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German Pages 336 [184] Year 1990
DAS PRAGER KAFFEEHAUS Literarische Tischgesellschaften Herausgegeben von Karl-Heinz Jähn
Verlag Volk und Welt , Berlin
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dem Tschec hi sc hen vo n Hcinharcl l•ise hcr, Günth er Jarosch,
Ku rl-1lcin z Ji:ihn , Cl1sta v Ju t, i\n neHc Sim on und Jan Faktor, Woll'ga ng Spitzbardt, t ckh ard Thiele
Jaroslav Seifert Cafe Slavia
Nachwort und Anm erkungen vom Herausgeber Mit Fotografien von Vera Dykova und Radko Pytlik
Von der Uferstraße durch eine Geheimtür aus so klarem Glas, daß sie fast unsichtbar ist, und deren Angeln geschmiert sind mit Ro senöl, pflegte Guillaume Apollinaire einst einzutreten.
ISBN 3-35 3-00 32 0-7 2. Auflage 1990
© Verlag Volk un d Welt, Berlin
1988 (deutschsprachige Ausgabe) L. N. 302, 4,10/ 21 3/90 Quellenverzeichnis auf Seite 332 Printed in the German Democrati c Re public Al le Rechte an di eser Ausga be vorbehalten E inbandentwurf: Kerstin Baarmann Satz, Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/ 30 L SV 723 1 Bestell-Nr. 648 885 7 018 60
Er trug noch den Kopfverband aus dem Krieg. E r setzte sich zu uns und las brutal schöne Verse, die Kare! Teige sofort übersetzte. Dem Dichter zu Ehren wurde Absinth getrunken, der grün er als alles Grüne ist, und wenn wir von unserem Tisch aus dem Fenster blickten, floß die Seine unter dem Kai. Ach ja, die Seine! Breitbeinig, ganz in der Nähe erhob sich der Eiffelturm.
Einmal kam ezval mit schwarzer Melone. DamaJs ahnten wir nicht, ebensowenig wie er, daß Apollinaire die gleiche getragen hatte, als er sich in die schöne Louise de Coligny-Chatillon verliebte. Er nannte sie Lou.
Frantisek Langer Arma virumque
Das Cafe Union an der Ecke a Perstyne betrat man von der Toreinfahrt aus über ausgetretene Holzstufen und ging dann durch das Halbdunkel eines Vorraums, in dem sich der modrige Geruch von Feuchtigkeit mit den Küchendünsten vermischte, so daß man, noch bevor man die Räume selbst betrat, den Eindruck des Altertümlichen nicht los wurde. Zum Cafe gehörten mehrere größere Räume, die zum Perstyn gingen, sowie einige kleinere, fast nur Zimmerehen, mit Fenstern zur Ferdinandstraße, der heutigen Närodni tfida. Die Einrichtung bestand aus vielen kleinen Tischehen mit Marmorplatten. An den Wänden standen Kanapees, die mit rotem, etwas verschlissenem Plüsch bezogen waren. Von den Decken herab hingen einfache kugelförmige Beleuchtungskörper. Die Luft war rauchgeschwängert, nicht einmal die Ventilatoren vermochten die Rauchschwaden zu vertreiben. Ich weiß nicht, wann das Cafe Union seinen Betrieb eröffnet hat, aber bereits im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts schien es schon lange aus der Mode gekommen zu sein, denn überall in Prag gab es inzwischen Cafes, die mit Licht, Spiegeln, Parkett prunkten und mehrere Nebenräume besaßen. Nicht an der Einrichtung lag es also, daß das Cafe Union für uns so anziehend war, auch nicht am Kaffee, den wir aJs »Gesöff« bezeichneten, vielleicht an seiner Lage im Stadtzentrum, wahrscheinlich aber noch mehr daran, daß es aus so vielen voneinander getrennten Räumen bestand. So konnten hier die Besucher in kleineren Grüppchen, jeder nur bei einer einzigen Tasse Kaffee, ganze 7
Stunden, Nachmittage und Abende ungestört verbringen, wobei sie hübsch unter sich waren, gleichsam in einem zweiten Zuhause. Ja, diese Intimität war sein größter Reiz - die Gäste machten es zu einer Filiale ihrer Wohnung. Haushaltsvorstand und Gastgeber war aber nicht der Kaffeehausbesitzer Davidek. Den kannten die Gäste beinahe nur davon, daß er in den Nachmittagsstunden aus einem großen Schalltrichter die Stimme eines Grammophons ertönen ließ, freilich vor allem zu seinem eigenen Vergnügen. Nein, der eigentliche Gastgeber war der Ober Patera. Er war weit mehr als ein Ober, er war der gute Geist im Cafe Union. Sein etwas schriller Tenor übertönte ständig die anderen Stimmen, das Rascheln der Zeitungen und das Heulen des Grammophons, wie ein vereinheitlichendes Leitmotiv der Kaffeehaussinfonie: »Lesen Sie noch?«, »Die Zeitschrift >Volne smery< ist im Moment nicht frei«, »Ein weißer Kaffee, zwei Hörnchen - das macht 24 Heller. Danke verbindlichst«, »Brauchen Sie die Zeitung noch oder etwa nicht mehr?«, »Komme sofort, Euer Wohlgeboren«, »Die >Moderni revue< ist noch nicht erschienen«, »Nein, Herr Stech ist noch nicht hier«. Damals gehörte es zu den Obliegenheiten der Oberkellner, Zeitschriften für das Cafe zu besorgen, denn deren Lektüre war die Voraussetzung und der eigentliche Anlaß für den Kaffeehausbesuch. Die Oberkellner bezahlten die Zeitschriften von dem Trinkgeld, das mit der Besucherzahl wuchs, und so bestand zwischen der Zahl der Zeitschriften und der Höhe des Einkommens der Ober ein Circulus vitiosus. Das Trinkgeld, das Herr Patera erhielt, war nicht sehr hoch, in der Regel vier oder sechs Heller; trotzdem abonnierte er für das Cafe Union die wichtigsten europäischen Tageszeitungen, viele Wiener Blätter, die Prager Zeitungen in mehreren Exemplaren, eine Unmenge von Gazetten aus der Provinz, dazu wöchentlich und monatlich erscheinende Blätter und Fachzeitschriften, eine große Zahl von Literatur-, Kunst- und Modejournalen sowie illustrierten Zeitungen und Revuen in deutscher Sprache, auch einige französische und englische. Durch diese große Zahl von Zeitungen und Zeitschriften wurde das Cafe Union berühmt, es war in der Tat ein Lesecafe. Selbst Liebes8
paare, die sich hierher verirrten, taten, wenn sie einander unter dem Tisch die Hände drückten, aus Höflichkeit so, als wären sie in eine Zeitung vertieft. Herr Patera forderte nämlich, wenn er schon soviel von seinen Einkünften für die Lektüre opferte, von seinen Gästen sozusagen als Pflicht, daß sie fleißig Zeitung lasen, und betrachtete die Aufsicht über die Erfüllung dieser Pflicht als ein ihm zustehendes Recht. Dafür versorgte er seine Klienten unablässig mit immer neuen Stößen Lektüre.
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Das Kaffeehaus Union, gezeichnet von Ant. Pelc
Die Gäste des Cafes gehörten zur Intelligenz, wie es in Inseraten hieß, aber zu unserer Zeit war das eine Intelligenz mittlerer gesellschaftlicher Stellung. Hochgestellte oder offizielle Persönlichkeiten ließen sich hier kaum sehen; es kamen nur Beamte niederer Besoldungsklassen, jedoch keine Amtsvorsteher, dann Studenten, Gymnasiallehrer, und wenn Hochschulprofessoren, dann solche von der philosophischen Fakultät, ferner Redakteure kleinerer Tages- und Wochenzeitungen, jedoch nicht von den »Narodni listy«. Die »Volne smery« und die Zeitschrift »Manes« waren nur durch die junge Avantgarde vertreten. Mitarbeiter der Zeitschriften »Moderni revue«, »Zlata Praha« und »Zvon« sowie Angehörige literarischer Salons, Ästheten und Mitglieder der Tschechischen Akademie verkehrten hier nicht. Andererseits, mied auch die ausgesprochene Boheme das Cafe Union. Wenn Hasek zu uns kam, dann nicht als Repräsentant der Prager Boheme, sondern als Gleicher zu Gleichen. Das vorletzte Zimmerehen, dessen Fenster auf die Ferdinandstraße gingen, war im Jahre 1910 in den späteren Nachmittagsstunden immer von dem gleichen Künstlervölkchen besetzt. Der Raum war nicht so
groß, daß sich all e auf einmal um das halbe Dutzend Tischehen drängen konnten, aber im Laufe einiger Nachmittage wechselten sich darin sicherlich - einzeln oder in kleinen Gruppen - alle ab. Es waren keine bloßen Kaffeehausex istenzen, jeder hatte einen Beruf, eine Beschäftigung oder konnte irgendwelche Prüfungen vorweisen, doch wenn sich jemand mit einer verwandten Seele aussprechen wollte, ging er ins Cafe Union, wo er sie gewiß fand. Den Kern der Gesellschaft bildeten die jungen Mitglieder des Künstlerve reins »Manes« : Janak, Hofman, Gocar, Filla, Benes, SpaJa, Sima, Gutfreund, Kratochvil, Benda, Kysela, Brunner und Prochaz ka. Später stießen mehrere Literaten dazu: Stech, di e Brüder Capek, Langer, Thon, Kramaf, Wirth, Matejcek. Hin zu kamen noch andere häufigere oder seltenere Besucher. Eduard Bass war täglich hi er, auch we nn er in der Bürstenfabrik seines Vaters arbeiten mußte oder in einem Kabarett mitwirkte. Der leidenschaftliche Verleger schöner Drucke Boucek, den wir all e Bu cinka nannten, war hier, wenn er wieder eine Edi tion vorbereitete und - wo sonst als im Cafe Union - einen A utor, einen Zeichn er, einen Kredit oder eine Druckerei suchte, und etwas davon suchte er immer. Hier konnt man Viktor Dyk treffen, der au s einem der Schachzimmer auf einen Sprung herüberkam, ebenso Stursa, der schon berühmt war, den es aber immer noch zu den unruhigen jungen Herzen zog, man sah das schöne Köpfchen der Mari e Majerova und das patrizierhaft edle Gesicht ·von Helena Malifovä. Hier saßen oft Toman, Kubin und Kubi sta, wenn sie nicht gerade in Paris weilten, Jan Bor, wenn er seinen Kaffee nicht am Ti sch Vojans gegenüber im Cafe Louvre trank, und es kamen auch junge Musiker: Stepan, Kricka und Vycpalek. So saß hier regelmäßig - oder zeigte sich wenigstens ab und zu - ein großer Teil der künftigen tschechischen Kun stelite. A ußer dem Cafe Uniori gab es in Prag noch andere, »kün stl eri sch belastete« Cafes. Hinter den Fenstern des Slavia sah man die Sterne des Nationaltheaters, und im Cafe Hlavo vka saßen die Leute vom Weinberger Theater sowie di e im Stadtteil Weinberge wohn end en Maler und Schriftsteller, an ihrer Spitze Capek-Chod. In der Tumovka tra-
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Der Dichter Jindrich Horejsi, karikiert von Fr. Gellner
fen sich die Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschriften »Cas « und »Pfehled« sowie die Verfasser von Gerichtsberichten und Feuilletons, unter ihnen Jaroslav Hasek. Aber mit dem Cafe Union konnte es nur das Cafe Arco in der Hyhernska aufnehmen, ein elegantes Etablissement mit großen Spiegeln, das vor allem von Börsenmaklern, Kaufleuten und Handlungsreisenden besucht wurde. Es wetteiferte mit dem Cafe Union in drei Punkten: hinsichtlich der Künstler, des Obers und der Zahl der ausgelegten Zeitungen und Zeitschriften. Hier trafen sich die deutschen Schriftsteller Werfe!, der damals Verse schrieb, Kafka, der gerade seinen ersten Roman herausgegeben hatte und eine Zeit quälender Zweifel an seiner schriftstellerischen Begabung durchmachte, Max Brod, Egon Erwin Kisch, der schon damals das ganze nächtliche Prag kannte, Pick und Leppin. Von den Malern kamen regelmäßig Feigl, Nowak, Kars, Justitz und andere. Auch wir gingen manchmal zu ihnen. Durch ihre Protektion gewannen wir di~ Gunst des Obers Pocta und konnten dann in noch mehr Zeitschriften wühlen als in unserem Cafe Union. Die vermögende Klientel des Cafes Arco gab sicherlich einen Fünfer Trinkgeld, und Herr Pocta hatte gewiß keine Kronen- und Fünfkronenheträge bei seinen Künstlern in Umlauf, denn die kamen alle aus wohlhabenden Fa-
milien. Deshalb - und auch aus eigener Vorliebe - konnte er außer allen größeren europäischen Tageszeitungen, Zeitschriften und Periodika auch wertvollere, ja selbst sehr wertvolle Kunstrevuen in deutscher, französischer, englischer und russischer Sprache besorgen. Amerika war in dieser Hinsicht noch nicht entdeckt. Die wertvollsten Exemplare hielt er unter Verschluß und verlieh sie nur in die Hand, damit er sie am Jahresende noch gut erhalten für seine Privatbibliothek binden lassen konnte. Und so gingen unsere bildenden Künstler, um zu erfahren, was die Kunstwelt, wahrhaftig die ganze Welt, interessierte, soweit sie es nicht im Cafe Union erfahren konnten, ins Cafe Arco wildern. Das Verhältnis zwischen uns und den jungen deutschen Autoren war ausgesprochen freundschaftlich. Wir interessierten uns gegenseitig für unsere Arbeiten, tauschten unsere Erstlinge aus, und Brod sowie Pick kümmerten sich bereits damals um die tschechische Musik und Literatur und halfen, die Sprachbarriere zu überwinden. Freilich besaß keines der Prager Cafes eine derart intellektuell geladene Atmosphäre wie das Cafe Union. Ich wage deshalb, wenn ich schon nicht beides in einen ursächlichen Zusammenhang bringe, so wenigstens zu erklären, daß es die günstigste Atmosphäre für jene Revolution war, die innerhalb der Mauern dieses Künstlerheims geboren wurde. Damit schrieb sich das Cafe Union in die Annalen der Kunstgeschichte ein, und kein vollständiges Werk über die tschechische bildende Kunst kann diesen Namen übergehen. Das um so mehr, weiJ diese Revolution bei uns nicht nur die erste auf dem Gebiete der bildenden Kunst war, sondern ein künstlerischer Umbruch schlechthin. Er hatte seinen Ursprung im Cafe Union und den Sitzungen bei Kaffee und Hörnchen. Das war einmalig, denn bisher waren alle künstlerischen Oppositionen, Verschwörungen und Sezessionen sowie neuen Cliquen, Vereine und Zeitschriften auf bürgerliche Art in Restaurants vorbereitet worden, und zwar heim Bier, seltener beim Wein. Das Rückgrat unserer Künstlergruppe, die von Gocar und Kysela als den Ältesten bis zu Karel Capek als dem Jüngsten reichte, waren jene jungen Leute, die nur wenig über die Zwanzig waren. Sie verfügten über alle Attribute der Jugend: Sorglosigkeit, lange Haare, Aggressivi-
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Der Dichter Frana Sramek, gezeichnet von fr. Gellner
tät und Selbstbewußtsein. Der Leser weiß heute schon aus der A ufzählung der Namen, daß vor diesen jungen Leuten große A ufgaben standen, daß sie eine bedeutende Sendung zu erfüllen hatten, aber gerade deshalb darf er sie sich ni cht so vo rstellen, als hätten sie während der vielen gemein samen Stunden immer nur Überl egungen angestellt, philosophiert, Probleme gelöst und überhaupt den würdevollen Ern st künftiger Reformatoren gewahrt. Das ganze Gegenteil war der Fall: an Witz, Humor, lautem Lachen und anderen Zeichen von Ju gend fehlte es nie im Cafe Union, immer wurde etwas Unterhaltsames vo rbereitet, im Winter vereinbarte man den Besuch vo n Bällen und Faschingsfesten, im Sommer veran staltete man A usfliige in die Umgeb ung Prags; von dort ging es auf ein Viertel Wein zu Petrik und dann noch zu Waltner oder Hamlet in s Cafe Montmartre. Man ersann allerh and Überraschungen für Herrn Davidek und zeichnete und schrieb schlüpfrige Dinge in Pateras Stammbuch. Das war der Lohn für sein Entgegenkommen, vor allem in Finanzfragen, und er gewährte nur seinen besten, vertrauenswürdigsten und zähesten Klienten Einblick in dieses Buch. Allerdings wurde auch in Kaffeehausmanier über alle möglichen Themen, di e gerade in der Luft lagen, geplaudert und diskutiert. Doch so bald sich das Gespräch Fragen der Kunst zuwandte, gewann es an Intensität, und dann war zu sehen, wie es in dieser Gruppe gärte und siedete und wovon sie besessen war. Ihre so unterschiedlichen Mitglieder fühlten sich durch die Kenntnis der Notwendigkeit verbunden, daß di e neue Kunst sich von der alten grundl egend unterscheiden müsse, daß sie auf ein e neue Grundlage gestellt werden mußte. Der Bruch mit der Vergangenheit und der Vorstoß in Ne uland hatten Prag schon seit mehreren Jahren Werke di eser junge n Künstler beschert, und es handelte sich dabei um so ungewöhnliche Experimente mit so ungewöhnlichen Ergebnissen, di e mit einem solchen Abscheu abgelehnt wurd ~n, daß kein Zweifel bestand: Das war keine Geburtsstätte vo n bloßen Neuigkeiten und keine lokal e Angelege nh eit der Maler, di ese jungen Leute aus dem Cafe Union kämpften auf ihrem heimatlichen Boden für eine weltweite Revolution in der Kunst, und zwar für die größte Revolution, di e seit den Zeiten der Entdeckung der Per-
spektive in der bildenden Kunst ausgefochten wurde. Wer sich heute mit ihren Anschauungen und Ideen vertraut machen will, findet diese, sofern er ein Exemplar auftreibt, in der Zeitschrift »Umelecky mesicnik« (Künstlerische Monatsschrift), die später erschien, freilich bereits in Form ruhiger, beinahe wissenschaftlicher Abhandlungen. Dem Blatt fehlt, was mit den Wänden ihres Künstlerzimmerchens verlorengegangen ist, nämlich die Würze der Auseinandersetzungen und der Saft der Diskussionen und Streitgespräche angesichts jeder Reproduktion, jeder Fotografie, jedes Artikels, jedes Manifests, jeder Kritik, jeder Definition, jedes Begriffs, ja selbst jedes Wortes, bevor die endgültige Formulierung der Prinzipien, Gebote, Bullen und Bannsprüche der neuen Kunstreligion gefunden war. Einige Schriftsteller, die sich den bildenden Künstlern anschlossen, hatten die moderne Malerei bereits während ihrer Gymnasialzeit in den Ausstellungen Munchs und der Impressionisten, den beiden Ausstellungen der Gruppe »Osma« und der letzten Ausstellung des Künstlervereins »Mänes « kennengelernt. Wir waren also auf die Begegnung mit ihnen im Cafe Union vorbereitet. Mich führte dort V. H. Brunner
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Arnos! Prochazka, Karikatur von Fr. Gellner
ein. Die Brüder Capek, die damals bereits sensationell und zugleich rätselhaft wirkten, brachte V. V. Stech als eine große Entdeckung mit ins Cafe Union. Nach und nach kamen weitere Schriftsteller, um die bildenden Künstler in ihrem Kampf zu unterstützen: Toman, Thon, Weiner, Fischer, Winter, Kodicek und andere. Wahrscheinlich fühlten wir, daß die Künstler dem neuen Ausdruck, der für jede junge Generation erforderlich ist, bereits weit näher waren als die Schriftsteller, und deshalb gingen wir bei ihnen in die Lehre, um jene Erkenntnisse zu gewinnen, die uns die Literatur nicht bot. Von dem neuen Stil hatten wir keine bestimmte Vorstellung, wir wußten nur, daß auch wir uns von dem trennen mußten, was in der Literatur vorangegangen war, mochte es der Realismus, der Symbolismus oder eine der romantischen Varianten der Sezession sein. Nun, im unmittelbaren Kontakt mit den bildenden Künstlern, die uns so weit voraus waren, kristallisierten sich bei uns erste Vorstellungen heraus und nahmen festere Umrisse an. Wenn beispielsweise Kubista nach seiner Rückkehr aus Paris auf die Marmorplatte des Kaffeehaustischchens die Kompositionen Cezannes, Derains oder Poussins mit Hilfe von Linien, Winkeln, Schnittpunkten und goldenem Schnitt aufzeichnete und daran, gleich magischen Beschwörungsformeln oder einem neuen Evangelium, die Gesetze der Ordnung, der Form, der Synthese, der künstlerischen Autonomie, der Entpersönlichung sowie der Zeitlosigkeit erläuterte, wurden wir von seinen Ausführungen mitgerissen und fühlten, daß sich das Ethos der neuen bildenden Kunst auch in unseren noch unvollkommenen Vorstellungen vom Wesen unserer literarischen Arbeit äußerte ... Wie sehr unterschied sich beispielsweise der herrschaftlich elegante Architekt Gocar, eine ausgeglichene, disziplinierte Persönlichkeit mit Sinn für das Zweckmäßige, ein künstlerischer und kaufmännischer Praktiker, von seinem Kollegen Hofman, der sich sehr natürlich gab, sorglos von Ideen, selbst von extremsten Einfällen strotzte und dabei nicht nur jugendlich hübsch, sondern auch naiv und unpraktisch war! Und was für ein Unterschied bestand zwischen Filla, dem in sich ver-
schlossenen und gebildeten Mann, dessen Leidenschaft aus dem Gehirn kam und kompromißlos in die Tiefe, ja zum fast gehejmnisvollen Wesentlichen vorstieß, und dem klaren und schlichten Spala, der ein göttlicher Maler der Natur war, bei dem die Augen, das Herz und der Pinsel sozusagen von selbst malten, wie bei einer Bäuerin, die den Vorbau ihres Hauses oder Ostereier verziert. Oder Brunner, der Spielerische, der leichte und lächelnde Improvisator, ein freigiebiger Freund seiner Freunde, ein mitleidloser und konsequenter Gegner mit persönlicher Leidenschaft, wenn er karikierte, und andererseits der schwerfällige und bedächtige Kratochvil, der auch beim Zeichnen eine philosophische, den Schriftkundigen der Brüdergerpeinde verwandte Veranlagung hatte. So könnte man von einem Künstler zum andern gehen. von ihnen zu den Kunsthistorikern und Kunsttheoretikern, jeder war einmalig, war bereits eine fertige, in sich geschlossene Persönlichkeit, als brauchte, ja könnte ihm die Zukunft nichts mehr hinzufügen, was sich freilich als ein Irrtum erwies.
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Der Dichter Viktor Dyk, ein besessener Schach spieler
Mancher betrat dieses Kaffeehauszimmerchen in der Überzeugung, er sei berechtigt, darin Platz zu nehmen. Aber er wurde zunächst, noch aus der Ferne und höflich, von allen beäugt, verhört und daraufhin abgeklopft, was er in sich hatte und was er leisten konnte. Dann bemerkte er, daß man sich entweder mit der Zeit an ihn gewöhnte und er also aufgenommen war oder daß ihm keiner mehr eine Frage stellte, sich nicht um ihn, seine Aussprüche und Ansichten kümmerte, bis er schließlich selbst erkannte, daß er nicht hierher gehörte, und wegblieb. In seinem Urteil waren dann die Künstler aus dem Cafe Union aufgeblasene Gesellen, die von sich eine zu hohe Meinung hatten. Aber gerade das Gegenteil war der Fall - sie dünkten sich gering. Der scharfsinnige Kopf und witzige Glossator der Gesellschaft V. V. Stech unterteilte sie in Genies, große Talente, kleine Talente und Antitalente, jedoch fleißige Leute. Als Genie betrachtete er nur Vlastislav Hofman. Aber vom hohen Niveau der ganzen Gesellschaft zeugt, daß sich auch di e Fleißigen aus der untersten Kaste, die Stech, gelinde gesagt, wenig schätzte, im nachfolgenden Vierteljahrhundert zu bedeutenden und anerkannten Größen entwickelt haben. Wegen der Ausgeprägtheit und Verschiedenartigkeit der Charaktere konnte in diesem Kreise nicht eine solche Harmonie herrschen wie etwa in einem Gesangsverein. Dafür wurden die Differenzen jedoch immer sachlich ausgetragen und nie weitergeschleppt, bestanden nie auf Dauer. Außer einer einzigen. Sie gehört zwar erst in jene Zeit, in der sich die Avantgarde aus dem Cafe Union zur »Gruppe bildender Künstler « formierte, also ein oder zwei Jahre später, aber da ich begonnen habe, die individuellen Besonderheiten zu schildern, paßt die Erwähnung dieser größten Differenz gerade hierher. Die allzu individualistischen Brüder Capek trennten sich etwa im zweiten Jahr des Bestehens der ,»Gruppe « und ihrer »Monatsschrift« von beiden. Mit ihnen gingen Hofman und Späla, und alle recht erzürnt. Sie schlossen sich dem Kreis um die Revue »Scena« (Die Bühne) an, die sich vor allem mit Problemen des modernen Theaters beschäftigte. Sie verließen di e »Gruppe «, weil ihnen die Anschauungen der hier versammelten bildenden Künstler zu eng und doktrinär erschienen, ließen diese doch
als Schöpfer der neuen künstlerischen Werte nur Picasso und Braque sowie ähnliche Größen gelten, während Josef Capek und in Übereinsti mmung mit ihm auch Kare! Capek, di e neue Kunst in allen Varianten des Kubismus sowie in aJ len Strömungen und Ismen erbli ckte, wie sie sieb auf Schritt und Tritt zeigten . Aus heuti ger Sicht erkennt man, daß die Brüder Capek in einem recht hatten. In der Zukunft sollte sich erweisen, daß der Kub ismus - damals benutzte man freilich diese Bezeichnung nur unsicher - in der Tat nur einer der künftigen neuen Wege war, auch wenn er immerhin als Sturmbock den Durchbruch ermöglicht hat. Aber weil alle von den beiden Brüdern geschätzten Richtu ngen sozusagen vor ihren Augen an der Kurzatmigkeit der Talente und ihrer Ideen eingingen, zeigt sich, daß die Brüder Capek ihre Individualität überspannt haben. Dagegen überdauerten die wenigen Namen, die damals den Geist der orthodoxen »Gruppe« bestimmten, bis heute; sie wurden zu Patriarchen der modernen bildenden Kunst. Unsere Interessen endeten freilich nicht damit, daß wir uns mit Frage n der eigenen Kunst beschäftigten. Immer hatte jemand von un s Anteil an einer jener kulturellen Unternehmungen, mit denen im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die jungen Künstler das kulturelle Leben des tschechischen Volkes bereicherten: der künstlerischen Produktionsgenossenschaft Artel, dem Kabarett »Cervenä sedma« (Die rote Sieben), den Studententagen, dem Klub für Alt-Prag und anderem. Wir besuchten die Sonntagskonzerte der Philharmonie, im Nationaltheater standen bei jeder Premiere einige von uns auf der ersten Galerie, im Weinberger Theater konnten sie sogar dank der Hilfe Stechs sitzen, besucht wurden auch das Deutsche Theater und das Variete, dieses mit einer generationsbedingten Sympathie für die Gymnasiasten und die Exzentriker. Angesichts unseres Interesses an aJlen Künsten in der ganzen Welt reisten wir natürlich auch. Viel und für wen ig Geld. Damals pilgerte man in Österreich-Ungarn, soweit es Unterstütz ungen und Stipendien sowie Dienstreisen ins Ausland gab, zu anderen Adressen als zu denen der verrückten tschechischen Künstler. Dafür brauchte man keinen Paß ' kein Visum, keine Valuta, und es gab auch keine anderen Hindernisse.
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Ständig war beispielsweise jemand aus dem Cafe Union nach Paris unterwegs. Natürlich, Paris! Im Cafe Union stürzten sich ja immer alle begierig auf jede Zeitschrift, die von dort kam, auf jedes Foto, das ein neues Werk zeigte, und wie eine heilige Botschaft betrachteten sie die Originale der neuen Meister, wenn Vincenc Kramaf, sicherlich der erste ausländische Käufer, Werke von Picasso und Braque nach Prag brachte. Paris! Kubin, Toman, Kubista und andere fuhren alljährlich hin, um dem Louvre ihre Aufwartung zu machen oder um wenigstens französische Luft zu schnuppern. Im übrigen war für sie in Paris alles bescheiden, sie hungerten dort noch mehr als in Prag, wie die Karten beweisen, die sie mit der inständigen Bitte um ein Darlehen von zehn oder fünfzehn Kronen ins Cafe Union schickten. Hatte der Betrag die schwindelnde Höhe von dreißig Kronen, so war das ein Eingeständnis der Niederlage - es zeigte, daß der Bittsteller das Geld für die Rückreise nach Prag benötigte. Als Toman einmal kein Geld für die Fahrkarte hatte, ging er sogar den ganzen Weg zu Fuß, ich weiß nicht mehr, ob hin oder zurück. Aber nach Paris mußte er. Das zweite Reiseziel war Italien. Alle Architekten außer Hofman absolvierten diese Reise. Auch ich fuhr hin, sogar zweimal, das erstemal ab Prag mit dem Personenzug, um zu sparen, das zweitemal als ordentlicher Tourist für das Honorar aller vier Vorstellungen meines ersten Dramas. Für dieses Honorar reiste ich ein Vierteljahr lang durch Italien und brachte schließlich ins Cafe Union zweifache Beute mit: einen Haufen Literatur über den Futurismus und einen Packen Fotos etruskischer Skulpturen. Josef Capek fuhr über Paris weiter nach Spanien, um möglichst viel von Greco zu sehen, Spala nach Dalmatien, wo er von dem Erlös seiner Seestücke seine Lunge heilte. Nach Berlin , war es nur ein Katzensprung, dorthin fuhr man zu Ausstellungen und zu Inszenierungen Reinhardts und Zavfels. Die Fahrt kostete nur ein paar Kronen, ständig studierte dort einer - Stech, Karel Capek oder Bor -, bei dem man, unter Umständen auf Stühlen, schlafen konnte, und man ernährte sich von Leberwurstbrötchen im Automatenrestaurant. 20
Die weiteste Reise unternahm der Architekt Kropacek; sie führte ihn bis nach Loi, Angeles. Aber er hatte dort mit der modernen Architektur kein Glück, das hatte er erst wieder in Prag, zugleich mit seiner Moliere-Inszenierung im Boxring. Nur um das Mekka der früheren Generationen, München, machten die bildenden Künstler einen Bogen. Ebenso um Wien, bis auf die Architekten, die dort ihre Lehrer und verwandten Seelen hatten. Recht lange beschränkten sich die bildenden Künstler im Cafe Union auf Debatten, bis die Ereignisse sich zuspitzten und sich der Kampf der Geister schließlich in einen Kampf der Waffen verwandeln mußte. Im Jahre 1911 schimpfte das Prager »Kunstpublikum« wüst beim Anblick der Werke der Jungen in der Ausstellung der Künstlervereinigung »Manes «, und entgegen allen Traditionen slawischer Gastfreundschaft war das Komitee der Künstlervereinigung insgeheim derselben Meinung, so daß die Avantgarde aus dem Cafe Union es für notwendig erachtete, diese Vereinigung zu verlassen. Wenn in jenen Zeiten Künstler in einer so großen Zahl aus einem Verein austraten, gründeten sie gleich einen neuen. Das tat auch die Gruppe der bildenden Künstler aus dem Cafe Union; ihrer neuen Vereinigung gaben sie ohne große Erfindungsgabe den Namen »Skupina vytvarnych umelcu« (Gruppe bildender Künstler). Ihr wichtigstes Kampfinstrument, ihre neue Monatsschrift, benannten sie ebenso unauffällig »Umelecky mesicnik« (Künstlerische Monatsschrift). Das Cafe Union blieb freilich weiterhin inoffizieller Sitz der Gruppe und Redaktionsbüro der Zeitschrift. Die zweite Waffe der bildenden Künstler waren Ausstellungen. Unsere führten wir nicht mehr so bescheiden durch wie einst die » Osma«, die sich mit den düsteren Räumen eines gemieteten Ladens begnügt hatte. Gleich mit der ersten Ausstellung gingen wir in das Re' präsentationshaus am Pulverturm. Das waren Ausstellungen! Helle Räume, Wände und Decken auf kubistische Weise mit einer mattfarbenen Leinwand bespannt, die Bilder übersichtlich angeordnet, Skulpturen und Modelle auf ordentlichen Sockeln oder in Vitrinen. Dazu kamen einige in Holz ausgeführte Möbelentwürfe von Architekten, so 21
nen. Eine schwere und wirksame Waffe waren dagegen die PUD ( »Prazske umelecke dilny « [Prager Kunstwerkstätten]), die sich die Architekten unter der Leitung Janaks und Gocars schufen. Dort stellten sie Möbel her, die vom Geist der modernen Kunst inspiriert waren. Wo nur irgendwie möglich, wurden die geschnitzten Holzflächen in anderen als den normalen rechten Winkeln zusammengefügt und waren, wenn auch nicht ungewohnte Möbel, so doch wenigstens interessante stilistische Varianten. Seltsamerweise fanden sie reichlich Käufer. Das lag allerdings auch an den praktischen Erwägungen der Architekten und der in handwerklicher und materialtechnischer Hinsicht soliden Arbeit der tschechischen Werkstätten. Übrigens benutzte Gocar, der bereits das Vertrauen der Bauherren genoß, diese Neuheit der geneigten Flächen bei manchem seiner Projekte, und so hatten wir in Böhmen zumindest im Hinblick auf Fassaden, Gesimse und einige Details die erste kubistische Architektur der Welt. Die eigentliche Urheberschaft liegt bei dem Architekten Chochol. Er führte diese Neuheit mit dem Bau eines Hauses am Fuße des Vysehrad ein. Damals blieben die Spaziergäng~r kopfschüttelnd vor diesem Hause stehen, doch heute müßte es eigentlich mit einer Gedenktafel versehen werden, damit man es als etwas Denkwürdiges beachtet. Und überhaupt! Was ist eigentlich aus den Möbeln geworden, die sich damals die jungen Mediziner und Juristen nach den Entwürfen
unserer Architekten anfertigen ließen? Wenn sie erhalten geblieben sind, müßten sie heute als Museumsstücke betrachtet werden, sind sie doch vielleicht die einzigen Belege eines auf die Bedürfnisse des Menschen applizierten Kubismus, sicherlich eine weltweite Besonderheit und an sich schon attraktiv für ganze museale Sammlungen. Ob es wohl noch irgendwo die reizvollen, wenn auch unpraktischen Kaffeeund Teeservice aus Steingut gibt, die Janak und Hofman in der kleinen Fabrik Thons in Svijany herstellten? Ihre kompletten Service oder wenigstens einige erhaltene Tassen und Kannen wären der Stolz jeder Sammlervitrine! Ebenso ihre Gläser und Vasen sowie Brunners oder Bendas Holzspielzeug. Und erst Kyselas Wandmalereien und Plakate, die von Bradac geschaffenen Einbände oder die Gobelins von Frau Teinitzerova! Und die Bucheinbände, die textilen Vorsatzpapiere, die Fahnen und Festadressen aus der Hand Bendas, Kratochvils und anderer! Hier trauert man nicht nur möglicherweise völlig verlorengegangenen Erinnerungen an seine Jugendzeit nach, hier fragt auch ein angstvolles historisches Herz, ob sich wohl etwas als Zeugnis dieser kurzen und isolierten, jedoch in sich geschlossenen und stilbildnerisch satten Epoche erhalten hat, die noch gar nicht so lange vorbei, über die jedoch eine ausgiebige und vernichtende Portion sogenannter weltgeschichtlicher Ereignisse hinweggegangen ist. Die Revolution wuchs ordentlich in die Breite. Irgendwo hat sogar Josef Kodicek halb ironisch, halb ernst von ihr gesagt, sie habe ihren Stil selbst der Kleidung dieser Gesellschaft aufgeprägt. Da ist tatsächlich etwas Wahres dran. Janak begann mit dem Schnitt seiner Hosen. Eigentlich wurden enge Hosen getragen, die unten oft ausgestellt waren. Als wir uns nach seinem Vorbild neue Hosen nähen ließen, mußten sie in ganzer Länge überall gleich breit sein, mindestens 30 cm. Unsere Jacken hatten gefütterte Schultern und hingen locker herab, dazu gehörten möglichst pludrige Überzieher. Wir bevorzugten grobe und helle Stoffe, so daß die Mädchen im Lokal »Zatisi«, wenn wir den Tanzsaal betraten, sagten, jetzt seien die Bäcker eingetroffen. Über die bildende Kunst in Prag schrieb man irgendwo - in Frankreich oder in Deutschland -, dort herrsche ein derart kubistisches Fieber, daß sich
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daß jeder Besucher persönlich erproben konnte, ob es sich in dem von Hofman entworfenen kubistischen Ohrensessel ordentlich sitzen ließ. Aber nur wenige probierten das aus, wie überhaupt nur selten Besucher in unsere Ausstellungen kamen. Nach den Massenszenen in der Ausstellung bei »Manes« ein Jahr zuvor hatten die Hetztiraden gegen die moderne Kunst für das Prager Publikum den Reiz des Neuen verloren und damit hatte auch das Interesse an uns ein Ende. So gähnten diese' schönen Ausstellungen von donquichotischer erhabener Leere. Eine ganz unbedeutende Waffe in diesen Kämpfen waren einige Vorträge sowie der Versuch der Herausgabe einer eigenen Buchreihe, in der Tomans »Die Sonnenuhr« und mein »Heiliger Wenzel« erschie-
die Kün stler sogar kubistische Pseudonyme zulegten, etwa Coubine oder Coubista. Wären Fotos von einem un serer Sonntagsausflüge nach Paris gelangt, hätte man auch in unseren Kl eidungsstü cken Kuben entdeckt. Gan z so war es freilich nicht mit un se rer Bekl eidung. Etwas A uffallendes konnten sich nur jene leisten, denen ab und zu von irge ndwoher ein Honorar zufloß. Al so Literaten, Architekten und Grafiker. Die Maler hatten dafür kein Geld übrig. Aber was sie einmal in längerer Zeit für sich anschaffen konn ten, hi elten sie mühevoll in bestem Zustand, um bürgerlich einwandfrei au szu sehen. Beispielsweise Kubi sta. E r war arm wie eine Kirchenmaus und besaß nur einen ein zigen anständigen dunklen Anzug, doch der war immer makellos und fl eckenfrei. Weil er seine rötlichen Wangen immer gut rasiert und wie durch ein Wunder stets einen sauberen Kragen hatte, wirkte er wie ein vornehmer Herr. A n seiner KJ eidung konnte man nicht erkenn en, daß er sich nur ausnahmsweise einmal sa tt essen konnte. Die besondere Betonung eines gepflegten Ä ußeren hatte sozusagen ideologische Gründe. Schon damit wollten di e Verkünder der neuen Kun st un terstreichen, daß sie keine Bande von Bohemiens waren, die aus Rebellentum, Verantwortungs losigkeit, romantischer Laune, aus Trotz oder in der Absicht zu provozieren und auf sich aufmerksam zu machen, solch wi lde Sachen malten oder gestalteten. Diese Kün stler, die von sich glaubten, sie seien absolut unromanti sch und durch und durch sachl ich, waren bemüht, schon nach außen hin Würde und Normali tät an den Tag zu legen, damit nichts au ch nur den geringsten Schatten eines Zweifels auf die Ern sthaftigkeit ihres Werkes werfe. Den bruchstü ckh aften Äußerungen, die Filla hi e und da aus dem Mundwinkel fallen ließ, entnahm ich, warum er, Gutfreund oder Benes dem einfachen Mann auf der Straße oder einem Bankbeamten gleichen wollten. Das ging so weit, daß Kubi sta eine seiner Affären entschl ossen durch ein Duell bee nd en wollte, wie es der E hrenkod ex, der für ihn als österreichischen Reserveoffizier galt, forderte. So war das also mit der KJ eidung. Abe r wie war alles and ere, wie lebte di ese Avantgard e überh aupt? Das Privatl eben eines jeden einzel-
nen lag nicht so offen auf der Hand wie seine Ansichten und sein Werk. Man ahnte es und konnte sich an den Fingern abzählen, was der andere besaß und wie er lebte. Aber wenn zwischen zweien nicht schon eine ältere und intime Freundschaft bestand, ging keiner zum andern, um ihm di e Schwierigkeiten seines Lebens zu offenbaren. Niemand besaß so viel überschüssiges Geld, daß er dem andern mehr als eine gelegentliche kameradschaftliche Hilfe hätte gewähren können. Die Architekten lebten von ihrem Beruf. Janak, Chochol und Sochor waren ordentlich beschäftigt, und ihr Versuch, sich eine stän dige Einnahmequelle, die Werkstätten, zu sichern , trug sich wenigstens selbst. Gocar hatte sogar sein eigenes Büro, seine gemäßigten Entwürfe wurden ausgeführt, und er befand sich sichtlich auf einem aufsteigenden Ast. Die Projekte Janaks blieben dagegen all esamt auf dem Papi er
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Maler Alfons Mucha, Zeichnung von VI. Rada
und wurden bei allen Wettbewerben abgelehnt. Dafür konnte er sie kühn und phantastisch entwickeln. Schlecht ging es Hofman, dem revolutionärsten der Architekten. Er ernährte sich als Zeichner, doch das war ein erbärmliches Auskommen. In seinem Zimmerehen in Smichov standen ein altes Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl. An den Wänden hatte er angezeichnet und angeschrieben, wo einmal ein Bücherschrank, eine Liege, ein Schrank für Entwürfe, ein Wäscheschrank und andere Möbelstücke stehen sollten, sobald er in seinem Leben zu Geld kommen würde. Unser Bildhauer Gutfreund hatte auch nur einen einzigen lohnenden Auftrag, zu dem ihm Stursa verholfen hatte: Porträtmedaillons für die Hlavka-Brücke. Die moderne Ausführung vermochte seine Modelle, die Ratsherren, nicht zu sehr zu stören, weil man die Porträts nur von der Moldau aus sah. Nur einer aus der ganzen Gruppe, Kysela, erlebte während ihres Bestehens eine verdiente Karriere - er wurde Professor an der Kunstgewerbeschule. Von den übrigen Mitgliedern studierte der literarische Teil noch und wurde also zu Hause versorgt. Aber selbst so brauchbare Menschen wie die Grafiker konnten nicht allein von ihrer Arbeit leben; zum Glück hatten alle bei ihren Familien ständig einen Platz am Tisch und eine Wohnecke. Brunners Wohnecke war ein Kämmerchen von etwa zweimal zwei Metern mit einem Bett, einer Katze, einer Staffelei, einem Tisch und einem schmalen Fenster. Darin arbeitete Brunner-Hajpuna wie ein Kobold in seiner Höhle und verschenkte seinen Zauber. Er war nicht der einzige, der etwas verschenkte, für die Gruppe und die nächste Umgebung wurde alles kostenlos geleistet. Wenn wir schon für unsere »Monatsschrift« zusammenlegten, so versteht sich wohl von selbst, daß wir uns auch keine Honorare bewilligten. Einzig und allein Toman erhielt ein Honorar für seinen Roman »Die Sonnenuhr«. Das Defizit der Ausstellung beglichen die Architekten aus ihr~n Einkünften. Viele Plakate aus jener Zeit, von den Ausstellungen der Gruppe, des Klubs für Alt-Prag, den Arbeiterausstellungen und dem »Montmartre « wurden allein deswegen angefertigt, weil es befriedigend war, Proben des mod ernen Schaffens an den Straßenecken zu sehen. Für den Kameraden Boucek und seine Buchreihe
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»Neue Edition « führten unsere Grafiker die Illustrationen nur zu se1ner und ihrer eige nen Freude aus: Kratochvil die entzückenden Tllustrationen zu den »Tiroler Elegien«, Kysela die luxuriöse Ausstattu ng der »Portugiesischen Briefe «, Benda mehrere Umschläge und Frontispize. Natürlich zeichneten Brunner und Kratocbvil fast jede Woche ohne Honorar für Bouceks »Flugblätter« Karikaturen, zu denen Bass kostenlos Verse verfaßte. Sonst hätten weder die »Flugblätter« noch die Bücher erscheinen können, obwohl damals die Kosten für die ganze Auflage eines seiner Edelsteine in Buchform nicht viel höher waren als der Preis, den ein einziges Exemp lar später bei einer Auktion erzielte. So wurde untereinander, also beim größten Teil der Abnehmer, ohne jeden Geldumlauf gearbeitet. Es genügte als Lohn, wenn ein Buch gut gelang. Wichtig waren die Freude über eine schöne Sache und das Bewußtsein, daß wieder etwas geleistet worden war. Am schlechtesten ging es unseren Malern. Sie, das Fundament und Rückgrat der ganzen Bewegung, hatten es am schwersten. Vielleicht kaufte mal ein Freund von ihnen, der auch n icht viel besaß, eines ih1·er Bild er. Und wenn jemand einmal für ein Bild 50 Kronen erhielt, bot das Gesprächsstoff für lange Zeit. Dieses Geld wurde freilich zumeist wieder für Leinwand und Farben ausgegeben. Von Ausstellungen wurden in der Regel alle Bilder als unverkauft zurü ckgeschickt; sie lehnten dann in großer Zahl in ihren Wohnungen oder asketischen Ateliers an den Wänden, ungerahmt, die Leinwand oft auf beiden Seiten bemalt. Dabei machten diese Lagerräume nie den Eindruck eines Friedhofs, die unverkauften Bilder hatten nichts Melancholisches an sich, im Gegenteil, sie erfüllten den Raum mit einer geheimen Kraft, die einmal explodieren mußte. An den anderen Unternehmungen der Gruppe - Ausflügen, Tanzvergnügen, nächtlichem Bummel - nahmen die Maler nur selten teil, obwohl für einen Bummel, der die ganze Nacht dauerte, eine einzige Kro ne reichen konnte. Doch das war ein für sie anderweitig dringend benötigter Betrag. Ein Hering, eine Scheibe Brot und eine Bierflasche - so oft das Motiv fauvistischer und kubistischer Bilder - waren nicht nur Modelle; wenn sie als Modell gedient hatten, wurden sie zum
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Abendbrot. Vincenc Benes wird es mir wohl verzeihen, wenn ich verrate, daß es eine lange Zeit gegeben hat, in der er im Cafe zum Frühstück Kaffee mit Milch, zum Mittagessen Kaffee mit Milch und zum Abendessen Kaffee mit Milch trank und dazu die größtmögliche Zahl von Hörnchen verspeiste. Einmal bat er mich als Tischnachbarn, ich möge doch einige Hörnchen auf meine Rechnung nehmen, weil er sich schämte, bereits so viele gegessen zu haben. Ganz ähnlich vegetierten auch andere dahin. Spala erkrankte schließlich an Tuberkulose. Keine Ausnahme bildete Filla. Allein Dr. Kramaf, der überhaupt weit in die Zukunft blickte, kaufte während der ersten Jahre einige Bilder von ihm. Und Filla rühmte sich noch, er habe bereits drei Bilder verkauft, während Seurat während seines ganzen Lebens nur zwei Bilder an den Mann gebracht habe. Sie waren konsequent. Mit den ohnehin recht modernistischen Bildern von Benes hatte sich doch hier und da ein Käufer angefreundet, sogar mit seinen Porträts. Aber als kurz danach die Ära des Kubismus anbrach und Benes sich leidenschaftlich seinem Zauber ergab, war es mit den seltenen Gelegenheiten und den bescheidenen, aber doch vorhandenen Aussichten vorbei. Er blieb lieber dem Kaffee mit Milch treu. Otakar Nejedly war seit seiner Rückkehr von Ceylon sogar berühmt, aber er setzte bereitwillig seinen guten Ruf aufs Spiel und nahm Rückschläge in Kauf, um sich mit Haut und Haaren der neuen Kunst zu verschreiben. Kubista wieder erledigte lieber für 50 Kronen im Monat Schreibarbeiten, als Kitsch zu malen, und später ging er zum Militär, denn das waren die beiden einzigen Möglichkeiten, die er fand , um nach dem Dienst seiner Überzeugung gemäß malen zu können, und zwar mit vollem Magen. Ich bedaure, daß mir die Muse bei diesem Kapitel nicht geholfen hat. Aus ihm hätte man Trommeln und Fanfaren vernehmen sollen, es hätte wie ~in Heldenepos in H exametern von diesen Männern und ihrem Kampf berichten sollen. Das waren Männer! Ohne Zögern griffen sie nach den zwei schwierigen Freiheiten, ohne die in der Kunst, ja überhaupt im Reiche des Geistes, vielleicht niemals etwas Ne ues entstanden wäre. Das waren die unzertrennlichen Freiheiten zu schaffen 28
Kare! Balling, Kabarettist, Karikatur von E. A. Longen
und zu hungern. Tüchtige Männer! Manchmal nachts nach einer Zusammenkunft, an der wir alle teilgenommen hatten, oder auch ein {lndermal, bei guter Stimmung, gingen wir mitten auf einer verschlafenen Straße heim. Wir alle, auch die sonst sehr ernsten, marschierten im Gänsemarsch auf einer Schiene des Straßenbahngleises, vorneweg der lange Stech mit Melone, der mi t seinem Stock wie ein Kapellmeister den Takt gab, und wir stimmten nach den Fanfaren aus dem »Freischütz«, natürlich mit allen Wiederholungen und Refrains, damit es zum Text paßte, den Chorus an: »Quo-usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra - wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld mißbrauchen?!« Ich weiß nicht, woher wir das genommen hatten, aber es paßte uns in den Kram, weil un ser Gebrüll so herrlich wie ein Aufruf an alle Kitschmaler, Banausen und Polizisten klang, die uns zu Ruhe und Ordnung mahnten. Ja, es war herrlich, al les war herrlich: Quo-usque, quo-usque ... Ich glaube nicht, daß wir jemals die Geduld verloren hätten ; es war der Krieg im Jahre 1914, also die gröbste Vis maior, die unserer Revolution ein unnatürliches Ende bereitete. Sie endete aber nicht auf schändliche Weise, sie wurde weder unterdrückt, noch stürzte sie in sich zusammen. Ich weiß nicht, wie ich das Ende kennzeichnen soll.
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Vielleicht ist sie nur verlorengegangen, wie man die ganze Generation die »verlorene Generation« genannt hat? Aber eine solche revolutionäre Energie kann nicht verlorengehen, wie Energie überhaupt. Ich glaube, sie hat sich zum Himmel erhoben und wurde in ein künstliches kosmisches Strahlen verwandelt, das noch Jahrzehnte lang, vielleicht sogar für ewige Zeiten, die tschechische Kunst sichtbar oder unsichtbar beeinflussen wird. Es ist aber nicht so, daß von ihr nicht auch auf Erden etwas geblieben wäre. Es blieben hier ihre Vertreter, wenn auch in Zukunft jeder auf sich allein gestellt, aber jeder mit dem kühnen Geist der ehemaligen Gruppe.
Rudolf Leschkowsky, ein junger Mann, war fast täglicher Gast in der Familie eines Prager Fabrikanten, mit dessen Tochter er inoffiziell verlobt war und auch der offiziellen Verlobung stand nichts im Wege, da der Frei~r anscheinend sehr verliebt und von makelfreiem Rufe war. Eines Abends hatte er der Tochter des Hauses besonders herzlich seine Liebe und Treue beteuert, und nichts war begreiflicher, als daß ihn am nächsten Nachmittag die Dame im Bureau - er hatte die Telephonnummer 1014 anklingelte, um ein bißchen mit ihm zu plauschen und wieder zum Abendbrot einzuladen. »Bitte, ist Herr Leschkowsky dort?« lispelte sie, als die telephonische Verbindung hergestellt war. »Nein, Herr Leschkowsky ist schon um neun Uhr früh fortgegangen.« »Um neun Uhr früh, da kommt er wohl noch wieder?« »Nein, nein. Herr Leschkowsky kommt bloß jeden zweiten Abend.« »Abend? Er geht doch nicht abends ins Bureau?« »Hier ist kein Bureau.« »Ja, ich habe aber das Bureau Werner und Leschkowsky verlangt. Nummer 10'14.« »Ach, das ist ein Irrtum. Wir haben 1015 - Hotel Myschka.« So ist wegen der verwechselten Nummer die Verlobung doch nicht zustande gekommen. E. E. Kisch
Frantisek Langer Erinnerungen an Jaroslav Hasek
Das in sich. geschlossenste Kapitel meiner Erinnerungen an Jaroslav Hasek ist mit der Gastwirtschaft Zvefina verbunden, die es - mehr als der »Kelch« und andere Lokale, die in Haseks Wirken nur eine untergeordnete Rolle spielten - verdient, mit einem Gedenkwort bedacht zu werden. Zunächst war das Gasthaus des Herrn Zvefina im Zentrum des Stadtteils Königliche Weinberge angesiedelt, gleich hinter dem ehemaligen Volkshaus »Narodni dum«. Dort befand es sich wahrlich im Blickfeld der Öffentlichkeit und erfreute sich zugleich der Nachbarschaft des Volkshauses. Einerseits konnte man im Sommer auch bei Zvefina den im Volkshaus stattfindenden Gartenkonzerten sehr bequem und ohne Eintrittsgeld lauschen, andererseits fanden sich, wenn dieser Garten überfüllt war, alle Besucher, die dort keinen Platz mehr bekommen hatten, bei Zvefina ein. Aber auch ohnedies übte das Gasthaus Zvefina eine große Anziehungskraft aus. Es war hell, sauber, hatte eine Küche von allgemein anerkannter Güte, eine reichhaltige Speisekarte und billige Preise. Es wurde von jungen Beamten, alten Junggesellen sowie von Familien, de' aufgesucht. Bisweilen ren Verwandte vom Land zu Besuch kamen, auch von Hochzeitsgesellschaften, wenn die Trauung in unmittelbarer Nähe, in der Ludmillakirche, stattfand. Ferner verkehrten hier jugoslawische Studenten, aber auch ihre tschechischen Kommilitonen, sofern das Geld für ein besseres Mittagessen reichte, als es ihnen in der 31
Mensa geboten wurde. (Die Mensa academica war eine Wohlfahrtseinrichtung, die den Hochschulstudenten zwei Wahlessen bot, davon eines für 54 Heller mit Fleisch und einer ordentlichen Beilage. Ebenso ein etwas bescheideneres Abendessen für 34 Heller. Das sind jene Preise, an die ich mich noch erinnern kann, aber wahrscheinlich haben sie sich während der Existenz der Mensa wiederholt geändert. In den verschiedenen Gasthäusern nahe den medizinischen Instituten gab es Mittagessen bereits für 60 bis 80 Heller, etwas weniger zahlte man in den Häusern mit privatem Mittagstisch, wo für ledige Herren gekocht wurde. Abonnenten genossen weitgehende Ermäßigungen. Das Abendessen nahm man gewöhnlich in den Fleischergeschäften ein; dort kosteten drei Paar köstlicher Würstchen oder Knacker 30 Heller, oder man aß zu Hause, wo es noch billiger kam.) Im Gasthaus Zverina bekam man ein sehr gutes Mittagessen für 80 Heller bis zu einer Krone, dann freilich bereits mit einem Stück Kuchen. Die Portionen konnten jeden noch so starken Esser zurriedenstellen. Am Abend fanden sich in diesem Gasthaus viele Freunde eines guten Biers ein, denn Herr Zverina war ein hervorragender Bierkenner und selbst ein beachtlicher Bierkonsument. Die Familie hatte 'fünf Töchter, von denen drei bereits erwachsen waren. Mit ihrer Hilfe besorgte Frau Zverinova sämtliche Küchenarbeiten. Deshalb war die Zubereitung der Speisen so zuverlässig, und die Selbstkosten hielten sich in engen Grenzen. Ihre gute Arbeit spiegelte sich günstig im Geschmack und den niedrigen Preisen wider. Im Gastraum bediente ein Kellner. Die Töchter durften die Gaststätte nicht betreten, darauf achtete die Mutter streng. Es waren gut erzogene und hübsche Mädchen, die Bücher und Theater liebten. Später waren sie auch gute Freundinnen und manchmal sogar Patroninnen jener KünstJer, die bei Zvefina verkehrten. Schon damals bewarb sich das solideste Mitglied unserer Gesellschaft, Edvard Drobilek, mit Ausdauer um die schwarzäugige Bozenka, die später tatsächlich seine Frau wurde. Damit gehörte er zur Familie und wurde zu einem Bindeglied zwischen ihr und dem Kreis um Hasek. Nach einiger Zeit verlegte Herr Zvefina seine Gastwirtschaft - an32
geblich, weil die Miete erhöht worden war - in das ehemalige Gasthaus Kravin in der früheren Kronenstraße, also noch im Stadtteil Königliche Weinberge. Das war bereits ein weniger günstiger Platz, weil es dort von Konkurrenzbetrieben nur so wimmelte. Deshalb übersiedelte die Familie Zvefina nach weiteren zwei Jahren von neuem, diesmal bis nach Smichov in die Nachbarschaft der damaligen Albrechtskaserne, weil die Jugoslawen der Familie im Gasthaus Kravin oft die Zeche schuldig geblieben waren und der geschädigte Gastwirt ein billigeres Objekt suchen mußte. Als das Geschäft aber in der Nähe der Kaserne nicht florierte, kam es zu einem weiteren Umzug, jetzt bis in das Proletarierviertel Kosire hinter dem Kleinseitner Friedhof. Von dort ging es schließlich wieder zurück in die Nähe der Weinberge, in die Sokolska, wo Familie Zverina in einer ganz kleinen Gastwirtschaft, in die man über einige Stufen hinuntersteigen mußte, auf Dauer vor Anker ging und bis zum Weltkrieg, ja bis einige Jahre nach dem Kriege blieb, so lange, wie sie überhaupt noch ihr Gewerbe ausübte und nicht alle Töchter verheiratet waren. Bei jedem Umzug wechselten die Gäste. In Smichov waren es Char?en aus der Kaserne, in Kosire das typische Publikum der Peripherie, m der Sokolska wurde das Gasthaus zu einem Treffpunkt der Nach-
Die Maler Jan Zrzavy, Vlastimil Rada und V. H. Brunner
barn, sozusagen zu einem Familienlokal. Die Gruppe um Hasek aber blieb ihrer Stammkneipe allzeit treu und machte alle Umzüge mit. Nach dem Umzug vom Volkshaus in die Gaststätte Krav:in ging es Herrn Zverina anfangs nicht besonders. Gegen die große Übermacht der Gasthäuser in der Umgebung mußte er mit Hilfe seiner Schankkenntnisse und der Kochkünste seiner Frau um einen Besucherstamm kämpfen.
In jenen schweren Anfangszeiten lag das Jahr 1911, in dem für die Königlichen Weinberge Ergänzungswahlen für einen Sitz im Landtag des Königreichs Böhmen ausgeschrieben wurden. Wahlen waren ~chon immer eine Goldgrube für das Schankgewerbe. Alle kandidierenden politischen Parteien richteten in den Gasthäusern ihre Wahlbüros ein, fast in jeder Straße. Dorthin kamen verschiedene Funktionäre der Partei, wenn nicht der Kandidat selbst, um Reden zu halten, und dort wurden die Wähler durch politische Gespräche und Bier in Wallung gebracht, bis zu jenem großen Tag, an dem sie mit den Stimmzetteln zur Wahlurne schritten. Diese Wahlfestungen wurden vor allem bei bewährten Parteigängern errichtet. Dabei wurden solche Gasthäuser und Restaurants bevorzugt, die über einen Tanzsaal, eine überdachte Veranda oder überhaupt über größere Räume für die Wahlversammlungen verfügten. Weil sich Herr Zvefina nicht um Politik kümmerte und seine Gaststube nur mittlere Ausmaße hatte, wurde sein Lokal von allen Parteien übergangen. Sicherlich blickte er neidisch durchs Fenster, wenn auf der gegenüberliegenden Straßenseite jeden Abend durstige Wähler zur Konkurrenz strömten, um an der dort abgehaltenen Versammlung teilzunehmen; nach dem Lärm, mit dem sie in der Nacht die Versammlung verließen, konnte er sich voll Bedauern den Umsatz der Konkurrenz ausre~hnen. Es war bereits die Rede von Edvard Drobilek, dem Bindeglied zwischen uns und der Familie Zverina. Er war damals etwa dreißig Jahre alt und Angestellter im Rektorat der Tschechischen Technischen Hochschule, hatte also eine gesicherte Existenz. Drobilek hatte leb-
hafte schwarze Augen, eingefallene Wangen, eine spitze Nase und hübsche schlanke Hände. Er war ein fleißiger Leser, ein Mann von gutem Geschmack, spielfreudig, witzig, hatte eine Menge Einfälle, aber er gab sie weiter und schrieb selbst keine Zeile, ja er meldete nicht mal seine Autorschaft an, wenn er ihnen in den Humoresken seiner Bekannten wiederbegegnete. Ferner war er, vielleicht als einziger unter uns, ein absolut solider, pünktlicher und planmäßig arbeitender Mensch; was er in Gang setzte, verstand er auch zu organisieren und über Wasser zu halten. Und was noch wichtiger war - für jeden aus unserer Gesellschaft hatte er ein freundliches Wort, jedem bewies er seine Anteilnahme und gab Ratschläge; er war klug und erfahren, schlichtete Zank und Streit, ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen, verlor nie den Humor, kurz, er war der gute Geist des ganzen Häufleins und oft sein unsichtbarer Spiritus rector. Mru1 muß bemerken, daß sich Drobileks Teilnahme an allen Unternehmungen Haseks auf die Räume der Gasthäuser Zvefinas beschränkte und mit dem Abschiednehmen vor der Tür endete, während Hasek und andere seiner Kumpane ihre Streifzüge durch länger geöffnete Lokale fortsetzten. Aber gerade wegen dieser Beschränkung und wegen seiner Treue zu diesem Ort legte einer seiner Einfälle den Grund für die berühmteste Epoche der Kumpanei Haseks und der Gastwirtschaft des Herrn Zverina. Um Herrn Zverina in diesen schweren Wahlzeiten zu einem größeren Verdienst zu verhelfen, kam Drobilek nämlich auf folgende Idee: Da keine Partei bei Herrn Zvefina ihr Wal11büro aufgeschlagen hat, könnten doch wir das ändern und für Herrn Zverinas Lokal eine eigene Partei gründen. Ich erhielt die Einladung zu einer Art »Vorberatung« über diese Angelegenheit, wie es darin hieß, doch ich habe sie versäumt. Als ich zur zweiten Zusammenkunft kam, stieß ich an der Tür auf den Dichter Mach. Ich weiß nicht, ob die »Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken des Gesetzes« schon seit Jahren bestand und jetzt nur zu neuem Leben und einem neuen Zweck wiedererweckt wurde (wie jemand verkündete) oder ob sie erst jetzt und im Hinblick auf diese Wahl entstand. Das war wohl bereits in der ersten Sitzung behandelt
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und beraten worden. Mach hat zwar immer behauptet und sogar auch geschrieben, daß sie eben erst gegründet worden sei, aber er wußte wohl kaum etwas Genaueres, da er ja erst gleichzeitig mit mir durch dieselbe Tür in ihre Existenz eintrat. Dafür beauftragte ihn das vorbereitende Komitee, sofort für die Partei eine Hymne zu verfassen, und er tat das auf der Stelle, mit nur geringfügiger Unterstützung der anderen Mitglieder des Komitees. Der Anfang lautete:
Ausgestattet mit dieser Hymne, die in den böhmischen Ländern rasch Verbreitung fand, begann die »Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken des Gesetzes« (der Kürze halber bezeichne ich sie im fol- · genden nur als »Partei für gemäßigten Fortschritt«), festere Formen anzunehmen. Die weiteren Beratungsabende erwiesen sich dafür als förderlich. Die Kandidatur Haseks verstand sich von selbst, und so wurden jeweils bis tief in die Nacht alle möglichen organisatorischen und ideologischen Fragen behandelt. Beispielsweise wurde beschlossen, dem Zentralausschuß könne jeder angehören, der Lust dazu hat. Die Zahl seiner Mitglieder war nur durch die ' Kapazität von zwei Tischen begrenzt, die in der Mitte des Gastraums aneinandergeschoben wurden. Daran saßen unser Schriftführer Drobilek, ferner der Jurist Dr. Grünberger, der damals Redaktionsmitglied der Zeitung »Prävo lidu« war, der schweigsame Ing. Khun, der Übersetzer A. Gottwald, für den Josef Mach das Epithe-
ton »letzter Scholastiker« erfand, der witzige und elegante Dr. Noväk mit dem Beinamen Kyticka, was soviel wie »Sträußchen« bedeutet, ferner Dr.Forster, später Professor der Psychologie, Louis KJikava, Bohemien, dekadenter Dichter und Neffe des Prager Polizeidirektors, und natürlich Josef Mach und ich. Weil aber an diesen zusammengeschobenen Tischen wenigstens zwölf Personen Platz fanden, nahmen an manchem Abend neben den ständigen Ausschußmitgliedern noch weitere Träger klingender Namen Platz, vor allem aus der Künstlerwelt, so Longen, Lada und andere. Das vorbereitende Komitee hatte bereits die Wahltaktik festgelegt. Bei jeder Zusammenkunft sollte Hasek als Kandidat eine Rede halten, wobei man den Redner unterbrechen und ihm Fragen stellen durfte; dann sollte eine Diskussion stattfinden, in deren Verlauf freie Anträge gestellt werden konnten. Vor Beendigung der Zusammenkunft sollte eine Sammlung für einen geheimen Wahlfonds durchgeführt werden, und danach folgte die freie Unterhaltung. Drobilek und Khun erhielten den Auftrag, Plakate mit den Parolen der Partei anzufertigen und an die Fensterscheiben der Gaststube zu kleben. · Man mag gegen die ehemalige Österreichisch-Ungarische Monarchie noch soviel einwenden, die Wahlkampagne war bei den k. u. k. Behörden gut organisiert und verlief bewundernswert glatt. Parteien konnten an den Wahlen teilnehmen, so viele wollten, man mußte nur den Narrien des Kandidaten der Behörde - ich glaube, der Bezirkshaupti;nannschaft - bekanntgeben, damit die für ihn abgegebenen Stimmen zur Kenntnis genommen und offiziell gezählt wurden. Für Wahlversammlungen war keine Genehmigung erforderli ch, man brauchte sie nirgends anzumelden, auch nicht bei der Polizei, und es wurde auch kein Polizist geschickt, ebenso keine Aufsicht außer einem Ge heimpolizisten. Getreu unseren anarchistischen Prinzipien übergingen wir die Behörden vö llig, auch hinsichtlicli der bloßen, aber von allem wichtigsten Protokollierung von Haseks Kandidatur. Dennoch griff die Polizei in unser Sitzungsleben nicht ein. Wir klebten also ruhig an . die Fenster Plakate, die darauf hinwiesen, daß sieb hier das Wahlbüro der »Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken des Gesetzes«
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Nun treten die Parteien an, verbreiten ihre Lügen, sie wollen, jede, wie sie kann, das gute Volk betrügen. Wir treten für den Fortschritt ein, jedoch ganz moderat. Gemäßigt muß der Fortschritt sein und Hasek Kandidat.
Am Sonntagabend war das Gasthaus gerammelt voll. Es hatten sich zahlreiche Freunde und Bekannte eingefunden, Künstler, Journalisten, Bohemiens, aber auch ehrsame Bürger aus den umliegenden Straßen, angelockt durch den bekannten Namen Hasek oder den unbekannten Namen der neuen politischen Partei. Hasek erschien, sauber gewaschen und nüchtern, wie alle Mitglieder des Zentralausschusses eine Stunde vor Beginn. Schlag acht hr wurde vom Ausschuß stehend die Hymne »Nun treten die Parteien an« gesungen. Danach eröffnete Dr. Grünberger die Wahlversammlung mit allen notwendigen Formalitäten, die er als einziger von uns kannte. Dem Zeremoniell entsprechend, stellte er den Wählern den Wahlkandidaten vor. Danach legte Hasek los. Er schilderte sich selbst in den strahlendsten Farben als den geeignetsten Kandidaten für den Abgeordnetensitz und die Abgeordnetendiäten im Wahlbezirk Königliche Weinberge, erläuterte sein Programm mit einer Unzahl von Versprechungen und Reformplänen, schmähte die anderen Parteien und verdächtigte die Gegenkandidaten - alles, wie es sich für einen ordentlichen Bewerber um eine solche Funktion gehört. Dr. Grünberger, der die Versammlung leitete, unterbrach sie ab und zu für fünf oder zehn Minuten, damit sich der Redner erholen und der Kellner frisches Bier bringen konnte. Mit diesen Pausen und der Beantwortung von Anfragen und Einwänden dauerte Haseks Auftritt gute drei Stunden. Danach gab es programmgemäß eine Sammlung für den Wahlfonds, indem ein ' Hut herumgereicht wurde. Gespendet wurden vor allem Kupfermünzen, da die Wähler uns noch nicht ernst nahmen. Schließlich folgte die freie Unterhaltung. Wir, d. h. der Zentralau sschuß, teilten den Wahlfonds unter uns auf und verwendeten ihn als Einsatz beim Kartenspiel. Auch die Gäste an den anderen Tischen blieben bis tief in
die Nacht sitzen. Zvefina war zufrieden, Drobilek auch, dem Ausschank war geholfen. Die Nachricht von der Kandidatur Haseks verbreitete sich in ganz Prag, und wir konnten jeden Abend eine Versammlung im überfüllten Saal durchführen. Wir mußten sogar von den Nachbarn im Haus Stühle für die Besucher ausleihen. Die ganze Künstler- und Kaffeehausgemeinde gab sich hier ein Stelldichein. Es kamen Bass, Lada, Brunner, unsere alten Kameraden von den Anarchisten; auch anerkannte Politiker fanden sich ein, so Dyk und die Brüder Smeral. Diese mußten sich von Hasek viele Anspielungen, sogar Beschuldigungen wegen Veruntreuung und Raub gefallen lassen und sich vor unserem Publikum rechtfertigen. Die vor jeder Versammlung in den Fenstern angebrachten Plakate verkündeten, wie stark unsere Partei zahlenmäßig - wir rechneten nach Tausenden - angewachsen sei und worüber Hasek am Abend sprechen werde. Freilich richtete sich Hasek nicht danach und redete, was ihm gerade einfiel. Mitunter hielt er sich leidlich an das vorgegebene Thema, ein andermal aber kam er vom Hundertsten ins Tausendste, manchmal sagte er etwas völlig Neues, ein andermal wiederholte er etwas, womit er bereits früher Erfolg gehabt hatte oder worauf er in einer seiner Geschichten gestoßen war. Alles in allem hörten wir Berichte über allerlei Heilige, über den Kampf gegen den Alkoholismus, über die Echtheit der Königinhofer Handschrift, über die Nützlichkeit der Missionare und über Erscheinungen der modernen Gesellschaft. Er prangerte die vom Staat unterstützten oder geduldeten Mißstände an, etwa die Gebühr von 20 Hellern für die Hausmeister, den »Sperrsechsen< bei Nacht, oder das Eintrittsgeld für die öffentlichen Bedürfnisanstalten sowie die Bestrafung der auf ihre Gesundheit bedachten armen Bürger, die kein Geld hatten, um die öffentliche Bedürfnisanstalt zu benutzen. Auch machte er großartige Versprechungen, m Wähler aus den unterschiedlichsten Berufen und mit gegensätzlichen Interessen anzulocken. In geheimnisvollen Andeutungen kündigte er für den nächsten Abend schreckliche Enthüllungen über Schandtaten seiner Gegenkandidaten an, bis hin zu Verbrechen und der Ermordung von Großmüttern.
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befinde und daß sich am Sonntagabend um acht Uhr unser Kandidat, Herr Jaroslav Hasek, den bewußten Wählern aus dem Stadtteil Königliche Weinberge und dessen mgebung vorstellen und vor ihnen das Programm unserer Partei entwickeln werde.
Mit Drobileks und unser aller Hilfe, die darin bestand, daß wir ihm Stichworte gaben, erhielt seine Rede zuweilen einen dramatischen Anstrich. Als er zum Beispiel das Programm der Partei erläuterte und verkündete, sie werde sich für die Aufhebung des »Sperrsechsers« für die Hausmeister einsetzen, damit diese Tributpflicht aufhöre, erntete er begeisterten Beifall. Damit uns aber nicht die Stimmen der Hausmeister verlorengingen, fügte er gleich hinzu, das sei nicht gegen sie gerichtet, im Gegenteil, die Partei werde sich ihres von allen anderen Parteien vernachlässigten Berufsstandes annehmen und durchsetzen, daß sie Staatsbedienstete mit . Aufstiegschancen und Pensionsberechtigung würden. A{is den Reihen der Anwesenden sollten sich die Hausmeister melden und ihre Meinung dazu sagen. Niemand meldete sich, denn Hausmeister waren nicht zu der Versammlung erschienen. Deshalb schlug Hasek vor, eine Kommission zu bilden, die von Haus zu Haus gehen, klingeln und die Hausmeister zur Versammlung holen sollte, so-
bald sie eine Tür öffneten. Das geschah. Die Versammlung wurde so lange unterbrochen, bis die Kommission zwei Hausmeister anschleppte, die ohne Rock und in Pantoffeln kamen, angelockt durch das Versprechen einiger Glas Freibier, das aus dem Wahlfonds bezahlt werden sollte. Zum Vergnügen der Zuhörer redete Hasek lang und breit über den Kummer, den die Hausmeister mit den Mietern hätten, und entließ sie schließlich mit dem Versprechen, sie nach seiner Wahl bis zur lnspektorenwürde gelangen zu lassen. Manchmal waren derartige Einlagen kürzer, manchmal länger. Eines Abends sprach Hasek davon, daß die Regierung die Abgeordneten kaufe, was ihr bei ihm nicht gelingen werde, denn dank den großzügigen Redakteuren habe er immer genug Geld, woraufhin jemand rief, Hasek könne ihm dann doch die Krone zurückgeben, die er ihm schulde. Sofort fuhr Hasek den StöreU:fried an: Die Krone dürfe nicht in die Debatte hineingezogen werden. (Zum Verständnis für jüngere Leser: Im politischen Jargon bedeutete „die Krone" damals das gekrönte Staatsoberhaupt samt Familie, und die Abgeordneten achtetenstreng darauf, daß sie nicht in den Parlamentsdebatten erwähnt wurde.) Einerseits, so fuhr Hasek fort, seien wir eine Partei, die in den Schranken des Gesetzes wirke, andererseits sitze dort hinten - und er deutete mit dem Finger zur Tür - ein Individuum, das in ganz Prag als Geheimpolizist bekannt sei. Der arme Kerl an der Tür, ein völlig harmloser Nachbar, begann sich dagegen zu verwahren und Zeugen anzurufen, doch Hasek zählte die Provokationen auf, bei denen er ertappt worden sei. Schließlich aber betrachtete er ihn genauer, bat ihn, sich zu erheben, und entschuldigte sich mit den Worten, der wirkliche Polizeiagent sei zwei Kopf größer. Er lud den Mann sogar ein, an den Vorstandstisch zu kommen und mit ihm auf gute Freundschaft zu trinken, um so das Publikum, das schon drauf und dran war, mit dem Spitzel abzurechnen, wieder völlig zu beruhigen.' Die Kandidatenreden Haseks waren das umfangreichste und einheitlichste humoristische Werk vor dem »Schwejk« und standen seinem übrigen Lebenswerk durchaus nicht nach. Sie karikierten jene Phrasen, wie sie das damalige politische Handwerk der Agitatoren und son-
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-. Im Cafe der Umelecka beseda
stigen Redner, der Journalisten sowie der selbsternannten Vertreter und Sprechei· des tschechischen Volkes hervorbrachte. Hasek nahm diese Phrasen wörtlich, persiflierte und entstellte sie bis zur Unkenntlichkeit. Er hatte den Versammlungsjargon und das Kauderwelsch der Plakate, der Flugblätter und der Leitartikel mit all ihrer Banalität, ihrem Schwulst und der Sentimentalität der Parolen und Aufrufe im kleinen Finger. Ganze Kaskaden dieses Materials versprühte er über seine Zuhörer und schmückte damit seine Reden aus, ohne Rücksicht darauf, ob es zum Thema paßte oder nicht. Außerdem ersann er falsche Zitate und Aussprüche, die er verschiedenen Autoritäten zuschrieb. Wie richtige Redner gab er sich pathetisch und begeistert oder ergriffen, allerdings immer an der falschen Stelle. Kurz, er spielte mit den Phrasen, die Bestandteil der menschlichen Sprache geworden waren, so wie es später Kare] Polacek in seinen Romanen tat. Von seinen Worten mitgerissen, schuf Hasek seine berühmten Bandwurmsätze, eine Unmenge inhaltsleerer und verworrener Satzgebilde, die aber im Tonfall und in der wechselnden Stimmlage jenen Sprachungetümen glichen, mit denen die Redner einen besonders wichtigen und hervorgehobenen Schlußsatz vorzubereiten pflegten, einen programmatischen, als Manifestation und natürlich als Ausdruck des Radikalismus gedachten Abschluß der Rede. Haseks Reden endeten mit einer lächerlichen, grotesken und unerwarteten Ungeheuerlichkeit. Oft hatte er solche Sätze schon vorher festgelegt oder während seiner Rede ausgedacht, noch öfter aber betete er wohl insgeheim zu Gott, er möge ihm für den Schluß einen Einfall liefern, der ihn von seinem sinnlosen Geschwätz errettete. Wenn wir bemerkten, daß er sich endlos verhaspelte und die Hoffnung aufgab, wieder aus dem Gewirr herauszufinden, halfen wir ihm durch einen störenden oder opponierenden Zwischenruf. Oft genügte ein bloßes »Oho! « oder »Pfui! «. Ha, sek stürzte sich dann sofort au[ den Störenfried, zerfetzte ihn gewissermaßen in der Luft, und hatten die Zuhörer nach einer solchen Abschweifung den unvollendeten Satz vergessen, ließ er einen neuen, zehn Minuten langen Bandwurm folgen. Es ist oft bedauert worden, daß niemand diese großartigen Reden
Haseks mitstenographiert und so der Nachwelt erhalten hat. Aber auch wenn das geschehen wäre, hätten sie nicht einen Bruchteil jener Wirkung haben können, die sie durch die Improvisation erzielten. Der Leser hätte darin lange und unwesentliche Passagen gefunden, die Haseks Zuhörer selbst keineswegs als lang oder unwesentlich empfunden hatten, da sie geduldig darauf warteten, daß ihr Zwerchfell sofort wieder erschüttert wurde. Außerdem würde dem Leser das kollektive Gefühl fehlen, das die Hörer und Zuschauer in der verrauchten Gaststube beherrschte, die gute und dem Redner freundschaftlich gesinnte Stimmung der Zuhörer. Der Kern des Publikums wurde ja von seinen Freunden und Verehrern aus ganz Prag gebildet, die zusammen mit ihm freiwillig, voller Bereitschaft, ja leidenschaftlich an dem grotesken Wahlspiel teilnahmen und die Wahl überhaupt als lächerliche Farce ansahen.
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Dichter Viklor Dyk, karikiert von V.H. Brunner
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Vor allem würde dem Leser die leibhaftige Figur des Hauptakteurs in dieser Komödie fehlen. In Hasek, wie wir ihn kannten, steckte ein guter Schauspieler. Bei diesen Reden, bei jedem geselligen Beisammensein, beim Erzählen seiner Abenteuer, überall, wo unmittelbar neben ihm Zuhörer saßen, ja bei allem, was er tat, spielte er eine Solorolle wie auf der Bühne, brauchte und suchte er Zustimmung und Applaus. In der Gaststätte Kravin bekamen die Wähler einen Kandidaten zu Gesicht, der aus einem Kabarett zu kommen schien. Er spielte seine Rolle für die Zuhörer, mit einem durchtriebenen Lächeln auf dem geröteten Gesicht, quittierte und unterstützte jede erfolgreiche Reaktion mit einem breiten Lachen und war sichtlich glücklich, wenn es ihm gelungen war, eine prasselnde, hemmungslose Lachsalve auszulösen. Meistens ließ er das Gelächter abklingen und nutzte den Augenblick, um sich mit einem ordentlichen Schluck zu erfrischen. Ein andermal wieder spielte er todernst einen politischen Redner und trug mit gehobener Stimme völlig gleichgültige Dinge vor, begleitete sie mit weitausholenden Gesten und fanatischem Trommeln auf die Tischplatte und blickte herausfordernd und streng das Publikum an, ob es wohl jemand wagte, einen Einwand vorzubringen, als hätte er eben die radikalste Wahrheit offenbart oder die größte Entdeckung verkündet. Dabei kamen ihm seine Erfahrungen als Humorist zugute. So machte es auch nichts, wenn er sich genügend Zeit und einen langen Anlauf gönnte, der jedoch nicht langweilte, sondern beim Publikum die gespannte Erwartung auf das auslöste, was der Redner wohl vorbereitete und was noch daraus werden sollte. Er stand gern vor seinem Publikum und spielte gern Theater; es war offensichtlich, daß ihm diese Rolle größten Genuß bereitete. Wenn er in Schwung war, konnte er eine oder auch zwei Stunden hintereinander reden, und es war schwer, ihn zu br~msen, damit auch für die weiteren Punkte des Versammlungsprogramms noch Zeit blieb. Die im Stadtteil Weinberge geführte Wahlkampagne erreichte ihren Höhepunkt am letzten Tag, an jenem Sonntag, an dem sich die Wähler mit ihren Stimmzetteln durch die Straßen zur Wahlurne begaben. Dro-
bilek veränderte jede Stunde auf den Plakaten in den Fenstern die Zahl der bis zu diesem Augenblick für Hasek abgegebenen Stimmen, die eine schwindelnde Höhe erreichte; zugleich wurde allen weiteren Wählern, die für Hasek stimmen würden, ein kostenloses Wahlfrühstück sowie Freibier in Aussicht gestellt. Am Nachmittag, a!s die amtliche Stimmenauszählung eben erst begann, proklamierten wir in den Fenstern des Gasthauses unseren Kandidaten und die »Partei für gemäßigten Fortschritt« als sichere Wahlsieger. Die entrüsteten Wähler der anderen Parteien begannen, sich vor unserem Wahlbüro zusammenzurotten, und verlangten stürmisch die Entfernung der Plakate, die durch die imposante Zahl der angeblich für Hasek abgegebenen Stimmen provozierten. Schließlich kam ein Wachtmeister und forderte uns ganz freundschaftlich auf, die Plakate »aus Gründen der öffentlichen Ordnung« zu beseitigen. Hasek versprach diesem freundlichen Wachtmeister, gleich in der ersten Parlamentssitzung dafür zu sorgen, daß er wegen seines konzilianten Verhaltens bei der Wahl zum Oberwachtmeister befördert werde, womit er diesen völlig durcheinanderbrachte. Der Zentralausschuß unserer Partei tagte am Wahlsonntag bereits seit Mittag in voller Stärke. Gegen Abend zeigte sich, daß eine Koalition - ich glaube aus Volkssozialisten und Jungtschechen - die Wahl gewonnen hatte. Die Sozialdemokraten mit ihrem Kandidaten Skatu la hatten eine für diesen bürgerlichen Stadtteil recht beachtliche Stimmenzahl erhalten, während für den radikalen Dichter Viktor Dyk alles in allem etwa hundert Stimmen abgegeben worden waren. Mit dem Namen Hasek versehen, fielen tatsächlich zwanzig Stimmen in die Urne, aber wir rechneten noch alle neunzig sogenannten Splitterstimmen hinzu, die aus irgendwelchen formalen Gründen keinem Kandidaten zugesprochen worden waren. Somit hatte unsere Partei einen Riesenerfolg erzielt, und unsere Reporter-Fre unde unterrichteten über ihre Blätter auch dementsprechend die Öffentlichkeit. Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses, das die Sieger auf den Straßen mit Reden, mit dem Absingen patriotischer Lieder sowie mit Umzügen zu ihren Wahlbüros feierten, wurde der »Partei für gemäßig-
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ten Fortschritt in den Schranken des Gesetzes « die E hre zuteil , abends in ihrem Wahlbüro alle durchgefallenen Kandidaten zu Gast zu haben. Jeder sprach ein paar Abschiedsworte, Skatula und Hasek versö hnten sich mit einem Kuß. Dyk hielt eine mit Aphorismen über den Krieg und di e Musen sowie über die Schlacht bei den Th ermopylen gespickte Rede und sagte, er sei stolz darauf, daß er als Gefallener neben so berühmten Toten wie unserem Kandidaten Hasek liegen dürfe. Jaroslav Hasek setzte diese Worte über die bei den Thermopylen Gefallene n in die Tat um und streckte sich mutig auf dem verschmutzten Fußboden aus. Dyk hielt sich, obwohl es ihm wegen seines Körperumfangs einige Schwierigkeiten bereitete, aufopferungsvoll an seine Metapher und legte sich neben ihn.
Emil Artur Longen Hasek und die Unionka
Oftmals war Hasek gezwungen, schnell in Kaffeehäu sern zu schreiben, um sich etwas Geld zu verschaffen, und wie bei seinen brillanten improvisierten Vorträgen bat er gewöhnlich seine Freunde um ein Thema. Er schrieb sofort, die Buchstaben mit der Sorgfalt eines Kalligraphen zu Papier bringend. Unordentlich, fast schlampig im Leben, liebte er eine schöne Handschrift, wobei er sehr wenig strich oder umschrieb. Wenn er zu schreiben begann, hatte er schon die Zahl der Blätter, die sein Artikel umfassen würde, genau berechnet. Auch nach den geforderten Druckspalten konnte er sich richten , und beim Schreiben ließ er sich von niemandem stören. Ged uldig hörte er sich die Anspielungen wohlgelaunter Freunde an, er reagierte höchstens mit einer spitzen Bemerkung. Oberkellner Patera in der Unionka ärgerte Hasek sehr gern, wenn dieser in einer Ecke des Kaffeehauses seine Humoresken verfaßte. Patera beäugte ihn und sagte: »Schreiben Sie in der Erzählung auch etwas von schwarzem Kaffee oder von Buchteln, damit ich sehe, daß Sie ein richtiger Schriftsteller sind, H err Hasek. « Hasek nickte, und dann wunderte sich Patera beim Lesen der Geschichte, weil dort sowohl er selber als auch seine oft gebrauchten Ausdrücke vorkamen. Später bestach er Hasek, um ni cht durch den Zeitungsdreck gezogen zu werden, wie er sich ausdrückte. Als H11sek aus Rußland zurückgekehrt war, wollte er prüfen, ob Patera sich an die alten Geschichten und die alten Rechnungen erinnerte. Der
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Jaroslav Hasek in der Unionka, Zeichnung von
J. Lada
tschechische Schriftsteller klangvollen Namens fragte Patera selbstbewußt: »Kennen Sie mich denn?« Patera erwiderte darauf sofort: »Na klar, Sie sind doch der Herr, der mir noch eine Flasche Wein schuldig ist.«
seine Schulden waren schon beträchtlich. Er saß mit hängendem Kopf und betrübter Miene da. Herr Patera war ein mitfühlender Mensch, er trat also zu Hasek und fragte beinahe zärtlich: »Ist Ihnen etwas zugestoßen, Herr Hasek?« - »Ach, ich elender, dreimal unglücklicher Mensch!« jammerte Hasek. »Ist jemand gestorben, oder sind Sie krank?« erkundigte sich der Ober teilnahmsvoll. »Nicht doch, Herr Patera, schlimmer, viel schlimmer«, antwortete Hasek, den Tränen nahe, »wenn Sie wüßten, was ich für ein elender, verworfener Mensch bin, ich charakterloser Kerl. Soviel Geld bin ich Ihnen schon schuldig, und trotzdem treibe ich diese Lumperei weiter. Heute bin ich wieder hergekommen, und wieder auf Pump.« Nun kullerten erbsengroße Tränen über Haseks Wangen. Das ertrug Herr Patera nicht mehr. »Müssen Sie denn wegen einer solchen Kleinigkeit gleich weinen? Wir schreiben den Kaffee an. Einmal werden Sie schon alles bezahlen ... « - »Ach ja, ach ja, wenn es nur ein Kaffee wäre, aber was ich alles getrunken habe! Mir kommt es so vor, als müßte ich vor Ihnen knien wie ein Bauer vor einem Heiligenbild und mich wegen meiner Sünden an die Brust schlagen«, fuhr Hasek reuevoll fort. »So schlimm ist das alles doch gar nicht«, sagte Herr Patera und bot ihm eine oder zwei Kronen an, vielleicht benötige der Herr Schriftsteller diese dringend. »Geben Sie drei«, erklärte der Humorist Illt hohler, trauriger Stimme. Herr Patera gab drei.
In die Unionka gingen viele wegen des Redakteurs Skruzny von den »Humoristicke listy«, der hier jeden Nachmittag saß. Hasek war ein fast täglicher Gast, weil die Zeitschrift ständig neue Humoresken und Hasek noch öfter Geld brauchte. Freilich hatte er manchmal weder eine Humoreske noch einen Heller, dann mußte er an das gute, erprobte Herz Pateras appellieren, besonders dann, wenn auch seine Freunde kein überflüssiges Kleingeld hatten oder sich ausnahmsweise nicht zu de:i Nachmittagssitzungen im Billardzimmer der Unionka einfanden. Patera war ein geduldiger Gläubiger, aber wenn die Schuld im Laufe der Zeit den Betrag von mehreren Gulden erreicht hatte, kratzte er sich hinterm Ohr und lehnte, wenn auch ungern, einen Kre~it ab. Eines Tages hatte Hasek wiederum keinen Nickel in der Tasche, und
Das Prager Cafe Union bestand aus mehreren kleinen Räumen. Kam ein Fremder dorthin, verirrte er sich bestimmt. Patera nannte solches Umherirren »Spaziergang im Baumgarten«, bei Fremden entschuldigte er das, bei seinen alten »Klienten« stoppte er sogleich das Herumlaufen, indem er einem solchen »Spaziergänger« ein Bündel Zeitungen mit der Bemerkung in die Hand drückte, er habe hier entweder zu lesen oder heimzugehen. Einen Nachteil hatte die berühmte Unionka. Zu den Toiletten mußte man hinausgehen, erst links in der Küche den
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Spaziergang im Baumgarten
Schlüssel holen, und dann zeigte einem ein guter Geist, wo es lang ging. Als Patera einmal durchs Kaffeehaus schwebte, sah er eine Dame, die offensichtlich zum erstenmal hier war. Die Dame geht von einem Zimmerehen ins andere, ständig unzufrieden, kehrt wieder zurück, irrt aufs neue umher, geht nach links, mal wieder nach rechts. Patera beobachtet sie eine Weile, tritt dann näher und fragt höflich: »Belieben die Dame etwas zu suchen?« Die Dame errötet bis zu den Haarwurzeln, schüttelt heftig den Kopf und sagt: »Nein, nein! Danke. Ich suche nichts. « Daraufhin Patera noch höflicher: »Ach so ist das, bitte, hier die Treppe hinunter, dann links die Treppe hinauf, der Schlüssel ist in der Küche.«
form steckt und daß Sie nicht nach dem ersten Rigorosum heiraten wie der Brünette, der .manchmal mit Ihnen herkommt. Gehen Sie nach hinten, ich zeige Ihnen meine Bildchen.« MUC Vesely hörte auf Patera und heiratete nicht nach dem ersten Rigorosum. Die Uniform blieb ihm jedoch nicht erspart. Nach 1918 kehrte er ins Zivilleben zurück an die Universität und in die Unionka. Zwei Jahre später hatte MUC Vesely erfolgreich das zweite und dritte Rigorosum bestanden. Die Promotionsanzeige entwarf Alois Moravec, einer der Maler der Unionka, und der Doctorandus verschickte sie an alle Verwandten und Bekannten und fürchtete doch, jemanden vergessen zu haben. Er hatte Herrn Patera vergessen. Das bemerkte er erst nach der Promotion, als er
Der undankbare Doktor Vesely Als der Gymnasiast Josef Vesely in die Unterprima gekommen war, nahm ihn ein Freund aus der Akademie in die Unionka mit. Dort verbrachte Vesely als Unterprimaner und Primaner die meisten Nachmittage und Abende, und als er das Abitur bestanden hatte, zeigte er dem Oberkellner der Unionka, Herrn Patera, sein Reifezeugnis. Herr Patera freute sich, lobte Herrn Vesely und .,Urdigte seine Reife, indem er ihm erlaubte, pikante Bildchen zu betrachten, die von Künstlern der Unionka seit Menschengedenken in die berühmten Pateraschen Alben gezeichnet wurden. Im Krieg gab es kaum Kohle zum Heizen, also lernte stud. med. Vesely den meisten Stoff zum ersten Rigorosum unter Herrn Pateras Aufsicht im Union. Und als ihm der k. u. k. Pedell der Fakultät, Herr Slama, in den Index den Stempel drückte, daß er alle Prüfungen des ersten Rigorosums bestanden habe, und der Herr Oberoffizial im Dekanat, Primus Sobotka, ihm zu dem Stempel mit unfreundliche; Miene hinzuschrieb, daß das mit ausgezeichnetem Erfolg geschehen sei, betrachtete selbigen Tags Herr Patera mit väterlicher Rührung den Index und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter: »Jetzt sind Sie schon ein richtiger MUC, ein >medicinae universae candidatusEcho Prahy< wird gerade gelesen, das haben die Herren Schauspieler vom Arena! « Kompliment, zu Diensten, vergelt's Gott, das waren seine Begrüßungs- und Dankesworte. Herr Patern war gleichzeitig eine lebende Chronik, ein komplettes Nachschlagewerk über den Zustand aller seiner Adepten. Kritik an Kunstwerken ließ er jedoch niemals zu. Er war Subskribent der Gedichtbände von Debütanten, kaufte von jungen und älteren Malern, und so begann in der Unionka ebenso wie in Flasners Kopmanka »auf dem Balkan« in der Templova die Karriere von Männern, die später Chefredakteure, Meister der Kultur, Minister wurden oder nur bescheidene anarchistische Debattierer und Bohemeschwärmer blieben und Kaffee oder den damals modischen Absinth tranken. Kurze Zeit nach dem Tode seines großen Gastes Jaroslav Hasek ging der alte Herr Patera in den Ruhestand - seine Augen machten nicht mehr mit - und ließ sich im Rosenstädtchen nieder, in Blatna, um dort ein Leben zu beschließen, das reich an Erinnerungen und prächtigen Taten war. Manch heutiger Nationalkünstler könnte bestätigen, daß auch Herr Patern ein Nationalkünstler besonderer Art war, durch seine Hilfe für manchen, dessen Leben ein mühsamer Weg auf dem Felde der Kultur war. Wenn heute auch keine schwarze Fahne auf der Unionka weht, so doch gewiß 'im Herzen derjenigen, die ihn nicht vergessen werden. Ich glaube, Herr Patera, daß wir unsere Rechnungen richtig beglichen haben, damals und jetzt. Vor allem danke ich Ihnen, daß Sie mir immer auf dezente Weise zu verstehen gaben, wenn sich die kaiserliche Polizei für mich zu interessieren begann. Möge Ihnen Herr Böhm den
• Go go:
Karikatur von Gogo zu einem Marsch von Jaroslav Jezek Text: Polizeipräsident Slechta in dem ewig aktuellen Tanz »Three Pendrek (= Gummiknüppel) Fox«
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schönsten Strauch Blatna-Rosen auf ihr Grab pflanzen. Und begegnen Sie vielleicht im Nirwana Brunner, Kysela, Sauer, Mahen, Neumann, Kacha, Spala, Kremlicka, Zdenka Braunerova, Bozena Benesova, dem Dichter Josef Blaha, Josef Reiner, Arbes, Cech, Dyk, Mikolas Ales, Justitz, Dr. Smeral, Gutfreund oder Franz Kafka und dem Maler Jiranek - dann haben Sie wieder die berühmte Unionka beisammen, die Bedrich Smetana und Antonin Dvofak schon lange vorher durch ihre Anwesenheit geweiht hatten. Bevor die vielen Memoiren und Erinnerungen erscheinen, ist es angebracht, sich mit dem Begriff »Kaffeehausgeneration« und »Kaffeehausliteratur« auseinanderzusetzen. Hämische Kritiker von der »Pfitomnost« und den »Lidove noviny« hefteten diese Bezeichnung einer Gruppe an, die unmittelbar nach ihnen ins kulturelle Leben trat und aus dem Devetsil hervorgegangen war. Es war eine absichtlich schmähende Bezeichnung. Sie war gegen Künstler und nicht gegen Kaffeehäuser gerichtet. Viele junge Leute saßen damals aus vielen wichtigen und manchmal auch peinlichen Gründen mehr in Kaffeehäusern als zu Hause, das ist wahr - aber ich erinnere mich an keine Generation in der Geschichte der modernen Literatur, die nicht ihr Kaffeehaus gehabt hätte. Das ist keine Schande, sondern das gehört zur künstlerischen Tradition.
Emil Artur Longen Freundschaften
Hasek hat nie Sympathien für andere Leute gehabt. Keiner seiner lebenden Zeitgenossen kann sich rühmen, Hasek als treuen und ergebenen Freund gewonnen zu haben, der für die Freundschaft jedes Opfer gebracht, sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Hasek war völlig unabhängig und extrem egoistisch. Seine Freundschaft oder Kameradschaft äußerte sich höchstens in einer Art Kumpanei, je nach Laune und Bedarf. Bei einem Glas Bier und in berauschtem Zustand schloß er gleich mit einem jeden Freundschaft, doch der neue Freund war bestimmt verwundert und zutiefst enttäuscht, wenn er feststellte, daß er am Ende von Hasek angeschmiert und gar grausam bestraft oder seinem Schicksal in schrecklichsten Situationen überlassen wurde, in die Betrunkene bei nächtlichen Schlägereien und Auseinandersetzungen mit der Polizei geraten können. Oft hallten herzzerreißende Schreie hoffnungsloser Verzweiflung zum Himmel: »Laß mich nicht allein, Jarda! Hilf mir, Jarda!« Und der ru·me Freund mußte Haseks zynische Antwort über sich ergehen lassen, die ihn mehr verwundete als die brutalen Prügel, die er gerade bezog. »Solln sie dich erschlagen, du Schwein! Verhaut ihn nur richtig, meine Herrn, ihr macht euch verdient um die Menschheit.« Den verlassenen Kumpan tauschte Hasek blitzschnell gegen einen neuen ein, die nächstgelegene Kneipe kam ihm gerade recht, um dort an irgendeinem Individuum Gefallen zu finden, das nach seiner Mei-
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nung interessant war oder über Eigenschaften verfügte, die bestimmte Ereignisse heraufzubeschwören vermochten. Wir besuchten Zvefinas Gasthaus beim alten Friedhof im Prager Stadtteil Kosife. Der Dichter Opocno hatte gewisse Beziehungen zur Familie Zvefina und drängte seine Kameraden immer wieder, eine feste Stammtischrunde in der Eckkneipe an dem denkwürdigen Gottesacker zu bilden. Nie zuvor ist die ewige Ruhe der Beigesetzten derart gefährdet worden, wie zur Zeit von Haseks Anabasis in Kosife. Hasek liebte ein wildes und bewegtes Leben und war darauf aus, langweilige oder ruhige Unterhaltungen aufzustören, ohne sich weiter um die Früchte seines Tuns zu kümmern. Damals ging auch Lad'a Hajek, Redakteur eines Journals über Tiere und ergebener Freund Haseks, zu den Zverinas. Trotz vieler Enttäuschungen hing er an Hasek und vergötterte ihn als außergewöhnliches Talent. Er sollte durch ihn viel Böses erleiden, vor allem in dessen Tätigkeit als ständiger Redakteur des Tierjournals, zu der er seinem Idol Hasek verholfen hatte. Schwer hat er dafür büßen müssen, denn Hasek untergrub und zersetzte das hohe Ansehen der lehrreichen Zeitschrift und verursachte bei einer Reihe von Dauerabonnenten und Lesern eine schreckliche Panik. Er dachte sich neue Geschöpfe aus und erfand Naturerscheinungen mit der Geschicklichkeit eines göttlichen Schöpfers. Die vertrauensseligen Leser wurden in jeder Nummer durch irgendeine neue Entdeckung Haseks in Erstaunen versetzt, obwohl sie anfangs noch ihrem Blatt, seiner seriösen Tradition wegen, vertrauten und sich lediglich in bezug auf ihre wissenschaftlichen Kenntnisse gekränkt fühlten. Der prähistorische Floh, den Hasek in einem Stück Bernstein entdeckte und »Bernsteinfloh« nannte, erschütterte die Leichtgläubigkeit der Abonnenten gewaltig, und die silbergrauen lebendigen »Werwölfe «, die Hasek zum Kauf anbot und in einem äuße rst ausführlichen wissenschaftlichen Artikel empfahl, lösten eine Revolution aus. Die Abonnenten schickten die Zeitschrift entrüstet zurück und empfahlen der Redaktion, ins Irrenhaus zu ziehen. Hajek war es, der die langjährigen Abonnenten persönlich beruhigen und der Zeitschrift ihren traditionellen Charakter wiedergeben mußte. Das 1
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erforderte eine übermenschliche Leistung und finanzielle Opfer. In jener Zeit glich Hajek einem Schwerkranken, der den Klauen des Todes gerade noch entronnen war. Hajek war Hasek niemals ernsthaft böse, obwohl er ihn verfluchte und schwor, er wolle diesen Nichtsnutz nicht einmal im Jenseits kennen. Doch sobald Hasek auftauchte und Hajek zulächelte, waren alle Schwüre vergessen. Hajek raffte sich zu einigen mild tadelnden Vorwürfen auf, mit denen er Hasek etwas traktierte, doch regelmäßig entschädigte er ihn im gleichen Atemzug, indem er seine Spesen bezahlte oder ihm einen Vorschuß für einen Artikel gab. Das setzte ihn unter seinen Freunden der Lächerlichkeit aus, doch verteidigte er sich mit Tränen in den Augen: »Ich habe Hasek gern, weil er der schlaueste Bursche auf Erden ist, und ich verzeihe ihm alles, denn ich bin mir ganz sicher, er ist mein treuester Freund. Er treibt seine Schändlichkeiten nur, weil er so oft betrunken ist, glaubt mir nur, er hat dabei gar nichts Böses im Sinn, denn im Herzen ist er ein überaus guter Mensch. Ich habe schon mehrfach gesehen, wie Hasek geweint und seine nichtswürdigen Streiche bereut hat, durch die er mir Schaden zufügte. Und merkt euch eines, nur ein guter Mensch ist zu Tränen fähig.« Hajek, von seinen freundschaftlichen Gefühlen geblendet, ahnte nicht, daß Hasek Krokodilstränen weinte, um seine verlorene Gunst wiederzugewinn,en, um die Freundschaft und ihren materiellen Nutzen zu sichern. Opocno, der zu denen gehörte, die über Hajeks Güte spotteten, antwortete bissig: »Du kennst Hasek nicht und wirst schon noch zu der Überzeugung kommen, daß er ein Taugenichts ist.« Dabei mochte Opocno Hasek und hielt es nie lange ohne ihn aus. Auch er suchte Hasek in Prag, wenn der sich lange nicht gezeigt hatte, und glaubte, daß tief verborgen in Haseks Innerem freundschaftliche Gefühle schlummerten. Opocno wappnete seine lyrische Seele stets mit Zynismus und mißtrauischer Distanziertheit, eigentlich aber war er zartfühlend und sentimental wie ein unverdorbenes Mädchen in der Jugendblüte. In manchen Nächten wurde Opocnos weiches Gemüt trotz der rauhen Schale offenkundig - und dann ließ Opocno seinem 59
sellschaft.« Die letzten Worte Opocnos klangen geringschätzig und waren voller Verachtung. Der slowenische Ingenieur grinste und rief Hasek zu: »Jarda, wir haben Geld und zu trinken nach Belieben.« Häjek sagte würdevoll: »Ich habe Hasek eingeladen, er ist mit mir gekommen und wird sich dort niedersetzen, wo ich Platz nehme. « Die beiden Freunde führten Jarda an die frische Luft. Nach einer
Weile merkte ich, daß Hasek sich in der Gesellschaft Häjeks und Opocnos, der wütend auf die Slowenen war, sie fortwährend beschimpfte und ihnen Prügel androhte, nicht wohl fühlte. Hasek schielte ab und zu in das Lokal, aus dem übermütig lärmende Fröhlichkeit und Gesang drangen, und redete auf Opocno ein, um ihn noch mehr in Rage zu bringen: »Ich würde mir so eine Provokation nicht gefallen lassen. Du bist hier Stammgast und könntest bei den Zvefinas einheiraten. So etwas muß doch respektiert werden. Diese Einwanderer haben überhaupt keine Ahnung, was hier Rechte und Pflichten der Gäste sind. Sie führen sich noch schlimmer auf als zu Hause. Mich würde es nicht wundern, wenn jetzt ein anständiger Mann aufsteht und dieses Gesindel aus dem Gasthaus prügelt. Leider findet man heutzutage keine so furchtlosen Männer mehr, die es fertigbringen, ihre Heimat von zweifelhaftem Pöbel zu säubern.« Ein heftiger Platzregen trieb uns ins Lokal. Die Slowenen nahmen Hasek sofort in die Mitte, und der erwies sich als geschickter Diplomat. Er nötigte den slowenischen Ingenieur und Opocno, sich zu vertragen: »Ihr sollt euch nicht gegenseitig die Augen auskratzen. Slawische Brüder seid ihr, also spart eure Kräfte auf gegen den gemeinsamen Feind, der die Freiheit beider Brudervölker im Keime erstickt.« Mit diesen Worten begeisterte er die Anwesenden, die daraufhin ein patriotisches Lied anstimmten. Dann setzten wir uns alle um einen großen Tisch. Haseks Sympathien für die Slowenen wuchsen von Stunde zu Stunde, denn sie überhäuften ihn mit Gunstbeweisen und schenkten ihm dauernd ein. Nur schwer ertrug Opocno Haseks Koketterie mit den fremden Leuten, die er für Eindringlinge hielt, und machte Hasek Vorwürfe: ' »Unterhalte dich auch mal mit uns, Jarda. « »Mit dir habe ich schon mehr als genug geredet«, fertigte Hasek ihn ab. »Und du kannst doch nichts dagegen einwenden, daß ich mich mit den Angehörigen eines verwandten Volkes verbrüdere.«
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Schmerz freien Lauf, wo immer er sich gerade befand, ob in den Kneipen U Hvezdicek oder U Mräzu. Mit Hasek hatte Opocno viele sensationelle Erlebnisse, er verließ sich ganz auf ihn, denn Hasek war sehr mutig und verstand es, sich zu schlagen wie ein tapferer Sohn der Meere, der nach langjähriger Seefahrt mit überschüssiger Kraft auf das Festland zurückgekehrt ist. Doch machte Opocno auch traurige Erfahrungen mit Hasek und äußerte deshalb öffentlich lautstark die schmählichsten Zweifel an ihm, er zweifelte aber nicht an Haseks Fähigkeit zur Freundschaft, denn der war ihm in vielen gemeinsamen Kämpfen und im bitteren Leid der Hundstage ein treuer Kamerad gewesen. An einem schönen Sommerabend wurde ich Zeuge einer stürmischen Begebenheit im Gasthaus an der Friedhofsmauer in Kosife. Bei den Zvefinas ging es äußerst lebhaft zu, was an etlichen Slowenen lag, die ein gewisser Ingenieur, der eine ähnliche Beziehung wie Opocno zu den Töchtern Zvefinas unterhielt, als seine Landsleute mitgebracht hatte. Opocno und ich saßen draußen vor dem Gasthaus und blickten auf die Hügel von Kosire und auf die graue Friedhofsmauer. Ich stellte fest, daß mein Freund äußerst beunruhigt war, denn die Slowenen unterhielten sich auf ihre Weise drinnen im Gasthaus und wußten die Aufmerksamkeit der Wirtstöchter auf sich zu ziehen. Vergeblich bemühte ich mich, Opocno abzulenken. Der Dichter hörte nur die begeisterten Ausrufe der Frauen, die aus dem offenen Lokal in die abendliche Stille drangen, und wurde immer unruhiger. Da vernahmen wir Haseks Stimme im Lokal. Opocno sprang auf und stürzte auf Hasek zu, der mit Häjek erschienen war. »Ich hoffe, du setzt dich zu uns raus und bleibst nicht in dieser Ge-
Opocno schäumte vor Wut. Er mußte mit ansehen, wie der sonnengebräunte Ingenieur bei der ältesten Wirtstochter an Boden gewann, und geriet dermaßen in Rage, daß sich am Tisch eine starke Spannung breitmachte. Der Slowene war ein temperamentvoller junger Mann, der durch Wein noch mutiger wurde. Er verschonte den verärgerten Dichter nicht mit spöttischen Bemerkungen, die den Rivalen in den Augen der Erwählten erniedrigten. Opocno erfaßte mit erfahrenem Blick die Situation und flüsterte mir zu : »Mit llasek und dir treiben wir diese Schmarotzer wie die Mücken aus dem Gasthaus. Auf Häjek kann man sich nicht besonders verlassen. Er kennt sich mit so etwas nicht aus und achtet zu sehr auf sein Äußeres. Wir legen los, sobald sich ein geeigneter Moment bietet.« Und der bot sich bald. Der Ingenieu r lud Hasek ein, bei ihm zu übernachten. Er wohnte in Kofüe, ganz in der Nähe. Ha sek willigte begeistert ein. Opocno war darüber so wütend, daß er im Kommandoton befahl : »Du kommst mit uns nach Prag, Jarda, oder wir sprechen uns noch. Du wirst doch nicht bei einem schlafen, der sich wie eine Laus bei uns eingenistet hat.« »Du hast mir überhaupt nichts zu befehlen«, schrie Hasek mit dröhnender Stimme. »Außerdem bist du verpflichtet, dem Herrn Ingenieur für die zugefügte Beleidigung Satisfaktion zu geben, denn ich trinke auf seine Rechnung!« lm u war der Ingenieur bei dem Dichter und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Opocno bekam einen Stock zu fassen und zerdrosch ihn auf dem Schädel seines Rivalen. Das war das Signal zum Ausbruch der Prügelei. Wir sprangen auf und nahmen eine drohende Haltung an, außer l [asek, dem Häjek zuschrie: »Steh auf, Jarda, und hilf uns. Wir werden doch einen alten Freund nicht im Stich lassen. Rasch, Jarda!« llasek nal1m schnell einen Schluck und lehnte jegliches Bündnis ab: »leb habe zu trinken, und auf den alten Freund scheiß ich. Solln sie ihn doch windelweich schlagen, das rührt mich nicht, und zum Begräbnis werd ich auch nicht kommen.«
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Opocno wehrte einige Angriffe ab und rief in höchster Bedrängnis: »Mein Gott, Jarda, hilf uns doch! « »Wie schon gesagt, sollen sie dich doch zum Krüppel schlagen, damit du schmählich krepierst. « Ich eilte Opocno zu Hilfe. Auch Häjek legte Hand an, wurde aber gleich von einigen Slowenen geohrfeigt wie eine Trainingspuppe beim Boxen. Der Wirt und der Kellner griffen ein, und Opocno und ich mußten Häjek, der schon zuvor hinausgeworfen worden war, nach draußen auf den Gehsteig vor dem Friedhof folgen. Unsere Sachen wurden uns nachgereicht, dann ließ der Wirt die eisernen Gitter herab. Da standen wir nun einsam und allein. Ich mußte laut lachen bei dem Gedanken, daß Hasek mit unseren Feinden, die uns besiegt hatten, fröhlich weitertrank und diese wahrscheinlich auch noch lobte: »Gut habt ihr das gemacht. Opocno hat nichts anderes als Prügel verdient. « Auf dem Gehsteig saß en zwei verprügelte Gestalten und stöhnten laut. Opocno fing an zu weinen: »Nie hätte ich geglaubt, daß Hasek seinen treuesten Freund für ein Glas Bier verrät. « Hajek wehklagte wie ein Krieger, den man aus dem Hinterhalt angegriffen hatte: »Ohrfeigen habe ich bekommen, wie ein kleiner Junge, mir muß das passieren, wo ich doch Reserveoffizier bin. Nein, diese Schande überlebe ich nicht. « Er zerschlug seinen schönen Spazierstock auf der Erde und brüllte mit furchtbarer Stimme: »Das alles ist die Schuld dieses verräterischen Freundes, des Verräters Hasek, der uns wie Judas verkauft hat. « Ein Polizist erschien. »Verhalten Sie sich leiser, oder ich bringe Sie auf die Wache.« Opocno stand auf, wischte sich in seiner gewohnten Art übers Gesicht und seufzte: »Wir haben über Hasek, diesen Schuft, den Stab gebrochen. « ' Gegen seine Kumpane bei nächtlichen Streifzügen war Hasek oft sehr rücksichtslos, und einige bestrafte er regelrecht, wenn ihm ihr Charakter und ihr Verhalten mißfielen. Der Maler Pepik B. erlebte mit Hasek
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solch eine kritische Nacht. Er hatte einige seiner gefälligen Bilder günstig verkauft und gab das Geld ebenso leicht, wie er dazu gekommen war, in den Nachtlokalen wieder aus. Irgendwo schloß sich der angeheiterte Maler Hasek an und ließ nicht mehr von ihm. Er hielt ihn frei und nötigte ihn zu zechen. Er spielte Haseks Mäzen, und in jedem Lokal, in das sie kamen, bot er seinem Gast öffentlich Geld an. Hasek wehrte sich nicht. Er nahm den aufgenötigten Betrag ruhig an und borgte sich im Verlaufe der gemeinsam verbrachten Zeit noch einiges dazu. Als der Morgen kam, war der Maler B. arm wie eine Kirchenmaus und Hasek bereichert um die Gaben des Mäzens. Mit Bedauern stellte der verschwenderische Maler fest, daß seine Kasse völlig leer war. Müde und ernüchtert sehnte er sich nach dem ferngelegenen Heim, doch verfügte er nicht einmal mehr über das nötige Kleingeld für die Straßenbahn. So wandte er sich an Hasek, überzeugt, daß dieser sich seinem freigebigen Gastgeber verpflichtet fühlte: »Hasek, du mußt mir die Droschke oder die Straßenbahn bezahlen, daß ich bequem nach Hause komme. Und vorher spendier mir noch einen Kaffee.« Hasek sah dem Maler starr ins Gesicht, rekelte sich gemächlich, wobei er spöttisch mit den Augen zwinkerte, und wies mit der Hand gebieterisch zum Ausgang, wie ein plötzlicher Orkan dröhnte seine Stimme durch das ganze Lokal: »Hinaus mit dir, du Taugenichts! Gepraßt hast du die ganze Nacht, als wärst du ein Millionär, also ziehst du jetzt schön ohne Kaffee nach Hause, und zwar zu Fuß, auch wenn du einen halben Tag bis Vrsovice torkelst. Marsch! Und komm mir nicht mehr unter die Augen!« Der überraschte Maler war außerstande, Widerstand zu leisten. Mühsam stand er auf und seufzte nur noch vorwurfsvoll: »Du bringst es fertig, mir das anzutun?« Hasek stfeß ihn weg und schrie: »Herr Ober, setzen Sie diesen langhaarigen Burschen an die frische Luft. Er hat keinen Heller und belästigt die Gäste.« Der Maler taumelte so schnell wie möglich nach draußen, in die Sicherheit der gleichgültigen Straße.
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Hasek suchte sich anschließend einen Ausschank gegenüber einem Neubau und bewirtete dort den ganzen Tag über die Maurer mit des Malers Geld. Niemand von Haseks Freunden und Kumpanen konnte sich die Ursache für dessen treuloses Verhalten erklären. Zumeist waren sich alle darin einig, daß es Hasek an Charakter fehle, daß er vor Boshaftigkeit strotze. Hasek lächelte nur, bekam er derlei zu Ohren, und stimmte bereitwillig zu: »Ja, Freunde, ich bin ein charakterloser Lump und eurer nicht würdig.« In seinen unruhigen Blicken flackerte Spott, wenn sich seine Kumpane damit abfanden. Genauso verhielt er sich, wenn seine Arbeiten auf Ablehnung stießen. Nie verteidigte er sein literarisches Schaffen, und stets stimmte er dem Urteil der anderen zu, wobei er sich selbst noch herabsetzte: »Ich schreibe blödsinnigen Mist ohne jeglichen literarischen Wert. Was könnt ihr von mir anderes verlangen? Im übrigen weiß ja jeder, wie schrecklich ungern ich schreibe.«
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Josef Lada Wie ich sie kannte
Das Cafe Union Von allen Prager Cafes, die ich bis 1918 mehrmals am Tag abgraste, sagte mir das Cafe Union am meisten zu. Dort trafen sich Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Schauspieler und Musiker. In der Idylle der kleinen Zimmerehen saß man angenehm beisammen und debattierte. Ich besuchte dieses Cafe bereits, als es noch im Besitz von Herrn Davidek war. Er war schon ein alter Herr, ein herzensguter Mensch. Das Künstlervölkchen sündigte oft im Hinblick auf seine Gutmütigkeit, die ihn selbst dann nicht verließ, als sogar der Geduldsfaden des Oberkellners Patera riß. Der alte Herr Davidek liebte es ungemein, ein Grammophon abzuspielen. Er hatte für sich eine kleine Kammer eingerichtet, die zwischen der Küche und den Gasträumen lag; dort heraus ragte der große Schalltrichter des Grammophons. Diese Kammer war Lagerraum für die Platten und zugleich Vorführraum für die Musik. Das Konzert begann regelmäßig um neun Uhr abends. Eingeleitet wurde es immer mit einer kleinen Zeremonie. Wenn der Pikkolo am Abend im Cafe die Lampen anzündete, mußte er darauf achten, nicht auch jene über dem Schalltrichter anzuzünden. Das bedeutete nämlich den Beginn des Konzerts. Punkt neun Uhr kam Herr Davidek aus der Küche, stellte einen Stuhl unter die Lampe, stieg mit Mühe hinauf und zündete sie eigenhändig an. Während er wieder herabstieg, musterte er unauffällig die im Raum anwesenden Gäste und begab sich dann gewichtigen Schrittes in die Kammer. Jeder von uns hatte seinen Lieblingsmarsch,
und Herr Davidek spielte als erste Nummer immer einen Marsch zu Ehren eines von ihm erwählten Gastes. Dem solcherart Geehrten oblag dann jedoch eine gewisse gesellschaftliche Pflicht. Sobald er die ersten Takte seines Marsches vernahm und erkannte, daß diese Ehre ihm galt, mußte er gleich alles stehen und liegen lassen, sich erheben, mit energischen Schritten zu Herrn Davidek in die Kammer gehen und sich bei ihm für die Ehre bedanken. Der erwartete den geehrten Gast bereits zeremoniell. Nach der kommißinäßigen Dankesbezeugung reichte er ihm die Hand, erst danach durfte der Gast Ruhestellung einnehmen, und es kam zu einem kurzen freundschaftlichen Gespräch. An seinen Platz ging der Gast bereits in gewöhnlichem Gang zurück. In dieser Zeremonie lag etwas Liebenswürdiges aus alten, patriarchalischen Zeiten. Leider gab es unter uns einige Rebellen, die dabei übertrieben. Der Maler Frantisek K., sonst ein durchaus ruhiger Mensch, umgab sich vor dem Konzert immer absichtlich mit einer Menge leerer Stühle, die er, sobald die ersten Takte des schneidigen Radetzkymarsches erklan-
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Der Zeichner Josef Lada, wie er sich selbst sah
gen, energisch zur Seite stieß; dann marschierte er im Paradeschritt zur Danksagung. Uns, den Stammgästen, machte das nichts aus, aber wenn Gäste zum erstenmal hier waren, fielen sie gewöhnlich vor Schreck fast vom Stuhl, wenn die leeren Stühle mit gewaltigem Krach über den Fußboden schlitterten. Der im Paradeschritt marschierende Herr war für sie gewiß ein Mensch, den plötzlich der Wahnsinn befallen hatte. Wenn der Oberkellner, Herr Patera, einige alte Herren durch kalte Umschläge und einen Kognak wieder zu sich bringen mußte, bat er Herrn Frantisek K. stets höflich um eine ruhigere Durchführung der Dankeszeremonie. Überhaupt erntete Herr Davidek für seine Aufmerksamkeit nicht viel Dank. Es gab nämlich auch einige Halunken, die vor dem Konzert Brötchen, Pfannkuchen oder zusammengeknülltes Papier in den Schalltrichter steckten, und der Musikvortrag fiel dann entsprechend aus. Deshalb riß Herr Davidek immer vor Konzertbeginn ein Streichholz an und leuchtete in den Schalltrichter. Dann zog er die hineingeworfenen Gegenstände mit einem Haken heraus. Nun gaben die Halunken einige Tage Ruhe. Aber eines Abends, als er wieder das Grammophon anstellte, waren anstatt eines schneidigen Marsches nur näselnde Töne zu vernehmen. Herr Davidek leuchtete einige Male in den Trichter hinein, fand dort aber nichts Verdächtiges. Deshalb vermutete er eine andere Ursache für die mangelhafte Reproduktion. Er setzte eine neue Nadel ein, zog das Grammophon stärker auf, richtete damit aber nichts aus. Wieder wimmerte es. Schließlich kam ihm der Gedanke, den Trichter abzuschrauben - und da fand er es. In der engsten Stelle des Trichters steckte ein runder dunkelbrauner Mohrenkopf, den Herr Davidek wegen der schokoladenbraunen Farbe nicht hatte sehen können. Ob dieses Streiches wurde der gutmütige alte Herr ernstlich böse. Er gab mehrere Tage kein Konzert, kam nicht, uns zu begrüß~n, und legte die Stirn in Falten, wenn wir ihm in einem der anderen Räume begegneten. Erst als sich eine Deputation von drei ausgewählten Gästen aus unserer Gesellschaft bei ihm ordnungsgemäß entschuldigte und ihm versicherte, wir alle hätten Verlangen nach der Musik, gab er wieder seine abendlichen Konzerte.
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Das Künstlervölkchen fand danach eine andere Unterhaltung. Ein Spaßvogel tauschte einmal zu Mittag, als das Cafe nahezu leer war, alle gewöhnlichen Sfreichhölzer gegen Knallhölzchen aus. An jenem Tag ging es im Cafe Union schlimmer zu als auf einem Schießplatz. Wenn die Nachmittagsgäste rauchen wollten und die auf den Tischen stehenden Streichhölzer anrissen, ertönten plötzlich Explosionen in dem stillen Cafe. Der Herr Ober Patera gab dem ersten Gast in etwas scharfem Ton den Rat, derartige Scherze aufzusparen, bis er am Abend in seinem Lieblingswirtshaus mit dem vollgespuckten Fußboden säße, aber als es auch den Gästen an den anderen Tischen so erging, war er, wie man so sagt, gleich im Bilde. Er erteilte dem Pikkolo den Auftrag, schnellstens die Streichhölzer auszuwechseln, und damit war die Komödie zu Ende. Aber sooft der Herr Ober nachmittags und abends durch unseren Raum ging, machte er seinem Herzen mit den Worten Luft: »Das sind Gäste, das sind Gäste!« Bald danach war Silvester. Daß man an diesem Tag nicht nur Wasser trinkt, weiß jedes kleine Kind, weil manches von ihnen mit seinem Vater »bis zum nächsten Jahr« zusammensitzen darf. In der Silvesternacht läßt auch die Polizei einen Scherz durchgehen, aber was sich einer am Neujahrsmorgen im Cafe Union leistete, erzürnte den Herrn Ober derart, daß er am Nachmittag des nächsten Tages, als er wie eine Lawine in unseren Raum stürzte, mit aller Entschiedenheit erklärte, solche Gäste könnten das Cafe Union ruhig von der Liste der von ihnen besuchten Lokale streichen. Zum Teufel, was war eigentlich geschehen? Nun - im großen und ganzen nichts. Nur daß zu Neujahr alle Gäste, die an diesem Tag zum Kaffee einen Pfannkuchen bestellten, darin die übliche Marmelade vermißten; als Ersatz dafür fanden sie in den Pfannkuchen kleine Zettelchen mit folgendem Text: »Ein glückliches und frohes neues Jahr wünscht hochachtungsvoll das ergebene Personal.« Am nächsten Tag betrachtete der Herr Ober uns alle so forschend, als suchte er an unseren Nasen die Spuren der Marmelade. Und als er uns danach noch die oben angeführte Bemerkung an den Kopf warf, entschlossen wir uns, aJle wie ein Mann Schlag neun Uhr demonstrativ
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das Cafe zu verlassen. Und so geschah es auch. Als dann der Kellner in unseren Raum kam, um die Tische abzuwischen, sah er zu seinem nicht geringen Entsetzen, daß aus diesem Raum auch alle Stühle verschwunden waren. Hals über Kopf eilte er zum Herrn Ober, ihm diese Schreckensbotschaft zu überbringen. Danach hatte das ganze Kaffeehauspersonal eine interessante Aufgabe : die auf so geheimnisvolle Weise verschwundenen Stühle zu suchen. Der Herr Ober war zwar an starken Tobak gewöhnt, aber das war selbst für ihn eine unerträgliche Prise. Man suchte in allen benachbarten Räumen, aber von den Stühlen war nicht die geringste Spur zu finden. Dem Herrn Ober soll der kalte Schweiß über den Rücken gelaufen sein, als ihm klar wurde, daß wir die Stühle unmöglich aus dem Cafe hinausgetragen haben konnten: Wenn wir sie an der Küche vorbeigetragen hätten, müßte es das Küchenpersonal gesehen haben, wären wir aber mit den Stühlen durch die anderen Räumen gegangen, hätte er selbst es gewiß bemerken müssen. Einen anderen Ausgang aber hatte das Cafe nicht. In seiner Erregung suchte das Personal die Stühle auch im Ofen, in den Schränken und den Spucknäpfen, und schließlich begann man sogar die Gäste zu durchsuchen, ob wir ihnen die Stühle nicht böswilligerweise in die Taschen gesteckt hätten. Das ganze Cafe war auf den Beinen. Ein Gast meinte, wir hätten die Stühle aus den Fenstern auf die Straße geworfen, aber diesen Gedanken verwarf der Herr Ober sofort als Unsinn. Stühle auf die Straße werfen, wo es von Menschen wimmelte? Das hätten nur Verrückte tun können. Trotzdem trat er unwillkürlich ans Fenster und blickte hinaus. Zwar sah er auf dem Pflaster weder zu Boden geschlagene Menschen noch Stühle, dafür aber auf dem gegenüberliegenden Gehsteig eine dichtgedrängte Menge, die gespannt auf die Fenster des Cafes Union schaute und sich dabei vor Lachen ausschüttete. Der Herr Ober trat rasch vom Fenster zurück, weil ihm der Gedanke durch den Kopf schoß, ganz Prag wisse bereits, daß im Cafe Union die Stühle verschwunden waren, aber dann hatte er eine Eingebung. Mit einem Ruck öffnete er das Fenster. Alle Stühle steckten draußen einer neben dem andern - hinter dem langen Holzschild mit der Au[schrift »Cafe Union«.
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Das Cafe Union konnte sich nicht einer prunkvoll ausgestatteten Halle rühmen, aber es verfügte über etwa zehn kleinere Räume. Die Gesellschaft der Maler, Bildhauer und Schriftsteller saß am liebsten im hintersten Raum, denn dort war man irgendwie außer Schußweite; kein Fremder verirrte sich dorthin. Auch der alte Ober, der gutmütige Herr Patern, war froh, daß wir diesen Raum gewählt hatten, denn seiner Meinung nach waren wir nicht immer eine Zierde des Cafes. Möglicherweise hatte er für diese Meinung zahlreiche Gründe, obwohl er ein ungemein geduldiger Mensch war, der gegenüber vielen Torheiten und Aventüren des ausgelassenen Künstlervölkchens Nachsicht übte. Am meisten erboste es ihn, wenn sich der Schriftsteller Z. K., unser Freund, auf dem prall gestopften Kanapee von seinen nächtlichen Streifzügen erholte und schlief, wobei er wie ein alter Dachs schnarchte; manchmal erlaubte er sich sogar, den Ober anzuschreien, wenn ihn der durch das lautere Anbieten von Zeitschriften im Schlaf störte.
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Melzerova kavarna
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UNION
Per I f t n.
Nejstarli renomovanA kavarna, dostavenicko clitnf spolecnosti i cizinc6, velky
vybir tu- i cizoiemskych c:asopisG.
= Otevreno od 6 hod. räno do 2 hod. , noci. / VeJky hraci 1troj.
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Union-Inserat aus einem Blatt um die Jahrhundertwende
Die Gespräche, die in diesem versteckten Winkel geführt wurden, waren dazu angetan, das seelische Gleichgewicht zu gefährden, und deshalb mußte dort auch öfter das Personal gewechselt werden, damit es keine Schädigung des Verstandes erfuhr. Eine Zeitlang spielten wir im Cafe Union leidenschaftlich Schach. Es wurde regulär gespielt, nach den strengsten Regeln, denn unter uns gab es auch einige starke Spieler, Mitglieder von Schach~u~s. Aber nach einiger Zeit artete das Spiel durch Verschulden der kiebitzenden Gäste zu einem ausgelassenen Ulk aus. Kaum hatte man die Figuren aufgestellt, drängten einen die Kiebitze, lieber aufzuhören: »Pack deine Siebensachen, es sieht schon so aus, als ob du verlierst! Es ist völlig sinnlos, daß du die Figuren über die Wachsleinwand jagst!« Unter solchen Umständen konnten nur noch Menschen mit starken Nerven spielen, aber die Kiebitze zogen auch die bald auf. Ich erinnere mich sehr gut an den letzten Wettkampf der beiden stärksten Spieler, nach dem es lange Zeit keiner mehr wagte, die Schachfiguren auch nur anzurühren. Dieses letzte Spiel dauerte ungemein lange, obwohl eine sogenannte »Schinderpartie« gespielt wurde, das heißt, man luchste dem Gegner auf Teufel komm raus die Figuren ab. Beide Spieler waren schon sehr mitgenommen, der Schweiß rann ihnen von der Stirn, aber keiner wollte aufgeben und das Spiel für beendet erklären. An diesem Tag war bei den Kiebitzen eine ungewöhnliche Spannung festzustellen; alle fieberten, wann und wie das Spiel enden würde. Selbst der Herr Ober blieb einen Augenblick lang stehen und beobachtete lächelnd den Spielverlauf sowie das verdächtige Verhalten der Kiebitze. Schließlich war das Spiel zu Ende, jedoch weder durch ein Schachmatt noch durch ein Patt oder Remis, sondern es endete mit dem gotteslästerlichen Fluch eines Spielers; »Himmel, Herrgott, verdammt nochmal! Was ist denn hier los, zum Teufel? Es ist zum Verrücktwerdei'i! Ich erinnere mich doch ganz genau, daß ich dir bereits beide Springer genommen habe, und jetzt stehen noch vier auf dem Brett! « Ein homerisches Gelächter erfüllte das stille Cafe, dann klärte sich alles auf. Sie hätten bis in alle Ewigkeit spielen können, da sie im Eifer des Spiels nicht bemerkten, daß ihnen die Kiebitze die geschlage-
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nen Springer unter der Hand unauffällig wieder aufbauten. Und nicht nur Figuren aus diesem Spiel, sondern auch überzählige, die aus anderen, äußerlich gleichen Garnituren stammten. Ein solches Spiel hätte selbst ein Alechin nicht gewinnen können! Danach hatten die Schachbretter einige Tage Ruhe, aber aus Mangel an anderer Unterhaltung kehrten wir schließlich wieder dahin zurück. Diesen Entschluß förderte auch das Mäzenatentum des Kaffeehausbesitzers, der sehr wohl wußte, daß unter uns genügend Gäste mit halbleerer Tasche saßen, deren Budget selbst von dem geringfügigen Betrag für das Ausleihen des Schachspiels durcheinandergebracht wurde. Deshalb ließ er uns sagen, wir brauchten in Zukunft für das Ausleihen der Schachbretter nichts mehr zu bezahlen. Dafür waren wir ihm alle sehr dankbar, denn das Schachspiel war schließlich das einzige, was wir uns· bestellen konnten, und statt etwas zu essen, pfiffen wir uns ems. Aber das Mäzenatentum des Herrn Kaffeehausbesitzers fand ein jähes Ende. Eines Tages ließ er uns durch den nur halbmetergroßen Pikkolo mitteilen, das unentgeltliche Benutzen der Schachspiele sei ohne Angabe von Gründen widerrufen, wir müßten wieder dafür bezahlen. Diese Nachricht löste natürlich helle Empörung aus. Es wurden so flammende Reden gehalten, daß die alten Herren in den Nebenräumen rasch ihre Tische verließen, um sich in Sicherheit zu bringen. Als die heftigste Erregung ein wenig abgeebbt war, wurde aus den Reihen der geschätztesten Besucher eine Art Schutzkomitee gebildet, das sich in einer langen und an erregten Momenten reichen Sitzung darauf einigte, dem Herrn Kaffeehausbesitzer einen geharnischten Protestbrief zu schicken. Bei dem Überangebot an Literaten in unserem Kreis konnte dieser Protest sogar in Versen abgefaßt und des erhabeneren Eindrucks wegen mit einigen Zeichnungen versehen werden. An den ganzen Inhalt kann ich mich nicht mehr erinnern, aber wenigstens der Anfang ist mir im Gedächtnis geblieben: Wir wolln nicht im Kaffeehaus zechen, um auch noch für das Schach zu blechen! 73
Und dann noch der drohende Schluß:
, ... ~h mtlft, ~~·
Eher kriegt der Pikkolo was auf die Weste. Hochachtungsvoll - die unzufriedenen Gäste. Unser Anblick, als wir die Protestnote zusammenzimmerten, muß großartig gewesen sein. Selbst der Herr Ober sagte, wir hätten wie die Kosaken ausgesehen, als sie - wie es das bekannte Bild von Ilja Repin zeigt - ihren Brief an den Sultan Suleiman schrieben. Dann trug der Pikkolo die Protestnote wie ein Heiligtum zum Herrn Kaffeehausbesitzer. Aber bald danach brachte er sie uns - erschrokken und mit unnatürlich geröteten Wangen - wieder zurück und berichtete traurig, der Herr Chef könne auf solchen Blödsinn keine Rücksicht nehmen. Gut, sagten wir kühl, wir werden ja sehen, wer zuerst kapituliert, wir oder der Herr Kaffeehausbesitzer! Am nächsten Tag wollten wir es noch einmal im guten versuchen. Als hätten wir die Anweisung des Herrn Kaffeehausbesitzers vergessen, baten wir wieder ruhig um kostenlose Herausgabe des Schachspiels. Aber der Pikkolo lächelte uns nur blöde an. Deshalb fand eine weitere Beratung statt, deren Ergebnis sich gleich am folgenden Tag zeigte: Wer zu Hause ein Schachspiel besaß, brachte es ins Cafe mit; einige Dickschädel kauften sogar neue Schachbretter. An diesem Tag wurde ostentativ an allen Tischen gespielt, und gelärmt wurde wie auf einem Pferdemarkt. Als der Kellner kam und nach unseren Wünschen fragte, erhielt er von allen die gleiche Antwort: »Nichts! Ich habe meinen Kaffee schon zu Hause getrunken.« Ihm kam das lächerlich vor, doch der Herr Ober lief in den Räumen umher wie ein gereizter Löwe im Käfig. Er rollte wütend die Augen und machte' seinem Herzen nur mit den Worten Luft: »Das sind Gäste, das sind Gäste! « Im Gang vor der Küche stieß Herr Patera auf Jaroslav Hasek, der einige Tage nicht im Cafe gewesen war. Deshalb nahm der Herr Ober an Hasek wisse nichts von der Verschwörung und werde sicherlich '
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I
V. H. Brunner, wie er sich selbst sah
etwas bestellen. So sollte Hasek unbewußt die Situation retten. Aber auf die höfliche Frage des Herrn Ober lächelte Hasek nur verlegen und antwortete mit der unschuldigsten Miene: »Ich brauche nichts, mein lieber Herr Patera! Ich war schon in zwei anderen Cafes und hatte dort zweimal Kaffee mit Schlagsahne und sieben Schnecken mit Pflaumenmus!« Angeblich mußte sich der Herr Ober daraufhin selbst einen Kognak genehmigen, doch bald bekamen wir seinen Ärger zu spüren. Er brachte uns keine Zeitungen mehr und beantwortete nicht mehr unsere Frage, wie es denn dem Großvater seiner Schwägerin gehe und 75
ob sein Kanarienvogel noch Ischias habe. Doch das war alles, was er gegen uns unternahm, denn Scherze wie diese gehörten im Cafe Union schon irgendwie zum Betrieb. Am nächsten Tag kamen zu den eigenen Schachbrettern noch eigene Kannen und Flaschen mit Kaffee hinzu, die wir - wie die Tagelöhner auf den Bau - ins Cafe mitbrachten. Der Herr Ober ließ sich daraufhin bei uns überhaupt nicht mehr sehen, nachdem ihn der Pikkolo offensichtlich informiert hatte; es war nur zu hören, wie er im Nebenraum seine Wut an den unschuldigen Gästen ausließ. Wir hatten kein Verlangen nach ihm und fühlten uns den ganzen Nachmittag über sehr wohl. Als wir aber gegen Abend um Licht baten, zeigte sich, daß keine einzige Lampe funktionierte. Wir nahmen das mit der Ruhe von Menschen, die auf alles gefaßt sind, zur Kenntnis und berieten rasch, wie wir zu Licht kommen könnten. Bald danach brannten Ke1'zen auf allen Tischen, und an den Fensterriegel hängten wir sogar eine Nachtwächterlaterne, damit die Spaziergänger auf der Promenade die Möglichkeit haben sollten, sich eine Vorstellung von den Zustä den im Cafe Union zu machen. Das half. Die Laterne hing kaum zwanzig Minuten am Fenster, da kam der Sohn des Kaffeehausbesitzers zu uns und überbrachte die freudige Nachricht, wir könnten die Schachspiele wieder kostenlos benutzen. Als persönliche Bemerkung fügte er hinzu: »Dafür aber, geschätzte Gäste, dürfen wir wohl erwarten, daß Sie wieder etwas verzehren!« Wir begrüßten diese Nachricht mit Hallo und riefen ein ums andere Mal: »Hurra, es lebe der verehrte Herr Kaffeehausbesitzer! « In dieses Geschrei mischte sich die laute Bestellung von schwarzem Kaffee mit Rum, Milchkaffee »o hne «, Zigaretten und Wein. Kurz und gut, es ging ausgesprochen lebhaft zu. So war es kein Wunder, daß der Lärm bis zu den Ohren von Herrn Patera drang, der angeblich befürchtet hatte, wir könnten den Schrank mit den abgelegten Zeitungen angezündet haben, damit mehr Licht im Raum sei. Der gutmütige alte Mann war plötzlich so erregt, daß er, was
er gerade in der Hand hielt, zu Boden fallen ließ. Es war eine große Pappschachtel. Offenbar hatte der Herr Ober vergessen, daß es seine eigene Sammlung von Zwickern und Brillen aller möglichen Arten und Dioptrien war, die er an ältere Gäste verborgte, wenn sie ihre Brille zu Hause vergessen hatten. Als er sich dessen bewußt wurde, war es freilich schon zu spät. Er ließ also alles stehen und liegen und trollte sich, um seinen Zorn erst einmal gründlich abzukühlen. Bei uns aber brannte wieder das Licht, und ein Kellner servierte schwarzen und weißen Kaffee, ein anderer bot Zigaretten an, der Pikkolo brachte frisches Wasser, und bevor der ergrimmte Herr Ober wieder den Raum betrat, blühte hier das Geschäft bereits wie auf einem Basar. Dem Herrn Ober blieb ob dieser unverhofften Veränderung der Mund sperrangelweit offen. Ja, im alten Cafe Union gab es schöne Augenblicke. Dort entlud sich unser jugendlicher Sinn in leidenschaftlichen Debatten und Scherzen, in Scherzen, die einem anderen Personal sicherlich auf die Nerven gegangen wären, aber der gute Patera liebte das Künstlervölkchen trotz allem. Er war auch nachsichtig, wenn Gäste finanzielle Schwierigkeiten hatten, und wartete bereitwillig auf Bezahlung, obwohl er bei manchem die Tilgung der Schuld nie erlebte. Am meisten erregte ihn, wenn so ein Zechpreller, sobald er zu etwas Geld gekommen war, ein anderes Cafe aufsuchte. Das habe ich dem Herrn Patern nie angetan, obwohl ich bei ihm oft in der Kreide gestanden habe. Auch wenn ich Geld hatte, ging ich weiter zu ihm - auf Pump! Aber schließlich habe ich doch alles bezahlt, sonst hätte ich das hier nicht geschrieben. nd so konnte Herr Patern, als er diese Erinnerungen in der ersten Buchausgabe las, nicht sagen: »Dieser Bursche hat ja bei mir bis heute Schulden! « In der Tat gab es manchmal wirklich böse' Zeiten. Keinen Kreuzer in der Tasche, und dabei lockte das gemütliche Cafe mit den vielen Kameraden so sehr! Und oft, ja sehr oft, war der auf Pump getrunkene Kaffee mit einem Stück Kuchen die einzige Mahlzeit für einen ganzen Tag. Manchmal half im Cafe ein Kamerad mit einem kleinen Darlehen
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aus, doch wer sich darauf verließ, für den war es traurig, wenn er dort nur einen Freund antraf, dessen Taschen ebenfalls leer waren. Wie gesagt, Herr Patera wartete mit der Bezahlung, wenn ich mich bei ihm entschuldigte und ihn um ein kurzfristiges Darlehen bat. Ja, wenn man ihn daraufhin ansprach - aber das war es ja eben. Ich konnte ihn deshalb doch nicht aus dem Cafe zum Boden hinauf oder in den Keller hinunter locken, und im Cafe habe ich es nur ein einziges Mal getan. Gewiß, ich hatte damals das Glück, ihn in einer Ecke anzutreffen, in der niemand saß. Dort flüsterte ich ihm ins Ohr: »Herr Ober - ich habe mein Geld zu Hause vergessen. Ich bezahle morgen!« Alles, was recht ist, der Herr Ober zuckte mit keiner Wimper, er machte auch kein finsteres Gesicht, aber- zum Teufel -was nützte das, wenn er danach durchs ganze Cafe brüllte: »Gut, dann bezahlen Sie eben morgen!« Auch anderen erging es so. Einmal kam ein Herr aus dem Spielzimmer, zog den Herrn Ober ein Stück beiseite und flüsterte ihm vertraulich etwas zu. Dem Herrn lag viel daran, daß es niemand hörte, aber es war so, wie ich schon gesagt habe: Zwar zückte der Herr Ober gleich bereitwillig seine dicke Geldtasche, holte eine Banknote heraus und überreichte sie dem Herrn, aber dabei schrie er so laut, daß den Gästen die Zeitung aus der Hand fiel: »Gut! Ich borge dem Herrn einen Fünfer für das Kartenspiel!« Der Mann verließ den übe~, als unterziehe er sich dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Spießrutenlauf. So war es kein Wunder, daß jedermann in einer solchen Lage bemüht war, ohne Entschuldigung aus dem Cafe zu verschwinden. Am nächsten Tag bezahlte er beim Herrn Ober seine Zeche, und alles war gut. Ich bin überzeugt, daß Herr Patera das nicht absichtlich getan hat, denn ebenso laut antwortete er auch, wenn ihn jemand um eine bestimmte Zeitschrift bat: »Gut! Wir werden das >Altenteil-Blatt< schon auftreiben!« ' Meist gelang es mir, glücklich aus dem Cafe Union zu entwischen. Aber einmal lief ich ihm bei einem solchen Fluchtversuch zu meinem Pech direkt in die Arme. Patera war ein Gentleman. Er verzog keine Miene, verbeugte sich nur etwas übertrieben vor mir und rief mir
nach: »Meine Verehrung - meine Verehrung!« Heute lache ich darüber, doch damals war mir zumute, als hätte man mich mit eiskaltem Wasser übergossen. Wenn ich jedoch einige Tage danach ebenfalls keinen Groschen in der Tasche hatte, machte ich es wieder so. Einmal ging ich, wieder in der ungeheuchelten Annahme, einen Freund zu treffen, der mir das Geld für eine Tasse Kaffee leihen würde, in unser geliebtes Cafe. In unserem Lieblingsraum saß niemand, nur Jaroslav Hasek schlummerte an einem Tisch in der Ecke. Diese Leere überraschte mich unangenehm; trotzdem bestellte ich, in der Hoffnung, daß vielleicht doch noch jemand käme, einen schwarzen Kaffee. Wie man sehen wird, hatte ich mit Hasek überhaupt nicht gerechnet: Ich trank meinen Kaffee, las Zeitungen und rekelte mich genüßlich auf dem Kanapee. Aber die Stunden vergingen, und kein Bekannter tauchte auf. Um fünf Uhr hatte ich am Nationaltheater ein
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Der Maler V. H. Brunner, karikiert von VI. Rada
Jaroslav Hasek lernte ich bereits 1907 in der Druckerei von Emanuel Stivin in der Myslikova kennen. Dort ließen wir die Zeitschrift »Nova omladina« drucken, und Hasek führte als Redakteur die Korrekturen aus. Über diese Bekanntschaft war ich sehr erfreut. Aber mit Haseks
Gesichtsausdruck war ich nicht zufrieden. Das also war der Verfasser jener Feuilletons? Ich hatte mir zumindest einen Voltaire oder einen Victorien Sardou vorgestellt, und jetzt stand vor mir ein junger Mann mit einem nahezu ausdruckslosen, geradezu kindlichen Antlitz. Vergebens suchte ich in seinem rundlichen Gesicht die üblichen Züge eines Satirikers: eine Raubtiernase, schmale Lippen und tückische Augen. Auch ein sardonisches Lachen fehlte. Hasek wirkte eher wie ein Söhnchen aus besserer Familie, wohlgenährt, ein Mensch, der sich den Kopf nur ungern mit irgendwelchen Problemen belastet. Sein fast weibliches, bartloses Gesicht, sein argloser Ausdruck, seine aufrichtigen Augen - alles deutete eher auf einen naiven Gymnasiasten als auf einen genialen Satiriker. Aber das alles dachte man nur so lange, wie Hasek nicht sprach, denn dann wurde man gleich eines Besseren belehrt, selbst wenn es nur eine einzige Bemerkung war, doch die war so witzig, originell und treffend, daß sich jeder sagen mußte: Junge, Junge, du hast es aber wirklich faustdick hinter den Ohren! Ich habe nicht die Absicht, mich in psychoanalytische Überlegungen über Hasek einzulassen. Erstens bin ich nicht dazu fähig, und zweitens habe ich bei all meinen Begegnungen mit ihm nie in den Rätseln seiner Seele nach den Wurzeln seines Humors geforscht. Ich habe ihn immer so genommen, wie er sich gab, und wollte mir nicht meine Bewunderung für ihn durch die eventuelle Entdeckung verderben lassen, daß sein genialer Humor einen ganz alltäglichen Ursprung in einem vergrößerten Hirn hatte. Bret Harte hat einmal gesagt, alle originellen Charaktere verehrten sich gegenseitig und zögen einander an - nun, ich hielt mich damals auch für ein Original und wandte mich deshalb Hasek gleich mit ganzem Herzen zu. Unter seiner längeren Abwesenheit habe ich immer sehr gelitten; seine Witze waren mir bei gelegentlichen Anwandlungen neurasthenischer Melancholie so notwendig wie das Salz in der Suppe. Damals wohnte Hasek noch bei seiner Mutter im Stadtteil Weinberge. Dort habe ich ihn auch einmal besucht. Soweit ich mich erinnere, haben mich bei Familie Hasek zwei Dinge besonders interessiert. Da war zunächst der große, dicke schwarze Kater Bobes, der mit ex-
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Treffen vereinbart, an dem mir viel lag, aber - wie sollte ich ins Freie gelangen? Geld hatte ich keins, es war kein Bekannter gekommen, und eine unbemerkte Flucht war nicht möglich. Der Herr Ober hielt sich fast ständig in unserem Raum auf, obwohl der fast leer war. Als ich annahm, Herr Patera sei ins Spielzimmer gegangen, ergriff ich rasch meinen Hut. Doch wenn man an den Teufel denkt - plötzlich kam der Herr Ober wie ein Gewitter in den Raum gestürmt. Bis heute weiß ich nicht, was ihn so angezogen hat. Ich war von all der Aufregung hochgradig nervös und im Gesicht so rot wie ein Puter, der Schweiß rann mir von der Stirn, und meine Hände zitterten vor Erregung. Insgeheim machte ich mir Vorwürfe, ob ich das alles wegen einer Tasse Kaffee nötig hätte, und nahm mir mit allem Nachdruck vor, nie mehr ohne Geld in ein Cafe zu gehen. Dabei hatte ich gar nicht bemerkt, daß Jaroslav Hasek mich mit seinen zugekniffenen Äuglein von seinem Platz aus beobachtete. Während der ganzen Zeit meines Seelenkampfes hatte er kein Wort gesagt, erst als er offenbar befürchtete, ich könnte vor Erregung platzen, sagte er wie im Schlaf: »D u hast kein Geld für den Kaffee, nicht wahr, Pepik? Ich helfe dir!« Mir kam es plötzlich so vor, als sei ein Schutzengel zu mir herniedergestiegen. »Jesusmaria - da würdest du mir aber wirklich einen Dorn aus der Ferse ziehen! Du erweist mir einen wahren Freundschaftsdienst, den ich dir nicht so schnell vergessen werde! Ich muß um fünf am ationaltheater sein. Also, bitte, sei so lieb und borg mir das Geld für einen schwarzen Kaffee ... « - »Nein, so nicht - dazu bin ich nicht in der Lage«, brummte Hasek in seiner Ecke. »Ich habe selbst keinen roten Heller in der Tasche, aber helfen werde ich dir, ich werfe dich einfach aus dem Fenster!« Jaroslav Hasek
zentrischer Vorliebe auf den obersten vier Armen eines Kleiderständers schlief. Das war gewiß ein recht unbequemer Schlafplatz, und der Kater schlief dort sicherlich nur aus Verlangen nach Originalität. Dafür schätzte ihn Hasek sehr, und wenn ich nicht irre, hat er ihn sogar gesiezt. Die andere Sache, die mir als Ausdruck absoluter Gleichgültigkeit gegenüber dem Urteil der anderen Mieter und einer geradezu spartanischen Einfachheit besonders gefiel, war die Visitenkarte an der Tür. Darauf stand: Familie Hasek. Vergessen wir nicht, daß Haseks Vater Gymnasiallehrer war! Bekanntlich assoziieren manche Worte oder Sätze spontan andere Vorstellungen. Mir fielen beim ersten Lesen dieser originellen Visitenkarte gleich die Namen von Zigeunerfamilien ein, die aus Zeitungsberichten bekannt waren: Familie Serynek oder Familie Vrba. Während der ganzen Dauer meines Besuchs schien mir etwas zuzuflüstern,' diese beiden Namen fehlten dort noch zur Vervollständigung eines bestimmten geläufigen Begriffs. Deshalb schrieb ich sie im Weggehen mit Bleistift noch auf die Visitenkarte. Erst danach war ich mit ihr voll einverstanden; sie erschien mir nun vollkommen: Wenn schon ein Witz, dann ein hundertprozentiger, ohne Vorbehalte.
Das war mein erster und letzter Besuch bei Familie Hasek. Später bes uchte Jaroslav Hasek nur noch mich. Er war einige Male bei mir in der Vysehradskä. Al s ich 1908 in die Dittrichova übersiedelte, wurde er mein zeitweiliger Untermi eter, bis man ihn zum 91. lnfanterieregiment mit den papageiengrün en Aufschlägen nach Budweis einberief. Haseks Aufenthalt bei mir wurde aus verschiedenen Gründen unterbrochen: Entweder war er für einige Zeit irgendwo Redakteur, gewöhnlich mit Unterkunft und Verpflegung - Hasek nannte das »unter Deputat« - , oder er war mit Z. M. Kudej verreist, oder aber er hatte seinen Auf enthalt bei mir gegen einen Unterschlupf bei einem anderen Freund vertauscht, um einen »Klimawechsel« zu haben. Seine Rückkehr begrüßte ich immer wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes. Ich freute mich über seine Anwesenheit, bis er eines Tages plötzlich verschwand, ohne Angabe von Gründen, ja überhaupt ohne irgendeine Mitteilung. Seine Rückkehr sah gewöhnlich so aus: Er klingelte, und wenn ihm geöffnet wurde, hielt er die Tür so fest, daß bloß ein Spalt offen war; durch den steckte er seinen Stock und rief: »Da hast du, schlag mich, schlag mich ohne Erbarmen! « Schlagen konnte ich ihn freilich nicht, das verhinderte schon die Tür, die Hasek fest zuhielt, und ich hätte es auch nie getan. Doch E. A. Longen hat diese Art der Rückkehr in scheinbarer Zerknirschung ganz fals ch aufgefaßt. Er glaubte, ich hätte Hase ks undiszipliniertes Leben mit dem Stock korrigiert, und schrieb darüber in dem Artikel »Aus den Tagen der Boheme« : »Den größten E influß auf Hasek übte der Maler Josef Lada aus, der sich auch Haseks annahm, um aus einem unverbesserlichen Bohemien einen ordentlichen Menschen zu machen, dessen erste moralische Pflicht es ist, bei Nacht zu schlafen und bei Tag zu arbeiten. Zu jener Zeit war Lada ein unansehnliches und mageres Kerlchen - und es ist schier unglaublich, daß sich der kräftige Hasek nicht gegen die körperlichen Züchtigun gen zur Wehr setzte, mit denen ihn Lada für Rückfälle in das Leben eines Bohemiens traktierte. Darin lag etwas Geheimnisvolles. Vielleicht empfand Hasek ab und zu das Bedürfnis, sich jemandem unterzuordnen. Geduldig hielt er seine fleis chigen Wangen oder seinen
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Schriftsteller Eduard Bass, karikiert von E. A. Longen
Rücken Ladas Schlägen hin und seufzte reumütig: >Ganz recht, Pepicek! Schade um jeden Schlag, der danebengeht!< Nachdem Lada Hasek bestraft hatte, befahl er ihm zu arbeiten. Hasek scheuerte den Fußboden, kochte, räumte auf und setzte sich dann in eine Ecke, wo er seine Humoresken schrieb. Lada ging währenddessen wie ein Sklavenaufseher durchs Zimmer und drohte: >So muß man dich behandeln, du Lump! Wenn du dich nicht besserst, bekommst du Schläge, daß du dich nicht mehr rühren kannst!< « In dieser Weise fährt Longen fort. Nun, hier gab es absolut nichts Geheimnisvolles, das alles waren reine Phantasieprodukte Longens, damit der Artikel zugkräftiger wurde. Im übrigen war sein Bericht von Anfang bis Ende erlogen. Ich habe Hasek zeitlebens nie angefaßt, im Gegenteil, er war es, der mir einmal eine Kopfnuß gegeben hat. Damit will ich mich aber nicht brüsten, ich bin bereit, dieses Eigentum gegen etwas beliebig anderes einzutauschen. In der Dittrichova hatte ich anfangs nur ein Zimmer, und Hasek kam nur gelegentlich zu mir, entweder zu einem kurzen Besuch oder mit einem Beitrag für die Zeitschrift »Karikatury«, deren verantwortlicher Redakteur ich war. Mein Untermieter wurde Hasek erst später, und zwar einfach deshalb, weil er nicht wußte, wohin er sein Haupt betten sollte. Meine Wohnungseinrichtung war nach dem Umzug sehr spärlich: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bücherregal und ein altes, mit Wachstuch überzogenes Kanapee. Als ich es dann noch zu einem Bett gebracht hatte, konnte Hasek ab und zu bei mir übernachten. In dieser meiner ersten eigenen Wohnung befand sich eigentlich auch die Redaktion der »Karikatury«, und deshalb kamen viele Mitarbeiter zu mir: die Maler Naske, Wenig, Wierer, Slovinec und Tratnik sowie mehrere Schriftsteller, unter denen Hasek der fleißigste Schreiber war. Für einige dieser Besucher hatte ich immer einen Likör, einen Kognak ode; einen Rum bereit; die Flasche stand auf dem Schrank zur freien Verfügung. Viele gossen sich bereits ohne Aufforderung ein Glas ein, sie betrachteten die Flasche einfach als einen Teil der Einrichtung der Redaktion. Hasek, der jegliches Zeremoniell verachtete, trank immer gleich aus der Flasche. Seine Kenntnis der Feuerwasser-
produkte war geradezu phänomenal. Beispielsweise trank er aus einer angebrochenen J;lumflasche und sagte mir gleich, wieviel sie annähernd gekostet hatte. Einmal habe ich mir mit ihm einen kleinen Scherz erlaubt: Ich füllte eine Rumflasche mit Wasser und stellte sie an den üblichen Platz. Hasek kam, griff gleich nach der Flasche und nahm, nichts Böses ahnend, einen ordentlichen Schluck. Ich hatte erwartet, daß er mir dafür zumindest den Kopf abreißt, aber der Arme hatte dazu nicht mehr die Kraft. Er wurde blaß, stellte die Flasche mit zitternder Hand auf den Fußboden, wohin sie seiner Meinung nach gehörte, und wandte sich zum Gehen. Bevor er hinter sich die Tür zuzog, drehte er mir sein bleiches und durch die erlittene Marter verschwitztes Gesicht zu und sagte mit trauriger Stimme: »Das hättest du mir nicht antun sollen!« Damals dachte ich, Hasek würde es nicht überleben, aber seine gesunde Natur überwand selbst einen derart heimtückischen Schlag. Nach einer Woche war er schon wieder so munter, daß er mit -mir eine Oper komponierte. Wir veranstalteten einen Abend, an dem mehr für geistige als für leibliche Genüsse gesorgt war. Auf dem Programm stand auch das Komponieren einer Oper aus dem Stegreif, ohne langes Gerangel um das Libretto und ohne abzuwarten, ob das Libretto bei den Zuhörern ankommt oder nicht. Das Komponieren der Oper war eine Nummer zu Ehren von Frau Naskova, einem Ensemblemitglied des Nationaltheaters, und mithin lag viel daran, daß die Oper gelang. Hasek rezitierte das Libretto, und ich spielte jeden Satz gleich auf der Mundharmonika. Das Thema der Oper war: »Kolumbus entdeckt Amerika«. Diesen Vorschlag hatte einer unserer Gäste gemacht. Wenn man bedenkt, daß Hasek ohne jegliche Vorbereitung und ohne das Forschen in zeitgenössischen Dokumenten ein derart schwieriges Libretto diktieren konnte, muß man vor einer solchen Leistung den Hut ziehen. Aber wenn man erfährt, daß ich die von Hasek (der nicht das geringste musikalische Gehör hatte und an ' die vierhundert tschechische, deutsche, russische und ungarische Lieder nach ein und derselben Melodie sang) diktierten Sätze gleich in Musik setzen sollte, müßten die Zuhörer nicht nur den Hut vor mir ziehen, sondern sich auch kahlscheren lassen. Die Oper begann, wie Hasek diktierte: »Kolum-
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bus soll im Pazifik Amerika entdecken. Aber Ferdinand und lsabella sind daran nicht interessiert und wollen für ein solches Unternehmen keinen roten Heller opfern. Kolumbus redet ihnen unablässig zu, bis es ihm schließlich gelingt, sie dazu zu bewegen, daß sie ihm drei abgetakelte Karavellen zur Verfügung stellen. Kolumbus begibt sich hinaus auf das weite Meer.« Das war der Inhalt des ersten Akts. Zu jedem der von ihm diktierten Sätze mußte ich augenblicklich, ohne jegliche Inspiration, wie sie beispielsweise das Rauschen eines Bergbachs, das rhythmische Rattern eines Zuges oder der Geruch fauler Äpfel gewährt, ohne alle derartigen Mittel, die einem ja nicht unmittelbar zur Hand sind, den Satz auf der Mundharmonika spielen. Und zwar so, daß die Musik alles bis ins Detail zum Ausdruck brachte. Schade, ewig schade, daß es damals niemandem eingefallen ist, die Oper in Notenschrift festzuhalten! Noch heute glaube ich, sie wäre garantiert im Rundfunk gebracht worden, und im Geiste höre ich die Stimme eines bekannten Kommentators, der bei einer Analyse der Komposition nach einer Passage begeistert ausruft: »Ja, dieses absichtlich disharmonische Kreischen veranschaulicht erstaunlich präzise jenen Moment, in dem lsabella erklärt, sie verschwende für die Entdeckung Amerikas keinen roten Heller. « Der zweite Akt war nicht minder dramatisch. Es zeigte sich, daß es auf den Schiffen keinen Tropfen Rum gab. Die Matrosen meuterten, und einige wurden über Bord geworfen. Kolumbus war verdrossen, daß noch immer kein Land in Sicht war, und wechselte fortan nicht mehr seine Kleidung. Eine neuerliche Meuterei - und wieder wurden einige Matrosen über Bord geworfen. Einer rief: »Land in Sicht!«, aber bald stellte sich heraus, daß es eine Mystifikation gewesen war. Kolumbus steigerte sich zu gotteslästerlichen Flüchen ... Und daran bin ich musikalisch gescheitert. Den Ruf: »Land in Sicht!« hatte ich noch mit solchem Elan gespielt, daß ich die Mundharmonika fast verschluckt hätte, aber das Thema »Kolumbus steigerte sich zu gotteslästerlichen Flüchen« brach mir das Genick. Eigentlich war das Haseks Rache für das Wasser in der Rumflasche. Er rächte sich an mir, als ich dessen am wenigsten gewärtig war, und
machte mich vor der ganzen Gesellschaft lächerlich. Er bewies, daß auch meine enor!Ile musikalische Begabung ihre Grenzen und Schwächen hatte. Aber selbst das erschien ihm offensichtlich zu wenig für eine vollkommene Rache. Noch am selben Abend stopfte er, bevor er mit den Gästen in ein Cafe ging, unter dem Vorwand, er wolle das Fettpapier verbrennen, in das die Wurst eingewickelt war, den Ofen mit Knallkörpern voll, so daß am nächsten Morgen die Aufwartefrau fast vom Schlag getroffen wurde. Beim Einheizen ertönte aus dem Ofen ein Donnerschlag, und gleich danach begann ein höllisches Feuerwerk mit Explosionen und Lichteffekten. Nur mit Mühe konnte ich die alte Frau wieder zum Leben erwecken. In meiner Einraumwohnung verbrachte ich etwa sechs Jahre. Dann verbesserten sich meine Einkünfte derart, daß ich in einem unteren Stockwerk desselben Hauses eine Wohnung mieten konnte, die Zimmer, Küche und Bad sowie einen Korridor besaß. So mußten die Besucher nicht mehr wie vorher zweimal klingeln, um mich zu erreichen. Die Küche bot ich Hasek zum ständigen kostenlosen Aufenthalt an. Aber damals lehnte er mein Angebot mit dem stolzen Hinweis darauf ab, er habe eben die Stelle eines Redakteurs der Zeitschrift »Die Welt der Tiere« erhalten, die mit Unterkunft und Verpflegung verbunden war. Bis dahin hatte Hasek seinen Lebensunterhalt nur von den Honoraren für seine zahlreichen und ohne besondere Anstrengung geschriebenen Humoresken bestritten. Für seine bescheidenen Ansprüche hatte das völlig genügt. Heute weiß ich nicht mehr, welche Einkünfte mit dieser Redakteursstelle verbunden waren, aber ich erinnere mich noch gut, was für seltsame und originelle Gehaltsbedingungen bei Herrn Fuchs, dem Eigentümer der Zeitschrift, herrschten. Ich sage es kurz, laut und deutlich, wie es mein guter alter Freund, der Maler Jaroslav Panuska, immer gefordert hat: Wie Hasek erzählte, wurde der bisherige Redakteur Hajek nur unter der Bi dingung von seinem Posten entbunden, daß er einen erfahrenen Ersatz stellt. Häjek schlug Hasek vor, und so wurde dieser plötzlich Redakteur der Zeitschrift und damit verbunden - Direktor eines Hundezwingers, der ebenfalls Eigentum von Herrn Fuchs war.
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Anfänglich war Hasek mit dieser Stellung sehr zufrieden. Zumindest tat er so, als er mich nach 14 Tagen besuchte. Er bemühte sich überhaupt, den Eindruck eines Menschen zu erwecken, der im Wohlstand lebt. Er setzte sich bequem in den Rohrstuhl, brach ein Stück des Flechtwerks ab und kratzte sich damit so nonchalant, daß ich in seiner Gegenwart beinahe Minderwertigkeitskomplexe bekam. Auf die Frage, wie es ihm gehe, erwiderte er, sehr gut; alles sei in einwandfreier Ordnung, das Gehalt, die Wohnung und die Verpflegung. Auch ein freundlicher Umgangston fehle nicht. »Nur daß in meinem Schlafraum das Fenster die ganze Nacht über offenstehen muß«, fügte er leicht verdrossen hinzu. Es war im Januar, und zu dieser Zeit herrschte strenger Frost. Ich hielt diese Maßnahme für eine absonderliche Anordnung von Haseks Chef, und das brachte mich auf die Palme. » un, ich bin dagegen hinlänglich gefeit« , beruhigte mich Hasek, »ich habe ein Federbett und eine Decke unter mir, ein Federbett und eine Decke über mir, unter dem Kopf habe ich drei Kissen und an den Beinen einen warmen Fußsack. Außerdem ziehe ich vor dem Schlafengehen einen schweren Schafspelz an!« - »Na, und warum, zum Teufel, muß das Fenster die ganze Nacht über offenstehen?« fragte ich erbittert. >> Du Rindvieh! Sonst würde ich doch vor Hitze umkommen«, erwiderte Hasek. Diese Antwort verwirrte mich doch einigermaßen. Hasek ging es also bei Herrn Fuchs gut, aber die recht eintönigeredaktionelle Arbeit machte ihm bald keine Freude mehr, und da versuchte er, sich die Arbeit auf Kosten seiner Kameraden angenehmer zu machen. So schrieb er für seine Zeitschrift naive Verse und setzte meinen Namen darunter. Einige Zeit danach stellte ich fest, daß ich, ohne etwas davon zu wissen, einen naturwissenschaftlichen Artikel aus dem Ungarischen übersetzt hatte. Von dieser Sprache kannte ich nur einige der üblichen Grüße, die mir der alte Lada, ein Ungar, in meinen Kinderjahren auf dem Dorf beigebracht hatte. Also wieder ein Scherz Haseks. Freilich habe ich mich vor Bekannten dieses Artikels schamlos gerühmt. Eines Tages nahm ich im Gasthaus Teissig in der Spälenä das Mittagessen ein. Da bemerkte ich, daß mich von einem anderen Tisch her 88
Illustration von Brunner fiir den Almanach »Montmartre 1941 «
ein würdiger alter Herr mit bewundernden Blicken bedachte. Kaum hatte ich Messer und Gabel zur Seite gelegt, trat er zu mir, stellte sich vor und sagte dann: »Mein Herr, Sie beherrschen Permjakisch, nicht wahr?« - Ich blickte ihn eine Weile verständnislos an, dann fiel mir ein, daß Permjakisch die Sprache eines mongolischen Urvolkes ist. »Das ist wirklich ein seltener Fall, daß jemand hier in Prag eine so unbekannte Sprache beherrscht. Wahrscheinlich sind Sie sogar der einzige in ganz Mitteleuropa. Ich spreche ganz ordentlich Finnisch, und jetzt lerne ich etwas Tatarisch, aber Permjakisch, das ist in der Tat eine Rarität!« - Ich stotterte, das müsse ein schrecklicher Irrtum sein, denn ich beherrschte nicht eine einzige Weltsprache ordentlich, aber der alte Herr unterbrach mich nachdrücklich: »Nein, mein Herr, eine sol~he Bescheidenheit ist wahrlich nicht angebracht! Ihre Sprachkenntnisse würden es vielmehr verdienen, einem breiteren Publikum vorgestellt zu werden, damit Sie nicht gezwungen sind, sich in einer wenig bekannten Zeitschrift zu verkriechen. Ich habe doch Ihre Übersetzung aus dem Permjakischen in der letzten Nummer der Zeitschrift >Die Welt der Tiere< gelesen!« Und der alte Herr bedachte mich wieder mit einem bewundernden Blick. Zunächst brach ich in lautes Lachen aus, dann wurde ich rot, aus Scham über Jaroslav Hasek. Und ich sagte dem gelehrte~ alten Herrn, wie ich zu dieser Ehre gekommen war. Beim Herausgeber der Zeitschrift »Die Welt der Tiere« machte Hasek, wie bereits erwähnt, alles mögliche: er war Redakteur und Direktor des Hundezwingers. Bald schrieb er »wissenschaftliche« Artikel für die Zeitschrift, bald beschwichtigte er die streitsüchtigen Hunde in ihren Boxen. Ich war selbst einmal Zeuge, wie er einen Hundelümmel beschimpfte. Er soll auch Stammbäume gefälscht haben. Außer anderen Tieren gab es in dem Hundezwinger, der eigentlich ein Tierheim war, einen Affen, einen Mandrill, den sie »Fräulein Julia« nannten'. Fräulein Julia vollführte viele ausgelassene Streiche. Hasek hatte mit ihr zahlreiche Auseinandersetzungen, deren Spuren an seinen Armen zu sehen waren. Bald lebte er mit ihr in bitterer Feindschaft, bald aber waren sie so gute Freunde, daß das Affenfräulein bei ihm schlief. Ein Affe in natura, kein bildlicher Ausdruck! Einmal war
Hasek Anlaß einer großen Szene in der Straßenbahn, unabsichtlich und ganz ungewollt. Jemand fragte ihn nämlich, warum seine Arme so zerkratzt seien, und Hasek erwiderte lachend, ohne seine Worte zu bedenken: »Wissen Sie, ich habe wieder einmal mit Fräulein Julia geschlafen!« Davon, wie Hasek seine Hunde dressierte, gibt es viele Anekdoten. Von einem besonders interessanten Fall hat er mir selbst berichtet, es ist also eigentlich keine Anekdote. »Junge Hunde schlage ich nie, wenn sie den Raum verunreinigen. Erstens habe ich dazu keine Veranlagung, und zweitens erreicht man damit nichts. Ich mach das ganz anders. Etwa wie kürzlich mit einem Dackel. Jedesmal, wenn er den Raum verunreinigte, tauchte ich ihn mit der Schnauze hinein und warf ihn dann aus dem Fenster. Man möchte nicht glauben, was für ein gelehriges Tier das ist! Gestern machte er wieder einen Haufen auf den Fußboden, ich wollte ihn mir greifen, aber da kam er ganz von selbst herbei, wühlte mit der Schnauze darin herum und sprang dann aus dem Fenster!« Das Verfassen naturwissenschaftlicher Artikel nach den üblichen redaktionellen Normen machte Hasek nicht lange Spaß. Über den Hühnerpips zu schreiben, darüber, wie er entsteht und wie man ihn heilen kann, damit die Henne nicht zugrunde geht, war gewiß keine Arbeit für seine Feder, die an Humor und Schabernack gewöhnt war. Deshalb suchte sich Hasek eine interessantere Arbeit. Beispielsweise machte er sich einen Spaß daraus, die Namen der Vögel zu verdrehen; dann wartete er gespannt ab, wie die Leser darauf reagieren würden. Bald bekam er auch viele Briefe, in denen ihn naturwissenschaftlich gebildete Abonnenten, einen Ignoranten nannten und ihm noch schlimmere Namen gaben. Derartige Zuschriften wurden von Hasek witzig beantwortet, und die Betroffenen wandten sich daraufhin unmittelbar an den Herausgeber. Der alte Herr wurde sehr böse und beschimpfte Hasek. Fortan hing über dem Herrn Redakteur das Damoklesschwert der Entlassung. Hasek lachte heimlich darüber und schrieb weiterhin unsinnige Artikel für das Blatt. So verfaßte er einen langen Beitrag über die glückliche Entdeckung des Urgebirgsflohs, und er schilderte
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das so glaubwürdig, daß der Redakteur eines ausländischen Blattes, sei es in Eile oder aus Unachtsamkeit, den Artikel übersetzte und nachdruckte, ohne zu überprüfen, ob das überhaupt möglich ist. Auch andere Blätter brachten di esen Artikel, versehen mit zweifelnden oder ironischen Bemerkungen oder auch ohne sie, und bald erschienen in den naturwissenschaftlichen Zeitschriften der Welt ellenlange Polemiken über den Urgebirgsfloh. Die Redaktionen überhäuften di e Zeitschrift »Die Welt der Tiere« mit massiven Vorwürfen und gaben den Rat, der Herausgeber möge samt dem Redaktionspersonal ins Wasser gehen. Nun wurde Hasek ohne die Bedingung gefeuert, erst einen E rsatzmann zu stellen. So tauchte eines Tages im Spalt der zugehaltenen Tür meiner Wohnung wieder ein solider Stock auf, und hinter der Tür bat Hasek mit ersterbender Stimme : »Da hast du, Pepicek, schlag zu, so kräftig du kannst! « Jetzt erschien ihm meine Küche als gute Unterkunft. Ich gab ihm mein altes Kanapee mit dem Wachsleinwandbez ug, einen Schrank, einen Ti sch und einen Stuhl. Freilich war das Kanapee schon stark durchgelegen, einige Federn ragten heraus, aber der neue Schlafbursche fand bald zwischen den hervorstehenden Federn eine gün stige Stellung - wie ein Lotse zwischen den Klippen - und schlief im großen und ganzen gut. Bevor ich ihm das Kanapee zur Verfügung stellte, mußte Hasek im Zimmer auf Teppichen schlafen; er legte einfach zwei übereinander. Und mit der Zeit gewöhnte er sich so daran, daß er nach keinem anderen Lager mehr verlangte. Als er zu jener Zeit bei einem Hütteningenieur irgendwo bei Dusniky zu Besuch war, lehnte er es ab, im Bett zu schlafen, und man mußte ihm ein Lager auf den Perserteppichen bereiten. In der Nacht aber konnte er nicht schlafen, er warf sich unruhig hin und her; als würde er von etwas gebissen, bis er durch sein Verhalten die Gastgeber weckte. Der Ingenieur fragte ihn, warum er nicht einschlafen könne, und bat ihn, sich doch ins Bett zu legen, es mache bei den Nachbarn einen schlechten Eindruck, wenn sie erführen, man habe den Gast auf dem Fußboden schlafen lassen. Hasek erwid erte,
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Im Montmartre, Linolschnitt von V. H. Brunne r
alle Familien in der Umgebung könnten ihm den Buckel runterrutschen; im übrigen sei ihm klar geworden, warum er so schlecht schlafe: Die Teppiche röchen nicht nach Mottenpulver, woran er sich bei mir gewöhnt habe, und ohne diesen Geruch könne er nicht einschlafen. Ein Glück, daß sie Mottenpulver im Haus hatten. Rasch wurden die Teppiche damit bestreut, und bald danach schlief Hasek wie ein Murmeltier. Gleich nach seinem Einzug befestigte Hasek an der Korridortür seine Visitenkarte - eine große schwarze Tafel mit einem silbernen Rahmen; es sah wie eine Todesanzeige aus. Auf dieser Tafel stand in weißer Schrift: Jaroslav Hasek, k. u. k. Schriftsteller, Vater der Armen im Geiste und konzessionierter Pariser Wahrsager. Die Tafel hing schräg an der Tür und erregte die Aufmerksamkeit aller Mieter und ihrer zufälligen Besucher. Er fügte noch hinzu: »Zweimal klingeln! «, damit seine Besucher nicht mich belästigen sollten. Einmal klingelte jemand dreimal; da kam Hasek aus der Küche in mein Zimmer, um mich zu holen. Ich verstand zunächst nicht, warum er mich am Arm packte und zur Tür zog. Erst dann dämmerte es mir: Jemand hatte dreimal geklingelt, so war es also nötig, daß wir beide zur Tür gingen, denn nach Haseks Meinung hatte der Unbekannte einmal für mich und zweimal für ihn geklingelt, also dreimal für beide. Dabei war es nur ein Bettler, der dadurch sichergehen wollte. · Dieser Bettler brachte Hasek auf die Idee, wirklich ein Armenvater zu werden, und er richtete sich entsprechend ein. Aus einem Papiergeschäft holte er einen kleinen Pappkarton mit Deckel und Lasche, daran befestigte er ein riesiges, schweres Vorhängeschloß, das wohl von einem Speicher stammte. Auf den Karton klebte er ein Blatt Papier mit dem rührenden Text: »Krampft sich nicht Ihr Herz vor Mitgefühl zusammen, wenn Sie zu Pfingsten an der Tür den Gesang von Kinderstimmen vernehmen: Uns ist der Herr geboren? « E r besorgte sich auch ein großes Geschäftsbuch und legte darin die Rubriken an: Datum, Name des Bittstellers, Gründe für das Betteln, bewilligter Betrag. Aber bereits der erste Bettler, ein Mann, der aus der nahen Schnapsbude kam, machte Haseks Menschenfreundlichkeit zunichte
und erboste ihn derart, daß er die »Armenkasse« wieder auflöste. Als er nämlich von dem Vagabunden den Lebenslauf, die Gründe für das Betteln und die beabsichtigte Verwendung des erhaltenen Betrages wissen wollte, geriet dieser fürchterlich in Wut und bedrohte Hasek mit seinem Stock. Er schrie, für einen lausigen Sechser werde er nicht Gedichte mit Gesang und Tanz deklamieren. Erst als ich mit einer alten Arkebuse aus dem Schwedenkrieg dazwischentrat, trollte er sich unter wüsten Flüchen. Damit nicht jemand irrtümlich glaubt, Hasek sei ein Zyniker gewesen und habe die Armen nur zum Narren gehalten, muß ich gleich sagen, daß er den Armen mehr gegeben hat als manch anderer, der sich auf sein Mitgefühl und sein Wohltun viel zugute tut. Ich war selbst Zeuge, wie Hasek auf der vorderen Plattform der Straßenbahn einem ärmlich gekleideten jungen Mann eine Krone geben wollte, weil der ihm seine Streichhölzer geliehen hatte, aber der junge Mann nahm sie nicht an. Für eine Krone bekam man damals 12 Bockwürste! Und einer alten Frau mit gebücktem Gang und einem abgehärmten, aber sympathischen Gesicht, die in den Gasthäusern Fische und andere Leckerbissen verkaufte, gab Hasek außer einer ordentlichen Bezahlung sogar einen Kuß. Ich würde gern wissen, ob das ein wirklicher Armenvater getan hätte. Haseks Tagesablauf sah etwa folgendermaßen aus: Er schlief bis ein Uhr mittags auf dem alten Kanapee in der Küche und kam dann in mein Arbeitszimmer, wo er sich auf die Ottomane legte. Dort schlief er aber nicht mehr, weil die Zeit zwischen ein und vier Uhr der geistigen Unterhaltung vorbehalten war. Manchmal sang er mir auch etwas vor, wobei ich mich vor Lachen bog. Hasek besaß nämlich überhaupt kein musikalisches Gehör und sang alle Lieder - tschechische, deutsche, russische und ungarische - nach ein und derselben Melodie. Oder wir ersannen eine neue Kunstsprache, die man leicht erlernen könnte. Aber davon weiß ich nur noch eins: Die schwierige Deklination sollte dadurch erleichtert werden, daß man anstelle der entsprechenden Endungen das Wort so oft wiederholte, wie es dem geforderten Fall entsprach. Ferner erinnere ich mich noch daran, daß ich Ha-
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sek zur Probe die Aufgabe stellte, den Satz »Gib das der Mutter!« in die neue Sprache zu übersetzen. Augenblicklich erwiderte er: »Uj ach bababa rachrachrach!« Aus dieser bescheidenen Sprachprobe ist ersichtlich, was für eine kernige und wohlklingende Sprache das gewesen sein muß, und jeder wird zugeben: Es ist ewig schade, daß wir diese großartige Idee bald wieder verworfen haben. Derartige Erfindungen machten wir an die hundert, aber wie es bei leichtfertigen Menschen wie uns nun einmal ist - wir stellten der Menschheit nichts davon zur Verfügung und verwandelten die Einfälle auch nicht in klingende Münze. Einmal legten wir fest, daß ich ein armer Häusler sein sollte, Hasek aber ein reicher, verstockter Bauer. Ich sollte eine Tochter haben, Hasek einen Sohn, und die beiden sollten sich so innig lieben, daß sie um nichts in der Welt voneinander lassen wollten. Wir lebten uns derart in diese Rollen ein, daß Menschen im wirklichen Leben nicht verstockter sein konnten. Solange wir es wünschten, herrschte bei uns noch einigermaßen Ruhe, aber einmal kam Hasek nach Hause, wütend wie ein hungriger Löwe, und wäre beinahe über mich hergefallen. Angeblich hatte er im Gasthaus »Na ruzku « erfahren, daß sein Sohn Vaclav mit aller Gewalt meine Tochter Anezka zur Frau haben wolle; da habe er es im Gasthaus nicht länger ausgehalten. Er brüllte, lieber würde er dem Jungen den Hals umdrehen, als in eine Hochzeit mit solch armem Gesindel einzuwilligen. Er verlangte von mir, ich solle meiner Tochter energisch verbieten, weiterhin seinem Sohn nachzustellen. Natürlich setzte ich mich dagegen zur Wehr, und von diesem Augenblick an kam es bei uns zu derartigen Exzessen, daß der Hausbesitzer persönlich auf der Bildfläche erschien und uns androhte, er lasse uns gerichtlich exmittieren. Manchmal schlugen wir uns deshalb sogar, ja, wir beendeten unsere Fehde auch nicht im Cafe, ja nicht einmal in der Straßenbahn. Erst als eine alte Frau einen Wachtmeister auf uns hetzte, weil Hasek auf offener Straße gebrüllt hatte, lieber zünde er den Hof an, als daß er meine Tochter als Schwiegertochter akzeptiere, wurde der widerspenstige Bauer zahm und willigte in die Hochzeit unserer IGnder ein. Für einige Zeit herrschte wieder Ruhe und Frieden.
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Lesende Gäste im Union
Die Innenräume des Union
Gäste des Un ion beim Ausflug, rechts di e Brüder Capek
Ober Patera, der Künstlermäzen »Anekdoten aus der Unionka«, Titelbild von Sv. Pitra
nion-ln seral, Entwurf: V. 1-1 . ßrunn er
Der Zeichner V. 1-1. Brunner, häufiger Gast im Union, Legendärer Prellstein am Kaffeehau s Union
Selbstkarikatur
Das Kabarett Montmartre
Josef Waltner, Besitzer des Montmartre, bei einem Solo
Vor dem ersten Weltkrieg : Tango und Apachenlanz
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• la, v Nczval , I)" ·ht er V,,tezs Der ,c . 1 im Slavia, be rühmte r G"~d . Hoffmeister Kank,e r! von
links: In de r Wein stube U Jeziska
li nks: Kopmanka, e in st Kaffeehau s und Wirkungsstätte Jar. Hascks, heule Restaurant Na Balklme
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Es ist paradox;, daß wir immer, wenn wir aus Geldmangel nicht ins Cafe gehen konnten, um große Geldbeträge zu spielen begannen. Wir besaßen eine Unmenge gelber Blechmünzen, die wir in einem solchen Augenblick in den Rang von Dukaten oder Louisdors erhoben. Dann spielten wir wild um schwindelerregende Beträge. Wir spielten zwar nur Macao, doch dabei kann man im Nu ordentlich verlieren! Dauernd waren wir einander eine Fuhre Geld schuldig, ohne daß das unseren korrekten Verkehr störte. Aber einmal vergaß Hasek sich so weit, daß er mir in der Weinstube Pefö.k öffentlich vorhielt, ich schuldete ihm 5 Millionen Goldlouisdors. Mir wich das Blut aus den Wangen, und ich hätte vor Scham in den Erdboden versinken können. Deshalb begrüße ich die Gelegenheit, heute, nach 35 Jahren, allen anständigen Menschen erklären zu können, wie es sich damals mit dieser Schuld in Wirklichkeit verhalten hat. Hasek schrieb leicht und ohne jede Anstrengung. Auf seine Humoresken konnte man in der Tat warten. Und er schrieb überall: in der Straßenbahn, im Gasthaus, im Cafe, mochte es dort auch noch so laut zugehen. Zu all dem betrieb er noch eine Art literarischer Äquilibristik. Einmal schrieb er im Cafe Union eine Humoreske, und für einen Sechser durfte sich jeder seiner Bekannten unter den Gästen einen Namen ausdenken, den er gleich im nächsten Satz unterbrachte, ohne dadurch die Verständlichkeit der Handlung zu beeinträchtigen. Als Hasek bei mir wohnte, schrieb er gewöhnlich von vier Uhr nachmittags an. Das legte er immer fest, wenn er nach ein Uhr in mein Arbeitszimmer kam und sich nochmals auf der Ottomane ausstreckte. Tatsächlich erhob er sich pünktlich um vier Uhr von seiner Liegestatt und begann sofort mit dem Schreiben. Manchmal hatte er das Motiv schon vorher bestimmt, aber gewöhnlich erdachte er es erst, wenn er am Tisch saß. Worüber er schreiben würde, darüber zerbrach er sich nie den Kopf. Er saß eine Weile regungslos da, die Augen auf das Blatt Papier gerichtet, und dann begann er zu schreiben. Er schrieb rasch, ohne lange Intervalle, in seiner gut lesbaren, zierlichen Handschrift. So ging es bis sechs Uhr. Zu diesem Zeitpunkt war die Humoreske in der 97
Regel fertig, und er lief mit dem Manuskript rasch in eine Redaktion, um sein Werk in klingende Münze zu verwandeln. Hasek ließ sich sein Honorar immer sofort auszahlen, sozusagen aus einer Hand in die andere, auch wenn er dabei einen gewissen Verlust in Kauf nehmen mußte. Das war ihm lieber, als bis zur Veröffentlichung zu warten, wonach das Honorar nach Zeilen berechnet wurde. Diese nahezu improvisierte Arbeitsweise nahm Haseks Arbeiten nichts an Qualität, wenn man auch die Has.t und die Arbeit auf einen Sitz an der Gestaltung und am Stil erkennt, denn gleich ins reine und ohne jegliche Vorbereitung zu schreiben konnte sich selbst ein so genialer Humorist wie Hasek nicht leisten. Sobald er eine Humoreske fertig hatte, las er sie mir vor, damit ich mein Urteil abgab. Dabei lachte er selbst immer herzlich über seine witzigen Einfälle und rollte die Augen, um dadurch eine komische Situation zu unterstreichen. Beim Schreiben wußte er sich immer einen Rat, wie er aus einer noch so verzwickten Situation herauskommen konnte. Nur ein einziges Mal erbat er meine Hilfe: Die Heldin einer Humoreske, eine Trödlerin, hatte sich mit ihren Kunden in eine dumme Geschichte verstrickt, und Hasek wußte nicht, wie er sie von den Kunden befreien sollte. Er fragte mich, was ich der Trödlerin raten würde, aber ich war gerade nicht in Stimmung für derartige nachbarschaftliche Dienste, denn ich · schlug mich mit etwas herum, was mir nicht gelungen war, und wußte mir keinen Rat damit - geschweige, daß ich einem andern hätte helfen können. So gab ich ihm barsch zur Antwort, die Trödlerin solle einfach alle Kunden erschlagen und nicht fleißig arbeitende Menschen belästigen. Hasek nahm diesen Rat dankbar an und beendete die Humoreske genau nach meinem Vorschlag. Was für ein gutes Herz Hasek hatte, habe ich in meinen Erinnerungen an das Cafe Union beschrieben. Hier will ich nur noch verraten, welche Gest:henke er mir machte, wenn er von seinen nächtlichen Streifzügen zurückkehrte. Meist war es Obst: Äpfel, Pfirsiche oder Apfelsinen. Gelegentlich brachte er eine Gänsekeule, Leberwürste, Süßholz, eine Ente, eine Nachtigall, eine Mundharmonika, Lebkuchen oder eine Wundertüte. Das legte er mir immer auf das Nachtschränk-
chen, damit ich eine Freude hätte, wenn ich am Morgen erwachte. Einmal lag sogar ein fettes Rebhuhn dort. Es war zwar schon etwas angegangen, aber es freute mich doch, daß Hasek an mich gedacht hatte. Am nächsten Morgen setzten wir es dann so geschickt auf das Treppenfenster, daß es dort wie lebendig saß, und hielten von oben her Ausschau, was geschehen würde. Und der Streich gelang: Gerade kam die größte Klatschbase des Hauses, die alte Kustilkovä, vom Einkauf zurück. Als sie das fette Rebhuhn sah, dämpfte sie augenblicklich ihre Schritte und stahl sich langsam zum Fenster; dann ein rascher Sprung - und schon hielt sie den Vogel in der Hand. Ihre gute Nase informierte sie jedoch augenblicklich über den Zustand der unverhofften Beute, und sie schleuderte das Rebhuhn wütend auf den Fußboden. Wir verzogen uns rasch und in größter Stille in die Wohnung. Kaum war die Alte hinter ihrer Tür verschwunden, richteten wir das Rebhuhn für einen anderen Liebhaber von Geflügelbraten her. Ein Herr erzählte mir bald danach, er habe bei Nacht Hasek getroffen, der eine verendete Katze trug. Auf die Frage, wohin er sie bringe, antwortete er, sie sei ein Geschenk für Josef Lada, sei sie doch ein besonders schönes Exemplar einer verendeten Katze. Aber ich habe sie nicht bekommen. Wahrscheinlich hat irgendein Filou sie ihm unterwegs abgeschwindelt. Noch eine Geschichte von einer Katze! Es goß wie aus Kannen. Wir kamen gerade aus einem Gasthaus und gingen nach Hause. Unweit unserer Wohnung sahen wir vor einer Haustür eine zusammengerollte Katze, die vor Kälte zitterte und kläglich miaute. Zuerst wollten wir beim dortigen Hausmeister klingeln, sahen aber dann davon ab, als wir uns der späten Nachtstunde bewußt wurden und uns vorstellten, wie die Stimmung des Hausmeisters wäre, wenn er wegen einer nassen Katze aus dem warmen Bett geholt würde. Wir nahmen sie also mit und beschlossen, sie erst in unserem Hause laufen zu lassen. Wir glaubten, ihr würde schon ein trockenes Plätzchen genügen. Aber sie war offenbar an Gesellschaft gewöhnt und wollte nicht allein sein. Sie begann auf der Treppe zu miauen, kaum daß wir in der Wohnung verschwunden waren. Fürchtete sie sich etwa bei Dunkelheit in einem
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Wissenschaft und Kunst in Petriks Weinstube: Josef Susta und Vaclav Tille, gezeichnet von A. Hoffmeister
fremden Haus? Sie miaute immer lauter und trippelte auf der Treppe nach oben und nach unten, bis sie den Hausmeister geweckt hatte. Er stand auf, machte Licht im Treppenhaus und öffnete die Haustür, damit die Katze ein Schlupfloch hatte. Dann stieg er bis zum Boden hinauf, wohin die Katze vor ihm geflohen war, und trieb sie mit einem Besen nach unten. Er übersah dabei aber, daß auf diesem Wege vorher noch die Kellertreppe abging. Die Katze huschte über die Treppe hinunter, bis zur Tür des verschlossenen Kellers. Als der Hausmeister sie auch von dort verjagte, entwischte sie nicht, seinem Wunsche entsprechend, auf die Straße, sondern jagte spornstreichs wieder zum Boden hinauf. Der• Hausmeister fluchte unflätig, ohne die späte Nachtstunde zu bedenken, und weckte seine Frau. Das war klug. Die Hausmeisterin postierte sich an der Kellertreppe, und der Hausmeister stieg wieder zum Boden hinauf. Dort gelang es ihm, der Katze mit dem Besen einen Schlag zu versetzen, und sie schoß wie ein Pfeil hinunter zur Haustür, 100
vorbei an der Hausmeisterin. Die Frau folgte ihr mit dem Besen, damit sich die Katze nicht noch irgendwo verkroch. Tatsächlich enteilte das gehetzte Tier durch die offene Haustür auf die Straße, doch kaum spürte es draußen den Regen, machte es kehrt und flog wie ein Pfeil wieder zurück ins Haus, vorbei an der verdutzten Hausmeisterin. Die warf zwar den Besen nach der Katze, aber diese lief bereits wieder zum Boden, dem Herrn Hausmeister entgegen, und kam auch bei ihm glücklich durch. Der Lärm hatte inzwischen alle Mieter geweckt; sie glaubten, der Hausmeister verfolge einen Einbrecher. Erschrocken krochen die alleinstehenden Frauen entweder unters Bett, oder sie verbarrikadierten die Türen mit Tischen, Schränken und Betten. Selbst der Hausbesitzer kam, eine Pistole in der Hand, unerschrocken aus seiner Wohnung, um dem Hausmeister Unterstützung zu geben. Und so wiederholte sich, nun gemeinsam mit dem Hausbesitzer, die ganze Jagd vom Boden bis zum Keller, vom Keller zur Haustür und wieder hinauf zum Boden. Schließlich ordnete der Hausbesitzer an, der Hausmeister solle die Bodentür öffnen, und sie jagten die Katze dort hinein. Natürlich wurde alles wieder uns in die Schuhe geschoben, obwohl wir beteuerten, wir seien nicht draußen gewesen. Aber die Hausmeisterin zählte an den Fingern ab, wer von den Mietern es wohl gewesen sein könnte: der Hausbesitzer gewiß nicht, der alte Herr Wichtrle erst recht nicht, und die anderen waren alle alleinstehende Frauen, von denen bestimmt keine so spät in der Nacht nach Hause kam. Das mußten wir anerkennen. Km·z und gut: Erst ein Kilo Kaffee, das wir der Hausmeisterin überreichten, schaffte die Katzengeschichte aus der Welt. Ab und zu ging ich mit Hasek ins Kino. Zwei Lichtspielhäuser waren uns die liebsten: eines in der Ferdinandstraße, das andere in der Jecna, im Haus »Zu den Vierzehn Nothelfern«. Das erste besuchten wir gern, weil dort die Kapelle so fürchterlich falsch spielte, daß es selbst Hasek, der doch nicht für einen roten Heller musikalisches Gehör hatte, zum Lachen reizte. Wir saßen ganz hinten in einer Loge und bogen uns vor Lachen, wenn die Musik bei traurigen Szenen besonders falsch wimmerte. Einmal, als auf der Leinwand die Tochter des Bür101
germeisters zum Fluß lief, um sich zu ertränken, spielte die Kapelle als Untermalung ihres letzten Weges einen schneidigen Marsch; vielleicht hatten die Musiker die Szene verwechselt. Zu den »Vierzehn Nothelfern« zog uns dagegen das interessante Publikum. Dort wurden zwar nur lauter alte Filme gezeigt, manchmal so abgespielt, daß man kaum erkennen konnte, worum es ging, doch das Publikum war zufrieden und reagierte äußerst lebhaft auf die jeweils vorgeführte Handlung. Bei einer Szene, in der ein grimmiger Bandit ein Kind ins Feuer werfen wollte, sprang ein in den vorderen Reihen sitzender Junge auf, drohte dem Räuber mit geballter Faust und rief hysterisch: »Wohin willst du es werfen, du Galgenstrick?« Ein andermal wieder, als auf der Leinwand ein Zug anscheinend unmittelbar ins Publikum raste, zogen die Kinobesucher in den vorderen Reihen die Köpfe ein und krochen fast unter die Sitze, und einige Frauen schrien erschrocken auf. Damals erläuterten die Erklärer noch die einzelnen Phasen der Handlung, und das Publikum hatte das Recht, nach Einzelheiten zu fragen. Das nutzte Hasek weidlich aus und hatte dann die Lacher auf seiner Seite. In diesem Kino standen hinter den Sitzplätzen oft die Droschkenkutscher aus der nahegelegenen Kleinen Stephansgasse, wo sich die Ställe befanden. Sie reagierten besonders laut auf Einzelheiten des Films und gaben ihrer Bewunderung oder ihrem Unwillen lautstark Ausdruck. Als einmal eine alte Droschke zu sehen war, brüllten sie vor Lachen und riefen: »Na servus, du hast aber einen schönen Schlitten!« Wenn ihnen etwas besonders gefiel, riefen sie zum Vorführer hinauf: »Ruda, das war aber schön! Zeig das noch mal, sei so gut!« An meinem Namenstag, dem 19. März, fragte mich Hasek am Morgen, wie ich meinen Festtag zu feiern gedächte. Ich erwiderte, die Feier werde wohl im Hinblick auf meine schwachen Finanzen recht bescheiden ausfallen. Hasek dachte eine Weile nach, rollte die Augen, blickte ins Leere und sagte dann ganz langsam: »Hmm - das ist aber dumm! - Du hast Namenstag - und kein Geld! Schau einmal! Ich habe gerade Geld - und heute keinen Namenstag. Weißt du, was? Ich kaufe dir den Namenstag ab und begehe ihn würdig und schön, wie es sich bei einem solchen Namenspatron geziemt.« Nun war es an mir zu 102
überlegen: Hasek hatte recht, ich besaß kein Geld, um zu feiern, und er konnte ordentlich auf den Putz hauen. So vereinbarten wir mit Handschlag, daß l-Iasek mir meinen Namenstag für 10 Kronen abkauft. Ich gratulierte ihm gleich zum Ehrentag, und er band sich eine bessere Krawatte um. Überhaupt verhielt er sich wie ein Mensch, der tatsächlich Namenstag hat: Er übernahm die Post vom Briefträger und beschlagnahmte alle an mich adressierten Glückwunschkarten. Ebenso den Gugelhupf, den die Hausbesorgerin mir zu Ehren gebacken hatte. Im Gasthaus bestellte er sich ein besseres Mittagessen. Gleich danach begannen wir unseren Bummel durch die Gasthäuser und Cafes. Überall wünschte man Hasek alles Gute, bot ihm Zigarren sowie Kaffee mit Rum an und traktierte ihn mit Bier und Wein. Man spielte für ihn auf dem Klavier und auf der Ziehharmonika, sang für ihn und tanzte mit ihm den damals beliebten Tango. Ihm zu Ehren wurde ein Feuerwerk
Susta und Tille in der Weinstube U Peti'ikü, gezeichnet von A. Hoff meister
abgebrannt, man schoß aus Knallpistolen und tat, der. Teufel mag wissen, was sonst noch alles. Hasek strahlte über das ganze Gesicht und flüsterte mir immer wieder zu: »Siehst du, so feiert man seinen Namenstag! Du hättest ihn sicherlich nicht auf diese Weise genossen! Da hätte kaum eine Ziege gemeckert!« Nach Mitternacht kamen wir noch in die Weinstube Pefök, wo ein Verehrer Haseks ihm zu Ehren zehn Flaschen Melni.ker Wein auffahren ließ. Aber daran nippte Hasek nicht einmal - erstens, weil nach Mitternacht sein Namenstag vorbei sei, zweitens aber, weil ihm überhaupt kein Recht auf irgendwelche Geschenke zustehe, denn er habe mir den Namenstag gar nicht bezahlt. Als ich Kudej erzählte, daß Hasek einen Namenstag auf Pump gefeiert hatte, entflammte er in heiligem Zorn und beschlagnahmte rasch alle Geschenke, die noch greifbar waren. Vergeblich bot mir Hasek die 10 Kronen an, ich nahm sie nicht entgegen und forderte die Glückwunschkarten, den Gugelhupf und alle persönlichen Gratulationen, die er empfangen hatte, zurück. Er mußte sie mir alle aufsagen, wie er sie vom frühen Morgen bis Mitternacht entgegengenommen hatte, und ich gab höllisch acht, daß er nicht von den Wünschen etwas für sich behielt - freilich, soweit ich mich selbst daran erinnerte. Wie mir scheint, waren wir damals noch nicht recht bei Verstand. Während unserer Streifzüge durch die idyllische Kleinseite verirrten wir uns einmal auch zu St. Thomas. Dorthin kamen wir nur selten, weil diese Gaststätte etwas abseits vom Wege lag. Es war eine warme Julinacht, das Bier schmeckte, und so ist es nicht verwunderlich, daß wir uns dort bei einem Militärkonzert bis zum Ende der Darbietungen aufhielten. Es ist sonderbar: Obwohl Hasek keinen Funken musikalisches Gehör hatte, begeisterte ihn die schneidige Militärmusik derart, daß er danach auf der Straße die Stute küßte, die die große Trommel zog. Ich weiß nicht, 6b er seine Dankbarkeit an der richtigen Stelle bekundete, aber die Soldaten waren davon jedenfalls sehr angetan. Von St. Thomas zum Üjezd ist ein weiter Weg; deshalb kehrten wir erst einmal zu einer kleinen Erfrischung in einer italienischen Weinstube ein. Wir erhofften vom Kellner gewisse italienische Sprachkennt-
nisse, und da er tatsächlich aus der Toscana stammte, wo man angeblich das reinste Italienisch spricht, nutzten wir die gebotene Gelegenheit weidlich, so daß wir, als das Lokal hinter uns geschlossen wurde, »Buona mattina« sagen konnten. Auf einer Parkbank unterhalb der Resslova ruhten wir eine Weile aus. Da verlockte uns der Anblick des frischen Rasens, einmal auszuprobieren, wie schön es sich darauf schläft. Wir streckten uns also aus und schliefen bald tief und fest. Ein ähnlicher Nachtfalter wie wir, ein später Spaziergänger, legte sich in der unklaren Vorstellung, daß dort ein Hotel unter freiem Himmel ist, neben uns und schnarchte zufrieden mit uns um die Wette. Als wir gegen Morgen erwachten, empfand ich keine Erfrischung. Im Gegenteil, mir war übel, und mein Magen betrug sich ungemein revolutionär. Offenbar war er mit den verschiedenen »Spezialitäten«, die in den Gasthäusern verkauft wurden, nicht einverstanden. Nach meiner Heimkehr wurde ich von so heftigen Schmerzen befallen, daß ich Hasek bat, einen Arzt zu holen, und zwar einen unserer Bekannten, Dr. Novak., der in der Vysehradska wohnte. Hasek hatte dazu keine große Lust; er fragte immer wieder, ob ich tatsächlich krank sei und mich nicht nur wichtig machen wolle. Als er aber sah,
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Zeichnung V. H. Brunners für ein Buch über Gäste des Cafes Union
daß ich mich wie ein Wurm krümmte, ging er schließlich doch. Dr.Novak kam sofort. Er stellte lediglich Magenschmerzen infolge des Genusses eines nicht mehr ganz frischen Rollmopses fest, verordnete mir heißen schwarzen Kaffee und verschrieb einige Tropfen, vielleicht opiumhaltige. Den Kaffee kochte die Hausbesorgerin, und Hasek verließ gemeinsam mit dem Arzt das Haus, um die Medizin zu holen. Nach dem Kaffee fühlte ich mich besser und wartete nur noch auf die Medizin, die mich völlig von den Schmerzen befreien sollte. Aber Hasek kam nicht zurück. Er kam auch nicht zu Mittag, als mir bereits viel besser war, und auch nicht am Abend, als ich die Medizin schon fast hätte selbst holen können. Von manchen Menschen sagt man, man könne sie getrost um den Tod schicken, aber Hasek hätte man nur noch zur Ordnung des Nachlasses schicken können. Eine Woche danach, es war gegen Mittag, öffnete sich die Tür meines Zimmers, und es erschien Haseks Kopf. Als er mich am Tisch sitzen sah, legte er los: »Sieh einmal an, ihm fehlt gar nichts, und dabei hetzt er mich wie einen Hund durch alle Apotheken! Ich renne mit heraushängender Zunge durch die ganze Stadt, und dieser Simulant ist gesund wie ein Fisch im Wasser! Nur gut, daß ich mich nicht ins Bockshorn jagen ließ und die Medizin nicht besorgt habe, es wäre doch ewig schade um das Geld gewesen!« Als Hasek Redakteur der Zeitschrift »Die Welt der Tiere« war, wohnte er beim Herausgeber dieser Zeitschrift, L. Hajek, wo er auch verköstigt wurde. Kurz und gut, Hasek war bei Hajek »unter Deputat«. Damals feierten wir gemeinsam in einer Weinstube Silvester. Ich malte Hasek mit Kopierstift einen riesigen Schnauzbart auf die W angen. Die Barthaare waren violett, und Hasek sah damit unheimlich aus - wie ein tatarischer Hetman. Gegen Morgen hatte ich genug von der Silversterkomödie und forderte Hasek auf, mit in meine Wohnung zu kommen und sich dort auszuschlafen. Er lehnte aber ab, denn er hatte am Neujahrstag eine redaktionelle Verpflichtung: drei Abonnenten der Zeitschrift war eine Neujahrsprämie zu überreichen. Es war eine Wirtschaftszeitschrift,
und deshalb waren auch die Jahresprämien eher praktisch: eine Jagdflinte, ein Fahrrad und eine Kaffeemühle. Die glücklichen Gewinner sollten diese Gegenstände am Morgen des Neujahrstages persönlich in der Redaktion in Empfang nehmen, wobei ihnen Hasek ein glückliches neues Jahr wünschen und der Hoffnung Ausdruck geben sollte, sie mögen noch viele Jahre treue Abonnenten der Zeitschrift bleiben. Deshalb mußte er zum Ausschlafen nach Hause gehen. Sein Chef, L. Hajek, war mit seiner Frau über die Feiertage nach Domazlice gefahren, und somit stand Hasek die ganze Wohnung zur Verfügung. Im Schlafzimmer des Chefs schliefen wir großartig, und am Morgen waren wir wieder fröhlich und guter Dinge. Aus den Vorräten des Chefs bereiteten wir uns ein exzellentes Frühstück, obwohl das Kochen durch bestimmte Schwierigkeiten kompliziert war. Hajek wohnte nämlich in einem alten Haus, und seine Vorratskammer befand sich erst am Ende des langen offenen Ganges, der Pawlatsche. Das störte aber Hasek nicht im geringsten - er fuhr auf dem als Prämie bestimmten Fahrrad vom Herd zur Kammer und hatte dabei Glück, daß er nicht über das Geländer auf den Hof stürzte. Den Kaffee mahlten wir natürlich auf der Prämien-Kaffeemühle. Etwa um 10 Uhr klingelte es. »Das ist sicherlich der erste Gewinner!« rief Hasek, griff nach der Jagdflinte und lief dem glücklichen Abonnenten entgegen. Ich folgte ihm, um als vermeintlicher Chef ebenfalls eine zu Herzen gehende Rede zu halten, aber dazu kam es leider nicht mehr. An der Tür stand nämlich kein stattlicher Jäger, sondern eine ältere Frau. Kaum hatte sie Hasek erblickt, schrie sie erschrocken auf und eilte Hals über Kopf die Treppe hinunter. »Meine Dame, Sie haben eine Kaffeemühle gewonnen!« rief Hasek ihr nach, aber sie befand sich wohl schon auf der Straße. »So eine verrückte Alte!« sagte Hasek, um sein Herz zu erleichtern. »Fürchtet sich vor der Flinte und hätte doch eine Kaffeemühle bekommen können. Wie ergreifend wäre das gewesen - du hättest eine Rede gehalten, daß die Frau zu Tränen gerührt wäre, und ich hätte am Schluß der Rede Salut geschossen. Der Teufel soll so einen Angsthasen holen!« Ich blickte meinen Freund enttäuscht an - und brach in schallendes Gelächter
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aus. »Wie sollte die Frau nicht erschrecken, du hast ja noch den angemalten Schnauzbart! Du siehst aus wie der leibhaftige Teufel, und noch dazu mit einer Flinte!« Was seine exzentrischen Einfälle betrifft, so war Hasek unerforschlich. Er überraschte seine Mitmenschen damit spontan, unverhofft, wenn sie darauf am wenigsten gefaßt waren. Ging man mit Hasek spazieren, mußte man immer gewärtig sein, daß es jeden Augenblick zu einem Konflikt kommen könnte, der zwar nur im Scherz ausgetragen wurde, für einen ernsthaften Menschen aber zumindest unangenehm war. Meist endeten diese unverhofften lnzidente mit einer fröhlichen Versöhnung, denn, soviel ich weiß, hat nie jemand Hasek wegen Beleidigung oder Körperverletzung verklagt - abgesehen von einem einzigen Fall der Ehrverletzung in der Presse, doch endete auch dieser mit einem witzigen entschuldigenden Leserbrief. Hasek verstand es, seine Tischnachbarn in Gasthäusern und Weinstuben auf die Palme zu bringen (was keine Kunst ist), aber im Handumdrehen konnte er sie auch wieder in herzliches Lachen ausbrechen lassen und sich mit ihnen versöhnen. Bei ihm bewahrheitete sich immer wieder die Redewendung: Er versteht es, auf der Stelle umzuwenden - wie ein guter Fuhrmann! Manchmal heizte er, vor allem in billigeren Schenken, die Stimmung derart an, daß ein Zusammenstoß bereits in der Luft lag, aber dann genügten ein paar Worte von ihm, und die bereits zur Faust geballten Hände öffneten sich zu einer freundschaftlichen Umarmung. Durch ein witziges Wort zog er sich aus heiklen Situationen, aus denen ein anderer nicht mit heilen Gliedern entkommen wäre. Er verstand es, selbst die kleinsten und alltäglichsten Anlässe für seine unverhofften Abenteuer zu nutzen. Ohne lange Überlegung, aus heiterem Himmel und spontan. Einmal stiegen wir kurz vor Mitternacht am Pulverturm in die Straßenbahn, die in Richtung Podoli fuhr. Der Wagen war nahezu leer. Drinnen saß eine Dame und auf dem Sitz der hinteren Plattform ein finster dreinblickender Herr, der uns von Kopf bis Fuß musterte. Dieser Blick reizte Hasek offenbar zu einem Scherz. Uns kam es sonder108
bar vor, daß der Herr nicht in dem leeren Wagen bei der Dame Platz genommen hatte, zumal er sich jeden Augenblick erhob und etwas zu der Dame im Wageninnern sagte. Als er wieder einmal aufstand, setzte sich Hasek leise auf den Platz dieses Herrn, so daß der, als er sein kurzes Gespräch mit der Dame beendet hatte und zu seinem Platz zurückkehrte, auf Haseks Schoß landete. Rasch, wie von einer Natter gebissen, schnellte er hoch und schrie wütend: »Mein Herr, wo haben Sie Ihre Augen? Haben Sie nicht bemerkt, daß ich hier sitze?« Hasek hielt sich mit Zeigefinger und Daumen die Nase zu, als störe ihn ein Geruch, und näselte als Antwort: »Ach, Sie!« Der Herr schickte sich an, etwas recht Scharfes zu erwidern, ihm war anzumerken, daß er tief Luft holte, da schuckelte die Bahn so rasant am Nationaltheater vorbei, daß der Herr das Gleichgewicht verlor und Hasek in die Arme fiel. Unter dem Vorwand, das sei ein Angriff, stieß Hasek den Herrn so heftig an, daß der in das Wageninnere auf einen Sitz fiel. Das alles geschah äußerst rasch und unerwartet, und der Schaffner stand erst eine Weile mit offenem Mund da, bevor er sich aufraffte, dem Fahrer das Signal zum Halten zu geben. Die Bahn kam so plötzlich zum Stehen, daß wir alle wie betrunken durch den Wagen taumelten. Dann erfolgte die unvermeidliche Lösung des Knotens: Ich stieß Hasek aus dem Wagen, und der Schaffner hielt den Herrn mit einer Hand fest, als wolle er ihn vor dem Hinausfallen bewahren, während er mit der anderen Hand dem Fahrer das Zeichen zum Weiterfahren gab. Als der Wagen bereits in Bewegung war, ließ der Schaffner den Herrn los, der lief an das hintere Ende des Wagens und drohte uns wütend mit der Faust. Auch ich hielt jetzt Hasek nicht mehr unnötig fest, und er konnte nun seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Er rannte hinter der Straßenbahn her, drohte ebenfalls mit der Faust und rief: »Dir werde ich es schon noch zeigen, du Rotzbub! Das ist mir ein schöner Verkehr!« Und noch ein anderes Beispiel für Haseks »Kurzgeschichten«: Einmal unterbrachen wir gegen Mitternacht unseren Heimweg und gingen noch in eine Weinstube in unserer Straße. Sie war bereits leer oder noch leer - ich weiß nicht mehr, welchen Ruf dieses Lokal hatte. Nur 109
Frantisek Bidlo, Selbstkarikatur
ein alter Mann vom Lande saß da, der offenbar nach Prag gefahren war, um einmal über die Stränge zu schlagen. Ihm war eine gewisse Verlegenheit anzumerken; davon zeugte sein unsteter Blick. Im übrigen machte er den Eindruck eines anständigen Menschen. Hasek genügte ein einziger Blick, und schon machte er sich auf seine Kosten lustig. Er bedachte den alten Herrn ständig mit so strengen Blicken, daß es dem heiß und kalt über den Rücken lief; er griff öfter zum Glas, trommelte erregt mit den Fingern auf die Tischplatte und warf Hasek ab und zu einen verstohlenen, unsicheren Blick zu. Als ich das bemerkte, ermahnte ich Hasek: »Laß ihn in Ruhe! Provoziere ihn nicht!« Doch Hasek erklärte nachdrücklich mit gedämpfter, aber vernehmlicher Stimme: »Bedaure ihn nicht! Ich habe Befehl, ihn zu verhaften!« Nach diesen Worten sank der alte Mann vor Schreck fast unter den Tisch, doch schon war die Rettung nahe. Die Weinstubenbesitzerin, eine stattliche und resolute Person, hatte offenbar den Sinn von Haseks Scherz begriffen, aber der alte Mann war ihr als Gast sicherlich lieber als wir beide, und deshalb bereitete sie dem Scherz ein rasches Ende. Sie forderte uns auf, gleich zu zahlen, das Lokal werde geschlossen. Kaum waren wir auf der Straße, ereignete sich schon wieder etwas. Unter der neu hergerichteten Straße, die erst kürzlich geschottert worden war, wurde eine Gasleitung verlegt. In der Mitte der Straße zog sich ein langer, tiefer Schacht hin, oben durch Bretter gesichert und mit einer Winde für das Hochziehen des Materials versehen. In diesem Augenblick war der Schacht von den Arbeitern sicherlich längst verlassen, aber Hasek glaubte, jemand hätte daraus um Hilfe gerufen. Er ging also hin, beugte sich hinunter und rief in die Tiefe: »Ist dort jemand? Und was wünschen Euer Wohlgeboren?« Er bekam keine Antwort. Dafür verlor er das Gleichgewicht und fiel hinunter. Er hatte noch Glück, daß er über die schräge Wand rollte und so, ohne Schaden zu nehmen, auf dem Boden des Schachtes landete. Nun ergab sich die Frage: Wie sollte ich ihn wieder herausbekommen? Der Schacht war recht tief. Er sah ein, daß er nicht nach oben kommen konnte, und gab mir den Rat, nach Hause zu gehen und mich niederzulegen, wir III
befanden uns ja unmittelbar vor meiner Wohnung; er würde es schon bis zum Morgen aushalten, doch bat er mich, ab und zu aus dem Fenster zu rufen: »Fleisch?« Und er würde antworten: »Knochen«. Das sollte zur Kontrolle dienen, daß er noch am Leben sei. Zwar hatte ich immer Sinn für derartige Albernheiten, doch erschien es mir nicht witzig, einen Kameraden bis zum Morgen in der feuchten Grube zu lassen. Ich weckte deshalb den Hausbesorger unseres Hauses, und mit seiner Hilfe - ich weiß nicht mehr, ob mit einem Seil oder einer Leiter - zogen wir Hasek wieder herauf. Es ist erstaunlich, daß Hasek zu gelegentlichen Besuchen auch anständige Lokale aufsuchte, die aber waren im Besitz von ebenso sonderbaren und exzentrischen Menschen, wie Hasek einer war. Einmal besuchte ich Hasek in seiner Wohnung irgendwo am Ende von Kosire. Er bewirtete mich mit Kaffee, den er selbst jedoch verabscheute. Dann gingen wir in ein nahegelegenes Gartenrestaurant. Das war leer. Wir bestellten ein Bier und begannen zu kegeln. Das Spiel nahm uns im Nu gefangen, und wir spielten mit solchem Elan, daß dabei das lange Seitenbrett, das die Kegelbahn vor der Erde schützte, herausgerissen wurde. Erdklumpen rollten auf die Bahn, und aus war es mit dem Spiel. Aus Wut zerbrach Hasek zwei Gartenstühle und rief dann dem Wirt zu, er wolle zahlen. »Wir hatten vier Glas Bier, eine beschädigte Kegelbahn und zwei Gartenstühle«, sagte Hasek ehrlich an. - »Gut! Also vier Glas Bier, Herr Redakteur! « wiederholte der Wirt mit demonstrativer Gleichgültigkeit. »Das macht 48 Heller! « Erst danach fügte er zur Erklärung hinzu: »Die Kegelbahn und die Stühle berechne ich nicht! Die dienten Ihrer Unterhaltung, und für Unterhaltung wurde bei mir noch nie bezahlt! « Dieser Wirt war aber nicht der einzige Sonderling. Bei anderer Gelegenheit will ich gern die Beweise dafür liefern, daß es in Prag meh1·ere ähnliche, ja noch sonderbarere Exemplare dieser Gattung gegeben hat. In Kosife wurde Hasek sehr verehrt und geschätzt. Bei einem anderen Besuch hatte ich mich bei ihm etwas länger aufgehalten, und Hasek sagte, ich sollte bis zum nächsten Morgen bei ihm bleiben. Vor
Mitternacht lehnten wir uns aus dem Fenster, um die frische Nachtluft einzuatmen. Es war still ringsum, nur aus der Feme, von Prag her, waren die lauten Stimmen angeheiterter Bürger zu vernehmen. Nach längerer Zeit konnten wir endlich die Passanten erkennen; sie tauchten aus der Dunkelheit auf und näherten sich uns. Es waren zwei Männer. Sie taumelten von der Hauswand bis an den Rand des Gehsteigs und begannen wieder mit ihrem grölenden Ge~ang. Als sie nur noch einige Meter entfernt waren, spuckte Hasek aus dem Fenster, ohne die Folgen seines Tuns zu bedenken. Der Gesang brach jäh ab, und einer der Betroffenen brüllte in die stille Nacht: »Was ist denn das?! Welcher Lümmel erlaubt sich so etwas?« Doch der andere stieß ihn an und flüsterte ihm erschrocken ins Ohr: »Kusch, Franta, das war doch der Herr Redakteur! « Und gleich war es still, nur jener, der sich beleidigt gefühlt hatte, brummte etwas zur Entschuldigung. Die beiden Gestalten entfernten sich taumelnd. Erst ein ganzes Stück weiter stimmten sie mit krächzenden Stimmen das Lied an:
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Ein Künstler auf dem Weg von Kaffeehaus zu Kaffeehaus
An der Straße nach Radlice da steht ein kleines Haus. Dort schenkt meine Allerliebste ein Bier nach dem andern aus. Wahrscheinlich führte sie ihr Weg dorthin. Ich bezweifle, daß einer von denen, die Hasek nur oberflächlich kannten, ihn für einen Freund der Natur hielte, der oft mit großer Freude wanderte. Sicherlich tat er das aus dem inneren Bedürfnis heraus, die Seele durch den Anblick der Felder mit reifendem Getreide, der Bauernhäuser und des frischen Grüns der Wälder zu erquicken. Wir fuhren entweder mit dem Zug nach Cernosice, Chuchle oder Radotin oder mit dem Dampfer nach Zbraslav und flußabwärts nach Klecany. Dann gingen wir langsam durch Wald und Flur, um die Natur zu genießen, und dabei waren wir oft ein ganzes Stück voneinander entfernt. Hasek beachtete jede Kleinigkeit auf den Feldern und in den Dörfern und entdeckte dabei eine Fülle komischer Einzelheiten. So erheiterte ihn beispielsweise einmal eine alte Hütte mit verfaulten Schindeln, deren Erker aber mit leuchtend roten Dachziegeln gedeckt war. In der Tat wirkte das so, als trüge ein abgerissener Wanderbursche eine bunte Krawatte mit einer glitzernden Nadel. Ihm entging keine malerische Gruppierung von Hütten oder Bäumen, und er wußte auch die Menschen, denen wir begegneten; witzig zu charakterisieren. Auf diesen Wegen über Land sammelte er viele Erkenntnisse, die er dann in seinen Arbeiten verwendete. Von hier hatte er jene Details, die er, der Stadtmensch, so trefflich bei der Beschreibung des Landlebens schilderte. Auf unseren Wanderungen sprachen wir nicht viel miteinander, nur ab und zu ließen wir eine Bemerkung fallen. Wie schlagfertig Haseks Witz sein konnte, zeigt folgende Momentaufnahme: Wir gingen durch ein kleines, aber reizvolles Tal oberhalb von Zbraslav hinunter zur Moldau. Der Pfad führte durch eine enge Mulde zwischen Erlen und Weiden und überquerte jeden Augenblick ein Bächlein mit klarem Wasser. Zu beiden Seiten wurde das Tal von
bewaldeten Hängen mit hohen Bäumen und Strauchwerk gesäumt. Als wir etwa in der Mitte des Tales waren, hörten wir plötzlich vom bewaldeten Hang her Axtschläge, die gegen einen trockenen Baum geführt wurden. Dort machte sich ein Waldfrevler an den Bäumen zu schaffen, doch Haseks witziger Einfall jagte ihn rasch in die Flucht. Ohne sich nach mir umzudrehen, rief Hasek mit lauter Stimme, als wäre ich noch ein gutes Stück von ihm entfernt: »Wir sind gleich da, Herr Wachtmeister!« Dann blieb er stehen, ich mit ihm, und wir hörten, wie sich jemand durch eilige Flucht den Hang hinauf in Sicherheit zu bringen suchte. Kaum einer von denen, die Hasek als bequemen Dickwanst kannten, würde es für möglich halten, daß er selbst bei glühender Sommerhitze weite Fußtouren unternommen hat. Oft wanderte er gemeinsam mit Z.M. Kudej. Die Erlebnisse, die sie bei diesen gemeinsamen Wanderungen hatten, wurden von Kudej in seinem humoristischen Buch »Zu zweit wandert es sich besser« beschrieben. Von derartigen Wanderungen schickten sie mir ab und zu Ansichtskarten mit Grüßen, die etwa folgendermaßen lauteten: »Möge dich inzwischen der Schlag treffen!« Einmal befanden sie sich in der Nähe von Rokycany. Von dort sandten sie mir die Nachricht, sie schickten sich gerade an, die trutzige Stadt Pilsen von zwei Seiten anzugreifen. Daraus entnahm ich, daß sie drauf und dran waren, unseren Freund Pelant, Redakteur der Pilsener Zeitung »Smer«, zu überfallen und ihn um einen Beitrag zu den Reisekosten zu bitten. Sie waren jedoch erfolglos. Offensichtlich gab Pelant ihnen nichts, sonst hätten sie mir nicht eine Ansichtskarte mit folgendem unerfreulichen Text geschickt: »Wir wurden von Pilsen schmählich abgeschlagen und ziehen uns jetzt in Unordnung nach Rokycany zurück.« Hasek schreckte auch vor anstrengenden Wanderungen nicht zu' denkwürdigen Sonntag rück. Beispielsweise forderte er mich an jenem im Jahre 1914, dem Fest Peter und Paul, am frühen Morgen auf, mit ihm per Bahn nach Kladno zu fahren und von dort zu Fuß nach Beroun zu gehen. Wenn mich Hasek zu einem Ausflug aufforderte, ließ ich mich nie lange bitten, und so waren wir bald in Kladno, wo Hasek
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einen Gendarmeriewachtmeister aufsuchte, der Wolfshunde züchtete. Von dort gingen wir in Richtung Westen, durch Nouzov zum Bach Kacak und an der Mühle vorbei gegen Podkozi. Nachdem wir uns im Gasthaus gestärkt hatten, setzten wir bei größter Hitze unseren Weg fort - wir stiegen hinunter zum Bach Kacak, dem wir flußabwärts folgten. Dann gingen wir über Svarov und Drahelcice nach Dusniky, und zwar auf Feldwegen zwischen reifendem Getreide. Hasek bemühte sich unterwegs, die Feldblumen zu identifizieren, und ich rezitierte einige Verse über die Berge in blauer Feme, die den Wanderer locken und ihn an der Rückkehr hindern, so daß er nicht mehr heimkehrt. Wir waren beide lyrisch gestimmt, und doch merkten uns das die Leute in Drahelcice nicht an. Sie saßen in kleinen Grüppchen vor den Häusern, auf Balken und Steinen und betrachteten uns mit einer Verachtung, wie sie ein eingesessener Bürger gegenüber allen Weltenbummlern empfindet. Offenbar schätzten sie uns sehr niedrig ein. Plötzlich rief Hasek mir etwas in der Zigeunersprache zu. Kaum waren wir ein Stück weitergegangen, steckte einer der Dorfbewohner den Kopf aus dem Haus und fragte die Leute, die vor dem Bauernhof saßen: »Was ist los?« Sie brummten verdrossen: »Ach, da sind ein paar Scherenschleifer vorbeigegangen und haben sich gegenseitig beschimpft.« Einmal, zu Beginn des Weltkriegs, saßen wir in einem Gasthaus in der Karolina-Svetla-Gasse und bestellten uns ein Mittagessen. In der Suppe schwamm so wenig Reis, daß wir die Körner zählen konnten, und als Hasek feststellte, daß er einige Reiskörner weniger hatte als ich, brauste er auf und sagte, es wäre wohl besser, wenn wir fortan zu Hause kochten. Gleich auf dem Heimweg kauften wir bei »Martin in der Mauer« ein Blechgefäß, Töpfe und Kasserollen, denn Hasek wünschte, daß wir wie eine Br;ut ausgestattet wären. Aus unseren Taschen lugten Schöpfkellen, nach oben ragten Rührlöffel und Quirle heraus, und so zogen wir in der Zeit des lebhaftesten Korsos durch die Ferdinandstraße. Unterwegs kauften wir auch noch tüchtig Lebensmittel ein, hier Brägen marsch damit in den Blechtopf, dort Nieren - marsch dem Brägen hin-
terher, zu Haus würden wir es schon wieder auseinanderklabüsern und waschen. Dann noch alles übrige, was zur Führung eines ordentlichen Haushalts notwendig ist. Wir vergaßen nicht einmal den üblichen gestickten Küchenspruch für die Wand über dem Herd:
Wir machten auch noch bei einem Kohlenhändler halt und bestellten Holz und Kohle. Zu all diesen Einkäufen leistete ich bereitwillig meinen Beitrag, obwohl ich im Hinblick auf Haseks Kochkünste gewisse Zweifel hegte. Mir genügten schon die Szenen, die sich überall beim Einkauf abspielten. Aber Hasek offenbarte einen gewissen Sinn für das Fachliche, und der überzeugte mich schließlich doch davon, daß er wenigstens etwas vom Kochen verstehen mußte. Zu Hause untersuchte Hasek sorgfältig den Küchenherd, und als er feststellte, daß dieser verrußt war, entschied er, der Herd müsse gründlich gereinigt werden. Ich wollte den Ofensetzer holen oder wenigstens die Hausbesorgerin, aber Hasek war damit nicht einverstanden. Jeder Koch müßte oder sollte zumindest seinen Herd selbst reinigen können, sagte er und machte sich gleich an die unangenehme Arbeit. Ich erwar' Kachel herausnehmen tete, daß er nach Art aller Ofenreiniger eine oder das Blechtürchen im Schornstein öffnen würde, aber Hasek lachte nur über solch vorsintflutliche Methoden und versprach mir, ich würde gleich etwas Modemes und radikal Wirksames sehen. Nun, ich gestehe, darauf war ich neugierig. Hasek stopfte eine Unmenge Papier
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In die Küche bring viel ein, soll sie voll von Düften sein. Mit diesem Spruch war Hasek aber nicht zufrieden. Er brummte, das sei recht matt; damit es etwas kräftiger wirke, müsse man es irgendwie mit der Parole kombinieren: Bekommt die Kuh viel Futter, hast du stets Milch und Butter.
in den Herd, übergoß es mit Petroleum und legte der besseren Wirkung wegen noch ein paar Platzpatronen hinein. Dann zündete er alles an. Die Wirkung war in der Tat radikal, nur nicht so, wie Hasek erwartet hatte. Statt den verstopften Schornstein zu reinigen, schlug die Flamme in die entgegengesetzte Richtung und riß die Herdtür aus den Angeln; sie flog knapp an Haseks Kopf vorbei. Das kühlte seinen Reinigungseifer merklich ab, und er schickte mich zum Ofensetzer, damit wir noch am selben Tag ein eigenhändig zubereitetes Abendessen hätten. Ich weiß nicht mehr, was es gab, aber es war sehr gut, so gut, daß ich gleich nach den ersten Bissen einen gewaltigen Respekt vor Haseks Kochkünsten empfand. Kochen konnte er wirklich großartig! Den Teig für die Knödel bereitete Hasek auf einem meiner älteren Reißbretter zu. Natürlich wischte er es vorher gründlich mit seinen Rockschößen ab und fuhr mit der Hand darüber, um sich zu überzeugen, daß nirgends ein Splitter herausragte. Dieses Brett besitze ich noch heute, aber alle Teigreste habe ich bereits als Andenken für Haseks Verehrerinnen abgekratzt. Am ersten selbst zubereiteten Abendessen haben wir uns übrigens so übergessen, daß wir uns nicht mehr rühren konnten. So sanken wir gleich neben dem Tisch auf den Fußboden. Erst als wir das Schlimmste überstanden hatten, gingen wir ins Gasthaus. Dort schmeckte uns das Bier ebenfalls großartig, weil Hasek nicht mit Gewürzen gespart hatte. Aber wir hielten uns nicht lange auf, denn Hasek drängte auf eine frühzeitige Heimkehr, was mich nicht wenig verwunderte. Unseren Tischgenossen gegenüber entschuldigte er uns mit der Notwendigkeit eines zeitigen Einkaufs. Diese glaubten, Hasek sei wieder in dem mit der Redaktion , verbundenen Hundezwinger beschäftigt, und rieten ihm, nur zu gehen, denn gegen Mittag seien die besten Hunde bereits verkauft. Mir aber vertraute Hasek auf dem Heimweg an, ein ordentlicher Koch gehe am zeitigen Morgen einkaufen, um nicht zweitrangige Ware zu bekommen. Ich teilte seine Meinung und war nur neugierig, wie
lange Hasek es aushalten würde, schon am frühen Abend nach Hause zu gehen und zeitig aufzustehen. Am nächsten Morgen war er tatsächlich zeitig aus dem Bett und ging einkaufen. Wie ich mich später überzeugen konnte, verhielt er sich dabei so klug und umsichtig, daß er sich bei der einkaufenden weiblichen Welt bald großen Respekt verschaffte und man ihn überall nur mit »Herr Offizial!« ansprach. »Das ist aber ein Glück, wenn man so einen Mann hat!« sagten die Frauen neidisch. »Seine Frau kann sich ordentlich ausschlafen, der Mann stellt ihr ja alles vor die Nase! « Für ein paar Groschen lebten wir wie Gott in Frankreich. Hasek verstand es, allerlei pikante Speisen zu bereiten, wie ich sie vorher nie gegessen hatte. Seine Suppen waren das reinste Gedicht, obwohl sie manchmal nach dem durchaus üblichen Rezept entstanden. So kochte er einmal gegen Abend eine Kartoffelsuppe, aber die verbreitete im ganzen Haus einen derart herrlichen Duft, daß dieser noch die Nase der Hausbesorgerin, die im Erdgeschoß wohnte, reizte. Gfoich kam sie zu uns herauf und hat, wir sollten ihr doch auch ein Stück von dem Hasen abgeben. Einige besonders feine Suppen führten besondere Namen - wie Rosen oder feine Obstsorten. Mit diesen Namen wurden sie auch auf der Speisekarte verzeichnet, die immer am Vormittag auf dem Korridor an der Badezimmertür angebracht wurde. Dort konnte ich beispielsweise lesen, zum Mittagessen würde es eine Suppe a la Mamselle Nitouche, Prenk Bib Doda, Madame Pompadour oder Primator Dittrich geben. Die Suppe »Primator Dittrich« war eine Kombination aus zwei verschiedenen Suppen: Blumenkohl- und Brägensuppe. Jede wurde gesondert gekocht; erst kurz vor dem Essen wurden die beiden vermischt, so daß der Geschmack von beiden erhalten blieb. Dazu bedurfte es großer Übung, langer Erfahrung und vor allem eines gehörigen Mutes, und deshalb möchte ich keiner jungen Ehefrau ' raten, das ebenfalls zu versuchen. An jedem Morgen kam Hasek zu mir ins Zimmer und sagte an, was es zu Mittag gibt, obwohl er das dann noch durch einen Aushang bekannt machte. Diese Speisekarte diente mehr der Repräsentation; zufällige Besucher sollten sehen, wie bei uns gekocht wurde.
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Eines Tages sagte Hasek, zum Mittagessen werde es eine Suppe »Madame Niel« und Milchreis geben. Milchreis ist wahrscheinlich das einzige Essen, das ich nicht mag, und ich sagte Hasek auch, daß ich Reisbrei nicht liebe. Er tat keinen Mucks - und ging. Ich freute mich schon darauf, daß er etwas Besseres kochen würde, da er mir gar nicht widersprochen hatte. Aber an diesem Tag kam Hasek nicht mehr nach Hause. Ich ahnte, daß ich ihn mit der Ablehnung eines Gerichts aus seiner Küche beleidigt hatte, und nahm mir vor, mich am nächsten Morgen bei ihm zu entschuldigen. Aber Hasek erschien auch am nächsten Tag nicht, ebensowenig am dritten und am vierten Tag. Ich vermutete schon, eine reiche Dame aus der Umgebung hätte ihn überredet, bei ihr als Koch zu arbeiten. Erst nach etwa einer Woche, um dieselbe Tageszeit, zu der er gegangen war, öffnete sich die Tür meines Zimmers, Hasek steckte den Kopf herein und fragte trocken: »Also, was ist? Wirst du nun den Brei fressen oder nicht?« Natürlich nickte ich gleich eifrig, um nicht wegen eines einzigen Gerichts, daß ich nicht mochte, um eine ganze Reihe großartiger Speisen zu kommen. Hasek kochte alle Gerichte mit großer Leichtigkeit, ohne besondere Anstrengung. Nur einmal gelangen ihm die Pflaumenknödel nicht. Hasek hatte dafür altes Mehl verwendet, das er von einer Hökerin gekauft hatte. Die Knödel wollten sich nicht formen lassen, sosehr wir uns auch beide darum bemühten. Immer wieder zog sich der Teig zusammen, und die Pflaumen grinsten uns höhnisch an. Hasek warf den Teig wütend auf den Fußboden, aber auch das half nichts. Da hatte ich eine großartige Idee. Wir drückten die Ränder des Teigs über den Pflaumen fest zusammen und nähten sie mit Zwirn zu, den wir nach dem Kochen wieder herauszogen. Das war gewiß eine sehr praktische Methode, und ich wurde immer fuchsteufelswild, wenn ich das einer Frau erzählte, und sie es mir nicht glauben wollte. So lebten ~r froh und guter Dinge bis zu jenem Tag, an dem Hasek zum 91. Infanterieregiment nach Budweis einberufen wurde. Am Abend jenes Tages kam er in richtiger Rekrutenlaune von der Musterung nach Hause. Als ich ihm öffnete, erwiderte er kaum meinen Gruß. Dann ging er achtlos an mir vorbei in die Küche. Auf meine ein-
dringliche Frage, wie es bei der Musterung gewesen sei, antwortete er mir schließlich mit verächtlicher Miene, er spreche nicht mit jedem lumpigen Zivilisten. Dann schloß er sich in der Küche ein und intonierte mit seiner komischen unmusikalischen Stimme Soldatenlieder. Von diesem Augenblick an behandelte er mich als minderwertigen Menschen, nicht mehr als seinen Quartiergeber, und überhaupt zog er bald aus. Bis zu seinem Einrücken zum Regiment wohnte er nicht mehr bei mir. Trotzdem erlebte ich seinetwegen - obwohl er davon keine Ahnung hatte - eine unangenehme Hetzjagd. Damals ging ich regelmäßig abends zur Familie von Dr. Tryb, der krank von der Front zurückgekehrt war. Ich spielte mit ihm Schach. Einmal wurden wir am späten Abend durch Z. M. Kudej gestört, der Dr. Tryb aufsuchte und ihn um Hilfe für den erkrankten Hasek bat. Hasek wohnte gerade bei Longen und wurde plötzlich von heftigem Nasenbluten gequält, das sich durch keines der üblichen Mittel stillen ließ. Zu allem Unglück mußte das Ehepaar Longen gerade ins Theater und ließ Hasek ohne Hilfe und Aufsicht allein; die beiden warfen unterwegs nur einen Blick ins Cafe Union, um einen Bekannten zu finden, dem sie die Sorge um Hasek anvertrauen konnten. Deshalb kam Kudej nun zu Dr. Tryb und bat ihn, durch seinen Einfluß als Assistent
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Der Schriftsteller Kare) Novy, karikiert von Fr. Bidlo
von Prof. Janovsky zu erreichen, daß Hasek gleich in die Klinik aufgenommen wurde. Tryb gab Kudej sofort einen Empfehlungsbrief für das Aufnahmebüro und riet uns, Hasek durch den Rettungsdienst hinbringen zu lassen. Kudej ging gleich mit dem Brief ins Allgemeine Krankenhaus, und ich begab mich zum Altstädter Ring in das Büro des Rettungsdienstes. Dort fragten sie mich, um wen es sich handle und um was für einen Fall und schrieben sich Longens Adresse auf, wie Kudej sie mir gesagt hatte. Dann schickten sie mich voraus; ich sollte alles Erforderliche für den Krankentransport vorbereiten, damit keine unnötige Verzögerung eintrete. Man versprach mir, sobald einer frei sei, mit einem Rettungswagen zu kommen. Mich fragten die guten Leute weder nach Namen noch Adresse. Wieder eilte ich in den Stadtteil Königliche Weinberge, wo die Familie Longen wohnte. Kudej hatte Straße und Hausnummer genau angegeben. Als ich jedoch in dieser Straße bei dieser Hausnummer die Hausbesorgerin fragte, in welchem Stock Familie Longen wohne, sah sie mich verständnislos an und sagte dann, Leute dieses Namens kenne sie nicht. Ich sagte, beide seien beim Theater und beschrieb sie, aber die Hausbesorgerin schüttelte nur den Kopf und erklärte resolut, eine Familie Longen wohne nicht da. Dabei musterte sie mich abschätzig von Kopf bis Fuß. Die Zeit drängte. Mir fiel ein, daß jeden Augenblick der Rettungswagen kommen konnte und ich den Patienten noch nicht vorbereitet hatte. Ich ließ also alles unnötige Fragen, damit mir die Hausbesorgerin nicht gar etwas an den Kopf warf, und ging auf die Straße hinaus, um noch einmal gründlich zu prüfen, ob ich mich nicht in der Hausnummer geirrt hatte. Nein, es war alles in Ordnung, und das wurde dann auch durch das bekannte charakteristische Trappeln der Pferde des Rettungswagens bestätigt, der eben von unten die Straße heraufkam. Um Himmels willen, was sollte ich tun? Ich wollte zurück zur Jllausbesorgerin, aber die Entschiedenheit, mit der sie mich zuvor abgefertigt hatte, hielt mich davon ab. In meiner Nervosität wählte ich eine feige Lösung - ich trat die Flucht an und lief bis ans Ende des Blocks. Dort blieb ich stehen und lauschte dem ratternden Geräusch des sich nähernden Rettungswagens. Das Herz schlug mir
bis zum Hals, und kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Trotzdem kehrte ich auf Umwegen in den oberen Teil der Straße zurück, in der Familie Longen wohnte, und beobachtete von dort aus, was sich ereignete. Der Rettungswagen stand genau vor dem Haus, das mir von Kudej bezeichnet worden war und in dem ich vergeblich die Wohnung der Familie Longen gesucht hatte. Die Träger stritten sich dort mit der Hausbesorgerin. Das W eitere wartete ich nicht mehr ab, sondern eilte wieder in die Altstadt, um Kudej aufzusuchen und von ihm eine Erklärung zu verlangen. Der war aber nirgends zu finden, und ich war bereits ernstlich um Hasek besorgt. Ob ich nicht doch selbst alles durcheinandergebracht hatte? Erst am nächsten Tag traf ich Kudej an. Er betrachtete mich ruhig, und als ich ihm alles erzählte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er sagte mir, mit Hasek sei alles in Ordnung, der Rettungsdienst habe ihn in die Klinik gebracht; das Mißverständnis habe er selbst verschuldet, weil er mir zwar Longens Adresse mitgeteilt, aber dabei nicht erwähnt habe, daß unser Freund dort unter seinem bürgerlichen Namen Pitterman wohne. Deshalb also hatte die Hausbesorgerin mit dem Namen Longen nichts anfangen können, und mir war das auch nicht in den Sinn gekommen.
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Emil Spatny Meinen späteren Freund Emil Spatny lernte ich etwa im Jahre 1907 kennen. Damals war er Redakteur der Zeitungen »Lid« und »Mlade proudy«, für die ich zeichnete. Wegen seines ausgeglichenen Charakters, seines kameradschaftlichen Verhaltens und seines Sinns für Humor war er mir von Anfang an sympathisch. Er begann jedes Gespräch mit einem Witz, mit einem Witz eröffnete er jede Sitzung, und weder im Gefängnis noch im Krankenhaus verlor er seinen Humor. Der Humor war die Würze seines Lebens. Vielleicht behielt er gerade deswegen bis in seine letzten Lebenstage gesunde Nerven. Ich habe bereits erwähnt, daß sich alle originellen Charaktere wechselseitig anziehen. Vielleicht liebte Spatny gerade deshalb den Schrift-
steiler Jaroslav Hasek und den Maler Jaroslav Panuska: Hasek wegen der Streiche, die er in seinem Leben in so großer Zahl vollführte, und Panuska wegen seines biederen Humors und seiner kernigen Ausdrucksweise. Ich _erinnere mich, daß Spatny mir einmal erzählte, er habe Hasek mit einer Nachricht in seine Wohnung geschickt. Dort habe ihm Emils Vater geöffnet, der Direktor einer Zuckerfabrik im Ruhestand und ein ernster und würdevoller Mann war. Er fragte Hasek, was er wünsche; der aber verneigte sich tief, und aus unerforschlichen Gründen, die seinem exzentrischen Charakter entsprachen, grüßte er den alten Herrn mit übertriebener Ehrerbietung: »Küß die Hand, gnädiger Herr!« und stellte sich vor. Emils Vater machte Hasek Vorwürfe, als tschechischer Schriftsteller solle er nicht so unterwürfig sein, und fragte ihn erst dann, weshalb er eigentlich gekommen sei. Hasek hatte aber vor Schreck völlig vergessen, was er ausrichten sollte. Es kostete ihn große Mühe, bis er den alten Herrn davon überzeugt hatte, daß er wirklich der Schriftsteller Jaroslav Hasek war. Zu Panuska ging Spatny gern ins Atelier, und manchmal fuhr er auch zu ihm auf seinen Landsitz in Kochanov bei Svetla nad Sazavou. In dieser Umgebung fühlte er sich immer sehr wohl, weil Panuska ihn nicht mit Politik belästigte. Außerdem konnte sich Emil bei ihm alles vom Herzen reden, denn Panuska besaß eine großartige Eigenschaft: Er wußte nach einer halben Stunde nicht mehr, was ihm jemand erzählt hatte. Wenn er jemanden anredete, übertrieb Spatny gern. Seine Anrede lautete zumindest: »Senator!« Jede schmuddlige alte Frau grüßte er höflich: »Küß die Hand, gnädige Frau!« Das war nicht bösartig gemeint, und es war auch nicht der Versuch, sich auf fremde Kosten einen guten Tag zu machen; vielmehr war es die scherzhafte Tendenz, soziale und Kastenunterschiede abzubauen, sowie der Wunsch, den Menschen bei jeder möglichen Gelegenheit eine Freude zu bereiten. Sooft er zu Familie Panuska nach Kochanov kam, vergaß er nie, die Viehhirtin auf dem Hof mit den Worten zu begrüßen: »Küß die Hand, gnädige Frau!« Das einfache Mädchen konnte sich anfangs über einen solch unglaublichen Irrtum des Prager Herrn vor Lachen ausschütten
Die Volkstümlichkeit Spatnys kannte in der Tat keine Grenzen. Er freundete sich mit Menschen an, denen kaum einer die Hand gereicht hätte, und suchte sie in Spelunken auf, in die sich mancher nur mit bewaffneter Macht getraut hätte. Er grüßte nicht nur Ziehharmonikaspieler, Straßenkehrer und Droschkenkutscher und blieb bei ihnen stehen, sondern auch Leute mit verdächtigem Aussehen. Das war kein Verlangen nach billiger Popularität, und es erfolgte auch nicht aus agitatorischen Gründen. Diese Leute waren ja allesamt ein schlechtes Wähler-
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Der Kritiker F. X. Salda, gezeichnet von Fr. Bidlo
und hatte an diesem unschuldigen Scherz lange Zeit ihre helle Freude. Bei Emils zweitem Besuch wartete sie bereits sehnsüchtig auf diesen paradiesischen Gruß und empfand daran die gleiche Freude wie beim erstenmal. Und in der Folgezeit machte es ihr nichts aus, daß sich dieser Herr jedesmal, sooft er nach Kochanov kam, gleichermaßen irrte, und kicherte immer aufs neue ob dieses vermeintlichen Irrtums. Einfachen Menschen trat Spatny nur ungern mit einem Wort zu nahe. Dagegen bedachte er seine Freunde gern mit komischen Titulaturen. Ich habe von ihm eine Unmenge von Ansichtskarten bekommen, auf denen er mir abwechselnd alle möglichen Titel verlieh: Viehmaler,' Besitzer einer Parzelle, auf der schon seit fünf Jahren nicht gebaut wird, Journalistengehilfe und ähnliches.
potential. Er hatte sie aufrichtig gern, aus rein sozialen Beweggründen. Die Angehörigen dieser sogenannten untersten sozialen Schichten schätzten Emil deshalb sehr. Sie fühlten sich nicht durch seine nach Wohlstand riechende Gestalt gestört, auch nicht durch die Scherze, mit denen er auch sie ab und zu neckte; sie erkannten in ihm sofort einen Menschen mit einem guten Herzen und vertrauten ihm ihre Sorgen und Kümmernisse an. Bei all seiner Lust an Scherzen war Spatny ein absolut seriöser Mensch. Was er versprach, hielt er auch, aber er versprach auch nie, etwas zu tun, was er von vornherein für undurchführbar hielt. Wohin ich auch mit ihm kam, überall begrüßten ihn viele Bekannte, und ich wunderte mich jedesmal, wie viele Menschen er selbst in den entlegensten Dörfern kannte. Er wußte nicht nur ihre Namen, sondern auch, was für einen Charakter sie hatten, was ihnen gehörte und ob sie menschlich verläßlich waren. Einmal nahm er mich mit in eine Schenke niedrigster Ordnung, wo sich die Elite der Peripherie zu ihrem Wochenendvergnügen traf. Aus
Man bringt ihn schon! Zeichnung von VI. Rada
Vorsicht gingen wir bereits am frühen Abend hin, wenn die Gäste derartiger Spelunken noch nüchtern sind, um durch rechtzeitigen Aufbruch möglichen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Emil wurde wegen seiner Körperfülle leicht zur Zielscheibe von Angriffen, auch wenn sein kindlich aufrichtiges und argloses Gesicht gleich jeden entwaffnete. Kaum betraten wir das Lokal und grüßten höflich: »Guten Abend«, vernahmen wir statt eines Dankes aus der Schar der anwesenden »Typen« die Aufforderung zu einer gewissen unangenehmen Handlung. Mir war gleich unwohl, aber ich beruhigte mich, als unmittelbar darauf der taktlose Grobian von seinem Kollegen ermahnt wurde: »Kusch, du Dussel, das sind doch Bekannte!« - »Das ist natürlich etwas anderes, wenn das Bekannte sind!« entschuldigte sich der erste; »also dann ebenfalls: Guten Abend!« Als ich noch meine Junggesellenbude in der Dittrichova hatte, kam Emil des öfteren zu Besuch. Ich muß einige Orientierungspunkte jenes Hauses erläutern. Es gab dort zwei Mehrzimmerwohnungen mit Küche, doch waren die einzelnen Räume an mehrere alleinstehende Personen vermietet. Da erwies es sich als erforderlich, die Klingelzeichen zu unterscheiden. Mein Zimmer befand sich in einer Wohnung, in der außer mir noch drei Fräulein wohnten, jedes in einem Zimmer. Den Vorraum und damit die Korridortür hatten wir gemeinsam. Wir vertrugen uns ausgezeichnet, nur beim Öffnen der Korridortür gab es anfangs einige Unannehmlichkeiten. Klingelte es beispielsweise, rannten wir gleich alle zur Tür, um zu öffnen, und draußen stand ein Rastelbinder. Oder es kam Besuch zu Fräulein Hromadkova - aber es öffnete zufällig Fräulein Pazdirkova oder aber ich. Das ärgerte uns, bis ein kluger Kopf das Problem löste: An der Tür wurden vier Visitenkarten mit den Namen der Mieter angebracht, und darunter stand: 1 X klingeln, 2 X klingeln, 3 X klingeln, 4 X klingeln. Damit war alles in Ordnung. Meine Besucher sollten zweimal Rlingeln. Ich öffnete also nur, wenn die Klingel zweimal ertönte. Bald danach besuchte mich Emil. Sein abendlicher Besuch blieb nicht ohne Folgen. Am nächsten Morgen kam nämlich der Geldbriefträger zu mir, klingelte aber dreimal: zweimal kräftig, einmal schwach. 127
Dreimal klingeln bedeutete aber nach der Wohnungsordnung: Besuch für Fräulein Pazdirkova. Sie ging auch nach einer Weile, noch ziemlich verschlafen, zur Tür. Als der Briefträger zu ihr sagte, er wolle zu mir, machte sie ihm den Vorwurf, daß er falsch geklingelt habe. Er verteidigte sich aber tapfer und sagte, er habe genau nach Anweisung geklingelt. Inzwischen kam auch ich aus meinem Zimmer und stellte mit einem einzigen Blick auf meine Visitenkarte die Ursache des Mißverständnisses fest. Der Zwei war noch ein »X« hinzugefügt worden (2X X klingeln), und der ordnungsliebende Briefträger hatte sich genau daran gehalten - er hatte zweimal stark und einmal schwach geklingelt. Ich radierte den Zusatz »X« weg, und alles war wieder in Ordnung. Nach einiger Zeit wollte Emil mich wieder einmal besuchen. Als er mich nicht zu Hause antraf, erregte ihn das derart, daß er auf meine Visitenkarte vor die Zwei noch eine Eins schrieb. Diesmal fiel alles schlimmer aus. Zu mir kam ein Onkel vom Land, und als er an der Tür mühsam feststellte, was er zu tun hatte, verschnaufte er erst eine Weile und begann dann, Sturm zu läuten. Anfangs ging alles gut, aber beim neunten Klingeln kam er irgendwie durcheinander und wußte nicht mehr genau, wie oft er schon geklingelt hatte. Nun, was machte das schon aus - meinem Onkel kam es auf ein Klingeln mehr oder weniger nicht an; er begann also von neuem, und diesmal aufmerksamer. Als der Arme glaubte, er hätte es nun richtig gemacht, flog die Tür auf, drei Fräulein stürmten wie die Furien heraus und überschütteten ihn mit einer ganzen Flut von Flüchen und Sehimpfworten. Nachdem sie ihn schließlich noch darauf hingewiesen hatten, daß das Mittagsläuten nebenan in der Emmauskirche besorgt werde, schlugen sie ihm die Tür vor der Nase zu. Wütend drosch der Onkel mit seinem Knotenstock gegen die Tür - und fuhr dann wieder nach Hause. Als ich das am nächsten Tag Emil erzählte, bog er sich vor Lachen. Aber es war kein böswilliges Lachen. Er, ein Mensch mit so stürmischer und ungezügelter Energie, hatte eine kindliche Freude an jedem gelungenen Schabernack. Ein beliebtes Steckenpferd Emils war es, Feiern zu Ehren des 50., 60. oder 70. Geburtstages seiner Kameraden zu veranstalten. Dabei
war es ihm einerlei, ob der 60. Geburtstag zwölf Jahre zu zeitig oder der 50. beispielsweise am 54. gefeiert wurde - Hauptsache, es gab ein Fest. So feierten wir also den 50. Geburtstag unseres Freundes, des Malers Jaroslav Panuska, als dieser bereits 54 Jahre alt war. Aber das störte Panuska keineswegs. Im Bewußtsein seiner mächtigen Gestalt und seiner scharfen Zunge ertrug er ruhig alle Scherze seiner guten Kameraden, und auch diesmal sagte er in seinem onkelhaften Ton: »Nun, meine Herren, wenn eine Feier, dann eine ordentliche, aber auf jeden Fall in einem Lokal, in dem es etwas Gutes zu trinken gibt! « Nach sorgfältiger Überlegung suchte Emil für diesen feierlichen Akt das Gasthaus »U Nandy« aus, das sich nicht weit von seiner Wohnung befand. Das versetzte den Besitzer des Gasthauses in solche Verlegenheit, daß er lieber nach Amerika übersiedeln wollte, als sich auf die Durchführung einer so bedeutenden Soiree einzulassen. Aber schließlich beruhigte, er sich doch. Er stellte für diesen Abend einen Kellner aus einem der ersten Hotels ein, der sich mit der Bedienung einer »besseren Gesellschaft« auskannte, lehnte es aber standhaft ab, an jenem Abend in seiner Gastwirtschaft anwesend zu sein, um nicht etwa durch eine Ungeschicklichkeit den ungestörten Ablauf des Festabends zu gefährden. Er war entschlossen, erst am folgenden Morgen nach Hause zu kommen. Der herbeigerufene elegante Kellner war sehr überrascht, als er erfuhr, daß er bei den Klängen einer Mundharmonika bedienen sollte und daß der delikateste Gang Knackwürste mit Zwiebeln war. Zu dieser Feier wurden gedruckte Einladungskarten verschickt, auf denen vermerkt war, die Feier würde vom Elektrizitätswerk mit einer Regulierungskommission in Räumlichkeiten veranstaltet, die ordentlich mit Feuerwasser geheizt wären. Zum Schluß war noch angeführt, jeder zehnte Besucher dieses Abends bekäme Windpocken. Der Abend verlief wahrhaft distinguiert. Das Gasthaus war voller geladener Gäste, ein Redner nach dem andern überschüttete das gefeierte Haupt mit blumigen Ansprachen, und nach jeder Rede spielte unser Freund Sadilek etwas auf der Mundharmonika. Emil saß in einer
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dunklen Ecke und leitete von dort aus unauffällig den Ablauf der Feier: Er bestimmte, wer sprechen, was gespielt und wann gegessen werden sollte. Und ihm kamen vor Lachen die Tränen, als Panuska am Schluß allen Rednern statt Dankesworten kräftige Schimpfworte an den Kopf warf. Ich glaube, Emil Spatny brauchte solche Vergnügungen und Scherze so nötig wie das Salz, um alle Schwierigkeiten seines Alltags leichter ertragen zu können. E.A. Longen Meinen Freund Longen hatte ich schon einige Jahre vor dem Krieg kennengelernt. Gleich bei der ersten Begegnung spürte ich, daß er ein Original war. Er brauchte mir nicht erst lange zu beweisen, daß er in Paris, in Marseille und in anderen Zentren der Welt gewesen war. Sein freier Lebensstil übertraf bei weitem unsere Boheme-Manieren, und sein explosives Temperament kannte keine Grenzen, wenn er redete. Er verstand es, die unmöglichsten Grimassen zu schneiden, und er konnte seinen Körper dermaßen verrenken, daß es kaum vorstellbar war, wie er wieder in eine normale Lage kommen wollte. Ich selbst habe gesehen, wie er einen von Krämpfen befallenen Menschen so meisterlich nachahmte, daß die Betrachter in Tränen ausbrachen. Erst, als sie den Rettungsdienst alarmieren wollten, wurde er auf einen Schlag gesund und entfernte sich eleganten Schrittes. Es ist deshalb kein Wunder, daß er Freude an Freundschaften mit gleichermaßen veranlagten Menschen hatte, woraus sich manchmal ungemein komische Situationen ergaben. Wie ich hörte, soll er einmal mit dem Maler K. in einem Gasthaus in einen so heftigen Streit geraten sein, daß es beide für notwendig erachteten, ihre Differenzen vor eine Behörde zu bringen; sie packten einander am Kragen und schleppten sich angeblich so zum nächsten Polizeikommissariat. Longen kannte keine Bedenken. Beispielsweise richtete er einmal auf dem überfüllten Gehsteig des Wenzelsplatzes seine Tabatiere auf einen Kameraden und rief pathetisch: »Ha, du Spitzbube, endlich kann ich dich einmal aufs Korn nehmen!«
Als noch vor dem Kriege das berühmte Kabarett »U Sochurku« in der Templovä auftrat, imitierte Longen dort Pariser Straßensänger. Er sang französisch und legte dabei einen Negertanz auf die Bretter. Am meisten aber überraschte er die Zuschauer durch folgendes: Er riß den Mund so weit auf, daß die Kiefer mindestens 15 cm voneinander entfernt waren. Und dann folgte immer seine Paraderolle: Inmitten eines Couplets hakte bei ihm plötzlich der Unterkiefer aus, sein Mund stand weit offen, und nur ein monotones »Aaah!« drang daraus hervor. Seine Frau, Xena Longenovä, blickte eine Weile gespannt auf ihren Emil, und als sie merkte, daß er sich selbst keinen Rat mehr wußte, stand sie ruhig auf, trat zu ihm und brachte durch einen kräftigen Schlag den Unterkiefer wieder in die richtige Lage. Und Longen sang das wilde Pariser Couplet nun ohne weiteren Unfall zu Ende. Einmal hatte Longen den Einfall, eine Kabarettvorstellung in Nusle zu veranstalten. »Dort ist noch jungfräulicher Boden«, sagte er zu Hasek, »da haben wir gewiß ein volles Haus!« Hasek stimmte zu, und Longen mietete für ·einen Sonntagnachmittag d n Saal des Volkshauses von Nusle. Schon eine ganze Woche vor dem angesetzten Termin hing im Fenster des Restaurants ein großes Plakat, auf dem den Einwohnern von Nusle für ein mäßiges Eintrittsgeld ein unerhörtes Vergnügen in Aussicht gestellt wurde. Zur Erhöhung der Anziehungskraft wurde
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Der Komiker Ferenc Futurista, gezeichnet von Longen
Illustration zum »Opernglas« von Eduard Bass
bekanntgegeben, für den millionsten Besucher der Vorstellung stünde ein prächtiges Auto als Prämie bereit. Ich weiß heute nicht mehr, wer dort auftreten sollte; genau erinnere ich mich nur an Longen, Xena Longenova, den Sänger Leitzer und Hasek als Conferencier. Ich sage, wer dort auftreten sollte, denn es kam nicht zur Vorstellung. Im ganzen Saal saß nur ich als Arrangeur für den Applaus sowie ein älteres Ehepaar, einfache Menschen, die sich, nachdem sie das Eintrittsgeld entrichtet hatten, bescheiden an einem Tisch in der letzten Reihe niederließen. Die Direktion des Kabaretts wartete noch eine Stunde nach der für den Beginn der Vorstellung angesetzten Zeit, und als keine Hoffnung mehr bestand, daß noch jemand kommen könnte, öffnete sich der Vorhang, und auf der Bühne erschien Jaroslav Hasek. Eine Weile ruhte sein ernster Blick auf dem alten Ehepaar, dann begann er: »Geschätztes Publikum! Aus ganzem Herzen danken wir Ihnen aufrichtig für Ihren Besuch. Wir bewundern Ihren Mut, daß Sie ungeachtet der Meinung anderer zu unserer Vorstellung erschienen sind. Gott möge Ihnen das hundertfach vergelten! Zunächst aber sagen Sie uns, ob Sie das Eintrittsgeld zurückhaben wollen oder aber die ganze Vorstellung wünschen!« Der Herr brummte, er wolle das Geld nicht zurückhaben, und Hasek fuhr fort: »Gut! Das ganze Ensemble wird also nur für Sie beide spielen. Uns ist es einerlei, ob für zwei oder für tausend Zuschauer. Wir werden mit einem solchen Feuer spielen, daß vielleicht das ganze Volkshaus davon angesteckt wird. Ihre Unerschrockenheit werden wir nicht so schnell vergessen und uns dafür einsetzen, daß Ihre Namen mit goldenen Lettern in einer Geschichte des tschechischen Kabaretts verzeichnet werden. Sie sind Pioniere der Kabarettkunst in Nusle und Umgebung, und es ist möglich, daß Sie unser ganzes Programm gar nicht durchstehen. Aber auch für diesen Fall versprechen wir Ihnen, daß Ihre Namen auf Ihrem Grabstein eingemeißelt werden ... « Das alte Ehepaar hatte während der ganzen Zeit, in der Hasek sprach, verlegen unter den Tisch geblickt, Schweiß stand den beiden auf der Stirn, und es war ihnen anzumerken, daß sie wie auf Nadeln saßen. Als Hasek den Grabstein erwähnte, erhoben sie sich und verschwanden leise ... 133
Mit einem derart schlechten Ergebnis der Vorstellung und einer so traurigen Rückkehr aus Nusle hatten wir nicht gerechnet. Auf dem ganzen Weg durch Nusle sprach keiner von uns ein Wort. Nur Hasek bekannte sich zu der schmählichen Niederlage: »Wir haben einen Angriff auf die Taschen der Einwohner von Nusle unternommen, wurden aber schmählich abgeschlagen und ziehen uns nun in Unordnung in die Königlichen Weinberge zurück!« Longen biß den ganzen Weg über die Zähne zusammen und rollte die Augen wie Herodes. In seinem versteinerten Gesicht zuckte kein Muskel; erst als wir alle die letzte Stufe der Nusle-Treppe erreicht hatten, machte er seinem Herzen Luft. Er befahl uns, stehenzubleiben, die Koffer mit den Requisiten abzusetzen, und erst jetzt bekam Nusle sein Fett ab. Er beschimpfte diesen Vorort, was das Zeug hielt, und schließlich schrie er, daß es vom gegenüberliegenden Berg Bohdalec widerhallte, über Nusle müsse einmal ein Strafgericht hereinbrechen, schlimmer als das von Sodom und Gomorrha. Gegen Ende des ersten Weltkrieges besuchte ich regelmäßig das Gasthaus »Zur Königin« in der Vladislavova. Dort waren nie viele Gäste, weil das Bier damals knapp war, aber täglich saßen die Familie des Schauspielers Zelensky, das Ehepaar Longen und eine Deutsche, Frau Wild, in der Gaststube. Für uns trieb die Inhaberin des Lokals, die stattliche und witzige »Königin Julia «, immer ein Glas Bier auf, und als die Anordnung erlassen wurde, die Gasthäuser um zehn Uhr zu schließen, tranken wir unser Bier eben im Dunkeln. Deshalb hatten unsere Zusammenkünfte eher einen familiären Charakter als den eines Gasthausbesuches. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen - jedenfalls unterhielten wir uns lange Zeit damit, daß Longen und ich witzige ausgedachte Geschichten über unsere Geburtsorte zum besten gaben. Einmal brachte ich schrecldiche Belege für die Rückständigkeit von Longens Heimatort, ein andermal kam wieder Longen mit einer Sensationsmeldung über meinen Geburtsort Hrusice. An einem Tag schickte er aus Hrusice ein Telegramm, die Frau Wirtin solle mich nicht mehr in ihr Lokal lassen, an einem andern Tag
schickte wieder ich einen fingierten Brief des Bürgermeisters semer Heimatgemeinde, in dem die geschätzte Tischgesellschaft vor Longen gewarnt wurde. Der Brief war schrecklich verschmiert, beschmutzt und zerknittert; er sah aus, als wäre er mit einer Hacke und nicht mit einer Feder geschrieben worden. Darin stand auch, was der Herr Bürgermeister während des Schreibens nebenbei gesagt hatte. Beispielsweise: »Verdammt, Alte, gib doch dem Schwein etwas zu fressen, damit es nicht grunzt, solange ich diktiere!« Das war durchgestrichen, gleich danach aber stand: »He, kusch, das gehört nicht hierher! « Auch das war durchgestrichen. Natürlich schürte auch Zelensky das Feuer, aber gerechterweise muß man sagen - einmal zu meinen, ein andermal zu Longens Gunsten. Mitunter erinnerte er sich auch an ein Geschichtchen aus seinem Leben und gab es in seiner interessanten Erzählweise zum besten. Diese Abende gefielen Frau Wild so sehr, daß sie ihrer Schwester, die mit einem vermögenden Ingenieur verheiratet war, oft und begeistert davon erzählte. Offenbar langweilte sich die Schwester etwas, denn sie äußerte ihr Interesse daran, einmal an diesen beinahe familiären Zusammenkünften teilzunehmen. Und so machte sie sich eines Tages wirklich zum Gasthaus »Z ur Königin« auf den Weg. Sie kam als erste, und »Königin Julia« wies ihr den Ehrenplatz am Ofen an. Dort war es behaglich warm, und die Frau des Ingenieurs sonnte sich in Erwartung einer angenehmen Unterhaltung in häuslicher Atmosphäre. Inzwischen näherten sich die beiden ersten Gäste: Ich bog gerade aus der Lazarska ein, als Longen aus der Purkyiiova auf tauchte. Ich weiß nicht mehr, warum ich damals den Stock über dem Kopf schwenkte und Longen aus voller Kehle anbrüllte: »Ha, du Lump, habe ich dich endlich! Heute kommst du zu Julia nicht mit heilen Knochen!« Longen stieß einen schrecklichen Schrei aus und eilte mit großen Sprüngen zum Gasthaus. Verzweifelte Schreie ausstoßend, stürzte er in die Schankstube und dann in den Raum, in dem die Frau des Ingenieurs saß. Mit weit aufgerissenen Augen, die Hände über den Kopf erhoben, taumelte er in die Gaststube, und sein Schreien ging bereits
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in ein wahnsinniges Brüllen über. Vielleicht bemerkte er gar nicht, daß , jemand im Lokal saß, oder das war ihm einerlei, jedenfalls schrie er, als wollte man ihn aufspießen. Mitten in der Gaststube fiel er plötzlich in sich zusammen, stürzte zu Boden und kroch unter das Billard. Die Frau des Ingenieurs sank vor Schreck fast unter den Tisch. Sie wollte die Flucht ergreifen, aber ihre Beine zitterten derart, daß sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Vielleicht rief sie um Hilfe, aber das ging in dem Geschrei völlig unter. Als sie sich endlich so weit gefaßt hatte, daß sie ein paar Schritte in Richtung Tür tun konnte, flog diese neuerlich auf, und ins Lokal stürzte der zweite Narr. Ich brüllte zwar nicht ganz so laut, doch dafür ließ ich meinen Stock über dem Kopf kreisen. »Wo ist dieser Lump?« schrie ich. »Für zwei Heller teile ich das Rindvieh in zwei Hälften.« Auch ich bemerkte die Frau nicht, weil mein Zwicker beschlagen war. So sah ich auch nicht, daß sie Hut, Mantel und Tasche ergriff und das Weite suchte. Alle Einzelheiten erfuhr ich von Frau Wild erst nach drei Wochen - so lange sprach sie wegen dieser »Familienszene« mit mir und Longen kein Wort.
fänglich über die verschiedenen Titulaturen erbittert war, gewöhnte er sich schnell daran und hatte ihn gern. Panuska war ein kräftiger Mensch, und seine Stärke soll ihm angeblich mehrmals in sehr kritischen Situationen gute Dienste geleistet haben. Wegen dieser seiner Kraft ging ich gern mit ihm, denn in seiner Gegenwart fühlte ich mich immer sicher, daß ich nicht von alkoholisierten Gästen jener Weinstuben und Gasthäuser belästigt wurde, die ich mit ihm gern aufsuchte. Einmal sagte er sogar zu mir: »Irgendwie sind hier zu viele Spitzbuben beieinander! Such dir ein Dutzend aus, und ich werfe sie gleich auf die Straße, damit wir hier freies Feld haben! Wähle welche aus, ganz nach deinem Gusto!« Lange Jahre hindurch besaß Panuska ein Atelier im Stadtteil Königliche Weinberge in der Korunni hinter dem Wasserwerk. Eigentlich waren es zwei Ateliers, aber Panuska hatte beide gemietet und durch Beseitigung der Trennwand einen etwa 12 m langen Raum gewonnen, der das ganze Stockwerk einnahm. Im vorderen Teil hatte er sich einen Arbeitsraum eingerichtet, hinten eine Art ständige Ausstellung
Jaroslav Panuska Mit Jaroslav Panuska, dem Landschaftsmaler und Gestalter von prähistorischen Bildern sowie Schreckgespenstern aus Märchen, machte mich im Jahre 1919 Prof. Väclav Tille auf dem Muzsky vrch bei Mnichovo Hradiste bekannt. Damals war Panuska noch nicht ganz fünfzig und strotzte förmlich vor Gesundheit und Kraft. Durch sein offenes und männlich-biederes Verhalten gewann er gleich meine Sympathie. Er hatte eine originelle Ausdrucksweise. Am liebsten duzte er gleich jeden, um nicht immer daran denken zu müssen, mit wem er sich duzte und wen er siezte. Oft sagte er zu den Leuten Worte, die, hätte sie ein anderer ausgesprochen, sicherlich grob erschienen wären und vielleicht sogar zu unerfreulichen Konsequenzen geführt hätten. Panuska aber sagte sie in einem so gutmütigen Ton, daß sie nicht verletzten. Auch wenn der Betroffene, der ihm zum erstenmal begegnete, an136
Acht Stunden Arbeit, Karikatur von Otakar Mrkvicka in der Zeitschrift »Trn «
seiner Bilder. Im vorderen Teil stand ein eiserner Ofen, darauf immer ein Topf mit Tee. Einmal beklagte sich Panuska, daß man auf diesem Ofen nur Tee bereiten könne, er würde sich gern etwas Ordentliches kochen. Ich hatte in meiner Wohnung einen kleinen Herd mit Backröhre und war damit sehr zufrieden. Deshalb riet ich Panuska, er solle sich etwas Ähnliches anschaffen. Er befolgte meinen Rat, und bald überdeckte in seinem Atelier der Duft von gebratenem Fleisch den Geruch der Ölfarben sowie den Gestank des Pfeifentabaks. Panuska lobte den Herd sehr: »Da hast du mir aber einen trefflichen Rat gegeben! Dieser Herd erwärmt den Raum gut, und die Backröhre funktioniert auch ausgezeichnet. Das ist mir wirklich nur selten passiert, daß ich von einem Kameraden einen guten Rat bekommen habe. Gewöhnlich habe ich sie zu allen Teufeln gewünscht, wenn sie mich mit ihrem Rat an der Nase herumgeführt haben!« Das Wasser läuft mir im Munde zusammen, wenn ich daran denke, wie uns der Schweinebraten mit Knödeln und Sauerkraut, das Gulasch und das gebratene Geflügel geschmeckt haben. Panuska war ein Meister im Kochen. Er schimpfte nur darüber, daß er beim Kochen nicht die Pfeife im Mund haben könne. Daraus ist ersichtlich, daß er die gehörige Sauberkeit beachtete; bei ihm kam es nie vor, daß man im Essen einen Bleistift, eine Streichholzschachtel, eine Zigarrenspitze oder einen Schuhanzieher fand. Nur eines störte mich: Er pfefferte die Speisen zu sehr, so daß einem der Mund brannte und der Durst nicht zu löschen war. Und dabei hatte er, wie er uns versicherte, unsere Speisen wenig gepfeffert, nur über seiner eigenen Portion hatte er angeblich die Pfeffermühle genau 5 Minuten gedreht. Einmal lief ihm die Galle über. Ich dachte zuerst, ihn hätte wieder jener Mensch geärgert, der bei ihm ein Bild kaufen wollte und verlangte, es müsse genau 93,5 cm lang und 67,9 cm breit sein. Außerdem wollte' er noch die halbe Zeichnung als Zugabe. Aber Panuska klärte mich bald auf. »Warum mich heute der Teufel reitet? Frag nicht lange, du Pinselheini! Ich habe eine abgrundtiefe Wut im Bauch! Meine Mutter hat mir von daheim eine Gans geschickt, dick wie eine Buchtel, aber sie hat vergessen, sie auszunehmen. Deshalb bin ich ins
Gasthaus »U perpentyglu« gegangen und habe die alte Wirtin gebeten, mir eine Weibsperson zu schicken, die es versteht, eine Gans auszunehmen. Dann bin ich wieder nach Hause gegangen. Bald danach war eine Frau da, die mir aber gleich nicht gefiel. Ich brauche einen Menschen nur anzusehen und weiß gleich, ob er tüchtig oder schlampig ist. Und ich hatte mich nicht geirrt. Gleich als sie die Gans auf den Tisch legte, sah ich schon, daß sie so etwas noch nie gemacht hatte. Und tatsächlich - sie legte die Gans mit dem Rücken nach oben und wollte sie auch in dieser Lage ausnehmen. Vom Rücken her! Ich riß ihr das Küchenmesser aus der Hand und rief: >Frau, verschwinden Sie auf der Stelle, oder ich fege mit Ihnen das ganze Atelier aus!< Sie fragte mich gar nicht, warum, und verzog sich zu allen Teufeln. Die Gans aber habe ich in die Kammer geschmissen!« Ich schaute also in die Kammer - dort lag, goldgelb zwischen altem Gerümpel, die Gans, wie er sie hingeschleudert hatte. Dann ging ich zurück in den Arbeitsraum. Es herrschte Begräbnisstimmung. Mein Freund rollte die Augen wie ein Kobold, und mich hätte vor Wut der Teufel holen können; hatte ich doch gerade einen solchen Appetit auf Gänsebraten! In diesem Augenblick klingelte es an der Korridortür. »Zum Teufel, wer kommt denn da? Ich bin gerade auf so ein Rindvieh neugierig!« brummte Panuska und ging zur Tür. »Ach, du bist es!« sagte er, plötzlich gut gelaunt. »Dich schickt uns fürwahr der Himmel!« Natürlich, schließlich war der Arzt Dr. Brejla ein ausgezeichneter Koch und ein Feinschmecker erster Klasse. Man erzählte von ihm, er verspeise sogar Hamster und allerlei anderes Getier, allerdings nur deshalb, weil dieses Viehzeug ein besonders schmackhaftes Fleisch habe. Er war nicht zu faul, ab und zu um vier Uhr morgens aufzustehen und zu Fuß zum Schlachthaus zu gehen, um sich dort das beste Fleisch auszusuchen. Er war auch ein Esser erster Klasse, was man ihm durchaus ansah; vor Körperfülle konnte er kaum die Augen aufmachen und stöhnte beim Gehen. Als ihm Panuska erzählte, was mit der Gans passiert war, sagte er nur ein einziges Wort an die Adresse jener Frau, dann machte er sich gleich mit Eifer an die Arbeit. Er legte den Rock ab, krempelte die Är-
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mel hoch, wusch sich die Hände, und ab ging's in die Kammer, die Gans holen. Er erhob sie aus ihrer Erniedrigung, und als er sie in den Arbeitsraum brachte, leuchteten seine Augen wie die eines Katers, und sein Schnurrbart stand fast waagerecht. Er spülte die Gans mit sauberem Wasser ab, legte sie auf den Tisch, und noch bevor wir die Pfeifen für eine Rauchpause vorbereitet hatten, war die Gans ausgenommen. Es war eine Freude zuzuschauen, wie geschickt er sich anstellte. »Nun ja, er versteht es, einen Körper auszunehmen, schließlich hat er jahrelang im Schauhaus gearbeitet«, witzelte der wieder versöhnte Hausherr. Sein Gesicht leuchtete wie der Vollmond. »Du Faulpelz, mach Feuer!« brüllte Brejla mich an. »Und dann verschwinde und hol Semmeln, Mehl und Sauerkraut! Der Onkel hier macht inzwischen die Knödel!« Im Nu war alles besorgt. Im Herd prasselte das Feuer, die Gans lag in der Pfanne, und Panuska bereitete den Knödelteig. Das tat er sehr gründlich, um sich nicht vor Brejla zu blamieren. Als die Gans zu duften begann, brach jener Augenblick an, in dem man mit dem Feuer etwas vorsichtiger umgehen muß. Brejla holte die Pfanne aus der Röhre, bedeckte die bereits gebräunten Stellen mit Papierstückchen, damit sie nun weniger brieten, während die anderen weiterbraten konnten. Das war notwendig, weil der Herd Feuer spie und die Röhre ungleichmäßig arbeitete. Je nach Bedarf kommandierte Brejla, wie ich das Feuer dirigieren sollte. »Feuer vermindern!« rief er mir zu, wenn die Gans kräftiger briet, als in seinen Intentionen lag. Der Herd hatte nämlich einen beweglichen Feuerrost, und deshalb konnte man mit dem Feuer allerlei Kunststücke vollbringen. »Feuer verstärken!« kommandierte er weiter, wie auf einem Dampfer. Die Gans schmeckte uns ausgezeichnet, wir verzehrten sie auf einen Sitz. Brejla verputzte allein eine Hälfte mit einer Unmenge von Knödeln und Sauerkraut. Selbst der beste Herd verrußt mit der Zeit. So mußte sich auch Panuska eines Tages an die Reinigung machen. Radikal, wie er war, und ein Feind langwieriger Arbeit, ging er die Sache, wie man sagt, mit Volldampf an: Er goß einfach eine halbe Flasche Petroleum in den
Herd, zündete es an und hoffte, eine so heftige Flamme würde den Ruß schon lösen. Die Flamme war allerdings kräftig, doch vertrieb sie anstelle des Rußes meinen Freund Panuska. »Das war fürchterlich!« schilderte er mir mit zitternder Stimme das Gebaren des Herdes. »Zuerst gab es ein schreckliches Dröhnen, und der Herd zitterte ~ allen Fugen. Dann sprang er in die Höhe und danach von einer Seite zur andern, so daß er sich vom Schornstein losriß und durch das ganze Atelier hüpfte! Einfangen konnte ich ihn nicht, weil er im Nu glühte. Ich mußte ihm rasch alles aus dem Weg räumen, damit nichts verbrannte. Nie wieder werde ich einen Herd reinigen!« Ich äußerte meine Verwunderung, warum er sich selbst mit dem Herd befaßt hätte, da er doch eine Aufwartefrau zur Bedienung und zum Saubermachen habe. Das erklärte er mir kurz und knapp: »Ja, weißt du, mit der hatte ich schon einen Tanz! Ich sagte: >Frau, nun sind Sie fast zwanzig Jahre bei mir und haben in der ganzen Zeit kein einziges Mal richtig sauber gemacht. Schauen Sie nur, wieviel Staub überall liegt! Sie könnten hier wirklich einmal richtig aufräumen!< Die Frau wurde rot, stemmte die Arme in die Hüften und blaffte mich wütend an: >Sieh einmal an! Sie sind mir aber ein Pedant!Mein Herr, seien Sie so gut und klimpern Sie mit
den Münzen in Ihrer eigenen Tasche!< Ich werfe einen Blick hinunter - und tatsächlich, ich hatte meine Hand in seiner Tasche! Ich stand da wie ein begossener Pudel. Die anderen Fahrgäste sahen mich gleich so sonderbar an und dachten sich weiß Gott was. Ich entschuldigte mich bei dem Herrn und versicherte ihm, daß ich in meiner Tasche ebenfalls viel Kleingeld hätte. Er lachte und sagte, er wisse, daß ich ihm nichts stehlen wollte, als ich so lange mit den Münzen klimperte, aber mir war doch ein wenig sonderbar zumute. Wir waren bereits am Wasserwerk, also an der Station, wo ich hätte aussteigen müssen, aber ich blieb absichtlich in der Straßenbahn und fuhr noch zwei Stationen weiter, wegen der Reputation, damit dieses Pack in der Straßenbahn nicht denken sollte, ich versuche, rasch die Kurve zu kratzen!« Mit seinem Gedächtnis war es noch schlimmer. Er wußte nicht mehr, was ihm jemand kurz zuvor erzählt hatte, dafür aber erinnerte er sich an etwas, was sich vor 20 Jahren zugetragen hatte. Er konnte plötzlich jemanden wegen beleidigender Worte beschimpfen, die in grauer Vorzeit ausgesprochen worden waren und an die sich nicht einmal mehr der Kritiker erinnerte. So saß ich beispielsweise einmal mit ihm in einem Gasthaus auf dem Hradschin. Es war noch früh am Abend, und wir waren dort ganz allein. Mir kam es seltsam vor, daß Panuska den Ober so böse ansah. Auf meine Frage antwortete er, nun biete sich ihm eine günstige Gelegenheit, dem Ober ein paar Ohrfeigen zu geben, und er fügte erbittert hinzu: »denn das ist ein Erzlump, der die Wallfahrerinnen am Johannistag schamlos bestiehlt«.· - Mir erschien dieser Mensch nicht böse, und deshalb verließ ich bald danach die Gaststube, um jemanden zu fragen, wie lange der Ober schon dort arbeite. Ich erfuhr, erst ein halbes Jahr. Nach meiner Rückkehr in die Gaststube fragte ich Panuska, wann denn der Ober die Wallfahrerinnen bestohlen hätte, und er versicherte mir, das sei schon gut zehn Jahre her. Ich verriet ihm nun, daß der Ober erst ein halbes Jahr in diesem Lokal tätig sei. Da schüttelte Panuska den Kopf und lachte lauthals: »Hmm, deshalb also erschien er mir schon die ganze Zeit irgendwie merkwürdig!« Panuska hatte interessante Bekanntschaften. Lange Jahre hindurch
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besuchte er an manchen Abenden den Erzbischof Schönborn. Dabei soll er ihn immer mit »Herr Schwarzenberg« angesprochen haben. Überhaupt liebte er Angehörige des geistlichen Standes - Katecheten, Pfarrer und Dechanten-, aber nur solche, die keine Abstinenzler waren. Besonders rühmte er einen Dechanten in einer Stadt auf dem Lande, wie gut es ihm anstehe, am Abend zufrieden über den Platz ins Gasthaus zu einer Partie Tarock zu gehen und dabei eine Pfeife mit langem Rohr zu rauchen. Solche Geistlichen nahm er in Schutz, wer immer es sein mochte. Ihnen half er auch in schwierigen Situationen. Eines Abends ging er in eine Weinstube, wo er ein Mitglied eines bekannten und beliebten Ordens traf, das einen über den Durst getrunken hatte. Der Ober teilte Panuska mit schadenfrohem Grinsen mit, er habe bereits die »Grüne Minna« angefordert, da werde es wieder einmal eine »Mordsgaudi« geben. Panuska antwortete dem Ober, es werde gleich ein paar Ohrfeigen setzen, wenn er nicht augenblicklich eine Droschke kommen lasse. Der zu Scherzen aufgelegte Herr Ober erschrak und erfüllte Panuskas Wunsch. Noch vor dem Eintreffen der »Grünen Minna« packte Panuska den Ordensmann in die Droschke und brachte ihn ins Kloster. Dort herrschte große Erregung ob dieser Verfehlung des Ordensmitglieds; der Vorsteher des Klosters sagte Pan uska herzliche Worte des Dankes für sein vorbildliches Verhalten, und Panuska hatte in der Folgezeit freien Zutritt zur umfangreichen Klosterbibliothek. Gern sagte er, eine gute Tat zahle sich immer aus. Diese Lehre merkte ich mir und tat ein andermal etwas Ähnliches. Ich saß bis Mitternacht in einer Weinstube und war dort schließlich mit einem bekannten Ingenieur allein, der an jenem Tag einen Erfolg in seinem Unternehmen feierte. Das entschuldigt auch den Zustand, in dem er sich um Mitternacht befand. Unter Berufung auf unsere alte Freundschaft bat er mich, ich möge ihn zur Straßenbahn bringen, die nach Libeii 'fährt, dort werde er sich schon irgendwie behelfen. Ich brachte ihn also zur nächsten Haltestelle und setzte ihn in den Wagen, der bereits seine letzte Tour absolvierte. Die Straßenbahn entfernte sich rasch, und ich ging in dem wohligen Bewußtsein nach Hause, ebenfalls eine Samaritertat vollbracht zu haben, ähnlich der Panuskas. 146
Am nächsten Tag ging ich wieder in die Weinstube und sonnte mich in der angenehmen Vorahnung, so wie er Worte des Dankes zu vernehmen, aber der Ingenieur sprang auf mich los, kaum daß ich das Lokal betreten hatte, und rief: »Du kannst dir gleich ein paar Ohrfeigen abholen, du Trottel! Zwar hast du mich zur Straßenbahn gebracht, das ist wahr, aber statt in einen Wagen der Linie 14 hast du mich in die 22 gesetzt, und so bin ich statt nach Libeii bis hinter den Pohofelec gefahren!«
Es wäre blödsinnig, dem Grafen Traquanejoz zum Vorwurfe zu machen, daß er das Schießpulver nicht erfunden habe, denn auch seine Ahnen haben im Tal von Ronceval ohne Schießpulver ruhmreich gekämpft. Darauf ist er riesig stolz. Wie bitte? Es sei nicht klar ausgedrückt, worauf er stolz sei, ob auf seine Nichterfindung des Schießpulvers oder auf die Ahnen von Ronceval? Aber, das ist doch Wurscht. Tut nichts zur Sache. Also einmal ist Graf Traquanejoz mit dem Baron Lakaritz in das Nachtcafe »Zum zerkratzten Zugsführer« nächst der Myslikgasse eingekehrt, hat dort die Kellnerin Aida (Pseud.) kennen- und liebengelernt und kommt seither - gewöhnlich in Baron Lakaritzens Begleitung allnächtlich hin. Er verehrt Aida heiß (Beiseite: Es wird ihm schließlich doch gelingen, ihr Herz zu erobern) und opferfreudig. Nur seinen Namen hat er ihr nicht verraten und weilt ganz inkognito hier. Es wäre auch nicht zum Ausdenken: ein Graf Traquanejoz im Kaffeehaus »Zum zerkratzten Zugsführer«! Aber einmal kommt Baron Korb mit paar Kameraden von Hanau-Dragoner - sie waren als Zivilisten verkleidet - auch in das Lokal, und in der Überraschung, den Grafen hier zu sehen, entschlüpft ihm der laute Ausruf: »Jessas, der Graf Traquanejoz!« Die Gäste schauen sofort neugierig auf, aber der Sprosse derer aus dem Tale von Ronceval rettet geistesgegenwärtig die peinliche Situation, daß ein Traquanejoz als Stammgast des »Zerkratzten Zugsführers« gebrandmarkt wird. Auf Baron Lakaritz weisend, ruft er, allen vernehmlich: »Ich bin nicht der Graf Traquanejoz - dieser Herr ist es.« E. E. Kisch
Ich malte damals bunte Postkarten, verfertigte für einen Papierhändler in Karolinenthal Holz- und Linoleumschnitte, verdiente Geld, um Bücher zu kaufen, saß stundenlang am Klavier und schrieb Tage und Nächte hindurch Gedichte, Märchen, Aufsätze, Skizzen und Dramen, die ich in einem alten Koffer verwahrte und später, nach Jahren, alle als wertlosen Kram verbrannte. Aber in der Zeit, da ich sie niederschrieb, waren sie für mich sehr wichtig. »Vielleicht würde ich gar nicht schreiben, wenn es daheim anders wäre«, sagte ich einmal zu Doktor Kafka. »Ich will der Unruhe entrinnen, die Stimmen um mich und in mir nicht hören - darum schreibe ich. So wie jemand mit der Laubsäge verschiedene Dummheiten erzeugt, um die Langeweile häuslicher Abende auszufüllen, so kleistere ich Worte, Sätze und Abschnitte zusammen, damit ich Grund habe, allein zu sein, mich von der Umwelt, die mich bedrängt, abzuschließen. « »Das ist richtig«, sagte darauf Doktor Franz Kafka. »Das machen viele Menschen. Flaubert schreibt in einem Brief, daß sein Roman ein Felsen sei, an den er sich halte, um nicht in den Wogen der Umwelt unterzugehen. « »Ich bin zwar auch ein Gustav, aber kein Flaubert«, meinte ich lächelnd. Doktor Franz Kafka faltete seine schmalen, knochigen Hände über der Tischplatte und sagte, ohne mich anzusehen: »Die Technik der seelischen Hygiene ist nicht einzelnen vorbehalten. Damit Sie Flau-
berts Name nicht stört, verrate ich Ihnen, daß ich es in einer gewissen Zeit ebenso gemacht habe, wie Sie es jetzt tun. Nur ist die Sache bei mir etwas komplizierter. Durch das Gekritzel laufe ich vor mir selbst davon, um mich beim Schlußpunkt selbst zu ertappen. Ich kann mir nicht entrinnen ... « »Vielleicht kann das niemandem gelingen«, sagte ich nach einer kleinen Pause. »Vielleicht ist das durch die Einsamkeit des Menschen bedingt. « »Durch die Einsamkeit?« Franz Kafka sah mich mit großen, grau blitzenden Augen an. »Wie kommen Sie, so ein junger Mensch, auf den Gedanken?« Ich griff in die Brusttasche, zog mein mit einem Randalphabet versehenes Notizbuch hervor, öffnete es und las daraus laut vor: »Die Menschen sind einsam, Schweigen umgibt sie, das ist die Welt.« Kafka drehte den Kopf zur linken Seite und sah zum Fenster hinaus. Ich schloß mein Notizbuch und schob es in die Brusttasche. »Das sagte Dostojewski «, bemerkte ich. »Ich hab' es mir abgeschrieben. Es ist eine genaue Beschreibung der Situation, in der wir leben. « »Ich mag ihn nicht«, sagte Franz Kafka leise, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Wenigstens nicht alles und nicht immer. « »Hier sagt er die Wahrheit«, meinte ich trotzig. »Die Menschen sind einsam, Schweigen umgibt sie, das ist die Welt ... Die Situation, in der wir leben, kann nicht besser ausgedrückt werden. « »Ja, das ist möglich. « Kafka sah nicht mehr zum Fenster hinaus. Er straffte den Oberkörper, lehnte sich im Stuhl zurück und ließ die Arme schlaff herabhängen. »Ja, das ist möglich «, wiederholte er etwas leiser und sah mir plötzlich mit ermatteten, grauen Augen ins Gesicht. »Das ist die Situation, der Rahmen alles Geschehens ... Aber ist das die Wahrheit? Die Wahrheit ist doch keine Situation, nichts Vergängliches. Die Wahrheit ist viel dauerhafter; vi lleicht ist sie das Leben selbst.« Seine Stimme mündete in einen leichten, doch unangenehm trockenen, hohlklingenden Hustenanfall. Franz Kafka zog die Schultern hoch, beugte sich über die Tischplatte, senkte den Kopf, schob die
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Gustav Janouch Prager Begegnungen
rechte Hand unter seinen rechten Oberschenkel, während er die linke Hand auf die. Brust preßte. Ich erhob mich vom Sessel. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Soll ich Wasser holen?« Kafka schüttelte langsam den Kopf. »Ich störe Sie.« »Nein«, sagte er gepreßt. »Aber es ist unangenehm, so auszusehen.« Er legte beide Hände auf den Tisch, hob den Kopf und hatte plötzlich ganz helle, lächelnde Augen. »Man könnte fast wie ein Beweis, wie eine Illustration des Dostojewski-Zitates aussehen. Das wäre nicht gut. Alles, was die Schatten festigt und vertieft, ist nicht gut, nicht richtig, weil es uns in eine falsche Richtung weist.« »Wie dieser Husten«, bemerkte ich hastig. »Jetzt ist er vorbei.« »Ja«, nickte Kafka und fügte mit einem hilflosen Lächeln hinzu: »Aber er kommt wieder - der Husten.« Er reichte mir die Hand. »Entschuldigen Sie, ich habe heute keinen guten Tag. Auf Wiedersehen!« Stiehlst du ihm nicht seine Zeit? Bist du nicht zu aufdringlich? Will er nicht allein sein? So fragte ich mich, als ich über die Stiege hinauf zu meinem Vater ging, und ahnte gar nicht, wie nahe ich damals der Wahrheit war. Das erfuhr ich erst viele, viele Jahre später, als ich die aus Franz Kafkas Nachlaß veröffentlichten »Briefe an Milena« las, in denen sich unter verschiedenen Auslassungen über meine Familie und mich auch folgende Bemerkung befindet: Ach, so viele Akten sind gerade jetzt gekommen. Und wofür arbeite ich und gar mit dem unausgeschlafenen Kopf. Wofür? Für den Küchenofen ... Und jetzt noch der Dichter, der erste, er ist auch Holzschneider, Radierer, und geht nicht weg und ist so voll Leben, daß er alles auf mich hinauswirft, u'nd sieht, wie ich vor Ungeduld zittere, die Hand über diesem Brief' zittert, der Kopf liegt mir schon auf der Brust, und er geht nicht fort, der gute, lebendige, glücklich-unglückliche, außerordentliche, aber mir gerade jetzt entsetzlich lästige Junge! Bestimmt war ich damals ein entsetzlicher Junge, ich war mir selbst lästig, und außerordentlich, außerhalb jeder alten wie neuen Ordnung
war ich auch. Aber war das meine Schuld? Nein. Das war nicht einmal ein Vergehen meiner Eltern, sondern nur eine der zahlreichen logischen Folgen ein~r viel breiteren und tieferen Entwicklung. Ich stand hier hilflos und schwach, verschüchtert und tief bedrückt von einem übermächtigen Gefühl des Ausgeliefertseins an einen dunklen, unabwendbaren Ablauf der Dinge. Entfremdet der allernächsten Umwelt, mußte mir natürlich die ganze Welt wie mein eigenes Ich problematisch erscheinen. Ich fürchtete nicht die Wirklichkeit, sondern das verhüllende Dunkel in ihr: die falsche Interpretation, die Verzeichnung und Verzerrung der Wirklichkeit zugunsten verborgener und darum schon schmutziger Interessen, die ahnungslose Menschen immer mehr und mehr zum Unrechttun dränge'n. Ohne es zu wissen oder nur ganz leise zu ahnen, kämpfte ich damals ganz instinktiv gegen die Entfremdung des Menschen als Endergebnis einer hochentwickelten kapitalistischen Welt, in der das Maß aller Dinge und Geschehnisse nicht der Mensch ist, sondern das Interesse und der hinter diesem Worte verborgene Gewinn. Darum bestand ich, der von seiner Familie nur als Ding, als Kette, als Argument oder als Waffe zur Kenntnis genommen wurde, wo und wie ich nur konnte, auf rein menschlichen Werten und Rechten, Bücher, Kunst und Musik waren für mich keine Unterhaltungsware, sondern verdichtetes, konzentriertes Leben. Ich suchte in den verschiedenen Kulturgütern das Licht und die Wärme, die mir fehlten und die ich zum Leben brauchte. Darum bezauberte mich damals - und bezaubert mich übrigens noch heute - Franz Kafkas Erzählung »Der Heizer«, die voll zarter Sanftmut, Güte und tiefster menschlicher Ergriffenheit ist. Ich sagte es dem Dichter, als wir an einem verregneten Vormittag über die tschechische Übersetzung sprachen, die in der damaligen fortschrittlichen Literaturzeitschrift »Kmen« (»Der Stamm«) erschienen war. »In der Erzählung ist so viel Sonne und gute Stimmung«, sagte ich. »Es ist da so viel Liebe, obwohl von ihr überhaupt nicht gesprochen wird.« »Die ist nicht in der Erzählung, sondern im Gegenstand des Erzäh-
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lens, in der Jugend «, bemerkte Franz Kafka ernst. »Die ist voll Sonne und Liebe. Die Jugend ist glücklich, weil sie die Fähigkeit besitzt, Schönheit zu sehen. Wenn diese Fähigkeit verlorengeht, beginnt trostloses Alter, Verfall, das Unglück.« »Alter schließt also jede Möglichkeit von Glück aus?« »Nein, das Glück schließt das Alter aus. « Lächelnd beugte er den Kopf nach vorn, als ob er ihn zwischen den hochgezogenen Schultern verbergen wollte. »Wer die Fähigkeit bewahrt, Schönheit zu sehen, der altert nicht. « Kafkas Lächeln, Körperhaltung und Stimme erinnerten an einen stillen, vergnügten Jungen. »Im >Heizer< sind Sie also sehr jung und glücklich.« Ich hatte diesen Satz noch nicht beendet, als sich Doktor Kafkas Gesichtsausdruck verdüsterte. » >Der Heizer< ist sehr gut«, beeilte ich mich zu bemerken, aber Franz Kafkas große dunkelgraue Augen waren voll Trauer. »Am besten spricht man über ferne Dinge. Die sieht man am besten. >Der Heizer< ist die Erinnerung an einen Traum, an etwas, das vielleicht nie Wirklichkeit war. Karl Roßmann ist nicht Jude. Wir Juden werden aber schon alt geboren.« Ich weiß heute nicht mehr, wie ich auf diese Worte reagierte. Ich habe darüber nichts weiter in meinen Aufzeichnungen der Gespräche mit Franz Kafka vermerkt, und die Erinnerung an jenes Gespräch ist verschüttet und vergraben unter dem Geröll der Zeit. Aber die Gestalt des jungen Helden der Erzählung »Der Heizer«, der sechzehnjährige Knabe Karl Roßmann, der sich später, nach dem Ableben des Dichters, als Hauptfigur des großen Romans »Amerika« entpuppte, der Zauber dieses frühreifen, ungemein lebendig und suggestiv gezeichneten Knaben, hält mich noch immer gefangen. Und damals? ... Damals beschäftigte ich mich tage- und wochenlang mit dem »Heizer«. Darum kam ich bei einer anderen Gelegenheit im Gespräch mit Franz Kafka wieder auf diese Erzählung zu sprechen. Ich fragte, ob die Gestalt des sechzehnjährigen Karl Roßmann nach einer Vorlage gezeichnet sei.
Franz Kafka sagte: »Ich hatte viele und keine Vorlagen. Aber das ist ja alles schon Vergangenheit.« »Die Gestalt des jungen Roßmann sowie die des Heizers sind so lebendig«, meinte ich. Kafkas Miene verdüsterte sich. »Das ist nur ein Nebenprodukt. Ich zeichnete keine Menschen. Ich erzählte eine Geschichte. Das sind Bilder, nur Bilder.« »Dann muß es doch eine Vorlage geben. Die Vorbedingung des Bildes ist das Sehen.« Kafka lächelte. »Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschließen.« »Nun gut«, meinte ich darauf, »aber was bedeuten die Geschichten für die Übersetzerin? . . . Die hat doch so helle und weitgeöffnete Augen, als würde sie mit einem einzigen Blick die ganze Welt verschlingen.« Franz Kafka, der mir während des ersten Gesprächs über die tschechische Übersetzung ein kleines Photomaton-Bild der Übersetzerin Milena Jesenskä gezeigt hatte, wurde von meiner Bemerkung sichtlich unangenehm berührt. Er zwinkerte verlegen mit den Augen, legte einige auf dem Tisch verstreute Akten zusammen, hüstelte und meinte endlich: »Das Übersetzerhandwerk ist bei den Tschechen immer eine Begleiterscheinung des Dichterberufes. Jaroslav Vrchlicky hat einen ganzen Bücherberg übersetzt. Das ist eine ungeheure Leistung. Der Dichter Neumann, der Herausgeber des >KmenHei' zer< gewidmet.« Franz Kafka lächelte und legte beide Hände auf die Brust. »Es ist nicht meine Schuld.« Ich fuhr auf. »Wer spricht von Schuld? Die Herausgabe des >Heizers < in tschechischer Sprache ist ein Verdienst. Die Leute sollen wis-
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sen, wer unter ihnen lebt. Wenn Sie auch deutsch schreiben, so haben Sie doch einen tschechischen Namen.« Mein Gegenüber schüttelte langsam den Kopf. »Den Namen habe ich mir nicht ausgesucht. Deswegen kann ich nicht belangt werden.« Die Bemerkung erschütterte meinen Gedankengang, darum fragte ich begriffsstutzig: »Wie bitte?« »Ach nichts! Vergessen Sie das.« Kafka machte eine kleine wegwerfende Handbewegung, lehnte sich zurück, senkte die Augenlider und meinte mit seltsam gedämpfter, dabei aber hellklingender Stimme: »Ich versuchte zu scherzen. Dadurch entstehen immer Mißverständn1sse. « Damit verwirrte er mich nun aber ganz und gar. Wo gab es ein Mißverständnis? Mit wem? Ich fragte: »Sie kennen den Herausgeber des >Kmen