringen. Die grundsätzliche Umkehrbarkeit der Vaihing er sehen Philosophie soll nun keineswegs die Relativität aller Erkenntnis beleuchten, obwohl ohne weiteres zugegeben sei, daß vorläufig fast jede Erkenntnis eine relative ist. Das wird gerade in den Einzelwissenschaften immer wieder übersehen. Wie häufig wird fälschlicherweise geglaubt, eine Theorie müsse richtig sein, wenn sie in sich konsequent ist und keiner bekannten Erfahrung widerspricht. Sie kann dann richtig sein, muß es aber nicht. Denn es gibt auf vielen Gebieten mehrere Theorien, von denen zwar jede in sich konsequent ist und keiner bekannten Erfahrung widerspricht, die aber einander ausschließen. In solchen Fällen kann höchstens eine richtig sein, die anderen müssen falsch sein; welche der Wahrheit am nächsten kommt, läßt sich mit unfehlbarer Sicherheit nicht sagen. Wenn daher Leibnizin den Paragraphen seiner Monadenlehre, die den Gottesbeweis einleiten, den Standpunkt vertritt, daß wir mit Recht das für wahr halten, was dem falschen entgegengesetzt ist und keinen Widerspruch enthält, so werden wir ihm von vornherein entgegnen: In einem solchen Fall kann unsere Meinung richtig sein, sie kann aber auch falsch sein; bewiesen ist nur, daß sie nicht falsch sein muß. Ob man nur relative Wahrheiten erkennen kann oder auch absolute, und ob es solche überhaupt gibt, läßt sich wenigstens bisher weder beweisen noch widerlegen. Die Geschichte der Wissenschaften lehrt, daß wir uns, wenn wir die Gedanken möglichst streng an die empirische Wirklichkeit anpassen, allmählich asymptotisch der Wahrheit nähern. Was der Erkenntnis absoluter Wahrheiten vor allem entgegensteht, ist die notwendige Voraussetzimg gewisser Glaubenssätze für 7
jede Erkenntnis. Wer das nicht gleich zugibt, der mag sich einmal überlegen, ob er sich selbst seine eigene Existenz mit dem Satze des Descartes: „cogito, ergo sum" wirklich beweisen kann, wenn er nicht zugleich verschiedene Voraussetzungen macht, die ihrerseits unbewiesen sind. Er muß zum mindesten glauben, daß das Bewußtsein mehr ist als leerer Wahn. Und noch weniger kann der Mensch die Existenz seiner Mitmenschen beweisen. So ist immer irgendein Glaubenssatz die letzte Grundlage für jede Erkenntnis, im kleinen wie im großen, bei der Erforschimg einer einzelnen Gesetzlichkeit wie bei kosmologischen Ideen. Da, wo es sich um ein einziges Empfindungselement handelt, ist die Gewißheit dieselbe wie beim „cogito ergo sum". Wenn ich glaube, daß das Bewußtsein mehr ist als leerer Wahn, so weiß ich auch ganz bestimmt, daß ich z. B. ein Kältegefühl, einen Ton empfinde. Sowie aber aus den Empfindungselementen größere und immer größere Erfahrungskomplexe aufgebaut und diese wieder zu Theorien geordnet werden, nimmt die Sicherheit mehr und mehr ab. A priori möchte man eigentlich annehmen, daß durch ein gegebenes Erfahrungsmaterial bei gegebener Logik das Ergebnis eindeutig festgelegt sein müßte. Praktisch zeigt sich aber eben, daß eine solche Sicherheit fast nirgends zu erzielen ist, und letzten Endes entscheidet immer ein Werturteil, ob die Beweise stichhaltig für die Theorie sein sollen oder nicht. Wenn eine Wissenschaft, die nicht von sehr weitgehenden Glaubenssätzen ihren Anfang nimmt, wie die Theologie, Theorien ermitteln will, die als „richtig" „gelten" sollen, dann stellt sie Tatsachen fest und setzt Hypothesen, und sie probiert dann, wieweit sich beides zur Deckung bringen läßt. Auch schon darum hat jede Theorie wenigstens zunächst nur relative Gültigkeit, und es erhebt sich die Frage, ob die Wissenschaft und insbesondere die Philosophie mit derartigen, vorläufigen Wahrheiten zufrieden sein kann. Man möchte gern mit „nein" antworten; aber ich stelle gleich die weitere Frage: Welcher Mensch kann denn überhaupt anders vorgehen, und wer kommt über das Relative hinaus, ohne der Selbsttäuschung zu verfallen? Wenn ein Prophet der inneren Gewißheit folgt: Es gibt doch auch Gegenpropheten, 8
die aus gleicher innerer Gewißheit das Gegenteil verkünden! Ist es da nicht Hoffart des Menschen, wenn er behauptet, jemals den Weg zur absoluten Wahrheit zu besitzen ? Jedenfalls wird der an der modernen Wissenschaft geschulte Naturforscher kaum bestreiten, daß alle menschliche Erkenntnis eine relative ist, die sich im günstigsten Falle der absoluten Wahrheit, an die wir glauben, allmählich asymptotisch annähert. Diese asymptotische Annäherung der Wissenschaft an die Wahrheit würde allenfalls noch verhältnismäßig leicht sein, wenn wir uns nur nach dem Satz zu richten hätten, daß Denken und Erfahrung miteinander übereinstimmen müssen. Aber damit allein kommen wir nicht aus, wir brauchen zwei weitere Sätze, die leider in sich etwas enthalten, das geeignet ist, die Forscher immer von neuem zu entzweien. Die beiden Sätze sind folgende: 1. Unter den verschiedenen Theorien, die denkmöglich sind und der Erfahrung nicht widersprechen, wird die einfachste als die „richtige" angesehen. 2. Die Theorie darf nicht in Widerspruch stehen zu Dingen, die offenkundig evident sind, auch wenn diese nicht zu beweisen sind. Dieser letzte Satz bedeutet eine Komplikation der Philosophie durch den gesunden Hausverstand, er ist aber unbedingt nötig, um uns vor Absurditäten zu schützen. Wenn es der Philosophie nur darauf ankäme, die immittelbare Erfahrung durch eine möglichst einfache Theorie zu erklären, dann wäre die Annahme einer Außenwelt, in der noch andere Menschen leben und denken, ganz überflüssig. Denn die unmittelbare Erfahrung gibt nichts als sinnliche Erlebnisse. Daß dahinter noch etwas anderes, daß insbesondere noch andere Menschen, die mir ähnlich sind, existieren, ist zwar offenkundig evident, aber es widerspricht dem Satz, daß unter den verschiedenen denkmöglichen Hypothesen die einfachste als die richtige angesehen werden soll. Kurz zusammengefaßt sind also die drei wichtigsten Grundsätze, deren die Philosophie und überhaupt jede R a b l , Willensfreiheit.
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Wissenschaft bedarf, um zu einer Erkenntnis der Welt zu gelangen, folgende: 1 . Der Grundsatz der Übereinstimmung von Denken und E r f a h r u n g . (Mach sagt: „Anpassung des Denkens an die Erfahrung." Es kommen hier übrigens zunächst immer nur Einzelerfahrungen in Frage. Daß man Einzelerfahrungen verallgemeinern darf, ist eine weitere Hypothese.) 2. Der Grundsatz der Ökonomie des Denkens (Mach). 3. Der Grundsatz der Evidenz. Der letzte ist der am meisten umstrittene. Er wurde von Mach, der die ersten beiden bei den Naturforschern populär gemacht hat, vollständig übersehen. Zweifellos ist er gefährlich; denn in seiner Übertreibung führt er zu einem grenzenlosen Subjektivismus. Dieser Gefahr ist die phänomenologische Schule der modernen Philosophie zum Teil erlegen. Die Übertreibimg liegt nicht darin, daß der Grundsatz der Evidenz, statt daß man ihn auf wichtigste Grundfragen beschränkt (z. B. auf die Frage der Existenz der Mitmenschen), auch bei wissenschaftlichen Einzelheiten anwendet. Denn auch in Sonderdisziplinen ist er nicht zu entbehren2). Die Gefahr liegt vielmehr darin, daß Dinge für evident erklärt werden, die nur subjektive Meinimg sind. Wir dürfen aber auch die entgegengesetzte Gefahr nicht übersehen. Schon oft hat die Wissenschaft ganz offenkundige Tatsachen geleugnet, nur um eine Theorie zu vereinfachen, und damit den Fortschritt der Forschung gehemmt. Das Bestreben, einerseits mit einfachen Grundaxiomen auszukommen, andererseits aber offenkundigen Erlebnistatsachen und wissenschaftlichen Postulaten gerecht zu werden, führt zu Spannungen, aus denen gerade der Antrieb zu immer neuem Philosophieren entsteht. Beiden Forderungen zu genügen, ist im Zeitalter der modernen Naturwissenschaft nur V a i h i n g e r gelungen. Aber gerade seine Philosophie ist genau genommen ein System der größten Inkonsequenzen, das eben gerade darum den geringsten Wahrheitswert be-
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ansprachen darf. Wenn wir uns also nicht entschließen wollen, an irgendeinem Punkte mit einem Sprung die Bahn des logischen Denkens zu verlassen, dann können wir uns mit der „Philosophie des Als ob" nicht zufrieden geben. Wir dürfen auch, wenn wir ehrlich die Wahrheit suchen, die Widersprüche nicht verschleiern, sondern müssen offen eingestehen, wo in der Wissenschaft noch unüberbrückte Gegensätze vorhanden sind. Unter diesen Gesichtspunkten ist Vaihingers Behandlung des Freiheitsproblems unannehmbar. Wir müssen offen zugeben, daß entweder die Ethik letzten Endes auf Irrtümern beruht, oder daß das Kausalprinzip nicht restlos für den Willen gilt. Welche der beiden Möglichkeiten die größere Evidenz hat, ist die große Frage, zu der wir Stellung zu nehmen haben.
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B. Die uns umgebende Welt und ihre Gesetzlichkeit. II. Außenwelt und Seele. Die Schwierigkeiten des Freiheitsproblems entspringen zunächst zweifellos aus dem Kausalprinzip. Worauf es aber im einzelnen ankommt, das ist unser persönliches Verhältnis zu der Welt, die von kausalen Gesetzen beherrscht wird, und der wir angehören. Nun können wir freilich über unser Verhältnis zu dieser Welt nicht ins klare kommen, ohne etwas von der Problematik des Kausalprinzips zu wissen, und umgekehrt können wir ohne die sonstige Kenntnis der Welt das Kausalproblem nicht untersuchen. Beides ist miteinander verkoppelt. Aber praktisch erweist es sich als zweckmäßig, beides getrennt zu behandeln und zuerst über die Natur der Substanz, die uns umgibt, sowie über unser Verhältnis zu ihr Klarheit zu gewinnen. Die Erforschung dieser Dinge ist eine Aufgabe der Naturwissenschaft. Soweit sie ihr Urteil sicher zu begründen vermag, können wir uns auf sie besser verlassen als auf die Philosophie. Dieser wiederum müssen wir das Recht der Kritik zugestehen, und durch ihre Kritik kann sie uns wertvolle Dienste leisten. Nur ein Einwand, der von philosophischer Seite gelegentlich erhoben wird, sei von vornherein zurückgewiesen. Man hat vom Naturforscher verlangt, daß er an der Grenze der sinnlichen Wahrnehmimg, zum mindesten an der Grenze der Anschauimg Halt machen müsse. Ein solches Verlangen kann heute nicht mehr als berechtigt anerkannt werden, da die Physik gezeigt hat, daß die Naturwissenschaft eben jene Grenzen übersteigen muß, wenn sie das Wesen der Substanz ergründen will. Und die Erfolge haben ihr zweifellos Recht gegeben. 12
Doch wir wollen nicht am schwierigsten Punkt beginnen, sondern mit den einfachsten Überlegungen. Der naive Naturwissenschaftler neigt von Haus aus leicht zum Materialismus. Er erkennt nur seinen Objekten Realität zu; er leugnet, daß die erkennenden Subjekte in irgendeinem Punkte noch etwas grundsätzlich anderes wären als die übrigen Objekte. Indem er aber vom Gegenstand selbst ausgeht, übersieht er, daß uns zuerst nicht der Gegenstand, sondern die eigene Seele bekannt ist. Wir kennen zunächst nichts anderes als unser eigenes Denken, Empfinden und Wahrnehmen, während dasjenige, was wir als Umwelt zu erleben glauben, uns nur als Inhalt unserer Empfindungen entgegentritt. Wir sehen geformte Licht- und Farbflecke, wir hören Geräusche und Klänge, wir tasten Rauhes und Glattes, Nachgiebiges und Widerstrebendes, und aus alledem baut unser Verstand etwas auf, das wir Gegenstand nennen. Ob der Gegenstand selbst, ob die ganze Welt an sich, d. h. unabhängig von uns, existiert, ist zunächst keineswegs so selbstverständlich, wie es scheint. Zunächst ist jedenfalls für uns nur unsere Seele vorhanden, die Außenwelt erscheint in ihr als ein Bild, dem freilich ein wahres „Draußen" zu entsprechen scheint. Seele und Bewußtsein sind also die Dinge, die uns unmittelbar gegeben sind, und nicht der konkrete Gegenstand oder gar die materielle Substanz. Indem der Materialismus sie als das Primäre ansieht und obendrein die Seele lediglich für eine Funktion eben dieser Materie hält, beginnt er den Weg zur Erkenntnis mit einer höchst fragwürdigen Hypothese. Dies hat wohl zum ersten Male Descartes in voller Schärfe klargelegt: Sicher kann der Mensch zunächst nur wissen, daß die substantia cogitans existiert. Erst nachträglich kann er die substantia extensa erschließen. Diese Einsicht war seither für die meisten Philosophen zwingend, — mögen sie nun die substantia extensa als konkrete Wirklichkeit, als Erscheinimg oder als bloßen Schein ausgedeutet haben. Der umgekehrte Weg, der des Materialismus, beginnt also mit einer unbewiesenen Hypothese. Es ist natürlich denkbar, daß wir schließlich, nachdem wir von der res cogitans ausgegangen waren und sekundär die res extensa als real 13
existierend nachweisen konnten, wieder zurückkehren und dann das Denkende als Funktion des Ausgedehnten erkennen werden. Aber auf jeden Fall ist ohne einen solchen Umweg keine sichere Grundlage zu gewinnen! Wir können die Berechtigung des Materialismus daher erst prüfen, wenn wir die reale Existenz der Außenwelt nachgewiesen haben. Man könnte nun allerdings nach dem eben Ausgeführten meinen, daß die Erkenntnistheorie den höchsten Grad von Sicherheit erreicht, wenn sie den Standpunkt vollständig umkehrt und eine unabhängig vom Menschen vorhandene Außenwelt leugnet. Ein solcher Weg ist in der Tat mehrfach beschritten worden in der Philosophie des sogenannten „spiritualistischen Monismus". Versuche dieser Art sind schon älteren Ursprungs. Zur größten Vollendung wurden sie gebracht von Berkeley. Mach hat diese Gedanken in Unkenntnis der philosophischen Literatur neu entdeckt, und in seiner Fassung sind sie den heutigen Naturforschern am besten bekannt, weshalb wir uns nur mit dieser auseinandersetzen wollen. Mach geht aus von der Tatsache, daß uns nur Sinneseindrücke, oder wie er es nennt, die „Elemente" der sinnlichen Wahrnehmung, unmittelbar gegeben sind. Der Gegenstand ist ein „Komplex" aus solchen „Elementen". Dinge wie Raum, Zeit, Materie, Energie, Atome, Elektronen sollen nur gedankliche Konstruktionen sein. Ein solches Weltbild des spiritualistischen Monismus besticht durch die Einfachheit seiner Voraussetzungen. Ist es aber wirklich „richtig" und darf es Wahrheitswert beanspruchen? Wenn wir es näher untersuchen, so finden wir an ihm zwei ganz wesentliche Mängel: Erstens gibt es für das Verhalten der Menschen zueinander keine befriedigende Erklärung. Wie kann ein erkennendes Subjekt zum Objekt des anderen werden, wo doch alle Objekte immer nur einen Teil des jeweils erkennenden Subjektes ausmachen ? Zweitens bleibt es vollkommen rätselhaft, wieso zwei verschiedene Menschen am gleichen Objekt die gleichen Feststellungen machen müssen, wenn nicht eben dieses Objekt in irgendeiner Weise real existiert3). Ganz konsequent ist der spiritualistische Monismus daher nur in der Form des Solipsismus, jener von vornherein absurden Weltanschauung, bei der der Philosoph nur 14
sich selbst als real existierend anerkennt und alle anderen Menschen für Scheinwesen hält. Wir sehen also, daß weder der spiritualistische noch auch der materialistische Monismus in den Formen, wie sie von heutigen Naturforschern vertreten werden, Wahrheitswert beanspruchen können. Merkwürdigerweise werden aber gerade diese beiden Weltanschauungen von der Naturwissenschaft heutzutage bei weitem bevorzugt. Hier zeigt sich der Schaden, der durch die Vernachlässigung der philosophischen Kritik entsteht. Die berechtigten Gedanken der monistischen Systeme sind schon von der älteren Philosophie sehr scharf durchdacht worden. Und wenn es auch schließlich nicht möglich und nicht nötig ist, alles frühere noch einmal durchzuarbeiten, so sollte doch kein Naturforscher an jenem System achtlos vorübergehen, in dem uns die Wahrheiten des spiritualistischen Monismus in höchster Vollendung entgegentreten, an der „Kritik der reinen Vernunft" von K a n t . K a n t geht zunächst von den gleichen Gedanken aus wie die spiritualistischen Monisten. Er erkennt nur den Sinneseindrücken (bzw. den aus ihnen zusammengesetzten Komplexen = „Erscheinungen") Realität zu. Daß es jenseits der Erscheinungen noch eine wirkliche Außenwelt gibt, wird von Kant nicht bestritten4). Er sagt vielmehr, daß den „Vorstellungen unserer Sinnlichkeit" ein „wahres Korrelat, d. i. das Ding an sich selbst" entspricht (S. 45 d. Orig.-Ausg.). Nur soll es uns unmöglich sein, jemals zu diesem selbst irgendeine Beziehung zu gewinnen. Denn einerseits reicht unsere Fähigkeit wahrzunehmen nicht über die Grenze der Sinnlichkeit hinaus, und andererseits besitzt der Verstand nicht die Fähigkeit zur Anschauung (S. 308 Orig.-Ausg.). Den Naturforscher konnte allerdings diese Philosophie seit jeher nicht ganz befriedigen. Denn wenn auch weder die Sinne noch auch der Verstand das Ding an sich konkret anschauen können, so scheint doch eine begriffliche Meisterimg jenes unabhängig von uns vorhandenen Etwas nicht von vornherein ausgeschlossen. Zwischen konkreter Anschaubarkeit und völliger Unfaßbarkeit liegen doch immerhin noch einige Möglichkeiten! Gewiß wagen heute nur wenige philosophierende Naturforscher, das Ding an sich für konkret an-
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schaubar zu halten. Aber die überwiegende Mehrheit läßt nicht von dem Gedanken los, daß die Außenwelt grundsätzlich doch in irgendeiner Weise erfaßbar sei. Zu dieser Meinung wird sie durch zwei einfache Überlegungen veranlaßt. Erstens zwingt uns die Tatsache, daß verschiedene Menschen am gleichen Gegenstand die gleichen Feststellungen machen, nicht nur, wie K a n t es zugab, zur Annahme, daß es überhaupt Dinge an und für sich geben muß, sondern sie zwingt uns noch zu der weiteren Annahme, daß diese Dinge eine ganz bestimmte Beschaffenheit haben müssen. Denn sonst könnte ein empirischer Gegenstand von verschiedenen Menschen niemals identifiziert werden. Aus dem gleichen Grunde muß jede Veränderung, die ich an einem empirischen Objekt vornehme, auch das Ding selbst verändern, und zwar in genau demselben Maße, wie ich es verändere. Andernfalls könnten meine Mitmenschen nicht eben die gleiche Änderung wahrnehmen. Denn mit ihnen stehe ich ja niemals unmittelbar durch meine eigene Welt der Erscheinungen in Verbindimg. Kurzinn, es muß zwischen den Erscheinungen und den Dingen an sich eine genaue Beziehung bestehen. Das gleiche wie von den Dingen selbst ist auch von der Naturgesetzlichkeit zu sagen. Wäre diese, wie K a n t meint, lediglich ein Funktion der menschlichen Vernunft, so wäre nicht einzusehen, warum wir denn nicht in der Lage sind, a priori die Naturgesetzlichkeit zu ergründen, während doch in Wahrheit eine sehr harte experimentelle Arbeit dazu nötig ist. Große Mathematiker und Physiker wie G a u ß und H e l m h o l t z haben gelehrt, es wäre sogar die ganze Geometrie nur aus der Natur herausgelesen6); diese Ansicht hat sich allgemein durchgesetzt. Wenn sie richtig ist, so kann kein Zweifel bestehen, daß es eine Naturgesetzlichkeit auch unabhängig vom Menschen gibt, zu der die von uns erkannte enge Beziehungen hat. Gegenüber allen diesen Einwänden läßt sich aber das System K a n t s immer wieder verteidigen durch den Hinweis auf das Ding an sich, auf jenes Noumenon, das wir gerade eben ahnen, ohne etwas Genaues von ihm zu wissen, zum mindesten : ohne etwas von ihm wissen zu müssen. In ihrer logischen Geschlossenheit bleibt diese Philosophie unerreicht. 16
Aber trotz der inneren Konstruktionssicherheit, ja trotz der Unangreifbarkeit ist ihre Richtigkeit nicht zwingend bewiesen, solange andere Systeme daneben denkmöglich bleiben. Ja denjenigen, der von der realistischen Weltansicht ausgeht, kann Kant nicht überzeugen. Goethe hat es gewagt, auch nach dem Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft", mit der er sich durchaus beschäftigt hat, und die ihm von Schiller besonders ausgelegt wurde, das größte Bekenntnis zur realistischen Philosophie zu schreiben, das je in der Literatur niedergelegt ist: Die „Farbenlehre". Mehrfach hat er betont, daß er diese geradezu als sein Hauptwerk ansähe. Nachdem die „Kritik der reinen Vernunft" und die „Farbenlehre" veröffentlicht waren, stand vor etwa hundert Jahren die Naturwissenschaft einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus gegenüber. Aber gerade daraus ergab sich eine fruchtbare Auseinandersetzung, der das moderne naturwissenschaftliche Weltbild seine Entstehung verdankt. Der Realismus, der die Eigenschaften, die wir wahrnehmen, den Dingen selbst zuschreibt, war früher das eigentliche Weltbild der Naturforscher. In älteren Zeiten galt es als selbstverständlich, daß die Qualitäten, die wir an den Körpern wahrnehmen, den Dingen selbst zukämen. Daß z. B. ein glühendes Eisen die Eigenschaften „rot" und „heiß" usw. wirklich hätte, daß Syrup selbst „weiß" und „süß" sei, schien keiner Erörterung zu bedürfen. Erst die Entwicklung der Physik im Zeitalter N e w t o n s weckte Zweifel, ob denn nicht in Wirklichkeit manches anders wäre, als die Sinne es wahrnehmen. Ist das weiße Licht, das wir als etwas absolut Reines wahrnehmen und empfindungsmäßig nicht auf einfacheres zurückführen können, wirklich objektiv als solches gegeben und nicht weiter analysierbar, wie Goethe meinte, — oder liegt ihm in Wahrheit ein kompliziertes physikalisches Geschehen zugrunde (nämlich die Mischung aus Farben), wie die Physik seit N e w t o n lehrt? Ist der Syrup an sich süß, oder entsteht dieser Geschmack nur dadurch, daß die Zuckermoleküle in den Nervenendigungen unserer Zunge physikalisch-chemische Veränderungen hervorrufen? Und ist der 17
Syrup unabhängig vom empfindenden Subjekt frei von den Qualitäten „weiß" und „süß"? Die überragende Mehrzahl der heutigen Naturforscher nimmt in der Tat an, daß die Qualitäten6*) der Wärme, des Lichtes, des Schalles, der Härte, des Süßen, des Bitteren usw. den Dingen selbst nicht zukommen. Immer mehr ist es gelungen, alle diese Eigenschaften auf Raumgeschehnisse (z. B. Wellenbewegungen, Molekularstöße usw.) zurückzuführen®b). Den wichtigsten Beweis für die Richtigkeit dieser Anschauungsweise lieferte vor etwa hundert Jahren J o h a n n e s M ü l l e r durch seine Entdeckung des P r i n z i p s der s p e z i f i s c h e n Sinnesenergien. Da dieses in den Lehrbüchern der Philosophie im allgemeinen nicht entsprechend seiner großen erkenntnistheoretischen Bedeutung gewürdigt wird, seien hier seine wichtigsten Beispiele kurz angeführt, um es klar zu machen. Licht wird nur vom Auge wahrgenommen, und umgekehrt ruft jeder physikalische Reiz, gleichgültig ob er die Netzhaut als Licht, als mechanischer Stoß oder als elektrischer Strom trifft, hier immer nur Licht- oder Farbempfindung hervor. — Das Entsprechende gilt von den anderen Sinnesqualitäten. Klang wird nur vom Ohr als Klang empfunden. Wohl nimmt der Taube noch einen lauten Ton als Erschütterung, der Blinde einen Lichtstrahl als Erwärmung wahr, aber das sind Empfindungen völlig anderer Natur. Daraus ergibt sich der naheliegende Schluß, daß es unabhängig von unseren Sinnen Licht so, wie wir es sehen, und Klang so, wie wir ihn hören, überhaupt nicht gibt. Dagegen existieren in der Außenwelt elektromagnetische Schwingungen, und es existieren Verdichtungswellen der Luft. Wenn jene unser Auge oder diese unser Ohr treffen, so rufen sie das Sinnenerlebnis hervor. Die Leitsätze, die Joh. Müller seinen Ausführungen vorangestellt hat, geben wir im Anhang wörtlich wieder7"). Manchem modernen Naturforscher sind diese Gedanken ganz selbstverständlich geworden. Mancher arbeitet täglich mit diesen Vorstellungen, ohne etwas von ihrer Begründung zu wissen. Sie haben sich so gut bewährt, daß man über sie nicht mehr weiter nachdenkt. Und doch bedeuten sie für jeden Menschen, der vorher auf dem Boden des naiven Realis18
mus gestanden hat, eine Umwälzung des Weltbildes. Es ist kein Wunder, daß man so oft dagegen Sturm gelaufen hat. Ist doch diese Weltansicht dem vorwissenschaftlichen Denken durchaus unsympathisch! So hat man auf jede Ausnahme im Prinzip der spezifischen Sinnesenergien mit Nachdruck hingewiesen, weil man glaubte, damit seine Gültigkeit zu widerlegen. Aber alle nachgewiesenen Ausnahmen bedeuten insofern nichts, als sie sich immer wieder auf Sinneszellen beziehen, die noch nicht genug spezialisiert sind. Die Einzelzelle ist auch ein zusammengesetzter Organismus. Warum soll dieser nicht gelegentlich die Fähigkeit haben, verschiedene Sinnesqualitäten zu vermitteln? Am Prinzip ändert das gar nichts!7b) Am weitesten geht B e r g s o n , der das ganze Gesetz der speizifischen Sinnesenergien leugnet. Er meint, jeder Reiz sei zusammengesetzt aus verschiedenen Qualitäten. Z. B. behauptet er, mechanischer Druck enthalte nebenbei noch die Qualität,,Licht", und diese empfänden wir, wenn wir im Dunkeln seitlich auf unser Auge drücken. Diese Hypothese ist so gekünstelt, daß sie wenig Anhänger gefunden hat. B e r g s o n hätte zeigen müssen, wie sich auf solchen Grundlagen eine Physik aufbauen läßt, die die Umwandlung einer Energieform in die andere und das Gesetz der Erhaltung der Energie mit den sinnesphysiologischen Beobachtungen in Einklang bringen kann!
Die neuere Naturwissenschaft hat sich nun auch fast ausnahmslos mit der von J o h a n n e s Müller begründeten Weltansicht abgefunden. Die Physiker gingen nun aber noch weiter. Zunächst erklärten sie neben Licht, Klang, Wärme, Geruch usw. auch noch die Kraft für eine rein subjektive Angelegenheit, von der die Physik zu reinigen wäre. Man ließ sich das noch gefallen, weil man zugeben mußte, daß unsere Vorstellung von Kraft nur einer Empfindung entstammt, die die sensiblen Nervenendigungen in Sehnen, Muskeln und Gelenken uns vermitteln, und weil man sah, daß die Physiker weiterkamen, wenn sie an Stelle des Kraftbegriffs den Potentialbegriff einführten. Mit diesem läßt sich jenes unbekannte Etwas, das in der wahren Außenwelt unseren Vorstellungen von Kraft entspricht, exakter beschreiben; ähnlich, wie man mit der geometrisch-algebraischen Behandlung der Schallwellen die Klänge beschreiben kann, die unser Ohr hört. 19
Einen sehr viel weiteren Schritt aber bedeutete es nun, als die Physiker bei der großen Reinigung des Weltbildes von allem subjektiven Beiwerk auch noch Raum und Zeit eliminierten und ihnen keinen objektiven Bestand mehr zubilligten8). Raum und Zeit sollen, ganz wie Kant es annahm, nur unsere subjektiven Anschauungsformen sein, vermittels deren wir zur wirklichen Außenwelt Beziehung gewinnen. Sie sind zwar ganz brauchbare Registriervorrichtungen des Menschen, aber sie arbeiten nicht einmal fehlerfrei: Der Physiker weist solche Fehler nach, und um sich vor ihnen zu schützen, ersetzt er die Anschauung durch ein mathematisches Begriffssystem. Damit behauptet er natürlich nicht, daß dieses mathematische Begriffssystem mit den Eigenschaften der Dinge selbst (Dinge „an sich" selbst) identisch wäre. Die Mathematik ist auch nur ein Symbol, genau so wie unsere Anschauungsformen von Raum und Zeit Symbol sind für eine transzendente Wirklichkeit9). Damit geht aber der Physiker erheblich über die transzendentale Ästhetik K a n t s hinaus. Kant hatte sich im Negativen erschöpft. Er hatte zwar auch gesagt, daß Raum und Zeit nur unsere Anschauungsformen seien, und wir die Dinge selbst nicht unmittelbar erfahren können. Der moderne Physiker gibt zu, daß die Formen unserer Empfindung und Vorstellung subjektiv sind, er lehrt aber weiter, daß wir durch sie hindurch mit den Dingen selbst in Verbindung treten, und daß wir mit unserem Verstand die Beziehungen der Dinge untereinander rein begrifflich sehr genau zu beschreiben vermögen. Mit dieser neuen Weltansicht haben die Physiker den Schritt in die Metaphysik gewagt. Selbstverständlich wurde ihnen das von verschiedener Seite „verboten". Selbstverständlich wurde das neue System der Physik von bedeutenden Vertretern des eigenen Faches für absurd erklärt, weil es „dem gesunden Menschenverstand widerspräche". Gewiß waren solche Einwände zu beachten. Aber was bedeuten sie gegenüber den gewaltigen Fortschritten, die die Physik aufweisen kann, seitdem sie die neuen Wege beschritten hat! Es ging wie mit anderen, ähnlichen Verboten, die treffend charakterisiert werden durch jenen in Selbstironie von E. 20
Mach ausgesprochenen Satz: „Wenn der Edison ein besserer Physiker wäre, würde er sein Telephon nie erfunden haben." Nun gibt es freilich Naturforscher, die die Atome noch zur Welt der Erscheinungen rechnen, obwohl wir sie uns sinnlich nicht vorstellen können, ohne in eine ganz grobe Modellsymbolik abzugleiten. Es sei zugegeben, daß dieser Standpunkt vielleicht die folgerichtigste Fortsetzung der Kantschen Philosophie im Sinne ihres Begründers ist10). Doch scheint sie mir in eine Sackgasse hineinzuführen, aus der uns nur die oben gezeichneten Ideen Johannes Müllers retten können. Zwar kann man mit dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien die Reform der transzendentalen Ästhetik Kants nicht unbedingt erzwingen. Doch hat für jeden unbefangenen Menschen die Theorie Johannes Müllers auf Grund des physiologischen Tatsachenmaterials die viel größere Evidenz. In seiner Sinnesphysiologie vermeidet dieser zwar die Auseinandersetzung mit Kant, dessen Lehre ihm wohl bekannt war. Eine solche Auseinandersetzung hätte zu unfruchtbaren Streitigkeiten führen müssen. Denn strenge Verfechter des Idealismus werden niemals zugeben, daß Kants Dualismus von Ding an sich und Erscheinung sich auf denselben Tatbestand bezieht wie Johannes Müllers Dualismus von Außenwelt und Seele. Aber auf jeden Fall wird das Denken in höchst überflüssiger Weise kompliziert, wenn man beides für sich gelten läßt und hinter einer von Qualitäten, ja von Raum und Zeit befreiten Außenwelt noch das eigentliche Ding an sich sucht. Die meisten Naturforscher vollziehen daher eine Umdeutung der Kantschen Philosophie in dem hier gezeichneten Sinne, um zu einem brauchbaren Weltbild zu gelangen. Wir haben über alledem bisher versäumt, auf eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung einzugehen, die vom Prinzip der spezifischen Sinnesenergien an sich nicht beantwortet wird, und die letzten Endes auch in der Kantschen Philosophie unentschieden bleibt. Johannes Müller betont zunächst nur, daß das, was wir empfinden, nicht die Eigenschaften der Dinge selbst sind, sondern die Zustände unserer Nerven. Dieser Satz, der den Ausgangspunkt der modernen 21
Sinnesphysiologie bildet, läßt ein großes Problem offen: „Ist" der Zustand des Sinnesnerven bzw. des Gehirns bereits Empfindung, oder aber empfindet die „Seele" den Zustand des Nerven? Der Materialist behauptet das erste, der Vitalist das zweite. Der Materialist h ä l t den N e r v e n v o r g a n g für i d e n t i s c h mit der E m p f i n d u n g , dem V i t a l i s t e n s c h e i n t dies unmöglich. J o h a n n e s Müller sagt zu dieser Frage zunächst wenig; er läßt aber immerhin in zahlreichen Äußerungen keinen Zweifel darüber, daß er die Seele nicht mit dem Zustand des Nerven identifiziert. Für ihn sind Seele und Lebenskraft nicht ohne weiteres in der mechanischen Struktur der lebenden Substanz gegeben, sie sind vielmehr Wesenheiten besonderer Art. Diese vitalistische Auffassung war und ist einem ernsten Angriff ausgesetzt. Man hat geradezu versucht, den alten Einwand des Descartes gegen den Materialismus zu entkräften, indem man sich auf das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien berief. D e s c a r t e s unterschied Außenwelt und Seele als res extensa und res cogitans. Unmittelbar gegeben ist dem Menschen zunächst nur die Seele, durch sie wird die Außenwelt wahrgenommen. An der Richtigkeit dieser Grundansicht hat lange Zeit kein Philosoph gezweifelt, mag er nun die „ausgedehnte Substanz" als Realität, als Schein oder als Erscheinimg gedeutet haben. Auf jeden Fall aber schien der Materialismus widerlegt zu sein. Aber nun konnte unter Berufung auf das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien der Materialist doch wieder seinen Standpunkt verteidigen. Denn vor allen Dingen war nun die reale Existenz einer Außenwelt erwiesen. Weiterhin konnte er sagen: Setzen wir einmal voraus, Bewußtsein sei ein Attribut jeglicher Substanz, also auch der Gehirnsubstanz. Daß wir den Eindruck haben, die Gegenstände der Außenwelt besäßen kein Bewußtsein, ist dann folgendermaßen zu erklären: Entsprechend dem Prinzip der spezifischen Sinnesenergien ist klar, daß ich die Kenntnis der Außenwelt nur mittelbar, nur durch fortgeleitete Bewegung in meinem Nervensystem, besitze. Unmittelbar dagegen bin ich selbst — als Gehirn — ein physisches Gebilde. Meine sinnliche Erfahrung ist nur hervorgerufen von außen her; sie ist nie mit den Dingen selbst identisch. Sie erfährt also auch, 22
wie Johannes Müller lehrte, nie etwas von den Qualitäten der Dinge selbst; das Bewußtsein, d. h. die wichtigste Qualität des Objektes, bleibt mir selbst daher unbekannt. Dagegen erlebe ich als Nervensubstanz, als wirkliches Ding an sich selbst, mein eigenes Bewußtsein, das mir ebensogut zukommt wie jeder anderen Substanz auch. Nur in der Verschiedenheit des Standpunktes ist es begründet, daß ich einmal — nämlich als Gehirn — das Bewußtsein erlebe, das andere Mal — bei der Außenwelt — dagegen nicht. In Wahrheit aber ist beides durchaus dasselbe. Diese Einsicht hilft mir nun noch ein weiteres Rätsel zu lösen, das bisher nicht so recht zu verstehen war: Wie kommt es, daß der Mensch a priori die Fähigkeit zum mathematischen Denken besitzt? Der Materialismus kann das folgendermaßen erklären: Die Gesetzmäßigkeit der physischen Substanz hat, wie seit alters her bekannt ist, einen offenkundig mathematischen Charakter. Dieser muß sich selbstverständlich auch irgendwie in den Nervenvorgängen bemerkbar machen. Diese Nervenvorgänge, die nichts anderes sind als mein bewußtes Denken, werden beherrscht von mathematischer Gesetzlichkeit. Kein Wunder also, daß die vom Gehirn a priori gedachte Gesetzmäßigkeit übereinstimmt mit derjenigen, die wir sonst überall in der gesamten Materie feststellen können! Zu alledem kommt nun noch hinzu, daß das Gehirn ein äußerst kompliziert gebautes Gebilde ist, das eben durch seine Struktur manches zuwege bringt, das wir heute nicht verstehen können. So wird es schließlich zu erklären sein, warum das Denken, das sich scheinbar so sehr von allen übrigen physischen Vorgängen unterscheidet, letzten Endes doch nichts weiter als ein physischer Vorgang ist. Dieser Einwand scheint auf den ersten Blick überzeugend. Und doch erweist er sich bei näherer Prüfimg als unhaltbar. Zerlegen wir einmal den Gedankengang in seine Bestandteile. Betrachten wir den letzten zunächst und fragen wir: Könnte die Kompliziertheit der Gehirnprozesse, auf die sich der Materialist immer wieder beruft, das Bewußtsein grundsätzlich erklären ? Angenommen, es käme wirklich nur auf die kunstvolle mechanische Apparatur an: Durch eine solche könnte ein auch sonst vorkommendes physikalisches Phänomen in 23
so starker Intensität hervorgeruien werden, daß es (obwohl sonst nicht bemerkbar) nun erst in Erscheinung tritt. In diesem Sinne wäre das Gehirn einem Röntgenapparat vergleichbar, der die anderweitig in der Natur nur ganz schwach vorkommenden kurzen elektromagnetischen Wellen so stark und anhaltend hervorbringt, daß sie sich deutlich bemerkbar machen. Man käme damit auf die Hypothese Wi. Ostwalds zurück, daß das Bewußtsein nichts anderes sei als eine besondere Energieform. Dieser Meinung steht aber das folgende, wichtige Bedenken entgegen: Die Physik hat allmählich gelernt, alle Vorgänge auf Raumgeschehnisse bzw. „dimensional orientierte Mannigfaltigkeiten" zurückzuführen, die eine bemerkenswerte, früher nie geahnte Einheitlichkeit zeigen. Z. B. erweisen sich elektrische Wellen, ultrarote Wärmestrahlen, Licht- und Röntgenstrahlen usw. qualitativ als derselbe Vorgang; verschieden ist jeweils nur die Wellenlänge. Überhaupt wurde unser Bild von der unbelebten Natur um so einheitlicher, je weiter die Forschung vordrang. Aber um so weiter bleibt das Bewußtsein abseits von allen übrigen Phänomenen. Es läßt sich keiner sonst bekannten physikalischen Erscheinung auch nur annähernd zuordnen. Im Zeitalter der Romantik hatte man gehofft, es würde dereinst gelingen, die Lebenskraft und die Seelenvorgänge auf Elektrizität zurückzuführen. Von einer solchen Hoffnung sind wir heute weiter entfernt als je, nachdem wir die elektrischen Phänomene genauer kennengelernt haben. Die Hypothese, daß das Bewußtsein eine Energieform sei, ist äußerst unwahrscheinlich geworden. Damit entschwindet auch die Möglichkeit, das Denken aus der besonderen Struktur des Gehirns allein erklären zu wollen. Nun sucht sich der Materialismus, wie wir eben vorher ausgeführt hatten, noch durch eine weitere Annahme zu retten. Er faßt das Bewußtsein als die andere Seite der Welt auf, als jene Qualität der Dinge, die uns verborgen bleibt, solange wir sie nur von außen sehen. Sie offenbare sich uns erst, wenn wir sie an unserer eigenen physischen Substanz erleben, — an derjenigen Materie, aus der unser Gehirn besteht. Die grundsätzliche Verschiedenheit von Seele und Außenwelt soll demnach in Wahrheit nur durch den Standpunkt des Beob24
achters vorgetäuscht sein. An sich wäre eine solche Hypothese schon geeignet, das Überspringen von der einen Seite der Welt auf die andere zu erklären. Es ließe sich sogar von hier aus eine Theorie finden, die in allen wesentlichen Punkten mit der Philosophie Kants zur Deckung zu bringen ist. Und doch ergeben sich unüberwindliche Schwierigkeiten. Zunächst dürfen wir nicht übersehen, daß dieser Rettungsversuch des Materialismus nichts gemein hat mit jenem anderen, der das Bewußtsein als eine Energieform auffaßt und seine Entstehung auf den kunstvollen Bau des Gehirns zurückführt. Denn wenn der Dualismus durch den Standpunkt des Beobachters gegeben ist, dann kommt es auf die Beschaffenheit des Denkorgans gar nicht an, wenigstens nicht für das Phänomen des Bewußtseins. Das führt aber auf eine Frage, die der Materialist nicht befriedigend zu beantworten vermag: Warum haben gerade die Menschen und die höheren Tiere Bewußtsein und warum nicht die leblosen Gebilde, insbesondere die Maschinen ? Der Materialist kann einwenden, es sei ja möglich, daß auch der Stein ebenso wie das Tier empfinde, wie er liegt und fällt. Immerhin hat dieser Schluß (oder besser gesagt: diese Voraussetzung) wenig Evidenz. Aber ganz abgesehen davon kann die materialistische Erklärung des Bewußtseins (d. h. die Erklärung aus dem Standpunkt des Beobachters) nicht verständlich machen, warum sehr viele psychische Vorgänge, die für unser Seelenleben zentrale Bedeutung haben, auch beim Menschen unbewußt verlaufen. Gegen diesen letzten Einwand kann der Materialist sich nur schlecht verteidigen. Hier liegt vielleicht der schwächste Punkt seiner Hypothese. Freilich verläßt an dieser Stelle sogar mancher bedeutende Mediziner die Bahn der strengen Beweisführung und erklärt plötzlich, mit dem Bewußtsein brauche man sich überhaupt nicht auseinanderzusetzen, denn die Tiefenpsychologie habe ja dargetan, daß es keine wesentliche Bedeutung für unser Seelenleben habe. Solche Ausflüchte sind nicht ernst zu nehmen: Gewiß gibt es seelische Vorgänge ohne das Bewußtsein; aber es ist nun eben einmal ein gegebener Faktor, den man nicht aus der Rechnung lassen darf, wenn man zu einem geschlossenen Weltbild gelangen will. R a b l , Willensfreiheit.
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Wir werden auf weitere Schwierigkeiten der materialistischen Auffassimg noch bei Besprechung der Lebensvorgänge zurückkommen. Auf jeden Fall ergibt sich schon jetzt, daß jene erkenntnistheoretische Grundansicht, die sich einerseits auf dem Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aufbaut, und die andererseits die Selbständigkeit der Seele gegenüber der physischen Substanz nicht übersieht, vorläufig als dasjenige System gelten darf, das der Wahrheit am nächsten kommt. Leider treten immer wieder von neuem Philosophen auf den Plan, die sich mit den einschlägigen Arbeiten aus der Sinnesphysiologie zu wenig oder gar nicht auseinandergesetzt haben und infolgedessen Hypothesen entwickeln, die den Tatsachen widersprechen.71») Dies gilt ganz besonders von jenen Philosophen, die in heutiger Zeit wieder den alten Realismus in einer eigenartigen Weise zu erneuern suchen, — den Phänomenologen. Ihnen war in den letzten Jahren ein beachtenswerter Erfolg beschieden. Sie verdanken diesen allerdings nicht nur der natürlichen Sympathie, deren sich realistische Gedankengänge schließlich doch bei allen naiven Menschen erfreuen. Denn diese hätte nicht ausgereicht, weil gerade die Phänomenologen sich zum großen Teil einer mustergültig schlechten Sprache bedienen, die nur von philosophisch geschulten Lesern verstanden werden kann. Wichtiger war es, daß sie das Glück hatten, in das von der Tiefenpsychologie entdeckte Neuland vorzustoßen, wo sie allerhand wichtige Tatsachen fanden, die sie nun in ihrer Weise ausdeuteten. Den eigentlichen Ausgangspunkt für die Philosophie dieser Richtung bildete die Unzufriedenheit mit der naturwissenschaftlichen Weltansicht, wie sie hier vertreten wurde. Gerade hier haben die Phänomenologen noch keine Theorie finden können, die mit der Gesamtheit des Tatsachenmaterials besser und einfacher übereinstimmt. Ganz unberechtigt ist aber der Haupteinwand, den sie gegen die Naturwissenschaft erheben, indem sie behaupten, daß eine Erkenntnistheorie wie die hier gezeichnete nur der kausalen Erklärung der Dinge Wert beimesse, während sie die bildhafte Deutung für ein leeres Traumspiel halte. Gewiß meint der Physiologe, das Bild, das wir z. B. von einer Landschaft in uns auf26
nehmen, sei zunächst nur aus sinnlichen Eindrücken aufgebaut. Daß ihm aber ein wahres Draußen" entspricht, wird damit keineswegs bestritten. Und wenn die Naturwissenschaft auch behauptet, daß unsere Anschauung vom wirklichen Gegenstand so verschieden ist wie eine Sprache von der anderen, so gibt sie doch zu, daß bei der Übersetzung von der einen Sphäre in die andere nichts Wesentliches verlorengeht. Infolgedessen besteht auch für den, der sich auf den Boden der hier entwickelten Theorien stellt, gar kein Zweifel daran, daß die Gestalt, die wir wahrnehmen, auch als Gestalt (zwar nicht in der eben wahrgenommenen Art und Weise, aber ihr doch recht genau entsprechend) wirklich existiert. Auch der moderne Sinnesphysiologe hat keinen Grund zu leugnen, daß die Schönheit eines Objektes, z. B. einer Blume oder eines Schmetterlings, unabhängig vom erlebenden Subjekt existiert, — und überhaupt steht die Realität dessen, was der Geisteswissenschaftler unter Wert versteht, in keinem Gegensatz zur modernen Naturwissenschaft. III. Das Kausalprinzip. Die erste Voraussetzung für die Bearbeitimg des Freiheitsproblems ist damit gewonnen, daß ein relativ sicherer Standpunkt für die Erforschung von Seele und Außenwelt gefunden wurde. Zwei weitere Fragen müssen geklärt werden, ehe wir mit unserer eigentlichen Aufgabe beginnen können: Wir müssen uns erstens mit dem Kausalprinzip beschäftigen, weil aus ihm an und für sich die größten Schwierigkeiten des Freiheitsproblems zu entspringen scheinen, und zweitens mit der Gesetzüchkeit der Lebensvorgänge, weil es beim Menschen und seinem Tim auf diese Art der Kausalität ganz besonders ankommt. Das Kausalprinzip wird verschieden formuliert. Die erste Fassung heißt: „Alles, was geschieht, hat eine Ursache", oder, was dasselbe bedeutet: „Nichts geschieht ohne Ursache." Es ist aber auch die folgende Formulierung richtig: „Jeder Vorgang unterliegt einem Gesetz; für alles besteht ein Gesetz" (vgl. Mill, System der Logik, Bd. II, S. i ß f f ) . Beide Fassungen lassen sich vereinigen in folgendem Satz: „Jede Ver3*
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änderung ist durch die vorausgehende11) räumliche Verteilung, Beschaffenheit und Menge von Stoff und Energie, soweit diese überhaupt zu dem Vorgang in Beziehung steht, nach ewig unwandelbaren Gesetzen eindeutig bestimmt." Mit Rücksicht auf vitalistische Theorien wäre noch hinzuzufügen: „. . .sowie durch die eventuelle Verbundenheit mit biologischen oder psychologischen, ebenfalls unwandelbaren Gesetzen." Es sei allerdings betont, daß hierbei die Ursache nicht etwa als das aktiv Schaffende, die Wirkung als das passiv Hervorgebrachte angesehen werden darf; eine solche Auffassung wäre ein subjektiver Anthropomorphismus, der im modernen physikalischen Weltbild unzulässig ist. Vielmehr ist allein in der gesetzmäßigen Verknüpfung des früheren Zustands mit dem späteren das Kausalverhältnis begründet. Im täglichen Leben und noch mehr in der Poesie geben wir \ins gern der Täuschung hin, als ob auch bei rein physikalischen, von uns unabhängigen Vorgängen das Frühere das aktiv wirkende und das Spätere das passiv Bewirkte wäre. Wir sagen z. B.: Der Stein löst sich von der Felswand los, er stürzt herab und zerschlägt eine Schieferplatte. Eine solche Darstellung ist in Wahrheit aber ein Anthropomorphismus12). Sie ist nicht weniger subjektiv als die Anschauung, daß es in der Natur unabhängig vom Menschen und anderen Lebewesen „Kräfte" gäbe, während es in Wahrheit nur Potentialdifferenzen gibt. Wir hatten diese Dinge ja im vorigen Abschnitt ausführlich erörtert. Der moderne Physiker erkennt daher einen Kausalnexus überhaupt gar nicht mehr in dem Sinne an, daß die Wirkung von der Ursache geschaffen werde. Vielmehr ist für ihn ein Kausalzusammenhang nur dadurch gegeben, daß der Übergang vom früheren Zustand in den späteren einer Regel entspricht. Diese ist im allgemeinen mathematisch formbar, doch ist das weniger wichtig. Das vom Menschen ausgesprochene Kausalprinzip ist für den Physiker nichts anderes als die allgemeinste Beschreibung der Naturgesetze, die uns bisher bekannt geworden sind. Die große Frage ist nun die, ob das Kausalprinzip überhaupt restlos gilt. Hier ist zunächst des alten Einwandes zu 28
gedenken, daß das Kausalprinzip denknotwendig sei, — ein Einwand, der im wesentlichen auf K a n t zurückgeht. K a n t berief sich auf die innere Gewißheit a priori gegebener Kenntnisse. Gerade hier aber setzen die Zweifel der modernen Naturwissenschaft ein. Sie verlangt, daß auch das, was a priori noch so sehr einleuchtet, erst noch der Feuerprobe der praktischen Bewährung unterworfen werden muß; sie leugnet, daß die innere Gewißheit ein zuverlässiges Kriterium der Wahrheit sei. Ein solches gibt es für den modernen Naturforscher überhaupt nicht; wir hatten davon in der Einleitung ja ausführlich gesprochen. Nachdem die Naturwissenschaft nun auch in diesem Punkte die dogmatische Einstellung aufgegeben hatte, sind in der Tat starke Zweifel am Kausalprinzip laut geworden. Namhafte Physiker glauben nicht mehr, daß aus dem vorhergehenden Zustand der folgende mit eindeutiger Notwendigkeit folgen müsse. Sie geben nur noch eine Tendenz zu, die das physikalische Geschehen nach Wahrscheinlichkeitsregeln in diese oder jene Richtung drängt. Wer diese moderne Problematik nicht kennt, kann darüber ausführlich im Zusammenhang nachlesen bei B a v i n k , Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften, Leipzig, Hirzel 1930. (Nur die neueste Auflage bringt etwas von diesen Dingen!) Der wichtigste Einwand gegen das Kausalprinzip ergibt sich aus folgender Überlegung: Alle Naturgesetzlichkeit wird durch Messung und Zählung ermittelt. Ob der menschliche Verstand a priori überhaupt Naturgesetze finden kann, erscheint zum mindesten fraglich. Gauß und Helmholtz waren der Ansicht, daß nicht einmal geometrische Erkenntnis dem Menschen a priori möglich sei. Auf jeden F a l l aber h a t die E r f a h r u n g gelehrt, daß wir ohne Vergleich mit der e x a k t e n Messung nicht in der L a g e sind, die G ü l t i g k e i t eines Naturgesetzes auch nur mit einiger B e s t i m m t h e i t zu behaupten. Zu jeder Messimg benötigen wir ein Instrument. Wir müssen nun immer sehr darauf achten, daß wir mit diesem unser Objekt während der Messung nicht beeinflussen, denn dann würden wir ja einen ungenauen Zahlenwert erhalten. Diese Forderung läßt sich aber ganz streng gar nicht erfüllen. 29
Der Fehler, den das mitwirkende Instrument bedingt, ist freilich in den meisten Fällen sehr gering. Wenn wir z. B. mit einem Thermometer die Temperatur des Wassers in einer Badewanne messen, dann wird der Einfluß des Thermometers selbst keine wesentliche Rolle spielen. Wenn wir aber mit dem gleichen Thermometer das Wasser in einem Fingerhut untersuchen, dann wird durch die Eigenwärme des Thermometers das Wasser so wesentlich erwärmt oder abgekühlt, daß wir uns auf die abgelesene Zahl nicht verlassen können: wir wissen nicht, welche Temperatur das Wasser vor der Messung gehabt hat. Praktisch gelingt es uns nun freilich in den meisten Fällen, den so entstehenden Messungsfehler auf ein sehr geringes Maß zurückzudrängen. Wir kommen aber mit der Verfeinerung unserer Methoden an eine unübersteigbare Grenze, wenn wir uns der Größe des Atoms oder des Planckschen elementaren Energiequantums nähern. Hier erhalten wir notwendig ungenaue Ergebnisse, und wir können infolgedessen nur Wahrscheinlichkeitswerte für die physikalische Gesetzlichkeit in atomaren Grenzen angeben. Nun hat sich gezeigt, daß wir mit einer Wahrscheinlichkeitskausalität überhaupt sehr gut zurechtkommen. Demgemäß haben die modernen Physiker, insbesondere Schrödinger und Heisenberg, erklärt: Wir können überhaupt gar nicht wissen, ob es eine exakte Kausalität in dem Sinne gibt, wie Kant es gefordert hatte! In der uns zugänglichen Welt finden wir sie jedenfalls nicht! Wir können höchstens glauben, daß in jener uns nicht zugänglichen Welt, die der eigentliche Wesensgrund unseres sinnlichen Erlebens ist, eine exakte Kausalität gilt. Das führt also zu einem Schluß, der der Kantschen Philosophie genau entgegengesetzt ist: Für die Erscheinungen gilt keine echte Kausalität. Nur für die Dinge an sich, für das Noumenon, für die „Intelligible" Welt, kann es eine strenge Kausalität geben. Wir können es nicht wissen, aber wir haben Grund, es zu glauben. Diese neue Auffassung ist fraglos für die Physik von großer Bedeutung. Wenn aber die Naturforscher meinen, es sei damit für die Philosophie der Freiheit viel gewonnen, so zeigt dies nur, wie wenig sie von der geisteswissenschaft30
liehen Problematik wissen. Denn die Auflockerang des Kausalprinzips bedeutet noch nichts weiter als eine Unregelmäßigkeit im physikalischen Geschehen, eine gewisse Unordnung; Sie zeigt uns nur einen chaotischen Rest, der von der Naturgesetzlichkeit nicht erfaßt wird13). Im Gegens a t z dazu b e d e u t e t das F r e i h e i t s p r i n z i p in der g e i s t e s w i s s e n s c h a f t l i c h e n P h i l o s o p h i e eine i m h ö c h s t e n Maße g e s t a l t e n d e und ordnende Kraft. Immer wieder behaupten die Naturforscher, ja sogar Driesch, Freiheit bedeute ein „Durch-nichts-bestimmt-Sein". Das ist ganz falsch! Der Freiheitsbegriff setzt wohl voraus, daß die verantwortliche Tat nicht durch physisch gegebene Umstände und auch nicht durch die gegebene Veranlagung („das beharrliche Wesen" nach Driesch) restlos bestimmt sei. Aber der Freiheitsbegriff setzt außerdem voraus, daß die Tat sich nicht etwa aus dem blinden Zufall ergibt. Dadurch, daß der Unbestimmtheit ein Feld im Weltgeschehen eingeräumt wird, kommen wir also um keinen Schritt weiter. Das scheinbar so widerspruchsvolle Phänomen der Willensfreiheit läßt sich auf diese Weise nicht erklären. Wir müssen einen ganz anderen Weg gehen um zum Ziel zu kommen. Für ihn müssen wir uns allerdings das Rüstzeug erst erarbeiten, wir brauchen dazu noch längere Voruntersuchungen. Vorläufig können wir allerdings den Problemkreis der Kausalität noch nicht verlassen. Es sind einige Erörterungen über das Wesen der Naturgesetzlichkeit nötig, um spätere Mißverständnisse zu vermeiden. Vereinzelte Naturforscher sind der Meinung, daß zwax die Dinge selbst real existieren, die Naturgesetze aber nur in unserer Vorstellung. Die Planeten habe es seit Jahrmillionen gegeben, die Gesetze der Planetenbewegung aber erst seit K e p l e r usw. Gegen diese Auffassung ist alles das einzuwenden, was gegen den spiritualistischen Monismus M a c h s einzuwenden war. Wir sind genötigt, auch den Naturgesetzen unabhängig von uns eine Existenz zuzuerkennen. Schwieriger ist die Frage nach dem Verhältnis von Naturgesetz und Substanz14) zu beantworten. Das Kausalprinzip sagt, daß alles Geschehen gewissen Regeln folgt (mögen diese nun exakte oder nur annähernde Gültigkeit haben). Jeder Vorgang wird bestimmt durch die jeweilige Anordnung und Beschaffenheit von Stoff und Energie einerseits und durch Gesetze und Regeln andererseits. Sind wir berechtigt, beides einander in dieser Art gegenüberzustellen? Fragen wir nach dem Unterschied und nach den gegenseitigen Beziehungen von Substanz und Gesetz, so erscheint unserer sinnlichen Anschauung 31
wenigstens das eine sicher, daß Materie und Energie, — zwar vielleicht letzten Endes beharrlich, aber doch in ihrer jeweiligen Anordnung in Raum und Zeit veränderlich sind, während die Naturgesetze sich seit Menschengedenken nie geändert haben und überhaupt nie ändern werden, im Räume überall die gleiche Gültigkeit haben und überhaupt an keinem Punkte des Raumes festgelegt sind, so daß man sagen kann, daß sie von der „Ewigkeit" her, von einer transzendenten Sphäre, in den Raum und in die Zeit hineinwirken. Diese Auffassung t r i t t uns in der Literatur zum ersten Male bei P l a t o " ) 1 * ) entgegen. Sie hat seit mehr als zwei Jahrtausenden die Philosophen immer von neuem beschäftigt. In ihr ist bereits eine Relativierung der Zeit angedeutet, aus der sich eine Begrenzung des Kausalprinzips ergibt, weil dieses sich auf die in Raum und Zeit abspielenden Vorgänge beschränkt. Wir werden bei Besprechung des Freiheitsproblems darauf zurückzukommen haben. Diesem Satz der Platonischen Philosophie, daß die physikalische Gesetzlichkeit aus der Transzendenz heraus auf die Substanz einwirke, scheint nun das moderne physikalische Weltbild zu widersprechen : Denn transzendent — unserer Anschauung nicht zugänglich — ist einmal das, was in der „wahren" Außenwelt dem Naturgesetz, und zum anderen das, was der im Räume ausgebreiteten Substanz selbst entspricht. Und es fragt sich, ob nicht jenseits unseres Denkens und Vorstellens Gesetz und Substanz das gleiche sind, lediglich unserer Seele verschieden erscheinend. Im ersten Augenblick besticht dieser Gedanke durch seine Einfachheit; er versagt aber bei näherer Prüfung. Denn wenn, wie J o h . M ü l l e r gelehrt hat, jedem einzelnen Gegenstand auch ein besonderes „Ding an sich" entspricht, dann ist dieses von Fall zu Fall ein anderes, während die Naturgesetzlichkeit (bzw. das, was jenseits unseres Vorstellungsvermögens der „Naturgesetzlichkeit" entspricht) überall die gleiche ist. Es bleibt infolgedessen der Satz bestehen, daß das mannigfaltige, überall verschiedene Geschehen an den Dingen beherrscht wird durch eine allumfassende, einheitliche Gesetzlichkeit. Wenn wir also das Verhältnis von Substanz und Gesetz nicht in der komplizierten Sprache der modernen Physik ausdrücken wollen, sondern es gleich in die übliche Sprache der Anschauung übersetzen, dann dürfen wir sehr wohl sagen, daß das Naturgesetz in den Raum und in die Zeit hineinwirke auf die Substanz, ohne selbst etwas Substantielles zu sein und ohne irgendwo im Raum oder in der Zeit festzuliegen. Diese Betrachtung scheint eine überflüssige Komplikation unserer bisherigen Problematik zu sein, sie wird aber wichtig für die Erörterung der biologischen Gesetze; D r i e s c h hat darauf hingewiesen, daß auch diese aus einer nicht räumlichen noch zeitlichen Sphäre in das substanzielle Geschehen hineinwirken. Hiervon wird im folgenden Kapitel die Rede sein.
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IV. Die lebende Substanz. Solange es eine Naturwissenschaft gibt, geht in der Biologie der Streit zwischen mechanistischer und vitalistischer Lehre hin und her. Von Zeit zu Zeit wechseln die Namen, ohne daß sich die Theorien selbst wesentlich verschieben. Im Augenblick liegen die Dinge etwa so: Die mechanistische Lehre ist für manche Forschungszweige die bessere Arbeitshypothese, weil sie schärfer dazu zwingt, die physikalischen Vorgänge im Organismus zu erforschen. Sie entspricht ferner besser dem Wunsche vieler Forscher, eine einzige, einheitliche Erklärungsgrundlage für die Wissenschaft zu besitzen. Wer aber ohne einen derartigen, vorgefaßten Wunsch an die Dinge herangeht und vor allem fragt, welche Lehre sich einfacher mit der Erfahrung zur Deckung bringen läßt, der wird zugeben müssen, daß die Erscheinungen des Lebens für den Betrachter höchst verwickelt und meistens ganz unübersehbar werden, wenn er versucht, sie restlos auf physikalische Vorgänge zurückzuführen, während sie sich unvergleichlich viel einfacher erklären lassen, wenn er die selbständige Gültigkeit biologischer Gesetze und biologischer Prinzipien, z. B. Reiz, Reaktion, Anpassung, Abwehr, Selbsterhaltungstrieb usw. anerkennt. Diese wenigen Prinzipien sind dann freilich ihrerseits so wenig erklärbar wie die Grundprinzipien der Physik, — wie elektrische Ladung, Potential, Energie, Entropie usw. Wenn wir uns also bemühen, unsere Erkenntnis möglichst gut mit der Erfahrung in Übereinstimmung zu bringen, ohne auf Schritt und Tritt auf Unklarheiten zu stoßen, so werden wir die vitalistische Lehre, die Lehre von der Eigengesetzlichkeit des Lebens, vorziehen müssen173). Wenn man mit mechanistisch orientierten Naturwissenschaftlern diese Dinge bespricht, so können sie zwar bei einigermaßen objektiver Würdigimg der Tatsachen nie behaupten, daß ihre Weltanschauung mit der Wirklichkeit besser übereinstimme als die vitalistische. Sie können auch nicht glaubhaft machen, daß ihre Theorie das Denken vereinfache. Denn trotz einfacherer Voraussetzungen ist die Anwendung sehr viel komplizierter. Dagegen wollen sie immer wieder geltend machen, der Forscher wäre verpflichtet, mit physikalischen 33
Prinzipien auszukommen. Auf die Frage, warum er denn dazu verpflichtet sei, wissen sie meistens keine andere Antwort als die, daß die physikalischen Erklärungen die „natürlicheren" und die vitalistischen zu „wunderbar" seien. Warum allerdings die biologischen Grundbegriffe, wenn man sie als solche gelten läßt, wunderbarer sein sollen als die physikalischen, ist nicht recht einzusehen. Denn über das Elektron und das P l a n c k sehe elementare Energiequant könnte man sich mit Recht sehr viel mehr wundern als über die Eigengesetzlichkeit des Lebens und über die Zweckmäßigkeit im Verhalten der Zelle. In Wahrheit entspringt auch die Ablehnimg des Vitalismus einem ganz anderen Motiv. Wie wir eingangs gesehen haben, gehört es zu einem erfolgreichen Streben nach Erkenntnis, daß der Forscher seine Theorie auf eine möglichst einfache Grundlage zu stellen sucht. Die mechanistische Hypothese kommt mit einer einzigen Gruppe von Grundbegriffen aus, die vitalistische bedarf deren zwei 17b ). An sich ist die monistische Tendenz gewiß lobenswert. Man kann aber eben tatsächliche Verschiedenheiten nicht willkürlich aus der Welt wegleugnen ohne mit der Wirklichkeit in Widerspruch zu geraten. „Entium varietates non temere esse minuendas" — die Mannigfaltigkeit der Wesenheiten läßt sich nicht willkürlich einschränken —, so heißt ein alter Satz der Philosophie (in dieser Form zitiert nach K a n t , Krit. d. rein. Vern., S. 680 der Orig.-Ausgabe). Merkwürdigerweise sehen die Mechanisten in der Tatsache, daß bei biologischen Vorgängen weder Substanz erzeugt noch auch vernichtet wird, einen Beweis gegen den Vitalismus. Der Gegensatz der vitalistischen zur mechanistischen Lehre liegt aber eben darin, daß die Besonderheit des Lebendigen nicht in der Substanz, sondern im Immateriellen, z. B. im Gesetz, gesehen wird! Im übrigen wollen wir uns ruhig klarmachen, daß die Beweise dafür, daß in der lebenden Substanz Materie und Energie weder verschwinden noch neu entstehen, vorläufig noch recht dürftig sind. Unsere Instrumente sind so grob, daß wir es nicht merken würden, wenn in einem Säugetier in vierundzwanzig Stunden eine Billion Atome oder Energiequanten beseitigt oder neu geschaffen würden. Fast niemals
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stimmen Gesamtstoffwechseluntersuchungen bei einem Tier von einigen Kilogramm Gewicht bis auf die vierte oder fünfte Dezimale eines Gramms genau. Erst bei der vierundzwanzigsten Dezimale kommen wir an die Atomgrenze! Aber vorläufig haben wir keinen Grund zu bezweifeln, daß der Haushalt immer exakt stimmt, und daß uns das Eigengesetz des Lebendigen nichts veruntreut. Als Beweis gegen den Vitalismus wird auch immer die Tatsache angeführt, daß alles Leben fest an Materie gebunden ist. Hieran aber hat kaum ein neuerer Vitalistgezweifelt. Merkwürdigerweise legen die Mechanisten sogar besonderen Wert auf die in den letzten Jahren mit Hilfe der Röntgenspektroskopie erhobene Feststellung, daß die feinsten Strukturen des Protoplasmas wie des Zellkerns (bemerkenswerterweise auch in den Spermatozoen!) wahrscheinlich nichts anderes sind als Kristallstrukturen. Eigentlich müßte doch gerade das die stärksten Zweifel wecken, ob der Gegensatz zwischen Belebtem und Unbelebtem lediglich in der materiellen Struktur begründet sein kann! Gerade das macht es ja doch wahrscheinlich, daß noch etwas anderes mit im Spiel ist! Denn wie sollten die grundsätzlichen Unterschiede zu erklären sein, wenn die Struktur grundsätzlich die gleiche ist, und sonst nichts weiter mitwirkt18) ? Der Schwerpunkt der ganzen Auseinandersetzung liegt aber überhaupt gar nicht bei der Frage, wieweit die physikalischen Gesetze an und für sich im Organismus gelten, und ob die Feinstruktur in den Zellen grundsätzlich dieselbe ist wie in den Kristallen. Denn hierüber sind sich beide Parteien eigentlich einig! Es kommt vielmehr darauf an, ob die Besonderheiten, die uns am Lebendigen auffallen, grundsätzlich auch im Leblosen vorkommen, und ob das Leben lediglich aus dem besonderen Aufbau der Materie zu erklären ist. Die Mechanisten suchen dies zu beweisen oder wenigstens die prinzipiellen Unterschiede als nebensächlich hinzustellen. Dabei verkennen sie manchmal in geradezu merkwürdiger Weise den eigentlichen Charakterzug der betreffenden biologischen Phänomene. Typisch sind die diesbezüglichen Auseinandersetzungen von Rinne, dessen populär geschriebenes Buch: Grenz35
fragen des Lebens (Leipzig 1931) schon darum hervorzuheben ist, weil der Verfasser den Feinbau der Materie in ganz hervorragender Weise aus eigenen Arbeiten kennt. R i n n e wiederholt z. B. den alten Vergleich des Lebens mit einer Flamme. An sich ist ja bekanntlich dieser Vergleich etwas gewagt, weil das Feuer niemals wie der Oxydationsprozeß in der Zelle die Energie für eine solide Aufbauarbeit liefert. Doch könnte man wenigstens insofern diese Parallele gelten lassen, als die Flamme ebenso wie der Organismus ein physikalisches System darstellt, das die wesentlichste Ursache für den Ersatz der umgesetzten Energie in sich selbst enthält. Und wenn das Feuer z. B. am Holz zehrt, dann könnte man geradezu die Entstehimg gasförmiger Stoffe, die in der Flamme aufgehen, als eine Art von Assimilation ansehen. Unmöglich wird aber der Vergleich, wenn R i n n e auf das Ausweichen des Bunsenbrenners vor dem Luftzug hinweist und dieses Ausweichen eine A n p a s s u n g nennt. Damit verkennt er, daß die Biologie nur dann von einer eigentlichen Anpassung spricht, wenn ein Organismus sich auf Grund äußerer Einwirkungen so ändert, daß die gleiche Einwirkung bei Fortdauer oder Wiederholung weniger schadet oder mehr nützt als bisher. Wiederholt man das Anblasen eines Bunsenbrenners zehnmal hintereinander in gleicher Weise, so weicht er jedesmal in gleicher Weise aus, d. h. er paßt sich nicht an! Ein Organismus unternimmt irgend etwas, wodurch er sich immer weniger zu beugen braucht, es sei denn, daß seine Lebensfähigkeit bedenklich nachgelassen hat. Ebensowenig wie das Ausweichen des Bunsenbrenners dürfte man z. B. das Härterwerden eines Stückes Stahl unter fortgesetzten Hammerschlägen eine Anpassung nennen. Die Widerstandskraft steigt zwar allmählich, aber das ist jedesmal die ganz unmittelbare Folge des mechanischen Einflusses, ist sozusagen mit ihm identisch. Wenn dagegen ein Lebewesen auf äußere Schläge hin eine härtere Schale bekommt, so geschieht dies vorwiegend in den Ruhepausen; ja, es ist überhaupt eine gewisse Latenzzeit nötig, bis der Erfolg eintritt, d. h. die Anpassung ist alles andere als identisch mit der äußeren Einwirkung. Eben dieses spricht übrigens auch gegen die immer wieder ausgesprochene Behauptung, daß die Anpassung der
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Spezialfall einer „Gegenwirkung" sei, wie sie auf Grund des Prinzips von Wirkung und Gegenwirkung in der leblosen Substanz beobachtet wird. Denkbar wäre es nun allerdings, daß sich in der Kolloidchemie Fälle finden ließen, in denen ein physikalisches System durch eine äußere Einwirkung erst nach einer gewissen Latenzzeit verändert wird, und zwar so, daß es dann gegen die Fortdauer des Schadens besser geschützt wäre als bisher. Angenommen, es würden solche Beispiele gefunden: Dann unterscheidet sich ein solches physikalisches System von einem Stück lebender Substanz immer noch dadurch, daß dieses grundsätzlich nahezu unbegrenzt vieler Anpassungen fähig ist. Etwas Derartiges gibt es nur in den Organismen, und umgekehrt gibt es keinen Organismus, der diese Eigenschaft nicht hätte. Diese Fähigkeit der lebenden Substanz ist also kaum auf irgend etwas Physikalisches zurückzuführen. Wir können entweder den Begriff der Anpassung als spezifisch biologischen Begriff nicht entbehren, oder wir müßten ihn aus einem anderen, rein biologischen Begriff ableiten: Aus dem der Z i e l s t r e b i g k e i t . Denn an und für sich ließe sich Anpassung final, teleologisch, immerhin „erklären", wenn wir sie als eine Veränderung des Organismus auffassen, die k ü n f t i g e Schädlichkeiten abwehren soll. Wer sich aber weder zu der teleologischen Erklärung entschließt noch auch die Anpassung als ein Urphänomen gelten lassen will, für den bleibt sie etwas ganz Unerklärliches, oder er geht an ihren wesentlichen Charakterzügen vorbei. In allerjüngster Zeit könnte es nun freilich so scheinen, als ob die Physik auch einen Begriff der Z i e l s t r e b i g k e i t benötige. Aber es ist ein großer Irrtum, wenn man meint, daß physikalische und biologische Teleologie dasselbe wären. Der Wichtigkeit halber muß hierauf eingegangen werden. Die Physik hat festgestellt, daß sich aus gewissen Erscheinungen der Optik (Analyse der Intensitäten von Spektrallinien) ein sehr eigenartiges Kausalverhältnis ergibt. Somm e r f e l d hat es folgendermaßen ausgesprochen (Naturforscher- und Ärzteversammlung 1924): „Sehr bemerkenswert ist bei diesen Intensitätsregeln die Vertauschbarkeit von An-
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fangs- und Endzustand. Es sieht so aus, als ob das Geschehen nicht gegeben würde durch eine Wahrscheinlichkeit für den Anfangszustand des Atoms und eine Wahrscheinlichkeit für den Übergang in den Endzustand, sondern als ob Anfangsund Endzustand durch ihre betreffenden Quantengewichte das Geschehen gleichberechtigt bestimmten. Dies würde unserem hergebrachten Kausalitätsgefühl einigermaßen widersprechen . . . was wir jedenfalls fordern müssen . . . i s t . . . die mathematische Sicherheit der Naturgesetze. Wie diese Eindeutigkeit zustandekommt, ob sie allein durch den Anfangszustand gegeben ist oder durch Anfangs- und Endzustand gemeinsam, können wir nicht a priori wissen, sondern müssen es von der Natur lernen." S o m m e r f e l d und andere Physiker haben diese durch den Endzustand mitbestimmte Determiniertheit des Geschehens als teleologisch bezeichnet. Die Übertragung des biologischen Begriffes der Teleologie auf die Physik ist nicht glücklich. Denn trotz scheinbarer Ähnlichkeit handelt es sich um grundverschiedene Dinge. TiXoi; heißt sowohl Ende als auch Zweck und Ziel. Sommerfeld bezieht sich auf die erste Bedeutung des Wortes, auf das tatsächlich erreichte Ende. Bei den Vitalisten bedeutet das Wort Teleologie dagegen Zielstrebigkeitslehre. Ob das Lebewesen sein Ziel wirklich erreicht, ist Nebensache. Das wirkliche Ende ist oft ein durchaus anderes als der erstrebte Endzustand. Man bezeichnet eine Reaktion des Organismus auf einen Reiz auch dann als zweckmäßig, wenn der Zweck nicht erreicht wurde. Geht z. B. bei einer Infektionskrankheit der Körper im Kampfe mit den Bakterien zugrunde, so waren die Abwehrmaßnahmen dennoch „zweckmäßig" gewesen. Das teleologische Prinzip braucht dabei, wie oft vergessen wird, keineswegs dem Kausalprinzip zu widerstreiten. Man k a n n n ä m lich die Zwecksetzung a u f f a s s e n als e i n d e u t i g n o t wendige Folge aus ä u ß e r e m Reiz und i n n e r e r Vera n l a g u n g des Lebewesens, und die aktiven Reaktionen könnten sehr wohl die eindeutig notwendige Folge der (unbewußten) Zwecksetzung der lebenden Zellen sein. Also nirgends eine Verletzung des Kausalprinzips, aber doch eine unumwundene Teleologie. Bei einer solchen Naturbetrachtung würden wir zwar darauf verzichten, das Lebendige 38
physikalisch-mathematisch zu erklären, wir würden aber streng am Kausalprinzip festhalten. — Bei der Teleologie Sommerfelds dagegen handelt es sich um etwas ganz anderes: Das Kausalprinzip wird durchbrochen, aber es braucht keineswegs die mathematische Sicherheit der Naturgesetze verletzt zu werden. Merkwürdigerweise hatte sich Ende des vorigen Jahrhunderts in der Biologie ein Mehrheitsbeschluß der maßgebenden Professoren mit diktatorischer Strenge durchgesetzt, der alles teleologische Denken verbot. Obwohl für jeden, der einigermaßen unbefangen die lebende Natur beobachtet, kein Zweifel daran bestehen kann, daß die Vorgänge im Organismus zweckgerichtet sind, und obwohl andererseits das teleologische Prinzip, wie eben ausgeführt, dem kausalen nicht widerstreitet, galt es dennoch bis vor kurzem im höchsten Maße für „unwissenschaftlich", teleologische Erklärungen für einen biologischen Vorgang zu geben! Wer nicht selbst in der biologisch-medizinischen Arbeit steht, begreift diesen Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Wissenschaft nicht.19) Noch ursprünglichere Grundbegriffe der Biologie als Anpassung und Zielstrebigkeit sind Reiz und Reaktion. Rinne sucht in Anlehnung an verschiedene Vorgänger auch hierfür allerhand Vergleiche aus dem Unbelebten. Aber der wesentlichste Vergleichspunkt fehlt auch hier. Rinne sieht in der Reaktion lediglich die komplizierte Wirkung einer viel einfacheren Ursache. Nun ändert sich gewiß auch totes Material auf einfache äußere Einflüsse hin nicht selten in höchst kunstvoller Weise. Aber ist denn wirklich der Reiz nur die äußere Einwirkung, und die Reaktion eine dadurch verursachte komplizierte Veränderimg? Der Organismus wird durch die äußere Ursache passiv gereizt, und die Reaktion ist die aktive Antwort. Aktive Handlungen setzen ein Subjekt voraus, das sie am Objekt vollzieht. Ein Subjekt ist etwas ganz grundsätzlich anderes als ein toter Gegenstand, und sei er noch so kunstvoll beschaffen. Wer rein physikalisch zu denken gewohnt ist, der wird dies nicht ohne weiteses verstehen; er wird zum mindesten die Notwendigkeit der Begriffe „Subjekt, Objekt, aktiv, 39
passiv" für die Naturwissenschaft nicht zugeben, er wird höchstens den Forscher selbst als Subjekt anerkennen und den Gegenstand seiner Forschung niemals als etwas anderes denn als Objekt gelten lassen. Wir müssen daher etwas weiter ausholen, um die Berechtigung, ja die Unentbehrlichkeit dieser Begriffe für eine möglichst weitgehende Erfassimg der biologischen Vorgänge darzulegen. Wir haben oben (Kapitel II) das Verhältnis des erkennenden Subjektes zur umgebenden Natur eingehend untersucht und festgestellt, daß das Individuum mit seiner denkenden und empfindenden Seele der Außenwelt als einer vollkommen wesensverschiedenen Sphäre gegenübersteht. Nach längeren Erörterungen konnten wir mit relativer Sicherheit ausschließen, daß dieses Verhältnis des Subjektes gegenüber der Umwelt uns nur als leerer Schein vorgetäuscht wäre. Es handelt sich vielmehr um einen essentiellen Dualismus. Diese Scheidung in „Ich" und „Außenwelt" hatten wir freilich zunächst nur für den Menschen und außerdem noch nicht für seine ganze Seele, sondern nur für die bewußten Empfindungen und Gedanken nachweisen können. Es fragt sich nun natürlich, ob auch für die unbewußten psychischen Prozesse und auch bei den Tieren ein solcher Dualismus gilt, d. h. ob grundsätzlich bei jeder Empfindung eines jeden lebenden Organismus oder Organs ein solcher Übertritt aus der physischen in die davon wesensverschiedene psychische Sphäre stattfindet. Daß die seelischen Vorgänge nur zum kleinen Teil bewußt sind, darf schon für den Menschen durch die Tiefenpsychologie als erwiesen gelten. Dies trifft auch für die Empfindungen zu; die neuere Neurologie läßt hieran keinen Zweifel. Daß die Tiere durchwegs empfinden (wenn auch meist sehr viel weniger bewußt als der Mensch) darf wohl ebenfalls als gesicherte Tatsache gelten; der Vergleich ihrer anatomischen Struktur und ihres Gesamtverhaltens mit dem der Menschen und der höheren Tiere läßt wohl keinen anderen Schluß zu. Ob freilich die niederen Tiere überhaupt jemals Bewußtsein besitzen, können wir nicht wissen. — es ist auch ohne Bedeutung für den uns interessierenden Fragenkomplex. Andererseits aber kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Empfindung und die Gemütsbewegungen auch dann. 40
wenn sie unbewußt verlaufen, nicht zur Außenwelt, sondern zur Seele gehören — vorausgesetzt, daß eben die Grundansicht von Johannes Müller die richtige ist! Mit anderen Worten: W i r müssen den Dualismus von Seele und A u ß e n w e l t auf alles Lebendige 2 0 3 ) übertragen. Diese Ü b e r t r a g u n g aus der E r k e n n t n i s k r i t i k in die B i o l o g i e ist keine Selbstverständlichkeit. Manche Autoren scheuen sich, sie zu vollziehen. Das hat seinen Grund darin, daß den Biologen bisher die Psychologie des Unbewußten fremd war. Wer an dieser Schwierigkeit nicht scheitert, der findet hier trotz des grundsätzlichen Dualismus ein Erklärungsprinzip von großer Einheitlichkeit. Es hat den Vorzug, daß es die Seele grundsätzlich verstehen hilft, was man von der mechanistischen Hypothese nicht behaupten kann. Im Lichte dieser Vorstellungen unterscheidet sich das Subjekt von einem Gegenstand dadurch, daß es mit einer Seele ausgerüstet ist. Der Reiz unterscheidet sich von der Ursache dadurch, daß er empfunden wird, die Reaktion von der Wirkung dadurch, daß sie die aktive Äußerung des Subjektes darstellt. Ob die Reaktion die einfache oder die komplizierte Folge des Reizes ist, ist ganz Nebensache; die Beweisführung von Rinne geht also am wesentlichen Einwand gegen die mechanistische Auffassung vollkommen vorbei, wozu eigentlich historisch die Berechtigung fehlt, weil die hier von uns vertretene Auffassung in den Grundzügen bereits von Johannes Müller 20b ) zu genügender Klarheit gebracht worden war. Johannes Müller hat allerdings seine vitalistische Grundansicht, wennschon er sie niemals ganz verbarg, gerade in der Sinnesphysiologie nicht in den Vordergrund gestellt — vielleicht, weil sie ihm hier ohnedies evident genug erschien. Schärfer betonte er sie in seinen Auffassungen von der Entstehung der Leibessubstanz und ihrer chemischen Zusammensetzung. Hier allerdings war er in den Vorstellungen seiner Zeit merkwürdig befangen; er meinte, daß die „organisch"chemischen Verbindungen nur unter dem Einfluß der Lebenskraft zustande kommen könnten. Ja, er legte überhaupt auf den Zusammenhang von chemischer Struktur und LebensR a b l , Willensfreiheit.
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kraft besonderen Wert. Hierdurch bekam sein Vitalismus eine gewisse materialistische Note, die lange Zeit die Schwäche dieser biologischen Theorie blieb. Von ihr haben erst neuere Autoren, namentlich D r i e s c h , den Vitalismus frei gemacht. Durch Driesch haben die theoretischen Grundlagen der Biologie eine wesentliche Vertiefung erfahren. Die große Bedeutimg seiner Arbeiten liegt nicht eigentlich in der Förderung neuen Tatsachenmaterials, obwohl auch dieses im einzelnen sehr wertvoll ist. Immerhin hat er keine grundsätzlich anderen Dinge festgestellt als seine Gegner. Aber von W. R o u x und anderen „Entwicklungsmechanikern", die z. T. mit noch mehr Erfolg experimentierten als er, unterschied er sich durch die viel klarere und schärfere logische Durchdringung des Tatsachenmaterials. D r i e s c h s Beweise für den Vitalismus sind heute allgemein bekannt. Wer sie näher studieren will, dem sind sie leicht zugänglich in der in allen größeren Bibliotheken vorhandenen „Philosophie des Organischen". Sie gipfeln in dem Hinweis auf die praktisch unbegrenzte Anzahl von Anpassungen und Wiederherstellungen, deren der Organismus fähig ist. Nim erheben sich allerdings in allerneuester Zeit gegen diesen Beweiskomplex wieder Bedenken, weil man etwas ganz Ähnliches wie die Regeneration, d. h. die Wiederherstellung des Leibes nach einer Verletzimg, auch im Unbelebten gefunden hat. Flüssige Kristalle (die ja schon äußerlich durch ihre Fortbewegung große Ähnlichkeit mit primitiven Lebewesen haben) gleichen Substanzdefekte durch Verschiebung ihrer Leibessubstanz aus. Aber ein wesentlicher Unterschied bleibt bestehen: Bei den lebenden Organismen steigt die Sicherheit der Existenz nach Überwindung der Schädlichkeit, und nur dadurch ist es ihnen möglich, sich in einer gefährlichen Umwelt zu erhalten. Etwas Derartiges gibt es bei den Kristallen nicht. Nun muß freilich zugegeben werden, daß alle Beweise für den Vitalismus nur Wahrscheinlichkeitswert beanspruchen können; zwingend sind sie nicht. Denn es könnte ja, wie T s c h e r m a k betont, trotz der erscheinungsmäßigen Verschiedenheit zwischen Lebendigem und Leblosem letzten Endes eine essentielle Gleichheit bestehen. Jedenfalls aber bedeutet die Annahme einer solchen essentiellen Gleichheit keine Ver42
einfachung, sondern eine unnötige Komplikation des Denkens, weil ja die biologischen Erscheinungen ohnedies ein besonderes Begriffssystem erfordern bzw. weil ohne ein solches Begriffssystem die Erklärungen ihre Übersichtlichkeit verlieren. Es sei ferner zugegeben, daß das Gebäude der Physik noch nicht ausreicht21), um sicher auszuschließen, daß biologische Prinzipien im Keim schon im Leblosen enthalten sind. Es wäre denkbar, daß die Physik noch Entdeckungen macht, die die Lücke ausfüllen werden22). Aber vorläufig klafft diese Lücke, und sie tritt nur um so schärfer in Erscheinung, je mehr da^ Bild der Physik sich abrundet. Bei dieser Sachlage hat die Behauptung der Mechanisten, daß die Zukunft die nötigen Erklärungen bringen werde, sehr viel weniger Wahrscheinlichkeit für sich als die These der Vitalisten, daß ohne Annahme eigener biologischer Prinzipien die Lebensvorgänge grundsätzlich unerklärbar sind. Auf einige Literatur zu dieser Frage sei im Anhang hingewiesen23). Für das Eigengesetz des Lebendigen hat Driesch unter leichter Verschiebung eines a r i s t o t e l i s c h e n Begriffes das Wort E n t e l e c h i e gewählt. Es hat sich in der neuen Prägung rasch eingebürgert. Die Entelechie ist gleichermaßen wie ein physikalisches Gesetz selbst nicht räumlicher noch zeitlicher Natur, selbstverständlich ist sie kein stoffliches Gebilde, sie wirkt in den Raum und in die Zeit hinein auf die Substanz wie ein physikalisches Naturgesetz; nur mit einem wesentlichen Unterschied: sie wirkt nicht allenthalben gleichmäßig, sondern nur an bestimmten Stellen der Substanz und zu gewissen Zeitabschnitten in besonderer Weise. (Darum ist sie aber nicht, wie der Materialist immer wieder behauptet, „wunderbarer" als ein physikalisches Naturgesetz; sich wundern ist eine rein subjektive Angelegenheit, ein objektives Wunder gibt es nicht.) Der Begriff der Entelechie ist übrigens an sich noch nicht identisch mit dem der Eigengesetzlichkeit des Lebens. Denn es wäre durchaus eine Theorie denkbar, die nur mit allgemeinen vitalistischen Grundprinzipien auszukommen sucht, ohne eine planvoll zusammenfassende Macht anzuerkennen. Aber ein solcher Vitalismus stieße auf große Schwierigkeiten. Es ist 4*
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wohl klar, daß er als eines der wichtigsten biologischen Prinzipien das der Zielstrebigkeit gelten lassen müßte. Dieses Prinzip aber wäre inhaltsleer, wenn kein Ziel vorhanden wäre, nach dem der Organismus sein Verhalten orientiert. Eines der wichtigsten Ziele aber ist während der Entwicklung (und auch später bei der Wundheilung) das intakte, fertige Individuum ; und dieses wiederum ist nicht ausschließlich aus den Teilen oder aus allgemeinen Prinzipien erklärbar. Denn nach Verletzungen besteht die Tendenz, die Teile immer wieder so herzustellen, daß der Bauplan des Ganzen erhalten bleibt, auch wenn dieser noch so kompliziert ist. Wir müssen demnach nicht nur den Vitalismus im allgemeinen sondern auch die Lehre von der Entelechie im besonderen nach dem heutigen Stande der Wissenschaft für diejenige biologische Theorie halten, die der Wahrheit am nächsten kommt. Wir sind nun noch die Auseinandersetzung mit einer kleinen Schwierigkeit schuldig geblieben, die jeder vitalistischen Theorie im Wege steht, und an der wir nun nicht mehr länger vorübergehen dürfen: Wie soll es möglich sein, daß die gleichen Atome im lebenden Organismus sowohl einer vitalen wie auch einer physikalischen Gesetzlichkeit unterliegen, wenn beide wesensverschieden sind ? Die physikalische Kausalität läßt j a nicht etwa mehrere Möglichkeiten offen, sondern sie bestimmt mit eindeutiger Notwendigkeit das, was geschehen wird. Und nun hatten wir ja in unseren obigen Ausführungen ausführlich erörtert, daß im ganzen genommen im lebenden Organismus etwas anderes geschieht, als es den physikalischen Gesetzen allein entsprechen würde. Und dennoch konnte man im einzelnen niemals feststellen, daß auch nur ein einziges physikalisches Gesetz jemals verletzt wurde 1 Wie soll es also möglich sein, daß die Atome, aus denen der lebende Organismus zusammengesetzt ist, einmal von physikalischen und das andere Mal von vitalen Gesetzen beherrscht werden ? Hier scheinen wir uns in einem Zirkel von Widersprüchen zu bewegen 1 Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die den Vitalismus an dieser Klippe vor dem Scheitern bewahren. Sie alle sind bereits mehrfach in der Literatur besprochen. Am einfachsten ist es, sich auf die Lücken zu berufen, die die moderne Physik in der physikalischen Gesetzlichkeit aufgedeckt hat, und gerade hier den Angriffspunkt der Entelechie zu suchen. Diesen Weg hat z. B. R i e z l e r beschritten (Deutsche Vierteljahrsschrift f. Lit. Wissensch, u. Geistesgeschichte VI, i). Er führt zunächst theoretisch aus, daß es Naturgesetze geben könnte, die nur Möglichkeiten des Geschehens begrenzen ohne das wirkliche Ereignis mit Notwendigkeit zu bestimmen. Daß es solche Gesetze gibt, steht wohl außer Zweifel. Die Vererbungs-
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regeln z. B. legen nur die Grenzen fest, innerhalb derer die Veranlagung des Nachkommen hegen muß, wenn die Anlagen der Vorfahren gegeben sind; welche der verschiedenen Möglichkeiten aber im konkreten Fall verwirklicht wird, läßt das Gesetz offen. Es fragt sich natürlich, ob in einem solchen Fall nicht andere Naturgesetze die Lücke schließen und das, was zunächst frei zu bleiben schien, doch noch mit eindeutiger Notwendigkeit determinieren. Aber eben die Feststellungen der modernen Physik machen das unwahrscheinlich; und R i e z l e r meint, daß gerade hier der Angriffspunkt für die Lebenskraft gegeben sei. Diese Hypothese ist zweifellos gut durchdacht und sehr wohl möglich, es sind aber neben ihr andere ebensogut denkbar. S c h o p e n h a u e r z. B. erklärt den Widerspruch zwischen Kausalität der Physik und Eigengesetzlichkeit des Lebens mit der Annahme, daß in den Organismen das Prinzip von Wirkung und Gegenwirkung aufgehoben sei. Eine andere Hypothese wiederum meint, daß im Bereich atomarer Dimensionen die Richtung der Potentialgefälle geändert werde ohne daß sich ihre Größe ändere. Wir brauchten dann weder im Stoff- noch im Energiewechsel Abweichungen von den gewohnten physikalischen Gesetzen zu finden, obwohl der Ablauf des ganzen Prozesses sich sehr wesentlich ändern würde. Dieser Gedanke ist in neuerer Zeit hauptsächlich von B o l t z m a n n ausgesponnen worden; er findet sich aber bereits in ähnlicher Form in der Monadenlehre von L e i b n i z , der sich wiederum auf D e s c a r t e s beruft. Denkbar sind auch noch verschiedene andere Möglichkeiten, die 11. a. T s c h e r m a k in der Einleitung zu seinem Lehrbuch der allgemeinen Physiologie sehr schön referiert hat. Wir möchten im übrigen nicht versäumen darauf hinzuweisen, daß es zum mindesten heute noch technisch unmöglich ist, im Bereich zellulärer Vorgänge auch nur einigermaßen die restlose Gültigkeit physikalischer Gesetze nachzuprüfen, weshalb eine weitere Erörterung über das Ineinandergreifen von biologischer und physikalischer Gesetzlichkeit an sich wenig Sinn hätte. Bisher haben wir uns nur mit der vitalistischen und der mechanistischen Theorie des Lebens auseinandergesetzt. Aus der mechanistischen ist in den letzten Jahrzehnten noch eine weitere hervorgewachsen, die m n e m i s t i s c h e . Sie h a t manches Neue gebracht, das seinen Wert auch behalten wird, wenn sie sich im Kern als falsch erweisen wird. Wertvoll bleiben auf jeden Fall die von S e m o n herausgearbeiteten Grundbegriffe. S e m o n postuliert in Übereinstimmung mit älteren Theorien von H e r i n g als wichtigste Voraussetzung der organischen Entwicklung und auch der unbewußten und bewußten Handlungen eine Art Gedächtnis, die M n e m e . Jeder Reiz hinterläßt in der lebendigen Substanz ein E n 45
gramm. Diese Engramme werden dann zeitweilig wieder e k p h o r i e r t , d. h. aktuell gemacht, und zwar vorwiegend unter der unmittelbaren Einwirkung neuer, ähnlicher Reize aus der Außenwelt. Diese von Semon aufgestellten Grundbegriffe sind auf jeden Fall geeignet, bei der Beschreibimg biologischer Vorgänge wertvolle Dienste zu leisten, und es scheint, daß sie der Wirklichkeit sehr nahe entsprechen. Und dennoch bleibt es in hohem Maße fraglich, ob die Mneme das eigentliche Charakteristikum des Lebens ist. Gewiß ist für die Organismen die Mneme unentbehrlich, ebenso unentbehrlich wie die Zufuhr von Energie. Aber ist sie wirklich das, was die Tiere, Pflanzen und Bakterien uns als etwas anderes erscheinen läßt als die leblosen Gegenstände ? Man hat zeigen können, daß etwas ganz Ähnliches wie das Gedächtnis sich in der leblosen Materie grundsätzlich gleichermaßen findet wie in der lebenden: Die Hysteresis. Unter Hysteresis versteht man eine Veränderung in der Anordnung der Moleküle, die zurückbleibt, wenn die betreffende Substanz einer physikalischen Einwirkung ausgesetzt war. Die Fähigkeit zu solchen Veränderungen zeigen manche Stoffe in hohem, manche nur in geringem Maße, grundsätzlich dürfte sie eine allgemeine Eigenschaft aller Materie sein, auch der unbelebten. Es ist nun sehr wohl denkbar, daß hysteretische Veränderungen der Leibessubstanz die Vorbedingung der Erinnerung sind, ja daß das Gedächtnis im Grunde nichts anderes ist als ein Spezialfall der Hysteresis. Denn das Gedächtnis zeichnet sich gar nicht durch Eigenschaften aus, die wir im rein Physikalischen nicht-finden. Fähig zur Aufbewahrung von Engrammen sind auch der photographische Film und die Grammophonplatte. Durch diese Fähigkeit sind die lebenden Organismen ebensowenig vor leblosen Gegenständen ausgezeichnet wie z. B. durch Oxydationsprozesse oder durch das Vermögen der Substanzspeicherung. Jene Charakteristika des Lebendigen dagegen, die wir oben nannten, wie Anpassung, Abwehr usw. lassen sich durch Gedächtnis nicht erklären. Das erhellt am besten, wenn wir das Verhalten der Organismen im Kampf ums Dasein betrachten. Jedes Lebewesen wehrt sich gegen Schädlichkeiten. Diese Eigenschaft ist eine Vorbedingung seiner Existenz. 46
Ohne sie würde es höchstens im Laboratorium, niemals aber in der freien Natur eine Weile fortbestehen. Die Tiere und Pflanzen sind durch die Einwirkungen des Milieus, in dem sie leben, an und für sich mechanisch und chemisch sehr leicht zerstörbar. Ein Quarz- oder Feldspatkristall ist im Vergleich zu einem Infusorium geradezu physikalisch unangreifbar. Das Tier und die Pflanze bleiben nur dadurch, daß jeder Schaden alsbald wieder beseitigt wird, in ihrer gefährlichen Umwelt längere Zeit am Leben. Die erfolgreiche Abwehr setzt aber voraus, daß der Organismus den immer wechselnden — zunächst meist schädlichen — äußeren Ursachen in jedem Augenblick neue, innere Ursachen entgegenstellt, die den Schaden beseitigen oder sogar in sein Gegenteil verkehren. Es sei nun der Mnemetheorie zugegeben, daß ein Lebewesen den nachteiligen, äußeren Ursachen nur dann wirksame innere Ursachen entgegenstellen kann, wenn es über eine Art von Erfahrung verfügt, d. h. wenn es dasjenige unternimmt, das in einer ähnlichen, früheren Lage Abhilfe gebracht hatte. Aber trotzdem erhebt sich die Frage, ob die Reaktion auf einen äußeren Reiz ausreichenden Erfolg haben könnte, wenn einfach nur der alte Vorgang wiederholt würde. Jeder neue Fall liegt anders. Das Gedächtnis an sich tut weiter nichts als daß es Früheres aufbewahrt — genau oder ungenau. Wird nun auf Grund der Mneme Früheres genau wiederholt, dann paßt es nicht für den neuen Fall, d. h. der Organismus wird sich unzweckmäßig verhalten. Hat die Mneme aber ungenau funktioniert, dann ist die Chance, daß die Anwendung der alten Erinnerung für den neuen Fall paßt, erst recht schlecht. Man meint nun ganz naiv: Die Kleinigkeit, durch die sich die neue Situation von der alten unterscheidet, kann doch nicht so viel ausmachen; hier kann doch die Reaktion des Organismus wirklich leicht individuell gestaltet werden! Selbstverständlich ist dies nicht schwierig, wenn eine korrigierende Instanz vorhanden ist und die frühere Erfahrung so umformt, daß sie nun wieder paßt. Eine solche Instanz ist in den Organismen zweifellos vorhanden. Aber sie ist durch die Mneme, d. h. durch das Gedächtnis, den Bewahrer des alten Eindrucks, nicht zu erklären, wenn sich nicht hinter der Mneme noch ganz andere Dinge verbergen. 47
Bleuler, der sich seit langem um die Ausarbeitung des Mnemismus bemüht und seine Theorie fortschreitend von einer Abhandlung zur anderen vertieft hat, sieht sich allmählich immer mehr gezwungen, im Lebendigen allerhand Dinge anzuerkennen, die es im Leblosen nicht gibt28). Da er alles das aber auf den Begriff der Mneme zurückzuführen bestrebt ist, stattet er diesen mit Funktionen aus, die mit der Hysteresis nicht das geringste mehr zu tun haben. Hiergegen erheben sich nun aber wiederum Bedenken ganz anderer Art. Bei schweren Gehirnerschütterungen kommt es zur retrograden Amnesie, d. h. die Erinnerung an die Erlebnisse der letzten Minuten oder Stunden verschwindet. Das Bewußtsein kehrt wieder, aber die Erinnerung bleibt fort. Das ist höchst einfach zu erklären, wenn das Gedächtnis ein Spezialfall der Hysteresis ist. Denn hysteretische Veränderungen sind durch mechanische Erschütterungen um so leichter zu beseitigen, je frischer sie sind. Mneme selbst ist also nichts Vitales; vital ist nur das Wiederaufleben der Erinnerung. Wir hätten also — bildlich gesprochen — anzunehmen, daß das Gedächtnis eine tote Registratur ist, in der lebende Bibliothekare walten, die bei Bedarf die benötigten Engramme ekphorieren. Was die Mnemetheorie ganz und gar nicht erklären kann, ist das Bewußtsein. Bleuler geht darüber sehr einfach hinweg mit dem Hinweis, daß die Seelenvorgänge sich doch größtenteils im Unbewußten abspielen. Hieran kann an sich kein Zweifel sein. Aber ist damit das Bewußtsein erklärt? In früheren Werken sagt Bleuler, das Bewußtsein sei nur durch den Standpunkt des Beschauers gegeben: Wir sähen uns von innen. Wie kommt es aber, daß ich, daß meine Mitmenschen, daß die Hunde und Pferde um mich her ein solches Innen sind, die Elektro-, Benzin- und Dampfmotoren um mich herum aber nicht ? Ich verweise auf meine früheren Ausführungen (Anfang dieses Kapitels sowie Kap. II, Dualismus von Seele und Außenwelt) und auf die nicht anders als durch Evidenz zu begründende Tatsache, daß außer mir noch meine Mitmenschen und die höheren Tiere „empfinden", sowie auf die aus dieser Tatsache abgeleitete Gewißheit der Existenz einer Außenwelt. Diese Dinge hatten wir ja oben ausführlich erörtert (Kap. I und II).
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C . D a s biologische Freiheitsproblem. V . Ist die Entelechie ein unveränderliches Naturgesetz von allgemeiner Gültigkeit? Von besonderer Bedeutting für unser Problem ist das Verhältnis von Entelechie und Kausalität. D r i e s c h stellt es in der zweiten Auflage der „Philosophie des Organischen" folgendermaßen dar: i. Es gibt nur eine Entelechie für die Gesamtheit der Organismen, sie ist nur sozusagen abgestuft, entsprechend den verschiedenen Arten; nicht aber gibt es für jedes Individuum eine eigene, besondere Gesetzlichkeit. Infolgedessen gibt es auch keine echte Individualität. 2. Die Entelechie wirkt „in den Raum hinein". Sie ist — von der Zeit aus gesehen — unwandelbar und gilt daher auch mit eindeutiger Bestimmtheit. Infolgedessen wird das Kausalprinzip von der Eigengesetzlichkeit des Lebens nirgends unterbrochen. Wird ein bestimmter Organismus von einem bestimmten Reiz getroffen, so ergibt sich die Reaktion ebenso zwangsläufig wie die Bewegung einer Maschine unter bestimmten physikalischen Einwirkungen. Verschieden ist nur der Ablauf der Vorgänge, weil die Gesetze andere sind. D r i e s c h selbst sagt (Philosophie des Organischen, II. Aufl., S. 492): „Wie steht denn nun aber Entelechie zu Kausalität? Ist sie selbst eine besondere Art der letzteren? Diese Frage ist in gewissem Sinne eine bloße Wortfrage. N e n n t man . K a u s a l i t ä t ' nur das eindeutig-notwendige Verknüpftsein früherer Raumesgeschehnisse mit späteren Raumesgeschehnissen, dann äußert sich Entelechie natürlich nicht .kausal'. Aber ich meine, es ist sozusagen praktischer als U r s a c h e (causa) irgendeiner erfahrbaren Veränderung alles das zu bezeichnen, was sich zu ihr wie ein zureichender G r u n d verhält. Dann besteht zwischen Entelechie und den mate-
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riellen Geschehnissen, welche wir am Organismus erfahren können, ein Kausalverhältnis." Das heißt also: Nicht nur physikalische, sondern auch biologische Gesetzlichkeit bedingt Kausalität. In gleicher Weise spricht sich auch E. B e c h e r aus, den man wohl neben D r i e s c h als wichtigsten neueren Systematiker des Vitalismus bezeichnen darf. Beide lehnen das Prinzip der Freiheit ab. D r i e s c h formuliert seine Worte folgendermaßen (Philos. d. Organischen, II. Aufl., S. 591): „Die Ordnungslehre oder Logik würde sich aufgeben, ließe sie Freiheit zu. Durch Äußeres und durch das beharrliche eigene ,Wesen' muß jede Änderung bestimmt sein, die ein Gegenstand der empirischen Wirklichkeit erfährt, bald mehr durch das eine, bald mehr durch das andere." E s ist heute historisch interessant, daß trotz derartiger Grundansichten der Neovitalismus in seinen ersten Veröffentlichungen von den meisten Biologen wie eine Art von tollem Aberglauben behandelt wurde. Wäre der Zeitgeist ein anderer gewesen, so hätte D r i e s c h vielleicht von Anfang an kühnere Gedanken gewagt und wäre wohl der Philosophie der Freiheit schon damals etwas mehr entgegengekommen. Später, in der zweiten Auflage seiner kleinen Schrift „Das Problem der Freiheit" nimmt er einen anderen Standpunkt ein. Erstens gibt er in Anlehnurfg an K a n t den Begriff der Freiheit als einer Bestimmung durch eigenes Gesetz ( = den intelligiblen Charakter im Sinne K a n t s ) ohne weiteres zu, wenigstens für den Menschen. Das setzt aber — im Gegensatz zu den Ausführungen in der „Philosophie des Organischen" — echte Individualität voraus! Früher hatte Driesch ausdrücklich eine individuelle Eigengesetzlichkeit geleugnet. Zweitens gibt er die Möglichkeit zu, daß die biologischen Gesetze weniger starr sein könnten als die physikalischen, und zwar erörtert er folgenden, sehr wichtigen Gedanken: Die Abstammungslehre zeigt uns, daß die Arten im Laufe der Zeit ihre Beschaffenheit geändert haben. D a aber a n z u nehmen ist, daß die B e s c h a f f e n h e i t der L e b e w e s e n eng a b h ä n g t von der ihnen zugrunde liegenden E n t e l e c h i e , so darf man annehmen, daß auch diese sich a l l m ä h l i c h gewandelt h a t (wenigstens von der
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Zeit aus gesehen). Da die Darwinsche Erklärung der Abstammungsgeschichte ebenso unzulänglich ist wie andere Erklärungsversuche (vgl. O. Hertwig, Das Werden der Organismen), so ist auch wirklich nicht einzusehen, wieso die Tiere und Pflanzen sich gewandelt haben sollten, wenn nicht auch das Gesetz, daß ihre Gestalt und Organisation bestimmt, ein anderes geworden wäre. An der Richtigkeit des biologischen Entwicklungsgedankens selbst, d.h. am Darwinismus im weiteren Sinne, zweifeln heute die wenigsten Naturforscher. Denn ganz abgesehen von allem übrigen erdrückt das ungeheure paläontologische Beweismaterial jeden Widerspruch. Dagegen bekennen sich nur noch wenige zu jenem eigentlichen Darwinismus, wie er namentlich durch Weismann und De Vries seine radikale Prägung erhalten hat, d. h. zur Hypothese, daß durch ungenaues Arbeiten der Natur erbliche Veränderungen der Keimesanlage ( = Mutationen) entstehen, von denen die meisten im Kampf ums Dasein mit ihren Trägern zugrunde gehen, während nur die nützlichen Aussicht haben, sich zu erhalten. Dieses Prinzip soll die Entwicklung der Arten von einfachsten Anfängen bis zur heutigen Differenziertheit vorangetrieben haben! Bei näherer Prüfung hat sich aber diese Lehre als allzu unwahrscheinlich erwiesen. Plötzliche Mutationen sind in Wirklichkeit überhaupt kaum jemals mit voller Eindeutigkeit nachgewiesen worden. Sie mögen vorkommen. Aber wenn sie nicht zielgerichtet sind, dann wird nur in den allerseltensten Fällen (die wegen ihrer ungeheuren Seltenheit schon kaum zur Erklärung ausreichen) einmal eine nützliche Eigenschaft zustande kommen. Aber auch diese wird nur ausnahmsweise das damit ausgerüstete Individuum vor dem Untergang bewahren. Denn in der freien Natur gehen ja in Anbetracht der großen Nachkommenschaft (von der durchschnittlich auf ein Elternpaar nur ein Paar Nachkommen erhalten bleiben) bei weitem die meisten Organismen zugrunde, ehe sie das fortpflanzungsfähige Alter erreicht haben. Die neue, nützliche Eigenschaft, die die Entwicklung der Arten vorwärtsbringt, soll aber nach Darwin nicht die Larve, sondern das fertige Tier auszeichnen. Man lese bei Hertwig und anderen Kritikern darüber nach. Nun greift man gern 5i
auf die alte Hypothese von L a m a r c k zurück. L a m a r c k hatte gemeint, daß Anpassungen, wie wir sie bei Tieren und Pflanzen unter unseren Augen verfolgen können (z. B. dichteres Wachsen des Winterpelzes, wenn die Kälteeinwirkung stärker wird usw.), mitunter erblich werden können. Der Glaube an die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften scheint ja den meisten naiven Menschen so selbstverständlich, daß sie nur schwer zu überzeugen sind, daß es sich hier um eine mangelhaft begründete Hypothese handelt. Die Beweise sind spärlich, sie sind noch obendrein in Mißkredit geraten, weil eines der bereits von der Wissenschaft anerkannten E x perimente sich nachträglich als Fälschung herausgestellt hat. Immerhin scheint in seltenen Fällen doch eine echte Vererbung von Eigenschaften, die durch Anpassung an eine neue Umwelt erworben sind, vorzukommen. Z. B. kann man Mäuse an ungewöhnliche Temperaturen gewöhnen, und diese Gewöhnung ist erblich. Goebel hat unter dem Titel „ L a marckius redivivus" (in der Dennert-Festschrift 1931) eine Anzahl von anderen Beispielen erwähnt. Immerhin scheint es fraglich, ob der Lamarckismus im ganzen eine bessere Erklärungsmöglichkeit bietet als der Darwinismus, der fraglos sehr viele Teilwahrheiten enthält. Die Wirksamkeit der Auslese im Kampf ums Dasein ganz zu leugnen, ist sicher noch viel verkehrter als sie zum allein wirksamen Prinzip zu erklären. Wer die ganze organische Entwicklung restlos kausal erklären will — sei es nun im Sinne von D a r w i n oder von L a m a r c k (denn auch die Anpassung ist, wie wir oben sahen, k a u s a l erklärbar, wiewohl nicht durch physikalische Kausalität !) —, der wird bei folgerichtigem Nachdenken zu schwierigen Konsequenzen geführt. Er müßte annehmen, daß schon damals, als unser Sonnensystem noch ein Weltennebel war, die Ursachen für das heutige Leben und Treiben in allen Einzelheiten, ja für jeden Gedanken, den wir denken, schon vorgebildet waren. E r würde also bezüglich des Kausalnexus zu einer Art Präformationslehre — ähnlich derjenigen Albrecht von H a l l e r s — gedrängt. Derartige Gedanken sind kürzlich von astronomischer Seite folgerichtig zu Ende gedacht worden. Da sich nachweisen ließ, daß unser Sonnensystem
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seine Entstehung in kausaler Beziehung nur einer Kette allerhöchster Unwahrscheinlichkeiten verdanken kann, mußte man annehmen, daß bereits die Verteilung der Moleküle im Weltnebel nicht etwa eine planlose gewesen sei wie in einer gewöhnlichen Gaswolke, sondern so, daß darin die geradezu ungeheuerlich sonderbare Ursache für die höchst unwahrscheinliche Entstehung einer lebenschaffenden Welt gegeben war. Das bedeutet aber, daß die restlos kausale Entstehimg der Welt überhaupt nur denkbar ist entweder als planvollabsichtlicher Schöpfungsakt von ganz ungeheurer Kompliziertheit — unendlich viel komplizierter als der biblische; eine solche Annahme scheidet wegen ihrer allzu großen Unwahrscheinlichkeit aus. Oder aber man muß anerkennen, daß bei der Entwicklung des Ganzen außer der Kausalität noch eine andere ordnende Macht, d. h. echte Finalität, im Spiele gewesen sein muß24). Driesch erwähnt derartige Gedankengänge noch gar nicht; er kommt schon auf Grund des zoologischen Tatsachenmaterials zu der Ansicht, daß Bergsons Hypothese der biologischen Freiheit28") (wenn er sie auch in anderen Punkten ablehnt) wenigstens für die organische Entwicklung die richtige ist. Wir wollen uns auch vorläufig noch keineswegs auf die eben erwähnten astronomischen Berechnungen26) stützen und lediglich die neueren Schlußfolgerungen von Driesch weiter erörtern. Das Gesetz, das die Gesamtheit der organischen Entwicklung beherrscht, würde nach seiner Auffassung — von der Zeit aus gesehen — veränderlich erscheinen26b), m. a. W., die organische Entwicklung als Ganzes wäre nicht kausal determiniert, sondern frei. In Anbetracht der kurzen Zeitspanne, die das Leben des einzelnen dauert, bleibt freilich von dieser Freiheit für das Einzelindividuum so gut wie nichts übrig; im konkreten Einzelfall könnten wir praktisch mit einer sicheren Gültigkeit der Kausalität rechnen. Auf diese Weise erledigt sich scheinbar das biologische Freiheitsproblem, soweit es das Individuum betrifft, sehr rasch. Und doch liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Denn erstens bleibt es durchaus fraglich, ob das Individuum 53
von jener Gesetzlichkeit, die für seine Art und für sein Zeitalter gilt, so vollkommen beherrscht wird, wie mein das zunächst annehmen möchte. Denkbar wäre es ja auch, daß das Einzelwesen nur zum Teil der Gesamtentelechie unterliegt, zum kleinen Teil aber auch einem eigenen, individuellen Gesetz, das nur einen ganz beschränkten Gültigkeitsbereich hätte. Und zweitens könnte dieses eigene Gesetz — von der Zeit aus gesehen — auch wiederum wandelbar erscheinen wie die Gesamtentelechie im Ganzen. Zunächst freilich klingt ein solcher Gedanke den meisten Naturforschern äußerst fremdartig. Auch der vitalistisch orientierte Biologe zweifelt im allgemeinen nicht daran, daß die verschiedenen Exemplare einer Art alle im Prinzip der gleichen Naturgesetzlichkeit unterliegen, und daß die äußerlich sichtbaren Unterschiede lediglich auf der Anpassung an wechselnde Umweltfaktoren oder auf sonstigen äußeren Einflüssen beruhen. Ja, für denjenigen, der im physiologischen Laboratorium zu arbeiten gewohnt ist, bedeutet Eigenart nichts anderes als jene Abweichung von der durchschnittlichen Norm, wie sie jedes Stück eines noch so sauber gearbeiteten, industriellen Massenfabrikats immer noch erkennen läßt. Daß diese Auffassung großenteils zu Recht besteht, wird wohl niemand bestreiten, der auch nur einige Erfahrung in der praktischen Naturwissenschaft besitzt. Aber trotzdem fragt es sich, ob damit das Wesen der Individualität restlos richtig erfaßt wird. Denn es sprechen manche Dinge dafür, daß das Individuum nicht ausschließlich durch generelle Gesetzlichkeit, sondern darüber hinaus außerdem auch noch durch ein individuelles Eigengesetz determiniert ist. Es wäre erstens an jene, von Leibniz besonders betonte Tatsache zu erinnern, daß es nicht zwei Exemplare der gleichen Art gibt, die miteinander übereinstimmen, j a nicht zwei Blätter desselben Baumes, die einander gleichen. Doch könnte man hier immer wieder einwenden, daß die Verschiedenheiten durch die immer wieder andere Umwelt verursacht seien. Sehr viel mehr Beweiskraft haben jene Vorgänge, die wir bei Transplantationen beobachten. Zwar gelingt es verhältnismäßig leicht, die Extremitätenknospe einer Salamanderlarve auf einer anderen zur Anheilung zu bringen. Wenn wir aber bei Säugetieren 54
einen Körperteil oder ein Gewebsstück von einem Exemplar aufs andere übertragen, so ergeben sich merkwürdige Schwierigkeiten. Während wir bei ein und demselben Individuum unter Befolgung gewisser chirurgischer Vorschriften Haut vom Oberschenkel verhältnismäßig leicht am Rücken zur Anheilung bringen können und umgekehrt, so gelingt die Verpflanzung ungleich schwerer, wenn wir sie von einem Exemplar aufs andere vornehmen — und sei es ein durch In- und Inzestzucht mit ihm aufs nächste verwandtes Geschwistertier. Zwar wächst der Hautlappen zunächst meistens auch ganz schön fest, sehr oft aber geht nach wenigen Wochen der empfangende Organismus dagegen vor wie gegen einen Fremdkörper und stößt ihn ab27). Abderhalden hat auf Grund serologischer Untersuchungen gesagt, jeder Mensch habe sein eigenes Eiweiß. Ob diese Formulierung richtig ist, dürfte zwar sehr fraglich sein. Aber sicher ist, daß die lebenden Zellen eines Menschen auf die des anderen wie Fremdkörper wirken. Diese Dinge beweisen, daß schon rein körperlich jedes Individuum (wenigstens bei höheren Tieren) seine Eigenart hartnäckig verteidigt. Das hätte aber wenig Sinn, wenn nicht die Entelechie wenigstens bis zu einem gewissen Grade eine individuelle wäre. Damit nähern wir uns einem Begriff der Entelechie, der dem der Monade von Leibniz ähnelt28). Selbstverständlich dürfen wir darüber nicht übersehen, daß zum weitaus überwiegenden Teil alle Organisation eines Individuums einer allgemeingültigen Kausalität unterworfen ist. Eine experimentell-biologische Arbeit hat überhaupt nur so weit einen Sinn, als sie eine generelle Gesetzlichkeit in der Biologie voraussetzt, es sei denn, daß sie ausdrücklich den entgegengesetzten Zweck hat und nachweist, daß die individuellen Unterschiede in dem betreffenden Fall größer sind als die Übereinstimmung. Ganz besonders muß betont werden, daß auch die Entstehung eines jeden Individuums — die erbliche Bedingtheit seiner Eigenschaften — ebenso weitgehend einer allgemeinen Kausalität unterliegt wie das übrige biologische Geschehen. Die physische Inkarnation der Entelechie pflanzt sich von Generation zu Generation in einer Weise fort, die durch exakt gültige Vererbungsgesetze determiniert oder wenigstens weitgehend limitiert wird. Echte Individualität ist unter den Einzelerscheinungen, mit denen wir es in der Biologie zu tun haben, eine seltene Ausnahme. Sie entwickelt sich zwar im Laufe des Lebens bei jedem Individuum in gewissem Grade. Aber auch der Mensch, ja selbst die originellste
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Persönlichkeit ist nur zum kleinen Teil echt individuell. Auch der Geniale tut im gewöhnlichen Leben das meiste genau so wie jeder Spießbürger, und diejenigen alltäglichen Verrichtungen, denen er seine eigene Note aufprägt, stimmen mit denen anderer Menschen zu mehr als neun Zehnteln überein. Aber wenn auch beim Menschen (und in noch höherem Maße bei den Tieren) der allergrößte Teil, ja wenn 99 und 99,9% aller Vorgänge, die wir im Organismus feststellen können, einer generellen Gesetzlichkeit unterliegen — die Entwicklung nicht ausgenommen — , so s e t z t d o c h d a s I n d i v i d u e l l e a n so e n t s c h e i d e n d e n P u n k t e n ein, d a ß d a d u r c h a l l m ä h l i c h G e s t a l t und C h a r a k t e r ihre eigene P r ä g u n g erhalten. Originalität und generelle Gesetzlichkeit sind die beiden Gegenpole der Entelechie. L e i b n i z sah vor allem die Originalität: Jedem Blatt an einem Baum schrieb er eine eigene „Monade" zu. Die heutige Naturwissenschaft will nur die generelle Gesetzlichkeit anerkennen. R ä d l sagt (Geschichte der biologischen Theorien II, S. 529): „Werden vier Äste der" (durch Sprosse sich vermehrenden) „Pflanze in die Erde gesteckt, so entstehen nicht vier neue Entelechien, sondern es geschieht viermal dasselbe." Diese Auffassimg ist zwar für die Denkgewohnheiten des modernen Biologen bequemer, sie nimmt aber keine Rücksicht auf jene oben beschriebenen Erfahrungen bei Transplantationsversuchen, sie reicht also mindestens bei den höheren Tieren nicht aus. Wer diesen Dingen Rechnung tragen will und sich doch nicht zu einem Naturgesetz bekennen kann, das sowohl generelle wie individuelle Seiten hat, der könnte auch noch auf andere Weise dem Gegensatz zwischen Originalität und allgemeingültiger Gesetzlichkeit gerecht werden: er müßte im Sinne der Theosophie annehmen, daß die beiden Prinzipien aus verschiedenen Welten abzuleiten wären, die einander über- bzw. untergeordnet sind. Da aber eine solche Erörterung auf sehr unsicherem Boden geführt werden müßte, und da sie für unsere Fragestellung keine Bedeutung hat, können wir darauf verzichten. Für uns kommt es lediglich darauf an, ob diejenige Macht, die (einem Naturgesetz gleich) in den Organismen auf die Substanz einwirkt, ausschließlich generelle oder aber auch individuelle Seiten hat; dies letztere wird durch die Erfahrung sehr wahrscheinlich gemacht. Wir wollen auch gar nicht unbedingt daran festhalten, daß die Entelechie dasselbe sei wie ein Naturgesetz; denn man kann gegen diese Auffassung letzten Endes auch berechtigte Bedenken erheben. Für die meisten Betrachtungen können wir sie aber am ehesten einem Naturgesetz vergleichen.
VI. Das biologische Freiheitsproblem. Der Naturforscher entschließt sich schon sehr ungern, für die Welt zwei verschiedene Arten von Ordnungen zuzu-
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geben — eine physikalische und eine vitale. Sehr viel schwerer fällt es ihm aber, nun noch für jede Gattung, ja für jedes Individuum neben einer allgemeinen eine besondere Gesetzlichkeit anzuerkennen. Wenn schon mit der Spaltung in physikalische und vitale Kausalität die Welt in zwei Teile auseinanderzureißen droht, so scheint sich mit der Aufsplitterung in einzelne Autonomien überhaupt jede übersehbare Ordnung aufzulösen. Aber die Natur fragt nicht danach, ob ihre Struktur dem Forscher genehm ist. Ihm bleibt nichts übrig als seine Gedanken der Wirklichkeit anzubequemen, auch wenn diese reicher ist, als es seinen Wünschen nach Vereinfachung entspricht. Im übrigen verträgt die Naturwissenschaft, wie wir noch sehen werden, den Begriff echter Individualität sehr wohl. Zunächst freilich ist zuzugeben, daß die echte Originalität eines Objektes dem Naturforscher Schwierigkeiten machen kann. Denn der exakte Experimentator muß von seinem Standpunkt aus leugnen, daß sich die Autonomie eines Individuums mit Gesetzlichkeit überhaupt verträgt. J e d e r Org a n i s m u s e n t w i c k e l t , v e r ä n d e r t sich, solange er lebt. Das einzelne Leben ist infolgedessen gerade in dem P u n k t e , wo es i n d i v i d u e l l ist, e t w a s E i n maliges. Die exakte Naturwissenschaft kann aber erst dann von einem Gesetz sprechen, wenn bei Wiederholung annähernd gleicher Ursachen immer wieder annähernd gleiche Wirkungen beobachtet werden. Gesetzlichkeit einer individuellen Entwicklung bedeutet daher für den Physiker, Chemiker und auch für den Physiologen eine contradictio in adjecto! Das gleiche gilt aber nicht nur für die Begriffsbildung aller exakten Disziplinen, sondern auch für die des täglichen Lebens, soweit sie sich auf einer Erfahrung nach Regeln aufbaut. Alle Erfahrung wird hinfällig, wo uns etwas Einzigartiges entgegentritt. Auch das Kausalprinzip im Sinne K a n t s verträgt sich nicht mit einer Gesetzlichkeit, die sich nur einmal offenbart. K a n t sagt (S. 240 der Orig.-Ausg. d. Kr. d. r. V.): „Wenn wir also erfahren, daß etwas geschieht, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, worauf es nach einer Regel folgt. Denn ohne dieses würde ich nicht R a b 1, Willensfreiheit.
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von dem Objekt sagen, daß es folge; weil die bloße Folge in meiner Apprehension, wenn sie nicht durch eine Regel in Beziehung auf ein Vorhergehendes bestimmt ist, keine Folge im Objekt berechtigt." Hier sind wir an einem entscheidenden Punkte angelangt. Ein individuelles Gesetz ist keine Regel, es ist zum mindesten nicht als Regel erfahrbar. Die erste Bedingung einer Regel ist ihre Konstanz, ihre Beharrlichkeit. Von unserer räumlichzeitlichen Welt aus betrachtet sind zwar alle physikalischen, aber nicht alle biologischen Gesetze beharrlich; ein wesentlicher Teil dessen, was wir Entelechie nennen, erscheint, von der physischen Welt aus gesehen, veränderlich. Wieweit vielleicht in der Transzendenz die Autonomie des Individuums etwa doch beharrlich ist, können wir natürlich nicht wissen. Sicher ist vorläufig nur, daß wir überhaupt nicht befugt sind zu behaupten, daß die Entelechie selbst konstant oder wechselnd sei. Denn unsere Vorstellung von Veränderung und Beharren stammt aus der physischen Welt und ist auf transzendente Sphären nicht ohne weiteres anwendbar, wenigstens nicht auf diejenigen, aus denen sich die Eigengesetzlichkeit des Lebens herleitet. Das führt uns zu Schlußfolgerungen, die große Ähnlichkeit haben mit jener Kritik, die Schrödinger und H e i s e n berg an der Kantschen Philosophie geübt haben. Auf Grand der modernen physikalischen Forschungen haben sie gesagt: Für die Welt der Erscheinungen gelten nur relativ ungenaue Wahrscheinlichkeitsregeln. Dagegen wäre es denkbar, daß die „Dinge an sich" exakt kausal determiniert sind. Wir müssen jetzt in Konsequenz unserer bisherigen Ausführungen erklären: Es wäre zwar denkbar, daß der transzendente (d. h. in der Nomenklatur Kants: der intelligible) Charakter des Individuums streng kausal determiniert ist. Für eine empirisch sich entwickelnde Individualität gilt dagegen keine beharrliche Gesetzlichkeit. Der empirische Charakter ist also frei; ob der intelligible, können wir nicht wissen. Freiheit steht nun zwar zweifellos im Gegensatz zu Kausalität, aber dieser Gegensatz ist nicht das Entscheidende: Die Hauptsache ist autonome Ordnung und Gestalt. Chaos
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ist etwas anderes als Freiheit. Naturforscher und Philosophen, die wie Schopenhauer eine echte Autonomie des Individuums nicht anerkennen, müssen folgerichtig auch bestreiten, daß es eine Freiheit gibt. Es ist aber falsch, wenn sie versuchen, den Freiheitsbegriff für ein völlig chaotisches Geschehen aus dem Nichts zu reservieren und ihn dann ad absurdum zu führen. Freiheit bedeutet Autonomie, Kausalität Heteronomie eines Vorgangs. Jeder nach Regeln verlaufende, wiederholbare Vorgang ist heteronom, ist unfrei. Ein autonomes Geschehen ist grundsätzlich nicht reproduzierbar, aber darum keineswegs gestaltlos. Dies ist es, was die Philosophen der Freiheit immer gemeint haben, und worin sie immer mißverstanden worden sind. Als Beleg dafür seien einige Stellen aus Werken der wichtigsten Vertreter der Freiheitsphilosophie wörtlich angeführt. Zunächst S c h e l l i n g (Philos. Untersuchungen über das Wesen der Freiheit usw. 1809, Ausg. Braun, „Deutsche Bibliothek", S. 260): „Dies muß feststehen, . . . daß die einzelne Handlung aus innerer Notwendigkeit des freien Wesens und demnach selbst mit Notwendigkeit erfolgt, die nur nicht, wie noch immer geschieht, mit der empirischen, auf Zwang beruhenden verwechselt werden muß . . . Aber eben jene innere Notwendigkeit ist selber die Freiheit." — F i c h t e (Sämtl. Werke Bd. V I , 1 1 ) sagt: „Der Mensch . . . trägt tief in der Brust einen Götterfunken, . . . sein Gewissen. Dies gebietet ihm schlechthin und unbedingt — dieses zu wollen — jenes nicht zu wollen; und dies frei und aus eigener Bewegung, ohne allen Zwang außer ihm " (cit. nach W a l l n e r , F i c h t e als politischer Denker, Halle 1926). H e g e l billigt allerdings in der Hauptsache nur dem überindividuellen Geiste volle Freiheit zu, also in dem Sinne, wie sie D r i e s c h der sich entwickelnden Gesamtentelechie zuschreibt. Doch ist in seiner Philosophie das Einzelindividuum gegenüber der physischen Umgebung frei: „Die Materie hat ihre Substanz außer ihr; der Geist dagegen ist das Beisichselbstsein, und dies eben ist Freiheit. Denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein anderes, das ich nicht bin, und kann nicht ohne solch ein Äußeres sein. Frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin" (Philos. d. Geschichte, Ausg. Lasson, Leipzig 1917, S. 32). Ganz scharf betont S c h l e i e r m a c h e r den hier vertretenen Standpunkt (Monologen, Reclamausg. S. 54): „Wie könnt ich auch wollen, was jenen ersten Willen, durch den ich bin der ich bin, rückgängig machen müßte ? Wem diese Beschränkung als fremde Gewalt erscheint, der ist mir sonderbar verwirrt." E s ist vielleicht etwas kühn, alle diese Sätze, die aus verschiedenen Begriffswelten stammen, so schroff nebeneinander zu stellen. Aus allen geht aber eindeutig hervor, daß diejenigen Philosophen, die als die Vertreter der Freiheits5*
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philosophie 3 *) gelten, damit die Autonomie, die Eigengesetzlichkeit, im Gegensatz zur Heteronomie, der Fremdgesetzlichkeit meinen. Ihre Lehren stehen im unvereinbaren Gegensatz zu denjenigen philosophischen Systemen, die die Eigenart eines Individuums nicht auf ein individuelles Gesetz beziehen, sondern auf zufällige, äußerlich bedingte Abweichung von der Norm ( S c h o p e n h a u e r , D r i e s c h , M u c h , B l e u l e r , C a r u s u . v . a . ) , auf eine A r t Fabrikationsfehler bei der Massenfabrikation der Natur.
Um nicht mißverstanden zu werden, betone ich, daß nicht die Einmaligkeit eines Vorganges dem Kausalprinzip widerspricht, sondern die Individualität des Gesetzes, das ihm zugrunde liegt. Eine bestimmte Sonnenfinsternis ist in ihrer historischen Einmaligkeit zwar auch nicht wiederholbar. Aber die Regeln, nach denen sie abläuft, bestätigen sich allenthalben in der Natur; zum mindesten haben wir Grund zur Annahme, daß diese Regeln auch sonst uneingeschränkt gelten. Bei dem aber, was das Individuum eben zu diesem Individuum macht, scheint noch irgend etwas im Spiele zu sein, das schon als Bestimmungsgrund weder allgemeingültig noch auch beharrend zu denken ist, und das daher den wichtigsten Charakterzug der Kausalität vermissen läßt. V I I . Biologisches Freiheitsprinzip und natura wissenschaftliche Forschung. Nach dem was wir in den vorigen Kapiteln festgestellt hatten, ist es wahrscheinlich, daß es Dinge gibt, die ebendarum grundsätzlich nicht wiederholbar sind, weil die sie beherrschende Gesetzlichkeit nur für den speziellen Fall, d. h. nur an bestimmten Orten und zu bestimmter Zeit gilt. Ist nun ein solches „autonomes" Geschehen überhaupt noch vernunftgemäß erfaßbar? K a n t leugnet, daß ein Ereignis sich verstehen läßt, wenn nicht zum mindesten „im vorhergehenden Zustand etwas vorausgesetzt wird, worauf es jederzeit, d. i. nach einer Regel folgt." Denn andernfalls könne „keine Ordnung in unseren Vorstellungen" entstehen. I s t ohne E r f a s s u n g des K a u s a l v e r h ä l t n i s s e s w i r k l i c h eine w i s s e n s c h a f t l i c h e B e t r a c h t u n g s w e i s e u n m ö g l i c h ? Ein Naturforscher kann z. B. vom Ausbruch eines Vulkans eine Beschreibung geben, in der er die Dinge 60
nach der Zeitfolge, in der er sie erlebte, darstellt. Ob und wieweit aus der Zeitfolge ein ursächliches Verhältnis, aus dem post hoc ein propter hoc abgeleitet werden kann, ist zunächst fraglich. Ja, es ist überhaupt eine Voraussetzung für alles saubere naturwissenschaftliche Arbeiten, daß der Forscher sich zum mindesten in einem großen Teil seines Werkes darauf beschränkt, möglichst genau zu beschreiben, ohne vorlaut die Frage zu stellen, was Ursache und was Wirkung sei. Der Physiker K i r c h h o f f ging so weit, daß er eine genaue B e s c h r e i b u n g , die gar nicht nach Ursache und Wirkung fragt, bereits für die beste E r k l ä r u n g hielt, und viele bedeutende Naturforscher haben ihm zugestimmt. Das Erkennen des Kausalverhältnisses ist also keine notwendige Voraussetzung für die wissenschaftliche Erfassung eines Objektes. Nun hat aber für den Physiker die Beschreibung eines Objektes im allgemeinen nur dann einen Sinn, wenn das beobachtete Ereignis grundsätzlich wiederholbar ist. Die Frage ist, ob es für den Biologen irgendwelchen Wert hat, an einem lebendigen Objekt gerade das Einmalige, das Individuelle zu beschreiben. Soll er sich nicht vielmehr darauf beschränken, die übereinstimmenden Eigenschaften herauszuarbeiten, und ist nicht für ihn der Begriff einer individuellen Autonomie von vornherein wertlos? Wer bis hierher noch zögernd mit uns gegangen ist, wird nunmehr den Augenblick für gekommen erachten, die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung festzulegen. E r wird sich vielleicht darüber freuen, daß unter den hier entwickelten Gesichtspunkten die Grundideen der Geisteswissenschaften nicht nur als Fiktionen im Sinne V a i h i n g e r s , sondern als Wahrheiten gelten dürfen. Er wird aber bestreiten, daß wir Naturforscher mit derartigen Theorien etwas Positives anfangen können. Und wenn ich nunmehr versuche, ihre Notwendigkeit auch für die Biologie darzulegen, so wird man mich mit einem Hagel von Argumenten überschütten, den man schußbereit aus R i c k e r t s Werk: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" (II. Aufl., Tübingen, Mohr 1913) entnehmen kann. Wir müssen uns daher mit dieser begriffsphilosophischen Arbeit auseinandersetzen, wobei wir leider auf die sehr verlockende eingehende Kritik des 61
ganzen Werkes in seinen Einzelheiten verzichten müssen, weil eine solche einen sehr viel größeren Umfang einnehmen müßte, als diese Abhandlung es erlaubt. R i c k e r t behauptet, die Geisteswissenschaften ( = Kulturwissenschaften) hätten die Besonderheiten der einmaligen Ereignisse, die Naturwissenschaften ihre allgemeine Gesetzmäßigkeit zu erforschen. Er gibt zwar zu, daß die Einzelerscheinungen gleichermaßen den Ausgangspunkt für beide bilden. J a , sogar „das Material, das in der Geschichte vorliegt, kann durchwegs als Natur aufgefaßt und einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung unterworfen werden. Das sollte man nie bestreiten. . . . Nur darf das eben niemals Geschichte genannt werden" (S. 184). Die Wesensverschiedenheit von Natur- und Geisteswissenschaften soll also nicht so sehr im Stoff als vielmehr in der Betrachtungsweise liegen. „Gewiß sucht die Naturwissenschaft auch der Mannigfaltigkeit der einzelnen Dinge gerecht zu werden, ja, fast überall ist die genaue Beobachtung und Analyse des einzelnen für die Ausbildung der allgemeinen Theorien die unentbehrliche Grundlage. Nur das meinen wir, daß so entstehende Kenntnisse in der Naturwissenschaft niemals Selbstzweck, sondern immer nur Mittel oder Vorstufen zur Bildung allgemeiner Begriffe sind, die Gesetze enthalten." Diese Betrachtungsweise leuchtet dort ein, wo wir sie auf Disziplinen anwenden, die man (wie Physik und Chemie) unter dem Namen der „Naturlehre" der „Naturgeschichte" (z. B. Zoologie und Botanik) gegenübergestellt hat. Bedenklich ist es jedoch, sie auch für Geologie, Geographie, Paläontologie und Entwicklungsgeschichte anzuwenden. R i c k e r t gibt hier selbst gewisse Unstimmigkeiten zu. Um aber seine These zu retten, zählt er die eben genannten Disziplinen zur Geschichte, was immerhin gewagt erscheint, wenn er die Geschichte eine „Kulturwissenschaft" nennt! Direkt falsch ist nun aber R i c k e r t s Einstellung zur Morphologie, die er als eigentliche Wissenschaft überhaupt nicht würdigt. Selbstverständlich muß der Morphologe erst einmal sein Material sammeln. Er muß also den Bauplan eines Tieres ermitteln, d. h. er stellt das Gesetz fest, wonach die Einzelexemplare einer Spezies gebaut sind. Aber dabei bleibt er nicht stehen. Die eigent-
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liehe Wissenschaft beginnt für ihn erst, wenn er die verschiedenen Arten vergleicht und in der vergleichenden Morphologie die individuellen Charaktere herausarbeitet. Also nicht so sehr das allgemeine G e s e t z interessiert ihn, als die individuelle B e s o n d e r h e i t , wobei es gleichgültig ist, ob diese Besonderheit im einzelnen Stück oder in der ganzen Gattung gegeben ist. Seine Begeisterung für ein seltenes Prachtexemplar, ja sogar gerade für ein Unikum, wenn dieses durch seine Eigenart einen interessanten anatomischen Charakter hat, beweist, daß das generell gültige Gesetz nicht die Hauptsache für ihn bedeutet. Ja, man kann sogar sagen, daß sich die spätere naturwissenschaftliche Begabung eines Kindes in seiner Anteilnahme an Raritäten und Besonderheiten äußert. — Gewiß, auch der Morphologe braucht generelle Naturgesetze, aber nur zu dem Zweck, eine bessere Handhabe für die Erforschung der individuellen Charaktere zu haben. Es geht ihm dabei wie dem Historiker, der die Regeln der lateinischen Grammatik für sein Quellenstudium kennen muß. Man könnte R i c k e r t s Behauptungen trotzdem noch einigermaßen gelten lassen, wenn nicht das gleiche Einteilungsprinzip, das er gefunden zu haben glaubt, sich schon seit alters her innerhalb der Naturwissenschaften selbst aufs beste bewährt hätte : Es ist die Trennung in Naturlehre und Naturgeschichte ! R i c k e r t will die Naturgeschichte aus den Naturwissenschaften herausreißen und zu einem kümmerlichen Anhängsel der Historie machen. Er hat es leider fertiggebracht, daß die Historiker und Biologen, die schon immer leicht aneinander vorbeigeredet haben, nunmehr durch eine Art babylonischer Sprachverwirrung gänzlich voneinander getrennt werden, zum Schaden unserer Kultur ! Allerdings läßt sich nicht leugnen, daß während der letzten hundert Jahre in den Naturwissenschaften die „nomothetischen" Disziplinen gegenüber den beschreibenden sehr viel größere Bedeutung gewonnen haben. Das rührt daher, daß sich durch Ermittlung zuverlässiger Regeln ungleich bessere Erfolge im praktischen Leben erzielen lassen als durch noch so interessante Beschreibung großartiger Einzelerscheinungen. Der Ingenieur, der Landwirt, der Arzt, überhaupt ein jeder, der angewandte Naturwissenschaft treibt, leistet in seinem Fach etwas Zuverlässiges nur durch solide Beherrschung der Naturgesetze. Die wirksamsten Methoden erfindet der, der die
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Individualität seiner Objekte in die gleiche Rubrik rechnet wie die Unsauberkeit der Versuchsbedingungen. Zwar haben B i e r und S a u e r b r u c h behauptet, der Arzt müsse neben seinem Wissen auch Intuitionsvermögen haben, um die Besonderheiten des einzelnen Falles in ihrem Wesen durchschauen zu können. Die Behandlung solle er in der Weise frei gestalten, wie der Künstler sein Kunstwerk schafft. Selbstverständlich enthalten diese Sätze einen wahren Kern. Aber leider wird mir wohl jeder Kenner bei Prüfung der Tatsachen zugeben müssen, daß die intuitiven Erfolge selbst der größten Fachkollegen nicht entfernt heranreichen an diejenigen Leistungen, die jeder exakt arbeitende Routinier auf Grund zuverlässiger Regeln erzielt. Gleichwohl darf eines nicht übersehen werden: Die Kenntnis bedeutender individueller Erscheinungen hat einen unersetzlichen Bildungswert. In dem Maße, in dem sie aus dem allgemeinen Bildungsschatz unseres Volkes schwindet, sinkt das geistige Niveau unserer Kultur, trotz mancher zivilisatorischer Höchstleistungen; schließlich bleibt auch das nicht ohne praktische Folgen.
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D. Das Problem der Willensfreiheit. V n i . Herausscfiälung des Problems. Wir haben gesehen, daß den Biologen die Anerkennung eines gewissen Freiheitsprinzips zu einer besseren Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit führt. Die Beobachtungen sprechen zwar dafür, daß die organische Entwicklung zum Teil — ja sogar zum weitaus größten Teil — kausalen Gesetzen unterliegt. Mitunter aber, und gerade an entscheidenen Punkten, dürfte eine formende Macht im Spiele sein, die der Kausalität zuwiderläuft. Wenn der Naturforscher das nicht gerne zugibt, so liegt das an gewissen Vorurteilen und an methodischen Schwierigkeiten, die jedoch nicht grundsätzlicher Art sind. Wenn wir nun also etwas anerkennen, das die Folge von Ursache und Wirkung gelegentlich durchbricht und dennoch ordnend in der Welt wirkt, so könnte man meinen, es müßte das für eine befriedigende Lösung unseres Problems genügen. Denn das Urteil des subjektiven Bewußtseins wurde ja nur darum von den Naturforschern für eine Täuschung erklärt, weil es sich mit der Anerkennung einer allumfassenden Kausalität nicht verträgt. Und doch ist mit der Anerkennung eines biologischen Freiheitsprinzips die Willensfreiheit selbst noch nicht bejaht. Denn dieser Sonderfall zeichnet sich durch seine eigenen Schwierigkeiten aus. Bevor wir darauf jedoch im einzelnen eingehen, sind einige begriffliche Auseinandersetzungen nötig, um Mißverständnissen vorzubeugen. Solche können schon dadurch entstehen, daß man im täglichen Leben unter Freiheit etwas anderes versteht als in der Erkenntnistheorie. Praktisch bezieht sich das Wort Freiheit nämlich immer nur auf das Handeln, während das Wollen ohne weiteres als frei voraus-
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gesetzt wird. Und zwar kommt es immer auf das Verhältnis von zwei handelnden Subjekten an. Wenn eine Person von der anderen gehindert wird, ihren Willen in die Tat umzusetzen, oder wenn sie gar gezwungen wird, dem fremden Willen entsprechend zu handeln, so nennen wir das Zwang. (Ob dieser Zwang unmittelbar oder mittelbar, z. B. schriftlich oder durch eine dritte Person ausgeübt wird, ist dabei gleichgültig.) Unter Freiheit versteht man zunächst nichts anderes als die Negation des Zwanges. Freiheit bedeutet also, daß das betreffende Subjekt von keinem anderen Sub j ekt gehindert wird, seinem eigenen Willen entsprechend zu handeln. Dabei kann allenfalls der Gegenspieler eine personifizierte Naturgewalt sein, z. B. ein Hochwasser, das uns den Weg abschneidet. Ja sogar die eigene Person kann sich selbst hindernd entgegentreten: Wir können sagen, daß wir uns durch eine frühere Tat die Freiheit des Handelns verbaut haben. Aber jedenfalls bedeutet im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Wort Freiheit immer nur, daß kein anderes Subjekt uns hemmt; es wird auch gar nicht erwogen, ob die Freiheit des Menschen eingeschränkt werden könnte durch jene Dinge, mit denen die Naturwissenschaft die Willensfreiheit zu widerlegen sucht: Durch physikalische oder biologische Gesetzlichkeit oder durch die feststehende Veranlagung des Individuums. Der gewöhnliche Sprachgebrauch setzt eben den Willen mit der größten Selbstverständlichkeit in jenem Sinne als frei voraus, in dem dies die Erkenntnistheorie bezweifelt. Das Wort „frei" bezieht sich in unserer alltäglichen Ausdrucksweise gar nicht auf den Ursprung des Wollens, sondern nur auf das aus dem Wollen hervorgehende Handeln. Beides muß sehr wohl unterschieden werden. Wir handeln frei, wenn wir das tun, was unserer Eigenart oder unseren Grundsätzen entspricht, und wenn wir das durchführen können, wozu wir uns vorher entschlossen haben. Im Gegensatz dazu kommt eine freie Entscheidung des Willens nicht in Frage, wenn wir an unsere Grundsätze gebunden sind, oder wenn wir unserer Veranlagung gemäß überhaupt nur eine einzige Möglichkeit in Betracht ziehen. Es war wohl unser freier Wille gewesen, als wir früher einmal diese oder jene Maxime aufstellten. Es ist auch ein freier Entschluß nötig, 66
wenn wir vor der Tat noch einmal überlegen, ob wir an unseren Grundsätzen festhalten oder sie brechen wollen. Kommt solches aber nicht mehr in Frage, dann gibt es keine freie Willensentscheidung mehr. Auch über die Freiheit des Handelns gibt es eine Philosophie ; sie ist mit den Problemen der Geschichtswissenschaft und der Soziologie30) eng verwoben. Zwar haben ihre Vertreter die Freiheit des Willens im erkenntnistheoretischen Sinne meistens vorausgesetzt, doch ist diese Voraussetzung nicht unbedingt nötig. Jedenfalls müssen wir uns darüber klar sein, daß das historisch-soziologische und das naturwissenschaftlich-erkenntnistheoretischeFreiheitsproblemnicht dasselbe sind. Während dieses den Ursprung des Willens betrifft, bezieht sich jenes auf das aus dem Willen hervorgehende Handeln. Wieder andere Freiheitsbegriffe kennt der Theologe. Nur einer von diesen sei erwähnt, weil er sich jedem unbefangenen religiösen Menschen von selbst aufdrängt, wenn er auch nur ein wenig über diese Dinge nachdenkt. Wenn Gottes Wille allmächtig ist, wie kann dann der Mensch vor Gott einen selbständigen, freien Willen haben ? Der Glaube an die Allmacht des Schöpfers verlangt, daß dem Menschen der Weg durch seine sittlichen und religiösen Entscheidungen genau vorher bestimmt ist. Und dennoch lehren die meisten Konfessionen, daß ein jeder für seine Entschlüsse letzten Endes wirklich selbst verantwortlich ist. Das aus diesem Widerstreit entspringende Freiheitsproblem hat gewiß manche Ähnlichkeit mit dem naturwissenschaftlicherkenntnistheoretischen, aber doch ist es von ihm verschieden. Denn Gottes Wille wird vom religiös gläubigen Menschen nicht gedacht als starre Naturgesetzlichkeit, sondern als eine Kraft, die von Fall zu Fall mit bewußter Zielsetzung ihre Werke schafft.
Den Mediziner dagegen beschäftigt jenes Freiheitsproblem, das sich aus dem Widerstreit zwischen der neueren, kausalanalytischen Naturbetrachtung und dem ethischen Verantwortungsgedanken ergibt. Es liegt, um es kurz zu wiederholen, darin, daß wir gefühlsmäßig die Empfindung haben, frei zu sein, d. h. weder durch gegebene Dinge noch auch durch unsere bisherige Wesensart vollständig in unseren Entschlüssen festgelegt zu sein, während die Wissenschaft lehrt, daß wir unfrei sind, weil aus den gegebenen Umständen und der gegebenen Veranlagung des Charakters mit eindeutiger Notwendigkeit die Handlung folgt.
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Nun haben wir allerdings festgestellt, daß diese anscheinend eindeutige Notwendigkeit des kausalen Geschehens bei näherem Zusehen für die Autonomie eines sich entwickelnden Individuums nicht unbedingt gilt, sondern daß für gewisse Fälle möglicherweise die Freiheit zugegeben werden muß. Denn ein Kausalverhältnis herrscht nur dort, wo das Geschehen einer Regel unterliegt, und eine Regel kommt nicht in Frage, wenn die Entwicklung von einem individuellen Gesetz abhängt, welches seinerseits — von der Zeit aus gesehen — veränderlich erscheint. Infolgedessen dürfen wir den Willensentschluß eines in seinem Wesen einzigartigen Individuums an einer entscheidenden Entwicklungsstufe nicht ohne weiteres als kausal bedingt auffassen. Aber damit ist das Problem der Willensfreiheit noch keineswegs erledigt. Dasjenige, was hier der Kausalität widerstreitet, ist gar nicht die grundsätzliche Nichtwiederholbarkeit und auch nicht der individuelle Bestimmungsgrund des Geschehens. Denn auch dann, wenn der Mensch etwas tut, das er bald in dieser, bald in jener Weise schon oft getan hat, scheint uns sein Wille immer wieder frei zu sein. Wenn wir uns fragen, an welchem Punkt das Freiheitsbewußtsein denn eigentlich unserem Empfinden so evident gegenübertritt, dann finden wir gerade im Willen selbst dasjenige Phänomen, das nicht ohne weiteres restlos im übrigen Naturgeschehen aufgeht. Dabei ist es gleichgültig, ob wir unseren eigenen Willen beobachten oder auf denjenigen unserer Mitmenschen eingehen. Auch bei ihnen setzen wir ohne weiteres die gleiche Freiheit voraus; sonst könnten wir sie nicht zur Verantwortung ziehen, ihnen nie Vorwürfe machen oder behaupten, daß sie dies oder jenes anders hätten machen können. Also ganz gleich, ob jenes merkwürdige Ding, das wir Willen nennen, von innen oder von außen her betrachtet wird, immer wird ihm von unserem unbefangenen, natürlichen Denken eine Wurzel zugeschrieben, die der Kausalität nicht unterliegt. Hier also, d. h. beim Willen selbst, müssen unsere Untersuchungen einsetzen.
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I X . D a s Problem der Willensfreiheit in der Kantschen Philosophie. Wie Bleuler mit Recht betont, ist in den letzten Jahrzehnten die Seelenforschung eine naturwissenschaftliche Angelegenheit geworden. Das gilt nicht minder für die Sonderfrage nach der Natur des Willens, ganz besonders aber gilt es für die Beziehungen zwischen Psychologie und kausaler Naturbetrachtung. Das Problem der Willensfreiheit in der Form, wie es die neuere Erkenntnistheorie beschäftigt hat, muß daher in erster Linie naturwissenschaftlich angegriffen werden. Das wird für den Mediziner auch dann nicht zweifelhaft sein, wenn der Anstoß nicht von der Medizin selbst kommt, d. h. wenn geisteswissenschaftliche Disziplinen, insbesondere die Ethik, mit der Hypothese der Willensfreiheit als mit einem Postulat an die Öffentlichkeit treten und dadurch die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft herausfordern. Selbstverständlich wird der Mediziner gut tun, wenn er an der bisher von den Philosophen geleisteten Arbeit nicht achtlos vorübergeht. Allerdings können von vornherein diejenigen Theorien sein Interesse nicht beanspruchen, die ohne weitere Begründung die Willensfreiheit einfach bejahen, und auch diejenigen nicht, die sie unter Berufung auf die Allgemeingültigkeit der Kausalität ablehnen. Denn etwas Neues werden sie ihm beide nicht sagen. Wohl aber können diejenigen für ihn von Bedeutung sein, die das Für und das Wider kritisch durchdacht haben. Unter ihnen steht an allererster Stelle die Theorie K a n t s . K a n t s Standpunkt ist nicht in allen Perioden seines Philosophierens einheitlich der gleiche geblieben. Zunächst ließ er in der „Kritik der reinen Vernunft" (Erstausg. 1781) die Frage offen, indem er These und Antithese nebeneinanderstellte. Später aber konnte er sich nicht entschließen, Lücken in der Kausalität anzunehmen. Andererseits aber mußte er die Freiheit zugeben, wenn er die Ethik nicht zu einer Illusion werden lassen wollte. So kam denn in der „Kritik der praktischen Vernunft" (Erstausg. 1788) eine merkwürdige Kompromißlösung zustande. Diese wird überhaupt nur verständlich, wenn wir K a n t s Gedanken über „Ding an sich" und 69
„Erscheinung" historisch verfolgen. In der „Kritik der reinen Vernunft" hatte er dargelegt, daß wir zwischen den Dingen selbst und den von uns wahrgenommenen Erscheinungen zu unterscheiden hätten. Weshalb er eigentlich den Dingen selbst, zu denen wir seiner Meinung nach ja überhaupt in keiner Weise in Beziehimg treten können, eine besondere Existenz zubilligt, führte er nicht genauer aus. Jedenfalls ließ er die Möglichkeit offen, daß sie doch irgendwie tatsächlich vorhanden und wirksam sein könnten. Wir haben ja zu dieser Problematik schon oben ausführlich Stellung genommen. Als K a n t seine Lehre weiterentwickelte, verflüchtigte sich aber der Gedanke des „Dinges an sich" immer mehr. Es blieb eigentlich nur der Begriff einer schlechthin irrationalen, aber doch ehrwürdigen Sache bestehen, die wir dort ahnen können, wohin unser Erkennen nicht reicht. Ebenso irrational wie jenes „Ding an sich" schien nun jenes merkwürdige Etwas zu sein, das unseren Willensentscheidungen zugrunde liegt; allerdings nur insoweit, als wir es gefühlsmäßig erleben; denn es erscheint rational wie ein Naturvorgang dort, wo wir es kausal analysieren können. K a n t glaubte also in ähnlicher Weise, wie er in der uns umgebenden Welt einen Gegensatz zwischen der vernünftig erfaßbaren Erscheinung und dem unfaßlichen „Ding an sich" aufgezeigt hatte, auch in der handelnden Person einen Gegensatz nachweisen zu können zwischen dem Menschen, dessen Verhalten von anderen (und wohlgemerkt auch von ihm selbst) reflektierend beobachtet und rational erklärt wird, und demselben Menschen, der sich unmittelbar als Ursprung seiner eigenen Charaktereigenschaften erlebt. Es ist nicht ganz leicht, sich diese merkwürdige Zweiteilung K a n t s klarzumachen. Der Wesensgrund der Persönlichkeit, aus dem sich die sittlichen Entscheidungen herleiten, ist „Ding an sich", ist „Noumenon", ist nicht wahrnehmbar, sondern nur „intellegibel". Der physische Mensch dagegen (und zwar wohlgemerkt einschließlich seines ganzen bewußten Denkens!) gehört zur empirischen Erscheinung. Auf Grund dieser merkwürdigen Zweiteilung glaubt K a n t das Freiheitsproblem lösen zu können: Von der empirischen Seite her betrachtet unterliegt die Person restlos der Kausaütät; von der anderen, „intelle70
giblen" Seite her erschaut, erweist sie sich dagegen als frei: Denn jenseits des Rationalen gibt es nach K a n t keine Kausalität. Durch diese eigenartige Gedankenkonstruktion wird der Widerspruch zwischen Naturgesetzlichkeit und Freiheit gelöst. K a n t selbst faßt seine Meinung in dem folgenden Satz zusammen (Kritik der praktischen Vernunft, Recl.Ausgabe, S. 138): Der „Widerstreit zwischen Notwendigkeit und Freiheit wurde dadurch behoben, daß bewiesen wurde, es sei kein wahrer Widerspruch, wenn man Begebenheiten, und selbst die Welt, darin sie sich ereignen, . . . nur als Erscheinungen betrachtet; da ein und dasselbe handelnde Wesen als E r s c h e i n u n g (selbst vor seinem eigenen inneren Sinne) eine Kausalität in der Sinnenwelt hat, die jederzeit dem Naturmechanismus gemäß ist, in Ansehung derselben Begebenheit aber, sofern sich die handelnde Person als Noumenon betrachtet (als reine Intelligenz, in seinem nicht in der Zeit bestimmbaren Dasein), einen Bestimmungsgrund jener Kausalität nach Naturgesetzen, der selbst von allem Naturgesetz frei ist, enthalten könne" 31 ). Diese Sätze können denjenigen, der von der heutigen Naturwissenschaft ausgeht, in keiner Weise überzeugen. Erstens gilt die Kausalität, wie insbesondere S c h r ö d i n g e r , H e i s e n b e r g u. a. Physiker betont haben und wie oben näher ausgeführt wurde, für die Welt des Noumenon wahrscheinlich noch viel strenger als für die empirische Welt (vgl. Kap. III). Also würde die reine praktische Vernunft dadurch, daß sie intellegibel und nicht empirisch ist, noch lange nicht von der Kausalität dispensiert. Es müßte denn sein, daß es neben jenen Dingen an sich, mit denen sich die metaphysische Betrachtungsweise der modernen Physik befaßt, und für die die Kausalgesetze gerade am allerschärfsten zu gelten scheinen, noch eine toto genere andere intellegible Welt gibt. Eine solche Annahme liegt zweifellos nahe. Aber bei K a n t ist von einem solchen Dualismus der transzendenten Dinge auch nicht andeutungsweise die Rede. Zweitens fehlt uns jede einigermaßen sichere Handhabe für die Hypothese, daß die praktische Vernunft ein Bestimmungsgrund von Naturgesetzen sei. Zum Mindesten darf sie einem Bestimmungsgrund von Kausalgesetzen nicht gleich7i
gesetzt werden. Denn Kausalität ist undenkbar ohne starre, unveränderliche Regelhaftigkeit Wenn aber das Gesetz starr ist, wie soll dann sein Bestimmungsgrund schwanken ? Notwendige Voraussetzung der sittlichen Freiheit ist aber die Fähigkeit des Menschen, seine Gesinnung zu ändern. Ich verweise auf das vorige Kapitel. — Nehmen wir aber umgekehrt an, der Wille sei frei und er sei der Bestimmungsgrund einer Art von Naturgesetz: So müßte ein solches Naturgesetz veränderlichen Charakter haben. Damit wäre aber eben die Kausalität durchbrochen. Die aus einem beweglichen Gesetz folgende Tat müßte gerade empirisch frei erscheinen. Dabei könnte das Gesetz irgendwo in der Transzendenz doch noch eine feste Bindung haben. Aber in der Erscheinungswelt wäre die Kausalität durchbrochen! Erkennen wir aber mit Kant gerade für die Erscheinungswelt eine lückenlose Kausalität „nach den Gesetzen der Natur" an, dann ist die Welt ein Uhrwerk, in das wir als Räder eingegliedert sind ohne spontan etwas dazu tun zu können. In diesem Fall könnte es Freiheit zum Handeln nur gegeben haben, bevor das Uhrwerk zu laufen begann, d. h. vor Erschaffung der Welt, zum mindesten vor Beginn unseres eigenen Lebens. Dementsprechend müssen wir uns zu J. Volkelt sen. bekennen, der die Hypothese Kants mit den Worten charakterisiert, daß in ihr „unser Ich auf eine Illusion hin organisiert wäre", und „daß unser Bewußtsein die Vernunftidee vom Unbedingten a priori in sich schließt, und daß trotzdem diese Vernunftidee ein bloßer transzendentaler Schein ist". Die innere Beobachtung sagt uns außerdem, daß der Wille nicht Bestimmungsgrund im Sinne eines Naturgesetzes ist, sondern unmittelbar Ursache unserer Handlungen. Wer unbefangen seinen Empfindungen nachspürt, der wird feststellen, daß das Freiheitsbewußtsein sich nicht auf eine Idee, sondern auf das praktische Handeln in der empirischen Wirklichkeit bezieht, und daß wir den Willen nicht als feststehendes Gesetz, sondern als die jeweils wechselnde, treibende Ursache unserer Taten empfinden. Gerade in der Fähigkeit zum Wechsel liegt die Freiheit! 72
Von vornherein wäre es natürlich denkbar, daß diese Empfindung auf Irrtum beruht. Aber das wollte ja K a n t gerade widerlegen. Den gleichen Weg wie K a n t ist der modernste unter den bekannten Verfechtern der Willensfreiheit gegangen, Nicolai H a r t m a n n . Auch N. H a r t m a n n nimmt das Bewußtsein der sittlichen Forderung zum Ausgangspunkt und erklärt die Willensfreiheit für ein Postulat der Ethik. Vielleicht hat er noch überzeugender als K a n t nachgewiesen, daß ohne Willensfreiheit die Ethik ihren Sinn verliert. Soweit dürfte seine Philosophie kaum zu widerlegen sein. Hervorragend ist auch seine historische Darstellung des Problems, namentlich die Würdigung der Verdienste K a n t s um die richtige Fragestellung. Aber den Widerspruch zwischen Kausalität und Freiheit löst Nicolai H a r t m a n n nur scheinbar, wenn er der Kausalität als gleichberechtigte Kategorie die Finalität gegenüberstellt. Denn so leicht auch in unserem Kopf die Gedanken der Kausalität und Finalität nebeneinander wohnen mögen, in der wirklichen Welt läßt eine lückenlos geltende Kausalität keine solchen Finalreihen zu, wie sie zur Erklärung der Willensfreiheit notwendig wären24). In den letzten hundertfünfzig Jahren ist eigentlich die kritische Bearbeitung dès Problems nicht über K a n t hinausgekommen. Zwar hat es immer Freiheitsenthusiasten gegeben wie F i c h t e oder Bergson, und andererseits auch Spötter wie Schopenhauer und E d u a r d von H a r t m a n n , die mitleidig auf jene beschränkten Köpfe herabsahen, die sich mit einer so dummen Frage abmühten. Aber mit solchen einseitigen Standpunkten ist nichts gewonnen. Wenn man nicht weiterkam, so dürfte das wohl in der Hauptsache daran gelegen haben, daß die vorhandenen Grundlagen der Naturwissenschaft ein weiteres Vordringen nicht erlaubten. Rein gedanklich läßt sich ja erfahrungsgemäß ein Problem nie über einen gewissen Punkt hinaus klären. Nachdem nun aber in den letzten Jahren neue naturwissenschaftliche und medizinische Tatsachen von grundlegender Bedeutung entdeckt worden sind, hegt es nahe, die Frage von neuem aufzurollen. Vorsichtige Naturforscher des neunzehnten Jahrhunderts wie Du B o i s - R e y m o n d hatten das Freiheitsproblem für R a b I , Willensfreiheit.
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unlösbar erklärt. Gegenwärtig scheint es sich zu empfehlen, noch vorsichtiger zu sein. Läßt sich doch mit einiger Sicherheit immer nur zeigen, daß ein Problem mit den bisher angewendeten Mitteln nicht zu meistern ist. Ob es nicht in Zukunft bessere Mittel geben wird, kann man niemals wissen. Wir haben schon mehrfach erlebt, daß Welträtsel gelöst wurden, die vorher als unlösbar galten. E s sei nur erinnert an die zweite kosmologische Antinomie in K a n t s Kritik der reinen Vernunft, nach der die Naturwissenschaft niemals in die Lage kommen sollte zu entscheiden, ob die Welt aus Atomen zusammengesetzt oder ob die Materie ein Kontinum ist. E s sei ferner daran erinnert, daß Goethe es für ausgeschlossen hielt, die Entstehung der Menschheit jemals anders als durch Märchen zu erklären. Solche Aussprüche und ihre Widerlegung durch die spätere Forschimg mahnen uns zur Vorsicht. Daß die Möglichkeiten, die für die Bearbeitung des Freiheitsproblems offen stehen, von K a n t bereits restlos erschöpft worden seien, muß heute durchaus zweifelhaft erscheinen. Sein Wissen von der Natur der menschlichen Seele war trotz aller Tiefgründigkeit doch recht einseitig. Man lese nach in seiner „pragmatischen Anthropologie" (erschienen 1798; heute würde man statt Anthropologie eher Psychologie sagen). Wenn K a n t auf Grund der dort niedergelegten Kenntnisse behauptet hat, daß die (empirische) menschliche Seele der gewöhnlichen Kausalität restlos unterworfen sei, so kann man mit Recht einwenden, daß diese Behauptung nur sehr mangelhaft bewiesen war! Aber damit verlieren seine Schlußfolgerungen den Anspruch, als kritisch gelten zu dürfen: Sie sind dogmatisch! Wenn sich aber die Hypothese K a n t s , daß alle erfahrbaren Seelenvorgänge der Kausalität unterliegen, als irrig oder auch nur als zweifelhaft herausstellen würde, dann müßten wir zum Freiheitsproblem ganz anders Stellung nehmen. Es gilt also zunächst einmal nachzuprüfen, ob der „empirische Charakter" wirklich restlos kausal determiniert ist. Wir müssen also zunächst feststellen, was über die Struktur der Seele und insbesondere über die Natur des Willens in physiologischer und psychologischer Hinsicht bekannt ist.
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X. Psychologie und Physiologie des Willens, soweit sie für das Freiheitsproblem von Bedeutung sind. a) Läßt sich der Wille rational erklären? Was wissen wir über das Wesen des Willens ? Man hat im Grunde auf zwei Wegen versucht, ihm im Rahmen eines rationalen Weltbildes gerecht zu werden. Die eine Gruppe der Hypothesen — von Spinoza bereits mit Erfolg vertreten, von Schopenhauer abgeändert und den neueren Naturforschern plausibel gemacht — deutet den Willen mehr oder weniger als ein Attribut jeglicher Substanz. Die andere bestreitet grundsätzlich seine Eigenexistenz und faßt ihn als Sonderfall der Empfindung auf. Beide Wege haben zahlreiche Anhänger gefunden; wir müssen uns mit ihnen wenigstens soweit auseinandersetzen, als sie auf das heutige naturwissenschaftliche Denken noch Einfluß haben. Diejenigen Hypothesen, die den Willen als ein Attribut der Substanz (oder wenigstens als „eine Seite" derselben) ansehen, vergessen wenigstens nicht, daß wir ihn bei sorgfältiger, imbefangener Analyse der eigenen Seele als ein letztes von der Empfindung unabhängiges Element vorfinden82). Dieses Element wird auch dadurch nicht zur Empfindung, daß diese es zum Gegenstand haben kann. Schopenhauer, der im übrigen auf dem Boden des spiritualistischen Monismus steht, erkennt von vornherein, daß der Wille in seiner Irrationalität von der rationalen „Vorstellung" wesensverschieden ist. Wenn er trotzdem behaupten kann, daß alles Weltgeschehen restlos rational und der Kausalität unterworfen sei, so ist das nur möglich, indem er den Willen als die andere Seite der Weltsubstanz deutet, jener Substanz, welche sich uns sonst nur als „Vorstellung" offenbart. Wille und Vorstellung sind nach Schopenhauer die beiden Angesichter der Welt. Als Vorstellung erscheint alles rational, kausal determiniert; als Wille irrational und frei. Aber der Wille greift niemals in das Weltgeschehen ein, eben weil er nur dessen andere Seite ist. Er ist das „Ding an sich", er wird nie Erscheinimg; alle Erscheinung bleibt kausal determiniert. Aber darum ist seine Existenz als selbständige We6*
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senheit nicht zu bestreiten: Wir erleben an uns, daß „der Leib noch in einer ganz anderen (von der Vorstellung) toto genere verschiedenen Art im Bewußtsein vorkommt, die man durch das Wort Wille bezeichnet". Da S c h o p e n h a u e r nun einerseits leugnet, daß der Wille auf das physische Geschehen einwirke, andererseits aber nicht verkennt, daß wir fast immer wollen, wenn wir etwas tun, so kommt er zu dem Schluß, daß der Wille zusammenfällt mit der Handlung: „Jeder wahre Akt des Willens ist sofort und unausbleiblich auch Bewegung des Leibes: Er kann den Akt nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzunehmen, daß er als Bewegung des Leibes erscheint." Diese Hypothese scheint allerdings erstens unserer inneren Beobachtung zu widersprechen, daß wir immer erst wollen, dann handeln, und zweitens den Erfahrungen der Nervenphysiologie, die heute jedem Mediziner geläufig sind: Auf eine Erregimg des Gehirns erfolgt in meßbarer Zeit eine Leitung durch die Nerven zu den Muskeln, die dann erst die Bewegung ausführen. Man könnte aber Schop e n h a u e r s Ansicht verteidigen, indem man den Willen mit gewissen kleinsten Bewegungen im Gehirn identifiziert. Dann bliebe es jedoch ungeklärt, weshalb manche derartigen Nervenvorgänge nicht mit dem Willen, sondern mit Wahrnehmung einhergehen. Damit kommen wir auf den schwächsten Punkt dieser Hypothese. Wäre der Wille, wie S c h o p e n h a u e r behauptet, die andere Bewußtseinsform des Bewegungsvorgangs, so müßte er uns stets gegenwärtig sein, wenn sich in der Nervensubstanz des Großhirns etwas abspielt. Das ist aber nicht der Fall. Ja, es hängen nicht einmal alle Nervenvorgänge, die mit Bewußtsein verbunden sind, mit dem Willen zusammen, sondern nur diejenigen, die aktive Handlungen darstellen. Passive Bewegungen können wohl auch, wenn sie sich ins Großhirn fortsetzen, mit Bewußtsein einhergehen. Aber diese Art des Bewußtseins ist eine andere: Sie ist Wahrnehmung, sie gehört zu dem, was S c h o p e n h a u e r mit „Vorstellung" bezeichnet. Wille und Vorstellung sind also keineswegs zwei Seiten ein und desselben Vorgangs, sie sind nicht die beiden Formen, in denen ein und dieselbe Substanz bewußt wird. Ja es läßt sich sogar nachweisen, daß diejenigen Nervenfasern, 76
die den aktiven Willenshandlungen, und diejenigen, die der Empfindung und Wahrnehmung dienen, in vielen Fällen im Gehirn räumlich getrennt sind. Dies kann heute als gesicherte Tatsache gelten. Damit aber wird Schopenhauers Hypothese, daß der Wille mit der Bewegung des Leibes zusammenfällt, und daß er sozusagen die andere Seite der Welt darstelle, die sich uns sonst nur als Wahrnehmung („Vorstellung") darbietet, unhaltbar. An sich wäre sonst diese Hypothese dem Naturforscher nicht unsympathisch gewesen; denn sie läßt in der Welt nur rational erfaßbare Wesenheiten gelten, und doch wird sie dem irrationalen Charakter des Willens voll und ganz gerecht. Dieser Vorzug fehlt von vornherein der anderen Gruppe naturphilosophischer Hypothesen, die den Willen in ein restlos kausal analysierbares Weltbild eingliedern, und die ihn als Sonderfall der Empfindung deuten. Unter ihren Vertretern ist Semon an erster Stelle zu nennen. Wir erwähnten oben, daß nach seiner Hypothese jeder Reiz in der lebenden Substanz ein „Engramm" hinterläßt, das durch neue ähnliche Reize wieder „ekphoriert" wird; die Handlung soll sich an diese Ekphorierung automatisch anschließen. Da wir nun aber bei unseren eigenen Willenshandlungen nicht das Gefühl haben, als würden einfach passiv ausschließlich die alten Engramme ekphoriert, so muß noch ein weiteres Erklärungsprinzip gesucht werden. Semon sieht es im Grade der Aufmerksamkeit, der „Vividität". Den Einwand, daß ja die Aufmerksamkeit selbst erst wieder vom Willen abhängig ist, glaubt Semon damit zurückweisen zu können, daß wir oft ohne die geringste Anstrengung aufmerksam sind, während uns das anderemale trotz eines erheblichen Willensaufwandes nicht gelingt. Daß prinzipiell der Wille die Fähigkeit hat, in den Wahrnehmungsakt oder auch in den Gedankenablauf aktiv einzugreifen (eine Tatsache, auf die schon J o hannes Müller hingewiesen hat, und die mit der Freiheit des Willens zunächst noch nichts zu tun hat), übersieht Semon: „Die Einschiebung eines vermittelnden Zwischengliedes zwischen bedingenden Umständen und Vollzug der Vividitätsverteilungen . . . ist, da die Vividitätsverteilung sich unmittelbar unter dem Einfluß der bedingenden Umstände 77
vollzieht, vollkommen überflüssig und daher verwerflich." Hierauf ist zu antworten: Formal logisch mag diese Annahme überflüssig sein, aber die Tatsache des Willens ist dennoch so evident, daß wir an ihr nicht vorübergehen können. „Überflüssig und daher verwerflich!" — Man wird erinnert an Hypothesen, die mit diesem Argument das Bewußtsein bei Tieren leugnen wollten. Gewiß können wir für unsere heutigen naturwissenschaftlichen Zwecke das psychische Verhalten der Hunde prinzipiell aus Reflexen erklären, wie Pawlow gezeigt hat. Formal logisch ist damit die Annahme eines Bewußtseins bei Hunden überflüssig. Aber verwerflich ?! Noch auf eine andere Weise hat die naturwissenschaftliche Psychologie geglaubt, den Willen als selbständiges Urphänomen leugnen zu können: Sie versuchte ihn auf den G e f ü h l s t o n zurückzuführen. Bekanntlich gibt es in unserem Bewußtsein kaum irgendeinen Vorgang, der nicht lust- oder unlustbetont wäre, d. h. begleitet von irgendeiner angenehmen oder unangenehmen (oder aber auch ambivalenten, d. h. teils angenehmen, teils unangenehmen) Gefühlstönung. Man meinte nun, daß lustbetonte Vorstellungen, die sich auf Künftiges beziehen und die uns realisierbar erscheinen, mit dem Willen identisch wären. Z. B. rufe in uns der Gedanke, eine Pflicht erfüllt zu haben, ein Lustgefühl hervor, und die Vorstellung eines solchen bevorstehenden Lustgefühls sei identisch mit dem Willen zur Pflichterfüllung. Ebenso sei umgekehrt der Gedanke, künftig von einem Unlustgefühl befreit zu sein (das z. B. durch Schmerzen verursacht sein mag), identisch mit dem Willen, die Ursache des Unlustgefühls zu beseitigen. Diese Behauptung, daß man nur lustbetonte Dinge wollen könne, mag für einzelne Menschen zutreffen. Es mag Charaktere geben, die ausschließlich dann wollen, wenn ihnen irgendwelche Befriedigung winkt, mag diese nun edel oder unedel sein. Aber es gibt ganz bestimmt auch einen Willen, der ausschließlich unlustbetont und dennoch unbeugsam ist. Ich erinnere an den Offizier, der seine Truppe unter schwierigen Verhältnissen ins Feuer führt, und der die Möglichkeit vor sich sieht, auszuweichen, in Deckung liegen zu bleiben und abzuwarten, ob nicht die Nachbarkompanien zuerst die größten Hindernisse beseitigen. Er sieht alle Möglichkeiten vor sich, einerseits die vorwurfsvollen Augen der sterbenden Kameraden und den eigenen Tod, andererseits die Möglichkeit, sich vor den Vorgesetzten herauszu-
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reden. Und dennoch gibt es Offiziere, die in derartigen Situationen trotz Einsicht in die furchtbaren Folgen und trotz eines fehlenden äußeren Zwanges, d. h. in Situationen, wo die Möglichkeit zu wählen gegeben ist, sich nicht so entscheiden, wie es dem lust- oder unlustbetonten Gefühl entspricht, sondern mit eisernem Willen die schwere Aufgabe in Angriff nehmen. Gewiß, mancher erlebt eine helle Freude in dem Augenblick, wo der Sieg der Pflicht sich durchringt und wo er sieht, was der Wille Gutes schafft. Es kommt aber auch vor, daß nur unendlich schwere Unlustgefühle entgegenstehen, kein einziges Lustgefühl lockend hilft, und trotzdem der Wille siegt. Man könnte ebensogut Beispiele aus anderen Lebensgebieten anführen, aus der ärztlichen Praxis, aus der Religionsgeschichte oder von Märtyrern der eigenen Überzeugung. Wer derartige Willensentscheidungen nicht selbst erlebt hat, wird ihre Möglichkeit nicht zugeben; aber hier gilt der positive Beweis mehr als der negative; denn wer nichts von diesen Dingen weiß, kann nicht urteilen.
Die Ausdrucksweise des täglichen Lebens hat sich teilweise übrigens hedonistischen Gedankengängen angepaßt. Man pflegt z. B. bei Erfüllung einer unangenehmen Pflicht nicht zu sagen, daß man will, sondern daß man muß: „Ich muß Herrn X. die Wahrheit über seinen Zustand sagen, er hat ein Recht darauf, sie zu erfahren," oder: „Ich muß das Kind bestrafen" usw. Eine solche Ausdrucksweise darf uns aber darüber nicht hinwegtäuschen, daß das ethische Freiheitsproblem gerade bei diesen unangenehmen Willensentscheidungen überhaupt erst anfängt. Die E t h i k interessiert sich für den Willen gar nicht bei einer Pflichterfüllung aus Freude, sondern nur dort, wo es um die Frage geht, ob der Mensch das Moralische auch wollen kann entgegen allen lockenden Lustgefühlen, die ihn beinahe „mit Naturnotwendigkeit" zwingen anders zu handeln. Schon darum ist das alte Märchen vom liberum arbitrium indifferentiae falsch, auch wenn es sonst glaubhaft wäre. Der freie Wille bedeutet nicht Indifferenz, sondern Kampf! Es ist also falsch, die positive Gefühlstönung dem Willen gleichzusetzen. Dieser kann vielmehr mit den größten Unlustgefühlen verbunden sein. Auch die Meinung, daß eine bevorstehende, angenehme Empfindung den Willen zwangsläufig nach sich ziehe, ist irrig. Denn nach vollbrachter Tat braucht die negative Gefühlstönung nicht nachzulassen, und der Mensch 79
sieht dies manchmal voraus, ohne daß es seinen Entschluß lähmen könnte33). b) D a s „ I c h " als M i t t e l p u n k t der
Persönlichkeit.
Es wurde übrigens nicht nur der Wille als selbständiges Urphänomen von vielen Naturforschern und Philosophen verkannt; auch jener Mittelpunkt der Persönlichkeit, aus dem der Wille entspringt, und ohne den er nicht denkbar ist, das „Ich", wurde als etwas Sekundäres angesehen. Das Evidenteste wurde vernachlässigt: Das Subjekt, zu dem einerseits die Empfindungen hinfließen, und aus dem andererseits die Willensimpulse hervorquellen. Daß der Mediziner sowohl den Willen wie auch das „Ich" so oft übersieht, liegt an gewissen materialistischen Vorurteilen. Er meint, daß er die Begriffe, die er aus der Außenwelt abgeleitet hat, auf die eigene Psyche übertragen könnte; er vergißt, daß der erste Ursprung aller menschlichen Erkenntnis in der Seele selbst liegt, und daß er nicht im Voraus wissen kann, ob diese sich wieder rückwärts aus der Materie erklären lassen wird. Die Materie ist ja, wie wir oben ausführlich erörtert haben (vgl. Kap. II), dasjenige, dessen Existenz erst glaubhaft gemacht werden muß. Nimmt man die physikalische Substanz zum Ausgangspunkt der Philosophie, dann muß man versuchen, den Willen als Funktion derselben zu erklären, was bisher freilich nicht ohne unglaubhafte Hilfshypothesen gelungen ist. Wer aber umgekehrt am gesicherten Ende der Erkenntniskette beginnt und von der Selbstbeobachtung ausgeht, der kann bei genügender Aufmerksamkeit nicht übersehen, daß der Wille eifi grundlegendes, nicht noch weiter zurückführbares Urphänomen ist, ebenso wie die Empfindung, und daß beide gleichberechtigt nebeneinander verankert sind im „Ich", im Subjekt. Es war allerdings nicht allein der verkehrte Standpunkt, der viele Philosophen und Naturforscher hinderte, diese einfachen und grundlegenden Beobachtungen anzustellen. Auch ein methodischer Fehler war daran Schuld. J. V o l k e l t sen. (Das Problem der Individualität) kennzeichnet ihn mit den Worten: „Wenn das Ich so oft als der das ganze Bewußtsein durchdringende Mittelpunkt geleugnet wird, so hängt dies auch mit der falschen Ansicht über die Stelle, die das Ich im 80
Bewußtsein einnimmt, zusammen. Man glaubt: das Ich müsse sich unter den Bewußtseinsinhalten als ein b e s o n d e r e r Bewußtseinsinhalt auffinden lassen. Natürlich ist dann das Ich nicht zu entdecken. . . . Hume sucht das Ich auf derselben Ebene, auf der die Empfindungsinhalte und die Affekte liegen, und findet dabei natürlich nichts, was er „idea of seif" nennen könnte. . . . Er ist blind gegen das, was er selbst unmittelbar ist. Er erfaßt nur sein Gegenüber und nicht seine Selbsteigenheit." F r e u d , der sich durch die Philosophie seiner Zeit in keiner Weise hatte beirren lassen, hat diese Dinge seit jeher klar erkannt. Für den Mediziner bedeutete nicht nur seine Lehre vom Unbewußten, sondern auch diejenige vom „Ich" eine Befreiung aus dem Banne einer voreingenommenen psychologischen Wissenschaft. Aber obwohl seine Ideen sich heute weitgehend durchgesetzt haben, würdigen die meisten Mediziner doch nicht die selbständige Bedeutung des Willens als einer Wesenheit eigener Art 84 ); sie sehen sogar in der Psychoanalyse einen Beweis für die Abhängigkeit aller menschlichen Entschlüsse von körperlichen Funktionen. Das aber ist eine ungerechtfertigte Übertreibung. F r e u d ist zwar insofern etwas einseitig vorgegangen, als er alle seine Beobachtungen um das Gebiet der Sexualität herumgruppierte und deren Bedeutimg über Gebühr hervorhob. Aber trotz dieser Einseitigkeit war er ein guter Beobachter. Er hat nicht nur anschaulich geschildert, wie aus dem Unbewußten allerhand Gedanken und Triebe hervorquellen und sich dorthin drängen, wo sie in die Tat umgesetzt werden. Es entging ihm auch nicht, daß an der Schwelle, wo sie ins Licht des Bewußtseins treten, ein strenger Zensor sitzt: das „Ich". Dieses „Ich" trifft die Entscheidungen darüber, was heraus darf und was zurückgedrängt wird. Die Triebe sind noch durchaus unpersönlich, ja der Mensch empfindet sie manchmal geradezu als einen Fremdkörper in seiner Seele; sie gehören nicht zum „Ich", sondern sie sind ein „Es". Erst wenn das „Ich" sie gelten läßt und sie sich zu eigen macht, werden sie zum persönlichen Willen35). Die Frage, mit der wir uns erst später zu beschäftigen haben, ist die, ob das „Ich" in seinen Entscheidungen frei ist. 81
Zunächst kam es uns nur auf die einfachen psychologischen Tatsachen an. Sie sind, kurz wiederholt, diese: Zum „Ich" hin fließen die Empfindungen, zum „Ich" hin drängen sich die Triebe, vom „Ich" her kommen die Willensakte. Es sei wiederholt und betont, daß der eigentliche Mittelpunkt der Persönlichkeit nach F r e u d keineswegs von allmächtigen Trieben beherrscht wird, sondern ihnen gegenüber, wenigstens grundsätzlich, seine Selbständigkeit behauptet. Im Gegensatz zu F r e u d übersieht K r e t s c h m e r , dessen „Medizinische Psychologie" den Ärzten heute besonders gut bekannt ist, die Selbständigkeit des „Ich" fast ganz. Das „ I c h " erscheint ihm ebenso wie jenen Philosophen, die den von V o l k e l t gerügten Fehler begehen (s. o.), als ein verschwommener Komplex, der nur aus äußeren Gründen einen gewissen Zusammenhalt hat. Infolgedessen übersieht K r e t s c h m e r im Kausalzusammenhang der psychischen Vorgänge, den er sonst meisterhaft darstellt, einen sehr wesentlichen Punkt. Seine Darstellung des „psychischen Kausalgesetzes" sei wörtlich angeführt, da sie auch sonst manches Wichtige enthält (Medizinische Psychologie, Leipzig, Thieme): „ i . Die meisten seelischen Reaktionen entspringen nicht aus einem Motiv, sondern aus Motivbündeln. Sie zeigen viel mehr Motivkomponenten, als wir zunächst erwarten. 2. In einem Motivbündel besteht die Tendenz, daß der ethisch höchstwertige Impuls bewußtseins-dominant, der elementar triebhafteste aber dynamisch-dominant wird. 3. Die Impulsverschmelzung ist eine vorwiegend sphärische Funktion. J e weiter vom Blickpunkt des Bewußtseins entfernt, desto heterogenere Impulse können verschmelzen." (Sphärisch bedeutet in der medizinischen Psychologie: an der Grenze des Bewußtseins gelegen.) „Würde der Politiker sich selbst jeden Augenblick klarmachen: Ich mache diese Politik a) aus Ehrgeiz, b) aus Geldsucht, c) aus Patriotismus, so würden diese drei Motive sehr schlecht zu einer einheitlichen Triebkraft des Handelns zusammenfließen. Also: Heterogene Impulse verschmelzen sich sehr schlecht im hellen Lichte des Bewußtseins, und: je weiter vom Blickpunkt des Bewußtseins, desto heterogenere Impulse können sich zu einer einheitlichen Triebkraft verschmelzen." Der Mechanismus der Motivbildungen ist hier treffend beschrieben, und es ist gar nicht zu leugnen, daß eine Art von psychischem Kausalgesetz vorliegt. Aber was dargestellt ist, das sind eigentlich nur die menschlichen Schwächen. Ein sehr wesentlicher Punkt fehlt: das „Ich", das in diesem Durcheinander von hervordrängenden Trieben und Gedanken die Rolle des Zensors übernimmt. Dieses „Ich" läßt sich nicht ohne weiteres von den dynamisch-dominanten Trieben überrennen; es sondert aktiv aus! Es hat auch die Fähigkeit, Motive aus der vorbewußten Sphäre ins helle Tageslicht des Bewußtseins zu ziehen, um sie genau zu besehen. Dieses wollende „Ich" kann zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen. Es läßt
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sich nicht nur passiv treiben, es entscheidet aktiv zwischen den Trieben.
Daß das Phänomen so, wie es Freud dargestellt hat, richtig gesehen ist, ist wohl kaum zu bezweifeln. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Deutung. Wer über diese Dinge nachdenkt, der fragt natürlich gleich, wo denn nun eigentlich die Willensentscheidungen des Zensors „Ich" herstammen. Wir sind gewohnt, überall nach der Ursache zu suchen. Es muß zugegeben werden, daß Kretschmers Erklärung eine Ursache leichter finden läßt: Wenn das „Ich" aufgelöst und eine Summe von Trieben, die rein zwangsläufig hervorquellen, für den Entschluß verantwortlich gemacht wird, dann ist die Kausalkette ohne weiteres geschlossen. Aber so einfach liegen die Dinge eben nicht, weil das „Ich" den Trieben gegenüber nicht ganz unselbständig ist. Allerdings bedeutet diese Selbständigkeit noch nicht dasselbe wie Willensfreiheit. Denn es wäre ja denkbar, daß das „Ich" durch Veranlagung, durch physische Einflüsse usw. eindeutig kausal determiniert ist. Zunächst kam es uns nur auf die Feststellung an, daß der Wille und die Quelle, aus der er entspringt, das „Ich", in psychologischer Hinsicht selbständige Urphänomene sind, die sich nicht auf Empfindimg und Triebe zurückführen lassen. c) Wollen und Empfinden polarer Gegensätze. Beide nicht lediglich Funktionen des Psychischen. Nicht nur in psychologischer, sondern auch in physiologischer Hinsicht ist der Wille kein bloßer Spezialfall der Empfindung, sondern ihre Umkehrung. In den Grundzügen dargestellt liegen die Dinge folgendermaßen: Beim Empfinden und Wahrnehmen ist zuerst der Vorgang in der Außenwelt vorhanden, ihm folgt eine Veränderung an der Peripherie des Organismus und schließlich ein mit Bewußtsein einhergehender Prozeß im Innern. Beim Wollen ist es genau umgekehrt. Zuerst ist das Bewußtsein bzw. der mit Bewußtsein einhergehende, zentrale Nervenprozeß gegeben, zuletzt die Handlung in der Außenwelt. Dieser räumlich-zeitlichen Beziehung entspricht auch die kausale. Die Veränderimg in der Außenwelt ist die Ursache der Empfindung, und der Wille ist 83
die Ursache der Tat. Diese schematisch dargestellten Verhältnisse werden in Wirklichkeit noch etwas kompliziert dadurch, daß sowohl das Wollen wie das Empfinden im Organismus mehrere Stufen durchlaufen, und daß sie sich gegenseitig weitgehend durchflechten und beeinflussen, namentlich auf den höheren Stufen der Organisation. Die Durchflechtung von Willens- und Empfindungsvorgängen ist zum Teil das, was man Assoziation, zum Teil das, was man Komplexbildung nennt7"). Im anatomischen Aufbau des Nervensystems finden wir für alles das ein objektives Korrelat. Die Außenwelt ruft Veränderungen an den Sinnesorganen hervor, von ihnen leiten „sensible" Bahnen die Erregimg zum Zentralnervensystem. Von diesem wiederum kommen Erregungen auf „motorischen" Nervenbahnen her und gehen zu den Erfolgsorganen in der Peripherie, wo sie Bewegungen hervorrufen. Diese sind teils Formveränderungen der Muskulatur, teils Flüssigkeitsverschiebungen (Drüsensekretion oder feinere Protoplasmaströmungen), auf jeden Fall aber Bewegungen, die sich mehr oder weniger in der Umwelt fortsetzen. Wenn wir anatomisch die sensiblen und motorischen Nervenelemente im Zentralnervensystem immer weiter verfolgen bzw. zurückverfolgen, so stoßen wir schließlich auf Fasern von Ganglienzellen, bei denen motorische und sensible Funktion nicht mehr klar auseinanderzuhalten sind. Der Physiologe nennt sie Assoziationsfasern38). Wir könnten natürlich endloses Material an Einzelheiten anführen, doch würde das nichts grundsätzlich Neues für die beiden Schlußfolgerungen bedeuten, die wir schon aus den bisherigen Feststellungen ziehen können: i. Der Wille ist in physiologischer Beziehung die zeitliche und die kausale Umkehrung der Empfindung, und 2. Im lebenden Organismus findet ein Übergang aus der physischen in die psychische Sphäre statt und umgekehrt. Der zweite Satz bedarf einer weiteren Begründung. Daß das Bewußtsein durch den physischen Prozeß allein nicht zu erklären ist, hatten wir oben ausführlich erörtert (Kap. II). Die Tatsache des Bewußtseins läßt uns also nicht um die Anerkennung der Psyche als einer Wesenheit besonderer Art
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herumkommen. Diese Erkenntnis ist im Prinzip ja schon alt. Während aber z. B. D e s c a r t e s die Wesenheiten so auseinanderhielt, daß er auf der einen Seite nur das Bewußtsein gelten ließ, auf der anderen Seite dagegen alles übrige — alles übrige hielt er für mechanische Vorgänge! —, wissen wir heute, daß die Grenzlinie an einer anderen Stelle liegt: Die unbewußten Seelenvorgänge sind von den bewußten nicht zu trennen; aber die gesamte Psyche ist von der gesamten Physis wesensverschieden (vgl. Kap. II und IV). Im Lichte dieser Anschauungen bedeutet auch dann die Empfindung ein Überspringen von einer Welt in die andere, wenn sie nicht bewußt wird. Ein lebender Organismus unterscheidet sich von einem Kristall oder von einer Maschine nicht so sehr durch seine Struktur, als vielmehr dadurch, daß er empfindet. Soweit werden die hier entwickelten Anschauungen schon von vielen Biologen zugestanden, wenigstens von denjenigen, die nicht starr an der mechanistischen Hypothese festhalten. Merkwürdigerweise aber scheuen sie sich, wie für die Empfindung so auch für den Willen die Verankerung in einer nicht physischen Sphäre anzuerkennen und zuzugeben, daß beim Willen das Verhältnis zur Umwelt gerade das umgekehrte ist wie bei der Empfindung. Aus diesem Standpunkt der Forscher hat sich eine sprachliche Inkonsequenz ergeben. Folgerichtig müßte man sagen, daß der lebende Organismus sich vom Kristall und der Maschine nicht nur dadurch unterscheidet, daß er empfindet, sondern auch noch dadurch, daß er will. Aber dieser naheliegenden Schlußfolgerung geht man möglichst aus dem Weg. Zum mindesten ist man allzu geizig mit der Anwendung des Wortes Wille. Während in der Physiologie schon lange mancher Forscher auch dann kein Bedenken trägt, von Empfindung zu reden, wenn der sensible Prozeß unbewußt bleibt, spricht er vom Willen nur dort, wo der motorische Prozeß im Bewußtsein verankert ist. Diese Terminologie ist schlecht, aber wir werden sie kaum ändern können. Da nun aber dem Biologen das Phänomen auf Schritt und Tritt begegnet, mußte er einen Namen dafür suchen, und er fand ihn im Wort A k t i v i t ä t : Die gereizten Zellen wuchern aktiv, der Leukozyt wandert aktiv durch die 85
Gefäßwand, und grundsätzlich hat jede Zelle aktive Funktionen. (Man spricht nun allerdings auch in der Mechanik manchmal von aktiven und passiven Bewegungen, aber das ist ein Anthropomorphismus, der in einer reinen physikalischen Betrachtung ebensowenig statthaft ist wie z. B. die Übertragung des subjektiven Kraftbegriffs auf unbelebte Vorgänge; vgl. Kap. II, vgl. ferner P l a n c k , Physikalische Gesetzlichkeit im Lichte neuerer Forschung, Leipzig, Barth, 1926).
N a c h den beiden P o l e n der A k t i v i t ä t und P a s s i v i t ä t ist das L e b e n z e i t l i c h o r i e n t i e r t . Dem V o r a u s g e g a n g e n e n g e g e n ü b e r v e r h ä l t es sich p a s s i v , l e i d e n d , e m p f i n d e n d ; dem B e v o r s t e h e n d e n g e g e n über a k t i v , h a n d e l n d , wollend. Der Wille ist der bewußte Teil der Aktivität, die Wahrnehmung der bewußte Teil der Passivität. Aber die Polarität von Aktivität und Passivität tritt nicht erst mit dem Bewußtsein und nicht einmal erst bei jenen Tieren auf, die mit einem Nervensystem ausgestattet sind: Grundsätzlich hat jede Zelle aktive und passive, d. h. motorische und sensible Funktionen. Nur können wir sie dort besser studieren, wo eine Arbeitsteilung eingetreten ist87). Wir fassen noch einmal kurz zusammen: A. Jede Empfindung ist ein passiver Prozeß. Sie steht am Ende von zentripetalen physiologischen Vorgängen (z. B. Reizleitung im Auge, im Sehnerv, in der Sehbahn des Zwischenhirns und schließlich im Großhirn), die sich von der Umwelt herleiten, sie ist aber selbst etwas anderes als der physische Prozeß, als dessen Folge sie eintritt38). B. Jeder Wille ist ein aktiver Prozeß. Wir erleben ihn subjektiv als die Ursache unseres Handelns. Objektiv steht er am Anfang von zentrifugalen physiologischen Vorgängen (z. B. Erregungsleitung in der Pyramidenbahn, im peripheren Nerv und schließlich Muskelkontraktionen, die unsern Körper bewegen). Er ist aber nicht identisch mit dem zentrifugalen Nervenprozeß, den er verursacht38).
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Diese Sätze führen uns zu einer wichtigen Schlußfolgerung: 1. Die Empfindung folgt zwangsläufig der physikalischen Veränderung im sensiblen Nervensystem. Sie unterliegt daher grundsätzlich der physikalischen Gesetzlichkeit, auch wenn biologische Gesetze mit im Spiele sind; denn diese können in physikalischer Hinsicht am zwangsläufigen Charakter des Vorgangs nichts ändern. Eine Ausnahme kommt nur insofern zustande, als die Sinnesorgane und -nerven durch den Willen verschieden gerichtet und angespannt werden können. 2. Der Wille unterliegt dagegen grundsätzlich nicht der physikalischen Gesetzlichkeit, denn er entspringt einer nicht physikalischen Sphäre. Sicher ist zunächst zweifellos nur, daß er in seinen Zielen auf die physikalischen Gesetze Rücksicht nehmen muß, wenn er seinen Sinn nicht verlieren soll. Der zweite Satz bedeutet aber, wohlgemerkt, noch keine Freiheit des Willens. Denn es wäre ja sehr wohl denkbar, daß es außer der physikalischen noch eine biologische und psychologische Kausalität gibt, d. h. daß auf einen äußeren Reiz, auf ein äußeres Motiv hin die psychische Reaktion jedesmal zwangsläufig in gleicher Weise erfolgen muß. Aber erwiesen ist dies nicht, und auf Grund der Tatsachen, die über die Natur des Willens in physiologischer und psychologischer Hinsicht bekannt sind, läßt sich diese Frage keineswegs beantworten. Für eine restlose Gültigkeit der Kausalität auch in psychologischer Beziehung scheinen einmal gewisse Einzeltatsachen — namentlich aus der Pathologie —, zum andern gewisse rein theoretische Überlegungen zu sprechen. Hiermit müssen wir uns im folgenden Kapitel beschäftigen. X I . W a s spricht für die vollkommen kausale Determination des Willens? Im letzten Kapitel suchten wir festzustellen, was grundsätzlich über die Struktur des Willens in physiologischer und
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psychologischer Hinsicht bekannt ist. Die bisher herausgeschälten Tatsachen lassen das Freiheitsproblem offen. Wir werden uns daher zunächst nach einschlägigen Einzelerfahrungen umsehen. Über kausale Abhängigkeiten des Willens weiß der Mediziner manches zu berichten. Die Tatsachen sind für jeden von Wichtigkeit, der sich mit dem Freiheitsproblem beschäftigt — auch abgesehen davon, ob die letzte Frage bejaht oder verneint werden muß. Denn bei Vernachlässigung der naturwissenschaftlichen Erfahrung werden nur allzuleicht verkehrte Behauptungen ausgesprochen, und wenn der Geisteswissenschaftler sich zu solchen Äußerungen hinreißen läßt, verliert er jeden Kredit bei dem Mediziner. So wird z. B. in der populären geisteswissenschaftlichen Literatur, namentlich in der theologischen, häufig die Meinung vertreten, daß die Seele fähig sei, frei von aller Materie zu denken8»). Die fertig geformten Gedanken sollen dann in ähnlicher Weise durch das Gehirn auf den Körper und durch diesen auf die Umwelt übertragen werden, wie eine Sonate durch das Klavier in den Konzertsaal. Diese Hypothese meint, daß der Wille nur dann der physischen Kausalität unterworfen sei, wenn beim Heraustreten der Gedanken aus der Seele in den Körper ein Hindernis im Wege liegt. In diesem Falle soll dann „durch eine Verstimmung des Instruments" die Komposition in verzerrter Form erscheinen. Diese naive Vorstellung ist leicht zu widerlegen. Jeder Gedanke wird im physischen Organismus selbst komponiert. Erstens läßt sich nachweisen, daß das Denken durch die Zusammenarbeit größerer Teile des ganzen Gehirns entsteht. Wenn wir z. B. bei einer Operation in örtlicher Betäubung das Stirnhirn durch Novokaineinspritzung außer Tätigkeit setzen, so können wir erleben, daß der Patient allerhand muntere Gedanken produziert, wie er sie sonst in einer ähnlich ernsten Lage sicher nicht haben würde. Auch die dauernde Ausschaltung des Stirnhirns durch Verletzungen oder Geschwülste führt zu einer ausgesprochenen Neigung, alberne Witze zu machen. Bei Menschen, die eine Gehirngrippe durchgemacht haben, hat man u. a. hysterische Charakterveränderungen beobachtet, bei anderen eine Haltlosigkeit in erotischer Beziehung. — Durch das Gefühl der Magenleere oder durch einen erniedrigten Blutzuckerspiegel, wie er z. B. die Folge einer Insulineinspritzung sein kann, werden die Gedanken auf die Nahrungsaufnahme gelenkt; ja es entsteht z. B. bei einem sonst sparsamen Menschen der Entschluß, in eine Konditorei zu gehen. — Starke Absonderungen des innersekretorischen Apparates der Geschlechtsdrüsen lenken das Denken auf erotisches Gebiet. Es kann also die ganze Richtung der Gedanken sehr weitgehend durch unmittelbare physische Einflüsse gelenkt werden.
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Wäre das Denken ausschließlich ein metaphysischer Prozeß, so müßten bei materiellen Störungen im Gehirn Zerrbilder oder Bruchstücke von an sich normal gerichteten Ideen zutage treten. Das ist aber nicht der Fall. Es entstehen vielmehr höchst ausführliche, aber abnorm orientierte Gedanken, die eben in dieser ihrer Ausführlichkeit ohne die unmittelbaren physischen Einflüsse nicht auftreten würden. Die von Theologen immer wieder verfochtene Hypothese, daß der Gedanke frei von aller Materie komponiert und vom Geist durch das Gehirn auf den Körper übertragen würde, wie ein fertig komponiertes Musikstück vom Künstler durch das Instrument in den Konzertsaal, ist also von vornherein abzulehnen. Überhaupt kann der Mediziner eine ganze Reihe von Dingen anführen, die weitgehend gegen die Freiheit des Willens sprechen. An Bestrebungen, eine geschlossene Reihe solcher Beweise aufzustellen, fehlt es nicht. In der Tat genügen sie, um glaubhaft zu machen, daß es eine v o l l k o m mene Willensfreiheit wohl niemals gibt. Einsichtige Geisteswissenschaftler haben sich dem auch nicht verschlossen, und für den Mediziner ist das eine Selbstverständlichkeit. Eine gegenteilige Behauptung steht daher von vornherein für einen kritischen Denker gar nicht zur Erörterung. Wenn also durch die Beweisführung nichts anderes erwiesen wird, als daß es eine v o l l k o m m e n e Freiheit des Willens nicht gibt, dann wird nur etwas aufgezeigt, worüber sich vorher die in Betracht kommenden Parteien einig waren. Bei unserem Problem handelt es sich vielmehr darum, wieweit die vorgebrachten Argumente eine Verallgemeinerung erlauben, und wieweit sie in den betreffenden Fällen eine restlose Unfreiheit wahrscheinlich machen. Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir die einzelnen Beweise prüfen. Sie sind in ihrer Art typisch, kehren in der philosophierenden Medizin immer wieder und lassen sich gruppenweise überschauen. Auf den ersten Blick fällt am meisten die kausale Abhängigkeit menschlicher Willenshandlungen von Hormonen und hormonartig wirkenden Substanzen auf: Ein Stoff, dessen Konzentration im Blut ab- oder zunimmt, kann dadurch die Gedanken in bestimmter Richtimg lenken. Wir erwähnten R a b l , Willensfreiheit.
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ja soeben, daß ein durch Insulineinspritzung erniedrigter Blutzuckerspiegel nicht nur die Empfindung des Hungers weckt, sondern auch ganz unmittelbar kompliziertere Gedanken anregt, die auf kulinarische Genüsse hinzielen. Was geschieht aber in diesem Fall ? Es wird ein Trieb stärker, als er vorher war, bzw. er wird überhaupt erst geweckt. Der Trieb kann so stark werden, daß das „Ich", das ihn zu bewachen pflegt, überrannt wird. Schließt solches aber aus, daß sonst das „Ich" einen gewissen Grad von Freiheit besitzt und als Zensor über den Trieben steht? Grundsätzlich ist Freiheit durch diese Dinge nicht ausgeschlossen. Ernster scheint der Einwand, daß durch Ermüdung, Ermüdungsstoffe, gewisse Narkotika u. a. m. der Wille ganz unmittelbar beeinflußt werden kann. Denn in diesen Fällen wird die Zentralinstanz der Persönlichkeit selbst an der Wurzel getroffen, und zwar durch rein materielle Dinge. Und trotzdem beweist auch dieses nicht mehr als eine teilweise Abhängigkeit von kausalen Faktoren. Handelt es sich doch im Grunde um die gleiche Frage wie beim Leben überhaupt: Das Leben spielt sich zwar im übrigen als ein physikalischer Vorgang ab, es kann durch physikalische Einflüsse entscheidend geändert werden, aber ohne die Mitwirkung einer spezifisch vitalen Macht ist es nicht zu erklären. Wir hatten ja davon oben (Kap. IV) ausführlich gesprochen. Gewiß schließt das noch nicht aus, daß jene nicht physikalische Triebkraft der Seele eine Art von Kausalfaktor bedeutet. Das ist eine weitere Frage, mit der wir uns noch auseinanderzusetzen haben. Aber im vorliegenden Fall handelt es sich ja nur um die Abhängigkeit von physikalisch-kausalen Faktoren. Daß eine solche zum Teil besteht, ist nicht zu bezweifeln. Aber über die teilweise Unfreiheit des Willens waren wir uns ja von vornherein im Klaren! Die gleiche Bedeutung für unser Problem hat die Tatsache, daß bei organischen Veränderungen des Gehirns bewußte Willensentscheidungen zustande kommen, die durchaus den Stempel des Krankhaften an sich tragen. Auch hierdurch ist nur eine teilweise kausale Abhängigkeit bewiesen. Was darüber hinausgeht, ist Hypothese. 90
Man betont weiterhin immer den großen Einfluß, den die Umgebung auf den Menschen ausübt. Es ist beinahe trivial, auf diesen Einwand einzugehen. Denn daß die Bedeutung des „Milieus" sehr beachtlich, aber keineswegs allmächtig ist, ist in den letzten Jahrhunderten durch zahlreiche, ausführliche Erörterungen so eingehend geklärt worden, daß wir darüber nicht zu sprechen brauchen. Von der philosophierenden Medizin wird nun ganz besonders die Tatsache, daß Menschen unter dem Einfluß einer Suggestion sich irrtümlich einbilden frei zu handeln, als Beweis gegen die Willensfreiheit angesehen. Aus der Tatsache geht zwar hervor, daß das subjektive Gefühl den Menschen täuschen kann, sie ändert aber am Kern unserer Problematik nichts. Denn das Verhältnis von Willen und Kausalität bleibt dasselbe, mag die wollende Persönlichkeit ihre Tat selbst ausführen oder durch einen anderen Menschen ausführen lassen. Wenn der Politiker die Massen zur Rebellion aufruft, dann ist er für ihr Vorgehen verantwortlich, d. h. ihm ist der freie Entschluß zuzuschreiben und nicht dem Proleten, der mit der Keule zuschlägt. Wer etwas durch einen anderen Menschen bewirkt, der trägt nach allgemeinem Rechtsempfinden dafür die Verantwortung: Er hatte die Freiheit, die Tat zu verursachen oder nicht zu verursachen. Durch die Suggestion, die Willensübertragung, wird die Frage nach der Freiheit nur ein Stück hinausgeschoben, aber nicht erledigt40)! Dasselbe gilt auch für die zahlreichen suggestiven Einflüsse, denen wir alle täglich unterliegen. Es sei gar nicht bestritten, daß wir modernen Menschen je nach unserer Erziehung weitgehend durch Suggestionen beeinflußt sind, die z. B. auf Friedrich den Großen oder auf Diderot oder Freud oder Ignatius von Loyola zurückzuführen sind. Und auch diese Männer standen zweifellos ihrerseits wieder unter gewissen fremden Einflüssen, je nach ihrer Herkunft. Aber jeder Mensch besitzt gegenüber seinen Erziehern und seinem Milieu eine gewisse Selbständigkeit, der eine mehr, der andere weniger. Ob diese Selbständigkeit auf der individuellen Veranlagung oder auf echter Freiheit beruht, ist eine andere Frage, die uns noch beschäftigen wird. Jedenfalls beweist auch die Suggestion nur, daß der Wille nicht v o l l kommen frei ist. Hierüber aber bestand von vornherein Einigkeit.
Wir könnten nun die Reihe der Beispiele noch beliebig verlängern, wir würden aber etwas grundsätzlich Neues nicht hinzufügen. Immer wieder würde sich ergeben, daß wir zwar 7*
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einzelne Kausalketten feststellen können, daß wir aber eine lückenlose, zwingende Front von Beweisen niemals auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit aufzeigen können. Diese Lückenhaftigkeit der Beweisführung würde nun freilich allein auch wiederum nicht genügen, um uns an der restlosen Gültigkeit des Kausalprinzips zweifeln zu lassen, wenn nicht positive Gründe für die Freiheit des Willens sprächen. XII. Die theoretischen Schwierigkeiten des Freiheitsproblems. Wer naturwissenschaftlich zu arbeiten gewohnt ist und ethische und pädagogische Probleme nicht mit logischer Schärfe zu durchdenken pflegt, der wird an unseren Ausführungen im vorigen Kapitel erheblich Anstoß genommen haben, obwohl sie etwas Falsches nicht behaupten. Er wird gar nicht begreifen, warum wir immer wieder betont haben, daß im psychischen Geschehen nur unvollständige Ursachenkomplexe aufzuzeigen sind, — wo doch ein überwältigendes Tatsachenmaterial die Wirksamkeit kausaler Faktoren an und für sich beweist. Er wird an Versuche aus seinem Laboratorium erinnern, wo selbst durch sauberstes Arbeiten keine konstanten Zahlenwerte zu erhalten waren, und trotz scheinbar gleicher Bedingungen das Ergebnis erheblich schwankte. Solche Erfahrungen macht gelegentlich jeder Naturforscher, und es würde unsinnig erscheinen, am Kausalprinzip zu zweifeln, solange nicht alle denkbaren Fehlerquellen ausgeschaltet sind. Fehlerquellen gibt es aber in überreichlicher Menge, wenn wir das Handeln des Menschen kausalanalytisch untersuchen. Es ist doch nicht anders als selbstverständlich, wenn hier der Nachweis vollständiger Ursachenkomplexe stets mißlingt ! Ist es da nicht Irrsinn, auf Grund von Beobachtungen aus dem praktischen Leben die Gültigkeit des Kausalprinzips zu bezweifeln ? Zu einem Zweifel am Kausalprinzip ist allenfalls der Physiker berechtigt, wenn er trotz schärfster, vollständiger Erfassung des Ursachenkomplexes ungenaue Zahlenwerte enthält. Hiervon war ja schon die Rede, vgl. Kap. III. 92
Der Mediziner dagegen hat bei seiner stets etwas ungenauen Methodik zu einem solchen Vorgehen kein Recht. Diesem einfachen und klaren Einwand wäre ohne weiteres zuzustimmen, wenn es sich in unserem Fall nur darum handelte, ob wir etwa auf Grund unserer Beobachtungen die gesetzmäßige Verknüpfung von Ursache und Wirkung für unvollkommen halten sollen. Denn zu einem solchen Urteil reichen die Beobachtungen nicht aus, und andererseits ist das Kausalprinzip ein derart nützliches Axiom, daß wir an ihm auch dann festhalten würden, wenn wir seine vollkommene Gültigkeit nicht sicher beweisen könnten. Aber es handelt sich um mehr: Wir haben durchaus den positiven Verdacht, daß beim Willen die kausale Ordnung von einer Ordnung anderer Art durchbrochen wird. Darum eben hatten wir die Tatsachen geprüft, und aus diesem Grunde ist unsere Feststellung wichtig, daß aus den Beobachtungen heraus die Frage nicht zu entscheiden ist. Die beiden Wissenschaften, in denen vor allem die Hypothese von der restlos kausalen Determination des Willens versagt, gehören zwar nicht zur Naturwissenschaft: Es sind die Ethik und die Pädagogik. Aber eben diese beiden Gebiete gehen praktisch den Arzt nicht weniger an als die Physik und die Chemie! Mit der Problematik dieser Disziplinen muß er sich auseinandersetzen, und zwar von seinem eigenen Standpunkt aus — auf die Gefahr hin, daß er ihn revidieren muß! —, wenn sein Weltbild nicht auseinanderreißen soll. In der Einleitung haben wir dargelegt, daß ohne die Annahme einer Willensfreiheit die Ethik zu einer Illusion wird. Wem unsere Ausführungen nicht genügen, der lese Nicolai Hartmanns „Ethik", ein Buch, das man heute wohl als das maßgebende Werk über diese Problematik ansehen darf. Bei Nicolai Hartmann bleibt allerdings die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft immer etwas unbefriedigend; die Frage, was denn eigentlich Freiheit sei, wird von ihm in einer Weise beantwortet, die dem Naturforscher nicht einleuchten kann. Klar ist, daß der menschliche Wille nicht kausal, sondern nur final zu verstehen sei, und daß in der Fähigkeit, Finalreihen zu beginnen, die Freiheit wesentlich begründet 93
sein müsse. Aber Freiheit und Finalität sollen nach Nicolai Hartmann nicht etwa eine Lücke in die Kausalität reißen, sondern mit ihr harmonieren. Eine solche Auffassung verträgt sich nicht mit der naturwissenschaftlichen24). Denn das Kausalprinzip in der üblichen Formulierung duldet keine Ausnahmen; alle Vorgänge sind nach ihm ausnahmslos durch ihre Ursachen eindeutig bestimmt^ Wenn in irgendeinem Geschehen eine Finalreihe zu erkennen ist, so soll diese nach Ansicht der meisten Naturforscher auch wieder durch irgendwelche Ursachen hervorgerufen sein. Alle Finalität soll also letzten Endes auch wieder auf Kausalität zurückgehen, oder wie Schopenhauer es in bezug auf den Menschen ausgedrückt hat: Aus Motiv und Veranlagung ergibt sich die Handlung mit Notwendigkeit. Das schließt aber echte Freiheit aus, und die wird gerade von Nicolai Hartmann gefordert l Jene Freiheit dagegen, die von der Ethik vorausgesetzt wird, verlangt, daß die Tat des Menschen nicht eindeutig bestimmt ist durch seine Veranlagung und das, was vorausgegangen ist. Andererseits bedeutet sie aber auch nicht etwa — wie dies irrigerweise so oft behauptet wird! — ein „Durch nichts Bestimmtsein", d. h. blinden Zufall41). Es muß also etwas geben, das weder Vorherbestimmtsein noch auch Zufall bedeutet. Das ist freilich logisch ein etwas harter Schluß, dem nicht nur die Naturforscher, sondern auch die meisten Philosophen gerne ausweichen. Hier, d. h. auf logischem Gebiet, liegt also die eigentliche Schwierigkeit des Problems, und nicht etwa bei den naturwissenschaftlichen Tatsachen. Damit ist nicht gesagt, daß nicht in Zukunft mit dem Bekanntwerden neuer Tatsachen die logische Klärung von selbst erfolgen kann. Auch die Problematik des physikalischen Substanzbegriffes, die vor hundertfünfzig Jahren den Philosophen noch die größten Schwierigkeiten bereitete, ist durch die Arbeit am Objekt weitgehend geklärt worden. Da uns auf verschiedenen Gebieten, in der Ethik, in der Pädagogik und nicht zuletzt ganz unmittelbar im praktischen Handeln und Denken die Freiheit des Willens mit unabweislicher Evidenz entgegentritt, so ist ihre Verleugnung nicht genügend damit begründet, daß ihre Einordnung ins logische 94
Denken gewisse Schwierigkeiten macht. Wir müssen auch hier wieder auf das Vorbild der modernen theoretischen Physik verweisen. Auch in der Physik wird der Wahrheitswert einer Hypothese nicht bestritten, wenn ihre Schlußfolgerungen vorläufig noch zu keinem klaren Ausgang führen. Z. B. begegnet die Quantenmechanik dort, wo die Interferenzerscheinungen des Lichtes erklärt werden sollen, unübersehbaren Schwierigkeiten, ohne daß man an sich ihre Richtigkeit bezweifelt. Notwendig wird die Ablehnung einer Hypothese erst, wenn sie bekannten Tatsachen offenkundig widerstreitet. Das ist aber bei der Anerkennung der Willensfreiheit nicht der Fall. Die Hypothese der Willensfreiheit wäre also damit nicht widerlegt, daß ihre logische Durcharbeitung noch nicht ganz gelungen ist. Nun sind aber diese Schwierigkeiten gar nicht einmal so groß, wie es zunächst scheint, es ist durchaus möglich, sie zu überwinden. Selbstverständlich soll von vornherein zugegeben werden, daß der Weg, den wir jetzt zeichnen wollen, nicht notwendig der richtige sein muß. Er sei lediglich als Beispiel angeführt, daß es keineswegs unmöglich ist, die scheinbaren Widersprüche zu überbrücken. Immerhin aber bedeutet der im folgenden beschrittene Weg eine brauchbare Arbeitshypothese, die in ihrer allgemein gehaltenen Form einen gewissen Wahrscheinlichkeitswert für sich hat. Alle Kausalgesetze gelten nur für Dinge, die in Raum und Zeit orientiert sind. Denn Ursache ist immer nur dasjenige, wodurch ein räumlich-zeitlicher Vorgang bestimmt ist. Bestimmend ist einmal das, weis vorangegangen ist, zum anderen das Naturgesetz. (Die gleichen Betrachtungen lassen sich auch in der Sprache der modernen Physik anstellen: Der räumlich-zeitliche Vorgang, d. h. eine n-dimensionale, berandete Mannigfaltigkeit wird bestimmt durch ein mathematisch formulierbares Gesetz, wobei allerdings das, was in n.ter Dimension voransteht, besonders ausgezeichnet ist, solange der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmelehre gilt; denn durch ihn ist die vollständige Umkehr, die an sich die mathematische Formel zuließe, unmöglich gemacht. Ich gehe auf diese Formulierung nur ein, um zu zeigen, daß von der modernen Physik aus kein ernster Einwand zu fürchten ist. An sich können wir ruhig bei der Ausdrucksweise unserer hergebrachten räumlich-zeitlichen Anschauung bleiben.)
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Die Kausalität fordert also ein Geschehen in Raum und Zeit. Nun sind aber auch Vorgänge denkbar, die sich in einer anderen Welt als der räumlich-zeitlichen abspielen. Seit Plato 1 6 ) haben viele Menschen gelernt, außer Raum und Zeit zu denken. Ich meine damit nicht etwa die Transposition physikalischer Beziehungen in ein abstrakt mathematisches System, wie wir sie in der modernen theoretischen Physik gewohnt sind. Sondern ich meine damit eine — zunächst nur gedachte — Welt, die überhaupt eine andere Struktur zeigt als die räumlich-zeitliche. In jenen Sphären bedarf eine Veränderung (soweit die Worte Veränderung oder Beharren hier überhaupt noch einen Sinn haben!) keiner v o r a u s g e h e n d e n U r s a c h e , denn hier gibt es kein Vorher und Nachher. Infolgedessen ist auch die Ordnung in jener Welt keine kausale. Wenn nun ein „Vorgang" in jener Welt in Beziehimg steht zur physischen Natur, so wird seine Einwirkung auf diese uns irrational erscheinen, weil wir dann nicht mehr in der Lage sind, aus den zeitlich vorher gegebenen Ursachen und den gegebenen Naturgesetzen das Geschehen zu erklären. Man sucht nun immer auch dasjenige physische Geschehen, das sich infolge einer Einwirkung aus einer außerräumlichen Sphäre in unserer physischen Welt abspielt, doch noch in irgendeiner Weise als kausal bedingt aufzufassen. Einen solchen Standpunkt vertritt z. B. D r i e s c h : Die in den Raum hineinwirkende Entelechie soll eine Art von Kausalfaktor sein. Diese Auffassung ist solange berechtigt, als jene außerräumliche und außerzeitliche Macht als relativ „unveränderlich" gelten kann. Gerade das können wir aber bei den metaphysischen Bestimmungsgründen des psychischen Geschehens nicht ohne weiteres voraussetzen. Von unserer räumlich-zeitlichen Welt aus gesehen erscheinen sie uns bald als beharrend, bald aber als veränderlich; jenes bedeutet Kausalität, dieses Freiheit! Eine solche Hypothese kommt der ursprünglich von K a n t vertretenen Ansicht außerordentlich nahe. Nicht nur aus der „Kritik der reinen Vernunft", sondern auch aus Notizen K a n t s (vgl. V o l k e l t , Probl. d. Individualität) wissen wir, daß er früher der „Kausalität nach den Gesetzen der Natur" eine „Kausalität aus Freiheit" gegenüberstellte, welche durchaus fähig war, auf das physische Geschehen
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einzuwirken. Warum K a n t später diese Ansicht wieder fallen ließ und eine vollkommene Abhängigkeit des empirischen, wollenden Menschen von der „Kausalität nach den Gesetzen der Natur" annahm, ist zunächst nicht ohne weiteres ersichtlich; es läßt sich aber historisch leicht begreifen. Auf die Zeitgenossen verfehlten die Experimente am Menschen, mit denen die Physiologie damals begann, ihren Eindruck nicht. Namentlich L a v o i s i e r s Nachweis, daß nicht nur das Tier, sondern auch der Mensch sich bezüglich der Verbrennung genau wie eine Maschine verhielt, wirkte umwälzend auf das damalige Weltbild, insbesondere bei allen denen, die ohnedies zum rationalen Denken neigten. Es ist kein Wunder, daß damals K a n t seine ursprüngliche Ansicht wieder fallen ließ. Aber dennoch hat sie ihren Wert nicht verloren; es ist durchaus wahrscheinlich, daß sie sich schließlich doch noch als die richtige erweist. Sie kann erst zur Geltung kommen, nachdem der Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts, die Unklarheit der Romantik und die Mechanistik des späteren neunzehnten Jahrhunderts wieder überwunden sind.
Der Wichtigkeit halber fassen wir den Inhalt dieses Kapitels noch einmal kurz zusammen: An sich erscheint dem Menschen — von der einen Seite her gesehen — die Finalität und die Freiheit des Willens evident, und — von der anderen Seite her gesehen — die lückenlose Gültigkeit des Kausalprinzips nicht weniger evident. Das Erste schließt das Zweite aus. Bisher haben die Mediziner jenes geleugnet, um dieses anzuerkennen. Gegen ein solches Vorgehen kann man an sich schon Bedenken haben. Nachdem nun aber in den letzten Jahren die Physik gezeigt hat, daß der Glaube an die Allmacht des Kausalprinzips nicht imbedingt berechtigt ist, erscheint diese Stellungnahme der medizinischen Wissenschaft nicht mehr ausreichend begründet. Nun steht der Annahme der Willensfreiheit allerdings noch eine zweite, rein logische Schwierigkeit entgegen: Freiheit schließt einerseits eine Vorherbestimmung, eine Determination des Willens aus, andererseits aber auch ein zufälliges Geschehen aus dem Nichts. Ein Drittes schien logisch nicht denkbar! Auch diese Schwierigkeit läßt sich überwinden. Vorherbestimmt ist das, was sich aus einer gegebenen Situation und den ewig gleichbleibenden Naturgesetzen ergibt. Dieser an sich so einfache und einleuchtende Satz erleidet schon in der Biologie eine Komplikation. Die Entelechie steht der physischen Substanz gegenüber wie ein Naturgesetz. Aber dieses Naturgesetz erscheint uns — von der Zeit aus gesehen — ver97
änderlich, so daß seine Auswirkungen nicht mehr in allen Fällen als vorherbestimmt gelten können. Allerdings erstrecken sich die Veränderungen der Entelechie auf so lange Zeitläufe, daß dem einzelnen Individuum für einzelne Handlungen praktisch keine Freiheit mehr übrig bleibt: Aus den äußeren Ursachen, aus den physikalischen Gesetzen und aus der Entelechie ergeben sich die Wirkungen in den Lebewesen mit relativ eindeutiger Notwendigkeit. Nun ist es aber denkbar, daß neben jener Entelechie, die wie ein einigermaßen beständiges Naturgesetz die Entwicklung der Individuen in relativ feste Bahnen zwingt, auch noch eine andere Macht — wenigstens in den höheren Organismen — wirksam ist. Diese — streng individuell — würde die einzelnen Willensentscheidungen hervorbringen. Sie könnte, von der Zeit aus gesehen, im höchsten Maße veränderlich erscheinen; sie könnte einem Gesetz unterliegen, das weder als veränderlich noch als gleichbleibend gelten darf, weil es überhaupt mit unserem in Raum und Zeit orientierten Anschauungsvermögen und auch mit unserer mathematischen Logik gar nicht zu erfassen ist. Die Auswirkung einer solchen Macht in der Zeit würde vollendete Freiheit bedeuten, weil aus den gegebenen Ursachen und aus feststehenden Naturgesetzen das Geschehen nicht abzuleiten wäre, und weil es dabei doch auch nicht dem blinden Zufall entspringen würde. Diese Hypothese würde das an sich so evidente Phänomen der Willensfreiheit erklären. Ob sie richtig ist, können wir darum natürlich trotzdem nicht wissen. Aber sie ist die einzige, die weder den Tatsachen des psychischen und physischen Erlebens noch auch der Logik widerspricht. Sie kann daher vorläufig als Arbeitshypothese von größtem Wahrscheinlichkeitswert empfohlen werden.
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E . Medizinische Sonderfragen zum Problem der Willensfreiheit. XIII. Die Zuredinungsfähigkeit. Wir haben bisher drei grundsätzlich verschiedene Seiten des Freiheitsproblems kennengelernt, die sich freilich gegenseitig durchdringen und die gegenseitig voneinander abhängen, die aber doch auseinandergehalten werden müssen: Die erste betraf die Frage, ob es überhaupt ein Geschehen auf Grund einer individuellen, veränderlichen, nur für einen einzigen Fall gültigen Gesetzlichkeit gibt (biologisches Freiheitsproblem), die zweite bezog sich auf das Verhältnis der Individuen zueinander (soziologisches Freiheitsproblem, vgl. Kap. IX.) und die dritte auf die Abhängigkeit des Willens von der Kausalität (erkenntnistheoretisches Problem der Willensfreiheit). Das erkenntnistheoretische Problem der Willensfreiheit deckt sich nun wieder nicht mit dem der Zurechnungsfähigkeit. Dieses behandelt die Frage, wieweit der Mensch durch krankhafte Einflüsse gehindert wird, seiner Wesensart gemäß zu wollen und zu handeln. Dieses Problem hat praktisch die allergrößte Bedeutung. Da es vorkommt, daß ein Mensch in krankem Zustand nicht so will, wie er in gesundem Zustand wollen würde, hat die deutsche Rechtsprechimg den § 51 des Strafgesetzbuches geschaffen, welcher lautet: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war." Die Mediziner haben gegen den Wortlaut des Paragraphen oft Einspruch erhoben, ja es gehört unter Ärzten beinahe zum guten Ton, über den Wortlaut dieses Paragraphen 99
zu spotten. Und doch haben sie die Juristen nicht zu überzeugen vermocht, daß eine andere Fassung besser wäre. Denn das, was sie selbst vorzuschlagen hatten, hatte wieder andere Mängel. Die Tatsache, daß unter pathologischen Verhältnissen durchaus bewußte, klare Willensentscheidungen zustande kommen, die der Wesensart des Menschen nicht mehr entsprechen, hat man seit jeher als Beweis gegen die Willensfreiheit überhaupt angesehen, aber wohl nicht mit Recht. Wir dürfen nicht übersehen, daß der Mensch ein Zellenstaat ist, und daß sich seine Handlungen und sein Wille aus dem Zusammenwirken der Teile dieses Staates ergeben. Scheidet ein Abschnitt des Gehirns aus, oder ist das geordnete Zusammenwirken der verschiedenen Nervenzentren gestört, dann erlangen die bisher untergeordneten Teile (oder auch die bisher untergeordnten Funktionen) die Oberhand; nur noch in ihnen kann jetzt ein Wille wirken, und dieser ist naturgemäß ein anderer als der, der vorher im ganzen Organismus herrschte. Denn während sonst der Wille von der Entelechie des Gesamtindividuums geleitet wurde, sind jetzt nur noch Teilentelechien wirksam geblieben. Was vorher in untergeordneter Funktion sinnvoll war, wird jetzt sinnlos, wo es selbst eine weitgehende Selbständigkeit erlangt hat. Unfreiheit im medizinischen Sinne, d. h. Unzurechnungsfähigkeit, braucht in solchen Fällen keineswegs eine restlose Unfreiheit im Sinne der Erkenntnistheorie zu sein. Auch dann, wenn nur noch Teilfunktionen das Feld beherrschen, ist es nach unseren früheren Ausführungen sehr wohl denkbar, daß noch da und dort die Kausalität durchbrochen wird. Und umgekehrt müßte man Willensfreiheit nach § 51 einem gesunden Menschen auch dann zuschreiben, wenn man im erkenntnistheoretischen Sinne die Willensfreiheit grundsätzlich leugnet. Denn wenn der Arzt ein Urteil über die Verantwortlichkeit eines Menschen abgeben soll, dann fragt er nur danach, ob der Betreffende wesensgemäß handeln konnte, oder ob er durch krankhafte Einflüsse daran gehindert war. Ob dieses wesensgemäße Handeln der Kausalität unterlag, ist für sein Gutachten gleichgültig.
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Im allgemeinen macht es dem Mediziner auch keine grundsätzlichen, sondern höchstens technische Schwierigkeiten, wenn er ein Urteil über die Zurechnungsfähigkeit fällen soll. Es gibt aber doch auch Fragen grundsätzlicher Natur, die ihn schwer in Verlegenheit bringen können. Zwischen schlechtem Charakter und organischer Gehirnkrankheit kommen nämlich alle Übergänge vor. Diejenigen echten Geisteskrankheiten, bei denen sich mit unseren bisherigen Methoden keine anatomischen oder physiologischen Veränderungen nachweisen lassen, würden noch am wenigsten Schwierigkeiten machen. Denn z. B. auch bei jenen Formen von Katatonie, bei denen organisch alles intakt zu sein scheint, wird jeder Arzt die Zurechnungsfähigkeit abstreiten. Weniger einfach liegen die Dinge bei gewissen Fällen von Hysterie. Würde dieses Leiden sich nicht so häufig wiederholen und würden in seinem Verlauf nicht so häufig Erscheinungen auftreten, deren Krankhaftigkeit dem Arzt ohne weiteres einleuchtet, so würden wir einen Menschen mit hysterischem Charakter, wenn er nicht zufällig auch körperlich durch besondere Symptome auffiele, ohne weiteres als unmoralisch, nicht aber als krank bezeichnen 1 Und bis zu einem gewissen Grade hätten wir dabei sogar durchaus recht, denn von der moralischen Seite her ist der Hysteriker nicht unangreifbar! Auf noch viel größere Schwierigkeiten aber stoßen wir bei jenen Verbrechern, die (wie z. B. der kürzlich hingerichtete Massenmörder Kürten) uns in ihrer ganzen psychischen Struktur abnorm erscheinen, und bei denen wir dennoch nichts von eigentlicher Krankheit feststellen können. Hier steht in der Tat die Medizin vor einer ungelösten Aufgabe. Es erscheint uns bedenklich, einen solchen Menschen für zurechnungsfähig zu erklären, aber noch viel bedenklicher, es nicht zu tun! Die Erblichkeit der defekten Anlage beweist in solchen Fällen gar nichts. Würden wir sie als Beweis für das Kranksein ansehen (ein Kranksein, welches wesensgemäßes Handeln ausschließt), so müßten wir auch erbliche, geistige Rassencharaktere für krankhafte Erscheinungen der Spezies Mensch erklären! Würden wir umgekehrt aus der Erblichkeit schließen, daß der Mensch wirklich seinem Wesen, seiner Entelechie entsprechend gewollt hat, so müßten wir eine erblich defekte Entelechie annehmen; zu einer solchen Annahme wären wir bei Menschen mit Schuppenflechte und Klumpfuß ebenfalls genötigt. Auch wenn wir im Sinne der Theosophie oder verwandter Denksysteme eine Schichtung der Entelechie in verschiedene Stufen annehmen würden, kämen wir nicht weiter. Vorläufig muß für solche Fälle die Lösung der Frage, wo die Verantwortlichkeit gesucht werden muß, noch als unbefriedigend bezeichnet werden.
XIV. Willensfreiheit und Willensschwäche. Für die ärztliche Praxis spielt nun aber doch auch das erkenntnistheoretische Problem der Willensfreiheit eine IOI
große Rolle. Wie oft antwortet uns ein Patient, wenn wir ihn ermuntern, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen: „Sie haben gut reden, Herr Doktor. Wenn man einen schwachen Willen hat, dann kann man nichts machen." Wie weit ist der Patient mit dieser Antwort im Recht? Gewiß ist es nicht möglich, daß ein willensschwacher Charakter von heute auf morgen die Energie eines industriellen Großunternehmers erlangt. Gewiß setzt die angeborene Veranlagung Grenzen. Wir haben ja auch nie und nimmer behauptet, daß es eine umfassende, allmächtige Willensfreiheit gibt. Aber es bedeutet doch schon außerordentlich viel, wenn ein gewisser Spielraum grundsätzlich vorhanden ist, so daß der Mensch aus eigenem Antrieb überhaupt wollen kann. Daß dieses möglich ist, ist nach unseren bisherigen Ausführungen als wahrscheinlicher anzusehen als das Gegenteil. Wir sind also im Recht, wenn wir den Patienten auf den Fehler seiner Auffassung aufmerksam machen. Wieweit wir ihm im einzelnen zumuten, seinen Willen anzuspannen, ist Sache der Einfühlung. Diese Dinge sind für den Berufspädagogen zwar nicht weniger wichtig als für uns Mediziner; sie treten aber bei unserer Tätigkeit noch schärfer hervor, weil wir es mit Persönlichkeiten zu tun haben, die von der Freiheit ihres Willens ausgiebiger Gebrauch machen als die Schulkinder. Am dringlichsten tritt uns Ärzten das Problem der Willensfreiheit und Willensschwäche entgegen bei der Hysterie, insbesondere bei der Wunschneurose. Gerade hier sind wir zu logisch klarer Stellungnahme gezwungen, weil wir darüber oft Gutachten abgeben müssen. Für den Nichtmediziner sei folgendes vorausgeschickt. Unter einer Neurose (im engeren Sinne42)) verstand man ursprünglich nur einen krankhaften-Zustand, bei dem die davon betroffenen Organe trotz Fähigkeit zu richtiger Funktion Verkehrtes leisten, weil sie — aus an sich ebenfalls gesunden Nerven — Impulse zu fehlerhafter Leistung erhalten. Solche Zustände werden meistens veranlaßt durch besondere seelische Vorgänge, z. B. durch unerfüllte Wünsche oder verdrängte Affekte. Voraussetzung für eine solche Neurose ist eine gewisse, abgeartete Veranlagung, die im einzelnen auch 102
wieder ein interessantes Problem ist, auf das wir aber im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehen können; es sei nur bemerkt, daß wohl kein Nervenarzt auf Grund einer mäßig schweren hysterischen oder sonst neurotischen Veranlagung die Zurechnungsfähigkeit ganz in Frage stellen würde. Neuerdings hat man sich daran gewöhnt, einen Menschen auch dann als Neurotiker zu bezeichnen, wenn er wegen unerfüllter Wünsche oder verdrängter Affekte in eine seelische Zwangshaltung verfallen ist, ohne daß auffallende körperliche Veränderungen zutage treten müßten. Immerhin ist dem Gesichtsausdruck des betreffenden Menschen der Stempel der Neurose meist unverkennbar aufgeprägt.43) Diese Erweiterung des Neurosenbegriffs hat sich namentlich darum eingebürgert, weil die kulturellen Verhältnisse unserer Tage in ganz besonderem Maße der Anlaß zur Entstehung derartiger Wunsch- und Begehrungsneurosen geworden sind. Schon aus diesem Grunde liegt es am nächsten, das Problem der Willensfreiheit in seiner praktischen Bedeutung gerade an diesem Beispiel besonders zu beleuchten. An und für sich aber kommen solche Dinge auch sonst sehr häufig vor, sie haben zu allen Zeiten, im großen wie im kleinen, eine wichtige Rolle gespielt. Der Wunschkomplex ist von Fall zu Fall ein anderer. Z. B. will eine Frau abnorm erscheinen, um sich interessant zu machen; ein kleines Mädchen möchte den Knaben, der es geschlagen hat, als schuldig hinstellen und selbst Mitleid erwecken, indem es die Folgen der Schlägerei sichtbar zur Schau trägt, ja dauernd fixiert; ein Kriegsverletzter sucht seine Verletzungsfolgen möglichst ernst hinzustellen, um einerseits eine höhere Rente herauszuschlagen und um andererseits der Öffentlichkeit zu zeigen, wie unrecht der Staat handelte, der ihn in den Krieg geschickt hat, usw. Die Begehrungsneurose zeigt die Eigenart, daß die ganze Seelenverfassung des Kranken ohne weiteres verständlich wird, wenn wir den Wunschkomplex kennengelernt haben, daß aber der Kranke selbst weder vor sich selbst noch vor anderen seine Wünsche eingesteht, entweder aus Groll, oder weil die Motivation ihn unmoralisch oder lächerlich erscheinen lassen würde. Infolgedessen wird der Wunsch ins Unbewußte verdrängt, wo er sich nicht selten so stark auswirkt, daß er 103
zu körperlich neurotischen Krankheitserscheinungen führt. Der Mechanismus der Entstehung derartiger körperlicher Symptome ist hirnphysiologisch im einzelnen nicht klar; dies muß offen zugegeben werden! Je mehr der Kranke zu Neurosen disponiert ist, je stärker andererseits der Affekt ist, der sich hinter das Symptom flüchtet, um so ausgesprochener tritt das Krankheitsbild äußerlich in Erscheinung. Ein gesund veranlagter Mensch wird es nie zu vollständigen hysterischen Lähmungen bringen. Man pflegt daher zu sagen, daß ohne eine gewisse neurotische Veranlagung keine hysterische Erkrankimg entstehen kann. Mancher Hysteriker könnte nun freilich seine Wunschkomplexe aus dem Unbewußten herausheben und dem hellen Bewußtsein vorführen. Das würde sogar vielfach ohne weiteres die Krankheit heilen, wie Freud gelehrt und die Erfahrung immer wieder bestätigt hat. Aber an der Schwelle zum Bewußtsein sitzt das „Ich", der Zensor, der den Wunsch nicht bewußt werden läßt, sondern ihn zurückdrängt. Ein in jeder Beziehimg gesunder und vor sich selbst ehrlicher Charakter hebt seine Motive, sobald sie eine besondere Kraft gewonnen haben und sich hervordrängen, aus dem Unbewußten heraus, um sie zu prüfen. Der Naive tut dies nur bei den stärksten und wichtigsten; der nachdenkliche Mensch sucht den feinsten Beweggründen nachzugehen. Aber auch der naivste Charakter drängt einen starken Wunschkomplex nicht wieder ins Unbewußte, wenn er ehrlich ist; und andererseits holt ein reflektierender Hysteriker zwar unter seinen harmlosen Motiven die subtilsten heraus, stößt aber die ungeheuerlichsten Wunschkomplexe immer wieder ins Unbewußte zurück. Dies ist die Situation, die wir Ärzte begutachten müssen, was namentlich im Falle des neurotischen Rentenbegehrens häufig in Frage kommt. Voraussetzung für die Begutachtung ist selbstverständlich eine wirklich sichere Diagnose. Denn ein Fehlurteil würde den Arzt außerordentlich schwer belasten. Drückt er doch damit dem betreffenden Menschen den Stempel des minderwertigen Charakters auf! Daß ein Fehlurteil zuungunsten des Patienten schwerer wiegt als zehn zu104
ungunsten der Versicherungsanstalt bzw. der Allgemeinheit, wird immer wieder von denen übersehen, die den Ärzten eine allzugroße Weitherzigkeit vorwerfen. Denn auf der einen Seite stehen nur materielle, auf der anderen vor allem ethische Werte auf dem Spiel. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß namentlich unter meinen chirurgischen Fachkollegen in den letzten Jahren eine an sich vielleicht berechtigte affektive Einstellung vielfach dazu geführt hat, daß man im Zweifelsfalle ein Fehlurteil zuungunsten des Patienten kaum tragischer nimmt als das Gegenteil.44) Wenn die Diagnose sicher ist, dann ist die weitere Begutachtung insofern einfach, als sie sich bis zu gewissem Grade an feste Regeln anlehnen darf. Hierfür gelten Richtlinien, etwa wie sie vor einigen Jahren Bonhoeffer und His festgelegt haben, als üblicher Maßstab für die allgemeine Praxis. Bonhoeffer geht folgenden Gedankengang: Eine Entschädigungspflicht kann nur für die Folgen eines Unfalles usw. anerkannt werden. Die Rentenneurose sei aber nicht Folge der Verletzung, denn sie ist durch den Wunsch des Betroffenen nach Rente und durch seine psychopathische Veranlagung hervorgerufen. Ob allerdings diese Veranlagung soweit zu den Voraussetzungen der Rentenneurose gehört, wie B o n hoeffer es auf Grund seines Materials behauptet hat, erschien schon seinem Korreferenten zweifelhaft — es dürfte wohl auch je nach dem Spezialfach des Begutachters einerseits verschieden bewertet werden und andererseits auch in der Tat verschieden sein. Ich finde z. B. auf Grund meines Materials nicht so zahlreich Menschen, die primär als Neuropathen gelten können, obwohl die sekundäre Psychopathie, durch Rentenkampf und allerhand berechtigte und unberechtigte Verstimmung hervorgerufen, sich so sehr im Gesicht des Betreffenden ausdrückt, daß er dem Arzt von vornherein unter anderen Patienten im Wartezimmer auffällt. Doch ist das für die Begründung unseres Urteils von untergeordneter Bedeutung. Die Tatsache, daß moralisch hochwertige Menschen nie zu Rentenneurotikern werden, und daß unlautere Wünsche meistens den eigentlichen Kern der ganzen Angelegenheit bilden, ist nicht zu bestreiten. Infolgedessen wird bei dieser Sachlage kein vernünftiger Mensch behaupten R a b l , Willensfreiheit.
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wollen, daß der Rentenneurotiker mit seinen Forderungen moralisch im Recht sei. Wenn trotzdem die Angelegenheit nicht zur Ruhe kommen will, so liegt das an der Begründung, die B o n h o e f f e r gegeben hat. E r schreibt (Beurteilung usw. bei den sogenannten Unfallneurosen, Deutsche Medizinische Wochenschrift 1926, Nr. 5, auch als Sonderdruck, Leipzig, Thieme 1926): „Ein ursächlicher Zusammenhang des neurotischen Zustandes mit dem Unfall ist abzulehnen." Der Unfall ist aber die Vorbedingung ohne den die Neurose — mindestens zu dem Zeitpunkt und in der Form — nicht entstehen würde! Eine conditio sine qua non als Ursache abzulehnen, ist unlogisch! B o n h o e f f e r sucht den Begriff der Ursache einzuschränken, aber dafür fehlen genügende Handhaben. Infolgedessen kann man seiner Beweisführung in logischer Hinsicht für viele Fälle nicht zustimmen, und daher rühren die fortwährenden Versuche, an den von ihm aufgestellten Grundsätzen zu rütteln. Eine befriedigende Lösung kann nur auf anderem Wege gefunden werden. Wir wehren uns dagegen, daß ein Leiden prämüert werden soll, das der unmoralischen Haltung des Patienten seinen Fortbestand verdankt. Wir fühlen uns mit unserer Stellungnahme zweifellos im Recht, und doch läßt sich nicht leugnen, daß der Unfall als conditio sine qua non eine wesentliche Ursache des Leidens darstellt! Wo liegt der Widerspruch, und wie ist er zu lösen ? Wir müssen einsehen, daß hier unser Rechtsempfinden das maßgebende Urteil zu sprechen hat, und nicht die naturwissenschaftliche Logik. Unter diesem Gesichtspunkt kommt es mehr auf die Schuld als auf die mechanische Ursache an. Wenn die Kette der Ursachen zwischen Unfall und Unfallfolgen durch die Selbstbestimmung des Verletzten hindurchgeht, so trägt er die Schuld, wenn das Leiden nicht heilt. In mechanischer Hinsicht bleibt der Unfall selbstverständlich ein wesentlicher Kausalfaktor; in rechtlicher Hinsicht verliert er seine Bedeutung. Die ganze Angelegenheit ist eben nicht nur ein physiologisches, sondern auch ein ethisches Problem. Hier offenbart sich der Grundirrtum des Mediziners, daß alle ärztlichen Fragen rein naturwissenschaftlich zu lösen seien. (Selbst-
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verständlich darf die Behandlung eines medizinischen Problems keiner naturwissenschaftlichen Erfahrung widersprechen. Wir hatten ja aber in den vorangehenden Kapiteln festgestellt, daß dies nicht der Fall ist, wenn wir als Grundvoraussetzung der Ethik die Willensfreiheit gelten lassen.) Gehen wir von der moralischen Seite an die Begutachtung der Rentenneurose heran, dann klärt sich die Frage der Entschädigungspflicht sofort sehr viel einfacher. Die Kette der Ursachen, die vom Unfall zur Begehrungsneurose fortwirkt, geht an irgendeiner Stelle durch die freie Willensentscheidung des Verletzten hindurch. Es hat zum mindesten einen Augenblick gegeben, in dem es ihm frei stand, sein unmoralisches Begehren ins Licht des Bewußtseins zu heben und sich davon freizumachen. Tat er es nicht, so trägt er selbst die Schuld, daß das Leiden fortbesteht. Darum sind in diesem Fall die Unfallfolgen nicht zu entschädigen. So einfach, wie sich hiernach die Angelegenheit zu klären scheint, erledigt sie sich nun freilich in der Praxis nicht immer. In vielen Fällen besteht noch eine wichtige Komplikation, die übrigens auch bei Ableugnung der Willensfreiheit schwierig zu meistern ist, und die heute viel zu wenig beachtet wird. Wenn der Verletzte sich in die neurotische Situation einmal hineingesteigert hat, dann ist seine Gemütsverfassung nicht selten derart krankhaft geworden, daß sie ihm keine freie Willensentscheidung mehr erlaubt. Hier regt sich unser ärztliches und unser christliches Gewissen. Zugegeben, daß der Kranke an seinem Leiden ursprünglich selber Schuld gewesen ist. Aber damals war er sich der Tragweite dessen, was er tat, nicht bewußt; und jetzt ist er in einem Zwang befangen, von dem er sich selbst nicht mehr befreien kann. Wir müssen ihm helfen, damit er wieder von seiner krankhaften Gemütsverfassung loskommen und nun von neuem, unter klarer Einsicht in das, was er tut, die freie Willensentscheidung vollziehen kann. Freilich ist die Führung hierbei für den Arzt eine schwierige Aufgabe, aber sie ist erfüllbar. V. v. W e i z s ä c k e r hat vor zwei Jahren eine kleine, hochbedeutsame Arbeit veröffentlicht, in der er uns den rechten Weg zeigt (Soziale Krankheit und soziale Gesundung, Springer, 1930). Leider sind die Einzelheiten seines Vorgehens nur sehr kurz 8*
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angegeben; hoffentlich folgt bald eine ausführlichere Veröffentlichung aus seiner Klinik. Uns interessiert hier vor allem das Grundsätzliche. „In der Neurose" ist der Kranke nicht mehr richtig imstande, „die Wahl zwischen Verzicht und Kampf zu vollziehen" (S. 34). Wir müssen ihn also dahin bringen, daß er diese Wahl wieder vollziehen kann. Wie er sich dann entscheiden wird, ist seine Sache. Aber „jedem Neurotiker soll die Chance der Heilung einmal angeboten werden." Es wäre durchaus unärztlich, wollten wir uns mit der Feststellung begnügen, daß der Unfall im rechtlichen Sinne nicht die Ursache der Neurose ist. Wir haben die Pflicht, ihn von seinem seelischen Leiden zu befreien. Wort für Wort wird man v. W e i z s ä c k e r zustimmen. Eine kleine Schwierigkeit unterschätzt er freilich. Nachdem einmal die Entschädigungspflicht nicht mehr besteht, wird es in den wenigsten Fällen gelingen, die Kostendeckung für die Behandlung in einer speziellen Neurotikerstation zu erhalten. Zwar erwähnt v. W e i z s ä c k e r diese Schwierigkeit; aber wenn er sie auf Grund seiner relativ guten Erfahrungen mit den Versicherungsträgern für gering erachtet, so irrt er: Denn nur wenigen Ärzten gegenüber werden die Behörden sich so wohlwollend verhalten wie gegen die leitenden Professoren der Heidelberger Universitätskliniken! Schon aus diesem Grunde würde es sich empfehlen, wenn die Ärzteschaft den Standpunkt, den sie durch Anerkennung der Richtlinien von B o n h o e f f e r und His eingenommen hat, revidieren und den Weg, den v. W e i z s ä c k e r gewiesen hat, konsequent weitergehen würde. Folgendes sollten wir nicht übersehen. Die Rentenneurotiker sind meistens nicht erst dann einer klaren moralischen Entscheidung unfähig, wenn sie sich in die Neurose hineingesteigert haben; vielmehr unterdrückt — wenigstens bei den proletarischen Rentenneurotikern45) das Milieu, in dem sie leben, von vornherein bei solchen Fragen die natürlichen Regungen des Gewissens. Bei anderen Dingen, z. B. beim Verhalten seiner Frau und seinen Kindern gegenüber, ist sich auch der Proletarier heute noch in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohl bewußt. Hier ist ihm durchaus ein gewisser Grad von Willensfreiheit in seinen Entscheidungen zuzurechnen. Bei seinem Ver108
halten gegenüber Behörden und Versicherungsanstalten dagegen werden die Regungen seines Gewissens durch das Milieu, in dem er aufgewachsen ist und lebt, so weitgehend unterdrückt, daß ihm hier von vornherein die Verantwortung nicht eigentlich zugeschrieben werden kann. Daß man um seine Rente kämpft, ist heute für den Proletarier eine einfache Selbstverständlichkeit. Die Menschen seiner Umgebung, die ja zum großen Teil selber bereits in der sozialen Neurose befangen sind, suggerieren es ihm. Wenn sich dann ganz dunkel die Frage nach Recht und Unrecht zu regen beginnt, wird sein Gewissen nicht nur von eigennützigen Trieben, sondern noch viel mehr von äußeren, suggestiv wirkenden Mächten überrannt; und die Frage nach Recht und Unrecht, die an und für sich bei ihm wie bei jedem Menschen auftaucht, wird sofort wieder ins Unbewußte verdrängt. Dazu kommt, daß sein Groll gegen die Behörden ihm den Kampf gegen den Staat mit allen Mitteln erlaubt erscheinen läßt. Bei dieser geistigen Situation verfällt ein empfindsamer Mensch, wenn ihm die Gelegenheit zum Rentenkampf einigermaßen aussichtsreich erscheint, mehr oder weniger zwangsläufig in die neurotische Haltung. Eigentlich unmoralisch ist sein Verhalten gar nicht mehr — eine wesentliche Verantwortung kann ihm nicht zugeschrieben werden. Damit aber ändert sich die Stellungnahme des Gutachters. Er wird mit v. Weizsäcker verlangen, daß der Neurotiker durch sachgemäße Behandlung erst einmal in die Lage gebracht wird, in der er sich frei entscheiden kann: Es muß ihm die Chance der Heilung angeboten werden. Stößt er sie zurück, so fällt die Schuld auf ihn selbst zurück. Vorher lag die Schuld in der ganzen sozialen Situation. Es ist daher zu fordern, daß der Staat — sei es durch eine entsprechende Ausdeutung der bestehenden Paragraphen oder auf andere Weise — dafür Sorge trägt, daß der Neurotiker erst einmal in einer entsprechenden Anstalt seelisch behandelt werden muß. Dies würde sich übrigens auch wirtschaftlich betrachtet durchaus lohnen, weil damit die Kosten für den Rentenkampf zum großen Teil eingespart würden. Das Verdienst v. Weizsäckers, hier den rechten Weg gewiesen zu haben, kann nicht hoch genug eingeschätzt wer109
den. Leider bleiben seine theoretischen Begründungen an den Punkten, wo von der Willensentscheidung des Patienten die Rede ist, unklar und widerspruchsvoll. Die Willensfreiheit im Sinne der Juristen lehnt v. Weizsäcker mit der Begründung ab, daß der Mensch immer nur bis zu einem gewissen Grade zurechnungsfähig sei. während das Gesetzbuch ausschließlich ein scharfes Entweder—Oder kennt. Aber damit ist in Wahrheit das Problem nicht erledigt. Denn es kommt doch auf die Frage an, ob die Willensfreiheit irgendwo überhaupt ins kausale Geschehen hineinblitzt. Diese entscheidende Frage wird vom Verfasser weder klar bejaht noch klar verneint. „Das situative Verteilungsbild des Wollenkönnens erfährt in denjenigen Fällen, die wir mit Erfolg behandeln, jene charakteristische Umgestaltung, derzufolge ein Mensch eventuell sogar trotz gleichbleibender äußerer Situation etwas wollen kann, was er vorher nicht wollen konnte, und zwar im Gefolge einer Umgestaltung seiner inneren Situation in Richtung auf das Beherrschen und Ertragen der äußeren Situation." Ob sich aber diese Umgestaltung der „inneren Situation" aus der Veranlagung des Patienten und dem Eingreifen des Arztes zwangsläufig ergibt, oder ob auch echte Freiheit daneben mit im Spiele ist, bleibt bei v. Weizsäcker dunkel und wird auch dadurch nicht erhellt, daß er von „beschränkter Freiheit" spricht, Determinismus und Indeterminismus gleichermaßen ablehnt und den Willen als „gleitende Funktion" bezeichnet. Der kritische Leser wird sich auch damit nicht zufrieden geben, daß die Neurose nicht die „kausale", sondern die „historische" Folge des Unfalls sein soll; wobei als zuständige Kategorien der historischen Logik nicht Ursache und Wirkimg, sondern Entsteh- und Verschwindbedingimg gelten sollen. Diese Kritik soll keineswegs die überaus wertvolle v. Weizsäckersche Arbeit herabreißen; sie soll nur darauf hinweisen, daß ohne unumwundene Anerkennung der Willensfreiheit auch manches medizinische — ja vielleicht das wichtigste medizinische Problem der Gegenwart, nicht übersichtlich geklärt werden kann.
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F . Anmerkungen. Anm. 1. Die Worte Veranlagung und Umwelt sind hier selbstverständlich im weitesten Sinne zu verstehen. Sie umfassen auch Dinge wie innere Sekretion, vegetatives Nervensystem und andererseits Ernährung, Erziehung usw. Daß das Verhalten des Menschen durch seine Veranlagung sehr weitgehend bestimmt ist, beweist am besten das Schicksal der Zwillinge, insbesondere der eineiigen, und dies um so mehr, als die Übereinstimmung im späteren Alter zuzunehmen scheint. Nicht nur gleiche Krankheiten, auch gleiche Entschlüsse finden wir bei ihnen in gleichen Lebensabschnitten. Bekannt sind die Selbstmorde zu gleicher Zeit aus scheinbar verschiedenen Motiven. Der Gynäkologe Z w e i f e l erzählte in seiner Vorlesung, daß in seiner Klinik einmal Zwillingsschwestern in der gleichen Nacht je ein uneheliches Kind gebaren. Ähnliche Fälle sind mehrfach berichtet worden. Solche Beispiele werden oft als Beweis gegen die Freiheit des Willens angeführt. Und doch können sie den philosophischen Kritiker nicht überzeugen. D e n n d a s j e n i g e , w a s h i e r m i t N a t u r n o t w e n d i g k e i t g e g e b e n i s t , i s t die T r i e b h a f t i g k e i t der M e n s c h e n . D a ß diese a b e r a l l m ä c h t i g s e i , h a t n i c h t e i n m a l F r e u d b e h a u p t e t , dem man wahrlich nicht vorwerfen kann, daß er die Bedeutting der Triebe unterschätzt habe. F r e u d betont durchaus, daß das „Ich", jenes geheimnisvolle Zentrum der Persönlichkeit, nicht ohne weiteres von den Trieben überrannt wird. E r übersieht nicht, daß das „ I c h " den Trieben oft einen entscheidenden Widerstand entgegensetzt. Wir werden hierauf noch ausführlicher zu sprechen kommen. Anm. 2. Als Beispiel für die Notwendigkeit des Prinzips der Evidenz für die Einzelwissenschaften möchte ich folgendes anführen: Jedem Kind leuchtet ein, daß obere und untere Gliedmaßen nach einem analogen Plan gebaut sind, jedes Kind weiß, daß der Daumen der großen Zehe und der kleine Finger der kleinen Zehe entspricht. Nun hat vor längerer Zeit einmal ein Anatom darauf hingewiesen, daß wir bei der wissenschaftlichen Vergleichung der Gliedmaßen doch logischerweise vom Rumpf nach der Peripherie fortschreiten müssen. Wenn wir aber so vorgehen, dann kommen wir zuerst zum Knie und zum Ellenbogen, wo zweifellos Elle und Schieniii
bein einander analog sind. Gehen -wir dann folgerichtig weiter, so finden wir, daß der-Daumen der kleinen Zehe und die große Zehe dem kleinen Finger verglichen werden müssen. Der Betreffende hatte tatsächlich den Mut zu dieser Konsequenz und wurde natürlich von seinen Fachkollegen entsprechend verlacht. Die Evidenz dieses Irrtums möchte ich insofern eine endgültige nennen, als sie durch Bekanntwerden weiterer Tatsachen wohl kaum umzustoßen ist, und weil der Irrtum in keiner Weise durch mangelhafte Kenntnis der nötigen Erfahrungen verursacht war. Die meisten Fälle, in denen Einzelwissenschaften des Prinzips der Evidenz bedürfen, liegen anders. Meistens genügen die bisherigen Erfahrungen nicht zur vollständigen Klärung, und dann fordert der gesunde Menschenverstand die Anerkennung gewisser Postulate, um zu einer brauchbaren Theorie zu kommen. Solche Evidenzen möchte ich vorläufige nennen. Auch sie müssen anerkannt werden, wenn man sich durch den Urwald des Tatsachenmaterials hindurchfinden will. Auch in den Einzelwissenschaften muß dann oft die Einfachheit und Klarheit einer Theorie geopfert werden, wenn die Evidenz der Tatsache anerkannt werden soll. Anm. 3. M a c h hat sich wohl kaum tiefer in die Philosophie K a n t s und P i a t o s hineingedacht. K a n t s Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung verwechselt er mit der K a n t sehen Kategorie der Relation von Inhärenz und Subsistenz (S. 62 u. S. 112 der Or.-Ausg. der Krit. d. reinen Vem.). Merkwürdigerweise gilt der spiritualistische Monismus immer als ganz besonders konsequent. Das ist er aber nicht einmal in der Form des Solipsismus. Die Inkonsequenz beginnt da, wo das Individuum über seinen eigenen Leib nachdenkt. Man lese hierzu Kap. X I , Abs. 6, des „Analyse der Empfindungen" von M a c h , wo erst die Substanz des Gehirns als das angegeben wird, was selbst empfindet, und dann wiederum jegliche Substanz nichts anderes sein soll als selbst nur Empfindung! Einfachheit der Voraussetzungen und Konsequenz sind eben sehr verschiedene Dingel Ein gewisser Wahrscheinlichkeitsbeweis gegen den spiritualistischen Monismus ist übrigens auch durch die Tatsache gegeben, daß ein Mensch ohne Gehör und ohne Gesichtssinn (H. Keller) zu den gleichen Vorstellungen der Außenwelt gelangte, wie wir anderen auch. Das Sehen und Hören sind doch so wesentliche Bestandteile unseres Sinneserlebens, daß ihr Fortfall das Weltbild wesentlich verändern müßte, wenn nicht eben eine unabhängig von uns gegebene Außenwelt primär existierte, und wir nur sekundär durch unsere Sinne uns Kenntnis von ihr verschafften, wobei die Sinne nur Hilfsmittel sind, nicht aber die eigentliche Grundlage des Seins. Bestünde das Wesen des Seins wirklich nur in den Empfindungen, dann wäre es schwer zu verstehen, warum die so verschiedenen Sinnesgebiete miteinander so eng zusammenhängen; warum das, was wir sehen und hören, in enger Beziehung steht zu dem, was wir tasten, riechen und schmecken; warum alles zusammen jeweils ein zusammenhängendes Ganzes bildet, nämlich den Gegenstand bzw. den „ K o m p l e x " , wie M a c h es nennt. M a c h sucht nun allerdings dieser Schwierigkeit gerecht zu werden.
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indem er zwischen den verschiedenen Empfindungen gesetzmäßige Beziehungen annimmt und diesen wiederum eine gewisse Sonderexistenz zubilligt. Er sagt in der „Analyse der Empfindungen" (6. Aufl., S. 295): „Nicht nur den Naturforschem, sondern auch den Fachphilosophen scheint meine Welt aus Elementen (Empfindungen) zu luftig. Daß ich die Materie als ein G e d a n k e n s y m b o l für einen relativ stabilen Komplex sinnlicher Elemente betrachte, wird als g e r i n g s c h ä t z i g e Auffassung bezeichnet. Die Außenwelt sei als eine Summe von Empfindungen nicht genügend erfaßt, man müsse zu den wirklichen Empfindungen noch die Empfindungsmöglichkeiten M i l l s einführen. Dagegen muß ich bemerken, daß auch für mich die Welt k e i n e bloße Summe von Empfindungen ist. Vielmehr spreche ich ausdrücklich von F u n k t i o n a l b e z i e h u n g e n d e r E l e m e n t e . Damit sind aber die Millschen M ö g l i c h k e i t e n nicht nur überflüssig geworden, sondern durch etwas weit solideres, den mathematischen F u n k t i o n s b e g r i f f , ersetzt." Die Entwicklung der Physik in den letzten Jahren hat nun allerdings gezeigt, daß die Scheidung der Welt in „Elemente" und „Funktionalbeziehungen" den Dingen nicht gerecht wird. Denn die Atome lassen sich weder zu den Funktionalbeziehungen noch zu den Elementen noch zu den aus beiden zusammengesetzten Komplexen rechnen, weil sie ja grundsätzlich in keiner Weise sinnlich wahrnehmbar sind. Und dennoch kommt die heutige Physik kaum um die Annahme herum, daß sie ebenso wirklich existieren wie wir selbst. M a c h hat sich gegen die Atomistik gewehrt und den Weg der neueren Physik verurteilt. Hätte er die Erfolge der letzten Jahre erlebt, er hätte einen schweren Stand, sich zu verteidigen. Gleichwohl gibt es heute immer noch Philosophen, die die Atomtheorie für eine bloße Fiktion erklären. Man wird an H e g e l erinnert, der die Existenz des Planeten Neptun bestritt, weil er diesen in seinem System nicht unterbringen konnte. Zwar kann eine philosophische Lehre, in der die Atomtheorie nichts anderes ist als eine Fiktion, in sich konsequent sein. Das beweist aber noch lange nicht ihre Richtigkeit. Natürlich läßt sich behaupten, daß alles, was den Physiker auf die Annahme von Atomen hindrängt, auf irgendeine andere Weise oder eben überhaupt nicht zu erklären sei. Dann kann man aber mit dem gleichen Recht behaupten, es sei nur eine Fiktion, daß die Erde eine Kugel sei, die sich täglich um ihre Achse dreht. Denn wir sehen über dem Horizont die Sonne auf- und untergehen, wir sehen wohl auch ein Schiff am Horizont verschwinden usw., aber alle Behauptungen der Astronomen und Geographen, daß die Erde eine Kugel ist, gehen weit über das unmittelbar sinnlich Wahrnehmbare hinaus. Diejenigen Philosophen, die heute noch die Atomtheorie für eine Fiktion erklären, machen niemals den Versuch, auf andere Weise die von der neueren Physik aufgezeigten Erscheinungen zu erklären.
Anm. 4. K a n t selbst sagt: „Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts als unsere Art sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem
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Menschen zukommen muß. Mit dieser haben wir es lediglich zu tun." Leider hat sich K a n t weiter über die Begründung seiner Annahme einer tatsächlichen Existenz der Dinge selbst nicht ausgesprochen, weshalb er auch so oft mißverstanden worden ist. Unter den Philosophen, die ihm nicht folgen konnten, hat die Mehrzahl den Begriff des Dinges an sich mit der Denkkategorie der Inhärenz und Subsistenz verwechselt. Nur wenige geben zu, daß ihnen Kant nicht so recht klar geworden sei, wie S c h o p e n h a u e r , der sagt: „Wenn wir nun Kants innerste, von ihm selbst nicht deutlich ausgesprochene Meinung zu erforschen uns bemühen; so finden wir, daß wirklich ein solches, von der A n s c h a u u n g verschiedenes Objekt, das aber auch keineswegs ein B e g r i f f ist, ihm der eigentliche Gegenstand für den Verstand ist, ja, daß die sonderbare Voraussetzung eines solchen unvorstellbaren Gegenstandes es eigentlich sein soll, wodurch allererst die Anschauung zur Erfahrung wird." Sehr oft, nicht nur bei Mach, begegnen wir der Verwechslung des Begriffes vom „Ding an sich" mit dem der Inhärenz. Dieser Verwechslung liegt ein weiterer Irrtum zugrunde, auf den wir der Wichtigkeit halber hier ebenfalls eingehen wollen, und der sich z. B. in folgenden Worten von W i n d e l b a n d treffend selbst charakterisiert : „Wir sprechen von dem Dinge, als wäre es eben noch etwas, dem all das andere inhäriert, das all dies andere in sich hat. Wenn wir nun aber die Anforderung, die in dieser unwillkürlichen Voraussetzung steckt, ausführen, wenn wir uns darauf besinnen wollen, was denn dieses Ding nun „eigentlich" noch, was es abgesehen von allen seinen Eigenschaften, Zuständen und Tätigkeiten selber „an sich" sei, dann wissen wir wieder absolut nichts anzugeben." Diese Sätze entsprechen nicht den Tatsachen. Wir erkennen das Ganze nicht aus seinen Teilen, sondern zunächst erkennen wir Ganzheiten. Diese fügen wir einerseits zu größeren Ganzheiten zusammen, andererseits erkennen wir bei näherem Zusehen, daß auch sie wiederum aus Einzelheiten zusammengesetzt sind. Bei gewissen Störungen in der Assoziation, wie sie pathologisch vorkommen, bleibt nur die immittelbare, naive Wahrnehmung erhalten, während sowohl die Zusammenfügimg zu größeren Komplexen wie auch die Analyse der Einzelheiten versagt. Z. B. vermag ein solcher Mensch noch anzugeben, daß ein Bild einen Bauern darstellt, er ist aber nicht mehr in der Lage, auch nur eine einzige Einzelheit, z. B. seine Mütze, sein Gerät, die Farbe seiner Kleidung usw. klar herauszuerkennen. (Beobachtimg von v. Weizsäcker.) Ebenso erkennt ein Kind von sieben Monaten deutlich seine Mutter, ein noch jüngeres ist in der Lage, ihr 114
Lachen richtig zu verstehen, obwohl es Einzelheiten gewiß nicht analysieren kann. Man hat K a n t auch noch ganz anders zu verstehen versucht. Nicolai Hartmann deutet in seinen „Grundzügen einer Metaphysik der Erkenntnis", S. 146ff.) Kant so, daß die Übereinstimmung der Wahrnehmungen verschiedener Menschen dadurch zustande käme, daß das transzendentale Objekt die Sinne affiziere. Dieses transzendentale Objekt ist aber nicht etwa dasselbe wie das Ding an sich. Bekanntlich ist „transzendental" bei K a n t nicht dasselbe wie transzendent. Ich habe nicht den Eindruck, daß K a n t im Sinne von Nicolai Hartmann verstanden sein will. Wäre es der Fall, dann wäre wiederum nicht zu begreifen, warum denn der Unterschied zwischen transzendentalem Objekt und transzendenten Ding an sich notwendig ist. Anm. 5. Hilbert hat in seinem großen Vortrag auf der Naturforscherversammlung in Königsberg 1930 erklärt: „In der neueren Zeit ist die von Gauß und Helmholtz vertretene Anschauung über die empirische Natur der Geometrie zu einem sicheren Ergebnis der Wissenschaft geworden." Helmholtz beruft sich besonders darauf, daß es nicht gelingt, die Richtigkeit der geometrischen Axiome rein verstandesmäßig zu begründen. Sie können nur aus der praktischen Anschauung und Erfahrung abgeleitet werden (vgl. Helmholtz, Über den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome, Vortrag, gedruckt in der Sammlung von Vorträgen und Reden, zugl. 3. Aufl. der „Populären wissenschaftlichen Vorträge", die über das, was wir heute unter populär verstehen, weit hinausgehen, und die eine Fülle von ausgezeichneten Erörterungen erkenntnistheoretischer Probleme enthalten. Namentlich auf den Vortrag über „Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens" möchte ich aufmerksam machen. Er ist auch für die Problematik unserer Zeit noch bedeutungsvoll und wird durch die späteren Arbeiten von Hering, auf die ich in Anm. 6b hinweise, nur unwesentlich korrigiert.) Im übrigen dürfte in der Frage nach dem a priori gegebenen Wissen auch den modernen Naturforscher das am meisten überzeugen, was Johannes Müller darüber gesagt hat (Handb. d. Physiologie, II. Bd., 2. Abt., 3. Aufl., 1838, S. 5i7ff.): „Daß es angeborne Vorstellungen geben könne, läßt sich nicht im geringsten leugnen, es ist sogar Tatsache. Alle Vorstellungen der Tiere, welche von dem Instinkte geleitet werden, sind angeboren.... Das neugeborne Schaf und Füllen haben solche angeborne Vorstellungen, II
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denen zufolge sie auf die Mutter gehen und ihre Zitzen suchen. Findet nicht auch beim Menschen etwas Ähnliches in Hinsicht seiner Verstandesbegriffe statt? „Ich glaube, daß man diese Frage in Beziehung auf das Denken des Menschen weder zugunsten von Hume noch zugunsten von K a n t entscheiden kann. Aus der Gewohnheit der wiederkehrenden Verbindung zweier Dinge in der Vorstellung wird nur die Notwendigkeit, daß wenn das eine vorgestellt wird, auch das andere vorgestellt werden muß, oder wenn etwas wiederkommt, was einst angenehme oder unangenehme Empfindimg in uns hervorbrachte, diese angenehme oder unangenehme Empfindung jetzt auch als gewiß erwartet wird. Auf diese Art verkettet der Hund die Vorstellung der Schläge mit der des Stocks. . . . Aber diesen Zusammenhang abstrakt als vielen ähnlichen Verkettungen gemein unter dem Begriff der Ursache und Wirkung aufzufassen, ist dem Hunde und jedem Tiere vollends unmöglich. Die Tiere bilden keine allgemeinen Begriffe. Es liegt nicht an der Klarheit und Unklarheit der Eindrücke, denn diese sind bei den Tieren gewiß ebenso wie bei dem Menschen. Ich bin daher der Meinung, daß auch ein Mensch durch bloße Erfahrung der Sinne und durch die Gewohnheit nie zu dem abstrakten Begriff der Kausalität komme, wenn der Verstand des Menschen nicht ein gewisses Vermögen zur Abstraktion hat, nämlich ein Gedankending von dem Gemeinsamen vieler wiederkehrenden Verkettungen zweier Dinge, wovon das eine das andere fordert, zu machen. „Dagegen halte ich nicht für den ursprünglichen Inhalt des Verstandes die Verstandesbegriffe von K a n t oder die Kategorien des A r i s t o t e l e s , diese scheinen mir vielmehr ein Produkt der Erfahrung und des Abstraktionsvermögens zu sein; sondern ursprünglich i s t . . . die Fähigkeit, das Allgemeine von mehreren Besonderheiten oder von mehreren Tatsachen der Empfindung als Gedankending sich vorzustellen, d. h. einen Begriff zu bilden." Anm. 6 a. Man verzeihe mir, daß ich der einfacheren Darstellung zuliebe nur von Sinnesqualitäten spreche, während ich mit Rücksicht auf die Ausdrucksweise der neueren Physiologie neben dem Wort Qualität auch das Wort Modalität gebrauchen müßte. Die Empfindungen „blau" und „rot" unterscheiden sich nur in ihrer Qualität, ebenso die Empfindungen „sauer" und „süß"; hingegen sind „süß" und „rot" auch hinsichtlich ihrer Modalität ( = ihres Modus) verschieden. Anm. 6 b. Da immer wieder versucht wird, Goethes Farbenlehre gegen das heutige naturwissenschaftliche Weltbild auszu116
spielen, sei ganz kurz auf dieses wichtige Werk eingegangen, das eigentlich jetzt noch als unübertroffene und bedeutendste Verteidigung der realistischen Weltanschauung gelten kann. Goethe hat bekanntlich die Newtonsche Theorie, nach der das weiße Licht aus allen Farben zusammengesetzt ist, ganz entschieden bestritten, weil es ihm unmöglich schien, daß ein Durcheinander von physikalischen Vorgängen eine reine Empfindimg hervorrufen könne. Nachdem der Streit der Physiker und Physiologen lange Zeit hin- und hergegangen war, und man sich schließlich im wesentlichen für Newton entschieden hatte, fand Hering, daß Goethe in einer Beziehung Recht gehabt hatte: Der physiologische Vorgang, der unserer Empfindung des weißen Lichtes zugrunde liegt, ist ein durchaus reiner und einheitlicher, auch wenn wir es in physikalischer Hinsicht mit einem wirren Gemisch von Ätherschwingungen verschiedener Wellenlängen zu tun haben. Wenn nämlich weißes Licht ins Auge fällt, dann verharren die farbempfindenden Sinneselemente der Netzhaut in einem ruhigen Gleichgewichtszustand, und nur die hell-dunkel-empfindenden Sinneselemente (die also wie die photographische Platte nur Helligkeitswerte aufnehmen) werden gereizt. Fällt dagegen buntes Licht ins Auge, so werden außerdem auch noch die farbempfindenden Sinneszellen erregt. Der physiologische Vorgang ist also umständlicher bei den Farben als bei rein weißem Licht, obwohl in physikalischer Hinsicht dieses das Zusammengesetzte, jene aber die reinen Bestandteile sind. Das von Goethe betonte, subjektive Gefühl, daß das Weiß das Reine und die Farbe die Trübung sei, ist also objektiv nicht unbegründet. Diejenigen Autoren, die an der Newton-Helmholtzschen Theorie Anstoß genommen hatten, weil sie der Evidenz des subjektiven E r lebens widerspricht, haben in gewisser Weise Recht behalten. Nur die Theorie mußte verwickelter werden, um allen einleuchtenden Tatsachen gerecht zu werden. Anm. 7a. Das Prinzip der spezifischen Sinnesenergien wird so oft in medizinischen Abhandlungen verkehrt dargestellt, daß ich es für nötig halte, Johannes Müller selbst wörtlich zu zitieren. (Lehrb. d. Physiol., 4. Aufl., 1844, S. 249 bis 275): „Das, was durch die Sinne zum Bewußtsein kommt, sind zunächst nur Eigenschaften und Zustände unserer Nerven, aber die Vorstellung und das Urteil sind bereit, die durch äußere Ursachen hervorgebrachten Vorgänge in unseren Nerven als Eigenschaften und Veränderungen der Körper außer uns selbst auszulegen. Bei den Sinnen, bei welchen die Affektionen aus inneren Ursachen seltener sind, wie Ii 7
beim Gesichtssinn und Gehörsinn, ist diese Verwechslung uns so geläufig geworden, daß wir sie erst bemerken, wenn wir darüber nachdenken. Bei dem Gefühlssinn hingegen, der ebensooft aus inneren Ursachen als aus äußeren angeregt, die den Gefühlsnerven eigentümlichen Empfindungen zum Bewußtsein bringt, wird es uns leicht, einzusehen, daß das Gefühlte, der Schmerz, die Wollust, ein Zustand unserer Nerven ist und nicht eine Eigenschaft der Dinge, welche sie in unseren Nerven hervorrufen. Dies führt uns zu einigen allgemeinen Grundsätzen, welche der Physiologie der einzelnen Sinne vorausgeschickt werden müssen. I. Zuerst wird nun dies festzuhalten sein, daß wir durch äußere Ursachen keine Arten des Empfindens haben können, die wir nicht auch ohne äußere Ursachen durch Empfindung der Zustände unserer Nerven haben. II. Dieselbe innere Ursache ruft in verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen nach der Natur jedes Sinnes, nämlich das Empfindbare dieses Sinnes, hervor. III. Dieselbe äußere Ursache erregt in den verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen, nach der Natur jedes Sinnes, nämlich das Empfindbare des bestimmten Sinnesnerven. IV. Die eigentümlichen Empfindungen jedes Sinnesnerven können durch mehrere innere und äußere Einflüsse zugleich hervorgerufen werden. V. Die Sinnesempfindung ist nicht die Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der äußeren Körper zum Bewußtsein, sondern die Leitung einer Qualität, eines Zustandes eines Sinnesnerven zum Bewußtsein, veranlaßt durch eine äußere Ursache (und diese Qualitäten sind in den verschiedenen Sinnesnerven verschieden) die Sinnesenergien. VI. Ein Sinnesnerv scheint nur einer bestimmten Art der Empfindung und nicht derjenigen der übrigen Sinnesorgane fähig zu sein, und kann daher auch keine Vertretung eines Sinnesnerven durch einen anderen davon verschiedenen stattfinden. VII. Ob die Ursachen der verschiedenen Energien der Sinnesnerven in ihnen selbst liegen, oder in Hirn- und Rückenmarkteilen, zu welchen sie hingehen, ist imbekannt, aber es ist gewiß, daß die Zentralteile der Sinnesnerven im Gehirn, unabhängig von den Nervenleitern, der bestimmten Sinnesempfindungen fähig sind. VIII. Die Sinnesnerven empfinden zwar zunächst nur ihre eigenen Zustände, aber das Sensorium empfindet die Zustände der Sinnesnerven; aber dadurch, daß die Sinnesnerven als Körper die Eigenschaften anderer Körper teilen, daß sie im Räume ausge118
dehnt sind, daß ihnen eine Erschütterung mitgeteilt werden kann, und daß sie chemisch, durch die Wärme, und die Elektrizität verändert werden können, zeigen sie bei ihrer Veränderung durch äußere Ursachen, dem Sensorium außer ihrem Zustande auch Eigenschaften und Veränderungen der Außenwelt an, in jedem Sinne verschieden, nach dessen Qualitäten oder Sinnesenergien. IX. Es liegt nicht in der Natur der Nerven selbst, den Inhalt ihrer Empfindungen außer sich gegenwärtig zu setzen; die unsere Empfindungen begleitende, durch Erfahrung bewährte Vorstellung ist die Ursache dieser Versetzung. X. Die Seele nimmt nicht bloß den Inhalt der Empfindungen der Sinne auf und legt sie vorstellend aus, sie hat auf den Inhalt derselben Einfluß, indem sie der Empfindung Schärfe erteilt. Diese Intention kann sich bei den Sinnen mit Unterscheidung der räumlichen Ausdehnung auf einzelne Teile des empfindsamen Organs isolieren, bei dem Sinne mit feiner Unterscheidung der Zeitmomente auf einzelne Akte der Empfindimg isolieren. Sie kann auch einem Sinne ein Übergewicht über den anderen erteilen." Zwischen diesen Leitsätzen stehen ausführliche Erörterungen, die ein jeder im Original lesen sollte, der es versuchen will, gegen das Johannes Müllersche Prinzip der spezifischen Sinnesenergien anzugehen. Zu den Beweisen, die dort angeführt sind, sind später noch einige hinzugekommen. Über die philosophische Seite des Problems spricht sich Joh. Müller in seinem Lehrbuch nur vorsichtig aus. Einiges findet sich auch in seiner kleinen Schrift, die etwa betitelt ist: „Das Bedürfnis des Naturforschers nach philosophischer Weltbetrachtung". Das Exemplar der Preußischen Staatsbibliothek, das ich vor zwölf Jahren in der Hand hatte, ist neuerdings verschollen. Im Leihverkehr der deutschen Bibliotheken konnte ich es nicht auftreiben. Daß das Buch an sich existierte, wurde mir auch von anderer Seite bestätigt. Sollte noch einmal ein Exemplar aufzutreiben sein, so wäre ein Neudruck dringend erwünscht 1
Eine wichtige Stütze des Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien hat Goldscheider gefunden. Er stellte fest, daß die Nervenendigungen nicht einfach aus jedem Objekt mannigfaltige Empfindungen herauslesen; sie sind vielmehr spezialisiert. Wir können durch sorgfältiges Abtasten der Haut Punkte feststellen, die vorwiegend feinste Berührungsempfindungen vermitteln, und andere Punkte, deren Reizung Wärme- und Kälteempfindimg hervorruft. Wenn wir uns die auf einem Hautstück so ermittelten Punkte mit verschiedenen Farben anmerken und sie dann mit einer Elektrode reizen, so finden wir, daß jeweils durch elektrische Reizung diejenige Empfindung ausgelöst wird, von der wir vorher 119
festgestellt hatten, daß sie an der betreffenden Stelle am deutlichsten wahrgenommen wird. Nach v. F r e y ist selbst die Schmerzempfindimg an bestimmte Punkte gebunden. Dies ist jedoch umstritten, der Nachweis ist technisch sehr schwierig. Eindeutig läßt sich dagegen feststellen, daß die Schmerzempfindung im Zentralnervensystem auf anderen Bahnen geleitet wird als die Berührungsempfindung. Ist das Seitenhorn des Rückenmarks zerstört, dann können gewisse Hautpartien, z. B. an den Händen, noch so sehr mißhandelt werden, ohne daß es Schmerzen verursacht. Umgekehrt führt eine Erkrankung gewisser Zentren des Gehirns zu einer äußerst quälenden Schmerzempfindimg, die auf entsprechende Körperbezirke lokalisiert wird. Angesichts solcher Tatsachen verliert die von manchen, auch neueren Philosophen immer wieder aufgestellte Behauptung, daß gesteigerte Berührungsempfindung allmählich in Schmerz übergehe, stark an Wahrscheinlichkeit. Einen weiteren Beweis dafür, daß die Qualitäten als solche nicht dem Objekt zukommen, sondern durch den physikalischen Zustand des Nerven hervorgerufen werden, kann man darin erblicken, daß eine Empfindung qualitativ sich ändert, wenn der Reiz sich lediglich quantitativ ändert. Wird z. B. ein Stab, den wir in unserer Hand halten, alle zwei Sekunden einmal erschüttert, so ist die Empfindung nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ eine ganz andere, als wenn derselbe Stab in derselben Hand mit derselben Intensität hundert- oder dreihundertmal in der Sekunde erschüttert wird. Die Vibration verursacht eine eigenartige, vom einfachen Stoß völlig abweichende Empfindung, die aber auch wiederum eine ganz andere ist als etwa diejenige, die unser Ohr wahrnimmt, wenn es einen Ton von entsprechender Schwingungszahl hört. — Analoges gilt von Heizen, die je nachdem, ob ihre Intensität quantitativ stärker oder geringer ist, als Berührung oder als Kitzel empfunden werden. Überhaupt kann man beinahe ganz allgemein sagen, daß, wenn die Intensität eines Reizes zunimmt, meistens nicht nur die Stärke der Empfindung, sondern auch ihr Charakter sich ändert. Das wäre schlecht zu verstehen, wenn die von uns sinnlich wahrgenommenen Eigenschaften der Dinge, z. B. ihre Härte, ihre Farbe usw., unabhängig vom empfindenden Subjekt existierten.
Anm. 7b. Neuerdings glaubt man von einer ganz anderen Seite her das Prinzip der spezifischen Sinnesenergien angreifen zu können. Man weist darauf hin, daß im wirklichen Seelenleben nicht die einzelne Empfindimg das Ursprüngliche ist, sondern ein bunter Komplex. Erst wenn der nachdenkende Beobachter seine Aufmerksamkeit auf ein kleines Feld einschränkt, kommt eine einigermaßen reine Empfindung zustande. Der Säugling erkennt das Lachen der Mutter lange bevor er die Linien ihrer Lippen bewußt wahrnimmt, und auch der Erwachsene versteht den Gesichtsausdruck seiner Menschen richtig zu deuten, ohne
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sich die einzelnen Züge klargemacht zu haben. In Wirklichkeit beginnt also der bewußte Seelenvorgang mit einem verschwommenen Komplex und nicht mit den Einzelempfindungen, wie man nach der Theorie Johannes Müllers glaubte annehmen zu müssen. Es scheint also, als hielte die klassische Sinnesphysiologie vor den Entdeckungen der modernen Psychologie nicht stand. Sind nun in der Tat diese Erkenntnisse so neu ? Haben H e l m h o l t z und Johannes Müller davon noch nichts gewußt? Sollte es ihnen unbekannt gewesen sein, daß von dem, was das Auge aufnimmt, und was vom Gehirn weiter verarbeitet wird, sehr vieles unbewußt bleibt, und daß im allgemeinen erst stark zusammengesetzte Komplexe in ziemlich verschwommener Form bewußt erlebt werden ? Diese Frage stellen heißt sie beantworten! Wir kommen darauf in Anm. 20b noch zurück. Anm. 8. Diese Auffassung der Zeit als einer Dimension der Substanz ist nicht identisch mit der sogenannten „Relativierung" der Zeit. Im Sinne der hergebrachten Weltanschauung mußte man nämlich annehmen, daß alle Substanz mit ihrer zeitlichen Dimension in gleicher Richtung orientiert sei. E i n s t e i n hat dies bekanntlich in Frage gestellt. Immerhin erscheint es zweifelhaft, o b nicht der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmelehre, der ja mit dem Kausalprinzip eng verknüpft ist, eine parallele Orientierung aller Substanz in der Zeit fordert.
Anm. 9. Wenn wir uns unser Verhältnis zur Außenwelt in dieser Weise klargemacht haben, dann können wir für den alltäglichen Bedarf ruhig wieder in die Ausdrucksweise des anschaulichen Denkens zurückverfallen, auch bei wissenschaftlichen Erörterungen. Die Situation ist dann etwa die gleiche, wie wenn uns jemand eine Photographie zeigt und fragt, was das sei. Wir antworten z. B.: Das ist eine Eiche. Unser Freund könnte dann einwenden: Das ist keine Eiche, sondern es s t e l l t eine vor; das ist eine Photographie, d. h. fein verteiltes Silber auf Papier. Das Kausalprinzip wird dadurch, daß man es abstrakt mathematisch formuliert, in keiner Weise abgeschwächt. Denkbar wäre es übrigens, daß wir den Begriff der Kausalität nur darum besitzen, weil wir in der physischen Welt darinstehen und weil infolgedessen jedes Wort und jede Tat, die von uns ausgeht, durch das Physische hindurchgehen muß und damit rein kausal weiterverläuft, während derjenige Bestandteil unserer Seele, der nicht physisch ist, gar nicht der kausalen, sondern einer ganz anderen Ordnung unterliegen könnte.
Anm. 10. Streng orthodoxe Kantianer werden natürlich einwenden, der hier vertretene Standpunkt habe überhaupt nicht das geringste mit dem Idealismus zu tun, er sei ein ganz unzweiR a b l , Willensfreiheit.
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deutiger Realismus. Diejenigen Naturforscher, die sich an Goethes Weltanschauung anlehnen, haben immer genau das Gegenteil behauptet. Man könnte gerade darin, daß unser Standpunkt von den Idealisten als Realismus, von den Realisten als Idealismus gedeutet wird, einen Beweis dafür sehen, daß er in keinen der extremen Fehler verfällt, sondern der in der Mitte liegenden Wahrheit entspricht. Anm. 11. Nur etwas, das vorausgeht, kann äußere Ursache sein. Früher meinte man, es gäbe auch gleichzeitig Ursache und Wirkung, z. B. sollte sich bei Bewegung eines doppelarmigen Hebels der eine Arm zur gleichen Zeit nach oben drehen, in der der andere nach abwärts gedrückt wird. Diese Auffassung ist heute nicht mehr haltbar. Wenn ich den einen Hebelarm nach abwärts drücke, so pflanzt sich das Druckpotential mit endlicher Zeit (die praktisch für die meisten Zwecke allerdings als unendlich klein angenommen werden darf, ohne daß wesentliche Rechenfehler entstehen!) von dem einen Hebelarm zum andern fort, v. Kries sieht in seiner Formulierung des Kausalprinzips von der Zeitfolge ab. Er sagt: „Zwischen dem in irgendeinem Zeitpunkt bestehenden Wirklichkeitsverhalten und den im gleichen Augenblick sich als notwendige Folge desselben entwickelnden Veränderungen besteht ein allgemeiner, die Veränderungen als Funktion des Verhaltens (im mathematischen Sinne) eindeutig bestimmender Zusammenhang" („Logik", Mohr 1916, S. 94). „Die verfängliche Frage, ob die Ursache der Folge gleichzeitig sei oder ihr vorangehe", glaubt v. Kries dadurch lösen zu können, daß er durch Heranziehung des Differentialquotienten den betrachteten Zeitabschnitt unendlich klein werden läßt. Das ist ganz sicher falsch. Die Zeitfolge läßt sich nicht eliminieren, ohne daß das Kausalprinzip zusammenbricht. In die Formulierung des Kausalprinzips durch v. Kries schleicht sie sich gleichsam durch eine Hintertür wieder ein: Der Begriff der sich „entwickelnden Veränderung" gibt unweigerlich die zeitliche Richtimg an, in der die determinierten Zustände den determinierenden nachfolgen. Unzulässig ist auch an der Formulierung die Betonung des mathematischen Verhältnisses. Im Lebendigen gibt es neben mathematisch erfaßbaren (oder wenigstens grundsätzlich erfaßbaren) Vorgängen auch solche von ausgesprochen widermathematischem Charakter, ohne daß für sie ein Kausalverhältnis abgelehnt werden kann. Anm. 12. Aus diesem Grunde ist auch der Beweis Spinozas gegen die Willensfreiheit nicht stichhaltig. Spinoza meint, wenn ein Mensch gehen wolle, so sei das im Prinzip dasselbe, wie wenn
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ein Stein fallen „will". In beiden Fällen bestimme ein Naturgesetz das Geschehen, und der Stein könne sich genau so gut wie der Mensch einbilden, daß er aus freien Stücken seinen W e g wähle. Diese Anthropomorphisierung des Steins übersieht den ausgesprochen irrationalen, selbständigen Charakter des Willens, sie übersieht auch die grundsätzlichen Unterschiede zwischen lebloser und lebendiger Substanz. Der Hypothese, daß der Stein wolle, fehlt jede Grundlage; wenn auch S p i n o z a seinen Vergleich vielleicht nicht wörtlich aufgefaßt wissen will, so fehlt ihm doch eben das eigentliche tertium comperationis: Der Wille! Anm. 13. Kausalgesetze schaffen Übrigens keineswegs immer Ordnung, sondern auch sehr oft Unordnung. Man denke nur an die Diffusion zweier Gase gegeneinander: Die Moleküle werden im größten Wirrwarr durcheinandergemischt. Die Freiheit dagegen ist grundsätzlich immer ein ordnendes Prinzip; nur dort, wo verschiedene Individuen gegenseitig ihre Freiheit zerstören, kommt es zur Unordnung. Ausnahmen kommen natürlich vor. Anm. 14. D a s W o r t S u b s t a n z gebrauche ich hier ausschließlich in der Bedeutung, die in der Physik heute üblich ist, d. h. für Materie -(- Energie zusammen. I n der Biologie n i m m t das W o r t andere Bedeutungen a n ; es h a t t e auch ursprünglich einen andern Sinn. Aber wir werden die Sprache der modernen Physik nicht m e h r umstürzen, wir müssen uns ihr fügen. Ich betone also ausdrücklich, daß ich mit Substanz nicht dasjenige meine, was in den lateinischen Ausgaben des A r i s t o t e l e s s u b s t a n t i a , sondern das, was m a t e r i a heißt. Anm. 15. Das, was die Physik heute unter „Substanz" versteht, nennt P l a t o das „immer Werdende", die Naturgesetzlichkeit das „immer Seiende". Jene ist unserer Vorstellung durch die Sinne, diese unserer Vernunft durch logisches Denken zugänglich. Ich möchte als Beleg folgende Stelle aus dem Ximäus Kap. 5 zitieren: „Es kommt zunächst auf die Unterscheidung folgender Begriffe an: Was ist das immer Seiende, das kein Werden zuläßt, und was ist das immer Werdende, das niemals des Seins teilhaftig wird ? Das Eine ist durch vernünftiges Denken vermittels des Verstandes erfaßbar, denn es bleibt immerdar sich selbst gleich, das andere ist der Vorstellung in dieser unvollkommenen Form erfaßbar vermittels der Sinneswahrnehmung ohne Beteiligung des Verstandes, denn es ist in beständigem Werden und Vergehen begriffen ohne je zum Sein zu gelangen." Gewiß ist das Seiende bei Plato noch mehr als bloß die Naturgesetzlichkeit, es ist auch noch das Bild, das dem Weltschöpfer vorgeschwebt hat, als er die Welt erschuf, es ist also sozusagen nicht nur die physikalische Naturgesetzlichkeit, sondern auch die Entelechie der ganzen Welt. Die Naturgesetzlichkeit selbst ist für P l a t o keineswegs mit unseren Denkkategorien identisch und folgt keineswegs aus ihnen, wie das K a n t gelehrt hat, sondern sie existiert auch außerhalb und unabhängig vom Menschen. Auch wenn wir 9*
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mit dem Verstand etwas von ihr erkennen, so ist sie. doch für uns, weil nicht unmittelbar wahrnehmbar, transzendent. — Das Wort transzendent gebrauche ich in dieser Abhandlung so, wie.es in der naturwissenschaftlichen Philosophie üblich ist, für alles das, was wir nicht vorstellen können, also in rein negativer Bedeutung. Die Theologie verbindet mit dem Begriff der Transzendenz immer zugleich den Gedanken des Göttlichen, für sie hat das Wort infolgedessen eine viel positivere Färbung. — In den Übersetzungen P i a t o s wird das Wort ä o i a nicht mit „Vorstellung", sondern mit „Meinung" wiedergegeben. Bekanntlich deckt sich kaum eine Vokabel einer Sprache mit der einer anderen. Die Gedanken des Thaetet und Timäus werden meines Erachtens sehr viel richtiger dargestellt, wenn man ¿d'£a mit „Vorstellung" übersetzt. Das Wörterbuch von B e n s e i e r gesteht diese Bedeutung ohne weiteres zu.
Anm. 16. Piatons Gegenüberstellung von Zeit und Ewigkeit möchte ich hier wörtlich zitieren (Übersetzung von A p e l t , Meiner 1922, Timäus, Kap. 10): „Gleichzeitig mit der Ordnung des Weltalls schafft er (der Weltschöpfer) ein nach der Zahl (in bestimmten Maßen) fortschreitendes Abbild der in Einheit beharrenden Ewigkeit, ein Abbild, dem wir den Namen Zeit gegeben haben. Tage, Nächte, Monate, Jahre, die es vor Entstehung des Himmels nicht gab, läßt er nämlich nun im Verein mit dem Bau des Ganzen entstehen. Dies alles sind Teile der Zeit, und das „War" und „Wird sein" sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst täuschend, mit Unrecht auf das unvergängliche Sein beziehen; denn wir sagen von ihm „es war", „es ist" und „es wird sein", während ihm in Wahrheit nur die Bezeichnung „es ist" zukommt, wogegen man die Ausdrücke „war" und „wird sein" von Rechts wegen nur auf das zeitlich fortschreitende Werden anwenden darf, denn beide sind Bewegungen. Dem ewig imbeweglich sich Gleichbleibenden dagegen steht es nicht an, älter noch jünger zu werden in der Zeit, noch es ehedem, noch jetzt geworden zu sein oder es in Zukunft zu werden; überhaupt hat es nichts zu tun mit alledem, womit die in Bewegung befindlichen Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung infolge des Werdens behaftet sind." Anm. 17a. In den letzten Jahren ist mehrfach der Versuch gemacht worden, die Unterschiede zwischen mechanistischer und vitalistischer Weltanschauung zu verwischen oder beide gleichermaßen zu verwerfen. Wer aber die erkenntnistheoretische Grundansicht, wie wir sie in den vorhergehenden Kapiteln gezeichnet haben, als richtig gelten läßt und damit eine physikalische Gesetzlichkeit auch unabhängig vom erkennenden Subjekt als real existierend anerkennt, der sieht sich unausweichlich vor die Alternative gestellt: Entweder das organische Geschehen wird nur von 124
solchen Gesetzen determiniert, wie sie — wenigstens grundsätzlich — auch außerhalb des lebenden Körpers gelten, oder aber im Organismus sind außerdem noch ganz andere Gesetze mit im Spiel. Wollte man die zweite Ansicht nicht als „Vitalismus" gelten lassen, so wäre das eine Verdrehung der Begriffe. Das wird höchstens derjenige bestreiten, der den Vitalismus nur aus der Karrikatur kennt. Man scheint vielfach auch der Meinung zu sein, daß die neueste Theorie der Naturgesetzlichkeit, wie wir sie im vergangenen Kapitel gezeichnet hatten, berufen sei, den Gegensatz zwischen vitalistischer und mechanistischer Hypothese zu überwinden, und zwar geht man folgenden Gedankengang: Die moderne Physik läßt keine exakten Gesetze, sondern nur Wahrscheinlichkeitsregeln gelten. Während wir aber im vorigen Kapitel den Standpunkt vertraten, daß der Unterschied zwischen Wahrscheinlichkeit und Exaktheit auf unvermeidlichen Messungsfehlern beruht (soweit es sich nicht um Massenvorgänge handelt, wie z. B. beim Anprall der Gasmoleküle an die Wand des Meßzylinders), sind andere Naturforscher der Ansicht, daß es eine strenge Gesetzmäßigkeit überhaupt grundsätzlich gar nicht gibt, sondern daß unser strenger Kausalbegriff nichts anderes als eine gedachte Idealisierung der Wahrheit sei, — ohne reellen Hintergrund! Diese zweite Auffassung der Kausalgesetzlichkeit hat aber nur so lange einen Sinn, als sie sich auf eine Vielheit von gleichartigen Einzelvorgängen bezieht; denn für ein einzelnes, einzigartiges Ereignis ist keine statistische Wahrscheinlichkeitsregel zu ermitteln. Wenn aber das organische Individuum schon von atomaren Dimensionen an einen besonderen Aufbau zeigt, dann hat es keinen Sinn, diesen Aufbau durch kausale Regeln erfassen zu wollen. Es erscheint auf den ersten Blick sehr verlockend, auf diese Weise den Unterschied zwischen lebender und lebloser Substanz zu erklären. Immerhin könnte man dagegen allerhand Bedenken geltend machen. Aber auch wenn wir ihre Richtigkeit unterstellen, so erweist sie sich uns bei näherem Zusehen zum mindesten als inhaltsleer. Sie erschöpft sich im Negativen, ohne Positives auszusagen: Sie leugnet die Gültigkeit der physikalischen Kausalgesetze für das eigentlich Individuelle am Leben, sie vermag aber über dessen Wesen und Zustandekommen nichts auszusagen! Hier läßt also diese Erklärung eine Lücke offen. Diese auszufüllen bleibt eben die Aufgabe der Lehre von der Eigengesetzlichkeit des Lebens, d. h. Aufgabe der vitalistischen Theorie. Auf welche Weise diese Theorie der Wirklichkeit am nächsten kommt, ist eine sekundäre, freilich nicht minder wichtige Frage. Auf jeden 125
Fall sehen wir: Man kann die Dinge drehen wie man will, die Alternative Vitalismus-Mechanismus bleibt unausweichlich. Anm. 17 b. Immer wieder wird von den Mechanisten eingewendet, die vorläufige physikalische Unerklärbarkeit des Lebens gebe uns noch kein Recht zu einer vitalistischen Theorie. Dieser Einwand ist rein dogmatisch, indem er von vornherein die mechanistische Theorie für richtig erklärt, ohne Rücksicht darauf, wie sie sich bewährt! Wenn es uns nicht darauf ankommt, welches Dogma wir von vornherein wählen wollen, sondern darauf, daß wir eine möglichst gute Übereinstimmung zwischen Theorie und Erfahrung erhalten, dann werden wir derartige Vorurteile überhaupt gar nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Die Forderung, daß alles Leben mechanistisch erklärt werden müsse, entspringt also letzten Endes einem subjektiven Dogma, das sich mit einer gewissen suggestiven Kraft verbreitet hat und das schließlich im „naturwissenschaftlichen" Zeitalter durch Mehrheitsbeschluß sanktioniert worden ist. Man wird erinnert an die Starrheit kirchlicher Dogmen, die im 17. Jahrhundert von der Inquisition mit Feuer und Schwert geschützt worden sind. Der Inhalt ist verschieden, die Methode der Beweisführung ist die gleiche. Ganz konsequent verteidigt das moderne Rußland die mechanistische Lehre. Der dialektische Materialismus ist zur Staatsreligion erhoben, er ist obligatorisches Unterrichtsfach für Erwachsene und Kinder. Wer Zweifel daran äußert, wird gemaßregelt. Theorien, die man nicht widerlegen kann, sucht man durch Verbote zu bannen. Bei uns ist die Handhabung humaner. Aber darum ist die Beweisführung nicht weniger willkürlich! Im Grunde ist die Behauptung, daß man die monistischen Prinzipien möglichst weit einhalten müsse, ebenso subjektiv wie die F i c h t e s c h e Philosophie, deren Methode sich in den Worten kennzeichnet: „ W e r seine Sätze aus ursprünglichen Grundsätzen der Vernunft ableitet durch strenge Folgerungen, ist ihrer Wahrheit oder der Unwahrheit aller Einwendungen dagegen schon im Voraus sicher. Was nicht neben ihnen bestehen kann, muß falsch sein, das kann er wissen, ohne es auch nur angehört zu haben." (Sämtl. Werke-, 1846, VI, 74, zit. nach W a l l n e r . ) Anm. 18. Zu den Versuchen, Modelle des lebenden Protoplasmas zu konstruieren, bemerkt D r i e s c h , daß wir selbst dann, wenn wir bis in alle Feinheiten den Zelleib nachgebildet hätten, nur die Leiche einer Zelle aufgebaut hätten. Nun erwecken allerdings die flüssigen Kristalle, wenn man sie unter dem Mikroskop betrachtet, durch ihre raschen Bewegungen keineswegs den Eindruck von Leichen, und wer sie nur einen Augenblick lang sieht, der könnte sie wirklich leicht für Lebewesen halten. Aber wenn wir sie weiter beobachtend verfolgen, dann finden wir in ihrem Verhalten nichts von biologischer Zweckhaftigkeit, d. h. die Mittel, deren sich der Kristall bedient, sind auch ohne den erstrebten Zweck verständlich. Die Erklärung kommt hier also mit den Begriffen der Physik vollkommen aus. Daher liegt der Schluß nahe, daß der Unterschied zwischen einfachsten Bakterien
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und flüssigen Kristallen grundsätzlich der gleiche ist, wie zwischen Maschinen, die von Menschen geführt werden, und Maschinen, die sich selbst überlassen sind. A u c h D r i e s c h sagt neuerdings, daß das von ihm früher bekämpfte Wort Maschinentheorie des Lebens eigentlich sehr gut die tatsächlichen Verhältnisse beleuchtet: Die Maschine kann nur fortbestehen, wenn sie durch ein beseeltes Wesen instandgehalten und gesteuert wird. Sonst ist sie bald verloren.
Anm. 19. Die Ablehnung des teleologischen Denkens durch die neuere Biologie und Medizin ist eigentlich nur historisch zu verstehen. Früher konnte man sich nicht vorstellen, daß ein zielgerichtetes Geschehen anders bewirkt werde als durch eine bewußt handelnde Persönlichkeit. Da es nun dem Naturforscher unglaubhaft schien, daß z. B. die Entwicklung einer Pflanze durch bewußtes Denken geleitet werde, lehnte er die Teleologie als Erklärungsprinzip ab. Einzelne Forscher unterschieden allerdings ausdrücklich die Hypothese eines zielstrebigen Geschehens von dem eigentlichen teleologischen Prinzip. So gibt z. B. R. V i r cho w, indem er die Auffassungen der biologischen Abwehr- und Entzündungsreaktionen bespricht, ohne weiteres zu, daß manche Veränderungen des Organismus offenkundig den Zweck hätten, die Schädlichkeit zu beseitigen; jedoch sei an dieser Auffassung „der teleologische Hintergrund zu tadeln, auf welchem sich die tätigen Kräfte als mehr oder weniger personifizierte abheben, während sie doch in den einmal gegebenen Einrichtungen und Verbindungen der Körperteile mit Notwendigkeit gegeben sind". (Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie, Bd. I, 1854, S. 18.) Ähnlich heißt es bei A. F i s c h e l (Lehrbuch der Entwicklung des Menschen, Springer 1929): „Es ist nun unverkennbar, daß die normalen Entwicklungsvorgänge derart geordnet ablaufen, daß ihr Endergebnis ein ganz bestimmtes ist, so daß man — wie dies bereits A r i s t o t e l e s und später K. E. v. B a e r betont haben — den Eindruck erhält, als ob alle Entwicklungsvorgänge ziels t r e b i g verlaufen. Da mit dieser Vorstellung nicht die Annahme eines bewußt zwecktätigen Wirkens verbunden sein muß, kann sie nicht als teleologisch bezeichnet werden.. . . Die . . . Entwicklungsvorgänge verlaufen . . . nach dieser Auffassung so, wie es zur Erreichung eines bestimmten Endzieles zweckmäßig ist, sie werden also — anscheinend — vom Endziele, das als Causa finalis betrachtet werden kann, bestimmt. . . . Diese finale Betrachtungsweise . . . ist den . . . anderen . . . gleichberechtigt. . . . Wenn . . . hier von ihr wiederholt Gebrauch gemacht wird, so sei nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, daß dies nicht in teleologischem Sinne gedeutet werden darf." Mir leuchtet nicht ein, daß eine 127
solche Unterscheidung heute noch berechtigt ist. Ich bestreite nicht, daß im achtzehnten Jahrhundert und z. T. auch noch im Zeitalter der Romantik die Vertreter des teleologischen Gedankens sich vorstellten, daß die zweckmäßig gestaltenden Mächte in den Organismen bewußt handelnde Wesen seien. Das beweisen u. a. die Ausführungen Kants in der „Kritik der Urteilskraft". Allmählich hat sich aber doch unter dem Einfluß von Goethe, C. E. v. Baer, Carus und ganz besonders der modernen Psychoanalytiker die Erkenntnis durchgerungen, daß die gestaltenden Triebe zunächst unbewußt walten. Damit ändert sich die Sachlage: Der Haupteinwand gegen die Teleologie, die Behauptimg, daß ein nach Zwecken strebendes Wesen nur als bewußt handelnde Person denkbar sei, wird hinfällig. Geradezu wie ein Fremdkörper in den Anschauungen unseres Zeitalters wirkt jene Karikatur, die Paulsen in seinem bekannten Lehrbuch von der Teleologie zeichnet: „... Was den Zweck anlangt, so wollen wir uns zunächst an der Auskunft genügen lassen, auf die alle Teleologie immer hinauskommt: Er bestehe in dem Wohl lebender Wesen. . I m allgemeinen müsse man als höchsten Zweck der Schöpfimg unter solchen Gesichtspunkten den Menschen anerkennen; freilich könne man, um den daraus entspringenden Schwierigkeiten auszuweichen, auch sagen, „die immanente Teleologie betrachte jedes Geschöpf als Selbstzweck.... Um seiner selbst willen seiend sei sein Dasein gerechtfertigt, wenn es von ihm selber mit Befriedigung empfunden werde." Infolgedessen meint Paulsen, müßte man zur Rettung des teleologischen Prinzips den Beweis erbringen, „daß die innere Organisation und äußere Umgebung sich überall als ein System von Mitteln darstellten, den lebenden Wesen ihr Dasein zu einem befriedigenden und glücklichen zu machen." Wer sich imbefangen überlegt, welche Folgen sich aus dem teleologischen Prinzip ergeben, der wird eher zu den umgekehrten Schlüssen kommen wie Paulsen: Die zielgerichtete Orientierung aller Lebensfunktionen muß alles andere als die Glückseligkeit der Organismen bewirken. Da die Individuen selbständige Existenzen sind, müssen sie sich gegenseitig mit ihrem Streben hindern, d. h. bekämpfen und infolgedessen gegenseitig alles andere als glücklich machen. Teleologie bedeutet nicht Frieden, sondern Krieg! Mit großer Zurückhaltung möchte ich den Gedanken zur Erörter u n g stellen, ob nicht vielleicht auch im pathologischen Geschehen eine solche (auf Kausalität zurückführbare 1) Teleologie waltet. Dies sei an einem speziellen Beispiel gezeigt, bei dem wir über die physikalischchemischen Vorgänge im Organismus verhältnismäßig gut unterrichtet sind, an der Rachitis. Über die äußeren Ursachen dieser Krankheit ist
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man sich im wesentlichen einig. Widersprüche ergeben sich bezüglich der Pathogenese. Zwar wäre ohne weiteres der größte Teil des Krankheitsbildes erklärbar durch die Annahme einer primären Phosphatstoffwechselstörung (Rominger-Meyer), und ohne diese oder wenigstens eine prinzipiell ähnliche Hypothese wäre die Fülle des in den letzten Jahren bekannt gewordenen Tatsachenmaterials überhaupt gar nicht zu übersehen. Die primäre Phosphatstoffwechselstörung würde auch einen großen Teil der äußerlich wahrnehmbaren Krankheitserscheinungen erklären. Und doch findet man Symptome (wie z. B . die gestörte Kalzium- und Phosphatadsorption an wachsenden Skeletteilen, P f a u n d l e r , Ullrich), die durch jene erste Annahme in keiner Weise verständlich zu machen sind. Dagegen lassen sich alle krankhaften Veränderungen, insbesondere die mikroskopischen Formwandlungen bis herab zu den einzelnen Zellen und Zellausläufem, auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wenn man annimmt, daß auf den äußeren, schädlichen Reiz hin (Lichtmangel, Fehlen des Vitasterins usw.) der Organismus pathologisch reagiert, indem alles in ihm auf einen zwerghaft plumpen Formcharakter hinzielt. Doch sei dieser Gedanke, den ich meinem speziellen Arbeitsgebiet entnehme, nur mit großer Zurückhaltung als Hypothese ausgesprochen. Im übrigen sei hier an die bekannten Arbeiten von B i e r über die Notwendigkeit des teleologischen Denkens in der Medizin erinnert. Anm. 20 a. Daß die Pflanzenseele anders beschaffen ist als die Tierseele, steht wohl außer Zweifel; eine nähere Erörterung hierüber wäre für unser Problem zwecklos.
Anm. 20 b. Die Nomenklatur, auf die ich keinen entscheidenden Wert legen möchte, ist bei Johannes Müller allerdings eine etwas andere. Johannes Müller unterscheidet Erregung und Empfindung: Die Erregung, worunter keineswegs ein bloß physikalischer Vorgang im Organismus zu verstehen ist, sondern etwas spezifisch Vitales, verläuft unbewußt. Unter Empfindung versteht er das Bewußtwerden der Erregung. Nachdem sich nun aber in der Physiologie die Nomenklatur von Helmholtz durchgesetzt hat, wonach unter Empfindung ein Vorgang im Sinnesnerven, unter Wahrnehmung dessen Bewußtwerden im Großhirn zu verstehen ist, glaube ich, daß J o h a n n e s Müllers Begriff von Empfindung mehr demjenigen entspricht, den die moderne Physiologie mit dem Wort Wahrnehmung verbindet. Haben wir uns einmal klargemacht, daß die Empfindung nicht notwendig bewußt verlaufen muß, und daß jede lebende Zelle (in grundsätzlich gleicher Weise wie das Sinnesorgan, nur primitiver) Reize perzipiert, dann dürfen wir sagen, daß nicht nur das Sinnesorgan, sondern jegliche lebende Substanz die ihr adäquaten Reize empfindet. Vielleicht ist die Begriffsabstimmung Johannes Müllers noch ein wenig von A. v. Haller beeinflußt, der reizbare Substanz (Muskeln) und empfindende Substanz (Nerven) unterschied. Diese 129
Unterscheidung hat sich allmählich, je genauer man die Funktionen der verschiedenen Gewebselemente kennenlernte, als immer unhaltbarer erwiesen. Jegliche lebende Zelle ist reizbar. Die Perzeption der Reize durch die Nerven ist grundsätzlich die gleiche wie die in anderen Geweben. Selbstverständlich ist das Bewußtsein etwas Besonderes. Aber nicht alle Nervenvorgänge verlaufen bewußt, auch nicht im Großhirn. Und umgekehrt ist es auch nicht unwahrscheinlich, daß selbst Tiere ohne Nervensystem Bewußtsein besitzen. Als Beleg dafür, daß H e l m h o l t z unter „Empfindung" den Vorgang im Sinnesnerven ohne Rücksicht auf. sein Bewußtwerden versteht, möchte ich folgende Worte von ihm anführen (Ges. Vorträge u. Reden, i . Bd. S. 296): „Wir erhalten von einer Mischfarbe, die sich in unserer Netzhaut abbildet, drei verschiedene Elementarempfindungen, wahrscheinlich in verschiedenen Nerven, ohne sie zu trennen. Wir hören von einer angeschlagenen Saite, oder von einer menschlichen Stimme gleichzeitig verschiedene Töne, einen Grundton und eine Reihe harmonischer Obertöne, welche ebenfalls wahrscheinlich von verschiedenen Nerven empfunden werden, ohne dieselben örtlich zu trennen. Bei vielen Substanzen, die wir genießen, schmecken wir verschieden mit den verschiedenen Stellen der Zunge und riechen gleichzeitig, während die Speise den Schlund passiert, deren flüchtige Bestandteile, während doch diese verschiedenen, durch verschiedene Nervenapparate perzipierten Empfindungen gewöhnlich ungetrennt in der einen Gesamtempfindimg des Geschmackes der genossenen Substanz vereinigt bleiben." Das alles bedeutet also: Bewußt wird uns für gewöhnlich ein Komplex als eine Einheit; die Einzelempfindungen gelangen meistens gar nicht in unser Bewußtsein. Gleichwohl bleibt zuzugeben, daß die Terminologie von H e l m h o l t z nicht immer ganz eindeutig ist. Manchmal versucht er das Wort Empfindung für bewußte Prozesse zu reservieren. Diese Zweideutigkeit wird in dem Augenblick gefährlich, wo moderne Psychologen ihre Einwände gegen das Prinzip der spezifischen Sinnesenergien erheben. Ich glaube, es ist praktisch das Beste, wenn wir den von H e l m h o l t z angedeuteten Weg fortsetzen und die Begriffe Empfindung und Wahrnehmung in dem Sinne unterscheiden, daß wir unter Empfindung die Aufnahme von zentripetalen Reizen verstehen, ganz gleich an welcher Stelle sie erfolgt (also z. B. gleichgültig ob in der fissura calcarina des Gehirns oder in der Netzhaut des Auges) und auch gleichgültig, ob sie mit Bewußtsein verbunden ist oder 130
nicht; — unter Wahrnehmung hingegen das Bewußtwerden eines Reizes. Empfindung bedeutet einen Schritt vom rein Physischen ins Lebendige; Wahrnehmung bedeutet den Schritt in den bewußten Teil unseres Seelenlebens. Diese Terminologie ist zweifellos nicht ganz ideal, wir können ihr aber kaum ausweichen, wenn wir die Psychologie des Unbewußten einerseits und die Sinnesphysiologie andererseits berücksichtigen. Von einzelnen Forschern wird immer wieder behauptet, alles bewußte Denken sei notwendig mit sprachlichen Begriffen verbunden. Es genügt wohl ein Hinweis auf die Arbeiten von J a e n s c h , um solche Hypothesen zurückzuweisen. Anm. 21. Die physikalische Gesetzlichkeit h a t sich bisher noch nicht auf einen Generalnenner bringen lassen. Wellentheorie und Quantentheorie des Lichtes widersprechen einander vorläufig, aber keine der beiden läßt sich vorläufig ganz entbehren (vgl. P l a n c k , Physikalische Gesetzlichkeit, B a r t h 1926). Anm. 22. Es wäre denkbar, daß der Physiker, Mineraloge, Chemiker usw. bei seiner Untersuchungsmethode die Dinge grundsätzlich zu einseitig erforscht und daß es auch in Steinen, L u f t und Wasser noch irgendetwas gibt, das an gewisse Prinzipien des Lebendigen erinnert, so daß man auch in diesen Objekten das Walten anderer als rein physikalischer Gesetze annehmen müßte. Ich denke hier an Lehren, wie man sie andeutungsweise z. B. in manchen Schriften von G o e t h e findet, — wie sie im Altertum ganz allgemein anerkannt waren und wie sie in schärferer Prägung vor allem von P a r a c e l s u s , von H a h n e m a n n und von R . S t e i n e r vertreten worden sind. Wenn auch die Kritiklosigkeit und die dogmatische Einstellung der drei letztgenannten Autoren und besonders ihrer heutigen Anhänger zu bedauern ist, So ist es doch nicht viel weniger kritiklos, alle ihre Gedanken ganz grundsätzlich ohne ernstere P r ü f u n g abzulehnen. Leider ist allerdings das, was bisher über die sogenannten „kosmischen" Kräfte geschrieben ist, zum größten Teil von einem derartigen Wust von unsinniger Phantasterei umgeben, daß ein brauchbares Material für kritische, wissenschaftliche Prüfung eigentlich noch nicht vorliegt. Nebenbei sei bemerkt, d a ß die „kosmischen" Kräfte das Freiheitsprinzip zwar etwas einschränken, nicht aber aufheben würden.
Anm. 23. Außer der sonst in dieser Arbeit zitierten Literatur seien noch genannt: Carus, „Psyche", neuverlegt Jena 1926. — Becher, Naturphilosophie, in Sammlung „Kultur der Gegenwart", Teubner, Leipzig. — Tschermak, Einleitung zum Lehrbuch der allgemeinen Physiologie. — v. Uexküll hat seine Ansichten vielfach veröffentlicht, am kürzesten in „Lebenslehre", Kiepenheuer 1930; hier tauchen viele Gedanken auf, die außerordentlich an Heydecker erinnern. — Bemerkenswert scheint mir ein Aufsatz von Diepgen in Klin. Wochenschr. 1931, S. 1433, über die Geschichte des Vitalismus. Diepgen betont, daß der 131
immer wieder geäußerte Einwand, daß der Vitalismus die Forschung hemme, sich historisch als unwahr erweise. Ehrenbergs „Theoretische Biologie" fällt etwas aus dem allgemeinen Rahmen heraus ; sie erörtert Teilfragen, auf die hier nicht eingegangen wurde, doch sei dieses Buch wenigstens erwähnt. — Im allgemeinen findet man ja immer wieder die gleichen Gedanken in wenig veränderter Form. Es liegt mir völlig fern, eine Literaturübersicht zu geben, die ja bei der Verschiedenheit der für unser Problem wichtigen Gebiete unübersehbar und von vornherein ohne annähernde Aussicht auf Vollständigkeit sein müßte. — Die moderne mechanistische Literatur ist großenteils referiert in der hier mehrfach besprochenen Arbeit von Bleuler: „Mechanismus, Vitalismus, Mnemismus". Dazu sei noch angeführt die 1929 neu erschienene Auflage von J . Schultz „Die Maschinentheorie des Lebens". B l e u l e r s Ideen sind jetzt viel vitalistischer gefärbt als in seinem früheren Buch: „Die Psychoide als Prinzip der organischen Entwicklung". Auch der Form nach wird der Vitalismus höflicher behandelt als damals, wo der Verfasser, der bei anderen Medizinern das „autistisch-undisziplinierte Denken" aufs schärfste verurteilte, noch den Satz schrieb: „Daß es keine besondere vitalistische Kraft gebe, das ist auch nicht bewiesen, ebensowenig wie daß die Marsbewohner Filzhüte tragen. Wir finden nur bis jetzt keinen Anlaß, es zu vermuten." Leider hatte Bleuler sich bei Abfassimg seiner früheren Bücher anscheinend gar nicht mit der vitalistischen Literatur beschäftigt. Es war ihm entgangen, daß Driesch in seiner „Philosophie des Organischen" den Begriff des Psychoids in einer ähnlichen, aber keineswegs derselben Bedeutung bereits geprägt hatte wie er selbst, nur daß Bleuler das Wort als Feminin Singular gebraucht. Driesch unterscheidet das formgestaltende Prinzip (Entelechie) von dem die Handlungen beherrschenden Prinzip (Psychoid). Seinen Ausführungen kann man sich kaum verschließen: Beide Begriffe müssen auseinandergehalten werden. Bleuler nimmt darauf keine Rücksicht, mißachtet die Priorität von Driesch und gebraucht seine Nomenklatur weiter, wodurch natürlich eine Sprachverwirrung heraufbeschworen ist. An sich ist es nicht schwer, sich über die verschiedenen biologischen Theorien zu unterrichten, sie sind in der Einleitung mancher Lehrbücher, besonders ausführlich in R ä d l s „Geschichte der biologischen Theorien" referiert. Die Mehrzahl der Mediziner scheint immer noch treu an der mechanistischen Hypothese festzuhalten, wenn es auch nach außen hin anders scheint, weil die Vitalisten sich heute lauter in
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den Vordergrund drängen als früher. Im allgemeinen nimmt man wenig Anstoß an einem Satz wie dem folgenden, den das sonst so zuverlässige Lehrbuch von L a n d o i s und R o s e m a n n noch in den neuesten Auflagen mitschleppt: „Es ist die Aufgabe der Physiologie, die Erscheinungen, welche wir in der belebten Natur wahrnehmen, auf Kräfte der unbelebten Natur zurückzuführen, und nach den für diese gefundenen Gesetzen zu erklären. Eine sogenannte „Lebenskraft", welche nach einer früher weit verbreiteten Annahme in den belebten Wesen wirken und in die Äußerungen der Kräfte der unbelebten Natur in ungesetzmäßiger und daher unerforschlicher Weise eingreifen sollte, existiert nicht." Im Lichte solcher Anschauungen ist der Organismus ein kunstvoll gebauter Automat. Man hat nun natürlich versucht, gerade diejenigen Funktionen als Reflexe auszudeuten, die sich am schwierigsten in diesem Sinne verstehen lassen, nämlich diejenigen des Gehirns. Bei einer ganzen Reihe von Vorgängen, die schon in den Bereich der Seele hineinzuragen scheinen, hat sich in der Tat nachweisen lassen, daß sie automatisch bedingt sind. In der Erforschung solcher Zusammenhänge haben Magnus, R a d e m a k e r , P a w l o w u. a. Bewundernswertes geleistet. Sie haben an einem großen und mit unendlicher Mühe und Fleiß bearbeiteten Tiermaterial den kausalen, reflektorischen Ablauf solcher Nervenprozesse studiert, die normalerweise an der Grenze des Bewußtseins verlaufen. In ihren Arbeiten bleiben aber alle jene Funktionen unverständlich, die wir als aktive Äußerungen zu bezeichnen pflegen, insbesondere das Finden neuer Wege, wenn die alten versagen. Auch das Versuchstier findet solche Wege. Setzt man z. B. eine Katze unter eine große Glasglocke und pumpt die Luft ab, so kann man erleben, daß sie ihre Pfote zielsicher auf die Öffnimg setzt, aus der die Luft weggesaugt wird. P a w l o w prägte für das Verhalten des Tieres, das sich an einen neuen Weg gewöhnt hat (den es auf einen neuen Reiz hin gefunden hatte) das Wort „bedingter Reflex". Aber der eigentliche Kernpunkt, die erste Bahnimg des neuen Weges, bleibt in seiner Theorie durchaus unklar. Die Anerkennung vitaler, teleologischer Prinzipien dagegen hilft diese Dinge im Prinzip sofort verstehen. Als Systematiker — oder besser gesagt: als Apologet — des Mater i a l i s m u s sei Lenin erwähnt, mit dessen Gedanken wir uns hier auch auseinandersetzen, ohne ihn im einzelnen zu erwähnen, weil er Neues eigentlich nicht gebracht hat; er hat zweifellos das Verdienst, die von anderer Seite entwickelten Theorien in sehr anschaulicher Weise dargestellt zu haben (Materialismus und Empiriokritizismus, sämtl. Werke, Bd. XIII), allerdings nicht eigentlich kritisch, sondern apologetisch!
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Der Vollständigkeit halber muß eine von manchen Autoren früher vertretene Ansicht erwähnt werden, daß sich der Organismus von einer Maschine dadurch unterscheide, „daß in ihm chemische Kräfte die Herrschaft führen" (vgl. O. H e r t w i g , Allg. Biologie, Jena 1912). Eine solche Hypothese ist heute unhaltbar geworden, wo wir gelernt haben, physikalische und chemische Erscheinungen (einschließlich der kolloidchemischen) auf die gleiche Grundlage zurückzuführen. H. André hat soeben ein unter phänomenologischen Gesichtspunkten geschriebenes Buch veröffentlicht, betitelt: Urbild und Ursache in der Biologie (München, Oldenbourg, 1931). Er hält es für nötig, die ganze kausalanalytische Betrachtungsweise der exakten Naturwissenschaft über Bord zu werfen, weil er meint, anders dem Gestaltproblem nicht gerecht werden zu können. Er will das „abstrakt-kausale" Denken durch das „konkret-kausale" ersetzen, das nun aber keineswegs konkreter ist und dafür die Klarheit und vor allem die Genauigkeit vermissen läßt, die sonst in der Naturwissenschaft üblich ist. Nach Meinimg des Verfassers scheint die Naturwissenschaft ihren Höhepunkt — wenigstens bezüglich der Grundfragen der Biologie — im dreizehnten Jahrhundert erreicht zu haben, und die weitere Entwicklung ist dann nur ein Sammeln von Einzeltatsachen ohne eigentliche Vertiefimg gewesen. Nur wenigen Geistern soll es später gelungen sein, die philosophischen Grundfragen der Naturwissenschaften richtig zu sehen. Ich verkenne gar nicht, daß wir an den Werken alter Philosophen nicht achtlos vorübergehen dürfen, und uns vor dem Standpunkt des Wagner im Faust hüten müssen, „zu sehen, wie vor uns ein kluger Mann gedacht, und wie wir's dann so herrlich weit gebracht". Aber schließlich waren eben Entwicklungsmechanik, Paläontologie, Histologie, Elektrophysiologie und viele andere Dinge, die ganz wesentliche Grundanschauungen erst möglich machen, im dreizehnten Jahrhundert noch so unbekannt wie die Geographie Amerikas, und ohne die entsprechenden Tatsachen konnten selbst Geistesriesen wie A l b e r t u s Magnus und Thomas von A q u i n o vielfach nur zu Urteilen kommen, die für uns heute nur noch historischen Wert haben. Nichtsdestoweniger wäre es eigentlich gar nicht nötig gewesen, unter Berufung auf T h o m a s von A q u i n o zu einer so scharfen Ablehnung der kausalkritischen Naturwissenschaft zu kommen. Insbesondere ist es auch gar nicht nötig, von einem solchen Ausgangspunkt aus den vitalistischen Dualismus von Entelechie und Stoff zu bekämpfen. A n d r é kommt zu einem ganz ähnlichen Dualismus, indem er V e r w i r k lichungsfeld und Materialfeld unterscheidet. Der erste Be134
griff ähnelt dem der Entelechie, der zweite dem des Stoffes. Durch Einführung dieser Begriffe glaubt der Verf., er erkläre das biologische Geschehen wesentlich konkreter, als es sonst in der Naturwissenschaft üblich sei. Das wird wohl niemand zugeben, der sich nicht vorher eine besondere Routine im Denksystem des Verfassers erworben hat. Ganz unberechtigterweise wird z. B. den Darwinisten vorgeworfen, ihre Erklärungsversuche seien zu abstrakt. Ich kann mich nicht erinnern, konkretere wissenschaftliche Literatur überhaupt jemals gelesen zu haben als die D a r winschen Werke; und auch seine Nachfolger haben wenigstens das eine Gute, daß sie in handfesten Begriffen zu denken gewohnt sind. Daß die Begriffswelt des Verfassers reichlich abstrakt ist, kann zwar nicht als Fehler bezeichnet werden, denn ohne Abstraktionen ist keine Philosophie möglich. Nur sollte nicht beinahe auf jeder Seite behauptet werden, daß dieses System konkreter sei als das in der Naturwissenschaft sonst übliche. A n d r é wehrt sich besonders dagegen, daß Driesch „hinter" den Erscheinungen etwas suche. Nach Ansicht des Verfassers sind sowohl Verwirklichungs- wie auch Materialfeld „in" den Dingen selbst enthalten. Hier scheint mir die ganze Angelegenheit sich zu einem bloßen Wortstreit zuzuspitzen, denn bei Driesch ist natürlich die Entelechie nicht hinten, der Stoff vorn, sondern beides ist in den Phänomenen selbst zu sehen, jedes auf seine Weise. Nun ist freilich zuzugeben, daß bei A n f r é die theoretischen Begriffe gefühlsmäßig etwas massiver erscheinen, wofür sie andererseits an Exaktheit verlieren. Mitunter hat man sogar den Eindruck, als seien sowohl mit den Begriffen Verwirklichungs- wie Materialfeld stoffliche Dinge gemeint. A n d r é rechnet z. B. den Atomkern zu diesem, das Elektron zu jenem! Ich kann mich bei dieser wie auch bei jeder weiteren Hypothese des Verfassers, die sich auf die moderne Atomphysik oder Strukturchemie bezieht, nicht des Eindrucks erwehren, daß es sich hier nur um eine geistvolle Spielerei handelt, deren Wahrheitswert etwa derjenigen der S c h e l l i n g schen Philosophie entspricht, die uns wohl unterhalten und allenfalls erbauen, niemals aber in der Erkenntnis der Natur weiterbringen kann. Das Problem der Freiheit wird vom Verf. nur leicht gestreift. Wenn man so weitergehend, wie er es z. B. auf S. 53 tut, das Offenstehen von „Möglichkeiten" für die Entwicklung eines Lebewesens zugibt, dann würde der Annahme einer echten Freiheit an sich kaum noch etwas im Wege stehen; wir sehen dies ja bei anderen Vertretern der phänomenologischen Philosophie. Jedoch wird die Freiheit abgelehnt unter Berufung auf die theologische 135
Prädestinationslehre, so daß auch hier, wenn auch in theologischer Färbung, Ähnliches gesagt wird wie von Driesch in der „Philosophie des Organischen". Im ganzen finde ich es bedauerlich, daß ein Buch, das auf einer so breiten Grundlage aufgebaut ist und im einzelnen so viel wertvolles enthält, sich mit der kritischen Naturwissenschaft nicht eigentlich auseinandersetzt, sondern sie nur schlecht macht, ohne auf ihre Beweise tiefer einzugehen. Obwohl die Probleme, mit denen sich die beiden größten Physiologen des vorigen Jahrhunderts, H e l m h o l t z und Johannes Müller zeitlebens zu tiefst beschäftigt haben, in dem Buch dauernd behandelt werden, wird der Name weder des einen noch des anderen genannt. Gewiß ist Biologie nur dann möglich, wenn außer den ursächlichen Zusammenhängen auch die Gestalten erfaßt werden. Aber es ist nicht einzusehen, inwiefern die Methoden, die die Physiologie in den letzten achtzig Jahren befolgt hat, dafür ein Hindernis bilden sollen, das man beseitigen müßte. Anm. 24. Wenn man im Sinne von Nicolai H a r t m a n n annimmt, daß sowohl die Kausalität wie auch die Finalität lückenlos gelten, und wenn man dies nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit annimmt, so ergibt das die Konsequenz, daß beide genau aufeinander eingestellt sein müssen. Dann aber müßten z. B. vor fünfzehn Millionen Jahren die Atome im Weltenraum so verteilt gewesen sein, daß mit kausaler Notwendigkeit aus dieser Verteilung und aus der gegebenen Naturgesetzlichkeit (die als Kausalgesetzlichkeit auch die biologischen und psychologischen Vorgänge determiniert) alles weitere historische Geschehen auf der Erde eindeutig festgelegt war. Gibt man aber einen Schöpfungsakt, d. h. eine Erschaffung des Lebens auf der Erde zu, so bedeutet dieser eine Durchbrechung des Kausalprinzips. Anm. 25. Mancher Leser wird mir vorwerfen, daß ich die hier erwähnten Dinge aus der Astronomie viel zu kurz und daher in Anbetracht ihrer großen Bedeutung für weltanschauliche Fragen zu oberflächlich berichte. Eine breitere Darstellung würde aber v o m Weg allzusehr abführen, weil diese Dinge für das Freiheitsproblem nur untergeordnete Bedeutung haben, während sie anderseits doch eben gestreift werden müssen. Wer sich mit den kosmologischen Theorien befassen will und selbst noch keine Literatur darüber kennt, dem sei zur ersten Einführung B a v i n k s Monographie (Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften) empfohlen; eine Reihe neuester Literaturhinweise finden sich in der Dennert-Festschrift (Leipzig, Klein, 1931). Anm. 26a. B e r g s o n betrachtet nicht nur die organische Entwicklung als Ganzes als frei, sondern auch alle übrigen Funktionen der Organismen,
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die der physikalischen Gesetzlichkeit nicht unterliegen. Allenthalben sieht er in den Lebewesen „Zonen des Indeterminismus". Daß er weit über das Ziel hinausschießt, wird wohl auch von allen jenen Biologen zugegeben, die ihn an sich ernst nehmen. Seine Ideen lassen sich im übrigen nicht gut mit denen von D r i e s c h vergleichen, weil er auf dem Boden eines naiven Realismus steht und daher niemals eine außerräumliche, zeitlose Entelechie anerkennen würde. Anm. 26 b. Auch in der Physik ist schon einmal der Gedanke eines sich ändernden Naturgesetzes erörtert worden: Man hat sich gefragt, ob nicht vielleicht das Entropieprinzip in künftigen Zeiten einmal verschwinden könnte. Anm. 27. Bei Säugetieren gelingt die Autoplastik ( = Überpflanzung eine Organes oder Gewebsstückes von einer Stelle zur anderen am gleichen Individuum) bei Einhaltung der richtigen Technik, d. h. bei Anschluß an ein dichtes Blutgefäßnetz und bei aseptischem Arbeiten, annähernd mit Sicherheit. Dagegen hat die Homoioplastik ( = Homoplastik = Überpflanzung eines Gewebsstückes auf ein anderes Exemplar der gleichen Tierart) nur ausnahmsweise Erfolg. Doch ist sie auch beim Menschen in einzelnen Fällen gelungen. Z. B. hat L e x e r ganze Kniegelenke von einem Menschen auf den anderen übertragen und zu dauernder Funktion gebracht. ( L e x e r , die freien Transplantationen, Enke 1924.) Wie weit dabei allerdings altes Gewebe erhalten bleibt, und wieweit es von den Zellen des Empfängers allmählich ersetzt wird, ist noch strittig. Daß ein solcher Ersatz weitgehend stattfindet, wurde von keinem Untersucher bezweifelt. Bei der Haut sind die Schwierigkeiten der Transplantation viel größer. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß sie ein Organ ist, das in ganz besonderem Maße die Aufgabe hat, Abwehrstoffe zu bilden. L e x e r schreibt: „Das Gelingen der Epidermishomoplastik wird auch heute noch von vielen angenommen, trotzdem wichtige Tier- und Menschenversuche entgegenstehen." Man hat sich früher sehr oft täuschen lassen, u. a. dadurch, daß unter der fremden Hautdecke die eigene Haut wie unter einem schützenden Verband besonders gut gedieh. Neuerdings hat man allerdings sicher nachweisen können, daß bei Ratten des gleichen Wurfes die Homoioplastik mitunter doch gelingt ( G o h r b a n d t , Arch. Klin. Chir. 139, S. 971). B i e r hat sogar beim Menschen über anscheinend einwandfreie Hauthomoioplastiken berichtet (Chir.-Kongr. 1930). In diesen Versuchen wurde aber nicht etwa Material von einem beliebigen Menschen bei einem anderen verwendet, es wurden auch nicht Blutsverwandte ausgesucht. Bemerkenswerterweise trat der Erfolg nur dort ein, wo auf Grund einer intuitiv erfolgten Auswahl als Partner ein männliches und ein weibliches Individuum ausgesucht worden waren. Es dürfte sich hier also keineswegs um einen einfachen Austausch handeln, den man der Auswechslung von Maschinenteilen vergleichen kann, denn bei sehr viel ähnlicheren Individuen gelingt die Transplantation in der Mehrzahl der Fälle nicht. Es liegt viel näher, die Anbeilung des Transplantates aufzufassen als eine Parabiose des verpflanzten Gewebes mit seinem Wirt, als ein Zusammenleben zweier Lebewesen von grundsätzlich verschiedener Individualität. Bei Mäusen hat man R a b l , Willensfreiheit.
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die Anheilungsbedingungen dadurch bessern können, daß man jene Zellen, die für den Kampf gegen körperfremde Stoffe besonders spezialisiert sind, chemisch schädigte. Gerade die Spätabstoßung eines HautstQckes, die sich 2. B. ein Vierteljahr nach der festen Anheiltmg innerhalb weniger Tage vollzieht, -wäre ganz unverständlich, wenn es keine echte Individualität gäbe. Denn in anderen Fällen vermag sich die lebende Substanz in hohem Maße an neue Verhältnisse anzupassen, und hier wären die Vorbedingungen für die Anpassung denkbar günstig. Wäre die Gesetzlichkeit im Transplantat die gleiche wie im Empfänger, so wäre nicht einzusehen, wieso die Eigenart während des Zusammenlebens immer schärfer hervortritt als zu Anfang. Anm. 28. Z u m B e g r i f f d e r Monade und E n t e l e c h i e . Wir hatten gesehen, daß die Auffassung von D e s c a r t e s und L e i b n i z , daß alle Naturgesetzlichkeit sich rein verstandesmäßig deduzieren ließe, heute nicht mehr zu halten ist, ja daß selbst die Ansicht von K a n t , daß mathematische Urteile a priori möglich wären, wenigstens für die Geometrie wahrscheinlich fallen gelassen werden muß (vgl. Anm. 5). Wir hatten daraus geschlossen, daß an und für sich Naturgesetzlichkeit und Denken zwei verschiedenen Welten entstammen, und daß die Ähnlichkeit von Denken und Wirklichkeit durch Anpassung des menschlichen Geistes an die Außenwelt zu erklären sei. A u f Grund der T a t s a c h e a b e r , d a ß D e n k e n und N a t u r g e s e t z l i c h k e i t so a u f f a l l e n d ü b e r e i n s t i m m e n , h a t t e L e i b n i z B e g r i f f u n d N a t u r g e s e t z e i n f a c h i d e n t i f i z i e r t , so d a ß in s e i n e r P h i l o s o p h i e d e r b e g r i f f l i c h e G r u n d für die Auffassung eines Geschöpfes als einer Ganzheit und d a s , w a s w i r als N a t u r g e s e t z , a l s E n t e l e c h i e für die Entwicklung des Geschöpfes verantwortlich machen, in e i n e s z u s a m m e n f l i e ß e n , das er mit dem Namen Monade bezeichnet hat. L e i b n i z sagt selbst, daß er damit etwa dasselbe meint wie A r i s t o t e l e s mit dem Wort Entelechie. — P l a t o hatte zwar insofern eine verwandte Auffassung vertreten, als er den ewigen Grund des Geschehens „Idee" nannte. Dieses Wort erinnert etymologisch zweifellos an den Begriff eines im Geiste anschaulich vorgestellten Bildes. Aber P l a t o meint damit doch mehr als Vorstellung, er postuliert ein Reich der Idee außerhalb des menschlichen Geistes — ein Reich, das „dem vernünftigen Denken mittels des Verstandes erfaßbar" sei. Nach unserer eigenen Ansicht wären die vom Menschen gedachten Monaden mehr oder weniger vollkommene Abbilder der unabhängig von uns vorhandenen Monaden. Wir möchten daher auch die Worte Monade und Entelechie annähernd synonym gebrauchen. Bezüglich des Begriffes der Individualität weiche ich von dem alten „ p r i n c i p i u m i n d i v i d u a t i o n i s " insofern ab, als ich das Wesentliche nicht darin sehe, daß auf Grund einer allgemeingültigen Gesetzlichkeit ein physisches Ereignis an d i e s e m Ort und zu dieser Zeit und darum nur einmal geschieht. Die Hauptsache sehe ich vielmehr in der individuellen Gesetzlichkeit, die eben, wenn sie sich überhaupt äußert, nur ein einziges Mal wirksam werden, kann. I3S
Ein Naturgesetz, das keine allgemeine Gültigkeit hat, sondern nur einen einzelnen Gegenstand beherrscht, erkennt flbrigens auch v. K r i e s an. Er spricht von „zirkumskripten" Naturgesetzen. Der Begriff eines Naturgesetzes, das uns wandelbar erscheint, widerspricht nicht unbedingt dem, was P l a t o unter der ewig unveränderlichen Wesenheit verstand. Denn es ist denkbar, daß in der Transzendenz die Entelechie beharrlich ist. Wahrscheinlich aber kommen wir der Wahrheit näher, wenn wir die Begriffe des Beharrens und der Veränderung auf die physische Welt beschränken und sie nicht für jene Sphären postulieren. Interessant ist es übrigens, daß Goethe die Platonische Idee als wandelbar auffaßt. Die bekannte Stelle im Faust, die sich auf das Reich der Ideen, der Urmütter aller Bildungen auf Erden bezieht, heißt (Faust II, I.Akt, 1671 ff.): „Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund. Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund. Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn; Die einen sitzen, andre stehn und gehn, Wie's eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung." Seiner Morphologie setzte Goethe in der ersten Ausgabe die Worte aus dem Buch Hiob voran: „Siehe, er geht vor mir über, ehe ich's gewahr werde, und verwandelt sich, ehe ich's merke." — Das Freiheitsproblem stellt Goethe in wunderbar vollendeter Form dar in den Orphischen Urworten. Nachdem Daimon die unerbittliche Starrheit des Gesetzes gezeigt hat, sagt Tyche: „Die strenge Grenze doch umgeht gefällig Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt." G o e t h e s Stellungnahme zur Monadenlehre erhellt übrigens ein von J . D. F a l k aufgezeichnetes Gespräch (Sammlung ausgewählter Gespräche Goethes von Biedermann, S. 203), worauf hier besonders hingewiesen sei. Anm. 29. Driesch wendet sich ganz nngerechtfertigterweise gegen Bergson, worauf der Wichtigkeit wegen eingegangen werden muß. Auch er deutet Bergsons Freiheitsidee im Sinne eines „Durch-nichts-bestimmtseins". Bergson ist Realist. Daß seine Weltansicht anfechtbar ist, haben wir oben kurz erwähnt. Man muß sich aber, wenn man seine übrigen Gedanken richtig verstehen will, die Mühe nehmen und die Dinge von seinem Standpunkt aus betrachten. Durch Bergsons radikalen Realismus wird der Dualismus von intellegiblem Charakter und empirischem Individuum, der Dualismus von Naturgesetz und Erscheinung gegenstandslos. Der gleiche Tatbestand, der in der Sprache von Driesch lauten würde] „Die Handlungen des empirischen Individuums folgen aus der Entelechie, und die Entelechie steht wie ein Naturgesetz außerhalb des Geschehens", würde bei Bergson etwa heißen müssen : „Der élan vital bestimmt sich selbst, und daraus folgen die Handlungen des Individuums". Auf die Frage, woher denn der élan vital die Fähigkeit zu autonomer Gestaltungskraft habe, würde Bergson antworten, daß wir das ebensowenig angeben könnten wie
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den Ursprung der Schwerkraft. Im übrigen ist es nicht ganz leicht, sich in B e r g s o n s Philosophie hineinzudenken. Ich möchte hier, damit man ihn nicht als Philosophen des blinden Zufalls auffaßt, folgende Stelle aus seinem Werk „Materie und Gedächtnis" anfahren: „Wenn auch die lebenden Körper den Zweck haben, Reize aufzunehmen und sie zu unvorhersehbaren Reaktionen zu verarbeiten, so darf es doch nicht vom Zufall abhängen, welche Reaktion gewählt wird. Die Wahl der Reaktion wird ohne Zweifel von der bisherigen Erfahrung inspiriert und vollzieht sich nie, ohne daß auf die Erinnerung an analoge Vorgänge zurückgegriffen wird. Die Indeterminiertheit der zu vollziehenden Handlung erfordert folglich, soll sie nicht zur reinen Willkür werden, die Erhaltung der wahrgenommenen Bilder." Der Vollständigkeit halber sei kurz S t e i n e r s „Philosophie der Freiheit" erwähnt, ein Buch, das der Verf. noch vor seiner „anthroposophischen" Periode geschrieben und später nur mit unwesentlichen Zusätzen versehen hat. Erkenntnistheoretisch wird darin ein Weltbild gezeichnet, das dem spiritualistischen Monismus von M a c h nahesteht, und das auch mit Nachdruck Monismus genannt wird. Im Gegensatz zu Mach erkennt aber S t e i n e r die Tatsache an, daß der Wille, die Gefühlstönungen und die Persönlichkeit etwas grundsätzlich anderes sind als die Empfindungen. Jenen Inkonsequenzen, die sich M a c h bei Besprechung der Gehirnfunktionen leistet, geht S t e i n e r von vornherein aus dem Wege, indem er über die physiologische Seite des Problems gar nichts aussagt. Damit wird freilich die Lücke, die hier klafft, nicht geschlossen. Bezüglich des Freiheitsproblems selbst niimmt S t e i n e r etwa den gleichen Standpunkt ein wie W i n d e l b a n d : Ein Ind viduum gilt ihm als frei, wenn es seinen eigenen Gesetzen gemäß handelt. Er steht also begrifflich im Gegensatz zu D r i e s c h , der für eine feststehende Autonomie des Individuums (soweit dieser sie überhaupt gelten läßt!) den Begriff einer echten Freiheit ablehnt. Mit der sehr wesentlichen Frage, ob die Freiheit das kausale Geschehen durchbricht, setzt sich S t e i n e r überhaupt nicht auseinander. Ich konnte mich nach der Lektüre des Buches nicht erinnern, darin irgendwo das Wort Kausalität gefunden zu haben. Das eigentliche Problem der Willensfreiheit wird daher von S t e i n e r gar nicht erörtert.
Anm. 80. Anhangsweise sei bemerkt, daß ebenso wie andere soziologische Probleme auch das der Handlungsfreiheit für die Naturwissenschaft Bedeutimg hat. Besonders interessant ist die freiwillige Opferung der individuellen Freiheit. Die Unterordnung des Individuums unter eine Gemeinschaft wird zwar beim Menschen größtenteils von den Geisteswissenschaften, bei den Tieren und Pflanzen von den Naturwissenschaften betrachtet. Es handelt sich aber um nahverwandte Gebiete. Die Biologie bietet uns Beispiele für alle Übergänge von der losesten Gemeinschaft bis zur festen staatlichen Bindung. Sehr zu beachten ist, daß die Unterordnung im allgemeinen nicht durch physische Gewalt erzwungen wird. Es ist keineswegs immer ein Oberhaupt für die Existenz eines Staates nötig, wenn auch ein oder mehrere übergeordnete Indivi140
duen bei höheren Formen staatlicher Gebilde meist vorhanden sind (z. B. im Zellenstaat der höheren Tiere die Ganglienzellen des Nervensystems). Der Trieb zur Bildung einer Gemeinschaft scheint ganz ursprünglich in den Organismen zu liegen, überall sehen wir Ansätze dazu. E. Becher geht sogar so weit, einen überindividuellen Trieb zu gegenseitiger Hilfeleistung über Sippe und Art hinaus in der gesamten Organismenwelt anzunehmen, der den Lebewesen neben dem Prinzip des Kampfes innewohnen soll. Er gründet seine Ansicht auf das Verhalten gewisser Pflanzengallen und glaubt dieses nicht anders erklären zu können, denn als Hilfeleistung der Pflanze zugunsten der von ihr ernährten Schlupfweste. Beispiele für eine solche fremddienliche Zweckmäßigkeit hat man vielfach beschrieben (vgl. Becher, Die fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen und die Hypothese eines überindividuellen Seelischen, Leipzig 1917; A. Müller, Virch. Archiv 244, 1923). Daß durch eine solche Unterordnung die Freiheit des Einzelwesens praktisch gleich Null werden kann, ist klar. Je mehr aber die Elementarorganismen im Staat aufgehen, um so schärfer tritt dessen Individualität hervor. Es entsteht ein Lebewesen höherer Ordnung, das durch seine bessere Organisation eines höheren Grades von Freiheit gegenüber der physischen Umwelt fähig ist, als es dem isolierten Einzelorganismus möglich wäre. Merkwürdigerweise reservieren die Philosophen den Begriff der Willensfreiheit, soweit sie ihn überhaupt anerkennen, ausschließlich für den Menschen. Wenn es vielleicht vorkommen mag, daß sich ein Philosoph einen Hund hält, wird er es wohl schon einmal für nötig erachtet haben, ihn wegen einer kleinen Schandtat zu bestrafen. Die Strafe ist aber bekanntlich eine Ungerechtigkeit, wenn das zu bestrafende Subjekt nicht durch seinen freien Willen für die Handlung verantwortlich ist. Der Philosoph wird sich herausreden und dem Tier nur Dressur, keine Erziehung, nur Instinkt, keine Überlegung zugestehen und ignorieren, daß bei ihm Ehrgefühl und Reue oft ganz offenkundig erkennbar sind. Wer dem Hund prinzipiell die Einsicht für das, was er tut und nicht tun soll, abstreitet, denkt nur um wenige Grade anders als der Solipsist, der das verantwortliche Handeln seiner Mitmenschen leugnet. Um seine Verantwortlichkeit nachzuweisen, müßte der Hund zu einem ähnlichen Mittel greifen wie jene Studenten, die ihren solipsistischen Philosophieprofessor recht gründlich mißhandelten, damit er den Irrtum seiner Lehre einsähe.
Nebenbei sei hier auch folgendes bemerkt: Sowohl die Annahme einer übergeordneten Entelechie wie auch die damit zusammenhängende Anerkennung des moralischen Sollens als einer vom einzelnen Menschen unabhängigen Macht verträgt sich nicht mit der von Bin ding und anderen Juristen des ausgehenden neun141
zehnten Jahrhunderts vertretenen Auffassung, daß alles Recht nur Menschenwerk sei. Selbstverständlich ist das tatsächlich bestehende Recht nur vom Menschen ausgesprochen und niedergeschrieben. Er hat es seinen Interessen vielfältig angepaßt. Es ist aber die Frage, ob er sich dabei nicht auch nach sittlichen Geboten richtet, die aus der Welt herausgelesen sind wie Naturgesetze. Daß es für die verschiedenen Menschen verschiedene sittliche Gebote g i b t , die einander scharf widersprechen, beweist nichts gegen deren transzendente Verankerung. Daß die Entelechie vielfältig gespalten ist und mit sich selbst immer in Widerstreit liegt, hat die Philosophen nicht gehindert, letzten Endes ihre Einheit anzunehmen. Schopenhauer (der die Entelechie mit dem Willen identifiziert) sagt dazu: „ I m Grunde entspringt dies daraus, daß der Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts da ist, und er ein hungriger Wille ist." (Welt als Wille und Vorstellung, § 28.) Anm. 31. In manchen Lehrbüchern der Philosophie, so z. B auch bei W u n d t , wird es so dargestellt, als rechne K a n t einfach den Willen ins Reich des Noumenon, ins Reich des Übersinnlichen. Diese Darstellung ist nicht ganz richtig. K a n t unterscheidet ausdrücklich den Willen, der den Gesetzen der Natur unterworfen ist, von dem Willen, dem die Gesetze der Natur unterworfen sind. Erst Schopenhauer führt konsequent die Lehre durch, daß die Welt der Erscheinungen restlos kausal determiniert ist, und daß der Wille nicht im Kausalnexus drinsteht, sondern die andere Seite, die sonst transzendente Seite der Welt ist: „Der Wille ist nicht nur frei, sondern allmächtig." Aber dennoch bedeutet das nicht, daß der Wille in dem Sinne, wie man es gemeinhin annimmt, eine Handlung in der physischen Welt beginnen könne. „Freiheit des Willens bedeutet, daß einem gegebenen Menschen in einer gegebenen Lage zwei verschiedene Handlungen möglich seien. Daß dies zu behaupten vollkommen absurd sei, ist eine.. . klar bewiesene Wahrheit." „Jede einzelne Handlung" folgt „aus der Wirkung des Motivs auf den Charakter mit strenger Notwendigkeit." Was Schopenhauer mit Willen meint, ist nicht eine von Fall zu Fall auftretende Kraft, sondern der eigentliche Bestimmungsgrund alles Seins. Die Welt an sich ist überhaupt Wille, wir erleben die Welt im Willen unmittelbar, während die gleiche Welt uns empirisch als Vorstellung gegeben ist. Dieses System ist theoretisch zwar sehr konsequent, aber es stimmt doch nicht mit der Erfahrung überein, erstens weil der Wille nicht Bestimmungsgrund, sondern Ursache unserer Handlungen ist, und zweitens weil der
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Wille mitten drinsteht im Strudel des kausalen Geschehens. Er wird beeinflußt von außen her und wirkt dann seinerseits wieder nach außen. — A n m . 3 2 . Das Wollen ist eine ebenso ursprüngliche Funktion des Menschen wie das Empfinden. Schon der Säugling gibt lebhaft seinen Willen kundl Ganz zu Unrecht bezeichnet W u n d t als das naive Weltbild dasjenige, ,,in dem wir uns dieser Welt hingeben und uns ihr gegenüber nicht begehrend noch wollend noch reflektierend, sondern anschauend verhalten". E s entspricht nicht den Tatsachen, wenn er sagt: „Deshalb sind die Momente, in denen dieses ursprünglichste Weltbild in uns auftaucht, die der vollendeten Gleichgültigkeit" (Sinnl. und übersinnl. Welt, S. 2 u. S. 16).
Anm. 33. Ganz ähnlich wie die meisten Naturforscher urteilte auch W i n d e l b a n d in seinem Buch: „Uber Willensfreiheit", das übrigens sehr stark von der Assoziazionspsychologie beeinflußt ist. Nach W i n d e l b a n d wird die Wahl einer Tat bestimmt durch „Wertgefühle", die teils „Erinnerungs-", teils „Phantasiegefühle" sind. Diese gehen auf jene zurück, denn „die Gefühlswirkung von etwas völlig unbekanntem und bisher noch gar nicht erlebtem vorauszusehen, ist an sich durchaus unmöglich". Die Wahl des Menschen zwischen verschiedenen Möglichkeiten „folgt aus dem Zusammenwirken seiner gegenwärtigen Lage und seines dauernden Wesens". In die Sprache der Medizin übersetzt würde diese Ansicht W i n d e l b a n d s heißen: Die Wahl ist in Wahrheit keine Wahl, sondern ein Reflexvorgang, der bewußt verläuft. W i n d e l b a n d und v. K r i e s treten auch für einen Begriff der Willensfreiheit ein, sie lehnen aber gleichwohl eine Durchbrechimg des Kausalprinzips ab. Frei nennen sie ein Handeln auf Grund eines individuellen, aber konstanten Gesetzes, v. K r i e s sagt, gerade die Ethik fordere feststehende, kausale Regeln für den Charakter. Denn andernfalls müßte das Handeln dem blinden Zufall entspringen. Eben diese Alternative aber ist der große Fehler! Hier eben liegt ja gerade das eigentliche Problem, mit dem sich diejenigen, die die Willensfreiheit ablehnen, überhaupt nicht auseinandersetzen! Anm. 34. Bezeichnend für die Hilfslosigkeit, in der die heutige Medizin den Problemen der Seele gegenübersteht, ist die Art, wie die schulmäßige medizinische Psychologie an die Dinge herangeht. Zwar entnimmt sie der deutschen Sprache, die für uns denken hilft, das Wort Seele in seiner präzisen Prägung; sie verwischt es aber gleich, indem sie Vorstellungen aus der idealistischen Philosophie hinzufügt, ohne sie indessen folgerichtig zu Ende zu denken. Dadurch wird dann nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch
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die ganze Welt Bestandteil unserer Seele; zugleich aber gibt man zu, daß die ganze Seele selbst nur ein kleiner Teil der Welt ist. — Höchst verworren sind auch die „Ich"-Vorstellungen der neueren medizinischen Psychologie. Z. T. entstammen sie jener Philosophie, die den Ichbegriff völlig auflösen will, und die von Volkelt so treffend charakterisiert worden ist (s. o.). Auch diese Gedanken werden nicht folgerichtig durchdacht, weil man sich der Evidenz des Ichbegriffs nicht ganz verschließen kann. So reißt man aus den sich widersprechenden philosophischen Systemen einzelne Blüten heraus und bindet sie zu einem krausen Strauß zusammen. Um dann noch zu zeigen, wie herrlich weit man es gebracht hat, wird auf die ältere Philosophie verächtlich hingewiesen, die sich angeblich die Seele gasförmig vorgestellt haben soll; eine Ansicht, die eigentlich jeder Primaner eines humanistischen Gymnasiums müßte widerlegen können, denn die Klärung der Begriffe nvei/xa und spiritus gehört bereits in den Schulunterricht. Daß vereinzelte Mystiker des Mittelalters mit dem Wort spiritus auch materialistische Seelenvorstellungen verbanden, soll natürlich nicht bestritten werden. Der Hochmut, mit dem oft gerade die jüngsten Anhänger der jungen psychoanalysierenden Wissenschaft über die Denker früherer Zeiten und auch über diejenigen, die heute noch andere Wege gehen, spotten, erinnert an das Verhalten des Schülers in Faust II: Selbst vielfach höchst primitiv, bezeichnen sie alle möglichen wertvollen Theorien, die sie schon rein wortmäßig gar nicht zu erfassen vermögen, als „primitiv". Es gibt natürlich auch Ausnahmen. Ich nenne als solche z. B. Szymanski (Über Wandlungen der Seelenauffassung im Laufe der Zeiten, Arch. Psychiatrie usw. 94, 1931, S. 561—718). Im übrigen ist die Gefahr heute gar nicht zu verkennen, daß nicht nur die Naturforscher, die Geisteswissenschaftler und die Theologen einseitig ihre Gedankenwelt ausbauen ohne aufeinander Rücksicht zu nehmen, sondern daß daneben auch noch die psychoanalytisch orientierten Psychiater eine vierte Gruppe von Systemen entwickeln, die von keiner der anderen verstanden wird noch auch sie versteht. Anm. 35. Daß das Ich, d. h. die übergeordnete Instanz (bzw. Funktion) des Organismus (d. h. des Zellenstaates) nicht selten von einem der Triebe (also einer untergeordneten Funktion des Zellenstaates) überrannt wird bzw. sich ihm fügt, ändert an dieser Betrachtimgsweise nichts Grundsätzliches. — Selbstverständlich soll nicht etwa versucht werden, die übrigen Hypothesen von Freud zu verteidigen. Auf sie einzugehen, würde zu weit führen. Ob es 144
eine Willensfreiheit gibt oder nicht, ist für die Betrachtungsweise der Psychoanalyse, wie sie uns gewöhnlich entgegentritt, überhaupt kein Problem; diese Wissenschaft dringt zwar auch in erkenntnistheoretische Tiefen vor, doch interessiert sie sich fast nur für die irrationale Triebhaftigkeit, nicht für die Grenzen des Rationalen. Der Zensor „Ich" ist etwa dasselbe Ding wie das Gewissen, nur von einem anderen Blickpunkt gesehen und etwas anders gewertet. Der Mediziner wird sich übrigens, auch wenn er Freud sonst nicht beipflichtet, kaum entschließen, das Gewissen nur positiv einzuschätzen. Denn leider setzt es oft sehr üble Komplexe, die namentlich beim religiösen Melancholiker sehr schwierig zu beeinflussen sind. Hier möchte man das ganze Gewissen ausrotten, um den Menschen zu heilen. Im übrigen bemüht sich Freud mehr zu beschreiben als zu werten. Die Sexualität ist bei ihm keineswegs, wie seine Gegner behaupten, der höchste der Werte. Vielmehr zieht sich durch Freuds Bücher ein leicht humorvoller Pessimismus, und leise stinkend weht uns überall der Gedanke entgegen: „Was sind wir doch für arme Schweinderln!" Die vollendete Abkehr von der christlichen Wertung vollzieht sich erst bei Klages, der ihr in aller Form den Krieg erklärt (Vom kosmogonischen Eros, S. 92): „Was in den Verdrehungskünsten eines Pia ton noch vorwiegend dialektische Fälschung blieb, das entstammt in den Schmähungen des Fanatikers Paulus schon jener bornierten Bösartigkeit, die uns von aller Askese den giftigen Quell zu enthüllen vermag." K l a g e s hebt dafür den dionysischen Eros in den Himmel. Auch dies war wohl eine notwendige Durchgangsstufe unserer Kultur, die wohl schon wieder überwunden ist. Hoffentlich geht der Funken Wahrheit, den diese Lehre enthält, nicht ganz mit ihr zugrunde. Anm. 36. Manche komplexen Vorgänge im Zentralnervensystem haben teils aktive, teils passive Wurzeln. Dies gilt besonders vom Gefühlston, der nicht nur etwas rein Passives sein dürfte, sondern zum wesentlichen Teil bereits eine aktive Reaktion auf zentripetale NervenVorgänge. Sein Zustandekommen können wir verhältnismäßig schwer beobachten, weil er fast immer erst an einen größeren Komplex gebunden in das Bewußtsein eintritt. Doch glaube ich nicht zu irren, wenn ich auf Grund der Selbstbeobachtung den Gefühlston grundsätzlich von der Empfindung trenne, während z. B. V. v. Weizsäcker die entgegengesetzte Hypothese vertritt. Von Weizsäcker ver145
legt das Zustandekommen des Gefühlstons sogar weit an die Peripherie, er schließt sich jener schon von anderer Seite ausgesprochenen Hypothese an, daß z. B. die Angstempfindung durch gewisse Zustände des Herzens und seiner Nachbarorgane hervorgerufen werde. Gerade dieses spezielle Beispiel ist aber ganz sicher nicht stichhaltig. Es kann grundsätzlich jedes Organ, z. B. ein Zahn, eine Hautpartie, ein Knochen zur angsterregenden Zone werden. Der Gefühlston ist dann im wesentlichen von der Gemütslage abhängig; diese wird nicht durch die Herzfunktion bestimmt, eher tritt das Umgekehrte ein. Anm. 87. Die Arbeitsteilung in sensible und motorische, in passive und aktive Nervenfunktion ist flbrigens auch bei den höchsten Säugetieren keine ganz vollständige, und sie kann es wohl auch grundsätzlich nicht sein. Für eine hell bewußte Empfindung ist auch im sensiblen Apparat ein Willensakt notwendig. Ein Willensakt lenkt nicht nur von außen durch motorische Hilfsmittel das Sinnesorgan auf den Punkt, den es wahrnehmen soll, obwohl auch dieses sehr wichtig ist: z. B . muß die Augenmuskulatur dasjenige Bild auf der Netzhaut einstellen, das wahrgenommen werden soll. Sondern auch im sensiblen System selbst, ja noch in den empfindenden Nervenendigungen und Sinneszellen vermag der Wille die Aufmerksamkeit, die Wahrnehmungsfähigkeit zu steigern. Am Auge läßt sich das an den sog. Nachbildern beweisen; sie lassen sich willkürlich über längere Zeit wachhalten. Ihr Sitz ist bestimmt die Netzhaut selbst, die Stäbchen- und Zapfenschicht. Bei den Hautnerven ist der Nachweis auf verschiedene Art zu führen. Wenn durch äußeren mechanischen Druck ein Nerv betäubt wird („einschläft", wie man zu sagen pflegt), so läßt sich nach Beseitigung des Druckes dieser Zustand noch längere Zeit aufrechterhalten oder aber rascher beseitigen. Am schnellsten ist bekanntlich der Nerv zu wecken, wenn wir Bewegungen ausfahren. Aber auch dann, wenn wir es sorgfältig vermeiden, den motorischen Nerven in Funktion zu setzen, tritt das Erwachen der sensiblen Fasern viel rascher ein, wenn wir lebhaft empfinden w o l l e n . Man kann ferner bei Operationen in örtlicher Betäubung beobachten, daß die sensiblen Nervenendigungen viel rascher und schon bei geringeren Dosen und Konzentrationen einschlafen, wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt ist, während die Betäubung erheblich höhere Dosen erfordert, wenn der Patient angespannt auf den betreffenden Körperteil aufpaßt. Vgl. hierzu auch Anm. 7, Abschn. X der Programmpunkte von Joh. M ü l l e r . Anm. 38. Wille und Wahrnehmung sind zwar nicht identisch mit dem physischen Nervenprozeß, sie sind aber ohne ihn auch nicht möglich. Zwar behaupten die Spiritisten die Sonderexistenz spiritueller Kräfte auch frei von allem Physischen, und selbst D r i e s c h tritt neuerdings für solche Hypothesen ein. Doch kann nach dem heutigen Stand der Forschung der kritische Naturwissenschaftler nicht vorsichtig genug in der Beurteilung dieser Dinge sein. Um übrigens kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, betone ich, daß mein Standpunkt kein Kompromiß verträgt und daß ich entgegen allem
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Spott der neueren Psychologen durchaus an der alten Hypothese der psychophysischen Wechselwirkung festhalte. Die Schulmeinung pflegt ja folgendermaßen zu argumentieren: Eine physische Veränderung im Muskel und Nerven kann nur durch physische Energie verursacht sein; würde man eine seelische Energie als Ursache des physiologischen Vorgangs annehmen, so müßte diese letzten Endes auch wieder nichts anderes als eine Art von physikalischer Energie sein. „So beweist die richtig durchdachte Wechselwirkungslehre ihren eigenen Widersinn: nur wenn die Seele physische Energie wäre, könnte sie physische Gehirnvorgänge beeinflussen. Aber sie ist keine materiell wirkende Kraft, durch bloßes Denken bewegt sich keine Maschine vom Platz". (H. H e n n i n g, in seiner , .Psychologie der Gegenwart'', Leipzig, Kröner). Diese Auffassung übersieht, daß alle derartigen Schwierigkeiten eigentlich bereits überwunden sind durch den Neovitalismus. Dieser sucht die Lebenskraft nicht im Bereich der physischen Energie, sondern der Naturgesetzlichkeit. Er erklärt dementsprechend auch das Wirken der Seele (oder genauer gesagt: der immateriellen Faktoren der Seele) auf den Leib durch Beeinflussung der physikalischen Gesetze, welche jeweils die Bewegungen der Atome in der Zelle beherrschen. Um es etwas grob schematisch an einem Beispiel auszudrücken: Wenn innerhalb einer Ganglienzelle das Atom A sich nach physikalischen Gesetzen von M nach N bewegen würde, dann verursacht das Hinzutreten der Entelechie, daß das physikalische Gesetz sich anders am Atom A auswirkt; es würde also nicht von M nach N, sondern nach N' gelangen. Eine Hypothese, die für den Sonderfall des Gehirns naheliegt, ist die, daß der Einfluß jenes immateriellen Etwas, das sich an der Entstehung seelischer Funktionen beteiligt, grundsätzlich zwar überall im Gehirn, aber in stark bevorzugter Weise an ganz bestimmten Stellen erfolgt. Diese Punkte wären da zu suchen, wo die einen Ganglienzellen mit den Endausläufern der anderen in Beziehung treten. Jede der Millionen Ganglienzellen hat unübersehbar viele Ausläufer, eine jede wird ihrerseits von Hunderten, j a Tausenden von Endknöpfen anderer Ganglienzellenausläufer berührt. So sind unzählig viele Wege im Zentralnervensystem möglich, von denen sich immer nur ein kleiner Teil in Funktion befindet. — Wodurch werden nun die Wege gebahnt, während normalerweise an den Endknöpfen kein Überspringen der Erregung stattfindet ? Es leuchtet ohne weiteres ein, daß zum T e i l diese Bahnungen bewirkt werden durch fortgeleitete Reize von der Außenwelt her. Aber wie kommt die Erregungsleitung bei a k t i v e n Lebensäußerungen zustande, wenn diese wirklich im strengen Sinne des Wortes a k t i v sind ? Hier muß man, wenn der Vitalismus überhaupt im Grunde richtig ist, annehmen, daß jene immaterielle Macht, die am Zustandekommen der seelischen Vorgänge beteiligt ist, die Rolle des Weichenstellers übernimmt. Anm. 89. Der Naturwissenschaftler und Mediziner stellt sich kaum vor, welche Schwierigkeiten es dem Theologen und auch oft dem Juristen und Historiker macht einzusehen, daß jede moralische Handlung des Menschen nur möglich ist als ein physikalischer Vorgang. Schon die Tatsache, daß ein gesprochenes und ein geschriebenes Wort ein physikalisches Gebilde ist,
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ist anscheinend nicht ganz so leicht zu verstehen, wie es uns Medizinern scheint. Anderseits aber übersieht der Naturwissenschaftler nur zu gern, daß an einem Wort, an einem Gesichtsausdruck usw. das eigentlich Wesentliche durch die physikalische Analyse eben nicht zu erfassen ist, weshalb uns die Erforschung der physikalischen Ursachen auch nicht weiterbringen kann. Anm. 40. Bemerkenswerterweise gibt auch Driesch neuerdings zu, daß die Tatsache der Suggestion noch keineswegs ein Beweis gegen die Willensfreiheit ist (Sittliche Tat, 1927, S. 206). A n m . 41. Die Anerkennung der logischen Kategorie der Willensfreiheit, die weder Zufall noch Vorherbestimmung bedeutet, stößt überhaupt auf Schwierigkeiten; ganz besonders scheint sie dem naturwissenschaftlichen Denken zu widersprechen. Aber wenn die Naturwissenschaft den Anspruch erheben will, Urteile von umfassender Gültigkeit auszusprechen, dann muß sie auch geisteswissenschaftliche Kategorien verstehen lernen. Wir führen folgende Sätze von V o l k e l t ein, die das, worum es geht, sehr klar beleuchten (Das Problem der Individualität, S. 84): „ E s ist ein Rest einseitig naturwissenschaftlichen Denkens, wenn man meint, daß mit der Disjunktion .Notwendigkeit' — .absoluter Zufall' die Möglichkeiten erschöpft seien. Der absolute Zufall besagt nur das Negative, daß Notwendigkeit schlechtweg fehlt. Daher trägt er das Gepräge des Sinnlosen, Dummen, Blinden. E r ist schlechtweg a l o g i s c h . Hier dagegen handelt es sich nicht um ein Alogisches, sondern um ein Ü b e r l o g i s c h e s . Und dieses Uberlogische besteht darin, daß das Ich, auf das Sollen hinblickend, sich die Kraft erschafft, dem Sollen gemäß zu wollen. Das ist nicht Zufall. Mit Zufall hat die indeterministische Freiheit nichts zu schaffen. Die Gegner des Indeterminismus stellen sich diesen in der Regel in der Weise des .liberum arbitrium indifferentiae' vor." Anm. 42. Nicht zu den hier behandelten Neurosen gehören die vasomotorisch-trophischen Neurosen, die ihren Namen nur historisch und etymologisch rechtfertigen können. Doch ist dies für die hier behandelten Fragen ohne Bedeutung. Umgekehrt rechnet man eine Anzahl von krankhaften Zuständen ohne Organaufwand nicht zu den Neurosen. Anm. 48. E s gibt noch andere Hysterieformen, die der Rentenneurose ähneln, und die dem Menschen einen gleichen Gesichts- und Charakterausdruck aufprägen können. Dahin gehört die Psychose des Strafgefangenen in der Haft und nach seiner Entlassung. Ähnlich steht es mit anderen, sozial verunglückten Existenzen. Ihre Wünsche, als Märtyrer bewundert zu werden, werden leider vom Publikum reichlich genährt. Kleinliches Mitleid schadet hier nur. Diese Menschen müssen mit harter Hand angepackt werden. Daß bei ihnen das ein-
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fache Bemitleiden und die Erfüllung der nächstliegenden Wünsche alles andere als christlich ist, ist heute der Mehrzahl der Ärzte bekannt. Aber damit, daß man sich mit L i e c k über die Unmoral dieser Armen entrüstet, ist wenig gewonnen, im Gegenteil! Um erfolgreich pädagogisch arbeiten zu können, muß der Arzt sich klarmachen, daß eine zorngeladene Stimmung ihn nur selbst ins Unrecht setzt, und daß er sich bemühen muß, den Patienten von seinen unmoralischen Trieben wie von einem Tumor zu befreien. Selbstverständlich hat er dazu nicht immer die Zeit. Aber es ist schon viel gewonnen, wenn der Arzt sich wenigstens immer vor Augen hält, daß solche Fälle nicht weniger behandlungsbedürftig sind als diejenigen, die man chirurgisch angehen kann. Freilich muß ebenso wie in der Chirurgie erst recht in der Psychiatrie der eigenen Heilkraft des Individuums die letzte, entscheidende Aufgabe überlassen bleiben.
Anm. 44. Ebensowenig, wie wir dem Neurotiker gegenüber eine affektive Einstellung einnehmen dürfen, dürfen wir in das entgegengesetzte Extrem verfallen. Es wäre durchaus falsch, wollten wir sagen: „Tout comprendre c'est tout pardonner". Gewiß fällt ein Teil der Schuld auf die sozialpolitische Situation, und ebenso gewiß sind diese Menschen zu einem Teil entschuldbar, weil sie eben von vornherein keinen vollwertigen Charakter auf die Welt mitbekommen haben. Aber die heute an vielen Orten geltende Hypothese, daß sie gar nicht anders könnten und im Leben versagen müßten, verschlimmert ihre Lage nur und treibt sie noch weiter ins Elend. Moderne Fürsorgeerziehungsanstalten haben den Beweis erbracht, daß auch der von vornherein Minderwertige noch etwas erreichen kann, wenn man ihm auf den rechten Weg hilft. Selbstverständlich wäre es eine noch wichtigere Aufgabe der sozialen Hygiene, ein erblich untüchtiges Menschenmaterial von der Fortpflanzung auszuschließen. Aber darüber dürfen wir die soziale Psychotherapie nicht vernachlässigen. Diese kann erst dann zur Geltung kommen, wenn die Hypothese von der restlos kausalen Determiniertheit des Willens fallen gelassen wird. Anm. 45. Die Rentenneurose kommt natürlich nicht nur bei Proletariern vor. Ich habe bei einem Generaldirektor nach einem orthopädisch einwandfrei geheilten Armbruch eine erhebliche Rentenneurose erlebt. Man könnte auch in einem solchen Falle fragen, ob nicht die hohe Versicherungssumme und die materialistische Anschauungsweise, in der der Herr zu denken gewohnt war, zwangsläufig zu der neurotischen Haltung fahren mußten. Ich würde das allenfalls bejahen. Aber damit wäre dieser Herr
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doch nicht von der Schuld freizusprechen. Denn der praktische Materialismus, zu dem er sich im Laufe seines Lebens bekehrt hatte, ist ihm nicht mit einem ähnlichen Zwang suggeriert worden wie dem Proletarier. Wer den führenden Schichten angehört, dessen Urteilsfähigkeit bleibt wesentlich weniger eingeengt; außerdem fällt auf ihn überhaupt ein viel größerer Teil der Verantwortung für die geistige Gesamthaltung des Volkes. Man könnte hier sehr wohl den von den Medizinern so gern verlästerten Standpunkt der Juristen gelten lassen, daß eine verminderte Willensfreiheit nur als mildernder Umstand anzusehen ist, und daß ein Verschulden erst dann auszuschließen ist, wenn praktisch keine Willensfreiheit mehr vorhanden war.
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H A N D B U C H DER PHILOSOPHIE HERAUSGEGEBEN VON A. BAEUMLER U N D M. SCHRÖTER Bis Ende 1932 erschienen: ABTEILUNG I: DIE GRUNDDISZIPLINEN Erkenntnistheorie. Von Prof. Dr. Friedr. Kuntzef. 112 S. M. 4.70. Metaphysik des Altertums. Von Prof. Dr. Julius Stenzel, Kiel. 196 S. M. 8.20. Metaphysik des Mittelalters. Von Dr. Alois Dempf, Bonn. 154 S. M. 6.50. Metaphysik der Neuzeit. Von Prof. Dr. H. Heimsoeth, Königsberg. 259 S. M. 10.20. ABTEILUNG II: NATUR, GEIST, GOTT Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. Von Prof. Dr. Herrn. Weyl, Göttingen. 162 S. M. 6.80. Metaphysik der Natur. Von Prof. Dr. Hans Driesch, Leipzig. 95 S. M.4.-. Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Von Prof. Dr. Erich Rothacker, Bonn. 171 S. M. 7.20. Philosophie des Geistes. Von Prof. Dr. E.Wolff, Hamburg. 73 S. M. 3.-. Religionsphilosophie katholischer Theologie. Von P. Erich Przywara, München. 104 S. M. 4.50. Religionsphilosophie evangelischer Theologie. VonProf.D. Emil Brunner, Zürich. 100 S. M. 4.30. ABTEILUNG HI: MENSCH UND CHARAKTER Philosophische Anthropologie. Von Prof. Dr. B. Groethuysen, Berlin* 207 S. M. 8.80. Ethik des Altertums. Von Prof. Dr. Ernst Howald, Zürich. 64 S. M. 2.70. Ethik des Mittelalters. Von Dr. A. Dempf, Bonn. 112 S. M. 4.70. Ethik der Neuzeit. Von Prof. Dr. Theod. Litt, Leipzig. 184 S. M. 7.80. Psychologie. Metaphysik der Seele. Von Prof. Dr. Friedr. Seifert, München. 97 S. M. 4.10. Charakterologie. Von Prof. Dr. Friedr. Seifert, München. 65 S. M. 2.80. Erziehungsphilosophie. Von Prof. Dr. Ernst Krieck, Dortmund. 123 S. M. 5.20. ABTEILUNG IV: STAAT UND GESCHICHTE Gesellschafts- und Wirtschaftsphilosophie. Von Prof. Dr. O. Spann, Wien. 188 S. M. 8.-. Rechtsphilosophie. Von Prof. Dr. Arthur Baumgarten, Frankfurt. 90 S. M. 3.80. Staatsphilosophie. Von Prof. Dr. G. Holstein f und Dr. Karl LarenzGöttingen. Im Druck. Kulturphilosophie. Von Dr. A. Dempf, Bonn. 149 S. M. 6.35. ABTEILUNG V: DDE GEDANKENWELT ASIENS Der chinesische Kulturkreis. Von Prof. Dr.AJorke, Hamburg. 21 j S.M.9.-. Abteilung II und III sind auch in einem Band gebunden zu beziehen. (Band II M. 31.50, Band HI M. 38.-).
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Von H a n s A n d r é . 371 S. 127 Abb. 3 Taf. 8°. 1931. M. 14.80, in Leinen geb. M. 16.50.
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