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German Pages 141 Year 2006
Reutlinger Theologische Studien Herausgegeben von Roland Gebauer, Michael Nausner und Christoph Raedel in Verbindung mit dem Theologischen Seminar Reutlingen und der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland
Band 1
Das Leiden und die Gottesliebe Beiträge zur Frage der Theodizee Herausgegeben von Jörg Barthel, Holger Eschmann und Christof Voigt
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Mit einer Abbildung
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 1716, 37007 Göttingen – 2006 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Layout: mm interaktiv, Dortmund Satz: Jörg Barthel Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: buch bücher dd ag, Birkach ISBN 10: 3-7675-7080-7 ISBN 13: 978-3-7675-7080-1
Vorwort zum ersten Band der Reutlinger Theologischen Studien Mit diesem Band erscheinen die Reutlinger Theologischen Studien zum ersten Mal. Sie spinnen einige Fäden der nicht mehr weitergeführten Reihen Theologische Studienbeiträge und EmK-Studien fort und sind konzipiert als eine lose Folge theologischer Beiträge von Autorinnen und Autoren, die sich mit Fragen im Spannungsfeld von akademischer Theologie, Kirche und Gesellschaft auseinandersetzen. Schon aufgrund der Verbindung mit dem Theologischen Seminar Reutlingen (Fachhochschule) und der Evangelischmethodistischen Kirche wird ein Akzent der Studien auf dem Wirkungsbereich methodistischer Traditionen liegen. Neben Sammelbänden, die aus Veranstaltungen erwachsen (so der vorliegende Band) oder speziellen Themen gewidmet sind, werden auch Monografien aus verschiedenen theologischen Arbeitsgebieten erscheinen. Damit entsteht, wie wir hoffen und wünschen, eine Publikationsreihe mit einem weiten Horizont, in dem Themen methodistischer Frömmigkeit und Theologie ebenso ihren Platz haben wie exegetische Studien oder Beiträge zu Fragen von Glaube und Interkulturalität. Der Bezug zur christlichen Lebensführung soll dabei immer erkennbar bleiben.
Im September 2006
Die Herausgeber Roland Gebauer Michael Nausner Christoph Raedel
Inhalt Einleitung ............................................................................................. 9 Ulrich Heckel »Wer kann uns scheiden von der Liebe Christi?« Predigt zu Römer 8,31–39 .................................................................. 13 Annette M. Böckler Jizchaks Überleben Bibelarbeit zu Genesis 22 ..................................................................... 18 Fulbert Steffensky Das Glück, das Unglück und die Gottesliebe ........................................ 35 Walter Dietrich Erfahrungen von Leid und Tod und das Festhalten an Gott nach dem Alten Testament ................................................................... 48 Christin Eibisch/Olf Tunger Von der Klage zum Lob Gottes Bibelarbeit zu Psalm 13 ........................................................................ 76 Hans-Joachim Eckstein »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Zur Verborgenheit des in Christus offenbaren Gottes ............................ 96 Dorothea Sattler Das Leiden der Geschöpfe Gottes Antwortversuche und offene Fragen ................................................... 111 Robert Seitz Die Sprache des Seufzens und der Hoffnung Zu Römer 8,18-26 ........................................................................... 125 Über die Autorinnen und Autoren ..................................................... 139
Einleitung Die Frage »Wie kann Gott das zulassen?« hat die Menschen zu allen Zeiten erregt. Seit der Mensch sein neuzeitliches Selbstbewusstsein entwickelt hat, spitzt sich die Frage zu: »Wie kann die Existenz eines gütigen und zugleich mächtigen Gottes gerechtfertigt werden angesichts des offensichtlichen Leidens in der Welt?« Die Frage der Theodizee lässt sich nicht akademisch beantworten. Theologische Erklärungen laufen Gefahr, zynisch zu wirken und das Leiden des Einzelnen noch zu vertiefen. Hinter der Frage, wie Gott das Leid zulassen kann, verbirgt sich die Begegnung mit dem Tod mitten im Leben: media vita in morte sumus. Deshalb kann eine Antwort allein in der Hoffnung, ja der begründeten Erwartung einer Begegnung mit dem Leben liegen, einer Begegnung mit Gott. Alle Beiträge dieses Buches führen das Fragen angesichts des Leidens mit der Erfahrung der Gottesliebe zusammen. Dabei tritt neben das (glaubende) Wissen um die Liebe Gottes zum Menschen das Staunen darüber, dass Menschen im tiefsten Leid an ihrer Liebe zu Gott festgehalten haben. Hiob ist dafür die vorbildliche Gestalt. Bei keinem erleben wir das Leiden so mit wie bei ihm. Trotz der wütenden Versuchungen des Satans und der leeren Worten der leidigen Tröster wendet er sich nicht von Gottes Angesicht ab. Unermesslich reich und von gesegnetem Wohlstand war er und ist dann – unbegreiflich – bloß mit seinem nackten Leben (wörtlich: mit dem Zahnfleisch) davongekommen. Dennoch kann er sagen: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Hiob kommt in allen Beiträgen ausdrücklich oder unausgesprochen vor. Mehrfach auch in Gestalt des gottesfürchtigen Juden Jossel Rakover, der in der Erzählung von Zvi Kolitz in der Zeit des Warschauer Ghettos seine Frau und seine sechs Kinder verliert und am Ende seines Lebens sich klagend dennoch an Gott wendet und sagt: »Du hast alles getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber, wie ich gelebt hab’, in felsenfestem Glauben an Dich.« Auf der anderen, der theoretischen Seite zieht sich durch die Beiträge dieses Buches ein Gedanke, den Hans Jonas – auch eine jüdische Stimme – klassisch formuliert hat. Dass Güte und Allmacht Gottes angesichts des Bösen in der Welt in einen tödlichen Konflikt miteinander geraten, ist schon in der Antike durch den Philosophen Epikur und den Kirchenvater Laktanz unübertrefflich auf den Punkt gebracht worden. Hans Jonas fügt der Güte und der Allmacht als drittes den Aspekt der Verstehbarkeit Gottes hinzu. Da
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er der Auffassung ist, dass man auf diese nicht ohne Schaden verzichten könne, er an der Güte Gottes aber festhalten zu müssen glaubt, fasst er den Gedanken einer Begrenzung der Macht Gottes in Form seiner Selbstbegrenzung ins Auge. Damit greift er die kabbalistische Lehre des Zim-Zum, des Sich-Zurückziehens Gottes, auf. Dagegen hat der kritische Philosoph Immanuel Kant in der Deutung der Geschichte Hiobs sein Geschäft der Begrenzung der menschlichen Vernunft fortgesetzt: Wer die Rechtfertigung Gottes betreibe, so Kant, der meine zwar, die Sache Gottes zu verfechten; dabei sei es aber nichts mehr als die Sache unserer anmaßenden, aber ihre Schranken verkennenden Vernunft. Vielleicht steckt hinter der Dringlichkeit der Frage der Theodizee neben allem Leiden und der Begegnung mit dem Tod auch eine Kränkung des menschlichen Selbstbewusstseins und seines neuzeitlichen Rationalitätsbedürfnisses. Mit diesen und weiteren Grundfragen des Lebens und der Theologie befassen sich die Beiträge dieses Buches: eine Predigt, zwei Bibelarbeiten, vier theologische Vorträge und eine poetische Meditation. Sie sind bei der »Theologischen Woche 2004«, die das Theologische Seminar der Evangelischmethodistischen Kirche in Reutlingen unter dem Titel »Die dunklen Seiten Gottes. Zur Theodizeefrage« im Herbst 2004 veranstaltet hat, vorgetragen worden. In den meisten Fällen ist der Vortragsstil beibehalten worden. Die Beiträge werden hier in der Reihenfolge der Tagung wiedergegeben. Dass die Frage nach dem Leid des Menschen auch nach den heftigsten Anstrengungen, sie gedanklich zu bewältigen, eine offene Frage bleiben wird, erklärt Ulrich Heckel in seiner Predigt über Römer 8,31–39. Dennoch wagt er einen Perspektivenwechsel, der auch den Horizont anderer Beiträge bestimmen wird, und fragt: Müssen menschliche Sorgen die Existenz Gottes in Frage stellen, oder könnte nicht auch die Existenz Gottes das menschliche Sorgen in Frage stellen? Mit den Worten des Apostels Paulus: Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Und mit der Antwort: Nichts und niemand. Annette Böckler setzt auf die Vielfalt der Deutungen der Bindung Isaaks, um Raum zu schaffen für das Klagen des Leidens. Dagegen würden theologische Erklärungen des an sich Unerklärlichen in die Enge führen. Auch Böckler wendet die Frage nach den dunklen Seiten Gottes in die Frage nach den dunklen Seiten des Menschen. In ähnlicher Weise verweist Fulbert Steffenskys Einstiegsthese »Religion erklärt nichts!« auf einen Umschwung in der Fragestellung. Die WarumFrage sei müßig, ohnehin nicht zu beantworten. Immerhin könne sie überwunden, zum Verblassen gebracht werden – etwa durch das Tun des Ge-
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rechten. Dieses setze einen Sprung, also etwas Irrationales, in den Schoß Gottes voraus. Walter Dietrich macht darauf aufmerksam, dass im Alten Testament der Tod zunächst gar nicht als der letzte Feind, sondern als das natürliche Ende des Lebens angesehen wird. Erst in späten Schriften wird die Macht des Todes bestritten und um die Hoffnung auf Auferstehung ergänzt. Dennoch gibt es die schreiende Klage gegen Gott, etwa bei Hiob. Doch auch die Klage über das Leid enthält noch das Vertrauen auf Gott und kann so in Jubel umschlagen. Einen solchen Umschwung von Klage zu Jubel zeigen Christin Eibisch und Olf Tunger in ihrer Bibelarbeit zu Psalm 13 auf. Dass sie ihre Deutung eng an den biblischen Text anlehnen, hindert sie nicht, die heutige Wirklichkeit des Einzelnen und der Gesellschaft aufscheinen zu lassen. Die Theodizeefrage stellt sich aufgrund des neutestamentlichen Zeugnisses nochmals verschärft und dringlicher, so Hans-Joachim Eckstein, denn es könnte erwartet werden, dass Gott mit seiner Offenbarung in Jesus Christus seine dunkle Seiten doch erhellt haben müsste. Eckstein sieht im ersten Teil des Markusevangeliums einen möglichen Anhalt für eine Theologie der Herrlichkeit, eine Theologie des Kreuzes jedoch könne sich auf den zweiten Teil stützen. Auch mit dem Neuen Testament ist die Frage der Theodizee nicht rational, dafür im Blick auf Jesus Christus aber personal geklärt. Gleichwohl wird die Frage gedanklich und auch existentiell solange offen bleiben, bis Gott am Jüngsten Tag alle Dunkelheit endgültig erhellt. Dorothea Sattler öffnet den Blick über das Leiden des Menschen hinaus auf das Leiden der ganzen Schöpfung. Konkrete Erfahrungen des Leides stellt sie in einen weiten theologischen Zusammenhang und wirbt zugleich dafür, aus der österlichen Hoffnung zu leben. Der letzte Beitrag geht wieder vom achten Kapitel des Römerbriefes aus. Robert Seitz verzauberte die Hörer seiner poetischen Meditation. Mögen die nunmehr schriftlich vorliegenden Beiträge Leserinnen und Leser zum Nachdenken über eigene und fremde Erfahrungen des Leidens und der Gottesliebe anregen!
Reutlingen, im September 2006
Jörg Barthel Holger Eschmann Christof Voigt
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»Wer kann uns scheiden von der Liebe Christi?« Predigt zu Römer 8,31–39 Ulrich Heckel Liebe Gemeinde, wie kann Gott Leid zulassen? Warum gerade ich? Es gibt kaum eine Frage, die so unmittelbar der tiefsten existentiellen Betroffenheit entspringt. Und es gibt kaum eine Frage, die so direkt ins Zentrum der Gotteslehre führt, ja Gott selber problematisch macht. Auch den dunklen Seiten Gottes wollen Sie nicht ausweichen, sondern sich in dieser Theologischen Woche mit der Theodizeefrage auseinandersetzen. Wer eine Frage stellt, will eine Antwort erhalten. Kann ich eine Antwort geben, ist die Frage erledigt. Weiß ich keine Antwort, so ist dies bei vielen Fragen nicht weiter schlimm, kann ich der Sache doch noch einmal nachgehen, jemanden fragen, in einem Buch nachschauen oder im Internet suchen und meine Antwort zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Anders verhält es sich bei der Warum-Frage. Steht sie – ausgesprochen oder unausgesprochen – im Raum, lässt sich die »Antwort« nicht so leicht vertagen. Viel zu drängend ist die Not, die das Gegenüber plagt. »Was wollen wir nun hierzu sagen?«, so fragen wir uns. Und so haben sich schon andere gefragt. Diese Frage hat sich auch der Apostel Paulus gestellt. Denn mit ihr eröffnet er den Abschnitt, mit dem er den ersten großen Gedankengang im Römerbrief über die Gerechtigkeit Gottes und das Leben im Geist zum Abschluss bringt. Hören wir also, was er hierzu zu sagen hat, was er auch uns zu sagen hat an diesem Abend, zur Eröffnung der Theologischen Woche, zu Beginn des neuen Studienjahres. Hören wir aus Römer 8 die Verse 31–39. Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht (Psalm 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den
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ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.« Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Und was, liebe Gemeinde, sollen wir nun hierzu sagen? Vor allem den Schlusssatz mögen wir im Ohr haben. Aber ihn uns auch zu Eigen machen? Diese Worte wirken in ihrer Zuversicht faszinierend. Einem Apostel mögen sie wohl anstehen. Aber uns? Unweigerlich melden sich Zweifel. Wenn wir auf unseren Alltag schauen mit den Hochs und Tiefs, den beglückenden Momenten und bohrenden Zweifeln: Wer könnte da in solch hymnischen Tönen Gottes Liebe preisen angesichts von Selbstmordattentaten in Palästina und Terror im Irak, von Krankheiten oder Schicksalsschlägen? Wenn im Konfirmandenunterricht oder bei Besuchen das Gespräch auf Gott kommt, so redet kaum jemand von der Liebe Gottes, eher vom lieben Gott. Beide Ausdrucksweisen klingen ähnlich. Und doch besteht ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Unterschied. Denn die Rede vom lieben Gott ist viel zu schön, um wahr zu sein. Wer vom lieben Gott spricht, denkt an die hellen, die schönen, die strahlenden Seiten des Lebens. Wenn uns etwas fehlt, dann bitten wir ihn. Und manchmal sind wir auch dankbar – wie heute am Erntedankfest. Aber die dunklen Seiten gibt es eben auch. Und dann drängt sich die Frage auf, wo hier denn der liebe Gott geblieben ist. Ist da der liebe Gott nicht viel zu harmlos, als dass er noch helfen könnte? Und schon stecken wir drin in dem Dilemma zwischen der Allmacht Gottes und seiner Liebe. Für viele Menschen besteht ein tiefer Widerspruch zwischen den vielfältigen Erfahrungen des Leidens und der Rede von Gottes Liebe. Diese Spannung hat schon der griechische Philosoph Epikur mit Worten treffend auf den Punkt gebracht, die klassisch geworden sind: Entweder will Gott die Übel aufheben und kann nicht oder er kann und will nicht oder er will nicht und kann nicht oder er will und kann. Wenn er will und nicht kann, ist er schwach, und das trifft für Gott nicht zu.
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Wenn er kann und nicht will, ist er neidisch, und das ist ebenso unvereinbar mit Gott. Wenn er nicht kann und nicht will, ist er neidisch und schwach und dementsprechend auch kein Gott. Wenn er aber will und kann, wie das allein angemessen für Gott ist – wo kommen dann die Übel her, und warum hebt er sie nicht auf? Was wollen wir nun hierzu sagen, liebe Gemeinde? Und was sagt der Apostel? Ich weiß nicht, ob Paulus diese zugespitzten Formulierungen Epikurs gekannt hat. Aber er spricht nicht allgemein vom Übel in der Welt. Er spricht von den Erfahrungen des Leidens, die er selber durchgemacht hat und im 2. Korintherbrief noch sehr viel konkreter ausführt: Ich habe mehr gearbeitet (als die anderen Apostel), ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen (…) dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in der Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr unter Juden, in Gefahr unter Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, und die Sorge für alle Gemeinden. (2Kor 11,23–28)
Diese Erfahrungen hat Paulus vor Augen. Und auf diesem Hintergrund sind auch die Worte aus dem Römerbrief nicht mehr zu schön, um wahr zu sein, sondern in einem Maß authentisch, wie wir es nicht oft erleben – vielleicht noch in Dietrich Bonhoeffers Briefen aus dem Gefängnis mit dem bekannten Gedicht »Von guten Mächten«. Auf diesem Hintergrund werden sie existentiell glaubwürdig. Und darum können sie auch für uns zu einer glaubwürdigen Antwort werden an die Skeptiker vom Schlage Epikurs. Und was fast noch mehr ist: Paulus versucht nicht einfach eine Schicksalsfrage zu beantworten, für die es gar keine Antwort gibt, sondern er wird persönlich. Er spricht von dem, was ihm selber Halt und Geborgenheit gegeben, ihn getragen und gestärkt hat. Und er spricht so davon, dass auch wir uns darin wiederfinden können.
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Diese Worte machen Mut, die Semesterferien und die Urlaubszeit nun hinter uns zu lassen, frei und unbeschwert in das neue Studienjahr zu gehen und auch in der Theologischen Woche der Theodizeefrage nicht auszuweichen. Denn in diesen Worten sind die dunklen Seiten unseres Lebens eingeschlossen, mit Freud und Leid, auch den Rätseln und Geheimnissen, auch dem, was den Sommer über nicht fertig geworden und Stückwerk geblieben ist, dem Gewissen und den Lasten, die uns quälen und vielleicht auch in das neue Studienjahr hinein verfolgen. »Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?« In Christus ist Gott selbst hier, der frei spricht und gerecht macht, der für uns eintritt und das letzte Wort behalten wird. Dessen ist sich Paulus gewiss. Aber Fragen bleiben. »Wo kommen dann die Übel her, und warum hebt er sie nicht auf?« Viele haben sich seit Epikur den Kopf darüber zerbrochen, aber eine Antwort, die befriedigt, haben sie nicht finden können. Die Frage bleibt. Aber die andere eben auch: »Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?« Etwa Leiden, Angst und Furcht, Hunger oder Kälte, die Sorge um Leib und Leben oder gar das Martyrium? Solche Erlebnisse wie bei Paulus mögen uns – Gott bewahre – erspart bleiben. Und doch kennen auch wir die Erfahrung der Bedrängnis. Von Zeit zu Zeit treffe ich einen Kollegen, der einen Verein für Psychiatrie und Seelsorge gegründet hat, weil die Angsterkrankungen in den letzten Jahrzehnten so stark zugenommen haben. Ängste müssen keine so extreme Form annehmen. Und es braucht auch nicht die Angst vor dem Verhungern zu sein. Es reichen schon die alltäglichen Sorgen, die innere Anspannung vor dem neuen Semester, die Unsicherheit mit dem Arbeitsplatz, das mulmige Gefühl vor einer ärztlichen Untersuchung, die Furcht vor der Begegnung mit einem Menschen, auch die Sorge, sich ja keine Blöße zu geben. Was wollen wir nun hierzu sagen? Ich möchte es mir nicht zu einfach machen. Und ich bin auch nicht Paulus. Aber die Theodizeefrage ist nicht nur ein Problem der Gotteslehre. Sie hat auch ganz elementar mit unserer eigenen Lebens- und Glaubenserfahrung zu tun. Wie wäre es, wenn wir einmal statt durch Sorgen uns in Frage stellen zu lassen, die Sorgen in Frage stellen – z. B. mit der Frage des Apostels: »Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?« Etwa Angst, Hunger oder Kälte, Gefahren für Leib und Leben? Und dann könnten wir uns an die Worte des Paulus halten: Aber all das überwinden, besiegen, bezwingen und bewältigen wir durch den, der uns geliebt hat, der uns hält und trägt, Kraft gibt und Geborgenheit bietet. Denn die Liebe Gottes in Christus ist die einzige Macht, die bleibt. Sie
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kommt auch im Leiden nicht an ihre Grenze, sondern im ewigen Leben zur Vollendung. Weil Christus gestorben, ja mehr noch auferweckt ist, kann Paulus sagen, dass auch wir Teil bekommen an diesem Sieg durch den, der uns geliebt und sich für uns hingegeben hat. Deshalb, nur deshalb und gerade deshalb ist Paulus gewiss, dass keine Macht der Welt uns von der Liebe Gottes in Christus zu trennen vermag. Damit ist die Liebe die einzige Macht, die niemals aufhört, sondern auch im neuen Studienjahr bleiben und Bestand haben wird mit seinen Höhen und Tiefen, bei dem Leben, das kommt, und dem Leben, das vergeht. Die Macht dieser Liebe eröffnet eine Perspektive, auch wenn eine Krankheit sich anbahnt oder das Alter voranschreitet. Ob die Stunden nicht reichen oder die Zeit lang wird – sich hier und dann auf diese Liebe zu besinnen, kann helfen, Distanz zu gewinnen, nüchtern und realistisch zu werden, die nötige Gelassenheit und neue Zuversicht zu finden. Sie kann frei machen von Mächten und Gewalten, ein Stück Freiheit geben angesichts der Herausforderungen, die jetzt im Studium und bei der Arbeit wieder vor uns liegen. Ein Stück Freiheit auch von dem Zwang, die eigene Existenzberechtigung durch Sonderaktionen, durch Wortmeldungen und Referatsbeiträge sich und anderen beweisen zu müssen. Und sie kann davor bewahren, dem Gefühl der Ohnmacht zu erliegen. Solche Besonnenheit kann helfen, von einer Aufgabe nicht mehr zu erwarten, als sie uns geben kann. So vermag der Glaube gewiss zu machen und frei. Denn auch diese Frage bleibt: »Wer kann uns scheiden von der Liebe Christi?« Auch diese Frage bleibt, aber sie bleibt nicht offen, sie bleibt nicht ohne Antwort. Kommen wir zur Besinnung, indem wir uns auf die Antwort des Apostels besinnen, dass uns keine Macht der Welt – auch nicht unser Zweifel – trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus ist. Kommen wir zu uns selbst, indem wir zu Gott kommen. Finden wir uns, indem wir uns zusammenfinden – in der Gemeinschaft seiner Liebe. Kommt, denn es ist alles bereit. Amen.
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Jizchaks Überleben Bibelarbeit zu Genesis 22 Annette M. Böckler Die dunklen Seiten Gottes können uns eine solche Finsternis erblicken lassen, dass wir Gott nicht mehr erkennen – und uns selbst auch nicht. Liebgewonnene Vorstellungen von Gott verdunkeln sich und verschwinden. Ein Schatten fällt auf die scheinbar noblen Handlungen von Menschen. Die Geschichte in Gen 22 über die Bindung Jizchaks und ihre Rezeption im Judentum zeigt diese finstere Unklarheit Gottes und der Menschen. Wir wandeln in der Welt der Abschlachtungen, stolpern, fallen über Trümmer, von Todesangst umgeben, von Augen, die uns schweigend anstarren, Augen anderer ermordeter Juden, gejagter, gehetzter, verfolgter Seelen, die nie eine Wahl hatten, in eine Ecke zusammengepfercht, eng aneinander gedrückt, schweigend und zitternd, denn hier fand sie das geschärfte Messer, sie kamen, um einen weiteren Blick zu werfen auf den nackten Terror ihres brutalen Todes. Diese starrenden Augen stellen alle dieselbe Frage: Warum?1 »Wir sind die Nachkommen Jizchaks, der auf dem Altar gebunden wurde.« So lehrt das jüdische Morgengebet, welches Juden bereits zur Zeit der Kreuzzüge, der Vertreibungen und Pogrome lasen. Jizchak wurde zur Identifikationsfigur: Wir sind die Nachkommen eines Menschen, der gebunden, auf einem Altarherd liegend, aus religiösen Gründen das Messer über sich erhoben sah, in der Hand seines Vaters.
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Central Conference of American Rabbis (Hg.), Gates of Repentance. The New Union Prayerbook for the Days of Awe, New York 1996, S. 436 (aus dem Amerikanischen von Annette Böckler).
Annette M. Böckler
Herr aller Welten, nicht wegen unserer Verdienste legen wir dir unsere Bitten vor, sondern wegen Deines großen Erbarmens. Was sind wir? Was ist unser Leben? Was ist unsere Liebe? Was ist unsere Gerechtigkeit? Was ist unsere Hilfe? Was ist unsere Kraft? Was ist unsere Stärke? Was sollten wir vor Dir sagen, Ewiger, unser Gott und Gott unserer Vorfahren? (…) Der Mensch hat keinen Vorzug vor dem Tier, denn alles ist nichtig. Wir aber sind dein Volk, Kinder deines Bundes, Kinder Awrahams, der Dich 2 liebte, dem Du auf dem Berg Morija ein Versprechen geschworen hast, wir sind Nachkommen Jizchaks, seines Einzigen, der auf dem Altar gebunden wurde.3
Dieser alte Text basiert auf Zitaten aus Bibel, Talmud und Midrasch4 und wird seit dem Mittelalter sowohl im sefardischen als auch im aschkenasischen Ritus des Judentums zur Vorbereitung auf das tägliche Morgengebet gelesen. In sefardischen Gebetbüchern ist sogar die ganze Geschichte Gen 22,1–19 zu Beginn des Morgengebets abgedruckt. So wundert es nicht, dass auch einige Juden der Gegenwart sich mit Jizchak identifizierten und die Annullierung ihrer Menschlichkeit während des Nationalsozialismus auf der Grundlage von Gen 22 als Überlebende eines Ganzopfers (griechisch: Holocaust) verstanden. Elie Wiesel (geb. 1928), der nach einer traditionellen jüdischen Kindheit als Teenager Auschwitz und Buchenwald überlebte, meinte: Die Akedah5 ist das wohl geheimnisvollste, herzzerbrechendste und zugleich eines der wunderbarsten Kapitel unserer Geschichte. Die ganze jüdische Geschichte kann tatsächlich mit Hilfe dieses Kapitels verstanden werden. Ich nenne Isaak den ersten Überlebenden des Holocaust, weil er die erste Tragödie überlebte. Isaak war auf den Weg, ein korban olah [Brandopfer] zu sein, was wirklich ein Holocaust ist. Das Wort ›Holocaust‹ hat eine religiöse Konnotation. Isaak war bestimmt als Opfer für Gott.6
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Vgl. Gen 22,16 f.: »Bei mir selbst habe ich geschworen, spricht der Ewige, dass, weil du dies getan und deinen einzigen Sohn nicht verweigert hast, dass ich dich segnen und deinen Samen mehren will wie die Sterne des Himmels und wie Sand am Ufer des Meeres, sodass dein Same einnehmen soll das Tor seiner Feinde.« Zum Ort im Morgengebet siehe z. B. Siddur Schma Kolenu. Ins Deutsche übersetzt von Raw Joseph Scheuer, Zürich 1996, S. 29; Seder ha-Tefillot. Das jüdische Gebetbuch. Hg. von Jonathan Magonet in Zusammenarbeit mit Walter Homolka. Aus dem Hebräischen von Annette Böckler, Gütersloh 1997, S. 157.159. Dan 9,18; Koh 3,19; vgl. Koh 5,8–16; Babylonischer Talmud: Joma 87b; Midrasch Mechilta de Rabbi Jischmael, Beschallach 10 (zu Ex 15,18). In der Mechilta hat die Selbstdefinition als »Kinder deines Geliebten Jizchaks« jedoch noch nicht den Zusatz »der gebunden wurde«. Akedah (»Bindung«) ist die jüdischen Bezeichnung der Erzählung Gen 22. Irving Abrahamson, Against Silence. The Voice and Vision of Elie Wiesel, Bd. I, New York 1985, S. 385. Wiesel hatte den Begriff »Holocaust« auf der Grundlage von Gen 22
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Wie aber können Opfertiere beten? Zu welchen Gott kann man nach dem Holocaust Vertrauen haben? Kann man sich auf Gott verlassen angesichts der Tatsache, dass man sich nicht auf ihn verlassen konnte? Welchen Trost spendet die Religion, wenn Gott kein Fels und Schutzschild ist – nicht einmal für das Volk, durch das er sich bekannt machen wollte? Scheinbar bestimmen eben doch Menschen, wie es anderen Menschen ergeht. Gott ist nicht nur unbegreiflich oder dunkel geworden, sondern unendlich fern, wenn nicht gar mit vernichtet. Weshalb muß ich zu dir reden? Ich glaube nicht meinen Worten oder daß du hörst. Soll dieses Staubkorn das wirbelnde Weltall anreden? Du bist mir wie gar nichts wenn du nicht Ha-Rachaman [der Barmherzige] bist. Aber du bist nicht barmherzig: das bezeugt der blinde Wurm, dein Volk. Laß Schweigen zwischen uns sein; laß die Erde ihren Mund schließen; ich will nicht zu dir sprechen. (Amy Blank, 1975)7 Nach traumatischen Erfahrungen kann man nicht theologisieren. Theologische Erklärungen machen lediglich wütend, weil Schmerz und Wut nicht stehen gelassen werden. Schmerz und Wut können nicht erklärt, begründet oder gedeutet werden. Geschichten wie Gen 22 aber sind behutsam, denn
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Ende der 50er Jahre in die Diskussion eingebracht. Er wählte den Begriff, um das spezifisch Jüdische der Leiden hervorzuheben und folgte hierin der alten jüdischen Tradition, die das jüdische Volk mit dem überlebenden Jizchak identifizierte. Ende der 80er Jahre aber distanzierte sich Wiesel scharf von dem Begriff »Holocaust«: »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich leider derjenige war, der dieses Wort in diesem Zusammenhang eingeführt hat, und ich bin nicht stolz darauf. Ich kann es nicht mehr länger benutzen« (Elie Wiesel, Some Questions That Remain Open, in: Asher Cohen/Joav Gelber/Charlotte Wardi [Hgg.], Comprehending the Holocaust, Frankfurt u. a. 1988, S. 9–20, dort S. 13). Die Opferterminologie schreibt denjenigen, die das Opfer bringen – d. h. den Nazis – priesterliche Funktionen zu, sie werden zudem zu Werkzeugen eines Gottes, der das Brandopfer (Holocaust) in Gen 22 ja verlangte, der Begriff Holocaust für die Schoah ist daher äußerst problematisch. – Zu Herkunft und Bedeutung der Begriffe »Holocaust« und »Schoah« siehe vor allem Christoph Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken nach Auschwitz, Gütersloh 1995, S. 100–110. Pnina Navè Levinson, Esther erhebt ihre Stimme. Jüdische Frauen beten (GTB 538), Gütersloh 1993, S. 26 f. (aus dem Amerikanischen übersetzt von P. N. Levinson).
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sie eröffnen verschiedene Identifikationsmöglichkeiten. Sie schaffen Raum, so dass der Verletzte sich verstanden fühlt und wiederfindet: in Awraham mit seinem extremen Gehorsam und seiner Treue bis zum Letzten, oder in Jizchak, der ungefragt gebunden wurde, oder auch in dem »anderen Widder«, der tatsächlich geschlachtet wurde, oder in Jizchaks Mutter, die schweigend übergangen wird. Die jüdische Auslegungsgeschichte erweitert das Identifikationsspektrum, indem sie diese Erzählung durch andere Erzählungen erklärt. Sie berichtet von einem mit Gott diskutierenden Awraham, der gerade nicht blind gehorcht, von einem mit einem bösen Engel streitenden Jizchak, der gerade nicht passiv schweigt, von Saras Tod als Reaktion auf den Schock, und vieles mehr. Geschichten geben nichts vor, aber sie geben Raum. Sie erlauben das stockende Staunen: Wozu? Warum wird uns Leid zugefügt? Wozu musste Jizchak gebunden werden? Wo ist Gott? Und wo ist der Mensch? Verschiedene Menschen werden bei dem Studium der Verse dieser Geschichte an verschiedenen Szenen hängen bleiben. Es kommt im Folgenden daher nicht darauf an, eine einzige Wahrheit in der gesamten Geschichte aufzuzeigen, sondern Fragen zu wecken und verschiedene, zum Teil sich widersprechende Facetten der Erzählung zu beleuchten, um Licht in die Dunkelheiten unseres Lebens und unserer Gottesvorstellungen zu werfen. »[Gen 22, 1]Es war nach diesen Begebenheiten«8: Schon die ersten Worte der Geschichte werfen Fragen auf. Die jüdische Tradition fragt: »Nach welchen Begebenheiten?« Im vorherigen Kapitel schloss Awraham einen Bund mit dem König der Philister (Gen 21,22–32). Ein mittelalterlicher jüdischer Kommentator, Rabbi Schmuel ben Meïr, meinte daher, Awrahams Prüfung folge als Strafe für diesen Bund mit einem Heiden.9 Damit lehrt er, eine göttliche Prüfung sei ihrem Wesen nach letztlich eine Strafe. Doch zwischen dieser Begebenheit und der Geschichte in Gen 22 verging eine »lange Zeit« (21,34), einige meinen, zwölf Jahre.10 Manche sagen daher, die Geschichte habe sich nach den Worten – »Begebenheiten« (hebr.: dewarim) kann auch »Worte« bedeuten – des Anklägers der Menschen »Satan« zugetragen, der Gott vorwarf: »Herr der Welt, du hast Awraham mit hundert Jahren eine Leibesfrucht geschenkt, aber von seinem ganzen Festmahl hatte er weder eine Turteltaube noch eine junge Taube übrig, um sie dir zu opfern!« – 8
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Die deutsche Übersetzung des Bibeltextes basiert auf: Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn. Mit den Prophetenlesungen im Anhang. Hg. von Annette Böckler. Mit einem Vorwort von Tovia Ben-Chorin, Berlin 2001. Raschbam zu Gen 22,1. Raschi zu Gen 21,34, der sich hier auf eine ältere Deutung aus Midrasch Seder Olam stützt.
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Denn von einem Dankopfer Awrahams steht nichts im Text. – Gott habe Satan daraufhin erwidert: »Wenn ich zu ihm sagen würde, dass er seinen Sohn für mich schlachte, so würde er dies sofort tun.«11 Nach diesen Begebenheiten versuchte Gott Awraham. Awrahams Prüfung – und gleichzeitig jede Prüfung der Gemeinde – wäre damit ein vergleichbarer Treueerweis wie Ijows Leiden. Die jüdische Liturgie identifizierte die jüdische Gemeinde mit Jizchak. So wundert es nicht, dass einige Deutungen Jizchak eine aktive Rolle an dem Geschehen zuschreiben. Er wurde zum Vorbild für einen religiösen Märtyrer. Es sei, so erklären einige, nach den Worten Jischmaels gewesen, der sich über Jizchak gerühmte habe. Er sei bei seiner Beschneidung bereits 13 Jahre alt gewesen und habe sich nicht gewehrt. Sein Gehorsam übertreffe folglich den Jizchaks, der bei seiner Beschneidung ja erst acht Tage alt war, das Ganze also gar nicht mitbekommen hatte. Nach diesem Vorwurf nun habe Jizchak erwidert: »Du lästerst über mich wegen eines Körperteiles. Wenn Gott sämtliche Glieder von mir fordern würde, würde ich nicht zögern, sie ihm zu geben.«12 Nach diesen Worten versuchte Gott Awraham. Literarisch leiten die Worte »Nach diesen Begebenheiten« eine unerwartete Wendung mit weitreichenden Folgen in einem größeren Erzählkomplex ein.13 »Es war nach diesen Begebenheiten, als Gott Awraham versuchte und zu ihm sprach: ›Awraham!‹« Was versuchte er? Wozu? Anders gefragt: Warum musste Jizchak leiden? Für die meisten jüdischen Kommentatoren verdeutlicht Jizchaks Bindung die Leiden der Juden im Mittelalter, d. h. örtliche Diskriminierungen, im schlimmsten Fall ein lokales Pogrom oder eine Vertreibung, aber noch nicht, wie im letzten Jahrhundert, die gezielte Ausrottung des gesamten europäischen Judentums und einer Betroffenheit fast aller jüdischen Familien der Welt. Dies gilt es zu bedenken, denn die meisten der alten Antworten wirken aus heutiger Sicht zu simpel. Sie sind auf die heutige Situation nach der Schoah nicht übertragbar. Eine klassische Antwort auf die Frage nach dem Warum lautet:
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Babylonischer Talmud: Sanhedrin 89b. Babylonischer Talmud: Sanhedrin 89b; Raschi zu Gen 22,1. Vgl. die anderen Belege von Achar(e) ha-dewarim ha-eleh in Gen 15,1 (Verheißung eines Sohnes an Awraham); 22,20 (Geburt Riwkas); 39,7 (Potifars Frau verführt Josef); 40,1 (Mundschenk und Bäcker kommen ins Gefängnis zu Josef); 48,1 (Segen für Efrajim und Menasche mit überkreuzten Händen); Jos 24,29 (Tod Jehoschuas); 1Kön 17,17 (Elijahu belebt ein totes Kind); 21,1 (Nabot wird der Weinberg enteignet). Siehe dazu auch Benno Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, S. 491.
Annette M. Böckler
Rabbi Jonathan sagte: »Ein Töpfer prüft keine beschädigten Gefäße, denn er kann ihnen nicht ein einziges Schläglein zufügen, ohne dass sie nicht sofort zerbrechen würden. Was aber prüft er? Nur die guten Gefäße, denn diese wird er nicht zerbrechen, selbst mit vielen Schlägen. In ähnlicher Weise prüft der Heilige, Gepriesen sei Er!, nicht die Bösen, sondern die Guten, wie es heißt: ›Der Ewige prüft die Gerechten‹ (Ps 11,5).« Rabbi Jose ben Rabbi Chanina sagte: »Wenn ein Flachsarbeiter weiß, dass ein Flachs eine gute Qualität hat, dann wird es, je mehr er es schlägt, um so glänzender; aber wenn es eine mindere Qualität hat, kann er ihm nicht einen Schlag versetzen, ohne dass es sich spaltet. Ähnlich prüft Gott nicht die Bösen, sondern nur die Guten, wie es heißt: ›Der Ewige prüft die Gerechten.‹« Rabbi Elasar sagt: »Wenn ein Mann zwei Kühe besitzt, die eine stark, die andere schwach, auf welche wird er das Joch setzten? Natürlich auf die starke. Ähnlich prüft Gott nur die Guten, wie es heißt: ›Der Ewige prüft die Gerechten.‹«14
Für den, der geprüft wird, mag es tröstlich sein zu wissen: Mein Leiden beweist, dass ich zu denen gehöre, die Gott für gut und stark befindet und denen er eine solche Prüfung überhaupt nur zutraut. Von einem spanischen Bibelkommentator aus dem 15. Jahrhundert, d. h. der Zeit der christlichen Rückeroberung der iberischen Halbinsel, die mit Vertreibungen oder Zwangstaufen verbunden war, stammt die folgende Erklärung, die weniger erklärt als vielmehr zur Treue zum Judentum und zum Aushalten mahnt: Der Lohn für ein gutes Potential ist nicht derselbe, wie der Lohn für eine tatsächliche gute Tat. »Es rühme sich nicht der, der seine Waffen anzieht, wie der, der seine Waffen ablegt« (1Kön 20,11), derjenige, der noch keine Heldentaten begangen hat, aber für den Kampf bereit ist, kann nicht mit einem verglichen werden, der diese Taten bereits getan hat und nun seine Rüstung auszieht. Aus diesem Grund prüft der Heilige, gepriesen sei er!, die Gerechten und legt ihnen Leiden auf, um sie daran zu gewöhnen, so dass die tatsächlichen Taten ihrem inneren Charakter entsprechen können. Die Tat wird die Liebe zu Gott verstärken, da jede Tat ein unauslöschliches Zeichen auf dem Täter hinterlässt. Diese Übung in guten Taten heißt Prü15 fung.
Awraham – und mit ihm jeder Geprüfte – erhält durch die Prüfung von Gott folglich die einmalige Chance, beweisen zu können, wie groß seine Treue16 zu Gott wirklich ist. Mit anderen Worten gesagt: »Der Lohn für eine 14 15 16
Midrasch Bereschit Rabba 55,2. Josef Albo, Sefer Ikkarim. Das Hebräische Wort für »Treue, Standhaftigkeit« wurde später in der griechischen Übersetzung oft mit »Glaube« übersetzt. Awrahams Glaube meint also vom Hebräischen her seine Treue zu Gott.
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gute Tat ist größer als der Lohn für ein lediglich gutes Herz (= Gesinnung).«17 Ähnlich klingt eine Erklärung aus dem Jahr 1934: Gottes Prüfungen sollen offenbar machen, was in einem Menschen ist, wie weit sein Gottesgehorsam geht (Ex 164 Dt 82 134), sie sind eine Belastungsprobe der Seele, sie bringen das Gold an den Tag (…) Nicht die Erfüllung an sich ist beabsichtigt, sondern es soll sich zeigen, wie Abraham sich dabei verhalten wird. Damit werden wir sofort an das Buch Hiob erinnert.18
»Awraham sprach: ›Hier bin ich!‹ [2]Da sprach Gott: ›Nimm deinen Sohn« – »Awraham fragte: ›Welchen? Ich habe zwei Söhne.‹« – »›deinen einzigen‹« – »›Der eine ist der einzige seiner Mutter und der andere ist der einzige seiner Mutter.‹« – »›den du liebst‹« – »›Beide sind mir lieb.‹«19 – »›nämlich Jizchak‹«. Mit diesem Dialog interpretiert der Babylonische Talmud die Weitschweifigkeit des Textes in Gen 22,2. Literarisch liegt hier eine Steigerung vom Allgemeinen zum Besonderen vor. Awrahams Dialog mit Gott im Talmud legt Awraham jedoch gleichzeitig eine Charaktereigenschaft bei, die er bereits früher gezeigt hatte (Gen 18,17–33). Er hört Gott nicht – wie etwa Noach in Gen 6,13–22 – schweigend zu und ist unkritisch gehorsam. Er argumentiert mit Gott. Dies gilt als eine positive Charaktereigenschaft Awrahams. »Gehe hin«: Im Hebräischen steht hier eine ungewöhnliche Wortverbindung, die nur noch einmal in der Tora vorkommt: lech lecha. Wörtlich übersetzt bedeuten sie: »Geh für dich.« Rabbi Schlomo ben Jizchak (»Raschi«, 1040–1105) erklärte: »Gehe zu deinem Nutzen und zu deinem Glück«20. Zweimal in seinem Leben hörte Awraham diese Worte. Sie markieren den Beginn seiner Beziehung zu Gott: »Gehe hin – lech lecha – aus deinem Land, von deinen Geburtsort und von deines Vaters Hause in das Land, das ich dir zeigen werde« (Gen 12,1). Mit »Gehe hin – lech lecha – in das Land Morija« beginnt nun das letzte Gespräch zwischen Awraham und Gott. Der Midrasch wägt ab, welche der beiden Aufforderungen »Gehe hin« größere Bedeutung habe. Die Wahl fällt auf die zweite: Hier in Gen 22,2 werde eine konkrete Ortsangabe gegeben, die beim ersten Mal in Gen 12,1 fehlte. Es ist für Awraham diesmal kein Aufbruch ins Ungewisse – für Jizchak hingegen schon. Raschi identifizierte Morija auf der Grundlage von 2Chr 3,1 mit Jerusalem. Ein Midrasch aber erklärte, Morija sei der »Ort,
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Nachmanides zu Gen 22,1. Benno Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, S. 491. Die Einwände Awrahams finden sich im Babylonischen Talmud, Sanhedrin 89b. Vgl. auch Raschi zu Gen 22,2 und Midrasch Bereschit Rabbi 55,7. Raschi zu Gen 12,1.
Annette M. Böckler
von dem aus die Lehre (hora