Theodizee: Eine theologische Herausforderung [1 ed.] 9783788731953, 9783788729073, 9783788729066


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Theodizee: Eine theologische Herausforderung [1 ed.]
 9783788731953, 9783788729073, 9783788729066

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Theologische Bibliothek Herausgegeben von Christoph Auffarth / Irene Dingel / Bernd Janowski / Friedrich Schweitzer / Christoph Schwöbel und Michael Wolter

Band III Christian Link Theodizee

Christian Link

Theodizee Eine theologische Herausforderung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–2907–3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com Druck und Bindung: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Michael von Rad dem unvergesslichen Freund in dankbarer Erinnerung

Vorwort Man hat die Theodizeefrage ungeachtet ihrer scheinbaren Radikalität die „merkwürdigste aller Fragen nach Gott“ genannt. Hier wird Gott aufgeboten, um den Menschen von sich selbst zu entlasten, von den Erfahrungen der Ohnmacht und Sinnlosigkeit, die als dunkler Schatten noch seine größten wissenschaftlichen und technischen Erfolge begleiten. Denn, so fragt man nicht erst heute, wie kann er zulassen, dass Naturkatastrophen und mehr noch: Krankheiten und Leiden, menschliches Unrecht und Gewalt, das Gesicht der Erde entstellen? Lässt er sich „rechtfertigen“ (so die Bedeutung des von Leibniz eingeführten Begriffs) angesichts der Klagen über eine offensichtlich unvollkommen geschaffene Welt? Diese Fragen werden ihrer neuzeitlichen Herkunft entsprechend zunächst in der Philosophie gestellt. Sie haben gerade dort ein nachhaltiges Interesse gefunden und eine kaum noch zu übersehende Fülle von Literatur hervorgebracht. Die Antworten, die man auf sie gegeben hat, sollen im I. Teil exemplarisch vorgestellt und auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Ich habe diesen Teil bewusst im Blick auf studentische Leserinnen und Leser geschrieben, denen ich auch kompliziertere Argumentationsgänge meinte zumuten zu können. Wer sich dieser Prüfung stellt, wird bald merken, dass die Frage selbst um so schwerer zu beantworten ist, je subtiler sie hier auf dem Boden der Metaphysik ausgearbeitet wird, ja dass wir am Ende auf eine begrifflichgedankliche Lösung verzichten müssen. Denn kann man Gott rechtfertigen, ihn entlasten, ohne zuletzt doch wieder den Menschen belasten zu müssen? Und wenn er, wie schon Leibniz in seinem umsichtigen Entwurf voraussetzt, trotz der ihm zugeschriebe-

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Vorwort

nen Allmacht nur zum Bestmöglichen, nicht aber zum übelfrei Guten fähig ist, kann er dann  – wenn es ihn denn gibt  – überhaupt als das „höchst vollkommene Wesen“ angesprochen werden, solange Erlösung noch aussteht? Das Gottesbild selbst – das ist der Anlass, die alte Frage hier noch einmal neu aufzurollen – stellt sich dann als der eigentlich klärungsbedürftige Punkt heraus. Unverkennbar jedenfalls bewegen sich die gegenwärtigen Versuche, das klassische Problem zu bewältigen, am Rande des Atheismus. „Man fragt nach einem Adressaten, den man nicht mehr kennt“ (E.Jüngel). Deshalb spreche ich von einer theologischen Herausforderung. Ich tue es nicht als erster. Schon Heinrich Heine war der Überzeugung, dass „diese böse Frage“ im Buch Hiob, dem er eine „überstarke Dosis von Zweifel“ bescheinigt, besser aufgehoben sei als in der Philosophie. „[D]ieses Gift durfte nicht fehlen in der Bibel, in der großen Hausapotheke der Menschheit. Ja, wie der Mensch, wenn er leidet, sich ausweinen muss, so muss er sich auch auszweifeln, wenn er sich grausam gekränkt fühlt in seinen Ansprüchen auf Lebensglück.“1 Der theologische Partner hat sich, in eigener Sache redend, jedoch erst relativ spät (sehe ich recht, erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts) in das kritische Gespräch mit dieser Problematik hineinziehen lassen. Will er es glaubwürdig tun, dann wird ihm freilich der Abschied von den metaphysischen (und als solchen bibelfernen) Voraussetzungen der philosophischen Gottesrede förmlich aufgenötigt. Er muss sich ohne deren Garantien dem Zuwachs erschreckender Erfahrungen stellen. Dafür sprechen schon die wichtigen neueren Arbeiten von Jürgen Ebach, Johann Baptist Metz oder die große Monographie von Ingolf U. Heine, „Spätere Note“ 1854, in: Sämtl. Werke, hg. v. H. Kaufmann, 57f. 1

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Vorwort

Dalferth, von denen ich viel gelernt habe. Hier geht es um einen Unterschied der Wahrnehmung, um eine folgenreiche Differenz der Perspektive. Ich versuche das alte Problem auf der Basis biblischer Zeugnisse neu zu bestimmen, so dass die theologische Perspektive nicht als eine Art „Krisenmanagement“ erscheint, sondern als eigenständiger Zugang sichtbar wird. Denn während man dem philosophischen Diskurs die Leidensgeschichte der Menschheit kaum mehr ansieht und anhört – sie wird auf Distanz gehalten, wird „von außen“ aus der Vogelperspektive beredet –, kommen wir hier als beteiligte Subjekte selber ins Spiel. Immerhin meldet sich im biblischen Zusammenhang das Leiden in seiner ursprünglichen, elementaren Gestalt als direkte Anfrage an Gott, gleichsam eingebunden in ein „Zusammenspiel“ mit diesem überlegenen Partner und darum versehen mit einem Zeitvermerk: „Herr, wie lange willst du zusehen?“ (Ps 35,17) Es hat ein lebensgeschichtlich greifbares Gegenüber. Es erwächst aus Fragen, denen wir nicht als interesselose Zuschauer begegnen können, sondern die uns deshalb angehen, weil wir ihnen wie Hiob ausgesetzt sind, und die wir uns deshalb nur als durch sie selber in Frage Gestellte zu eigen machen können. Nicht unser Wissen ist hier gefragt, sondern unsere Hoffnung. Mit der Unterscheidung und Zuordnung dieser beiden unterschiedlichen Perspektiven versuche ich die traditionelle Fragestellung noch einmal neu zu justieren. Davon soll im II. und III. Teil die Rede sein. Dabei greife ich gelegentlich auf Feststellungen und Formulierungen zurück, die sich mir in den mit Walter Dietrich verfassten „Dunklen Seiten Gottes“ aufgedrängt haben. Ausdrücklich danken möchte ich an dieser Stelle meinem Kollegen Christoph Schwöbel, der es auf sich genommen hat, das Manuskript des Buches kritisch durchzusehen. Er hat mich mit dem Entgegenkommen

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Vorwort

des empathischen Lesers auf notwendige Ergänzungen, Streichungen und Änderungen hingewiesen und mit seinen Fragen dazu beigetragen, den Zusammenhang des Ganzen klarer sichtbar zu machen. Bochum, im Februar 2016

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Christian Link

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung – Das Problem der Theodizee . . .

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1. Theodizee – ein neuzeitliches Problem? . . . . . 2. Theodizee als Thema der Philosophie . . . . . . . 3. Theodizee als Thema der Theologie . . . . . . . . 4. Der hermeneutische Unterschied . . . . . . . . . .

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I. Entwürfe philosophischer Theodizee . . . . .

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten . . . 1.1 Die beste aller denkbaren Welten . . . . . . . . . . 1.2 Woher kommt das Übel? Das Argument der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Böse als Mangel (privatio boni) . . . . . . . . 2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Eine „Revolution der Denkart“ . . . . . . . . . . . 2.2 Doktrinale Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Authentische Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Exkurs: Theodizee als Fortschritt (Hegel) . . . . 3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Probleme der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kann die Willensfreiheit das Leiden der Kreatur rechtfertigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ist das Böse der notwendige Preis der Freiheit? (Platinga) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Frage nach Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Frage nach dem Bösen . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Das Problem der Perspektive . . . . . . . . . . . . .

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II. Biblische und theologische Entwürfe . . . . 113 Einleitung: Die Frage nach der Rolle Gottes im Theodizee-Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22) . . 1.1 Probleme der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das Gottesproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Überlieferung der Akeda . . . . . . . . . . . . . 2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem . . . . . 2.1 Probleme der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der „Fall Hiob“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Hiob-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die leidende Welt und der leidende Gott . . . . 3.1 Die historische und die theologische Ebene der Jesus-Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Tod Jesu als Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Leiden Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Theodizeefrage im Zeichen der Kreuzestheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 „Teilnahme am Leiden Gottes“ (D. Bonhoeffer) 4. Theodizee nach Auschwitz . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Gott im Holocaust: die Selbstdeutung der Opfer 4.2 Der Gottesbegriff nach Auschwitz – Abschied von der Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der leidende Gott – „Stillstellung“ der Theodizee? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Problem der natürlichen Übel . . . . . . . . . 5.2 Kann es eine bessere Welt geben? . . . . . . . . . . 5.3 Falsche Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . 6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 „Wie lange noch?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Theodizeefrage als eschatologische Rückfrage an Gott (J.B. Metz) . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Gott und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Einleitung: Die Frage nach dem Bösen . . . . . . . . 1. Das Rätsel des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Wandlungen des Bösen . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Notwendige Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Böse: Ordnung oder Chaos? . . . . . . . . . . 2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt? 2.1 Luther: Das Böse in Gottes Hand . . . . . . . . . . 2.2 Paul Tillich: Das Böse als Bedingung kreatürlicher Existenz (Entfremdung) . . . . . . . . . 2.3 Karl Barth: Das Böse als Nichtiges . . . . . . . . . 3. Die Überwindung des Bösen . . . . . . . . . . . . . 3.1 Noch einmal: die Frage nach dem Bösen . . . . . 3.2 Theologische Entdeckungen des Guten . . . . . . 4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

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Einleitung Das Problem der Theodizee Warum, so lautet die quälende Frage, die die Geschichte der Menschheit vom Buch Hiob an begeleitet bis hin zu den Katastrophen, deren Zeugen wir in der eigenen Gegenwart werden: Warum lässt der gute und gerechte Gott zu, dass Erdbeben und Hungersnöte Tausende Menschen vernichten, dass Kriege und Eroberungsfeldzüge ganze Völker ausrotten, dass straflos geschieht, was um unserer Menschlichkeit willen unzulässig ist? Vor unseren Augen breitet sich in bisher nie gekannten Formen ein menschenverachtender, noch dazu religiös motivierter Terrorismus aus: Junge Leute lassen sich, ihr eigenes Leben verachtend, als Selbstmord-Attentäter anwerben und reißen unterschiedslos Menschen in ihren Untergang hinein. Jüdische und christliche Gemeinden, seit Jahrhunderten im Vorderen Orient beheimatet, in unserer Bibel als „Gottes Augapfel“ (Sach 2,12) unter den besonderen Schutz dieses Gottes gestellt, werden aus ihrer Heimat vertrieben und ihre Ältesten in barbarischen Massakern zu Tode gebracht. Wehrlose Flüchtlinge ertrinken zu Tausenden im Meer – und Er greift nicht ein. Warum fällt Gott dem hemmungslos sich austobenden Bösen nicht in den Arm? Ist er an seinen Geschöpfen nur teilweise interessiert? Ist er in sich gespalten? Oder ist er nicht imstande, seine Interessen wahrzunehmen? Im ersten Fall, stellt das Leiden, das Menschen ohne eigene Schuld, ja ohne einen ersichtlichen Grund als willkürliche Zumutung erfahren, seine Güte, im zweiten seine Gerechtigkeit, im dritten seine Allmacht in Frage. Doch wenn man ihm diese Attribute oder auch nur eines von ihnen absprechen wollte, verdiente er dann noch als Gott angerufen zu werden?

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Einleitung

Drastischer noch hat Sigmund Freud in einem Brief an den mit ihm befreundeten Zürcher Pfarrer Oskar Pfister den Widerspruch formuliert, an dem das moderne Bewusstsein sich wund reibt: „Und endlich – lassen Sie mich einmal unhöflich werden  – wie zum Teufel bringen Sie alles, was wir in der Welt erleben und zu erwarten haben, mit Ihrem Postulat einer sittlichen Weltordnung zusammen? Darauf bin ich neugierig, aber Sie brauchen nicht zu antworten.“2 Geantwortet haben die Philosophen von Leibniz bis zu Hans Jonas mit dem Unternehmen, für das Leibniz den Begriff der Theodizee geprägt hat. Unter Theodizee versteht man den Versuch, Gottes Allmacht und Güte, seine Gerechtigkeit und Liebe auf der einen, die Tatsache dieser Übel und des Leidens auf der anderen Seite so miteinander auszugleichen, dass ein Widerspruch aufgelöst und Gott nicht mehr vom Übel angefochten oder in Frage gestellt werden kann. Die Rechtfertigung Gottes wird so zugleich zu einer Rechtfertigung der Welt und ihrer bedrohlichen Schattenseiten.

1. Theodizee – ein neuzeitliches Problem? Man hat angesichts dieser Aufgabenstellung von einem neuzeitlichen Problem gesprochen. Das trifft nur sehr bedingt zu: Neuzeitlich ist der Begriff „Theodizee“, das Problem selbst ist so alt wie das Drama des biblischen Hiob. In der Neuzeit hat es allerdings eine erhebliche Verschärfung erfahren. Allgegenwärtige Übel und Leiden werden als gewichtiges Argument gegen die Vertrauenswürdigkeit Gottes und die ihm zugeschriebenen Attribute, namentlich seiner Allmacht und Güte, ins 2

Freud/Pfister, Briefwechsel (14.2.1928), 132.

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1. Theodizee – ein neuzeitliches Problem?

Feld geführt. So gesehen steht hier nicht schon, wie man zu sagen pflegt, die Rechtfertigung Gottes vor dem Gerichtshof der menschlichen Vernunft auf dem Spiel. Denn wenn Gott seinem „theistischen“ Begriff nach existiert, bedarf er keiner Rechtfertigung durch den Menschen. Es geht vielmehr um die Rechtfertigung des Glaubens an diesen Gott angesichts des Einwandes, den der Widerspruch zwischen seiner Güte und dem Leiden der Erde gegen diesen Glauben erhebt. Er gerät in den Verdacht, selbst widersprüchlich und irrational zu sein. Umgekehrt beruht die Faszination der Theodizee-Bemühungen gerade des 18. Jahrhunderts auf dem Versprechen, diesen Einwand mit rationalen Argumenten zu entkräften Wo hat dieser Vorwurf seine materiale Basis? Er setzt dort an, wo die Gottesgewissheit seit Jahrhunderten ihren evidentesten Haftpunkt zu haben schien, bei der Zuverlässigkeit der Welt. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert aber steht die Schöpfung, das Werk der göttlichen Allmacht, unter Anklage. Der Glaube an ihre Harmonie wird durch das immer aufdringlichere Leiden ihrer Geschöpfe zerfressen und blättert am Ende wie Rost ab von dem desillusionierten Bewusstsein. „Wenn Gott diese Welt geschaffen hat, möchte ich nicht dieser Gott sein, denn das Elend der Welt würde mir das Herz zerreißen.“ (Schopenhauer) Es gibt ein zweites, m.E. noch wichtigeres Argument, das die Verschärfung der Theodizeefrage als Folge einer spezifisch neuzeitlichen Entwicklung erkennen lässt. Mit der Aufklärung bekommt die Geschichte ein neues Subjekt. Der Siegeszug einer Wissenschaft, die methodisch von Gott absieht und überwältigende Erfolge verbuchen kann, hat den allmächtigen Gott aus seiner angestammten Domäne, der Bewältigung und Deutung alltäglicher Lebensvollzüge und -krisen, verdrängt. Der zum Verwalter der Erde bestellte Mensch (Gen

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Einleitung

1,28), der in Gott den Herrn der Welt erkannte und respektierte, wurde selber zum Herrn und Gebieter der Natur (maître et possesseur de la nature; Descartes). Er hat gelernt, wie Bonhoeffer noch in den auf die Katas­ trophe des II. Weltkriegs zutreibenden Jahren diagnostizierte, „in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ‚Arbeitshypothese: Gott’“, und zwar nicht nur auf den Gebieten der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst, sondern in zunehmenden Maße auch in ethischen und religiösen Fragen: „Es zeigt sich dass alles auch ohne ‚Gott’ geht und zwar ebenso gut wie vorher.“1 Er bringt Gott zum Verschwinden, indem er die Verantwortung für den Weltlauf selbst übernimmt. Gewiss, düstere Zukunftsprognosen erschüttern unser wissenschaftlich-technisches Selbstbewusstsein. Es mehren sich die Zeichen, dass wir unser Können mit einer katastrophalen Unordnung im Verhältnis von Mensch und Natur bezahlen. Das ist eine neue Erfahrung, die Erfahrung einer mit der Subjektivität des Menschen belasteten Welt. In dieser Situation hat die neuzeitliche Theodizeefrage, diese „merkwürdigste aller Fragen nach Gott“, die Funktion einer Entlastung.2 Sie entlastet den Menschen, der die Welt als seinen „eigenen Entwurf“ (Kant) meint hervorbringen zu können, von der „totalen“ Verantwortung, die ihn angesichts der Rätsel der Sinnlosigkeit und Absurdität des Weltlaufs zu überfordern droht. Seine eigentümliche Schärfe gewinnt das neuzeitliche Theodizeeproblem nun dadurch, dass es angesichts einer Ohnmachtserfahrung aufbricht, dass man aber Gott „in dem, wofür man ihn verantwortlich machen möchte [dem Leiden und Übel der Welt], gerade nicht zu fin-

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Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung , 476f. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 68.

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2. Theodizee als Thema der Philosophie

den vermag“.3 Zwischen Gott und den nach ihm fragenden Menschen haben sich Nichtigkeitserfahrungen geschoben. Die Frage droht ins Leere zu gehen. Sie hat ihr greifbares Gegenüber verloren. Der Richter, den man nach dem Sinn der Geschichte zu fragen unternimmt, ist selber in den Rechtsstreit verwickelt. So verbirgt sich hinter den Wegen und Umwegen, zu einer Lösung des Theodizeeproblems zu kommen, zuletzt die Frage, wie denn angesichts der Leidensgeschichte der Erde überhaupt von Gott zu reden sei.

2. Theodizee als Thema der Philosophie Man versteht auf diesem Hintergrund, dass erst im Zuge der beginnenden Emanzipation vom christlichen Glauben eine regelrechte Theodizee ausgebildet worden ist, und zwar als Thema der Philosophie – gewissermaßen als ein letzter Versuch, gegen den Widerspruch der Erfahrung Gott jedenfalls für das Denken festzuhalten. Denn solange sich Gottes Existenz mit Vernunftgründen beweisen ließ, konnten Leidenserfahrungen keinen ernsthaften Einwand gegen ihn begründen; sie wurden als Prüfungen des Glaubens hingenommen. Bricht aber die Stütze der Vernunft weg, dann droht das offenkundige Ausmaß des Leidens an den Übeln der Welt der Gottesgewissheit den Boden zu entziehen. Die Versuche, von denen hier zu reden ist, diese Gewissheit auf rationalem Wege zurückzugewinnen, bewegen sich im Raum der Metaphysik unter theistischen Prämissen: Gott wird als jenes allmächtige, gütige, höchst vollkommene Wesen begriffen, über das hinaus nichts Höheres gedacht 3

Ebd., 69.

19

Einleitung

werden kann. Er soll mit diesen Prädikaten gegen die Anklage, welche Übel und Leiden der Welt gegen ihn erheben könnten, verteidigt und derart „gerechtfertigt“ werden. Das Argumentationsmodell, so wie es sich mit Leibniz’ „Theodizee“ etabliert hat, hat den Charakter einer rationalen „natürlichen“ Theologie. Auf dem Prüfstand steht daher zunächst die Welt, so wie sie sich in quasi zeitloser Schau vom Standpunkt Gottes aus darstellt, perspektivisch zentriert auf ihren schöpferischen Ursprung und die aus ihm ableitbaren kreatürlichen Ordnungen. Nicht berücksichtigt werden dabei in modernen Unternehmungen jedoch  – anders als noch bei Leibniz – die heilsgeschichtlichen Dimensionen, also das spezifisch religiöse Erbe, das die Frage nach dem Weg Gottes mit seiner Schöpfung, insbesondere die aporetische Frage nach seiner Gerechtigkeit, hätte modifizieren können. Aus diesem Ansatz resultiert das besondere Problemrelief der meisten der hier darzustellenden Versuche. Was fällt dabei ins Gewicht? Zunächst der Ausfall einer theologischen Prämisse: Denn ohne Parallelen in der uns bekannten Religionsgeschichte ist das Urteil der Bibel, das die von Gott geschaffene Welt ohne Einschränkungen als eine gute, ja „sehr gute“ Schöpfung rühmt (Gen 1,31). Ihrer Erschaffung haftet keinerlei Tragik an. Gewiss, das „valde bonum“ ist mit Bedacht als Urteil Gottes formuliert. Über seine Evidenz auf Seiten der Kreatur ist damit noch gar nichts gesagt. Soviel aber muss man daraus folgern können, dass Gott für die Strukturen der von ihm geschaffenen Welt verantwortlich ist. Genau hier setzen denn auch die schwer zu beantwortenden Fragen ein: Kann man das göttliche Urteil nachsprechen, ohne angesichts der auf unserer Erde sich abspielenden Tragödien (und wohl auch Komödien) zum Zyniker zu werden? Vorstellbar ist durchaus auch im Rahmen eines theistischen

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2. Theodizee als Thema der Philosophie

Weltbilds, dass Gott nicht für alles, was unter der Sonne geschieht, für jedes Missgeschick und jede Katastrophe, direkt verantwortlich ist. Für die Frage der Theodizee scheint jedoch allein relevant zu sein, dass es derlei überhaupt gibt, die bloße Tatsache von Übeln und unverschuldetem Leid, und wem sollte man dies zuschreiben, wenn nicht ihm? Hätte er nicht eine Welt ohne Leiden, Unglück und schuldhafte Verfehlungen schaffen können – wenn er denn allmächtig ist? Dieses beunruhigende Rätsel ruft nach einer Auflösung. Die neuzeitliche Theodizee wird aufgeboten, um mit den Widersprüchen zwischen dem tradierten Gottesbild und unseren Erwartungen an die Macht und Güte dieses Gottes fertig zu werden, mit Widersprüchen, die bereits Epikur in einer variantenreich überlieferten Reihe von Antithesen formuliert hat: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, so ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und [ist] dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt: Woher kommen dann die Übel, und warum nimmt er sie nicht weg?“4

In einem höchst instruktiven Buch, das die „Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente“ zu prüfen unternimmt, hat Armin Kreiner diese aus den Leidenserfahrungen unserer Welt resultierenden Widersprüche in zwei komplementären logischen Argumenten zusammengefasst:

4

Epikur, Von der Überwindung der Furcht, 80.

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Einleitung [1] Deduktives Argument: Die Erfahrung von Übel und Leid stellt einen Widerspruch zum Glauben an die Existenz Gottes dar. Daraus würde folgen, dass der Glaube an Gott als widerlegt zu betrachten ist. [2] Induktives Argument: Die Erfahrung von Übel und Leid macht die Annahme der Existenz Gottes unwahrscheinlich, so dass es vernünftiger erscheint, nicht an Gott zu glauben, obwohl man die Existenz Gottes durch den Hinweis auf Übel / Leid nicht definitiv widerlegen kann.“5

Das erste Argument stellt fest, dass der Glaube an einen (sittlich vollkommenen und allmächtigen) Gott durch die Tatsache des Leides widerlegt wird, denn ein Glaubenssystem, das mit „Anomalien“ wie dem Leidpro­blem nicht umgehen kann, könne auf Dauer keinen Bestand haben. Das zweite Argument räumt ein, dass man mit einschränkenden Zusatzannahmen die Existenz Gottes mit der Tatsache des Leids in Einklang bringen könnte. In beiden Fällen aber „lebt“ das Theodizeeproblem aus der Spannung zwischen zwei Aussagereihen (über Gott / über die Welterfahrung), weshalb der atheistische Schluss lautet, dass diese Aussagen entweder überhaupt nicht [1] oder mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht [2] gleichzeitig wahr sein können. Indessen stellt sich in diesen Widersprüchen nur eine Seite des Problems dar. Sie resultieren vielleicht sogar aus einer einseitigen logischen Sicht der Dinge. Demgegenüber hat Dietrich Ritschl schon vor Jahren auf einen bedenkenswerten anderen Aspekt hingewiesen.6 Wir empfinden Leiden und die sie verursachenden Übel als eine Störung des Weltlaufs, als Einbruch des Chaos in einen von Gott wohlgeordneten Kosmos. Diese Annahme liegt wie selbstverständlich den klassischen Theodizeeversuchen zugrunde. Das „Böse“ wird mit Destruktion und Chaos identifiziert – seine Auswirkun5 6

Kreiner, Gott im Leid, 17f. Ritschl, Zur Logik der Theologie, 65ff.

22

2. Theodizee als Thema der Philosophie

gen laufen oft genug darauf hinaus –, das „Gute“ hingegen mit stabilen Verhältnissen und Ordnungen. Hat es so nicht auch die Theologie gelehrt? „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens“ (1 Kor 14,33). Die Erfahrungen des letzten Jahrhunderts haben uns jedoch lehren können, dass diese einfache Gleichung durchaus nicht immer aufgeht. Eine rigide, auf ein Höchstmaß an Ordnung und Gehorsam ausgerichtete Pädagogik, ein Ethos strengster Pflichterfüllung, eine strikten Regeln sich verschreibende Rechtspraxis („law and order“), auch ein mit wissenschaftlicher Sorgfalt vorbereitetes und durchgeführtes Forschungsprogramm (atomare Technik) kann sich als Wurzelboden verheerender Übel herausstellen. Solche Erkenntnisse legen einen anderen Schluss nahe: „Das Böse und Sinnlose kann nicht mehr einfach mit Unordnung und Chaos, Gott und das Gute mit Ordnung gleichgesetzt werden.“ Ordnung ist in der Wahrnehmung der Physik „nur die Ausnahme inmitten statistischer Unwahr­ scheinlichkeit“.7 Wir erfahren den Frieden heute zunehmend aus Ausnahme von Krieg in einer Welt des Hasses und ideologischer Verblendung. Dies vorausgesetzt müsste die Frage, warum Gott Böses zulässt, noch einmal neu aufgerollt werden und in diesem Zusammenhang darum auch die andere, von der Tradition allzu eindeutig beantwortete Frage, ob alles Leiden tatsächlich nur von Menschen verursacht ist. Von Erdbeben und Überschwemmungen wird man das kaum mit Sicherheit sagen können. Und auch dann ist es noch einmal eine andere Frage, ob man solche Katastrophen deshalb schon als gottgewollt und gut verstehen soll, gewissermaßen als Ausdruck eines höheren, uns heute noch verborgenen göttlichen Planes. Wer das behaupten wollte, müsste sich allerdings in einen unerträgli7

Ebd., 65.

23

Einleitung

chen Widerspruch zur biblischen ‚Definition’ Gottes setzen, der sich als „Gott der Lebendigen“ (Mt 22,32), als Liebhaber des Lebens, in seine Schöpfung eingeführt hat. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

3. Theodizee als Thema der Theologie Hier meldet sich ein altes, in dualistischen Lösungsversuchen an den Rändern christlicher Orthodoxie aufgebrochenes Problem, das auf zwei einflussreichen Strömungen der Spätantike, Gnosis und Manichäismus, zurückgeht, das heute aber auch in esoterischen (An­ throposophie8, Spiritismus) und säkularen Mythen („Achse des Bösen“) fortwirkt: „Der Radikale kann Gott seine Schöpfung nicht verzeihen.“9 Er ist mit der geschaffenen Welt zerfallen. Gott muss von der Last seiner missratenen Welt befreit werden, und so werden Schöpfung und Erlösung, Zeit und Ewigkeit entflochten. Der „Gnostiker“ Markion, der sich 144 n.Chr. von der Großkirche trennte und eine eigene, schnell sich ausbreitende Gemeinschaft begründete – Adolf von Harnack hat ihm mit seinem Buch „Das Evangelium vom fremden Gott“ (1921) ein Denkmal gesetzt –, war ein solcher Radikaler. Für ihn ist die Schöpfung der Ursprung von Nacht und Grauen, von Unheil und Schande. Er sieht im Alten Testament einen Gott am Werk, der eine Welt von kläglichster Unvollkommenheit schafft, der Menschen bildet und sie in den Sündenfall hineintreibt, der so und so oft bereut, was er getan hat, und seinen Lieblingen die schlimmsten Sünden nachsieht, die er an anderen grausam bestraft. Das Problem des Daseins, das 8 9

Vgl. Kriele, Anthroposophie und Kirche, 47-53. Bonhoeffer, Ethik, 146f.

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3. Theodizee als Thema der Theologie

Leiden an seinen Rätseln und Unzulänglichkeiten, ist hier so umfassend aufgelistet wie später nur noch bei Schopenhauer, aber seine Lösung (wenn es denn eine gibt) wird zugleich von dem Schöpfer dieser Welt abgekoppelt. Das Bild des wahren Gottes kann – von jedem Erdenrest gereinigt – nur jenseits des Elends der Schöpfung zu finden sein, und so verkündigt Markion, gestützt auf den Galaterbrief (der ihm als die entscheidende Kampfschrift gegen allen Judaismus im Christentum gilt), einen anderen, bisher fremden und unbekannten Gott, der sich von jeder Berührung mit der unvollkommenen Materie fernhält. Die Realität des alttestamentlichen Gottes wird nicht geleugnet; sie ist durch die Erfahrungstatsachen des alltäglichen Lebens zu gut beglaubigt. Markion aber zieht die Konsequenz in der entgegengesetzten Richtung. Es gibt zwei Götter. Schöpfung und Erlösung brechen definitiv auseinander. Für die Übel und Leiden dieser Welt ist allein der „Demiurg“ des Alten Testaments verantwortlich. Die manichäische Gnosis, die auf altiranische und mandäische Wurzeln zurückgeht, hat den hier beschrittenen Weg durch die Annahme zweier grundverschiedener, aber gleichursprünglicher Prinzipien, Licht und Finsternis, zu einem konsequenten Dualismus ausgebaut. Die aus der Lichtwelt stammende Seele muss aus ihrer leidvollen Verstrickung in die Materie auf dem Weg der Erkenntnis (gnosis) befreit und mit dem ursprünglichen Licht wieder vereinigt werden. Auf Anhieb scheint dieser Dualismus eine in sich plausible Antwort auf die Ambivalenz unserer Welterfahrung zu sein. Probleme zeigen sich jedoch, sobald man seine Erklärungskraft prüft. Zunächst lässt sich die Frage nach der Herkunft zweier antagonistischer Prinzipien in diesem Kontext gar nicht stellen. Die Annahme, es handle sich um zwei in gleicher Weise „mächtige oder gar allmächtige Wesen“ mit gegensätzlicher Intention, ist „of-

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Einleitung

fensichtlich widersprüchlich“.10 Zieht man das Allmachtsprädikat zurück und reduziert das Problem auf konkurrierende Absichten, dann kann es sich nach traditionellem Verständnis nicht mehr um göttliche oder gottgleiche Wesen handeln, und es scheint einfacher zu sein, in diesem Falle mit „natürlichen“ Ursachen und Motiven zu rechnen, die „im Handlungssubjekt selbst oder in seiner Mit- und Umwelt liegen“. Der konsequente Dualismus also „gibt den Glauben an die Einzigkeit und Allmacht Gottes auf und eliminiert damit die Basis, auf der sich das Theodizeeproblem [überhaupt erst] stellt“.11 Die frühe Kirche hat daher diese „Angebote“ dezidiert verworfen. Sie hat sich durch Markion vielmehr dazu nötigen lassen, das Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer, in aller Form in ihr Credo aufzunehmen. Die biblische Theologie ist von jeher in einer anderen, schwierigeren Lage. Sie hat die Theodizeefrage nicht nur provoziert, sie hat sie der Sache nach  – am eindringlichsten im Buch Hiob – auch selber gestellt, allerdings ohne auf „theistische“ Prämissen zurückzugreifen, die sie in ihrer philosophischen Systematik und Tragweite noch gar nicht kannte. Schon deshalb muss man fragen, ob sich etwa die Auslegung einer biblischen Erzählung überhaupt zur Formulierung, geschweige denn zur Lösung dieses von Hause aus philosophischen Problems eignet. Jürgen Ebach hat in einer Interpretation der Geschichte von der „Bindung Isaaks“ (Gen 22) gezeigt, dass und wie sich die Problemstellung ändert, je nachdem man den ersten oder zweiten Wortbestandteil des Begriffs betont: Ist die Theodizee der Versuch, „anstelle Gottes, für Gott, im Interesse Gottes“ auf die Anklagen, die sich gegen ihn erheben, mit einer förmlichen Rechtfertigung zu antworten, so wäre eine Theodi10 11

Kreiner, Gott im Leid, 95. Ebd., 100.

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3. Theodizee als Thema der Theologie

zee die „Frage […], auf die – gegen alle anderen möglichen Antwortversuche – allein von Gott eine Antwort erwartet werden kann“, und zwar dadurch, dass er sich selbst rechtfertigt.12 Die Frage, die in den relativ späten, nachexilischen Erzählungen von Abraham und Hiob aufbricht, wäre dann so zu stellen: Wie kann „der eine Gott zugleich ein lebensfordernder und ein lebensrettender Gott sein […], ohne an seinem Herr-Sein oder seiner Güte oder an beidem Schaden zu nehmen“?13 Jede Antwort hätte sich dem schwierigen, erst in neueren Arbeiten wieder ernsthaft zur Kenntnis genommenen Satz zu stellen: „Ich [Jhwh] bilde das Licht und schaffe die Finsternis, ich wirke Heil und schaffe Unheil“ (Jes 45,7). Auf dem Boden Israels und seines mühsam genug erstrittenen Monotheismus war jede Möglichkeit vertan, das Unheil der Welt einem anderen zuzuschreiben als diesem einen Gott. Das ist eine schmale Basis, die zu einer Verteidigung Gottes wenig Raum lässt, die es jedenfalls unmöglich macht, „sich gewissermaßen hinter dem Rücken der namenlosen Leiden Unschuldiger mit dem allmächtigen Gott zu versöhnen“.14 Damit kehrt sich der Richtungssinn der Frage nach Gott geradezu um. Im Zentrum steht jetzt die Leidensgeschichte der Menschheit, die ihren Kulminationspunkt in dem Grauen gefunden hat, für das der Name Auschwitz steht. Gemessen an dem Interesse, das von Epikur bis zu Hegel das Denken in Atem hielt, handelt es sich hier um einen anderen Theodizeetyp. Damit steht auch das theologische Reden von Gott vor einer anderen, neuen Herausforderung. Es wird oder soll werden zur „Vision […] einer großen Gerechtigkeit, die auch an diese ver12 13 14

Ebach, Fragen gegen die Antworten, 3. Ebd., 8. Metz, Theologie als Theodizee, 110.

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Einleitung

gangenen Leiden rührt.“15 Seine Anstrengung gilt  – noch einmal mit Metz gesprochen – „der Rettung der Anderen, der ungerecht Leidenden, der Opfer und Besiegten in unserer Geschichte“. Gegenüber den klassischen metaphysischen Versuchen, die Gottesfrage zu bewältigen, hat sich die Per­ spektive verändert. Während dort die Leidenserfahrung zwar auch der Anlass war, diese Frage zu stellen, um sie dann aber „von oben“, begrifflich, zu beantworten, bleibt sie hier – deshalb sprach ich von einer Ohnmachtserfahrung – der uns allseitig umschließende Innenraum, in dem sich das Erkennen „von unten“ nach einer Antwort vortastet. Das verbindet die Gottesfrage mit der Situation, die man heute als Ende des Theismus zu bezeichnen pflegt. Die Selbstverständlichkeit Gottes ist im Zuge der europäischen Aufklärung für die abendländische Welt zerstört worden. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass alles, was ist oder geschieht, notwendigerweise von einer obersten göttlichen Ursache abhängt. Dafür kennen wir Fragen, die das Denken am Rand eines Abgrunds entlangführen, weil wir sie nicht sicher beantworten können und sie doch beantworten müssten, wenn wir mit der Gegenwart eines lebendigen Gottes rechnen wollten. Wie etwa steht es „mit dem Glauben im Hunger, mit dem Wunder beim Krebs, mit der Gerechtigkeit beim Unfall, […] mit der Gnade bei der physischen Schwäche, mit dem Geist in der Geisteskrankheit?“16 Will man den Unterschied gegenüber Leibniz und seinen Nachfolgern präzise beschreiben, so müsste man formal folgende Rechnung aufmachen. Es gibt innerhalb eines theistischen Bezugsrahmens drei Annahmen, die in der These der „besten aller möglichen Welten“ zusam15 16

Ebd., 104. V. von Weizsäcker, Grundfragen medizinischer Anthropologie, 274.

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3. Theodizee als Thema der Theologie

mengeführt werden, die also zugleich wahr sein können: (1) Es gibt Übel in der Welt. (2) Gott existiert, und er ist sittlich vollkommen. (3) Gott existiert, und er ist allmächtig und allwissend.17 Unter den Bedingungen der Moderne muss wenigstens eine dieser Thesen falsch sein, und da die Existenz der Übel unbestreitbar ist, muss man „mindestens Annahme (2) oder (3) oder [wie der Atheismus es tut] beide preisgeben“.18 Will man die atheistische Konsequenz vermeiden, muss man Gottes Liebe oder seine Allmacht einschränken. Schon in der Spätzeit der Hebräischen Bibel, der das Buch Hiob seine Entstehung verdankt, hat man ähnliche Folgerungen gezogen. Höchst grundsätzlich meldet sich hier der Zweifel, ob Gott in der Lage ist, den komplizierter gewordenen Weltlauf in einer erträglichen Ordnung zu halten. Die Diskrepanz zwischen der Hilfe, die man „im Namen des Herrn“ meinte erwarten zu können, und den Belastungen, denen diese Generation ausgesetzt war; die Kluft zwischen einer Gerechtigkeit, die das Ergehen am eigenen Tun bemisst, und dem offenkundigen Triumph, den skrupellose Ausnahmen von dieser Regel jetzt feiern, führt zu provozierenden Feststellungen: „Es stimmt etwas nicht mit dem Verfahren Jhwhs“ (Ez 18, 25.29). „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden davon die Zähne stumpf“ (Jer 31,29). Hinter diesen ungeheuerlichen und doch recht nüchtern vorgetragenen Sätzen steht die immer schwieriger zu beantwortende Frage nach der Macht Gottes im Weltgeschehen. Die Zeitgenossen Zefanjas erklären rundweg: „Gott wirkt weder Gutes noch Böses“ (Zef 1,12). Man merkt schlechter17 18

Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 239. Ebd., 239.

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dings nichts von seiner Macht. Nur eine Handbreit trennt Aussagen wie diese von den Argumentationsgängen des Hiobbuches und der Skepsis des „Predigers“ (Kohelet), die sich abmühen, eine einsichtige, mit der Existenz eines „alles so herrlich regierenden“ Gottes vereinbare Ordnung der Dinge herauszufinden. Es mag sie geben, nur menschlichem Nachrechnen ist sie völlig verborgen. Diese Erfahrungen, die sich in der Bibel am äußersten Rande melden, haben das moderne Bewusstsein mit einer ganz anderen Schärfe eingeholt und das Vertrauen in die Zuständigkeit Gottes für die Belange der Welt Schicht um Schicht abgetragen. Angesichts dieser „Entmächtigung“ Gottes kann von einer Theodizee, die den Anspruch erhebt, Gott gegen die Anklagen seiner leidenden Geschöpfe erfolgreich zu verteidigen, keine Rede mehr sein. Es gibt denn auch Stimmen – an prominentester Stelle die von Emanuel Levinas19 –, die in aller Form dafür plädieren, den Theodizeebegriff künftig zu vermeiden. Will man Gott rechtfertigen, so bleibe nur eine Möglichkeit: Man muss die Anklage zurückziehen. In der Kabbala (Isaak Luria), einem Seitenzweig der jüdischen Mystik, ist die Figur entwickelt worden, die diesen Schluss nahe legt: Um eine Welt außerhalb seiner selbst hervorzubringen und ihr die Möglichkeit freier Entfaltung zu geben, musste der unendliche Gott sich selbst einschränken. Er muss dem Endlichen Raum in sich selbst einräumen – in umgekehrter Blickrichtung gesprochen: Er muss sich selbst in die Welt und ihren Werdeprozess entäußern; er muss seine Allgegenwart zurücknehmen und seine Allmacht einschränken. Er muss seine Schöpfung – auf Zeit – sich selbst überlassen. In der modernen christlichen Rezeption (J. Moltmann) wird daraus die These, die inzwischen zu einer Art neuer Orthodoxie avanciert ist: Wie 19

Levinas, La souffrance inutile, 327-338.

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3. Theodizee als Thema der Theologie

Gott in der Menschwerdung und vollends am Kreuz in die Ohmacht des Menschlichen eintaucht, so teilt er von Anbeginn das Geschick seiner Geschöpfe. Er leidet an und mit seiner Kreatur. Einen leidenden Gott aber kann man für Gewalt und Unrecht der Erde nicht länger verantwortlich machen. Doch muss – so die Gegenrede des philosophischen Bewusstseins – mit dem nun unvermeidlichen Verzicht auf das göttliche Allmachtsprädikat die traditionelle Problemstellung nicht in sich zusammenbrechen und zu einer „Stilllegung“ der Theodizee führen? Diesen skizzenhaften Überblick will ich nicht beschließen, ohne schon jetzt auf zwei zentrale Probleme hinzuweisen. Das erste ist in der neueren Diskussion durchaus präsent. Das zweite jedoch ist, soweit ich sehe, mit den großen Ausnahmen von Schelling in der Philosophie und Karl Barth in der Theologie noch kaum als ein eigenes Problem gesehen und bearbeitet worden: (1) Beide hier vorgestellten Theodizee-Modelle laufen auf eine Entlastung Gottes vom Übel und vom Leiden hinaus. Gott darf – und das schon bei Augustin – in diese Frage nicht hineingezogen werden. Leibniz erreicht die Entlastung durch die metaphysisch konsequente, scharfe Unterscheidung von Gott und Welt. Übel und Leiden gehören auf die Seite der Unvollkommenheit alles Geschaffenen. Soweit sie vom Menschen verursacht sind, entspringen sie einem Missbrauch unseres freien Willens. Die theologischen Versuche  – so wird heute argumentiert  – entlasten Gott durch eine Entspannung und „Stillstellung“ des Problems. Die Leiden der Welt sind in der Geschichte des mitleidenden Gottes aufgehoben. (2) In beiden Modellen bleibt das Böse (malum) begrifflich und sachlich unterbestimmt. Es wird in den meisten neueren Untersuchungen lediglich im Spiegel seiner Wirkungen als Übel und Leid zum Thema ge-

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macht. So aber wird die Radikalität der von Epikur und Boethius gestellten Theodizeefrage: „Si Deus est, unde malum?“20 nicht eingeholt. Das Böse – so die überwiegend vertretene These – hat „in der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Geschöpfes“ seinen Ursprung.21 Es wird mit der Sünde identifiziert und damit subjektiviert. Die Sünde allein aber kann weder die physischen noch die moralischen Übel und Leiden erklären oder auch nur plausibel machen. Sie muss vom Bösen (als dessen Folge) noch einmal unterschieden werden. Davon soll später ausführlich geredet werden.

4. Der hermeneutische Unterschied Die hier angesprochene Differenz lässt sich noch etwas präzisieren. Man müsste die Frage der Theodizee ein unerledigtes Problem nennen, wenn denn begründete Hoffnung bestünde, eine einsichtige, menschlich verstehbare Antwort auf sie zu finden und sie so gewissermaßen zu „erledigen“. Das aber  – so die These dieses Buches – ist nicht der Fall. Hat nicht schon Kant vom Scheitern, dem „Misslingen“ aller philosophischen Lösungsversuche, gesprochen? Gewiss, doch auch sein eigenes, moralisch begründetes Angebot, von dem im Folgenden noch zu reden sein wird, wirft mehr Probleme auf, als es zu lösen vermag. Spreche ich hier von einer theologischen Herausforderung des Theodizeepro­ blems, so nicht deshalb, weil der Schatten mörderischer Gewalt, wie eingangs beschrieben, nun unter religiösem Vorzeichen auch auf die jüdische und christliche Welt fällt. Es handelt sich vielmehr um ein methodi20 21

Boethius, De consolatione philosophiae, Buch I,4 (dt. S. 13). So ausdrücklich Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 193.

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4. Der hermeneutische Unterschied

sches, genauer: um ein hermeneutisches Problem: Verfügt die Philosophie ihrem überlieferten Begriffe nach überhaupt über die Instrumente, um die Frage, die hier allein auf dem Prüfstand steht, die Möglichkeit eines Einklangs von Gottes Güte und Gerechtigkeit auf der einen, und dem menschlichen Leiden auf der anderen Seite, angemessen zu formulieren? Das nämlich geschieht noch nicht, solange sie lediglich nach einleuchtenden Gründen dafür sucht, warum Gott Böses „zulässt“, das heißt: warum er nicht „eingreift“, wenn wir es für notwendig oder gar für sittlich geboten halten, und davon ausgeht, dieses Problem lasse sich auf dem Weg einer logischen Argumentation klären. Denn wenn wir leiden, sei es unter Gewalterfahrungen, an den Folgen eines Unfalls, einer Ehekrise, unerträglicher Schuldenlasten oder was es sonst sein mag, und angesichts dieses Leidens nach dem offenbar abwesenden Gott fragen, so ist das ein Indiz dafür, dass die Ordnungen, denen wir uns bisher anvertraut haben, zu zerbrechen drohen und unsere Erwartungen auf Sand setzen, seien es jene des Wissens oder jene des Glaubens, die uns das eigene Sein bisher zu erschließen versprachen. Der Rahmen, in dem wir unsere Selbst- und Welterfahrungen interpretieren, in den wir unsere Werte und Normen und nicht zuletzt unsere Rollen einordnen können, steht in Gefahr sich aufzulösen, und in dieser Krise steht auch unsere Gottesbeziehung auf dem Spiel. Die alte Theologie sprach von Anfechtungen. Was hier aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, lässt sich jedoch durch das vom traditionellen Theodizee-Diskurs uns bereitgestellte Angebot einer logischen Ordnung nicht stabilisieren, geschweige denn ersetzen. Es ist ein Daseinskonflikt, der unser Gottes- und Selbstverhältnis in Frage stellt, und dieser Konflikt lässt sich nicht einfach auf den göttlichen Pol abschieben und dort (sozusagen durch einen jetzt zum Eingreifen genötigten Deus

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ex machina) bereinigen. Alles hängt vielmehr daran, ob es gelingt, diesen vom Zerbrechen bedrohten Rahmen wieder (neu und sicher anders) aufzubauen. Dazu aber braucht es das Zusammenwirken beider, das Konfliktgespräch zwischen Gott und Mensch im Modell einer Ich-Du-Beziehung. In diesem Sinne unterscheide ich methodisch zwischen den philosophischen und den theologischen Versuchen einer Bewältigung des Theodizeeproblems.22 Der in seiner klassischen Gestalt von Gottfried Wilhelm Leibniz ausgearbeitete Entwurf ist, vorbildlich für unzählige spätere Versuche, auf dem Boden der Philosophie entstanden. Es ist der metaphysische Versuch, Gott und Welt so aufeinander zu beziehen, dass die Erfahrungen von Übel und Leid keinen Widerspruch zum Glauben an die Existenz eines gütigen Gottes begründen können. Gelingen kann auf dieser Basis ein solcher Versuch jedoch nur dann, wenn man Gott und die Welt in den Zusammenhang einer einheitlichen, rational beschreibbaren Ontologie hineinstellt: Die Aussagen über die Welt (alle Übel inbegriffen) müssen sich logisch zwingend aus den Prinzipien ableiten lassen, die  – so Leibniz – „in den Ideen und dem Verstand Gottes“ ihren Grund haben. Das freilich hat zur Folge, dass Gott, dem zeitgenössischen Ideal der mathesis universalis (Descartes) entsprechend, hier auf den mathematischen Konstrukteur der Welt reduziert wird. Seinem Tun und Lassen werden Bedingungen gestellt, die den so auffallend geschichtlichen, auf Geschichte reagierenden und Geschichte vorwärts treibenden Charakter seines Handels ignorieren. Dass dies theologisch nur schwer zu rechtfertigen ist, Das schließt nicht aus, dass unter den im II. Teil angegebenen Entwürfen etwa das Modell 5 den traditionellen Theodizeetyp repräsentiert. 22

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4. Der hermeneutische Unterschied

dass man rational beschreibbare Ursache-WirkungsZusammenhänge nicht gut zur Erklärung dessen heranziehen kann, was wir Gott (geschweige denn seine Personalität) nennen, liegt auf der Hand. Dasselbe gilt mit gleicher Konsequenz von den Versuchen seiner begrifflichen Bestimmung, wie sie in der Leibnizschen Tradition immer wieder unternommen worden sind. Die alte metaphysische Definition des „höchst vollkommenen Wesens“ wird durch die ihm zugeschriebenen Attribute der Allmacht, Allgüte oder Allwissenheit interpretiert. Doch abgesehen davon, dass diese begrifflichen Prädikate nachgerade verhindern, was in der Situation ausweglosen Leidens – angesichts der „Verzweiflung an dem, was ist“ – auf dem Spiele steht, den Aufbau einer personalen Beziehung zu dem so offenkundig sich entziehenden Gott, begründen sie nun im Gegenteil eine Ordnung, die diese Verzweiflung an der Welt übergreifen lässt auf den, der ihr Einhalt gebieten sollte. Das nämlich ist die Ordnung einer lückenlosen, quasi deterministisch wirkenden Vorsehung, die jedem menschlichen Leiden noch einen legitimen Ort zu geben weiß. Theodor W. Adorno hat dieser Zumutung mit Recht in provozierender Schärfe widersprochen: „Dass die endliche Welt der unendlichen Qual umfangen sei von einem göttlichen Weltplan, wird für jeden, der nicht die Geschäfte der Welt besorgt, zu jenem Irrsinn, der mit dem positiven Normalbewusstsein so gut sich verträgt.“23

Es ist nicht erst die eingangs erwähnte epidemische Zunahme von Gewalt, Terror und menschlicher Erniedrigung, die diesen Protest beglaubigt, auch nicht der Skandal, mit dem das „positive Normalbewusstsein“ dies alles zu rechtfertigen weiß. Es ist, mit Adorno zu reden, die 23

Adorno, Negative Dialektik, 366.

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Verfälschung der Gestalt des biblischen „verborgenen“ Gottes, theologisch gesprochen: der Respekt vor dem Geheimnis des uns entzogenen Gottes, d.h. die Treue zum Bilderverbot, die ihn begründet und zu einem unhintergehbaren Warnruf macht. Denn mit welchem Recht könnten wir unterstellen, dass es einen solchen Weltplan gibt, und gesetzt, es gäbe ihn, wer könnte uns daran hindern, der von philosophischer Seite nicht selten gezogenen Konsequenz zuzustimmen, dass es diesen Gott dann wohl sicher nicht geben könne. Die Theologie jedenfalls hat gute Gründe, dem im philosophischen Diskurs dominant gewordenen Bild der Allmacht und Allgüte Gottes zu widersprechen und das Problem stattdessen dort aufzunehmen, wo ihre eigene Tradition es ihr nahelegt: bei dem Gott, dem Abraham angesichts des beschlossenen Untergangs von Sodom und Gomorrha widersprechen darf (Gen 18), der sich zum Streitgespräch mit Hiob herablässt (Hi 38-42) und der seine Gottheit im Leiden an (und mit) der leidenden Welt unter Beweis stellt. Das also sind die Gründe, die mich dazu bestimmt haben, von einer theologischen Herausforderung der Theodizeefrage zu sprechen und dementsprechend zwischen dem philosophischen Diskurs und dem Versuch ihrer theologischen Aufarbeitung explizit zu unterscheiden. Es sind, sehe ich recht, trotz einer äußerlich weithin vergleichbaren Problemwahrnehmung zwei grundverschiedene Perspektiven und dementsprechend zwei verschiedene Frageansätze, unter denen ihr Problem hier und dort bearbeitet wird. Das zeigt sich schon daran, dass atheistische Konsequenzen, wie man sie allerdings erst nach Leibniz aus dessen Ansatz gezogen hat, in der Theologie nicht gut möglich sind, sie müsste sich denn von ihrem Thema, der Frage nach Gott, verabschieden. Methodisch formuliert: Das philosophische „Paradigma“ hält auch in seinen modernen Varianten an den traditi-

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4. Der hermeneutische Unterschied

onellen theistischen Voraussetzungen, namentlich an der Allmachtsthese, fest. Es lebt von Erwartungen, die nur unter dieser Prämisse möglich und sinnvoll sind, etwa in der Frage: Warum hat Gott keine bessere Welt geschaffen? Es ist der Blick von außen, die Vogelperspektive, die das Gefälle dieser Diskurse bestimmt. Da derlei Erwartungen angesichts der tatsächlichen Erschaffung unserer Welt und ihrer Verfassung ins Leere gehen, scheint die Absage an Gott eine zwar theoretisch nahe liegende, wenn nicht gar zwingende Folgerung zu sein, die jedoch den lebensweltlichen Atheismus unseres Zeitalters nur noch einmal reproduziert und zugleich bestätigt. Auch wenn der vieldiskutierte Leibnizsche Entwurf – er ist in den gegenwärtigen Debatten fast wie ein zeitgenössischer Partner präsent – von diesen Konsequenzen noch weit entfernt ist, hat er angesichts seiner spürbaren Distanz zu den Krisen- und Leidenserfahrungen der Menschheit den Weg bereitet, der bei dem „Gottesverlust“ der Moderne enden konnte. Für diesen Weg kann eine bibelorientierte Theologie keine Bürgschaft übernehmen, schon weil sie dessen theistische Prämissen nicht teilt. So vertraut ihr der lebensweltliche Atheismus ist (Ps 14,1) und sie in der Wahrnehmung geschöpflicher Übel und Leiden (Hiob 24,5-12) in nichts den modernen Anklagen nachsteht, unterscheidet sie sich von ihnen doch durch die Nähe, in der sie sich durch den Schrei de profundis (Ps 88) herausgefordert sieht. Im zweiten Teil, dem sachlichen Schwerpunkt des Buches, soll daher der Versuch unternommen werden, aus dem Innenraum biblischer Traditionen, ihrer gleichsam unmittelbaren Konfrontation mit Gott, der sich Abraham, Hiob oder Jesus von Nazareth ausgesetzt sehen, zum Theodizeeproblem Stellung zu nehmen. Das geschieht nicht zuletzt in der Absicht, den Punkt der Differenz genau herauszuarbeiten, also Verständnis zu schaffen für den, der in diesen Szenarien

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Einleitung

im Zentrum steht, einen Gott, der sich in die Problematik des Leidens (Teil II) und (so der dritte Teil) des Bösen mit hineinziehen lässt.

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I. Entwürfe philosophischer Theodizee

1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten Anders als die philosophische Tradition vor ihm, zudem herausgefordert durch seinen skeptischen Widersacher Pierre Bayle, dessen Dictionnaire historique et critique (1697) zur „Bibel der Aufklärung“ wurde, geht Leibniz nicht mehr davon aus, dass sich die Welt wie selbstverständlich als ein geordneter, durch eine gleichbleibende Harmonie zusammengehaltener Kosmos verstehen lasse. Diese These muss, wenn sie denn stimmt, eigens begründet werden. Das ist Thema und selbstgestellte Aufgabe der Essais de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’Homme et l’Origine du Mal von 1710, die Leibniz großenteils im Gespräch mit der Kurfürstin und späteren Königin von Preußen, Sophie Charlotte, im Park von Herrenhausen entwickelt hat. Die Leitfrage dieses Entwurfs lässt sich so formulieren: Wie kann eine Welt, in welcher der Zufall regiert, die von physischen Übeln, menschlichen Fehltritten und Leiden gezeichnet ist, das göttliche Urteil „sehr gut“ rechtfertigen? Wie soll man sich vorstellen, dass in ihr „alles, was existiert, nur infolge der Beschlüsse des Willens Gottes und durch die Tätigkeit seiner Hand existiert“; dass seine Vorsehung (providence) und seine Vorherbestimmung (préordination) dafür sorgt, dass „alles in der Ordnung der Dinge vollkommen miteinander verknüpft ist“? (I.2; 102)24 Müsste eine solche Welt nicht frei sein von Übeln und allem Bösen? Wie Die in ( ) stehenden Ziffern bezeichnen Buch, Abschnitt und Seitenzahl der Essais de Théodicée in der Ausgabe von C.J. Gerhardt. 24

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

also hängen Notwendigkeit und Zufälligkeit des Weltgeschehens zusammen, und was ist der Ort der menschlichen Freiheit in diesem Geschehen? Vergegenwärtigt man sich das Gewicht dieser Fragen, dann hat Leibniz’ Entwurf einen in die Augen springenden Vorzug, der ihn von theologischen Unternehmungen ähnlicher Art unterscheidet: Er ist universal angelegt. Er beschränkt sich nicht auf das moralische Problem, sondern zielt im Rahmen der zeitgenössischen rationalen Metaphysik auf eine Theorie der Gesamtwirklichkeit, die überdies noch den Anspruch erhebt, mit den wichtigsten Aussagen der biblischen und theologischen Tradition übereinzustimmen. Leibniz fordert (jedes schwächere Wort würde seinen Anspruch unterbieten) die Konkordanz von Glaube und Vernunft, von menschlicher Freiheit und göttlicher Gerechtigkeit. Wenn er erklärt, die Vernunft müsse dem Glauben „dienen“ (I.1; 102), so darf man das wörtlich verstehen: Sie hat ihn so zu interpretieren, dass er auch dem kritischsten Verstand evident und einleuchtend ist. Der Anspruch der Vernunft ist so weit gefasst, dass sie nicht nur theologische Dogmen (Vorsehung, göttliche Mitwirkung) gleichsam rekonstruieren, sondern auch imstande sein soll, in Übereinstimmung mit ihnen den monadologischen Aufbau der Welt aus in sich geschlossenen letzten, nach dem Modell des selbstbewussten Ich vorgestellten Einheiten (Monaden) und ineins damit die Willensfreiheit des Menschen verständlich zu machen.25 Man übersieht dabei leicht, dass Leibniz als überzeugter Lutheraner mit einem vitalen Interesse in die theologischen Streitigkeiten seines Jahrhunderts eingegriffen hat: Er nimmt Stellung zur umstrittenen Realpräsenz Christi im Abendmahl, sucht die Spannung zwischen dem universalen Heilswillen Gottes und der doppelten Prädestination (Calvin) aufzulösen, verteidigt die Trinität gegen die italienischen Sozinianer und arbeitet an Plänen, die ökumenischen Einheit zwischen Lutheranern und Reformierten 25

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

Was das gegenüber dem mechanistischen Weltbild der cartesischen Ära (später auch des 19. Jahrhunderts) bedeutet, kann man sich in seiner Tragweite kaum groß genug vorstellen. Während dort die scharfe methodische Trennung zwischen dem denkenden, mathematisch konstruierenden Bewusstsein auf der einen und einer davon unabhängigen Außenwelt auf der anderen Seite, also zwischen mechanischen Wirkursachen und innerlich bewegenden Zweckursachen, die Basis aller wissenschaftlichen Erkenntnis ist, bricht nun die Frage auf, ob die Welt tatsächlich nur „mechanistisch“ oder nicht auch „teleologisch“, das heißt „als nach Zwecken eingerichtet, ob sie somit nach Kategorien wie ‚gut’ und ‚schlecht’ interpretiert werden“ muss.26 Nur dann ließe sich die von Leibniz aufgeworfene Frage nach dem Warum und Wozu der Welt schlüssig beantworten. Hier meldet sich bereits der Anspruch des aufkommenden Geschichtsbewusstseins. Diese Frage aber markiert, worauf Karl Löwith in kritischer Absicht hingewiesen hat, einen Bruch mit der noch älteren Tradition des griechischen Denkens: „Sowohl die Frage nach dem Wozu wie die Frage nach dem Warum sind [erst] durch die biblische Schöpfungsgeschichte in die Philosophie eingedrungen und damit zugleich die Frage nach dem Wozu und Warum des Bösen und der Versuch zu dessen Rechtfertigung.“27 Indem Leibniz hier neue Weichen gestellt und dem Denken neue Wege gewiesen hat, bleibt sein Entwurf (ungeachtet der nicht erst heute vorgebrachten Kritik an seinen metaphysischen Voraussetzungen) in der bis wiederherzustellen. Viele der von ihm vollzogenen Abgrenzungen, etwa gegen den Voluntarismus Descartes’, sind auch für eine biblisch fundierte Auseinandersetzung mit dem Problem des Bösen und des Leidens wichtig. 26 Sparn, Leiden, 21. 27 Löwith, Zur Kritik der christlichen Überlieferung, 197.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

dahin nicht erreichten Klarheit und Weite seiner kosmologischen Problemstellung ein Markstein der Philosophiegeschichte, was nicht zuletzt seine bis heute anhaltende Präsenz in der Diskussion des Theodizeeproblems belegt.28 Er hat die Aufgabe, an der Pierre Bayle gescheitert ist, den Widerspruch zwischen Vernunft und Glaube aufzulösen, in einem umfassenderen Zusammenhang zu bewältigen versucht: Er will die Bedeutung des Gottesbegriffs für ein autonomes Denken plausibel machen, das vor den Widersprüchen der Welterfahrung nicht zu kapitulieren braucht. Damit hat er sich „der frühneuzeitlichen Krise an ihrem wichtigsten Punkt (gestellt), der Bedrohung des Selbstverständnisses der autonomen Vernunft durch die Zweideutigkeit der Welt“.29 Deshalb halte ich es für gerechtfertigt, diesen Entwurf etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, als man in einer Überblicksdarstellung erwarten mag.

1.1 Die beste aller denkbaren Welten Was leistet der Gottesbegriff für das Denken? Leibniz antwortet auf der Linie der Tradition lapidar: „Gott ist der erste Grund (la première raison) der Dinge“ (I.7; 106). Man muss genau lesen. Er sagt nicht: Er ist das Fundament oder die „Geheimnistiefe“ der Dinge oder die „alles bestimmende Wirklichkeit“, wie scheinbar analoge moderne Formulierungen lauten. Er spricht von der raison, und raison bedeutet ‚Inbegriff der Vernunft’ und des vernünftig Einsehbaren. Man müsste übersetzen: Gott ist der Grund der Rationalität der Welt, und in dieser Bestimmung kommt er der 28 29

Oelmüller, Worüber man nicht schweigen kann. Sparn, Leiden, 22.

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1.1 Die beste aller denkbaren Welten

menschlichen Vernunft entgegen. Er ist keine irrationale Größe. Vier Argumentationsgänge sollen seine daraus abgeleitete These begründen. (1) Hier fällt eine Basis-Entscheidung gegenüber der voluntaristisch ausgerichteten cartesischen Philosophie. Descartes schrieb an den Mathematiker Mersenne: Ich bitte Sie, „öffentlich dafür einzutreten, dass Gott es ist, der diese [mathematischen] Gesetze [aus freier Willkür] in der Natur erlassen hat, wie ein König Gesetze erlässt in seinem Reich.“30 Auf die Einwände einer Gruppe von Theologen, Philosophen und Geometern gibt er zu verstehen: „Gottes Wille ist der wirksame Grund (causa efficiens) der mathematischen Gesetze, der metaphysischen und moralischen Wahr­ heiten.“31 Hier wird wie im extremen Nominalismus der Wille Gottes als letzter Ursprung der Ordnung und Gesetzmäßigkeit in der Natur behauptet. Er hätte bestimmen können, dass 3+3=5 ist. Demgegenüber erklärt Leibniz es für eine „Erfindung“, dass folglich Bejahung und Verneinung eines Urteils Handlungen des Willens seien. Denn „wenn die Bejahung notwendiger Wahrheiten Willenshandlungen eines noch so vollkommenen Geistes wären, so wären diese Handlungen doch nichts weniger als frei, denn hier gibt es nichts zu wählen“ (II.186; 228). Ginge es wie in der Auseinandersetzung mit den reformierten Verteidigern der doppelten Prädestination32 nach dem mehrfach zitierten Diktum: „Sic volo sic iubeo, stat pro ratione voluntas“ (so will ich’s, so befehle ich’s, statt Vernunft gelte mein Wille), dann würde überhaupt nichts mehr verständlich. 30 31 32

Descartes, Correspondance (an Mersenne, 15.4.1630), 145. Descartes, Responsiones VI, 435f. Leibniz, Unvorgreiffliches Bedencken, 471.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

Den Primat des Willens ersetzt Leibniz daher konsequent durch den des Intellekts (entendement). Gott ist die intelligible Ursache des „Systems einer prästabilierten Harmonie“; er sorgt dafür, dass es „aufgrund seiner eigenen Gesetze dem Denken und Wollen der [vernünftigen] Seelen entspricht“ (II.188; 229). Die Rationalität Gottes entspricht der Rationalität des Selbstbewusstseins, und wenn dies das erste und umfassendste Erkenntnisprinzip ist, dann muss sie auch das Weltbewusstsein begründen können. Es ist der Anspruch dieser Theodizee zu erweisen, dass die äußere Welt nicht nur in ihrer naturgesetzlichen Struktur, sondern in jeder Hinsicht, also auch in dem, was wir als Übel und Leid empfinden, die Verwirklichung der göttlichen Vernunft darstellt und insofern die beste aller denkbaren Welten ist. (2) Ein zweiter, nicht weniger wichtiger Schritt ist die Erweiterung des überlieferten Rationalitätsbegriffs. Sein Spielraum wird nicht schon durch den Satz vom Widerspruch abgesteckt, wonach einem Gegenstand nicht zwei einander ausschließende Prädikate zugeordnet werden können. Diesem fundamentalen Gesetz der Logik, das die Mathematik beherrscht, hat Leibniz ein ebenso fundamentales zweites Prinzip an die Seite gestellt, das gleichfalls in der göttlichen Vernunft begründet ist und den weiten Bereich der kontingenten Erscheinungen bestimmt, den Satz vom Grund (principium rationis sufficientis): Nichts geschieht ohne eine zureichende Ursache. Der Zufall ist nicht einfach „unlogisch“, er widerspricht keinem etablierten Naturgesetz; denn er hat in jedem Fall, wenn es denn um ein reales Geschehen geht, einen zureichenden Grund. Haben wir es dort mit notwendigen „ewigen“ Vernunftwahrheiten (vérités de raison) zu tun, so hier, wo nicht logische, sondern faktische Gründe ausschlaggebend sind, mit Tatsachenwahrheiten (vérités de fait). So sind etwa alle Aussagen

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1.1 Die beste aller denkbaren Welten

über Handlungen (Gottes wie der Menschen) Tatsachenwahrheiten, denn Handlungen sind an sich nicht notwendig wie Sätze der Geometrie. Sie sind „nur ex hypothesi und gewissermaßen per accidens notwendig, an sich aber zufällig, da ihr Gegenteil keinen Widerspruch enthält“.33 Beide Prinzipien erlauben es Leibniz, die Existenz der wirklichen Welt aus dem Begriff Gottes zu rekonstruieren. Denn Gott hat die Ordnung der Welt und die Geschicke jedes einzelnen Lebens so geordnet, dass sich die Verknüpfung der Ereignisse „nicht allein auf die ganz reinen Ideen und den Verstand Gottes gründet [Satz vom Widerspruch], sondern auch auf seine freien Ratschlüsse und den Weltlauf [Satz vom Grund]“.34 Unter dieser Voraussetzung gilt, dass Gott nichts außerhalb der Ordnung (hors d’ordre) tut und dass alle zufälligen Ereignisse und alle Aussagen über sie „Gründe haben, weshalb sie so und nicht anders lauten, oder (was dasselbe ist) dass es zwar Beweise a priori für sie gibt“, die aber nicht den Charakter der Notwendigkeit haben, da sie „auf nichts anderem als dem Prinzip der Kontingenz oder der Existenz der Dinge beruhen“.35 Dies alles steht allerdings in der Klammer einer bedeutsamen Einschränkung: Die Welt ist kein zweiter Gott. Mit ihrer Erschaffung konnte Gott „ihr nicht alles geben, ohne aus ihr einen [zweiten] Gott zu machen“ (sans en faire un Dieu, I.31; 121).Das nämlich widerspräche einem weiteren Prinzip, wonach es nicht mehrere, nur der Zahl nach unterschiedene Substanzen geben kann. Ist Gott das vollkommenste Wesen, so folgt daraus mit Notwendigkeit, dass jede andere Substanz in ihrer Vollkommenheit begrenzt sein muss – und zwar 33 34 35

Leibniz, Discours de Métaphysique, 29. Ebd., 29. Ebd., n. 13, 33.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

unabhängig vom göttlichen Willen. Also gibt es eine „ursprüngliche Unvollkommenheit (imperfection originale) in der Kreatur – noch vor aller Sünde“ (I.20; 115). Sie ist der Ursprung aller Übel. Leibniz spricht vom „metaphysischen Übel“ und erklärt: Die Übel entspringen „der ursprünglichen Beschränktheit der Geschöpfe, die sie schon im Zustand der reinen Möglichkeit (d.h. im Reich der ewigen Wahrheiten oder in den im göttlichen Verstand enthaltenen Vorstellungen) ihrem Wesen nach besitzen; denn was ohne Beschränktheit wäre, würde kein Geschöpf sein, sondern ein Gott. Beschränkt aber wird das Geschöpf genannt, weil seine Größe, seine Macht, sein Wissen und jede seiner Vollkommenheiten Schranken oder Grenzen hat.“36

(3) Die Unterscheidung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten führt drittens zur Annahme einer (unendlichen) Vielheit möglicher Welten. Denn die denkbaren Kombinationen von Tatsachen (Dingen, Ereignissen und Personen)  – logisch formuliert: von Individualbegriffen, die im göttlichen Verstand enthalten sind – sind im Prinzip unbegrenzt, können deshalb aber nicht schon widerspruchslos miteinander existieren. Zu einer aufgeklärten Gesellschaft in ein und derselben Weltverknüpfung passt zum Beispiel nicht das Institut der Blutrache. Die widerspruchsfreien Kombinationen, die sich zu einer möglichen Welt zusammenfügen lassen, müssen daher dem Kriterium der Kompossibilität genügen; ihre Elemente (Monaden) müssen mitsamt ihren kontingenten Prädikaten neben- und miteinander bestehen können. Sie müssen gemeinsam existenzfähig sein, wobei Leibniz davon ausgeht, dass jeder der so bestimmten Individualbegriffe nur in einer möglichen Welt – und in keiner anderen  – vorkommen kann. Die Zahl der möglichen Welten muss also tatsächlich unbegrenzt d.h. unendlich 36

Leibniz, Théodicée III, § 69, Gerhardt 6, 449.

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1.1 Die beste aller denkbaren Welten

sein. Friedrich Hermanni formuliert urteilstheoretisch (da den Monaden die in einem Urteil verbundenen Begriffe entsprechen): „Eine mögliche Welt ist dann zu verstehen als eine maximale Menge von möglichen d.h. widerspruchslosen Aussagen, die zugleich wahr sein können“37, denn in jeder der möglichen Welten ist alles miteinander verknüpft (tout est lié; I.9; 107). Da die notwendigen Vernunftwahrheiten diese Definition ohnehin per se erfüllen, gelten die Gesetze der Logik, Mathematik und Geometrie in jeder möglichen Welt. Dementsprechend präzisiert Leibniz: „Ich nenne Welt die Gesamtfolge und den Gesamtumfang aller existierenden Dinge, damit man nicht sagen kann, es könnten zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten mehrere Welten existieren.“ Wie aber kommt es gerade zu unserer real existierenden Welt? Mit einem für den Erfinder der Differentialrechnung charakteristischen Argument führt er aus: „Wie in der Mathematik, sobald es weder Maximum noch Minimum und überhaupt nichts Ausgezeichnetes gibt, alles gleichförmig wird oder, wenn das nicht möglich ist, überhaupt nicht zustande kommt: so kann man dasselbe in Sachen der vollkommenen Weisheit sagen, die nicht weniger geregelt ist als die Mathematik, dass dann, wenn es unter den möglichen Welten keine beste (optimum) gäbe, Gott überhaupt keine hervorgebracht hätte ( I.8; 107).

Der Vergleich schärft noch einmal ein, dass die Entscheidung für die ein oder andere Möglichkeit keine Sache des Willens ist, sondern ein Problem der kalkulierenden Vernunft, die „dies alles im Voraus [vor der Erschaffung der Welt] geregelt hat“ (I.9; 107). „Es gibt eine Unendlichkeit von möglichen Welten, aus der Gott notwendig die beste gewählt hat, denn er tut nichts, ohne der höchsten Vernunft gemäß zu handeln“ (I.8; 107). Wäre es anders, wäre die Welt ein Produkt göttlicher Willkür oder – so Spinoza – ein System absoluter Notwendigkeit, dann wäre der Satz vom Grund außer Kraft gesetzt. In 37

Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 170.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

beiden Fällen aber verlöre sie ihre rationale Verlässlichkeit. Woran also bemisst sich das Beste? Welchen Maßstab hat Gott an den Plan der schließlich realisierten Welt gelegt? Formal, argumentiert Leibniz, ist es der ihm entsprechende Maßstab höchster Vollkommenheit. Hätte er eine andere als die bestmögliche Welt erschaffen, dann hätte er nicht erkannt, welcher Entwurf der beste ist: Er wäre nicht allwissend. Hätte er ihn erkannt, aber nicht realisieren wollen, dann wäre er nicht allgütig; hätte er ihn nicht verwirklichen können, dann wäre er nicht allmächtig. Das konkurrierende Argument, die vollkommensten Möglichkeiten hätten von sich aus den stärksten Drang zur Existenz, lässt sich leicht widerlegen: Als bloße, noch nicht realisierte Möglichkeiten haben sie keine Kraft, ihre Tendenz zu aktualisieren, es sei denn, sie wären zuvor vom göttlichen Verstand zur Verwirklichung bestimmt worden. Denn inhaltlich ist die Gesamtwirkung des Ensembles der Einzelelemente ausschlaggebend. Hier entscheidet sich das Optimum an dem mathematischen Verhältnis zwischen den Größen Mannigfaltigkeit und Ordnung. Die vollkommenste Welt zeichnet sich dadurch aus, dass sie „zugleich die einfachste an Prinzipien und die reichhaltigste an Erscheinungen“ ist38, diejenige also, welche „die größte Mannigfaltigkeit mit der größten Ordnung vereinigt“.39 Hermanni hat darauf aufmerksam gemacht, dass zur Anzahl der Erscheinungen nicht nur die Vielzahl der Substanzen gehört, sondern auch die Vielzahl der Formen und Gattungen, in die sie sich gliedert, so dass die bestmögliche Welt sich durch die größtmögliche, kontinuierliche Reihe von unten nach oben aufsteigender (unendlich kleiner) Gattungsabstufungen von allen an38 39

Leibniz, Discours, n. 6, 15. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, n. 16, 17.

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1.1 Die beste aller denkbaren Welten

deren unterscheidet40, modern gesprochen: durch das differenzierteste Evolutionspotential. Im Discours findet sich noch ein weiteres Kriterium, das Glück der Menschengattung. Gott hätte zum obersten seiner Gesetze den „glücklichen und blühenden Zustand seines Reiches [bestimmt], der in der größtmöglichen Glückseligkeit (felicité) seiner Einwohner besteht“.41 Der Einwand P. Bayles, dann hätte Gott die Sünde und das daraus folgende Elend der Menschen verhindern müssen, hat Leibniz bewogen, diese These zurückzuziehen bzw. stark einzuschränken, zumal sie mit dem Kriterium maximaler Ordnung und Vielfalt kaum zu vereinen ist. Zwar sei das Glück der vernünftigen Kreaturen ein wichtiger Teil der göttlichen Absichten, aber „sicher nicht sein ganzes, ja nicht einmal sein höchstes Ziel“ (II.119; 169f.) – was er mit einer geradezu modern anmutenden Einschätzung erläutert: „Sicherlich misst Gott einem Menschen einen größeren Wert bei als einem Löwen, und trotzdem weiß ich nicht, ob man mit Sicherheit sagen kann, Gott zöge einen einzigen Menschen der ganzen Löwengattung in jeder Hinsicht vor: aber selbst wenn dies der Fall wäre, so ergibt sich daraus noch lange nicht, dass das Interesse einer gewissen Zahl von Menschen den Vorrang hätte gegenüber der Rücksichtnahme auf eine weit verbreitete Unordnung unter unzähligen Geschöpfen. Diese Ansicht wäre ein Überbleibsel jener alten, so verrufenen Maxime, dass alles nur dem Menschen zuliebe erschaffen sei“ (II.118; 169).

(4) Es bleibt eine letzte Frage, man könnte sie auch die erste aller Theodizeefragen nennen: Wenn selbst die beste aller möglichen Welten nicht frei von Sünde und Übeln ist, warum hat Gott sie dann überhaupt geschaffen? Leibniz hat sie in eine Form gebracht, die Schelling und Heidegger später zur Grund40 41

Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 180. Leibniz, Discours, n.35, 93.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

frage aller Metaphysik schlechthin erklärt haben: „Warum gibt es überhaupt etwas (Seiendes) und nicht vielmehr nichts? (Pourquoi il y a quelque chose plus tôt que rien?)42 Beantwortet hat er sie – ein wichtiger Hinweis Hermannis – mit dem in seiner systematischen Bedeutung „durchgängig übersehenen“ Kompensationstheorem: Zieht man eine Bilanz über Güter und Übel, so würden in diesem und erst recht im kommenden Leben am Ende die Güter überwiegen. Verglichen mit den Gütern des Universums sind die Übel ein BeinaheNichts (presque-rien). Empirisch lässt sich das natürlich nicht begründen. Wie Leibniz zu dieser These kommt, kann man sich jedoch an einem einfachen Vernunftschluss klar machen: Weil Gott das absolut vollkommene Wesen ist, kann er nur die beste Wahl treffen. Nun hat er kraft seiner Allmacht die bestmögliche Welt ins Dasein gerufen. Folglich ist ihr Dasein besser als ihr Nicht-Dasein, und das schließt ein, dass in ihr die Güter die Übel überwiegen. Dieser Schluss ist jeder empirischen Kritik entzogen. Wie aber steht es mit seinen Prämissen? Worauf beruht die Basisaussage des Obersatzes: Gott ist das allervollkommenste Wesen? Sie resultiert aus dem teleologischen Gottesbeweis, der aus der Beschaffenheit der Welt auf das Dasein ihres Urhebers zurückschließt. Das jedoch bedeutet: Man muss bereits von der größtmöglichen Vollkommenheit der Welt (als ihrer beweisfähigen Beschaffenheit) und der daraus folgenden Höherwertigkeit ihrer Existenz gegenüber ihrer Nicht-Existenz ausgehen, um die These eines höchst vollkommenen Schöpfers begründen zu können. Das wiederum führt zu der ernüchternden Erkenntnis, dass das Theorem der bestmöglichen Welt keine Folgerung aus dem vorausgesetzten Gottesbegriff ist, „sondern schon dessen 42

Leibniz, Vernunftprinzipen, n. 7, 13.

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1.2 Woher kommt das Übel? Das Argument der Willensfreiheit

Bedingung“.43 Leibniz’ Beweisführung erweist sich hier als zirkulär. Anzumerken bleibt noch, dass der Begriff Gottes als des höchst vollkommenen Wesens eine lange Tradition hat. Anselm entwickelt aus der vorausgesetzten Rationalität des Glaubens die Formel, Gott sei „Etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ (Prosl. 101.4f.), und folgert daraus, dass er im allerhöchsten Maße weise, mächtig und gütig sei, also ein „Ens perfestissimum“. Die an ihn anknüpfende Richtung der analytischen Religionsphilosophie (Thomas V. Morris u,a,) nennt sich deshalb Perfect Being Theology. Eine solche Basis fehlt Leibniz. Stattdessen entdeckt er – eine Frage, die später Kant an Descartes richten wird –, dass die Denkmöglichkeit dieses Begriffs keineswegs sichergestellt sei. Ähnlich wie im Fall der „größten Zahl“ müsse seine Widerspruchsfreiheit erst noch bewiesen werden 44, eine Lücke, die auszufüllen ihm selbst jedoch auch nicht gelungen ist.

1.2 Woher kommt das Übel? Das Argument der Willensfreiheit Übel und Leiden der Welt entspringen, wie gezeigt, der Unvollkommenheit der Kreatur. Sie gehören zu den Elementen, die die Gesamtwirkung des Universums bestimmen. Würde man sie aus der existierenden Welt entfernen, so wäre sie in ihrer Wirkung der unseren unterlegen. Sie sind daher als ein notwendiger Bestandteil der bestmöglichen Welt zu interpretieren, die sich als ganze der göttlichen Vorsehung verdankt. Wie ist das zu verstehen? (1) Sünde im Zeichen der Vorsehung. Eine der Thesen, die Gott von der Verantwortung für die Übel der Welt entlasten soll – sie ist längst vor Leibniz von Augustin ausgearbeitet worden45 – lautet: Die unmittelbare UrSo mit Recht Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 217. Leibniz, Brief an Huygens vom 3.10.1690, Gerh. (Mathemat. Schriften) II, 51. 45 Augustin, De genesi ad litteram, n. 1. 43 44

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

sache der Sünde ist der menschliche Freiheitsmissbrauch. Das scheint einer Berufung auf Gottes Vorsehung (und damit dem Satz vom zureichenden Grund) direkt zu widersprechen, ebenso der Annahme, dass Gott die Handlungen der Menschen unfehlbar voraussieht und sie durch dieses Vorauswissen prädeterminiert. Sie ist nur haltbar, wenn sie sich mit der durchgängigen Bestimmtheit alles Geschehens vereinbaren lässt. Tatsächlich muss die menschliche Freiheit nach Leibniz als ein „bestimmter Typ von Determination“ verstanden werden, der sich freilich grundlegend von der reformatorischen Position Luthers unterscheidet, wonach Gott den menschlichen Willen bestimmt wie der Reiter sein Pferd, so dass alles, was geschieht, mit Notwendigkeit geschieht (omnia necessitate fieri).46 Leibniz versucht mit seinen Überlegungen die Vorsehungslehre philosophisch zu rekonstruieren  – sie ist für ihn ein primär logisches Problem –, und zwar auf folgende Weise: Er macht von einer mathematischen Erkenntnis ­Gebrauch: Alle Punkte, die eine Kreisbahn oder eine Ellipse durchläuft, sind durch die Funktionsgleichung dieser geometrischen Figuren eindeutig bestimmt. Sie sind virtuell in ihr enthalten, und umgekehrt lässt sich jede beliebige Anordnung von Punkten durch eine solche Gleichung beschreiben. Das Prädikat (die Punktfolge), so lautet der philosophische Ausdruck, ist im Subjekt (der Bahngleichung) enthalten: „praedicatum inest subjecto.“47 Dieses Modell wendet Leibniz auf individuelle Substanzen, also auch auf Personen an: Jeder dieser Substanzen ist „ein derart vollkommener Begriff eigen, der ausreicht, alle Prädikate des Subjekts, dem dieser Begriff zukommt, zu verstehen und aus ihm herzulei46 47

Luther, De servo arbitrio, 717.5ff. Leibniz, Discours, n. 8, 17

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1.2 Woher kommt das Übel? Das Argument der Willensfreiheit

ten. […] Wenn also Gott den individuellen Begriff oder die Diesheit (hecceité) Alexanders schaut, so sieht er darin zugleich die Grundlage (fondement) und den Grund (raison) für alle Prädikate, die sich von ihm wirklich aussagen lassen, wie zum Beispiel dass er Da­ rius und Poros besiegen wird.“48 Denn dabei gibt es zwei Arten der Verknüpfung zwischen dem von Gott „festgelegten“ Individualbegriff und dem künftigen Ergehen und Verhalten der Person: nicht nur die absolut notwendige, die keinen Widerspruch zulässt, sondern auch eine andere zweite, die den Ablauf der Dinge und die Anordnung besonderer Umstände berücksichtigt und die sich den freien Ratschlüssen Gottes verdankt. Soweit die Rekonstruktion der Vorsehung. Wo aber bleibt da noch ein Raum für persönliche Freiheit? Sie scheint tatsächlich eliminiert zu sein. Indessen macht sich hier der logische Unterschied zwischen den Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes geltend. Cäsar, erläutert Leibniz, musste nicht „kraft seines Begriffs (en vertu de cette notion) so handeln“, wie er es faktisch tat (abgesehen davon, dass er anders als der allwissende Gott diesen Begriff gar nicht explizit kannte). Dass er den Rubikon überschritt, war zwar „begründet und daher gewiss“, nicht jedoch „an sich notwendig“ derart, dass das Gegenteil zu einem Widerspruch geführt hätte.49 Durch Gottes ‚prädestinatianische’ Entscheidung, ihn dieser Idee entsprechend zu erschaffen, wurde er nicht einem absoluten metaphysischen Zwang unterworfen: Er handelte aus freiem Willen. Angewandt auf Judas, den theologischen Prüfstein, heißt das: Gott hat in ihn einen bestimmten Begriff oder eine Idee hineingelegt, die jene Fülle zukünftiger Mög48 49

Ebd., 19. Leibniz, Discours, n. 13, 31.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

lichkeiten umschließt, deren Amplitude seinen Lebensweg vorzeichnet, ihn aber auch begrenzt und auf diese Weise determiniert. Denn es kommt darauf an, was er mit diesen Möglichkeiten anfängt, welche er realisiert. „Auf solche Weise aber wird die Wahl [Judas’ Entscheidung] nicht notwendig, wenn er sich entschließt, den Herrn zu verraten. […] Es bleibt doch wahr, dass er’s [hätte] unterlassen können“50, ohne sich in einem Widerspruch zu verfangen. Die Handlungsentscheidung auch bei gegenwärtigen Umständen folgt nicht mit notwendiger Konsequenz aus den vorhergegangenen ‚determinierenden’ Ursachen. Sie begründen eine „bloß hypothetische Notwendigkeit“. Deshalb erklärt Leibniz, dass „die Idee, die Gott von ihm (Judas) hat, [zugleich] seine künftige freie Handlung enthält“.51 Damit ist Gott von der Verantwortung für die Sünde entlastet. Sie ist allein dem freien Willen des Menschen zuzurechnen. Absolut notwendig ist allein sein Entschluss, die Sünde Judas’, seinen Verrat, in den Entwurf der bestmöglichen Welt zu integrieren, denn in ihm sollte auch das „minder Vollkommene“ Raum haben. So bleibt, schließt Leibniz, „also nur die Frage, warum ein solcher Judas […], der in der Idee Gottes nichts als möglich ist, tatsächlich (actuellement) existiert.“ Auf diese Frage aber, entgegnet er, „darf man auf Erden (ici bas) keine Antwort erwarten. Man darf höchstens allgemein sagen, dass […] dieses Übel sich im Universum mit Zinsen bezahlt machen muss [dem Erlösungswerk Christi] und sich insgesamt zeigen wird, dass diese Folge der Dinge […] auch die vollkommenste unter allen anderen Möglichkeiten ist.“52 So ist die Sünde sub specie Dei ein Teil des höchsten, uns auf Erden zugemessenen Guten, sie 50 51 52

Leibniz, Unvorgreiffliches Bedencken, 341. Leibniz, Discours, n. 30, 75. Ebd., 75.

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1.2 Woher kommt das Übel? Das Argument der Willensfreiheit

betrifft die Essenz der bestmöglichen Welt. Es bleibt uns vorbehalten, mit unserem freien Entschluss zu sündigen und diesen Entwurf zur Existenz zu bringen, ihm seine Form und seine besondere Natur zu geben. (2) Mitwirkung Gottes beim Bösen? Damit ist erwiesen, „dass weder das Vorherwissen Gottes noch seine Vorsehung [der Schöpfungsratschluss] seine Gerechtigkeit und Güte beeinträchtigen können noch auch unsere Freiheit“ (II.377; 339). Wir stehen nun allerdings vor der Schwierigkeit, die sich aus der Mitwirkung (concursus) Gottes mit allen Handlungen seiner Geschöpfe ergibt, und davon scheint auch die Sünde keine Ausnahme zu machen. Wie also steht es mit seiner Mitverantwortlichkeit für das Böse der Welt? Das Vorherwissen Gottes stellt uns vor keine Probleme; es ist kein Kausalfaktor. Die Frage richtet sich an den Schöpfungsratschluss, also an seine Vorsehung, die darin besteht, dass alles Wirkliche, mithin auch die Sünde, einem produktiven göttlichen Akt seine Wirklichkeit verdankt. Das Problem liegt auf der Hand: Eine direkte Beeinflussung des menschlichen Willens würde dessen Freiheit zunichte machen, eine schrankenlose Freiheit aber dessen Abhängigkeit von Gott leugnen. Um diesen Knoten zu lösen, bedient sich Leibniz einer physikalischen Analogie, die man, wie er betont, jedoch nicht für eine „vermeinte völlige Erklärung eines so hohen und schweren Punktes“ halten dürfe: Eine Anzahl Schiffe oder Flöße von gleicher Oberfläche und in jeder Hinsicht auf gleiche Weise schwimmtüchtig gemacht, wird von der Strömung eines Flusses erfasst. Sie müssten sich mit gleicher Geschwindigkeit vorwärts bewegen. Doch die schwerer beladenen leisten der Antriebskraft des Wassers Widerstand und bleiben weit hinter den anderen zurück (I.30; 119f.). Es ist leicht zu sehen, was dieses Bild illustrieren will: Die Strömung steht für die auf die Vollkommenheit der Geschöpfe ge-

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

richtete Tätigkeit Gottes, die, wie es im Discours heißt, „unseren Willen zur Wahl dessen bestimmt, was uns das Beste scheint [causa efficiens], ohne ihn jedoch zu nötigen. Denn absolut gesprochen befindet er sich im Zustand der Gleichgültigkeit [. ..], sofern er die Macht hat, auch anders zu handeln oder sein Handeln noch ganz in der Schwebe zu halten; beides ist und bleibt möglich“.53 Die Trägheit der langsameren Schiffe repräsentiert einen Mangel an Vollkommenheit auf Seiten der Kreatur, der sie daran hindert, „dem guten Trieb vollkommen zu folgen“ [causa deficiens]. Ohne Bild: „Manche Seele wird sich ihrer Macht (auch anders zu handeln) nicht bedienen“. Doch hätte sie, bevor sie sündigte, „sich über Gott beklagen dürfen, wie wenn er sie zur Sünde bestimmte?“ Die Folgerung ergibt sich von selbst: Sowenig die Strömung des Flusses die Ursache für die Verzögerung der Schiffe ist, ebenso wenig ist Gott die Ursache der Sünde. Von einer göttlichen Mitwirkung bei ihrem Zustandekommen kann keine Rede sein.

1.3 Das Böse als Mangel (privatio boni) Leibniz gibt drei verschiedene, eng miteinander zusammenhängende Antworten auf die Frage nach Herkunft und Natur des Bösen bzw. des Übels. Seine Ursache – davon war die Rede  – ist der menschliche Freiheitsmissbrauch. So verstanden resultiert es aus der notwendigen Unvollkommenheit der Geschöpfwelt (privatio) und ist schließlich auch die notwendige Bedingung für das tatsächlich erreichbare Optimum der real existierenden Welt. Fehlte ein einziges dieser Übel, so müsste Gott die gesamte Struktur der Welt neu entwerfen. 53

Leibniz, Discours, n. 30, 73.

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1.3 Das Böse als Mangel (privatio boni)

(1) Worin besteht der Mangel? Die einflussreiche mittlere These, wonach das Böse in einem Mangel an Gutem besteht, stammt bereits von Augustin.54 Sie will nicht die Herkunft des Bösen in einer von Gott geschaffenen Welt erklären, sondern richtet sich – mit nachhaltigem Erfolg – gegen den manichäischen Dualismus. Die entscheidende These, die alle dualistischen Entwürfe, insbesondere jedes widergöttliche Prinzip, aus dem Feld schlägt, lautet: Ein in jeder Hinsicht vollkommener Gott kann nur eine gute Welt erschaffen, woraus mit Notwendigkeit der weitere Satz folgt: Alles, was ist, ist gut. Lässt sich das vom Übel nicht sagen, dann kann es nach diesem Basissatz nicht zum Seienden gehören, d.h. keine positive Natur besitzen. Es bleibt hinter jeder schöpfungsmäßigen, ontologisch vorgegebenen Norm zurück, es leidet an einem konstitutiven Mangel. Gehört es gleichwohl zur Realität der Schöpfung, dann muss es sich – wie auch immer – vom Guten her erklären lassen. Leibniz schließt sich ein Stück weit dieser Argumentation an, sofern das Übel auch ihm zufolge keinen eigenständigen ontologischen Status hat, aber er geht der Frage nach der „Qualität“ dieses Mangels anders, in gewisser Weise sehr viel präziser nach. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Unvollkommenheit der Kreaturwelt, die sich aus der Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf ergibt. Sie ist ein metaphysisches Datum, weshalb er an die Spitze aller Übel das malum metaphysicum stellt, das, wie gezeigt, die Vollkommenheit der Welt gleichwohl nicht in Frage stellen kann. Es entlässt nicht notwendig, aber der Möglichkeit nach zwei weitere Formen des Übels, das physische, das im Leiden besteht, und das moralische, das seinen Ausdruck in der Sünde findet. Hier muss die Frage, was das Böse seiner „Natur“ nach ist, ihre Antwort bekommen. 54

Augustin, Enchiridion ad Laurentium, n. 10f.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

Das physische Übel, ein Schmerz, ein Leiden, existiert nicht an sich. Es zeigt sich als Mangel an etwas anderem, zum Beispiel als Krankheit an einem gesunden Körper, der für sich genommen etwas Gutes ist. Ebenso manifestiert sich das moralische Übel als ein Mangel an Willenskraft, d.h. als Schwäche bzw. als verkehrte Ausrichtung eines an sich guten Vermögens. Leibniz fragt, als Metaphysiker diese endlichen Instanzen gleichsam überholend: Wo sollen wir, die wir alles Sein von Gott herleiten, die Quelle des Übels finden? Die Antwort lautet, „dass sie in der idealen Natur des Geschöpfes gesucht werden muss“, also in der Idee, mit der Gott jedes Geschöpf ausgestattet hat und die sich als „Objekt innerhalb des göttlichen Verstandes“ befindet. „Dort liegt nicht nur die Urform des Guten, sondern auch der Ursprung des Übels“ (I.220; 114f.). Mit dieser Antwort erinnert Leibniz an die „ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf vor jeder Sünde“, also daran, dass schon der göttliche Entwurf der Kreatur so „begrenzt“ ist, dass das Geschöpf „nicht alles wissen, sondern sich täuschen und andere Fehler machen kann“. Obwohl also der Wille niemals durch etwas anderes zu Handlungen getrieben wird, als durch die „alle anderen [Optionen] überwältigende Vorstellung des Guten“ (I.45; 128), kann es geschehen, dass er sich bei der Prüfung der Handlungsalternativen von niederen statt von höheren Gütern leiten lässt und nun das vermeintlich Bessere ergreift. So kommt es zum Tun des Bösen. Wen aber trifft die Schuld an dieser Verkennung? Offenbar nicht den Willen, sondern den Verstand, der es, durch Sinnlichkeit oder verworrene Zielvorstellungen getrübt, nicht zu einer wirklich klaren Erkenntnis bringt. Das Böse geschieht, wenn es geschieht, gewissermaßen „unabsichtlich (par accident), indem es unter [der Hülle des] Guten verborgen bleibt und gleichsam maskiert ist“ (I.154; 201) – eine wichti-

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1.3 Das Böse als Mangel (privatio boni)

ge Erkenntnis, auf die später noch einmal zurückzukommen ist. Der Mangel unserer Willenskraft ist in seinem Kern ein „Verstandesdefizit“.55 So erweist sich das Böse zuletzt als ein intellektuelles Problem, für das Gott nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Wie sieht die Gegenrechnung aus? Leibniz weist oft darauf hin, dass selbst das Böse „als Mittel zu etwas Gutem dienen kann“ (I.24; 117), was in der Tat ganz unbestreitbar ist. Wäre es ohne die Existenz natürlicher Übel (angefangen bei Blitzeinschlag und Überflutungen bis hin zu Hungersnöten und Kindersterblichkeit) zu dem beispiellosen naturwissenschaftlichen Aufschwung besonders in der medizinischen Technik gekommen? Wäre ohne den totalen Zusammenbruch des Dritten Reiches der Aufbau einer Demokratie in Deutschland möglich gewesen? Und lässt nicht erst das Leiden unter extrem ungerechten Strukturen die Verwirklichung gerechter Verhältnisse als ein erstrebenswertes Ziel erscheinen? Stichhaltig ist dieses Argument freilich erst dann, wenn das Übel sich als logisch notwendig erweisen lässt, wenn also selbst Gottes Allmacht keine andere Möglichkeit hätte, als diesen Preis zu fordern. Damit stellt sich die Frage nach dem Recht der Zulassung von Bösem und Leid. Leibniz hat sie am mechanischen Modell der Addition von Kraftvektoren (sog. Kräfteparallelogramm) zu beantworten versucht: Gottes primärer Wille (volonté antecédant) zielt auf das unbedingt Gute, wird er jedoch durch einen „stärkeren Grund“, die Willensfreiheit seiner Geschöpfe, an seiner Durchsetzung gehindert, so formiert sich sein definitiver „nachfolgender“ Wille (volonté conséquente) als Resultante zweier gegenstrebiger Kräfte (I.22; 115f.). So hat Gott seine Existenz mit derjenigen der Geschöpfwelt in einer Weise koordiniert, dass auch die 55

Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 194.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

Übel – und sei es als Strafe oder als Mittel, noch größere Übel zu verhindern – im Gesamtzusammenhang der Welt zum Guten beitragen. (2) Einwände. Ist das Problem der Theodizee mit dieser eindrucksvollen Entlastung Gottes gelöst? Lässt es sich so lösen? Man hat gegen diesen Entwurf manchen Einwand vorgebracht. Hier werde Gott mit einer Einseitigkeit an die Regeln der Vernunft gebunden  – als Bedingung der Theologie tritt sie nachgerade an die Stelle des Dogmas –, dass er ohne Mühe die Anklage vor ihrem Forum besteht. Sie trete in diesem „Gerichtshof“ gleich in einer dreifachen Funktion auf: als „Anklägerin, Verteidiger und Richter“ zugleich.56 Leibniz’ apologetisches Interesse sei im Grunde ein reines Vernunftinteresse und deshalb sehr viel stärker auf den rationalen Aufweis Gottes gerichtet als der Frage nach dem Bösen und dem Leiden zugewandt. Hans Blumenberg spricht von dem letzten Versuch des Menschen, „Gott auf den Hintergedanken zu kommen […], letzlich weniger, um ihn zu verteidigen, wie es der Name der Rechtfertigung vorgab, als ihn zu durchschauen“.57 Er argumentiere aus einer großen Distanz, die so erst in der Neuzeit möglich geworden sei, in der für den Menschen Ohnmacht und Leiden eben nicht mehr das Selbstverständliche und Normale sind.58 Jedenfalls ist die große Erfahrungsferne das auffallendste Merkmal und Problem dieses Entwurfs. Der Gesichtspunkt des Leidens wird gänzlich überlagert von dem konstruktiven Interesse. So hat John Hick mit Recht darauf hingewiesen, dass man Krankheit und Leiden zur Not wohl durch die Negation ihres Gegenpols, also als Mangel an Gesundheit, definieren könne, dass aber 56 57 58

Oelmüller, Philosophische Antwortversuche, 64 Blumenberg, Matthäuspassion, 93. Marquard, Schwierigkeiten beim Ja-Sagen, 91.

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1.3 Das Böse als Mangel (privatio boni)

eine Schmerzempfindung, „empirisch betrachtet, nicht einfach nur die Abwesenheit von etwas anderem (ist), sondern eine Realität mit einer deutlich eigenen und oft erschreckenden Qualität und Macht“.59 Theologisch fällt vor allem dreierlei ins Gewicht: (a) So viele Elemente der biblischen Tradition Leibniz in seinen Entwurf integriert hat, ihre grundlegende, als cantus firmus immer wiederkehrende Aussage, dass das Verhältnis der Welt zu Gott „tief gestört“ ist, dass „Welt und Mensch einer Versöhnung und Erlösung bedürfen“ findet man bei ihm nicht. Sie ist in der Tat unvereinbar mit der These, dass Gott unsere Welt als die beste aller möglichen erschaffen hat.60 Das wirft die Frage auf: An welchem Maßstab können wir die Güte der Welt eigentlich beurteilen? Die Philosophie hat diese Frage längst an die Theologen zurückgegeben. Sie gibt zu bedenken, „wie fremd dem Christentum unter dem eschatologischen Vorbehalt […] der Optimismus der […] bestmöglichen Welt sein muss“.61 Ist die Klage über ihre Endlichkeit nur das Eingeständnis eines notwendigen Defizits, mit dem man sich bei besserer – metaphysischer – Belehrung abfinden kann? Ist der Ausblick auf ihre Grenzen nur demütigend? Eine tragfähigere Antwort als die von Leibniz gegebene wird man erst finden, wenn man sich daran erinnern lässt, dass die Schöpfung noch nicht zu ihrem Ziel gekommen und darum das, was ist, nicht alles ist. (b) Folgerichtig kommt es so zu einer Umdeutung der Schattenseiten des Daseins. Sie werden im Vorhinein der Güte der Welt zu- und eingeordnet und erscheinen nun als ein bloßer Rand ihrer Lichtseite. Karl Barth spricht von einer „mit phantastischer Gründlichkeit unternommenen Domestizierung“ des Leidens, „in wel59 60 61

Hick, Evil and the God of Love, 55. Huber, Theodizee, 380. Geyer, Das Theodizeeproblem, 29.

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1. Leibniz: Die beste aller möglichen Welten

cher die Wölfe nicht nur, wie Jes 11,6 vorgesehen, bei den Lämmern wohnen, sondern selber zu lauter Lämmlein geworden sind“.62 Man gewinne den Eindruck, „als ob all diese Leute sich unter einer Glasglocke befänden, durch deren Wände sie das Leid des Kosmos zwar zu sehen vermögen, durch die sie aber auch – auch wenn es endlich und zuletzt sie selber trifft – hoffnungslos daran verhindert sind, von ihm berührt zu werden. Es fehlt ihnen der letzte und zwingende Grund, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und also ‚zu weinen mit den Weinenden’.“63 (c) Dieser Rechtfertigungsversuch lebt von der Hypothese einer uns einsichtigen teleologischen Ordnung des Ganzen, zu deren Vertrauenswürdigkeit die immanente Kenntnis des Weltzusammenhangs genügt. Es genügt zu wissen, dass es einen Gott gibt, der – mit dem mechanistischen Bild der Epoche geredet – als überlegener Uhrmacher diesen Zusammenhang garantiert und sich deshalb mit einem Minimum direkter Anteilnahme am diesseitigen Geschehen beteiligt. Diesen Gott wird man aus der Distanz des Zuschauers in der Tat von allen vermeintlichen Störungen des Weltlaufs nur freisprechen können. Dass dieses beruhigendfreundliche Bild über dem Erdbeben von Lissabon (1755) am Einspruch der Erfahrung zerbrochen ist, ist eines. Noch einmal anders und sehr viel bedrängender stellt sich das Problem, wenn man mit der biblischen Tradition damit rechnet, dass Gott auch inmitten solcher Katastrophen anzutreffen sein könnte. Das ist das große Thema des II. Teils.

62 63

Barth, KD III/3, 363. Barth, KD III/1, 467.

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee So sehr die Leibnizsche Theodizee noch heute die Themen des philosophische Diskurses bestimmt – namentlich in ihrer Fragestellung, ob und unter welchen Bedingungen Gott das Böse zulassen kann  –, ihre Überzeugungskraft und ihr Glanz sind im 18. Jahrhundert schnell verblasst. Als am 1. November 1755 ein Erdund Seebeben die Stadt Lissabon verwüstete und sechzigtausend Menschen in einer Nacht tötete, da zerbrach auch eine geistige Welt, die alle bisherigen Katastrophen der Geschichte, selbst die Morde der Bartholomäusnacht und den Terror des Dreißigjährigen Krieges überstanden hatte. Der weltanschauliche Optimismus, der den bestehenden Kosmos grundsätzlich für vertrauenswürdig, ja für die „beste aller möglichen Welten“ ausgegeben und dessen unübersehbare Schattenseiten als einen notwendigen Bestandteil des Ganzen hingenommen hatte, verlor sein Fundament. Noch Goethes milder Spott lässt die Tiefe des Risses ahnen, der das metaphysische Gebäude der Welterklärung von innen her aufsprengte und sich nicht mehr durch den Firnis eines einheitlichen Sinnes glätten ließ: „Gott, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erde, den […] die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.“ Das Unternehmen der Theodizee, der Verteidigung Gottes gegen die Einwände der Vernunft und der Erfahrung, schien definitiv gescheitert zu sein. Ein Alibi für den allmächtigen und gütigen Gott ließ sich angesichts der Toten von Lissabon nicht mehr finden. Der empirische Bestand der Welt – das war die nahe liegende und von fast allen aufgeklärten Köpfen gezo-

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

gene philosophische Konsequenz – vermag eine Rechtfertigung Gottes nicht mehr zu begründen. Die metaphysische Vernunft jedenfalls sei zu den Erklärungsleistungen, die Leibniz ihren logischen Konstruktionen zugemutet hatte, offensichtlich nicht imstande. Die Erfahrungsferne seines Entwurfs wird im18. Jahrhundert denn auch durch die empirischen Ansätze von John Locke und insbesondere von David Hume (Philosophical Essays concerning Human Understanding,1748) wirksam korrigiert. Nicht das konstruktive Vermögen, sondern der Erfahrungsinhalt unseres Bewusstseins steht jetzt am Anfang aller begründeten Erkenntnis. Aus empirischem Wissen allein lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen, also auch keine Sätze über Gott ableiten. Sie stammen aus einer anderen Quelle. Die Folgerungen aus dieser Einsicht hat Immanuel Kant in seinem epochalen Werk, der Kritik der reinen Vernunft (1781) gezogen, einer Vernunft, die sich ihres empirischen Fundaments nicht mehr glaubt vergewissern zu müssen. Auf dieser Basis hat er am Ende des ‚Leibnizschen’ Jahrhunderts in einem nicht weniger einflussreichen, luzide argumentierenden Essay das Misslingen aller [bisherigen] Versuche in der Theodizee (1791) demonstriert. Das Geschäft, „die Sache Gottes zu verfechten“ – so seine These – ist „im Grunde nichts mehr als die Sache unserer anmaßenden, dabei aber ihre Grenzen verkennenden Vernunft“.

2.1 Eine „Revolution der Denkart“ In Kants Philosophie werden dem Denken keine neuen Dimensionen eröffnet, keine neuen Provinzen oder gar Kontinente erschlossen. Das epochal Neue seines Ansatzes ist etwas scheinbar Unauffälliges: Das Denken verständigt sich über sich selbst, seine Möglichkeiten 64

2.1 Eine „Revolution der Denkart“

und seine Grenzen. Die Vernunft überprüft ihre bisher nie in Frage gestellte Eignung, taugliches Instrument des Erkennens zu sein. Kant mutet ihr zu, „das beschwerlichste aller Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis … zu übernehmen und einen Gerichtshof einzurichten, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere“64, sie also daran hindert, mehr zu behaupten, als sie tatsächlich wissen kann. Da das Unternehmen einer Theodizee nach der Rolle und Funktion Gottes im Weltprozess fragt, ist es von dieser Problemstellung unmittelbar betroffen. Denn was können wir von Gott überhaupt wissen, den nach dem Zeugnis des Neuen Testaments „niemand je gesehen hat“ (Joh 1.16), und von dem wir uns kein Bild noch Gleichnis machen sollen (Ex 20,4)? Wo ist die Basis, die uns erlauben könnte, ihm die Attribute der Allmacht, Allwissenheit oder Allgegenwart zuzuschreiben (von denen Kant in seiner Schrift mit Bedacht keinen Gebrauch macht)? Elementar gesprochen: Kann man die Frage nach Sinn und Zweck unseres Daseins, um deretwillen wir uns seiner Existenz vergewissern, so stellen und so behandeln wie die Frage nach Masse oder Geschwindigkeit eines Planeten? Das ist offenbar nicht möglich, und zwar deshalb, weil die Erfahrung, auf die wir uns hier berufen, uns dort, bei der Gottesfrage, verlässt. Die erste Konsequenz, die sich daraus ergibt, hat bereits Hume gezogen: Unsere Vernunft ist prinzipiell nicht in der Lage, aus der Naturgesetzlichkeit oder der moralischen Verfassung unserer Welt auf Gott zu schließen, wie es Leibniz im teleologischen Beweis versucht hatte. Der Anspruch der traditionellen Metaphysik, auf dieser Basis eine Theodizee zu entwickeln, lässt sich nicht einlösen. Die zweite, noch einschneidendere Konsequenz hat Kant dann in seiner Vernunftkritik gezogen und sie 64

Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XI.

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

höchst anschaulich mit der kopernikanischen Wende als einer „Revolution der Denkart“ verglichen: „Es ist hiermit [mit unseren Erkenntnisbemühungen] wie mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“65 Ohne Bild: Ging man bisher davon aus, dass sich alle Erkenntnis nach den Gegenständen (den „Sternen“) zu richten habe, so müsse man es nun mit dem umgekehrten Verfahren, der Rückwendung auf die Vernunft (den „Zuschauer“), versuchen. Man müsse, dem Vorbild der Mathematik und der Astronomie folgend, damit rechnen, dass, was immer wir erkennen, sich nach unserm beschränkten Erkenntnisvermögen richtet. Dann freilich können wir nicht länger davon ausgehen, dass die sogenannten Naturgesetze uns zeigen, wie die Natur selbst sich verhält, beschreiben sie doch lediglich ihr Bild, so wie es auf dem Projektionsschirm unseres Bewusstseins erscheint. In Kants Terminologie gesprochen: Wir erkennen nur das „Ding in der Erscheinung“, nicht aber das „Ding an sich“ selbst. Über diese durch die Erfahrung uns gezogene Schranke kommen wir als endliche Wesen mit unserer theoretischen Vernunft nicht hinaus. Wir wollten „einen Turm“ errichten, der „bis an den Himmel reichen sollte“, und können es doch nur zu einem „Wohnhaus“ bringen, welches „zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug ist“. Indessen war Kant kein Empiriker im Sinne des 19. Jahrhunderts. Was es mit dieser Schranke auf sich hat, erläutert er in seiner berühmten Widerlegung der klas65

Ebd., Vorrede, B XVI.

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2.1 Eine „Revolution der Denkart“

sischen Gottesbeweise. Den naiven Schluss: weil Gott im Bereich unserer Erfahrung nicht aufweisbar ist wie eine Rose oder ein Stein, könne es ihn nicht geben, hätte er nie gezogen. Wir müssen auch hier in der Gegenrichtung fragen: Was nötigt die Vernunft zu ihren (empirisch geurteilt) Grenzüberschreitungen? Antwort: Sie geht aufs Unbedingte, das liegt in ihrer Natur. Sie ist (wie die Kinder) sozusagen ein Opfer ihrer Frage nach dem Warum, die sie solange vorantreibt, bis sie auf einen vermeintlich letzten Haftpunkt stößt, etwa die Behauptung: Es müsse einen ersten notwendigen Grund der Welt geben, sonst würde sich unser Denken im Bodenlosen verlieren. Sie folgt dem Zwang der Logik, die uns bis zu dem Begriff eines absolut notwendigen Wesens führt. Doch ist das schon ein hinreichender Grund, mit der Existenz eines solchen Wesens zu rechnen? Keineswegs, argumentiert Kant. Es ergeht uns dabei wie dem Wüstenwanderer, der die Fatamorgana für ein wirkliches, objektiv vorhandenes Wasser hält. Wir erliegen einem Schein, einer „natürlichen und unvermeidlichen Illusion“  – diesmal nicht unserer Augen, sondern unseres Denkens. Er spricht von einem „tranzendentalen“ Schein, einer Verwechslung der subjektiven Notwendigkeit unseres begrifflichen Denkens mit der objektiven Notwendigkeit der Dinge selbst  – einer „Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, […] sowenig der Astronom verhindern kann, dass ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird“.66 Wir können den Schein durchschauen, aber deshalb verschwindet er noch nicht. Worin liegt die Quelle dieser Täuschung? Darin, sagt Kant, dass unsere Vernunft es mit bloßen Begriffen und mit bloß logisch gesteuerten Schlüssen zu tun hat. Angewandt auf unser Problem: Der scheinbar 66

Ebd., B 353f.

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

mühelos gelingende Übergang von der aufsteigenden Kette von Zweckursachen zu einem letzten und höchsten Zweck, d.h. vom Begriff Gottes zu seiner Existenz, ist ein Trugschluss. Mit dieser kritischen Einschränkung unserer theoretischen Vernunft ist die Gottesfrage jedoch weder abgeschmettert noch erledigt. Sie lässt sich nicht abweisen, sowenig wir die Frage nach Sinn und Ziel der Welt und dessen, was wir hier tun und lassen, loswerden können. Kant spricht von notwendigen Vernunftideen (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit). Ihnen ist gemeinsam, dass sie sich nicht wie Gegenstände der Erfahrung als Objekte vorstellen lassen. Wir können sie nicht wissen wie einen Sonnenaufgang. Wohl aber müssen wir uns in unserem Leben und Handeln an ihnen orientieren. Das meint der oft missverstandene Satz: „Ich musste das [vermeinte] Wissen aufheben, um zum [vernünftigen] Glauben Platz zu bekommen.“67 Es gibt neben der theoretischen Vernunft auch noch eine zweite Domäne, in der sich unser Denken als eine praktische, d.h. handlungsleitende und insofern moralische Vernunft betätigt. Wir setzen uns Ziele und Zwecke, etwas zu erreichen, das in der Realität der vorhandenen Welt noch gar nicht existiert, und wenn das nicht willkürlich geschehen soll, sind wir auch hier auf unser Vernunftvermögen angewiesen, das sich jetzt als „Bestimmungsgrund unseres Willens“ erweist, eben als praktische Vernunft, des näheren als das unsere Vernunft orientierende moralische Vermögen, das bestimmt, was sein soll. Während Naturgesetze von den Gegebenheiten unserer Welt abhängen, ihrem Istzustand, den sie beschreiben und der sie bedingt, setzt sich das moralische Gesetz über alle „materialen Bedingungen“ (Konventionen, Interessen, Neigungen), 67

Ebd., B XXX.

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2.1 Eine „Revolution der Denkart“

die es von außen beeinflussen könnten, hinweg. Es orientiert sich nicht an dem, wie die Welt nun einmal ist, nimmt weder auf die Schwäche der menschlichen Natur noch auf den Erfolg unserer Handlungen Rücksicht, sondern blickt allein auf den (noch nicht erreichten) vernünftigen Sollzustand der Menschheit, ihren „Endzweck“, wie es später heißt: Es gilt unbedingt. Da wir die hierfür grundlegenden Ideen nicht in der Natur finden, sie aber gleichwohl fordern müssen, haben sie den Status von Postulaten. Ihre Quelle ist die „reine“ Vernunft. Diese Erweiterung (und zugleich scharfe regionale Trennung beider Vernunftvermögen) ist die entscheidende Wendung, die Kant der metaphysischen Problematik gegeben hat. Dabei entspricht die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft, wie im Folgenden zu zeigen ist, genau der kategorialen Trennung von doktrinaler und authentischer Theodizee. Es leuchtet ein, dass bei dieser ‚Gewaltenteilung’ der weite Bereich der Religion in das Gebiet der praktischen Vernunft fällt, dadurch aber auch in einer charakteristischen Weise eingeengt wird. Zwar hat es die Religion nicht mit Naturtatsachen zu tun – „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) –, andererseits lässt sie sich aber auch nicht in Handlungsanweisungen (Moral, Tugendlehre) auflösen, was jetzt allerdings unvermeidlich geschieht: „Alles kommt in der Religion aufs Tun an, und diese Endabsicht, mithin auch ein dieser gemäßer Sinn, muss allen biblischen Glaubenslehren unterlegt werden“68 – ein gemessen an unserem Umgang mit der Schrift gewaltsames hermeneutische Prinzip. Es räumt mit der Möglichkeit einer Offenbarungserkenntnis radikal auf und reduziert die uns mögliche theologische Verständigung auf das, „was die Vernunft für Gott anständig erklärt“. Dieses Programm, durchgeführt in der 68

Kant, Der Streit der Fakultäten, A 56, (Weischedel VI, 307).

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), läuft darauf hinaus, „in der Schrift denjenigen Sinn zu suchen, der mit dem Heiligsten, was die Vernunft lehrt, in Harmonie steht“.69 Der reformatorische Auslegungsgrundsatz sola scriptura wird in ein sola ratione überführt: „Der Gott, der durch unsere eigene (moralischpraktische) Vernunft spricht, ist ein untrüglicher, allgemein verständlicher Ausleger seines Wortes, und es kann auch schlechterdings keinen anderen [etwa auf historische Art] beglaubigten Ausleger seines Worts geben.“70

2.2 Doktrinale Theodizee Unter einer Theodizee versteht Kant „die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“ (105).71 Doktrinal (der theologischen Lehrüberlieferung entsprechend) nennt er dieses Unternehmen, sofern es auf der Linie der klassischen (theistischen) Metaphysik aus bloßen Begriffen (hier: dem „höchst vollkommenen Wesen“) auf die Beschaffenheit der Welt und die Bedingungen schließt, unter denen das Böse in ihr zugelassen werden kann. Insofern ist schon in dieser Definition zweierlei bemerkenswert: Anders als bei Leibniz wird Gott hier als „höchste Weisheit“ – Kant interpretiert: als moralisches Wesen – eingeführt, also mit einem Begriff der praktischen Vernunft, der auf den „Endzweck aller Dinge“ (die Einheit von TuKant, Die Religion, B 115f., (Weischedel IV, 740). Kant, Der Streit der Fakultäten, A 112, (Weischedel VI, 338). 71 Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (Weischedel VI). Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf die Seitenzahl dieser Ausgabe. 69 70

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2.2 Doktrinale Theodizee

gend und Glückseligkeit) zielt, nicht aber auf die „Erfahrung von dem, was in der Welt vorgeht“ (106). Er unterscheidet diese Weisheit dezidiert von dem Erfahrungsbegriff einer (göttlichen) „Kunstweisheit“ (106, Anm.), der man mit Leibniz zu Recht die bewundernswerte teleologische Ordnung des Kosmos zuschreiben darf. Sodann tritt hier das Übel bzw. Böse unter dem sehr viel radikaleren Titel des „Zweckwidrigen“ auf, das heißt als das, was sich in jeder Hinsicht dem göttlich vorgesehenen „Endzweck“ der Welt widersetzt und deshalb in keinem denkbaren Sinn als Mittel interpretiert werden kann, das der Beförderung des Guten dienen könnte. Es widerspricht au fond der Heiligkeit Gottes als eines moralischen Gesetzgebers. Aus diesem Grund ist die Sünde, das moralisch Zweckwidrige, „der grundlegende Fall, an dem sich das Problem der Theodizee stellt“.72 Erst an zweiter Stelle führt Kant das physische Übel an, den Schmerz, d.h. das „bedingt Zweckwidrige“, das zwar nie als Zweck, wohl aber als Mittel der göttlichen Weltregierung in Betracht kommt und zwar – in der Zuordnung zur Sünde – genau nur als Strafe. Es widerspricht als solches der Güte Gottes. Weil aber die Strafe den Übeltäter oft gar nicht erreicht, nennt er als dritten Fall des Zweckwidrigen das „Missverhältnis von Verbrechen und Strafen in der Welt“, also den in der modernen Unheilsgeschichte oft beschriebenen, unser moralisches Bewusstsein empörenden Zustand, dass der Mörder über sein unschuldiges Opfer triumphiert (M. Horkheimer). Es widerspricht der Gerechtigkeit Gottes. Damit sind, nun in der Perspektive der praktischen Vernunft, die drei wesentlichen Eigenschaften benannt  – Heiligkeit (des Gesetzgebers), Güte (des Regenten), Gerechtigkeit (des Richters) –, die in genau dieser Reihenfolge den „moralischen Begriff von 72

Huber, Theodizee, 382.

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

Gott“ ausmachen (107 Anm.). Man sieht: Es sind Begriffe, aus denen sich (anders als in Leibniz’ Deduktion) über die Beschaffenheit der Welt nichts ableiten lässt, die vielmehr das vernunftgemäße Handeln angesichts der faktischen Befindlichkeit unserer Welt steuern und als solche den Widerspruch zwischen dem Ist-Zustand und dem göttlich vorgesehenen Soll-Zustand dieser Welt beschreiben, mit dem eine redliche Theodizee fertig zu werden hätte. Die überlieferten Versuche, dies zu tun, führt Kant auf drei Typen zurück: a) Das Zweckwidrige stellt uns vor ein Scheinproblem, da es, was uns als zweckwidrig erscheinen mag, gar nicht gebe. b) Das Zweckwidrige sei eine Folge aus der Natur der Dinge. c) Das Zweckwidrige sei nicht Gott, sondern dem Menschen anzulasten. Kant prüft diese Thesen und ihre Begründungen auf ihre Stichhaltigkeit: Können sie die Anklage gegen (1) die Heiligkeit, (2) die Güte und (3) die Gerechtigkeit Gottes entkräften? Ad 1. Heiligkeit (bzgl. a): Es gibt Versuche, die das Zweckwidrige in Gestalt der Sünde leugnen, und zwar mit dem Argument, es handele sich dabei nur um Verstöße gegen menschliche Gebote. Aber wer wisse schon, ob Gott nicht nach anderen Maßstäben urteile als wir, so dass, was uns als verwerflich erscheint, vom Standpunkt der höchsten Weisheit aus doch als Mittel zur Beförderung des Weltbesten angesehen werden könne. Dass diese Apologie „ärger ist als die Beschwerde“ (109) und jeden, der sie vorbringt, moralisch disqualifizieren muss, liegt am Tage. (bzgl. b) Die Realität des Bösen wird zwar zugegeben, aber damit entschuldigt, dass Gott den Menschen nicht anders denn als unvollkommenes Wesen habe er-

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2.2 Doktrinale Theodizee

schaffen können. Damit wird das Böse auf die Schranken der menschlichen Natur zurückgeführt. Es wird als solches gerechtfertigt, und da man es ihr nicht anrechnen kann, lässt es sich nicht einmal als ein moralisch Böses namhaft machen. (bzgl. c) Das Böse wird als Schuld des Menschen anerkannt. Leibniz spricht von einem Missbrauch der Freiheit. Gott hat es weder gebilligt noch gewollt, sondern nur zugelassen, d.h. er hat es nicht verhindern können, ohne andere, auch moralisch höhere Zwecke zu gefährden. So liegt der Grund des Übels auch hier „unvermeidlich in […] den notwendigen Schranken der Menschheit als endlicher Natur“ (110), der es wiederum nicht kausal zugerechnet, und deshalb auch nicht moralisch qualifiziert werden kann. Was die weiteren, parallel aufgebauten Beweisgänge anlangt, soll es genügen, hier jeweils ein besonders schlagkräftiges Argument zu zitieren: Ad 2 Güte (bzgl. c) Im Blick auf den zweiten Widerspruch zwischen Gottes Güte und den physischen Übeln könne man zwar annehmen, dass uns Gott gleichsam als Eintrittsbedingung in das Reich zukünftiger Freude und Herrlichkeit eine Prüfungszeit von Schmerzen und Leiden verordnet habe. Das aber liege keinesfalls im Begriff der höchsten Weisheit beschlossen und könne deshalb auch „schlechterdings nicht eingesehen werden“ (111). Ad 3 Gerechtigkeit (bzgl. c) Nicht besser steht es mit dem Austrag des dritten Widerspruchs zwischen dem Missverhältnis der Verbrechen und Strafen in der Welt und einer göttlichen Gerechtigkeit. Dass „in einer künftigen Welt […] sich eine andere Ordnung der Dinge hervortun“ und ein gerechter Ausgleich zwischen Untat und Strafe stattfinden werde, erklärt Kant, bleibe eine „willkürliche Voraussetzung“. Denn solange die Vernunft nicht als Subjekt einer moralischen Gesetzgebung

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

auf den Plan trete, sei sie für ihre theoretischen Vermutungen auf das Naturgesetz angewiesen. Dann aber habe sie keinerlei Rechtsgrund für die wünschenswerte Annahme, die ihr tausendfach bekannte Ordnung der Dinge werde in einer künftigen Welt durchbrochen. Die Übereinstimmung des menschlichen Schicksals mit einer göttlichen Gerechtigkeit sei daher nach unseren Begriffen „sowenig dort wie hier zu erwarten“ (114). Die Argumentationsgänge laufen insgesamt auf den Nachweis hinaus, dass unsere Vernunft das ihr gestellte Problem aus prinzipiellen Gründen nicht lösen kann. Als theoretische Vernunft müsste sie die Rechtfertigung Gottes auf einer rein begrifflichen Ebene erbringen, was, wie gezeigt, nicht möglich ist. Als praktische Vernunft aber ist sie in keiner besseren Lage, und hier steckt der Knoten des Problems. Sie kann die höchste Weisheit, die Grundsätze moralischen Handeln, nicht aus dem demonstrieren, was die Erfahrung uns lehrt, denn ihre Ideen gehen über jede endliche Anschauung und Erfahrung hinaus. Folglich können wir auch niemals aus Erfahrung wissen, wer oder was Gott sei, sondern müssen uns „den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen notwendig und vor aller Erfahrung machen“ (116). Die klassischen Gegensätze, die im Theodizeeproblem zusammentreffen, sind auf der Ebene der Erfahrung unauflösbar. Daran sind alle doktrinalen Versuche eines Ausgleichs gescheitert. Wer hingegen die höchste Weisheit mit dem Zeugnis der Erfahrung verteidigen wollte, müsste den Weltlauf schon als eine „Bekanntmachung der Absichten des (göttlichen) Willens“ begreifen können – denn „alle Theodizee soll eigentlich Auslegung der Natur sein“ (115). Er müsste verstehen, wie diese Weisheit ihrerseits der Organisation der Sinneswelt zugrunde liegt, wie sie in ihr erscheint. Das aber sei eine Einsicht, „zu der kein Sterblicher gelangt“. Zu erkennen, in welchem Verhältnis

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2.3 Authentische Theodizee

eine Welt, so wie wir sie immer kennen mögen, zu jener höchsten Weisheit steht, bleibt uns versagt.

2.3 Authentische Theodizee Soll es dennoch zu einer Rechtfertigung Gottes kommen, dann muss schon die Frage anders gestellt werden. Wir können die Antwort nicht von unserer Welterfahrung erwarten. Sie ist kein Thema der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft. Modern gesprochen: Die Philosophie kann nicht davon ausgehen, „als ob es in einer Welt […] für Tod und Untergang im Ernst einen von Menschen oder von der Natur geschaffenen Ausgleich gäbe, bzw. als ob Menschen im Ernst so Tod und Untergang, auch den der Anderen, bewältigen könnten“.73 Für den hier geforderten Wechsel der Blickrichtung  – Kant spricht von einer authentischen Theodizee – ist ihm Hiob der beweiskräftige Zeuge. So findet, wie es scheint, wenigstens indirekt die von Leibniz und seinen Nachfolgern methodisch ausgeblendete Wirklichkeit des Leidens noch Einlass in den Diskurs. Was also bedeutet das Wort „authentisch“ im Sinne Kants? Man hat darauf hingewiesen, dass in dem nun neu eröffneten Tribunal der Vernunft „die Stimme des Kritikers bzw. des Experten immer persönlicher“ wird, und gefragt, ob „in diesem kaum spürbaren Wechsel der Tonart […] sich das verstummte Echo der Leidenserfahrungen selbst vernehmbar machen“ könnte. Der Kritiker verharre offenbar nicht mehr „in seiner Unparteilichkeit“, er finde sich vielmehr „affektiv verwickelt in die Frage nach Recht und Unrecht“.74 Er werde zu einem „selbst Betroffenen“. So wenig man diesen Beob73 74

Oelmüller, Philosophische Antwortversuche, 76. Adriaanse, Theodizee zwischen Ja und Nein, 118.

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

achtungen widersprechen mag: Sachlich verschieben sie das Problem ins Subjektive, indem sich das Authentische „unter der Hand verwandelt in die Authentizität dessen, der ‚authentisch’ leidet“.75 Hier aber ist nicht Hiobs Leiden, sondern seine Reaktion auf solches Leiden im Blick. Kant rollt das Problem, am Buch Hiob entlanggehend, von einer anderen Seite her auf. Sein Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass alle „Einwürfe (Hiobs) wider die göttliche Weisheit kurzerhand abgefertigt“ werden. Diesem „Machtspruch“ Gottes, einer „machthabenden praktischen Vernunft“, könne man den Namen einer Theodizee nicht absprechen. Ihre Macht nämlich besteht darin, dass sie „ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend“ ist (116). Das eben kann man von der theoretischen Vernunft nicht sagen: Sie hat keine Macht über ihren Gegenstand. Insofern trifft auch ein anderer Interpretationsvorschlag nicht das Richtige, der in den Gottesreden nur die Präsentation einer alternativen „Position“ sieht und fragt, ob die Theodizee dieser Reden nicht ebenso „doktrinal“ sei wie die der Freunde.76 Das ist sie schon deshalb nicht, weil sie den Urheber der Leidensgeschichte Hiobs (und darin eingeschlossen den Urheber des verworrenen, für unsere Augen undurchschaubaren Weltlaufs) gerade nicht entlasten will, sondern ihm die volle Verantwortung für das, was unter der Sonne geschieht, aufbürdet. Hier wird nicht „bloß gedacht“, nicht „nur konstruiert“77, vielmehr lässt Kant  – da hat er den Text des Hiobbuches auf seiner Seite – Gott seine von ihm selber „gesetzgeberisch“ entworfene Schöpfung für sich selbst Zeugnis ablegen. 75 76 77

Ebach, in: Oelmüller, Diskussion, 146. Ebach, ebd., 147. Geyer, ebd., 178.

76

2.3 Authentische Theodizee

Denn das liegt ja im Begriff der praktischen Vernunft, dass das realisierte (oder intendierte) Ziel ihre Absicht „authentisch“ interpretiert. Deshalb müssen Gottes „für uns unerforschlichen Wege [tatsächlich] schon in der physischen Ordnung der Dinge verborgen sein“ (118). Gott lässt diese Ordnung, in die sich auch die rätselhaften Ungeheuer Leviathan (Nilpferd) und Behemot (Krokodil) einfügen, seinen Willen „verkündigen“, „und diese Auslegung können wir eine authentische Theodizee nennen“ (116). Gott „rechtfertigt“ sich, indem er sich für Hiobs Geschick haftbar machen lässt. So ist Kants Interpretation der Gegenentwurf zu dem seit Augustin verfochtenen Dogma, dass Gott selbst nicht in die Frage nach Leiden und Übel der Welt hineingezogen werden dürfe. Und Hiob? Wofür steht er? Inwiefern schließt seine „Religion“ eine authentische Theodizee ein? Zunächst deshalb, weil er die doktrinale Lösung seiner Freunde kategorisch abweist, die alle Übel in der Welt mit der göttlichen Gerechtigkeit (verstanden als Einklang von Tun und Ergehen) meinen erklären zu können. Er hingegen „erklärt sich für das System des unbedingten göttlichen Ratschlusses“ (117), gegen den er rebelliert und den er dennoch anerkennt. Doch nicht der „Vorzug der Einsicht in seine Unwissenheit“ begründet Kants emphatisches Urteil. Was Hiob gleichsam spiegelbildlich mit der höchsten Weisheit Gottes verbindet, ist der ebenfalls unbedingte Vorsatz seines Willens, sich die eigenen Zweifel an der göttlichen Weltregierung nicht ausreden, sich also keine künstliche Verteidigung Gottes abnötigen zu lassen. Es ist eine moralische Maxime, die „Aufrichtigkeit des Herzens“ (119), die Kant den vergeblichen Rechtfertigungsversuchen der Freunde entgegensetzt. Sie entscheidet den göttlichen Richterspruch und beglaubigt damit das Credo des Philosophen, dass Hiob „nicht die Moralität auf

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität“ gründet (119). Mit diesem Satz ist das Thema angeschlagen, das Kants gesamte Religionsphilosophie bestimmt, seinen Entwurf, die verbindlichen Glaubenswahrheiten aus der Quelle der praktischen Vernunft zu legitimieren. Denn „eine Religion, die der Vernunft bedenkenlos den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“.78 Sie kann zu ihrer Begründung auf die Idee eines Welturhebers verzichten, nicht jedoch auf die Vorstellung von Plan und Ziel des Weltganzen, an deren Verlässlichkeit und Verstehbarkeit Hiob verzweifelt. In diese vakant gewordene Position rückt nun die Moral ein, die uns nicht mit heteronomen Ansprüchen und Forderungen konfrontiert, sondern die, anders wäre es um ihre Verbindlichkeit geschehen, aus einem vernünftigen Entwurf hervorgehen muss. Sie schlägt die Brücke zur Religion, denn sie führt „unumgänglich“ zur „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen […], in dessen Willen dasjenige Endzweck [der Weltschöpfung] ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“.79 Wer an Gott festhält, und sei es in der Form eines bloßen Postulats, tut es um dieses Zweckes willen, in dem die Welt ihr Ziel und ihre letzte Bestimmung findet. Darauf läuft rückblickend Kants Antwort auf die von Hiob gestellte Frage nach der Rechtfertigung Gottes hinaus. Damit ist zugleich die Richtung der in diesem Essay offen gebliebenen Frage nach der Herkunft des Bösen vorgezeichnet. Die Frage richtet sich konsequenterweise nicht an einen Gott, der das Übel in den Bestand einer bestmöglichen Welt integrieren könnte, sondern wird zu einer Frage an die Konstitution der menschli78 79

Kant, Die Religion, A XIX, (Weischedel IV, 657). Ebd., A IX, a.a.O. 652.

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2.4 Exkurs: Theodizee als Fortschritt (Hegel)

chen Vernunft und die in ihr mitgesetzte Freiheit. Kant spricht von dem „radikalen“, an der Wurzel unserer moralischen Triebkräfte ansetzenden „Bösen“, einem natürlichen, „angeborenen Hang, der den Grund aller Maximen verdirbt“.80 Der Vernunftursprung dieser „Verstimmung“ unserer Freiheit bleibt jedoch „unerforschlich“. Aus empirischen Ursachen lässt er sich nicht erklären. Sind wir aber zur Annahme gesetzwidriger Maximen fähig, dann muss kraft unserer Freiheit auch das Umgekehrte möglich sein, dass wir uns von Maximen leiten lassen, die dem Sittengesetz entsprechen. So bleibt uns am Ende die Perspektive, zu der uns dieses Gesetz berechtigt und verpflichtet, dass wir nämlich unser Leben von der „Hoffnung auf einen Fortschritt vom Schlechten zum Besseren“ bestimmen lassen können. Von einem empirisch messbaren Fortschritt (in Wissenschaft oder Wirtschaft) ist hier freilich nicht die Rede. Kant hat den Begriff überaus vorsichtig, rückgebunden an das Problem der Freiheit, eingeführt. Das Ziel, auf das er blickt, ist der durchgeführte (republikanische) Zustand eines öffentlichen Rechts, in dem meine Freiheit mit der Freiheit jedes anderen zusammenstimmen kann.81

2.4 Exkurs: Theodizee als Fortschritt (Hegel) Die Verklammerung des Theodizeeproblems mit dem Fortschrittsgedanken hat Schule gemacht. Es ist Hegel gewesen, der den von Kant überaus vorsichtig eingeführten Begriff zu einer welthistorischen Kategorie umgedacht hat. Er hat die Theodizee in dem umfassenderen Rahmen einer Philosophie der Geschichte behandelt. 80 81

Ebd., B 36, a.a.O. 686. Kant, Zum ewigen Frieden, B 21ff. (Weischedel VI, 204ff.).

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

Nicht das Leben des Einzelnen, sondern die Weltgeschichte als ganze ist der Horizont, in dem Gottes Gerechtigkeit sich zuletzt gegen alle Einwürfe behaupten wird. Hegel ist realistisch genug, die Geschichte als eine „Schlachtbank“ zu begreifen, auf der das Glück der Völker und die Weisheit der Staaten zum Opfer gebracht werden (49)82, aber er ist davon überzeugt, dass der Plan der göttlichen Vorsehung, den die Philosophie nachzuzeichnen und in den Epochen der Geschichte sichtbar zu machen hat, auch dieses Dunkel mit umfasst. Denn, so lautet die These, erst dann kann der denkende Geist mit dem Bösen in der Welt versöhnt werden, wenn er es riskiert, Gottes Weisheit „aufs Große anzuwenden“ (42) wenn er also die Übel in der Welt als eine notwendige Durchgangsstufe auf dem Weg der Vollendung des Weltplans und insofern als etwas „Untergeordnetes und Überwundenes“ begreift (42). Denn indem die Philosophie auch in ihnen die „Wirklichkeit der göttlichen Idee“ am Werke sieht, verschwindet der Schein, „als ob die Welt ein verrücktes, törichtes Geschehen sei“. Sie will [und kann] auch „die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen“ (68). Wie ist das zu verstehen? Die Substanz der göttlichen Idee ist die Freiheit, und daraus resultiert die neu gestellte Aufgabe: Es geht um die Versöhnung des Realen mit dem Idealen, der Welt der Notwendigkeit mit der Welt der Freiheit. Das ist das Programm des Idealismus: Die Wirklichkeit der Welt soll als ein Moment der Verwirklichung der Freiheit begriffen werden, und zwar so, dass die göttliche Idee das Weltliche immanent durchdringt. Diese Durchbildung und Durchdringung des weltlichen Zustands durch das „Prinzip der Freiheit“, erklärt Hegel, ermöglicht „den 82 Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf: G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Jubiläums-Ausg. (hg. von H. Glockner) Bd. 11.

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2.4 Exkurs: Theodizee als Fortschritt (Hegel)

langen Verlauf, der die Geschichte ausmacht“. Die Phänomenologie (1807) hat diesen Leitgedanken exemplarisch entfaltet: Der Geist, Repräsentant der höchsten göttlichen Vernunft, muss sich ins Irdische, Weltliche entäußern, seinen Weg durch Welt und Geschichte „absolvieren“, um am Ende als „absoluter Geist“ (Gott) zu sich selbst zu kommen. Dieser Weg führt durch die Abgründe und Tiefen der Realgeschichte. Aber gerade so ist er der Prozess, „in dem das Übel in der Welt begriffen (und) der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt“ wird, ein Prozess, in dem die Idee der Freiheit sich zunehmend selbst erfasst. Hier nimmt Hegel den Kant’schen Begriff auf und macht ihn zum Schlüssel seines Entwurfs: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ (46). Sie ist „die Entwicklung des Begriffs der Freiheit“ selbst. Ist aber diese Freiheit, die „Substanz“ der göttlichen Idee, im Durchgang durch die einander ablösenden Gestalten der Geschichte zu sich selbst gekommen, dann ist mit der Vollendung des göttlichen Weltplans auch das Recht Gottes an und über die Welt, sie sei, wie sie wolle, wieder hergestellt. Das begründet den berühmten, selbstbewussten Satz: „Dass die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten – dies ist die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte“ (569). Diese Interpretation knüpft noch einmal an das Leibniz’sche „Programm“ an und „erfüllt erst“ dessen Anspruch, „die wirkliche Welt aus der Vollkommenheit Gottes zu erklären.“83 Der Geist, der sich in ihr entwickelt und zu seiner Vollendung kommt, ist  – so verstanden  – zugleich selber der Motor und der wesentliche Inhalt der weltgeschichtlichen Theodizee. 83

Sparn, Leiden, 70.

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2. Kant: Das Misslingen aller Versuche in der Theodizee

Hegel, das wird schon aus diesen wenigen Zitaten deutlich, argumentiert von der „Vollendung“ des sich entwickelnden Geistes, also vom antizipierten Ende der Geschichte aus. Erst wenn die Geschichte zu ihrem von Gott vorgesehenen Ziel gekommen, wenn also ihr Böses real überwunden ist, kann im Rückschluss auch ihr innergeschichtliches Übel als eine bloße Durchgangsstation des langen Weges und insofern als etwas „Untergeordnetes“ begriffen werden. Seine theoretische Theodizee lebt vom Vorgriff auf das Eschaton und hat darin ihre Pointe. Damit wird unbestreitbar ein entscheidendes Element der biblisch-theologischen Auseinandersetzung mit dem Bösen philosophisch aufgenommen und zu Ehren gebracht: der Begriff der Versöhnung, den man bei Leibniz so offenkundig vermisst. Doch was bedeutet das für den mitten in der Geschichte und ihren Katas­ trophen stehenden Menschen und seine Hoffnung auf einen gegenwärtigen Beweis der Präsenz Gottes? Hegels Logik jedenfalls fordert ihren Preis. Zwar war auch Kant davon überzeugt, dass die höchste Weisheit, Hegels „Geist“, „in der Organisation der Sinnenwelt“ erscheinen müsse. Während er jedoch bestreitet, dass ein Mensch je imstande sein werde, sie dort zu erkennen, geschweige denn nachzuzeichnen, glaubt Hegel, der Geschichte die Einsicht abgewinnen zu können, das von der ewigen Weisheit Bezweckte sei auf dem Boden des in der Welt tätigen Geistes „herausgekommen“, es habe sich „aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst ergeben, […] dass sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen […] Dies muss, wie gesagt, das Ergebnis der Geschichte sein“ (36). Doch hat der metaphysische Schluss auf die Endabsicht des geschichtlichen Prozesses zur Folge, dass dieser „notwendige Gang“ nun alle Manifestationen und Katastrophen des Bösen einschließt, die seinen Weg begleiten. Sie sind sozusagen der Dünger der Weltgeschichte, über

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2.4 Exkurs: Theodizee als Fortschritt (Hegel)

den hinweg sie zu ihrer Vollendung schreitet. Denn nach dem Gesetz der hier waltenden Dialektik müssen „alle Opfer, [die] auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit dargebracht worden“ sind (47), als ein Negatives „zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwinden“ (42). Hegel spricht mit einem berühmt gewordenen Wort von der „List der Vernunft“, die dafür sorgt, dass die allgemeine Idee, die den Gang des Geistes bestimmt, sich im Gegensatz und Kampf der geschichtlichen Mächte „unangegriffen und unbeschädigt im Hintergrund hält“ (63), bis sich im Streit der partikularen Interessen und Kämpfe entschieden hat, was zum Untergang und was zum Bleiben bestimmt ist. So ist der „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, also der Weg, auf dem der Geist das Gesetz seiner „dialektischen“ Entwicklung erfasst, tatsächlich der Schlüssel, der uns – gleichsam vom Standort Gottes aus – die Logik der Weltgeschichte als Ergebnis der „Vermittlung“ von Widersprüchen begreifen lässt. Der Anspruch, das Problem der Theodizee auf diese Weise zu lösen, steht und fällt mit der emphatisch behaupteten Möglichkeit einer geschichtlich vermittelten vernünftigen Erkenntnis Gottes. Hegel spricht von der „denkenden Erhebung des Endlichen zum Unendlichen“, in der dieses selbst sich als Geist begreift.84 Dennoch lässt uns dieser Versuch, die Geschichte von ihrem antizipierten „Endzweck“ her zu interpretieren, ratlos zurück, sobald wir fragen, wie wir angesichts einer Naturkatastrophe oder eines bedrohlichen politischen Umsturzes mit Gott „dran“ sind. Denn wenn der Weltlauf selbst die „wahrhafte Theodizee“ ist, und zwar mitsamt den Manifestationen des Bösen, die seinen Weg begleiten; wenn er in seiner ebenso geduldigen wie schmerzhaften Arbeit an den dunklen Seiten der Geschichte dazu führt, 84

Sparn, Leiden, 70.

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

dass diese Negativposten wie bloße Schatten als ein „Überwundenes“ verschwinden, dann läuft die Logik des weltgeschichtlichen Prozesses im Zeichen des Fortschritts – von der Französischen Revolution über das autoritäre Regime Napoleons bis hin zum preußischen Staat – auf eine Rechtfertigung der Sieger der Geschichte hinaus, und das heißt implizit: nun doch auf eine Rechtfertigung des unvermeidlichen Bösen selbst, gerade weil es im geschichtlichen Recht des „höheren“, besseren Zustand „aufgehoben“, aus der Bilanz der Weltgeschichte durch einen Kunstgriff getilgt ist. Hier wird aus der Vogelperspektive argumentiert, die sich über Not und Elend der je besonderen Geschichtsepoche hinwegsetzt. Der notwendige Gang der Geschichte ist gleichgültig gegenüber dem Geschick einzelner Völker und Menschen, die ihre Befriedigung und ihren Trost allein in dem Gedanken finden sollen, dass ihr Leiden, das ihnen widerfahrene Unrecht der Preis ist, der für das höhere Recht, die höhere Vollkommenheit der Weltgeschichte im ganzen zu entrichten ist. Für die Opfer der Geschichte bleibt diese Auskunft abstrakt, wo sie nicht in offenen Zynismus umschlägt. Hier zeigt sich die Grenze des metaphysischen Austrags der Theodizee, den Hegel als Letzter noch einmal in großem Stil versucht hat.

3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense) Die moderne, namentlich im angelsächsischen Raum intensiv geführte Theodizee-Debatte, die ich wenigstens in einem exemplarischen Ausschnitt vorstellen will, schließt sich unter anderen Voraussetzungen dennoch erstaunlich eng wieder an das Leibnizsche Vorbild und dessen metaphysische Implikationen an. Demnach hat

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

der allmächtige, allgütige und allwissende Gott die bestmögliche, also eine in unübertrefflicher Weise vollkommene Welt geschaffen und gleichwohl Übel in ihr zugelassen, sofern diese Übel mit größeren Gütern oder mit der Abwesenheit größerer Übel notwendig verknüpft sind. Dieser Vorbehalt wird in den hier entwickelten Entwürfen inhaltlich erläutert und gefüllt durch das schon von Augustin vorgetragene und ausgearbeitete Argument, dass der menschliche Freiheitsmissbrauch die unmittelbare Ursache der Sünde und ihrer „üblen“ Folgen sei. So verbindet sich das Theodizeeproblem mit der Willensfreiheit, die als das höchste von Gott geschaffene Gut gilt. Sie ist die Voraussetzung von „Werten“ wie Verantwortlichkeit, Wahl von Handlungszielen, künstlerische Kreativität oder aufrichtige Liebe. Eine Welt ohne diese Freiheit wäre weniger gut gewesen als die gegenwärtige. Frei aber ist der Wille nur dann, wenn seine Entscheidungen durch keine äußeren oder inneren Ursachen, also – im Unterschied zu Leibniz – auch nicht von Gott bestimmt oder beeinflusst werden. Daraus ergibt sich die folgende, neue Problemkonstellation: Unsere wirkliche Welt, obwohl sie mit der Auszeichnung frei entscheidender und handelnder Wesen von einem allmächtigen und allgütigen Gott geschaffen ist, könnte im Resultat schlechter sein als eine andere, logisch mögliche Welt, und aufgrund des moralisch Bösen, das von derart frei erschaffenen Wesen ausgeht, ist sie es tatsächlich.85 Der Mensch ist sozusagen das große Risiko der göttlichen Schöpfung. Diese Argumentation bildet die Grundlage der von Alwin Platinga, Richard Swinburne, John L. Mackie und anderen entwickelten sogenannten Free-Will-Defense. Das führt zu den im Folgenden skizzierten Problemen, die an Ort und Stelle zumeist in der Form hypothetischer Überle85

Dazu: Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 274f.

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

gungen diskutiert werden: Begrenzt sich Gottes Macht an der Freiheit des Menschen? Man spricht in der neueren Diskussion von einer Allmachtsschranke: Der „allmächtige Gott […] musste eine Welt neben sich ertragen, die seine Allmacht zum Verschwinden bringt“.86 Oder müsste man von dieser Macht erwarten, dass sie mit den gravierenden Folgen des Freiheitsmissbrauchs fertig wird, indem sie die daraus erwachsenden Übel beseitigt oder aber imstande ist, eine Welt zu schaffen, in der Menschen der Gefahr eines solchen Missbrauchs erst gar nicht ausgesetzt sind? Elementarer gefragt: Kann die Willensfreiheit das Leiden der Kreatur rechtfertigen? Ist das Böse der Preis der Freiheit, wie es die von David R. Griffin exponierte Basisfrage nahe legt: „Wenn Gott eine Welt hätte schaffen können, deren Wesen alle denkbaren Werte genießen könnten, deren wir uns erfreuen, einschließlich des Wertes, sich selbst als genuin frei zu denken, [Wesen], die sich nur dadurch von uns unterscheiden würden, dass sie nicht wirklich die Freiheit haben zu sündigen [was ohne Widerspruch möglich wäre]: Warum tat Gott das nicht?“87

3.1 Probleme der Willensfreiheit Man kann die Willensfreiheit bestreiten, womit sich jede weitere Überlegung erübrigte. So zeichnet sich in der gegenwärtigen Neurowissenschaft und der breiten, durch sie angestoßenen Diskussion die Tendenz ab, alle menschlichen Handlungen auf kausale Determinanten zurückzuführen, sie aus psychischen, genetischen und im Kern neurophysiologischen Ursachen restlos zu erklären. Auf diese Debatte werde ich nicht eingehen, 86 87

Geyer, Zur Kritik der Allmacht, 245. Griffin, God, Evil and Power, 187 (Übersetzung C. L.).

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3.1 Probleme der Willensfreiheit

sondern lediglich zu bedenken geben: Bewiesen wäre der hier behauptete Determinismus erst dann, wenn sich demzufolge menschliche Entscheidungen und Handlungen auch durchgängig und lückenlos voraussagen ließen. Davon aber sind wir – zum Glück – heute (noch) weit entfernt. Im Horizont der Theodizeefrage stellt sich das Problemfeld anders dar: Der freie Wille kann in einem solchen Ausmaß Urheber des Bösen und unsäglicher Leiden sein, dass die ihm zugeschriebenen Werte darüber verblassen und die Frage aufbricht, ob Gott den daraus erwachsenden Folgen gewachsen ist, ob er sie verhindern oder jedenfalls eindämmen kann. Diese Freiheit selbst wird (in ihrer Ambivalenz) nicht bestritten. Wir können uns in unserer Selbstwahrnehmung als Person gar nicht verstehen, wenn wir von unserer faktischen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit und damit verbunden von unserer Schuldfähigkeit und Rechenschaftspflicht absehen wollten. Was also macht unser Freiheitsvermögen aus? Man braucht nicht zu bestreiten, dass es vorausliegende Ursachen gibt  – Herkunft und Erziehung, Gewohnheit und Neigung  –, die unseren Willen beeinflussen. Nur dürfen sie hier nicht alles sein. Es muss einen (und sei es begrenzten) Handlungsspielraum geben derart, dass wir uns zwischen zwei oder mehreren Optionen entscheiden können, und das setzt voraus, dass wir Gründe für unsere Entscheidung anführen können. „Frei“ sein heißt nicht schon, „grundlos“, zufällig oder willkürlich handeln. Ein bloßer Indeterminismus, die alte libertas indifferentiae, kann einen qualifizierten Freiheitsbegriff gar nicht begründen. Freiheit ist nicht ursachlos, vielmehr kommt es auf die Art der Verursachung an. Sie darf nicht von außen erzwungen sein, aber auch nicht von innen als Folge na-

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

turhafter, psychischer oder neuronaler Dispositionen. Sie muss in den Entscheidungen, die unsere moralischen Überzeugungen geprägt haben, und in diesem Sinne in uns selbst begründet sein, d.h. in unserer Spontaneität, jetzt „gerade so und nicht anders handeln zu wollen“, selbst wenn es „möglich gewesen wäre, auch anders zu wollen“.88 Denn warum entscheiden sich politische Dissidenten, das Risiko gesellschaftlicher Repressionen und Verfolgung vor Augen, für den Weg in den Widerstand? Sie lassen sich nicht von persönlichen Interessen, Bedürfnissen oder Neigungen leiten, Dinge zu tun, die sie wollen müssten, um derlei Gefahren zu entgehen, sondern sind imstande, sich gegen das zu entscheiden, wozu die bloße Neigung ihren Willen bestimmen könnte. Sie sind frei, Dinge, die sie eigentlich nicht tun wollten, nun doch zu wollen. Mit dieser Fähigkeit erweitert sich ihr Handlungsspielraum zu einem an die Person (nicht primär an den Willen) gebundenen Freiheitsspielraum. So kommt es zu einer ethisch qualifizierten Willensfreiheit, die die Voraussetzung dafür ist, Verantwortung für andere Menschen, eine Familie oder ein politisches Gemeinwesen, zu übernehmen. Dieser signifikante Freiheitsbegriff schließt die Möglichkeit ein, in die Lebenssphäre anderer Menschen einzugreifen. Er betrifft nicht nur den Entscheidungsund Gestaltungsspielraum unseres eigenen Handelns, sondern auch den anderer freier Subjekte. Eben das macht ihn ethisch relevant, und das gilt nicht nur in positiver, sondern auch in negativer Hinsicht. Wir können kraft unseres Freiheitsspielraums anderen Menschen auch Schaden und Leid zufügen. Beides gehört untrennbar zusammen. Wie wir von Wahrheit im Bereich des Erkennens nur reden können, wenn wir die 88

88

Kreiner, Gott im Leid, 217.

3.1 Probleme der Willensfreiheit

Möglichkeit des Irrtums in Rechnung stellen (sonst wären wir Automaten, die aufgrund einer Programmierung gezwungen sind, so zu denken, wie sie es faktisch tun), so können wir auch von guten Entscheidungen in der Sphäre des Handelns nur reden, wenn wir tatsächlich die Möglichkeit des Gegenteils, nämlich böse zu handeln, haben. Mit der Freiheit des Willens ist die Möglichkeit des Freiheitsmissbrauchs unweigerlich gegeben. Auch wenn Gott diesen Freiheitsmissbrauch nicht beabsichtigt, geschweige denn herbeigeführt hat, müsste er  – hier greift das neu in die Debatte eingeführte Theodizee-Argument ein  – das Ausmaß seiner Folgen kennen. Andernfalls erschiene er als ein Souverän, der, um das hohe Gut der Freiheit zu verwirklichen, sich über das Leiden seiner Geschöpfe hinwegsetzt, der also bereit wäre, selber böse zu handeln. Kann die Realisierung der Freiheit ein solches Risiko begründen? Was aber wäre die Alternative? Gott hätte darauf verzichten müssen, Kreaturen mit freiem Willen zu erschaffen. Wer ihn für die Existenz moralischer Übel verantwortlich macht, macht ihm damit die Erschaffung der Menschheit zum Vorwurf, wie H.R. Burkle angesichts der Tragödie von Auschwitz unumwunden erklärt: „Jeder, der sagt, Auschwitz hätte unter keinen Umständen (absolutely) geschehen dürfen, Gott hätte es um jeden Preis verhindern müssen, sagt damit, dass menschliche Wesen nicht existieren sollten.“89 Sie würden sozusagen im Widerspruch gegen das von Gott gegebene moralische Gesetz existieren, was im Umkehrschluss bedeutet, dass es den Gott der theistischen Tradition, der ein solches Gesetz gegeben und sich dennoch auf das Risiko der Menschenschöpfung eingelassen hätte, nicht geben kann. 89

Burkle, God, Suffering and Belief, 57.

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

So stellt sich die weitere Frage: Selbst wenn eine sozusagen wertmaximale, nämlich sündlose und in diesem Sinne bestmögliche Welt theoretisch denkbar wäre, hätte Gott sie unbeschadet seiner Allmacht auch erschaffen können? Denn zu dieser Welt gehören Geschöpfe, deren freie Entscheidungen in jedem Fall gut sein müssen. Frei aber sind sie nur dann, wenn sie von keiner Seite, also auch nicht von Gott kausal beeinflusst werden. So hat J.L. Mackie unter dem Titel „Evil and Omnipotence“ (1955) eine viel diskutierte Modifikation des Freiheitsbegriffs vorgeschlagen – sie wurde unabhängig auch von Anthony Flew vorgebracht90 –,welche die Möglichkeit einer signifikanten Freiheit ohne Freiheitsmissbrauch denkbar machen soll. Theoretisch zwar wird der Freiheitsmissbrauch zugestanden, faktisch aber zurückgenommen: Gott hätte die Welt (ohne Widerspruch) von vornherein so einrichten können, dass die Menschen sich de facto in jedem Fall für das Gute entscheiden. Denn, so das dreistufige Argument: (1) Wenn ein Mensch angesichts einer bestimmten Situation (occasion) frei ist, das Gute zu wählen, dann sei es logisch möglich, dass alle Menschen dies ebenso können. (2) Dies unterstellt, sei es ebenfalls logisch möglich, dass alle Menschen so ‚organisiert’ (constituted) sind, dass sie sich jederzeit in Freiheit für das Gute entscheiden, und dann wiederum sei es (3) auch für Gott möglich, sie so zu erschaffen, dass sie [ausgerüstet] mit einer Fortschrittsgarantie (guaranteed in advance) immer frei sind, richtig, d.h. gut zu handeln. Hier wird die traditionelle Verknüpfung von ‚signifikanter’ Freiheit und göttlicher Zulassung böser Folgen entflochten. Das von einem vollkommenen Schöpfer erstellte Universum könnte durchaus so eingerichtet sein, dass der theMackie, Evil and Omnipotence, 206-210; Flew, Divine Omnipotence and Human Freedom. 90

90

3.1 Probleme der Willensfreiheit

oretisch mögliche Freiheitsmissbrauch faktisch gar nicht vorkommt. Dann aber kann der „angeblich überragende Wert der Freiheit die Existenz der Übel nicht erklären“.91 Als Preis der Freiheit kämen sie jedenfalls nicht mehr in Frage. Wie steht es mit der Stichhaltigkeit dieses Argumentationsganges? Logisch möglich mag eine Welt sein, in der die Geschöpfe immer das Gute und Richtige wählen. Kann aber Gott diesen Zustand garantieren, indem er eine solche Welt ins Dasein ruft? Die Entscheidung seiner Geschöpfe zum Guten kann er nicht beeinflussen, ohne damit ihre Freiheit aufzuheben. Wohl aber könnte er, so das oben zitierte Argument, kraft seiner Allwissenheit, wissen, wie die von ihm nicht verursachten Entscheidungen unter allen möglichen Umständen ausfallen würden, und daraufhin eine Welt schaffen, die nur solche Wesen einschließt, die der Versuchung des Freiheitsmissbrauchs nicht erliegen. Hat er nicht vor dem Menschen die Engel erschaffen? Hat er uns nicht in Jesus von Nazareth das Bild eines in jeder Hinsicht freien, aber sündlosen Menschen vor Augen gestellt? Selbst wenn er nicht wissen könnte, welche Entscheidungen seine Geschöpfe in jedem Einzelfall tatsächlich treffen, muss er doch wissen, welche sie treffen könnten, wenn er nicht Gefahr laufen will, dass sie die Verwirklichung seines Heilsplans (sofern er vom „guten“ Gebrauch kreatürlicher Freiheit abhängt) am Ende vereiteln. Denn auf dieses Risiko kann er sich nicht einlassen. Man müsste ihm „schlimmste Fahrlässigkeit oder größten Leichtsinn vorwerfen“92, was mit seiner Vollkommenheit unvereinbar ist Auf die traditionelle Annahme, dass Gott die künftigen Entscheidungen seiner Geschöpfe kennt, kann diese Variante der Free-Will-De91 92

Mackie, Das Wunder des Theismus, 274. Ebd., 280.

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

fense also nicht verzichten. Dies alles vorausgesetzt, müsste eine Welt, die gleichsam a priori frei wäre von Leid und Schmerzen, vorstellbar sein. Und daraus folgt, dass die Absicht, uns Freiheit zu verleihen, kein hinreichender Grund sein kann, die Übel der Welt zuzulassen. Nur: Auf welcher Basis könnten wir Aussagen über Gottes Vorherwissen machen?

3.2 Kann die Willensfreiheit das Leiden der Kreatur rechtfertigen? Warum lässt Gott trotz dieser scheinbar plausiblen Argumentation die aus dem Freiheitsmissbrauch des Menschen hervorgehenden Übel dennoch offensichtlich zu? Hat er ein Recht, sie zuzulassen? Hier setzt die von Richard Swinburne vorgetragene Variante der Free-Will-Defense ein. Sie verteidigt ausdrücklich dieses (auch von J.L. Mackie nicht bestrittene) Recht Gottes – jedenfalls in genau bestimmten Grenzen. Sein Argument lautet: „Selbst dem moralischen Recht Gottes, unseres Schöpfers und Erhalters, sind Grenzen gesetzt, frei empfindende Wesen als Bauern in einem größeren [Schach-]Spiel zu gebrauchen“.93 Deshalb hätte er schon die Möglichkeit menschlichen Freiheitsmissbrauchs faktisch eingeschränkt, zunächst zeitlich – „ein Mensch kann einem anderen nicht länger als achtzig Jahre Schaden zufügen“ –, dann auch im Grad der Intensität – „unter zu großen Schmerzen werden wir oft bewusstlos“.94 Innerhalb dieser Sicherheitsgrenzen aber gelte das göttliche Recht. Denn andernfalls stehe hier das große Gut menschlicher Verantwortung auf dem Spiel, das logisch nur denkbar sei, wenn es die 93 94

Swinburne, The Free Will Defense, 591 (Übersetzung C. L.). Ebd., 591.

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3.2 Kann die Willensfreiheit das Leiden der Kreatur rechtfertigen?

Möglichkeit zulasse, diese Verantwortung auch zu missbrauchen. Welcher Gottesbegriff aber steht hinter diesen Aussagen? Ein guter Gott, erklärt Swinburne, wird wie ein guter Vater Verantwortung delegieren, und fährt fort: „Um einem Menschen zuzumuten, für das Heil (good) seiner eigenen Seele oder das irgendeines anderen Menschen zu leiden, muss man in einer Art elterlicher Beziehung zu ihm stehen […] Ein Gott, der ex hypothesi soviel mehr Urheber unseres Wesens ist als unsere Eltern, hat in dieser Hinsicht auch soviel mehr Rechte.“95 Nun ist genau das die Frage, ob das „hohe Gut“ der Verantwortung das von Swinburne in Anschlag gebrachte Leiden rechtfertigen kann, zumal wenn es andere Menschen trifft. Kann der positive Wert der Verantwortung und das, was er voraussetzt, der Wert des freien Willens, unter bestimmten Bedingungen das damit verbundene Risiko „falscher“, Leid verursachender Entscheidungen aufwiegen? Oder ist dieser Preis zu hoch? Müsste man nicht einwenden, unter so bewandten Umständen hätte Gott niemals freie Wesen mit einem derart umfassenden Handlungs- und Entscheidungsspielraum erschaffen dürfen? Hätte er in diesem Fall nicht fahrlässig gehandelt und wäre dann jedenfalls nicht der vollkommene Schöpfer unserer theistischen Tradition? So gesehen ist das Argument der Willensfreiheit offenbar nicht imstande, das Theodizee-Problem zu lösen. Denn dieser Einwand trifft nicht nur „den zentralen Nerv“ der Free Will Defense, sondern jeder Theodizee, „die Leid und Übel in einen Zusammenhang mit der Realisierung bestimmter Werte bringt“.96 Die Zumutungen wachsen mit der Größe und Tiefe dieser Leiden und mit der Zahl der von ihm betroffenen Menschen und neh95 96

Ebd., 591. Kreiner, Gott im Leid, 259.

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

men angesichts von Auschwitz ein Maß an, das den Glauben an einen allmächtigen und sittlich vollkommenen Gott unmöglich macht. Das ist nicht erst eine moderne Erfahrung, sondern ein Einwand gegen den gesamten Weltentwurf Gottes, den bereits Dostojewski seiner Romanfigur Iwan Karamasow in den Mund gelegt hat. Es sind die nicht wiedergutzumachenden Schmerzen der gequälten Kinder, die die Frage nach dem Sinn der Schöpfung ins Leere laufen lassen. Auch wer Gott noch glaubt „akzeptieren“ zu können, scheitert ihretwegen an der Güte und Verlässlichkeit der von ihm geschaffenen Welt: „Wenn die Leiden der Kinder zu jener Summe von Leid, die zum Kauf der Wahrheit erforderlich ist, unbedingt hinzu kommen müssen, so behaupte ich im voraus, dass die Wahrheit diesen Preis nicht wert ist. Ich will nicht, dass die Mutter den Peiniger ihres Sohnes umarme! Wie darf sie es wagen, ihm zu vergeben? […] Wenn das aber so ist, wenn man nicht verzeihen darf, wo ist dann die Harmonie? Gibt es in der ganzen Welt ein Wesen, das verzeihen könnte, welches das Recht hätte zu verzeihen? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich sie nicht […] Ist doch diese Harmonie gar zu teuer eingeschätzt. Wenigstens erlaubt es mein Beutel nicht, soviel für den Eintritt zu zahlen. Darum aber beeile ich mich, mein Eintrittsbillet zurückzugeben. […] Nicht Gott ist es, Aljoscha, ich gebe ihm nur mein Eintrittsbillet ergebenst zurück.“97

Ein Echo dieser Anklage hört man noch aus dem Protest Albert Camus’: „Ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.“ „Ich werde nicht aufhören, gegen diese Welt zu kämpfen, in der Kinder leiden und sterben.“98

97 98

Dostojewski, Die Brüder Karamasow II, 5. Camus, Der Ungläubige und die Christen, 74.

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3.2 Kann die Willensfreiheit das Leiden der Kreatur rechtfertigen?

Die Frage, die die Erinnerung an Dostojewski wachhält und die an den existentiellen und intellektuellen Nerv des Theodizee-Problems rührt, betrifft nicht schon das unschuldige oder unverschuldete Leiden zahlloser Menschen. Sie lautet vielmehr, ob es irgendeinen Wert gibt, der die Zulassung solchen Leidens rechtfertigen könnte. Wenn ich eingangs sagte, der Mensch sei das Risiko der göttlichen Schöpfung, eben weil er unsägliches Leiden über andere Menschen und über die nicht-menschliche Kreatur bringen kann, dann wird man, wie es in der gegenwärtigen Debatte geschieht, die Frage noch schärfer stellen müssen: ­Hätte Gott auf die Erschaffung des Menschen verzichten sollen? Denn wer Gott, wie dieser Einwand unterstellt, die Existenz moralischer Übel anlastet, der „wirft ihm indirekt die Erschaffung der Menschheit vor, denn die Möglichkeit dieser Übel gehört zur Natur des Menscheins“.99 Doch wer für den Verzicht auf das Risiko menschlicher Verantwortung plädieren wollte, müsste damit eo ipso die Existenz des biblischen Gottes bestreiten, der sich nun einmal für dieses Risiko entschieden hat. Es ist ein Dilemma: Wäre die Willensfreiheit eine bloß marginale Eigenschaft des Menschen, die seinen Kern nicht berührt, dann wäre die FreeWill-Defense gescheitert. Wenn sie aber für unser Menschsein und unser Selbstverständnis konstitutiv ist, andernfalls wir über diese Probleme gar nicht reflektieren könnten, dann ist mit diesen Überlegungen noch nicht das letzte Wort zur Sache gesprochen. Denn „man kann nicht an Gott glauben und seine Schöpfung ablehnen“, man kann aber auch „nicht an die Menschwerdung Gottes glauben und gleichzeitig den Unwert des Menschen behaupten“.100 99 100

Kreiner, a.a.O. 263. Ebd., 263.

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

Um den angedeuteten atheistischen Schluss zu vermeiden, hat Swinburne die alte Frage: Si Deus bonus, unde malum? noch einmal aufzurollen versucht. Die zu erwartende Antwort lautet: Auf keine andere Weise (als um den Preis des Übels) hätte Gott das Gut der menschlichen Freiheit verwirklichen können. Die Begründung freilich steht in einer kaum zu vermittelnden Spannung zu dem bisher entwickelten Ansatz. Denn die Übel, erklärt Swinburne, sind nicht erst Folge unserer bösen Entscheidungen, sondern deren geradezu logische Voraussetzung, und zwar ist hier nicht nur von moralischen (von uns selbst verursachten), sondern auch von natürlichen Übeln (Erdbeben, Hungersnöte) die Rede: „Natürliche Übel sind notwendig, damit frei handelnde (menschliche) Wesen die Freiheit gewinnen, Güter und Übel herbeizuführen.“101 Erst die Erfahrung fremden Leids (etwa einer Überschwemmungskatastrophe) bringt uns dazu, Geduld, Mitgefühl oder Dankbarkeit zu entwickeln. Wir müssen die Folgen selbst- und fremdverschuldeten Handelns kennen, um zu wissen, wie wir Übel verhindern (oder selber verursachen), d.h. ein ethisch relevantes Freiheitsvermögen ausbilden können. Die dazu notwendige Erfahrung werde uns deshalb noch vor allen eigenen guten oder bösen Taten am eindrücklichsten durch solche „natürlichen“ Übel vermittelt (über deren Notwendigkeit in einer von Gott geschaffenen Welt damit jedoch noch nichts gesagt ist). Diese Begründung entspricht sehr genau unserem naturgeschichtlichen Wissen: Menschliche Freiheit ist ein „Produkt der Evolutionsgeschichte“ und wäre deshalb tatsächlich „nicht möglich […] ohne natürliche Übel“.102 Sie sind, so verstanden, allerdings nicht der Preis der Freiheit, sondern ihre lebensweltliche Voraussetzung. 101 102

Swinburne , The Free Will Defense, 594. Dalferth, Malum, 66.

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3.3 Ist das Böse der notwendige Preis der Freiheit? (Platinga)

3.3 Ist das Böse der notwendige Preis der Freiheit? (Platinga) Die Verteidigung der Willensfreiheit, des nach der hier vertretenen Auffassung höchsten von Gott geschaffenen Gutes, hat ein vorrangiges Ziel: einen plausiblen Grund für die Existenz des Bösen in der Welt zu finden. Wäre es der notwendige Preis menschlicher Willensfreiheit, dann fiele es auf Gott als deren Schöpfer zurück. Doch lässt sich eine solche Verteidigung Gottes standfest begründen? Sie unterstellt, was a priori keineswegs selbstverständlich ist, dass das Böse im Menschen seine verborgene Wurzel hätte. Doch abgesehen davon gibt es, wie gezeigt, mehrere Gründe, die dagegen sprechen, einmal das existentielle Argument, Gott hätte aufgrund der Erschaffung unseres freien Willens das moralische Recht, Leiden in jeder Form zuzulassen (Dostojewski), sodann das theoretische Argument, ohne ein göttliches Vorherwissen sei die hier in Anspruch genommene „signifikante“ Freiheit nicht zu erklären (J.L. Mackie), und nicht zuletzt die soeben erwähnte Funktion der natürlichen Übel (Swinburne). Nun gibt es jedoch eine logisch sehr viel subtiler, um nicht zu sagen raffinierter ausgearbeitete Variante der Free-Will-Defense, die ich abschließend kurz vorstellen will. Sie stammt von A. Platinga, ist in der amerikanischen Debatte auf große Aufmerksamkeit gestoßen und erhebt den Anspruch, den hier zitierten Einwänden überlegen zu sein.103 Platinga geht mit Leibniz von der Annahme einer Vielzahl möglicher Welten aus, in denen sich Menschen trotz ihrer „akausalen“ Freiheit stets für das Gute entscheiden müssten. Gott weiß, welche Welten dies sind, sei aber – im Widerspruch zu Leibniz – trotz seiner Allmacht nicht imstande, eine dieser Welten zu aktualisiePlatinga, God, Evil and the Metaphjyscs of Freedom, 180-190. Ich folge der Darstellung von Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 300ff. 103

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

ren. Platinga erläutert seine These am fiktiven Beispiel eines Bürgermeisters Curley S., der eine hohe Bestechungssumme annimmt, um ein umstrittenes Bauprojekt auf den Weg zu bringen. Hätte Gott  – das ist die Frage – statt der realen Welt W, in der sich Curley bestechen lässt, eine andere mögliche Welt W* aktualisieren können, in der sich er unter denselben Umständen [mit seiner (akausalen) Freiheit] dazu entscheidet, den Bestechungsversuch zurückzuweisen? Die Antwort lautet: Nein! Denn die Welt W* hätte Gott nur aktualisieren können, wenn er Curley in dieselbe Situation hineingestellt hätte wie in W. Dort aber lässt sich Curley bestechen und sorgt somit dafür, dass W und eben nicht W* seine reale Welt bleibt. Hätte Gott ihn dazu bestimmen können, sich anders zu entscheiden? Auch hier lautet die Antwort: Nein! Denn dann wäre seine Entscheidung von außen beeinflusst, also nicht akausal frei, und seine reale Welt wäre wiederum W und nicht W*. Dasselbe gilt, so Platinga, auch in beliebigen anderen Situationen: Immer ist Curley frei, sich, anders als er es tut, gegen ein Bestechungsangebot zu entscheiden, und immer sind ohne Widerspruch auch Welten denkbar, in denen das tatsächlich möglich ist. Doch in jeder dieser Welten müsste Gott ihn in eine ähnliche Situation versetzen, und Curley müsste über Annahme oder Ablehnung frei entscheiden können. Ist er jedoch (wie hier vorausgesetzt) bis in die Wurzel hinein korrupt, so kann W* niemals aktuell werden. Verallgemeinert heißt das: Jeder göttliche Versuch, eine mögliche Welt zu aktualisieren, in der von freien Wesen nur gute Entscheidungen getroffen werden, muss misslingen. In dieser Version ist das Böse tatsächlich der Preis der Freiheit, ohne dass man Gott dafür haftbar machen könnte. Leibniz’ Argument, Gott hätte eine andere Welt W* aktualisieren können, in welcher in diesem hypothetischen Fall nur gute Entscheidungen möglich sind,

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3.3 Ist das Böse der notwendige Preis der Freiheit? (Platinga)

träfe nicht zu. Dies vorausgesetzt, ist Platingas Verteidigung konsistent. Und doch enthält sie – so der scharfsinnige Nachweis Hermannis – einen schwerwiegenden Fehler. Sie unterstellt, „dass Curleys faktische Entscheidung [sich bestechen zu lassen], den Möglichkeitsstatus verändert, den W und W* hatten, bevor er sich entschied“.104 Vor seiner Entscheidung waren beide, W und W*, mögliche Welten, die gleichermaßen wirklich werden können. Diese Symmetrie müsste sich nun in eine Asymmetrie verkehrt haben, eine „rückwirkende Verwandlung des Möglichen durch das Tatsächliche“ (was unmöglich ist) derart, dass W* aus dem Möglichkeitsstatus nicht (was vordem gelten sollte) in den Status der Wirklichkeit hätte überführt werden können. An dieser Unstimmigkeit muss zuletzt Platingas in sich eindrucksvoller Versuch scheitern. Damit ist zweierlei gesagt. (1) Es bleibt dem hier vorausgesetzten Ansatz gemäß dabei, dass Gott sehr wohl eine Welt hätte schaffen können, in der freie Wesen ihre Freiheit nur zum Guten gebrauchen. Also kann das Böse unmöglich der Preis der Freiheit sein. Das wiederum bedeutet: Es kann seine Wurzel nicht schon im freien Willen des Menschen haben. Darauf werde ich im III. Teil zurückkommen. (2) Wenn aber das Böse nicht primär auf der Seite des Subjekts zu verorten ist, dann gehört es als ein integraler Bestandteil zur Verfassung unserer Welt. Es ist nicht Preis der Freiheit, sondern der Preis für das Dasein der Schöpfung. Ist deren Existenz gleichwohl besser als ihre Nichtexistenz, dann hat sich Gott mit dem Entschluss, eine Welt zu erschaffen, nicht für ein Übel, sondern für ein herausragendes Gut entschieden. Auf dieser schöpfungstheologischen Linie, ihr Gefälle bis zum verheißenen eschatologischen Ziel gleichsam 104

Ebd. 304.

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3. Das Argument der Willensfreiheit (Free-Will-Defense)

vorwegnehmend, bewegt sich der epochale Entwurf John Hick‘s „Evil and the God of Love“ (1966), auf den abschließend wenigstens noch hingewiesen sei. Statt mit Augustin und seinen modernen Erben den Freiheitsmissbrauch, das Datum des Sündenfalls, zum Ursprung aller Übel zu erklären, geht er mit Irenäus von der theologischen Differenz zwischen imago und similitudo Dei aus. Wird dieser Unterschied zwischen bloßer Gottesbildlichkeit und Gottähnlichkeit in der verheißenen neuen Welt nicht aufgehoben? Hier und jetzt – so lautet die These – initiiert er einen zielgerichteten Prozess fortschreitender Seelenbildung (soul-making), der erst im Eschaton verwirklicht sein wird, und dieser Prozess erweist sich als Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen John Hick’s: „Wer das Ziel der Güte (goodness) erreicht, indem er sich Versuchungen aussetzt und sie eventuell auch meistert, indem er in konkreten Situationen eine verantwortliche Wahl trifft, ist in einem reicheren und wertvolleren Sinne gut, als wenn er von Anbeginn im Zustand der Unschuld und Tugend erschaffen wäre.“105 Dementsprechend richtet sich die Freiheit der Entscheidung zum Guten auf das von Gott intendierte Ziel der Entwicklung der Sittlichkeit aus. Die Theodizee, betont Hick, kann nicht nach rückwärts blicken und die Erklärung des Übels in dessen Ursprüngen aufsuchen. Sie muss im Vertrauen auf Gottes unendliche Liebe zu seinen Kindern die Lösung dieses Rätsels von der „vielleicht vollständigen Erfüllung des göttlichen Vorsatzes erwarten“, dass nämlich am Ende dieses Wachstumsprozesses Menschen in Freiheit das Gute wählen werden. Dieses Ziel ist es wert, Leiden und Übel in Kauf zu nehmen: In der „freudigen Teilnahme an der vollendeten Schöpfung werden Leiden, Kämpfe und Entbehrungen gerechtfertigt erscheinen durch ihren 105

Hick, Evil and the God of Love, 302.

100

3.3 Ist das Böse der notwendige Preis der Freiheit? (Platinga)

Ertrag“.106 Unumwunden formuliert: Um eine Welt zu erschaffen, in der sich am Ende Menschen zu moralisch verantwortlichen Wesen entwickeln können, musste Gott die Existenz von Übeln in ihr zulassen. So sympathisch diese Lösung anmutet, die sich auf manches Zeugnis der christlichen Frömmigkeitsgeschichte berufen kann, sie wird den Philosophen kaum überzeugen können. Denn wer wird oder muss sich gar angesichts von Übeln und (unschuldigem) Leiden dazu entscheiden, moralisch gut zu leben? Und selbst wenn das im Einzelfall möglich wäre: Wie wenig Menschen wird es geben, die dieses Ziel schon zu ihren Lebzeiten erreichen oder mit dem Ausblick auf eine von Gott herbeigeführte Zukunft ihre Gegenwart „meistern“ können? Wer sich hierfür auf die christliche Tradition beruft, steht zudem vor der Frage, ob dieses Ziel „aus eigener Vernunft und Kraft“ überhaupt erreichbar ist. Bedarf es dazu  – nach 2 Kor 1,12 oder Hebr 13,9  – nicht der göttlichen Gnade? Dann aber wäre, philosophisch geurteilt, die Freiheit des Willens unterlaufen und ihrer Verteidigung die Stütze entzogen. Der Wille wäre nicht mehr „unverursacht“ (akausal) frei. Hier gehen die Wege von Philosophie und Theologie auseinander.

4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz Das Interesse der Theodizee gilt, mit einer prägnanten Formulierung Dalferths gesprochen, der „Erfahrungskritik am Gottesglauben bzw. der Widerlegung dieser Kritik“. 107 In den hier vorgestellten Entwürfen wird die 106 107

Ebd., 340. Dalferth, Malum, 34.

101

4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz

Welterfahrung aufgeboten, um das Reden von Gott und den Glauben an ihn auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen: Kann man angesichts des Zustandes unserer Welt, der überwältigenden Präsenz von Leid und Übeln, überhaupt (noch) an Gott glauben? Kann man ihn, den Schöpfer dieser Welt, freisprechen von der Verantwortung für das Unheil der Erde und ihn in dieser Weise rechtfertigen angesichts der Vorwürfe, welche die Erwartung an eine von der „höchsten Weisheit“ geschaffene Welt gegen ihn erhebt? Diese in der klarsten und umfassendsten Weise bereits von Leibniz gestellten Fragen kehren in vielfachen Modifikationen in der gegenwärtigen Diskussion wieder. Ob und wie sie beantwortet werden, ob also das Ziel einer Rechtfertigung Gottes gelingt, das hängt – so zeigte sich durchgehend – von den Voraussetzungen ab, die in diese Auseinandersetzung einfließen. Es entscheidet sich an dem in einer bestimmten Weise verstandenen Gott, an dem Verständnis der in einer bestimmter Weise vorgestellten Welt und der in ihr namhaft gemachten Übel und nicht zuletzt an der Tauglichkeit des hier in Dienst gestellten Instruments der Logik, die die Argumentationsgänge (in ihren vermeinten oder wirklichen Widersprüchen) bestimmt. Deshalb sollen die Basis-Entscheidungen, die im philosophischen Diskurs gefallen sind, und die Schwierigkeiten, die die Bewältigung der Theodizee seit Leibniz begleitet haben, hier in kritischer Absicht hier noch einmal vergegenwärtigt, werden.

102

4.1 Die Frage nach Gott

4.1 Die Frage nach Gott Das philosophische Argument misst Gott an den traditio­ nellen „theistischen“ Attributen der Allmacht, Allgüte oder Allwissenheit, d.h. an den metaphysischen Bestimmungen, die sich von jeher mit der Vorstellung einer Erstursache (prima causa) und eines zuhöchst Seienden (ens realissimum) verbunden haben. Biblisch ist das hier vorausgesetzte Gottesbild nicht, wie sich gerade an dem umstrittensten dieser Attribute, der Allmacht, zeigen lässt. Geht man den Texten nach, auf die sich die hier maßgebliche theologische Tradition beruft, so findet man als älteste Vulgata-Belege Stellen wie Gen 17,1 oder Hiob 6,4 („Deus omnipotens“). Dort aber steht im hebräischen Urtext: „Ich bin El Shaddaj“, also kein Prädikat, kein Attribut, sondern ein Name, derselbe Name, der dem Gott vorbehalten bleibt, mit dem es Hiob in seinen Anklagen zu tun hat. Dieser von späteren Übersetzern offenbar nicht mehr verstandene Name wurde in das biblischem Denken völlig fremde Sprachfeld religiöser Herrschaft und politischer Unterwerfung hineingestellt. Hier müsste er (und so ist es faktisch geschehen) den „Alleskönner“ bezeichnen, dem nichts unmöglich ist, weil er seine schrankenlose Macht gegen jedermann durchsetzen kann. Will man hingegen dem Wort „allmächtig“ einen biblischen Sinn abgewinnen, so wird man am ehesten an die Macht denken müssen, die auch an vergangene Leiden zu rühren vermag und sich darin als Gerechtigkeit erweist, oder man wird es  – besser noch – als „Macht über seine Macht“ verstehen, als eine Macht, die sich etwa in Gottes „Reue“ (Gen 6,6) um des Menschen willen beschränkt. Einzig in der visionären Vorwegnahme der Aufrichtung des zukünftigen Gottesreiches in der Johannes-Apokalypse (19,6 u.ö.) findet sich das authentisch (im Sinne unbeschränkter Macht) gebrauchte Attribut „pantokrator“. Denn wer auf die Erlösung der Welt hofft, wartet auf einen Gott, der im An103

4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz

gesicht gottfeindlicher Mächte seine Macht bewahrheiten wird. Er kann auf das hier eschatologisch verstandene Prädikat nicht verzichten. Hinzu kommt ein spezifisch neuzeitliches Problem: Mit Nietzsches Proklamation des „Todes Gottes“ erledigt sich die Allmachtsthese von selbst. Nun ist es der Mensch, der angesichts von Leid und Übeln der Welt einer Rechtfertigung bedarf. Theodizee wird zur Anthropodizee. So stellt die neuzeitliche Autonomiethese den vorläufig letzten Versuch dar, das alte Problem zu bewältigen Sie geht davon aus, dass der Mensch es ist, der seine Welt erschafft. Denn was gäbe es, das er nicht machen könnte! Auch das theologische Bewusstsein stimmt gelegentlich in diesen Ton ein. Die „anfangende Bewegung auf die Erlösung zu“, dekretiert Dorothee Sölle, muss von der Welt aus geschehen. Wir dürfen sie nicht länger „von außen oder von oben“ her erwarten.108 Das Pensum der Schöpfung und der Erlösung müssen wir selber bewältigen. Damit rückt der Geschichtsbegriff als Begriff des sich produzierenden Menschen ins Zentrum moderner Selbst­vergewisserung. Die Konsequenz hat Odo Marquard bündig formuliert: Mit der Entlastung Gottes durch die Belastung des Menschen erweist sich diese Autonomiethese sozusagen als ein „Atheismus ad maiorem Dei gloriam. Da wird sozusagen der Schluss von der Güte Gottes auf seine Nichtexistenz gezogen: zur Entlastung Gottes wird der Mensch betraut mit der Schaffung und Erlösung der Welt. Und das Resultat des Ganzen ist dann kurz gesagt dieses: Theodizee gelungen – Gott tot.“109 Im philosophischen Gebrauch sind die klassischen Attribute zeitlose Bestimmungen, die sich als „Probierstein“ der Wahrheit (Kant) an und in jeder Situation bewähren sollen. Spricht die Theologie jedoch von Gott 108 109

Sölle, Leiden, 179. Marquard, Schwierigkeiten beim Ja-Sagen, 97f.

104

4.1 Die Frage nach Gott

als Schöpfer, Versöhner oder Befreier, von seiner Macht oder seiner Güte, so redet sie in Begriffen, die einen Zeitindex mit sich führen, die also sehr verschiedene, sich wandelnde Situationen und Umstände voraussetzen. Es liegt auf der Hand, dass die Frage, was dieser Gott zum Verständnis des Bösen und zum Umgang mit ihm beiträgt, in beiden Fälle zu sehr verschiedenen Ergebnissen führen muss. Wittgenstein würde von unterschiedlichen „Sprachspielen“ reden. Das philosophische Sprachspiel ist so konstruiert, dass es Gott von vornherein in einen absoluten Gegensatz zu den Übeln und Leiden der Erde bringt und ihn dadurch zugleich unter Bedingungen stellt, wie sie die syllogistischen Fassungen der Theodizee-Argumente belegen: „Wenn es ein allmächtiges, vollkommen gutes und weises Wesen gibt, dann verhindert es alle Übel und Leiden […] Wenn Gott existiert, [dann] gibt es keine Übel und keine Leiden.“ Die derart formalisierten Argumente leben von dem Widerspruch zwischen Gott und den Übeln dieser Welt, die – das ist der entscheidende Punkt – auf derselben semantischen (und logischen) Ebene des „es gibt“ verortet werden. Gibt es Gott, dann gibt es keine Übel; gibt es Übel, dann gibt es keinen Gott. Eine so reflektierte Bestimmung, wie die klassische Dogmatik sie angeboten hat: „Das Böse ereignet sich contra Deum [gegen ihn], aber nicht praeter Deum [außerhalb von ihm]“110, es kann sich seinem Einfluss nicht entziehen, sucht man hier vergeblich. Stattdessen wird hier der Versuch unternommen, eine religiöse Aussage durch externe empirische Gründe und Beweise – das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Übeln – zu stützen oder zu widerlegen, also die Existenz Gottes zu einer experimentell entscheidbaren Streitfrage zu machen. Damit aber gerät Gott in den Status einer Hypothese. 110

Dazu s. Teil III, 2.1.

105

4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz

Wenn ich in diesem Zusammenhang von verschiedenen „Sprachspielen“ rede, dann geht es nicht nur um die „Bedeutung eines Wortes“ [‚Gott’] in seinem „Gebrauch in der [philosophischen] Sprache“, sondern, was für Wittgenstein nicht weniger wichtig ist, darum, dass Worte und Sprache, um verstanden zu werden, in Lebenskontexte und Lebensmuster eingebettet sein müssen, und abgesehen davon unter keinerlei Bedingungen stehen. So ist religiöses Reden, das nach einem erfahrungsgerechten Verständnis von Gott sucht, immer in bestimmte Lebensvollzüge (Gebet, Dank, Glaube, auch Zweifel) eingebunden. Diese Sprachmuster aber stehen dem Philosophen nicht zur Verfügung. Er fragt nach Gott (wenn er denn fragt) wie nach einem Gegenstand menschlichen Interesses unter anderen. Andreas Krebs kommentiert: Er „wägt die Argumente, die Gottes Existenz begründen könnten, nüchtern gegen jene, die ihr widersprechen. Wäre [ihm] zu verdenken, dass er […] zu einem negativen Schluss gelangt? Vom Gläubigen fordert er nun vielleicht Gründe, die ihn zu einem anderen Ergebnis führen könnten. […] Ließe der sich darauf ein, so müsste er etwa – statt Gott zu preisen  – Spuren von Sinn und Erfüllung aufaddieren, und davon – statt vor Gott zu klagen, zu bitten oder zu hadern – die Summe von Sinnlosigkeit und Leiden abziehen. Ein positives Ergebnis spräche dann vielleicht für den ‚intelligenten Urheber’; ein negatives, das ich für wahrscheinlicher hielte, für das ‚blinde Schicksal’. Doch beide Begriffe sprechen von ‚Gott’(oder seinem Nichtvorhandensein), als beträfe es ein Stück Welt. Sie sprechen also gar nicht von Gott.“111

4.2 Die Frage nach dem Bösen Wird die Welt an dem Anspruch gemessen, Schöpfung eines vollkommenen Gottes und seiner „höchsten Weisheit“ zu sein, dann treten Ist- und Soll-Zustand in 111

Krebs, Halbes sagen – Halbes Verstehen, 60.

106

4.2 Die Frage nach dem Bösen

einen nicht zu überbrückenden Gegensatz auseinander. Denn hat Gott mit dem Bösen nichts zu schaffen, dann wird durch dessen unleugbare Existenz seine Schöpfung diskreditiert. Leibniz konnte mit dem ­Theorem des metaphysischen Übels dem Bösen noch ein legitimes Daseinsrecht in der Welt zugestehen. Denn die bloße Möglichkeit, fehlbare („böse“) Menschen zu erschaffen, geht auf Gottes Entscheidung zur Schöpfung einer endlichen und darum unvollkommenen Welt zurück. Die Konsequenz scheint unvermeidlich zu sein, ihn aus der Verantwortung für alle Übel der Welt nicht zu entlassen. Doch Leibniz argumentiert anders, und darin sind ihm seine modernen Erben ­gefolgt: Gott kann, wenn er denn seinem Begriff als „höchste Vollkommenheit“ entspricht, nur Gutes schaffen. Als wirksame Ursache (causa efficiens) des Bösen kommt er daher nicht in Betracht. Das Böse kann nur vom Guten her verständlich gemacht werden, und zwar als dessen Mangel (privatio boni), als Folge einer „versagenden“ Ursache (caus deficiens), wie es in scholastischer Terminologie heißt. Es liegt immer an etwas Gutem vor wie die Krankheit am gesunden Körper. Die Wahrnehmung des malum ist an die Präsenz des bonum gebunden – eine für sich genommen plausible Auskunft. Wir brauchen einen lebensweltlichen Erfahrungshintergrund, den Kontrast des Guten, um das Böse überhaupt zu erkennen. Hier geht es um einen naturphilosophischen Sachverhalt, der sich nicht auf Logik oder Semantik reduzieren lässt.112 Wo also liegt das Problem? Hermanni erklärt nicht ohne Grund, Leibniz habe „den Begriff des Bösen zerstört“113, ihn gewissermaßen um seinen Eigensinn, das ihm innewohnende zerstörerische Potential, ge112 113

Dalferth, Malum, 127f. Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 139.

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4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz

bracht. Als „Mangel“ jedenfalls bleibt es phänomenal unterbestimmt. Als eine ernsthafte Anfrage an Gott kommt es daher nicht in den Blick, weshalb sich auch die Frage nach seiner Überwindung erst gar nicht stellt. Es gehört auf die Seite erträglicher Unvollkommenheit. Es wird metaphysisch verrechnet. Indessen kann man wohl fragen, ob der kategoriale Unterschied zwischen göttlicher Vollkommenheit und geschöpflicher Unvollkommenheit überhaupt (und nur) diese Interpretation zulässt. Kann die Geschöpflichkeit des Menschen, sein unendlicher, qualitativer Unterschied zu Gott im Ernst als Unvollkommenheit und Mangel beschrieben werden? Das ist alles andere als plausibel. Dalferth hat zu Recht von einer „Fehlbestimmuing“ des malum metaphysicum gesprochen. Denn die Pointe der Schöpfung ist nicht die Erkenntnis, dass der Mensch kein Gott ist, sondern, „dass er das Glück hat zu sein, obwohl er nicht sein müsste und [auch] nicht sein könnte“.114 So gesehen ist das metaphysische Übel für ihn kein Defizit, sondern „gerade umgekehrt ein unendlicher Gewinn: der Gewinn, überhaupt zu sein und nicht vielmehr nicht zu sein, nämlich als ein kontingentes Wesen zu existieren.“115 Aus freilich anderen Gründen hat die Privatio-These in der Neuzeit ihre Plausibilität verloren. Sie setzt einen wertbestimmten, ontologisch abgestuften Kosmos voraus, dem die naturwissenschaftliche Erforschung die Basis entzogen hat. Seit Galilei und Descartes ist an dessen Stelle ein homogener Gesetzeszusammenhang getreten, der keine inneren Qualitäten wie Güte oder Gerechtigkeit mehr kennt. „Kosmologisch“ also lässt sich die Privatio-These nicht mehr formulieren. Was sie geltend machen wollte, wandert auf die Seite des Subjekts. Ihre Erbschaft hat Kant mit seiner Lehre vom „radikal Bösen“ 114 115

Dalferth, Malum, 209f. Ebd., 192.

108

4.2 Die Frage nach dem Bösen

angetreten, das „den Grund aller Maximen verdirbt“.116 Der subjektive Wille wird durch einen „natürlichen Hang zum Bösen“ seiner guten Richtschnur gleichsam „beraubt“ und erweist sich dadurch als Grund alles bösen Handelns und Tuns. Hier wird das Böse anthropologisch verrechnet – mit der Folge, dass seine Existenz in einer bis dahin unbekannten Schärfe nun zum Grund der Anklage gegen Gott werden kann, der als Inbegriff alles Guten es aus seiner Schöpfung hätte ausschließen müssen. Folgerichtig meldet sich das Böse in modernen Entwürfen als das schlechthin Nicht-Sein-Sollende, dessen Vorhandensein das Dasein eines göttlichen Schöpfers au fond in Frage stellt. Von einer Rechtfertigung Gottes kann auf dieser Basis offensichtlich keine Rede sein. Hinter dieser „Erledigung“ des Problems tritt die Suche nach einem phänomenal angemessenen Verständnis des Bösen ebenfalls fast ganz zurück. Nur so viel wird deutlich: Das Böse manifestiert sich am augenfälligsten im Leiden. „Böses tun heißt einem anderen Leid zufügen“, sagt Paul Ricœur.117 Das scheint das gemeinsame Kennzeichen des physischen und des moralischen Übels zu sein. Nähme man das Leiden jedoch zum hermeneutischen Schlüssel, die Wirklichkeit des Bösen zu verstehen, dann müssten sich gerade die Züge aufdecken und namhaft machen lassen, die bei Leibniz unbeachtet geblieben sind, insbesondere die Notwendigkeit, sich einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven zu vergewissern. Denn das Böse ist so wenig wie das Leiden ein einfacher Tatbestand, sondern tritt immer in einem größeren Zusammenhang von Erlebnissen und Sinnzuschreibungen auf  – anders beim Unfall, anders bei einer Krankheit, wieder anders bei erfahrenem Unrecht – und kann deshalb niemals als eine isolierte eigenständige Re116 117

Kant, Die Religion,, B 35, (Weischedel VI, 685). Ricœur, Le Mal, 39.

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4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz

alität betrachtet werden. Immer stellt sich die Frage nach seinem Anlass, der Situation seines Auftretens, der Art seiner Verursachung und an erster Stelle die Frage nach den von ihm Betroffenen, ihrer Wahrnehmung und ihrer Deutung. Das lässt einen weiten Interpretationsspielraum zu und nötigt zur Zurückhaltung: Nicht jedes Leiden – etwa Wachstumsschmerzen oder leidvolle Reifungsprozesse – ist böse, ein Übel, und umgekehrt weiß das Böse – man denke an Kriegspropaganda oder an Verrat – sich auch andere Wege zu suchen.118

4.3 Das Problem der Perspektive Jenseits der hier notierten Anfragen gibt es eine Reihe von impliziten Voraussetzungen, die in diesen Entwürfen nicht eigens ausgewiesen und begründet werden. Am auffälligsten ist der hier gewählte Blickpunkt sowohl der klassischen wie der modernen Theodizee-Darstellungen. Der Philosoph tritt dem Weltgeschehen in der Rolle des Zuschauers gegenüber. Er betrachtet das Drama der Auseinandersetzung von „Gott“ und „Welt“ aus der Distanz des Beobachters, ohne selber darein verwickelt zu sein. Er kennt nur eine Perspektive, unter der er das Ganze des Weltlaufs meint überschauen und erklären zu können, den Blick von außen, die Vogelperspektive. Gut und Böse werden im Gesamt der Welterfahrung verrechnet (in der von Leibniz inspirierten Hoffnung, die Bilanz wenigstens mit einem Überschuss des Guten abschließen zu können). Doch lassen sich die hier relevanten Phänomene tatsächlich in dieser Weise gleichsam objektiv sortieren und auseinanderlegen? Lehrt uns nicht alle lebensweltliche Erfahrung, dass gut und böse immer nur in Relation zu den jeweils Betroffenen, 118

Dazu s. Teil III, 1.

110

4.3 Das Problem der Perspektive

d.h. nur für jemanden, also nur in den jeweils verschiedenen Perspektiven erkennbar werden, unter denen sie „vor Ort“ beurteilt werden, wie die alte Spruchweisheit sagt: „Wat dem ein’ sin Uhl, is dem andern sin Nachtigall“? Immer kommt es auf den besonderen Erfahrungshintergrund an, in dem sich bestimmte Phänomene für jemanden zur „Welt“ (und allenfalls zur „bestmöglichen“ Welt) zusammenfügen. Ein Letztes: Lässt sich – dies alles erwogen – Gott auf der Basis der hier dargestellten philosophischen Entwürfe rechtfertigen angesichts der unbestreitbaren Übel unserer Erde? Die von Leibniz vorgetragene Antwort steht und fällt mit der Interpretation des von ihm postulierten „metaphysischen“ Übels, der kategorialen Differenz von Gott und Welt. Sie beruht ihrerseits auf einem bestimmtes Gottesbild und einem bestimmten Gottesglauben: der Überzeugung, dass Gott, wenn er denn existiert, sich bei den Attributen der Allmacht, Allwissenheit und Allgüte behaften, sich auf sie festlegen lassen müsse. Diese Prämisse bestimmt noch die avanciertesten Theodizee-Entwürfe der Gegenwart. Keine der hier geltend gemachten weiteren Basisannahmen  – sei es die Erschaffung der Welt, in der es freie Wesen gibt, sei es die Herkunft des Bösen aus dem Freiheitsmissbrauch oder die Einschätzung, dass diese Konfiguration besser sei als eine Welt ohne freie Geschöpfe – hätte Bestand ohne die „theistische“ Voraussetzung eines in dieser Weise „absolut vollkommenen“ Gottes. Sie gehört seit der Antike zu den Grundpfeilern des kosmotheologischen Nachdenkens über die Welt. Die Berechtigung dieser Generalprämisse aber wird weder geprüft noch auch nur diskutiert. Sie wird aus dem Axiom, dass Gott der erste und letzte Grund der Dinge ist (première rai-

111

4. Rechtfertigung Gottes auf dem Prüfstand. Eine Bilanz

son des choses119), abgeleitet. Die Existenz dieses Gottes und die These der bestmöglichen Welt ziehen einander im Zirkel zur gegenseitigen Begründung heran. Das hat zur Folge, dass sich das Böse hier nur als ein logisches, nicht aber als das, was es in unserer Welterfahrung ist, als ein existentielles Problem, melden kann, als eine Störung, die in die gute Schöpfung Gottes einbricht. Denn so, d.h. im Horizont biblischer Schöpfungstheologie verstanden, ist das Böse kein notwendiges Übel, sondern trotz seines epidemischen Auftretens eine kontingente, d.h. eine prinzipiell vermeidbare Tatsache, an deren Stelle auch etwas anderes treten könnte: die dem biblischen Glauben erschlossene Gewissheit, dass Gott das Böse durch Gutes überwinden kann. Eine Rechtfertigung Gottes, die diesen Namen verdient, muss sich auf die Suche nach einem von menschlicher Erfahrung geleitetem, ihr entsprechendem Verständnis dieses Gottes begeben. Hier müssen die theologischen Überlegungen beginnen.

119

So: Leibniz, Theodizee I, n.7; Gerhardt 6, 106.

112

II. Biblische und theologische Entwürfe

Einleitung: Die Frage nach der Rolle Gottes im Theodizee-Prozess Dass die Theodizeefrage ein theologisches Problem sein könnte, ist oft bestritten worden, kann es im Raum der Theologie doch nicht die Vernunft sein, die, sich gleichsam über Gott stellend, den Versuch einer Rechtfertigung der „höchsten Weisheit“ unternimmt, sondern nur der Glaube, der sich die Antwort auf die dunklen Rätsel des Lebens, namentlich auf die Frage nach Herkunft und Reichweite des Bösen, von Gott selbst geben lassen muss. Doch das schließt nicht aus, liegt vielmehr in der besonderen Problemstellung begründet, dass die Fragefelder der Philosophie und der Theologie keineswegs so weit auseinander liegen, wie ein traditionsgebundenes Denken annehmen mag. Nicht umsonst steht das Drama Hiobs – zugespitzt auf das Problem des Menschen zugemuteten Leidens – nach wie vor im Zentrum beider Erkenntnisbemühungen.120 Bis zum Gegensatz unterschieden sind jedoch die Perspektiven, unter denen diese Problemfelder hier wie dort wahrgenommen werden. Statt der distanzierten philosophischen Reflexion steht in den Erzählungen und Szenen der biblischen Tradition der mit Gott unmittelbar konfrontierte, von ihm herausgeforderte und mit ihm streitende Mensch selber im Vordergrund, der mit seinem Zweifel, auch mit seinem Protest und seiner Klage, gar nicht den Abstand gewinnen kann, den man Reichliche Belege finden sich bei Oelmüller (Hg.), Neue Diskussionen zur Theodizeefrage. 120

113

Einleitung

wohl braucht, um sich auf einer theoretischen Ebene mit diesem Gott auseinanderzusetzen. Aus der Frage nach dem Bösen und den Übeln dieser Welt wird Gott hier erst recht keinen Augenblick entlassen. Im Gegenteil. Hier wird das „Problem der Verantwortung Gottes für das Böse in aller Schärfe gestellt“, freilich, wie Jürgen Ebach notiert, auch „in derselben Schärfe offen gelassen“.121 Gleichwohl gibt es biblische Aussagen, die es mit der Auflösung dieses quälenden Rätsels zu einer letzten Eindeutigkeit zu bringen versuchen, so etwa das Wort des zweiten Jesaja, gesprochen im Rückblick auf die Katastrophe des Exils: „Ich bilde das Licht und schaffe die Finsternis, ich vollbringe Heil und schaffe Unheil; ich Jhwh, bin es, der all dies vollbringt“ (Jes 45,7). Und das heißt doch wohl: Es gibt keinen Bereich unserer Wirklichkeit, weder Krankheit noch materielle Not, weder Natur- noch Geschichtskatastrophen, die dem Wirkungsbereich dieses Gottes entzogen wären. Im Licht – oder muss man sagen: im Schatten? – dieser Gewissheit bewegt sich das immer neu ansetzende Fragen der Bibel nach Ursprung und Sinn des uns zugemuteten Leidens, und immer ist es der Horizont konkreter Lebenspraxis und Lebensorientierung, in dem diese Frage in existenzbetroffener Wahrnehmung aufbricht. Das ist ein weiterer markanter Unterschied gegenüber dem Theodizeeprozess der Philosophie. Hier wird nach einem Verständnis Gottes gefragt, das imstande wäre, eigene und fremde Leiderfahrungen aufzuschließen, d.h. sie uns verständlich zu machen. Dabei werden die Existenz Gottes und der Glaube an ihn wie selbstverständlich vorausgesetzt. Das gilt selbst noch von einem Agnostiker wie Heinrich Heine, der sich, gefesselt an seine „Matrazengruft“, weigerte, den Adres121

Ebach, Theologische Frage nach dem Bösen, 143.

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Die Frage nach der Rolle Gottes im Theodizee-Prozess

saten seiner Not und seines Schmerzes sich ausreden zu lassen. Er bestand darauf, „dass es jemanden im Himmel gibt, dem ich beständig die Litanei meiner Leiden vorwimmern kann, besonders nach Mitternacht, wenn Mathilde sich zur Ruhe begeben, die sie oft genug sehr nötig hat. Gottlob! in solchen Stunden bin ich nicht allein, da kann ich beten und flennen soviel ich will, und ohne mich zu genieren, und ich kann ganz mein Herz ausschütten vor dem Allerhöchsten und ihm manches vertrauen, was wir sogar unserer eigenen Frau zu verschweigen pflegen.“122

So konzentriert sich die hier gestellte theologische Aufgabe auf zwei Fragen, auf die Frage nach Gott und auf die Frage nach dem Bösen als Frage nach Gott. (1) Die Frage nach Gott. In der hier aufbrechenden Frage geht es nicht „um den Versuch einer verspäteten, einer gewissermaßen trotzigen ‚Rechtfertigung Gottes’ durch die Theologie […]. Es geht vielmehr – und zwar ausschließlich – um die Frage, wie denn überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt, ‚seiner’ Welt.“123 Kein zweiter hat wie Johann Baptist Metz diese Frage der Theologie eingeschärft und an ihrer Präsenz Sinn und Ziel aller theologischen Arbeit gemessen. Sie ist „die Frage der Theologie […], auf die [sie] keine alles versöhnende Antwort, sondern für die sie immer neu eine Sprache suchen muss, um sie unvergesslich zu machen“. Sie wird, was vollends angesichts von Auschwitz keiner rein logischen Erörterung zu sagen möglich wäre, zur Frage nach einem „rettenden Gedächtnis für die Zukunft der Menschen“124 und verHeine, Sämtliche Schriften, Bd, VI/1, 476. Metz, Theodizee-empfindlicheGottesrede, 82. 124 Metz, Memoria passionis, 5. 122 123

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Einleitung

bindet sich bei Metz folgerichtig mit dem Entwurf einer politischen Theologie. Denn anders als in der dominanten augustinischen Tradition, die noch die moderne free-will-Debatte beerbt hat, löst nicht die Schuldgeschichte der Menschheit die Rückfrage nach Gott aus; sie wird vielmehr – vorwärts gewandt – vom biblischen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit geleitet. Das führt zu einer erheblichen Erweiterung des Themenfeldes, in das die Theodizeefrage nun einwandert und in dem sie hier aufgenommen werden soll. Statt in zeitloser Reflexion nach einer Gott entlastenden Lösung des Widerspruchs zwischen der von ihm vollkommen geschaffenen Welt und der offenkundigen Unvollkommenheit seiner Geschöpfe zu suchen, dringt sie im Zeichen der memoria passionis bis an die Orte vor, an denen Gott selbst sich den Übeln seiner Welt aussetzt. Damit rückt sie in den Horizont der Geschichte ein, lässt sich durch die Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden beunruhigen und nimmt den ältesten, an Gott gerichteten Schrei auf: „Wie lange willst du mich so ganz vergessen?“ (Ps 13,2) „Herr, wie lange willst du zusehen?“ (Ps 35,17) Sie wartet nicht darauf, dass einer da ist, der „erklärt, warum das alles so sei, oder gar, dass das alles so sein müsse“ – das Grauen, das Morden, die Gewalt –, sondern darauf, „dass es endlich aufhört“.125 Diese Frage wachzuhalten, ist die Aufgabe der Theologie. Wie aber ist sie zu stellen, wenn sie Gott nicht verfehlen, an ihm nicht vorbeireden, ihn also mit einem Koeffizienten des Weltgeschehens nicht verwechseln soll? Man muss von den Erfahrungen ausgehen, die Menschen dazu gebracht haben, von ihm reden zu müssen. Gewiss, auch metaphysische Begriffe wie All125

Ebach, Frage nach dem Bösen (Anm. 121), 159.

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Die Frage nach der Rolle Gottes im Theodizee-Prozess

macht oder Allwissenheit reden von Gott. Sie wollen dem Denken Orientierung geben, sind unvermeidliche Netze, mit denen wir Wirklichkeit einfangen, doch durch die Maschen dieser Netze pflegt genau das hindurchzufallen, worin wir die lebendige Spur unserer selbst wiederentdecken könnten. Unter der Voraussetzung des theistischen Gottesbegriffs verwandelt sich, wie gezeigt, die existentielle Frage fast zwangsläufig in ein spekulativ-theoretisches Problem – noch dazu mit der traurigen Pointe, dass eine „Welt voller Leid“ das Ergebnis ist, zu dem die logischen Schlussfolgerungen dieses Ansatzes führen.126 Man muss jedoch nur einen Blick in die Psalmen werfen, um zu sehen, dass die Rede über Gott aus der Rede zu Gott stammt, aus der Sprache des Gebets, die, wie Metz weiß, sogar „noch viel umfassender ist als die Sprache des Glaubens […], viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie […], viel beunruhigender, viel ungetrösteter, viel weniger harmonisch als sie“.127 Das Gebet korrigiert unsere abstrakten, von der Lebenswirklichkeit abgezogenen Gottesbilder und nimmt es mit jeder Erfahrung auf, sei sie noch so trostlos. Es kennt die Verborgenheit Gottes (Ps 30,8), seine Ferne, sein Schweigen (Ps 71,12; 39.13), sein Vergessen (Ps 42,10), sein Nicht-Hören und Nicht-Sehen (Ps 13,1-5). Es rechnet damit, dass er sich mit seinem Zorn und seiner Rache in die menschliche Geschichte ‚einmischt’ (Ps 94); es lobt nicht nur den uns zugewandten „lieben Gott“, es appelliert auch an den bedrohlichen, mit Gewalt gegen das Unrecht der Erde einschreitenden Gott (Ps 7,7; 137,9), um einer Welt Hoffnung zu geben, die bis heute an diesen Übeln leidet. 126 127

Kreiner, Gott im Leid, 47. Metz, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 98.

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Einleitung

(2) Die Frage nach dem Bösen als Frage an Gott.128 In der philosophischen Theodizee sind die Rollen eindeutig verteilt. Was wir von Gott erwarten können und müssen, ist das Gute, die Beseitigung aller Übel der Erde. Das Böse aber fällt auf die Seite des Menschen oder wird den Verkettungen des blinden Weltlaufs zugeschlagen. Derart eindeutige Festlegungen kennt die Bibel nicht. Sie erklärt in „gar nicht seltener, offener Bekundung, Gott tue Böses“129. Sie richtet also die Frage nach dem Bösen (sogar) an Gott selbst und ist bereit, den Schlüssel zur Interpretation bestimmter böser Welterfahrungen, von denen im Buch Hiob im Übermaß die Rede ist, eher bei ihm zu finden, als ihn in der Böswilligkeit von Menschen oder in eigener Fehleinschätzung widriger Umstände suchen zu müssen. Hier liegt die eigentliche Herausforderung eines theologischen Zugangs zum Theodizeeproblem. Wohl kann man fragen, ob das Böse besser verständlich, ob es gar erträglicher wird, wenn man Gott ins Spiel bringt. Doch gibt es gute Gründe dafür, diesen Weg einzuschlagen, um zu verstehen, „was einem da geschieht, und mit dem zu leben, was man nicht versteht“130 – statt völlig verstummen zu müssen, wenn alte Formulare des Redens und Rechtens mit Gott zerbrechen. Auf ein aussagekräftiges Beispiel dafür, dass und wie die biblische Überlieferung Gott in die Erfahrung des Bösen hineinzieht, hat Ebach in seiner Auslegung von Ex 5 hingewiesen, dem Bericht über die Verschärfung der Arbeitsbedingungen des auf seine Befreiung wartenden Volkes Israel in Ägypten.131 Die Erzählung schildert das anfängliche Misslingen des Mose gegebenen Auftrags (Ex 3,10), und zwar auf drei verschiedenen Ebenen, dem RollenverDazu ausführlich Teil III. Ebach, Theologische Frage nach dem Bösen, 155. 130 Dalferth, Malum, 355. 131 Dazu: Ebach, „Herr, warum handelst du böse an diesem Volk?“, 73-83. 128 129

118

Die Frage nach der Rolle Gottes im Theodizee-Prozess halten Pharaos, der israelitischen Aufseher und schließlich der Rolle des Mose – Ebenen, die sprachlich und sachlich miteinander verknüpft sind. Pharao handelt „böse an diesem Volk“ (V.23), die Aufseher erkennen, „dass es böse mit ihnen steht, weil man sagte: Ihr dürft eure tägliche Leistung an Ziegeln nicht vermindern“ (V.19). Sie wenden sich mit ihrer Klage an Pharao: „Warum verfährst du so mit deinen Knechten?“ (V.15), und auf diese bedrückende Realität geht Mose ein, indem er den Vorwurf der Aufseher aufnimmt und gegen Gott wendet: „Herr, warum handelst du böse an diesem Volk?“ (V.22). Er zieht Gott in die scheinbar hoffnungslose Situation hinein, indem er ihn in die böse Lage der Aufseher und in die Hartherzigkeit Pharaos verwickelt. Warum? Weil in der Befreiungs-Perspektive der Erzählung nur so ein angemessenes Eingehen auf die deprimierende Lage des Volkes möglich ist. Das offenbar muss als Kern der bedrückenden Umstände herausgehoben werden. Zur Erfahrung, die sich weiterzugeben lohnt, werden die ernüchternden Erlebnisse Israels erst in der Anklage des Mose. Hier zählt nicht das Faktum, die Ausweglosigkeit der Unterdrückung, sondern die Deutung, die die Möglichkeit des Wandels vorwegnimmt. Verstanden (im Sinne einer neuen Orientierung) wird das Scheitern daher erst dann, wenn es mit Gott zusammengebracht wird. Denn die Wahrheit, für die sein Name einsteht, lässt sich nicht einfach auf die Pole von „gut“ und „böse“, von „wahr“ und „falsch“ verrechnen, sie bewegt sich vielmehr, wie die Erfahrung selbst es tut, auf der Spanne zwischen „möglich“ und „wirklich“. Gerade deshalb kommt es jetzt zu der befremdlichen Identifikation: Pharaos und Gottes Handeln verschmelzen zu einem Geschehen. Pharaos böses Handeln wird in den Worten des Mose zu Gottes bösem Handeln. „So wird die Erfahrung von Menschen, dass Pläne scheitern und Hoffnungen zuschanden gehen können, zur Erfahrung und zur Frage an Gott.“132 Gott wird nicht um den Preis seiner Teilnahmslosigkeit oder Ohnmacht (modern gesprochen: um den Preis seiner Nichtexistenz) entschuldigt. Er geht mit uns – und vor uns – auf die deprimierende Realität ein in der Hoffnung, dass sie sich darüber wandle.

Die Erzählung hat eine Fortsetzung, die das Problem noch einmal verschärft, indem sie allem Anschein nach den beschriebenen Rollentausch eindeutig macht. Die 132

Ebd., 75.

119

Einleitung

Rede ist von der „Verstockung“ des Pharao, die den dramatischen Exodus des Volkes ungebührlich verzögert. Das Irritierende der Erzählung aber liegt darin, dass dieser Vorgang in wenigstens zwei Varianten berichtet wird. Neben der Aussage: Gott hat das Herz des Pharaos verstockt (Ex 7,3) steht die Aussage: Pharao selbst habe sein Herz verstockt (Ex 9,34). Auch hier handelt es sich um ein und dasselbe Geschehen, mit dem Unterschied freilich, dass man im Duktus der Erzählung die erste Aussage gar nicht anders verstehen kann, als sei die Schuldfrage damit eindeutig entschieden: Gott erscheint als das handelnde Subjekt, während Pharao angesichts eines übermächtigen göttlichen Willens in die Rolle eines bloßen Objekts hineingedrängt wird. Er ist lediglich ein Instrument im Machtkampf zwischen Gott und Mensch. Luther hat in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ energisch für diese Sicht der Dinge Partei ergriffen. Am Beispiel eines ähnlich gelagerten Falles – es geht um den Verrat des Judas – erklärt er: „Es lag nicht in seiner Hand oder in der irgendeines Geschöpfes, anders zu handeln […], sondern dies zu wollen, war das Werk Gottes, das er durch seine Allmacht in Bewegung setzte.“133 So geschieht Böses „unter Gottes Antrieb“. Er wird aus der Verantwortung für das Unheil der Welt nicht entlassen. Wie aber kann er einen Menschen bestrafen für das, was er selbst in ihm „angerichtet“ hat? – Dagegen steht nun die andere Aussage: Pharao selbst hätte sein Herz verstockt. Eine Ungereimtheit oder gar ein Widerspruch? Ehe man hier ein Entweder/Oder postuliert, sollte man der Überlieferung mit Ebach zugestehen, dass sie „beide Betrachtungsweisen“ präsentieren will, und fragen, was sie damit zu verstehen gibt. Kann man – gegen Luther – an der Willensfreiheit, also an der Verantwortlichkeit des Menschen festhalten, und dabei Gottes Part in Abrede stellen oder verleugnen? Man kann es, und man wird es sogar müssen, wenn man neben dem Willen der Person auch die Bedingungen und Zwänge des Rollenträgers Pharao in Rechnung stellt. Ebach spricht von einer „präzisen Unschärfe“, die die Kategorie der Verstockung 133

Luther, De servo arbitrio, WA 18, 715.

120

Die Frage nach der Rolle Gottes im Theodizee-Prozess zum Ausdruck bringt: Pharao will Israel nicht ziehen lassen, und in seiner Rolle als verantwortlicher Landesherr kann er es auch nicht. Verstockung, so zeigt sich, umgreift beides: „das Verhalten und seine Bedingungen, den Willen und seine Konditionierungen, die Freiheit und ihre Grenzen“; sie ist „Tun wider besseres Wissen“134, und gerade so steht sie im Dienst der Weltlenkung Gottes.

Überlässt man sich diesen Erzählungen und ihrem Bemühen, die schwierige Balance zwischen den Aussagen über Gott und über den Menschen zu halten, dann ist deutlich: Was theologisch zum Problem der Theodizee zu sagen ist, muss noch einmal neu und anders erfragt werden. Wenn Gerhard von Rad den hier angeredeten Adressaten als den „eigentlichen Widersacher“ sieht, der diesen Erzählungen „einfach das Recht bestreitet, so von Gott zu reden, wie sie es tun“, so hatte er das „tief eingewurzelte Leitbild von Gott“ vor Augen, dem man sich allzu unkritisch überließ.135 Hier müssen offenbar die Korrekturen einsetzen. Deshalb sollen in diesem zweiten Durchgang zuerst drei große biblische Erzählstränge zu Wort kommen, ehe ich die darauf sich beziehenden Entwürfe vorstellen werde.

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22) Zu den bleibend schwierigen, für jede Annäherung jedenfalls schwierigsten Texten der Bibel, die durch keine Reflexion eingeholt werden können, gehört die Erzählung von der „Opferung“ Isaaks. Eine radikalere Herausforderung unseres Gottesbildes als der Befehl, den eigenen Sohn der Gottheit auf dem Altar darzu134 135

Ebach, Theologische Frage nach dem Bösen (Anm. 2), 154. Von Rad, Das Opfer des Abraham, 39.

121

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22)

bringen, lässt sich nicht denken. Der von seinem Vater zum Brandopfer gebundene Isaak widerlegt alles, was menschliches Denken und Fühlen mit dem Namen „Gott“ verbindet. „Wie Gott am besten definieren, wie ihm in unserer Vorstellung annähernd Genüge leisten?“, so bringt eine moderne Nachzeichnung das ganze Befremden und die tiefe Ratlosigkeit auf den Punkt, die noch jeden heutigen Leser angesichts dieses Geschehens aus der Fassung bringen muss, und antwortet: „Haargenau als ein Wesen, das niemals von einem Manne verlangen würde, seinem Kind ein Messer in die Kehle zu stoßen.“136 Und doch oder gerade deshalb hat diese sperrigste Erzählung des Alten Testaments eine bis in unsere Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte entbunden. Im Judentum hält sie die Erinnerung an die Märtyrer des Glaubens in den nicht gerade seltenen Verfolgungszeiten, namentlich der hellenistischen Epoche unter Antiochus Epiphanes IV, wach (2 Makk 7) und ist als Metapher der Leidbewältigung in die Liturgie des Neujahrsfestes (Rosch Haschana) und des großen Versöhnungstages (Jom Kippur) eingebunden. Sie gehört zur Identität Israels und hat im Schatten der Shoa eine unvermutet neue Aktualität gewonnen. Im Christentum wird sie als typologisches Urbild auf den Sühnetod Christi zur Erlösung der Welt bezogen (Joh 3,16). Im Islam vergegenwärtigt sie als Festlegende des wichtigsten aller Gedenktage (Opferfest) und als Station im Wallfahrtsritual die unbedingte Bereitschaft Ibrahims, sich dem göttlichen Willen zu beugen (Koran, Sure 37, 99-109).

136

Steiner, Aschensage, 935.

122

1.1 Probleme der Auslegung

1.1 Probleme der Auslegung Die Schwierigkeiten der Interpretation, die sich in der Rezeptionsgeschichte spiegeln, beginnen mit der hier gewählten Überschrift: Wer ist die Hauptfigur dieser Geschichte? Die ältesten christlichen Auslegungen von Luther über Kierkegaard bis hin zu der wichtigen, den eindrucksvollen Erzählstil von Gen 22 würdigenden Arbeit Gerhard von Rads ordnen den Text in den Zyklus der Abrahamgeschichten ein. Sie orientieren sich an dem zentralen Motiv der Gottesverheißung des Landes und der Segenszusage an Abraham.137 Sie weisen darauf hin, dass sich das hier entfaltete Drama auf der Erzählebene als Gotteskonflikt zwischen Abraham und seinem Gott und nicht als Vater-Sohn-Konflikt zwischen Abraham und Isaak abspielt. Wenn demgegenüber jüngere Auslegungen Isaak ins Zentrum stellen, dann haben sie die Wirkungsgeschichte im Blick, in der das Judentum die Erinnerung an seine Märtyrer und seine Verfolgungen vielfach reflektiert hat. Isaak ist zum Symbol der Leidensgeschichte Israels geworden. Auf der Textebene hängt diese Entscheidung davon ab, welches Gewicht man etwa der oft beobachteten „Leerstelle“ am Ende der Erzählung (V.19) beimisst, angesichts der sich der rabbinischen Auslegung die Frage förmlich aufdrängt, ob Isaak denn wirklich mit „Abraham und seinen Burschen“ zurückgekehrt ist.138 Nicht zuletzt entscheidet sich die Deutung dieser Geschichte an der Frage, zu welcher Zeit sie in ihrer hier vorliegenden Fassung entstanden ist, und das heißt ja zugleich, auf welche Herausforderungen sie antworten will. Dass in ihrem Hintergrund die Bearbeitung eines alten kult(ur)geschichtlichen Problems sichtbar wird, Von Rad, Das Opfer des Abraham, 1976; auch Dalferth, Malum, 458ff. 138 Ebach, 15; Naumann, Die Preisgabe Isaaks , 43f. 137

123

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22)

die Ablösung des Menschenopfers und seine Ersetzung durch ein Tieropfer, hat man immer gesehen und daraus in der älteren Forschung auf die Gründungslegende eines Kultortes (Morija) geschlossen. Das hätte die (apologetische) „Möglichkeit“ geboten, „die grausame Aufforderung Gottes nach dem Opfer des Sohnes […] dadurch ‚auszuhalten’ bzw. verstehbar zu machen, dass man sie unter das Postulat des ‚nie wieder’ stellen konnte“.139 Doch abgesehen davon, dass wir von einem „Land Morija“ oder einem Berg gleichen Namens (den man später mit dem Jerusalemer Zion identifizierte), nichts wissen, sind die Akzente von Gen 22 unverkennbar anders gesetzt: Es geht nicht um den „erstgeborenen“ (Ex 34,20), sondern um den „einzig geliebten“ Sohn (Gen 22,2). Betont und befragt wird hier der Gehorsam Abrahams. Dagegen ist der opferkritische Gehalt der jetzigen Erzählung ganz fremd geworden. Da jedoch dieses Problem in der späten Königszeit noch durchaus virulent gewesen zu sein scheint, hat man die Zeit der Abfassung früher um 900 v.Chr. angesetzt. Heute sucht man Gen 22 als einen sehr viel jüngeren, theologisch hochreflektierten Text zu verstehen, der in die exilische oder gar nachexilische Zeit gehören dürfte.140 Hier erst konnte sich die irritierte Frage stellen, ob die „Versuchung“ Abrahams (V.1), wie der jüdische Kommentator Benno Jacob in seiner Deutung vorschlug, vielleicht den Satan zu ihrem Urheber hätte.141 Damit ist das Theodizeeproblem aufgerufen. Es begegnet hier in einer bemerkenswerten Umkehrung der neuzeitlichen Problemstellung. Von einem menschlichen Fehlverhalten, von Sünde oder Schuld seiner Geschöpfe, die Gott unter bestimmten Umständen hätte in Ebd., 24. Ebd., 27. 141 Jacob, Das erste Buch der Tora, 491ff. 139 140

124

1.1 Probleme der Auslegung

Kauf nehmen oder auch nur zulassen müssen, verlautet kein Wort. Das Thema der Willensfreiheit und ihres möglichen Missbrauchs spielt nicht die geringste Rolle. Dass Abraham (und nach der rabbinischen Auslegung auch Isaak) diesen „Opfergang“ freiwillig angetreten und darin auf der ganzen Linie gut gehandelt haben: Daran lässt die Erzählung nicht den leisesten Zweifel. Also nicht der Mensch und die mit ihm notwendig unvollkommen geschaffene Welt nötigt zu einer „Rechtfertigung“ Gottes. Die traditionell dafür aufgebotenen Argumente erscheinen hier wie auf Sand gesetzt. Der Knoten des Problems schürzt sich über einer ganz anderen Fragestellung: Wie kann der eine Gott das Leben Isaaks fordern, also „böse“ handeln, und zugleich dessen Leben retten und sich damit zuletzt als „gut“ erweisen, „ohne an seinem Herrsein [kraft dessen er es fordern kann] oder seiner Güte oder an beidem Schaden zu nehmen“? Dieser unerträgliche Widerspruch und der daraus resultierende Konflikt, ungeachtet der göttlichen Verheißung das Risiko der befohlenen Opferung dennoch auf sich zu nehmen, fällt allein auf Gottes Seite, wird ihm zugeschrieben, und die daraus resultierende, menschlich scheinbar ausweglose Situation, in die der Gehorsam nun hineingerät, wird als ein „in der Erzählzeit gegenwärtiges Problem des Monotheismus“ in dieser Erzählung aufgerollt. Ebach hat diese Problemverschiebung pointiert auf den Begriff gebracht: Während es in der philosophischen Theodizee „Übel gibt, die Gott nicht will, die er aber – aus welchen Gründen und in welcher Weise auch immer – zulässt“, wird als Kon­ trapunkt in Gen 22 „nichts anderes (erzählt), als dass Gott hier etwas ‚Übles’ will, aber nicht zulässt“.142 Wie ist mit diesem Paradox fertig zu werden? Dass unter neuzeitlichen Voraussetzungen mit die142

Ebach, Theologische Frage, 9 und 10.

125

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22)

sem Widerspruch überhaupt nicht fertig zu werden ist, belegt Kants (neuerdings oft zitierte) Kritik, die sich schon gegen die hier entwickelte Problemstellung selbst richtet: „Dass es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er (der Mensch) zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch, und die ganze Natur überschreitend dünken: er muss sie doch für Täuschung halten.“ Dazu die Anmerkung: „Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abraham, auf göttlichen Befehl, durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes  – (das arme Kind trug unwissend noch das Holz hinzu) – bringen wollte. Abraham hätte auf die vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚dass ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss, und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete’.“143

Es ist das Postulat Gottes als des obersten moralischen Gesetzgebers, das die biblische Problemstellung in Kants Augen als verfehlt, um nicht zu sagen als absurd erscheinen lässt. Der Befehl, den eigenen Sohn im Wortsinne zu opfern, verstößt so offenkundig gegen das Moralgesetz, dass es unmöglich Gott sein kann, der ihn gegeben hat. Sören Kierkegaard hat diese Problemstellung gleichwohl aufgenommen, ihr aber eine Wendung gegeben, die außerhalb der Kantschen Kategorien liegt. In seiner Schrift „Furcht und Zittern“ (1843) verlagert er das Problem ins Subjektive – der Glaube ist ihm zufolge eine, nein die Kategorie der Subjektivität schlechthin –, das heißt weg von Gott in die menschliche Existenz. Seine Frage lautet: Hat Gott Abraham mit dieser Zumutung überfordert? Erst an der Grenze des Ethischen, im Schei143

Kant, Der Streit der Fakultäten,333.

126

1.1 Probleme der Auslegung

tern der ethischen Existenz, so lautet sein zentrales Argument, kann das „Religiöse“, d.h. die religiöse Existenz, als ein neues Stadium sich melden, das den Glaubenden nun außerhalb des Allgemeinen (der Moral Kants) stellt und ihn zu einer Ausnahme-Existenz macht. „Der Glaube ist eben das Paradox, dass der Einzelne als Einzelner höher ist als das Allgemeine, ihm gegenüber im Recht.“144 Es gibt einen Bereich, und das eben ist der Glaube, in dem die unbedingte Forderung Gottes sich nicht mehr in ihrer ethischen Gestalt melden kann. Es geht jetzt vielmehr – eine gewagte Zuspitzung des Problems – um die „teleologische [auf ein höheres Ziel gerichtete] Suspension des Ethischen“, und dafür, so Kierkegaard, ist Abraham das Paradigma.145 Durch den an ihn ergangenen Ruf Gottes sind alle Pflichten, die ihn als Vater an seinen Sohn binden könnten, aufgehoben. Das unterscheidet ihn von einem tragischen Helden. „Er hat mit seiner Tat das gesamte Ethische überschritten, er hatte ein höheres Verhältnis außerhalb, und im Verhältnis dazu suspendierte er das Ethische.“146 Kierkegaard hat das Problem von Gen 22 mit einer Intensität sondergleichen auf den Menschen und seinen Glauben, den „Kampf mit Gott“, bezogen, und es kann ja kein Zweifel sein, dass die Erzählung zu eben diesem Glauben ermutigen wollte. „Von Abraham gibt es kein Klagelied. Es ist menschlich zu klagen, menschlich, zu weinen mit den Weinenden; aber größer ist es zu glauben, und seliger, auf den Glauben zu schauen.“147 Das ist richtig, richtig auch im Sinne der alten Erzählung, aber gerade deshalb hat sie das Problem noch einmal verschärft, indem sie den Blick auf den gleichsam „obKierkegaard, Furcht und Zittern, 59. Ebd., 60. 146 Ebd., 63. 147 Ebd., 14f. 144 145

127

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22)

jektiven“ Haftpunkt des Glaubens richtet, den offenbar widersprüchlichen Gott.

1.2 Das Gottesproblem (1) Die Forderung: „Opfere deinen Sohn“. Die Ungeheuerlichkeit dieses Befehls spürt man allen Auslegungen, auch den ältesten, ab. Denn hier geht es nicht schon um die Frage schuldlosen Leidens, unverschuldet zugefügten Schmerzes oder eine Art undurchschaubar einbrechender Schicksalsmacht. Es geht um die Verheißung, Abraham zu einem großen Volk zu machen. Die Ausführung dieses Befehls aber würde die Einlösung dieser Verheißung ganz und gar unmöglich machen. Sie müsste Gott in einen tödlichen Selbstwiderspruch gegen sein eigenes Versprechen verwickeln und zu seiner Selbstaufhebung führen. Die Existenz Israels wäre aufs Spiel gesetzt. Ein moderner Ausleger hat daher geradezu von einer Umkehrung der Gehorsamslast gesprochen: „Gott wird durch Abraham auf die Probe gestellt, indem dieser nichts mehr sagt, sondern handelt.“148 Hier ist die Erfahrung des Exils, die Sorge, von Gott „abgeschrieben“ zu sein, präsent (Ps 77,10). Das heutige Judentum sieht den noch furchtbareren Schatten der Shoa auf diese Erzählung fallen. Sie lässt auf ihrem dramatischen Höhepunkt, an dem sich die Handlung so augenfällig verlangsamt und jedes Detail den Lesern und Leserinnen vor Augen geführt wird – Abraham baute dort einen Altar, schichtete das Holz auf, fesselte Isaak, seinen Sohn, legte ihn oben auf das Holz, streckte seine Hand aus und ergriff das Messer (V. 9f.) –, ein auswegloses Dilemma sich auftun. G. von Rad spricht von einer „alttestamentlichen Golgathasituation“, einer „Gottverlassenheit“: „Vollzog er 148

Dalferth, Malum, 463.

128

1.2 Das Gottesproblem

das Opfer, so erlosch ihm das Licht, das Gott in sein Leben gestellt hatte. Vollzog er es nicht, so war er an Gott gescheitert.“149 Wie ist diese unerträgliche Zumutung zu verstehen? (2) Gott oder der Teufel? Der babylonische Talmud, auch das Jubiläenbuch (17,15-18,19), hat dieser Zumutung die Spitze abzubrechen versucht. Beide erklären zur Entlastung Gottes  – die Parallele zu Hiob 1,6ff. ist unübersehbar  – den Satan zum Anstifter dieses unmenschlichen Befehls. Die Vorstellung eines Menschenopfers, heißt es dort, sei völlig unvereinbar „mit dem Bild des Gottes, wie es die Bibel entwirft“.150 Auch der große jüdische Kommentator Benno Jacob hat den Elohim (V.1) als Satan gedeutet 151, obwohl die Argumentation des Teufels ihrer scheinbaren Autonomie zum Trotz schon im Midrasch (Bereschit Rabba) in die Logik des göttlichen Diskurses integriert und mit dem Text der Genesis neu interpretiert worden ist  – als Versuchung. So eröffnet Rabbi Akiba seine Auslegung von V.1 mit der Feststellung: Gott „versuchte ihn wirklich, damit man nicht sagen kann, er hat ihn verwirrt und verdreht, dass er nicht wusste, was zu tun“. Es war eine echte Versuchung, die auch hätte fehlschlagen können.152 Und von Rabbi Schimon, Abbas Sohn, ist im Talmud überliefert: „[Es] sprach der Heilige, gelobt sei Er, zu Abraham: Alle Prüfungen hast du bestanden. So bestehe mir auch diese, damit man nicht sage: Sie waren doch unwesentlich, die ersten.“153 An welche unter den zehn Abraham zugeschriebenen Versuchungen ist hier gedacht? Rad, Das Opfer Abrahams, 32. Babylonischer Talmud, Sanhedrin 89 b, zit. n. Greiner, Opfere deinen Sohn, 55f. 151 Jacob, Das erste Buch der Tora, 1934, 491ff. 152 Midrasch Bereschit Rabba 55, 6a, zit. n. Krupp, Den Sohn opfern?, 28. 153 Der Babylonische Talmud, ausgewählt … von R. Mayer, 105. 149 150

129

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22)

(3) Ein Präludium von Gen 22. Thomas Naumann ist dieser Frage nachgegangen und hat neben den Episoden, in denen Abraham seine Frau „preisgibt“ (Gen 12, 10-20) und die schwangere Hagar der Gewalt Saras ausliefert (Gen 16,6), die Aufmerksamkeit insbesondere auf die von Gott gutgeheißene Vertreibung Ismals und dessen Mutter gelenkt– in zweifacher Hinsicht eine Präfiguration der von Gott geforderten Opferung Isaaks.154 Auch hier steht Abraham vor dem „furchtbaren Dilemma, sich gegen Gott oder gegen seinen Sohn entscheiden zu müssen“, auch hier ist es „derselbe Gott, der in einer akuten Todesbedrohung rettend eingreift, in die er zuvor selbst geführt hat“.155 Unter den vielen wörtlichen Parallelen in beiden Erzählungen will ich nur auf eine hinweisen. das so betont hervorgehobene Sehen, ein Leitbegriff des hebräischen Textes, der hier wie dort die große Peripetie einleitet: Gott öffnet Hagar die Augen, und sie sieht den rettenden Brunnen (Gen 21,19). Abraham sieht „den Ort“ von ferne (V.4), und nach dem alles entscheidenden Anruf des himmlischen Boten „erhob er seine Augen und sah den Widder“ (V.13). Hagar bekennt: „Du bist der El Roi [Gott des Schauens], ein Gott, der mich gesehen hat […] Hier habe ich den gesehen, der mich gesehen hat“ (Gen 16,13). Abraham nannte den Namen des Berges „Jhwh sieht“, jenes Ortes, „von dem man noch heute sagt: Jhwh lässt sich sehen“ (V.14). Über dem Sehen Gottes schließt sich der Abgrund, den beide Erzählungen aufgerissen haben. In der Gewissheit, dass Gott sehend die Menschen begleitet, auch wenn sich ihre Wege im ausweglosen Dunkel zu verlieren scheinen, stimmen sie überein. – Schließlich sei noch erwähnt, dass der Text von Gen 22 auch Naumann, Die Preisgabe Isaaks, 28; vgl. auch Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, 134f. 155 Naumann, ebd., 30. 154

130

1.2 Das Gottesproblem

nach vorne, durch die Klammer der Motive des „Prüfens“ und der „Gottesfurcht“ (V.1 und 12), auch des Sehens, vorausweist auf die Sinai-Offenbarung (Ex 20,20) und „dadurch erst [sein] volles theologisches Gewicht“ gewinnt.156 Er erweist sich als ein Schlüsseltext Israels. (4) Gott gegen Gott? Wo aber liegt der Schlüssel? Das so schwer verstehbare Paradox, an dem die Erzählung bis zu ihrem letzten Satz festhält, ist die Auskunft: Es sei derselbe Gott, der Abrahams Opfer fordert und der es zugleich verhindert. An dieser „monotheistischen“ Prämisse wird nicht gerüttelt. In diese Identität aber ist eine bedeutsame Differenz eingeschrieben, wie der oft bemerkte Wechsel der hebräischen Gottesnamen belegt. Der die Forderung des Menschenopfers erhebt, ist „der Elohim“. Der am Ende durch seinen Boten rettend eingreift, trägt den (im Tetragramm geschriebenen) Namen „Jhwh“ (V.11). Inwiefern handelt es sich hier und dort um denselben Gott? Ebach hat nuanciert herausgearbeitet, dass und wie dieser Bezeichnungswechsel „der dramaturgischen (bzw. theologischen) Struktur“ des Handlungsablaufs „offenkundig folgt“: Der sich das Opfer ersehen wird (V.8), ist „Elohim“, der es sich ersehen hat und sich auf dem Berge [Morija] sehen lässt, ist „Jhwh“. Der in seinem unbegreiflichen Willen verborgen bleibende Elohim ist „in eben dieser Tat […] als der Gott Israels in seinem Eigennamen [Jhwh] sichtbar“, das heißt erkennbar und offenbar geworden. In dogmatischer Kurzform gesprochen: Der Deus absconditus ist der Deus revelatus. In der Logik der Erzählung gesprochen: Abraham hat auf beide Stimmen (V.1 und V.11) gehört, aber „er hat auch darauf gehört, dass das Wort ‚des Elohim’ nicht das letzte Wort ‚Jhwhs’ war und sein konnte“.157 Und wenn ihm seine Gottes(Elohim-)furcht 156 157

Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, 136ff. Ebach, Theodizee, 9f.

131

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22)

(V.12) als rechtes Tun von Jhwh angerechnet wird (V.12), dann ist hier erneut festgehalten, dass „eine glatte Aufspaltung […] in zwei ‚Instanzen’ das Problempotential des Textes unterschreitet“.158 Wie also wird das Theodizeeproblem hier ausgetragen? Vordergründig ist man geneigt zu sagen: Genau so, wie Leibniz es verlangt. Gott verhindert das Menschenopfer, den Inbegriff alles Bösen, und fortan ist keine Instanz mehr berechtigt, ein solches Opfer zu fordern. Doch diese Interpretation ginge an der erkennbaren Absicht der Erzählung rundweg vorbei, ganz abgesehen davon, dass Menschenopfer in der nachexilischen Entstehungszeit von Gen 22 für Israel kein Problem oder auch nur eine Anfechtung mehr waren. Bedrängend für jene Spätzeit ist vielmehr die Erfahrung eines sie überfordernden Gottes oder gar einer „Gottverlassenheit“. Liegt hier die geschichtliche Authentizität der Erzählung, dann wird man die„Rechtfertigung“ Gottes an einer anderen Stelle suchen müssen – darin, dass Abraham (neben und) nach dieser ersten Erfahrung nun auch eine zweite andere, befreiende, ja geradezu erlösende Erfahrung mit „seinem“ Gott macht, eine Erfahrung, in der sich Isaaks Nachfahren, den „Prüfungen“ durch ihre Verfolger entkommen, mit ihm als „Entronnene“ zusammenschließen konnten. Eröffnet wird die Möglichkeit einer solchen zweiten Erfahrung mit dem Namenswechsel von Elohim zu Jhwh, der, wie Ex 6,3 andeutet, mit einer qualitativen Veränderung überkommener Gottesvorstellungen einhergeht und insofern den starren Ansatz der klassischen Theodizee von innen her sprengt. Elohim (bzw. El Shaddaj; Ex 6,3) ist der „allmächtige“ Schöpfer von Himmel und Erde, der Gott der Völkerwelt (Gen 158

Ebd., 10.

132

1.2 Das Gottesproblem

14,18f.). Man kann ihn, wie Luther sagt, „in allen Kreaturen, im Feuer, im Wasser“ und sogar noch im „Strick“ des Selbstmörders finden, ohne freilich zu wissen, „wer oder welcher“ es sei, der zu Recht „Gott“ heißt.159 Sein Name aber (Jhwh) fällt aus dem Spektrum mitteilbarer Bedeutungen heraus; er lässt sich in die vom Menschen benannte Welt nicht als ein Moment an ihr einfügen.160 Die umschreibende Verbalform „Ich werde (mit euch) sein, als der ich da sein werde“ (Ex 3,14) – ein scheinbar leeres Formular, in das jeder denkbare Inhalt erst noch eingetragen werden muss – gibt zu verstehen, dass er sich an dem (neuen) Geschehen definiert, das er selber heraufführt (Jes 45,7). Mit seinem Namen begleitet er sein Volk noch auf der Deportation an die Flüsse Babylons. Sein Inhalt, seine namentliche Identität wird ihm erst noch zuwachsen. Damit ist das aus jedem Vergleich am offenkundigsten Herausfallende gesagt, was sich über den Gott Israels sagen lässt: Weit entfernt davon, in dem begrifflich beschreibbaren Inhalt einer Gottesidee („Allmacht“,  …) aufzugehen, bestimmt er sein göttliches Sein auf der Wanderschaft seines Volkes als ein Sein „im Werden“. Er tritt in Israels Geschichte ein. Statt sich mit der Unvollkommenheit der Welt als einer immerhin „bestmöglichen“ abzufinden, oder gar eine von allen Übeln freie Welt als Ausweis seiner Existenz zu postulieren, kann ihn die Abraham-Erzählung – nun in Identität mit „dem Elohim“ – sogar als den Verursacher einer tödlichen Bedrohung des Menschen erscheinen lassen, nicht jedoch um ihn in dieser Rolle festzuhalten. Die sollen wir vielmehr als eine „Versuchung“ verstehen, als die Prüfung eines Glaubens, der nicht daran zweifelt, dass er es auch in den Übeln der Welt mit demselben Gott zu tun hat, der sich mit seinem Namen 159 160

Luther, Sermon von dem Sakrament (1526), WA 19, 492. Link, Die Spur des Namens, 48f.

133

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22)

„Jhwh“ dafür verbürgt hat, sich nicht von uns abzukehren, sondern unseren Weg zu begleiten. Wir sollen lernen, dass „Gottes bedürfen, des Menschen höchste Vollkommenheit ist“ (Kierkegaard), nicht aber, ihn als Voraussetzung in unsere Erklärung der unvollkommenen Welt einzuführen.

1.3 Die Überlieferung der Akeda Elie Wiesel hat für den Massenmord an den europäischen Juden den Namen „Holocaust“ in Umlauf gebracht. Er nimmt den sakralen Begriff auf, mit dem in der lateinischen Übersetzung der Vulgata der auf Gottes Geheiß gebundene Isaak als Brandopfer (holocaustum; Gen 22,2) bezeichnet wird, das zum Himmel aufsteigen soll. Später hat er bedauert, mit diesem Wort einen religiösen Namen für die Mordtaten des Dritten Reichen geliefert zu haben. Denn der Begriff „Opfer“ ist – zumal im Deutschen – ambivalent. Man kann die Verkehrstoten auf unseren Straßen und die Ermordeten von Auschwitz nicht gut auf ein und denselben Nenner bringen. Wenn E.Wiesel andererseits jedoch den Text von Gen 22 liest, dann liest er ihn nicht als Chronist, sondern in realer Identifikation als „überlebender Isaak“ (Ebach). Er liest ihn mit einer großen Tradition des Judentums als den dunklen Schatten, den die „Bindung“ (akeda) Isaaks auf die Geschichte seines Volkes geworfen hat. Quelle dieser Tradition sind die Midraschim, Sammlungen lehrhafter (Halacha) und erzählerischausmalender (Aggada) Schriftauslegung, die im Laufe von Jahrhunderten von Rabbinern zusammengetragen und ursprünglich in der Synagoge und im Lehrhaus beheimatet sind. Im Falle von Gen 22 ist es insbesondere der Midrasch Bereschit Rabba (der älteste 134

1.3 Die Überlieferung der Akeda

zum Buch der Genesis), der Anfang des 5. Jahrhunderts abgeschlossen zu sein scheint.161 Theologisch wichtig und nachdenkenswert ist diese Überlieferung deshalb, weil sie im Spiegel des jüdischen Martyriums die volle Amplitude der Erzählung auszumessen versucht. So gibt sie der berühmten „Leerstelle“ von V.19 – Wo bleibt Isaak? – ein Eigengewicht, das den hoffnungsvollen Ausgang noch einmal zu hintergehen nötigt, und das nicht im Sinne einer Infragestellung, wohl aber als Würdigung derer, die „nach diesen Ereignissen“ freiwillig, wie der Midrasch betont, wie Isaak den Weg unbedingten Gehorsams gegangen sind. Ihre Erfahrung nimmt Edward van Voolen in seinem Essay auf: „Doch am Ende kehrt der Vater allein zurück. Isaaks wird mit keinem Wort mehr gedacht. Wo ist er geblieben?“162 Das nach dem Text von Gen 22 Undenkbare und doch in den späten Nachfahren ‚geschichtliche’ Wirklichkeit Gewordene bringt schon das Fastengebet der ältesten synagogalen Liturgie zum Ausdruck: „Gedenke der Asche Isaaks, die auf dem Altar aufgehäuft ist!“ Nach dieser Überlieferung ist die Geschichte nicht gut ausgegangen. Nicht, dass Abraham seinen Sohn getötet hätte, doch als Isaak das Messer sah – drastischer noch ein späterer Midrasch: „als das Schwert an seinen Hals kam“ – „entschwand die Seele Isaaks und fuhr aus ihm aus“.163 Bereits im Hebräerbrief (11,17) heißt es: „Im Glauben hat Abraham den Isaak dargebracht, als er versucht wurde, und er gab seinen einzigen [Sohn] dahin, er, der die Verheißung empfangen hatte.“ Krupp, Den Sohn opfern?, 16f.; vgl. auch Zuidema (Hg), Isaak wird wieder geopfert, und zur Ambivalenz des Gottesbildes insbesondere: Janowski, Ein Gott der straft und tötet?, 117-144. 162 Voolen, Isaak kehrt zurück, in: Zuidema, 53f. 163 Midrasch Pirke de Rabbi Elieser, zit. n. Krupp, (Anm. 161), 62. 161

135

1. Die Bindung („Opferung“) Isaaks (Gen 22) Das Akeda-Motiv begleitet die Geschichte Israels als Urbild seiner Märtyrer und als Mahnmal der Eltern, die hilflos dabei stehen, während ihre Kinder auf Befehl der Tyrannen vom Schlage Antiochus Epiphanes’ gefoltert und gemordet werden. Das in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Beispiel ist die Erzählung 2 Makk 7: Während der Judenverfolgung ermahnt die betroffene Mutter jeden ihrer sieben Söhne, den Glauben an Gott festzuhalten und den Tod hinzunehmen in der Hoffnung, in die Gemeinschaft der Patriarchen aufgenommen zu werden. Als die Reihe an den letzten Sohn, ein kaum dreijähriges Kind, kommt, bricht die Mutter fast zusammen, beugt sich über den Kopf des Sohnes, küsst ihn und entlässt ihn mit den Worten: „Mein Sohn, geh zum Patriarchen Abraham und sage ihm: […] Rühme dich nicht damit, dass du einen Altar bautest und deinen Sohn Isaak opfertest. Unsere Mutter errichtete sieben Altäre und opferte darauf sieben Söhne an einem einzigen Tag. Bei dir war es nur eine Prüfung, bei mir war es blutiger Ernst.“164 Wie Abraham – das ist der bittere Kern dieser Akeda – liefert die Mutter alles, wofür sie lebt, ihre Zukunft, in der Person ihrer Kinder aus.

Es gibt einen anderen Erzählstrang, wonach Isaak, als er die Stimme Gottes zwischen den Cherubim hörte, wieder zum Leben erwachte und „die Auferstehung aus der Tora erkannte, dass alle Toten zukünftig leben werden“.165 Die zweite Bitte des Achtzehnbitten-Gebets – sie schließt mit den Worten: „Gepriesen seist du, Herr, der die Toten auferweckt!“ – wird daher als IsaakBitte bezeichnet. Wie also soll man die Akeda-Tradition lesen und verstehen? Für jüdische Augen stellt sie die Erzählung von Gen 22 unter den Vorbehalt des „als ob“. Es war, als ob Abraham Isaak geopfert hätte. Das lässt sich auf zweierlei Weise lesen: Theologisch führen Erfahrungen wie die der Makkabäerzeit zu der Erkenntnis (und sei es ein Postulat), dass der Tod nicht das letzte Wort hat! Denn Gott prüft nur Gerechte, und indem Abraham die größte aller Versuchungen besteht, erweist 164 165

Midrasch Threni Rabba 50. Krupp, (Anm. 161), 62f.

136

1.3 Die Überlieferung der Akeda

sich, dass er ein Gerechter ist. Sein kompromissloser Gehorsam gegen Gott wird zum Keim der Erwartung einer künftigen Auferstehung. So wird die Akeda als einer der Gründe für die Erwählung seiner Nachkommen interpretiert; sie wird als eine der großen Taten Gottes zur Erlösung Israels gerühmt. Auf der humanen Ebene fällt sie dieser theologischen Eindeutigkeit ins Wort. Denn wie soll man den „unmöglichen“, an der Grenze jeder Ethik sich bewegenden Befehl Gottes an Abraham, wie vollends die an und über der weltgeschichtlichen Akeda (Auschwitz) zerbrechenden Lebensläufe mit Gott zusammenbringen? „Der Schatten des Todes“, interpretiert E. van Voolen angesichts der Erfahrungen der dem Martyrium Entronnenen, „blieb über ihm [Isaak] hängen. Was er gesehen und erduldet hatte, wird auch bei ihm alle Versuche, sich wieder in ein normales und regelmäßiges Leben zu fügen, haben scheitern lassen […]“.166 In dieser Ambivalenz bringt das „als ob“ Ernst und Tragweite des in Gen 22 erzählten Ereignisses zum Ausdruck. Die Akeda hat ihre Spuren auch im Neuen Testament hinterlassen, und zwar in der Deutung des „Sohnes“, der Gott seinen Vater nennt: Jesus ist für Gott derselbe wie Isaak für Abraham, der Sohn, in den er sein Leben und seine Liebe und damit seine eigene Zukunft investiert hat. An zwei Schlüsselstellen ihres Berichts nehmen die Evangelien dieses Motiv auf, bei der Jordan-Taufe (Mk 1,11 par.), dem Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, und auf dem Berg der „Verklärung“ (Mk 9,2ff. par.), dort, wo der Weg zum Kreuz voll ins Blickfeld rückt, jenem Berg, auf dem (wie nach jüdischer Überlieferung auf dem Berg Morija) eine Wolke lag (Mk 9,7). Beide Male wird Jesus dort von der himmlischen Stimme mit denselben Worten des LXX-Textes 166

Voolen, Isaak kehrt zurück, in: Zuidema, (Anm. 44), 54.

137

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

(Gen 22,2) angesprochen wie einst Isaak: „mein Sohn, mein geliebter“ (Mk 9,7). Er wird mit Isaak förmlich identifiziert. Das Lukas-Evangelium bewahrt eine Tradition auf, die an die dreitägige Wanderung Abrahams zum Ort der Akeda erinnert: Auf die Warnung einiger Pharisäer, nicht nach Jerusalem zu ziehen, entgegnet Jesus: „Ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen, und am dritten Tage werde ich vollendet. Doch ich muss heute und morgen und am folgenden Tage wandern, denn es geht nicht an, dass ein Prophet außerhalb Jerusalems umkomme“ (Luk 13,32f.). Der dritte Tag steht hier (und nur hier) nicht für die Auferstehung, sondern für das Martyrium der Kreuzigung. Schließlich benutzt auch Paulus genau dieselben Worte wie der himmlische Bote (Gen 22,16; LXX), Worte, die Forderung und Verheißung ineins enthalten, wenn er erklärt: Gott „hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben“ (Röm 8,32). Von dieser Spur, bezogen auf die Dialektik des Opfers, wird später noch zu reden sein.

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem Das Buch Hiob ist das Dokument einer „Sinneskrise in der Bibel“.167 Überlieferte, älteste Gewissheiten  – das Vertrauen in eine verlässliche Welt, auf deren Ordnungen man zählen, ein Gott, mit dessen Treue und Fürsorge man in Unglück und Leiden rechnen kann – werden mit einer Radikalität in Frage gestellt, die selbst in den bittersten Klagepsalmen der Bibel nicht ihresgleichen hat. Wo, wenn nicht hier, sollte der Ruf nach einer Theodizee sonst laut werden? Kein Buch der Bibel 167

Gollwitzer, Krummes Holz, aufrechter Gang, 229ff.

138

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

nimmt den Ton moderner Ratlosigkeit und Skepsis angesichts der Gottesfrage so genau vorweg wie die trostlosen und ungetrösteten Redegänge, die im Namen des Mannes Hiob hier aufgezeichnet sind, eines uns Unbekannten aus dem Lande Uz, in dessen „Fall“ diese Krise ein menschliches Gesicht bekommt. Denn wer oder was Gott ist, und ob überhaupt ein Gott ist: Das entscheidet sich auch für den heute fragenden Menschen daran, wo Gott anzutreffen ist, und eben das ist die Frage Hiobs: „O dass ich wüsste, wo ich ihn fände, dass ich gelangte vor seinen Thron!“ (23,3) Dann ließe sich der Streit um Recht und Unrecht seiner verzweifelten Situation austragen. Doch er sucht vergebens: „Siehe, ich gehe nach Osten – da ist er nicht, nach Westen – ich gewahre ihn nicht; im Norden suche ich ihn – ich schaue ihn nicht, biege um nach Süden – ich sehe ihn nicht. (23,8f.) Hiob fragt ins Leere hinein; er bekommt keine Antwort, die ihn beruhigen könnte. Nur eines tut er nicht: Er zieht nicht die atheistische Konsequenz der Neuzeit, sondern sagt diesem beharrlich sich entziehenden, unerreichbaren Gott Dinge ins Gesicht, die bisher niemand und auch bis heute kein kirchlich gebundenes Denken ausgesprochen, stellt Fragen, die bisher kein Mensch zu stellen gewagt hat. Das überlieferte Gottesbild ist ihm zerbrochen, und der Gott, der uns hier „gezeigt“ wird, widerspricht allen Vorstellungen, die sich ein religiös gebundenes Denken von Gott machen mag. Hier scheint die denkbar größte Nähe zu den Herausforderungen der Gegenwart erreicht zu sein. Die im Zentrum stehenden Fragen nach dem Sinn menschlichen Leidens und den Irritationen, denen sich ein nachdenklicher Blick auf die undurchschaubaren Geheimnisse auch der subhumanen Welt aussetzen muss, gehören zu den ältesten Menschheitsrätseln. Es sind Fragen, die ungeachtet aller Resignation, aber auch, wie es scheint, ohne Aussicht auf eine tragfähige Antwort die

139

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

Suche nach Gottes Gerechtigkeit vorantreiben und die weit gespannten Dialoge auf immer neue Gründe – und Abgründe – stoßen lassen: „Wie kann ein Mensch Recht haben vor Gott? Hätte er Lust, mit ihm zu streiten, nicht eines auf tausend könnte er ihm entgegnen. (9, 2f.) „Und doch – zum Allmächtigen will ich reden, Gott zu zeigen, was recht ist, das ist mein Begehren.“ (13, 3)

Ist es Zufall, dass sich das neuzeitliche Denken von diesen, sei es noch so aporetisch erscheinenden Versuchen immer wieder hat provozieren lassen? Kant und auf sehr andere Weise Ernst Bloch haben diese Spur aufgenommen. Angesichts der vergeblichen Bemühungen, den Widerspruch zwischen der schwer durchschaubaren „Weisheit in der [göttlichen] Weltregierung“ und dem Zeugnis der Erfahrung vernünftig  – nach unserer Vorstellung von der Gerechtigkeit des Willens Gottes – aufzulösen, findet Kant (davon war die Rede168) im Hiob­buch den Weg einer anderen, „authentischen Theodizee“ vorgezeichnet. Ganz anders Ernst Bloch, der leidenschaftliche Bibelleser mit einem lebendigen jüdischen Erbe. Er stellt seinen Lesern Hiob als Symbolträger einer alle traditionellen Gottesvorstellungen überblendenden Hoffnung vor Augen. Er bestreitet jeden einsichtigen Zusammenhang zwischen dessen leidenschaftlichen Anklagen und den Gottesreden am Ende des Buches. Hier gebe es keinen Einklang, sondern nur schroffsten Widerspruch: Wie kann man „auf moralische Fragen mit physikalischen [Fragen], mit einem Schlag aus unermesslich finsterweisem Kosmos“ antworten?169 In den „blutigrohen oder monströsen Beispielen aus der Tierwelt“ fehle „jede menschliche Teleologie, jede Verheißung auf Teil I.2, S. 73. Bloch, Atheismus im Christentum, 154. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf dieses Buch. 168 169

140

2.1 Probleme der Auslegung menschliches Heil hinter dem Untergang der Natur“, so dass der Versuch einer Rechtfertigung Gottes im Ansatz scheitern muss. „Jede Theodizee ist seitdem, an Hiobs harten Fragen gemessen, eine Unredlichkeit.“ (163) In seiner humanen Skepsis ist Blochs Hiob diesem Gott überlegen: Hiob – „das ist der titanische Herausforderer der Gottheit“ (160), ein hebräischer Prometheus, aber kirchlich steht der Empörer als sanfter Dulder da, verwechselbar mit den „konventionellen Plattheiten“ seiner Freunde. Dieses „christmilde“ Bild zu korrigieren, ist Absicht und Ziel dieser Interpretation. Deshalb lässt Bloch seinen Hiob aus dem Gottesbild der Freunde „ausziehen“, deshalb erklärt er den „Löser“ (go’el) von Hiob 19,25, einer Schlüsselstelle des Buches, zum „Bluträcher (was philologisch möglich wäre) und erklärt: „Der Freund, den Hiob sucht, der Verwandte, der Rächer kann nicht der gleiche Jachwe sein, gegen den Hiob den Rächer aufruft“ (157). Doch dieser Auszug, fügt er hinzu, „ist nicht auch einer aus dem Auszug selbst“. Die einfachste Lösung der Theodizee – que dieu n’existe pas – weist er kategorisch ab und hält am Vertrauen auf den spezifischen „Jachwe des Exodus aus Ägypten“ fest, um die Hoffnung, die sich mit der Empörung verbindet, nicht preiszugeben, auch wenn „das letzte Wort“ – ein Wort, aus dem nun nicht mehr ausgezogen wird – „human noch nicht gesprochen ist“ (166). – Auch wenn in dieser mitreißenden Deutung die Spannung, die Hiob aufgerissen hat zwischen dem Gott der Bundeszusage und dem Gott, der ihn im Stich lässt, nun auf zwei verschiedene „Instanzen“ abgeleitet wird, ist der lebendige Nerv des Hiobbuches, „im Anklagen die Verheißung ohne Erlahmen einzuklagen“170, als literarischer und existentieller Sinn der Dichtung zum Leuchten gebracht.

2.1 Probleme der Auslegung Im Gedächtnis der Theologie und mehr noch der Frömmigkeit lebt Hiob als der exemplarisch Leidende fort, in dem bis in unsere Tage die Erfahrung schuldlosen Leidens ihren dichtesten Ausdruck gefunden hat. Dennoch ist er keine in einem modernen Sinn exponierte Individualität. In ihm hat ein Volk, zumindest ein Traditionskreis, seine Leidenserfahrungen dargestellt und sie als theologisches Problem formuliert. Wie ist es mit dem Glauben an Gottes Gerechtigkeit vereinbar, dass Men170

Gollwitzer, 248.

141

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

schen „vor, mit und nach Hiob leiden wie Hiob, dass es das Leiden Unschuldiger gibt?“171 Und weiter: In welchem Sinne kommt Hiobs Leiden von Jhwh? Man hat mit Recht gesagt, dass es einen „Horizont der Wirklichkeit Gottes“ aufreiße, „der seinen Freunden und wahrscheinlich allen seinen Zeitgenossen verborgen war“.172 Das überlieferte Gottesbild, das dem sakralen Ordnungsdenken des Kultus entstammt, zerbricht über der Erfahrung der Freiheit und Schrecklichkeit Gottes, die ihnen in der hier vor Augen liegenden Anschauung nicht nur fremd war, sondern der sie verständnislos gegenüberstanden. Hier wird das Problem einer späteren (nachexilischen) Theologie aufgerollt, allerdings als ein Menschheitsproblem. Hiob wird nicht von ungefähr ausdrücklich als ein Nicht-Israelit eingeführt, auch wenn seine Geschichte unverkennbare „Vorbilder“ in der Gestalt des leidenden Gottesknechts (Jes 53), in den Psalmen (Ps 88) oder im scheiternden Lebensweg des Propheten Jeremia hat. Wer aber war Hiob? (1) Hiob  – eine literarische Figur. Das Hiobbuch als ganzes ist uns nur als Literatur überliefert. Als historische Gestalt ist Hiob nicht greifbar. Seine Klagen sind keine Protokolle eines Leidenden, sondern poetisch verdichtete Stimmen. Das geht schon daraus hervor, dass er in der großen Komposition gleichsam zweifach erscheint, einmal als Held einer ursprünglich selbstständigen Erzählung (der Novelle: 1,1-2,10; 42,11-17), die mehrere Jahrhunderte hinter die Abfassungszeit unseres Hiobbuches zurückreicht, sodann als zentrale Figur der Dialoge. Denn für sich genommen sind diese Dialoge gar nicht lebensfähig, sie weisen „so viele Querverbindungen zur Novelle auf, dass die Symbiose beider literarischer Größen von Anfang an im Blick gewesen 171 172

Ebach, Streiten mit Gott. Hiob, Teil 1, XI. Von Rad, Weisheit in Israel, 284.

142

2.1 Probleme der Auslegung

sein wird“.173 Spieckermann hat das eigene theologische Gewicht dieser oft unterschätzten Novelle mit Recht hervorgehoben. „Sie steht dem Dialog nicht im mindesten nach“. Nur „in neuer Form und inhaltlichen Variationen“ führen die Dialoge „explizit aus, was als theologische Problemkonstellation bereits implizit in der Novelle angelegt ist“. Dazu gehört auch die für die Deutung des Ganzen wichtige Feststellung, dass Gott eine Bürgschaft für Hiob übernommen hat, als der Satan ihn um die Erlaubnis anging und sie bekam, diesen Mann zu testen. So geht in der literarischen Darstellung Hiob, der freilich von all dem nichts weiß, faktisch als Zeuge Gottes in die folgende Auseinandersetzung hinein. Die extreme Infragestellung durch Krankheit und Leiden ist darum gerade nicht, wie neuzeitliches Denken nahelegen mag, der praktische Fall einer gott-losen Situation, sondern für die Perspektive des Lesers ein Hinweis, dass dies alles unter Gottes Augen geschieht, vielleicht darf man sogar sagen: eine Andeutung dessen, dass und wie sich Gott in menschliches Leiden hineinziehen lässt. Um einen biographischen Bericht handelt es sich also nicht. In der Einleitung seines Kommentars erwähnt Jürgen Ebach einen Gelehrtenschüler, der im Zusammenhang der rabbinischen Diskussion über die Entstehung dieser Texte das Hiobbuch einen „maschal“ nennt, eine Art Gleichnis, eine Erzählung, eine Dichtung. Er vergleicht den Realitätsgehalt dieser Geschichte mit der Erzählung, in welcher der Prophet Nathan David zum Eingeständnis seiner Schuld bringt: „Du bist der Mann!“ (2 Sam 12,1-12). Denn Erzählungen gehören wie Gleichnisse zur Gattung der fiktiven Literatur, und doch sind sie so etwas wie der „Leib“ der Wahrheit, um die es in der Bibel geht.

(2) Die Problem-Ebenen. Blickt man auf die ältere Auslegungsgeschichte des Hiobbuches, so steht hier das exis173

Spieckermann, Die Satanisierung Gottes, 434.

143

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

tentielle Problem eines Einzelnen im Zentrum. Schon die Novelle richtet das Augenmerk auf den aus der Reihe aller übrigen Menschen herausgehobenen „Knecht Hiob“, der wie „keiner seinesgleichen auf Erden“ ist (1,8). Nur auf ihn zielt die Frage, die man als die entscheidende Problemanzeige des ganzen Buches lesen muss, ob er wohl „umsonst“, d.h. ohne Hintergedanken an Lohn oder persönliche Sicherheit, an Gott festhalte, also „gottesfürchtig“ sei. So erscheint er im Fortgang der Erzählung, seiner gesamten Habe und dazu seiner körperlichen Kräfte und Fähigkeiten beraubt, als der existentiell Bedrohte und Kämpfende, der sich anders als seine Freunde eine objektive Bestandsaufnahme, die Perspektive des neutralen Beobachters der Welt, gar nicht leisten kann. Dementsprechend fragt er auch anders nach Gott, nicht unter selbstgewählten Bedingungen, sondern in einer „von außen“ ihm aufgenötigten Situation. Er wartet darauf, dass Gott sich ihm „vor Ort“ zu erkennen gibt, ohne sich auf frühere Gewissheiten zu berufen, die gerade den Widerspruch hervortreiben. Luther hat diesem Gefälle der Auslegung die Richtung gewiesen: „Es ist aber uns zu Trost geschrieben, dass Gott seine großen Heiligen also lässt straucheln, sonderlich in der Widerwärtigkeit. Denn ehe dass Hiob in Todesangst kommt, lobt er Gott über dem Raub seiner Güter und Tod seiner Kinder. Aber da ihm der Tod unter Augen geht und Gott sich entzeucht, geben seine Worte Anzeigung, was für Gedanken ein Mensch habe (er sei, wie heilig er wolle) wider Gott; wie ihn dünkt, dass Gott nicht Gott, sondern eitel Richter und zorniger Tyrann sei, der mit Gewalt fahre und frage nach niemandes gutem Leben. Dies ist das höchste Stück in diesem Buche. Das verstehen allein die, so auch erfahren und fühlen, was es sei, Gottes Zorn und Urteil leiden und seine Gnade verborgen sein.“174

174

Luthers Vorreden zur Bibel, hg. von H. Bornkamm, 1967, Nr. 238.

144

2.1 Probleme der Auslegung

Nun gibt es, worauf neuere Auslegungen mit Recht großes Gewicht legen, neben dieser subjektiven Ebene persönlicher Anfechtung und ausweglosen Leidens im Hiobbuch auch eine objektive, kognitiv-lehrhafte Ebene, neben dem „Fall Hiob“ auch ein „Hiobproblem“175, das diesen Einzelnen als Repräsentanten einer allgemeinen Orientierungskrise erscheinen lässt. Wie zur Veranschaulichung der oft beschriebenen „Krise der Weisheit“ wird in die längst fragwürdig gewordenen kosmischen und sozialen Ordnungen ein individuelles (wenn auch historisch nicht fassbares) Schicksal eingezeichnet. Der in der Genesis noch vorausgesetzte Zusammenhang sinnvoller, in sich stabiler Ordnungen wird im Spiegel der Dialoge als ein bedrohtes, einsturzgefährdetes Haus vorgeführt, das uns mit einer Fülle unauflösbarer Rätsel konfrontiert und nach dem „Sinn“ des Ganzen fragen lässt. In dieser Situation erwacht die Frage nach einem einsichtigen Plan, der Licht in das Zwielicht von Anschuldigung und Verteidigung bringen soll: „Wer ist es, der den Plan verdunkelt mit Worten ohne Einsicht?“ (Hiob 38,2) Bemerkenswert ist nicht schon, dass hier ein Vorwurf – noch dazu mit der Autorität Gottes  – zurückgewiesen, sondern dass er überhaupt erhoben wird: der Vorwurf, die Welt, in der ein Geschick wie das Hiobs möglich ist, entbehre eines stimmigen Planes, sei lebensfeindlich und ungerecht. Das also ist die Frage, die hier neu aufbricht: Wie ist die Welt beschaffen, in der Hiob so offenkundig leidet? Hat sie einen erkennbaren Plan oder ist sie als ganze chaotisch und ungerecht? Gefragt wird nach der Kompetenz Gottes als Schöpfer, nach Sinn und Funktion der von ihm erstellten Welt. Hier wird man in einem fast schon neuzeitlichen Sinn von einem Theodizeeproblem sprechen müssen. 175

Ebach, Streiten mit Gott, 1, XI.

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2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

Auf der subjektiv-persönlichen Ebene – das vor allem ist das Thema der Dialoge – manifestiert sich diese Krise in der leidenschaftlich geführten Auseinandersetzung um die Geltung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Der überkommenen, von den Freunden (aber auch von Hiob selbst) als Dogma festgehaltenen Lehre, dass gutes Tun eines Menschen gutes Ergehen zur Folge habe, ein böses Geschick aber den Rückschluss auf die verborgene böse Tat nachgerade erzwinge, wird der Boden entzogen; sie wird destruiert. (3) Die Gottesreden (Hiob 38-41). Es ist oft aufgefallen, dass die großen Gottesreden am Ende des Buches, die die Wende des Hiob-Dramas einleiten, das lösende Wort, das man erwarten möchte, gerade nicht sagen, dass sie vielmehr – man denke an die Polemik E.Blochs – mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Sie scheinen an dem speziellen Anliegen Hiobs völlig vorbeizugehen, nichts zu enthalten, was dem Menschen in seiner Not etwas geben könnte, und sind von einigen Exegeten schlicht für sekundär erklärt worden.176 Es ist das Verdienst von Hans-Peter Müller und Othmar Keel, diese Einschätzung als ein Fehlurteil erkannt zu haben: „Anklage Gottes ist eo ipso Frage nach der Wirklichkeit; im Ringen um das Du Gottes geht es um das Es der Welt.“177 Wenn Hiob seine erste Rede mit den Worten eröffnet: „Vernichtet sei der Tag, an dem ich geboren wurde; […] nicht frage Gott nach ihm in der Höhe“ (3,3f.), so ist das nicht etwa ein biographisches Detail. Vielmehr steht „damit, ob dieser Tag bleibt oder nicht, nicht weniger als die Ordnung der Schöpfung auf dem Spiel“178, ein fundamentaler kosmologischer Sachverhalt. Hier wird die Stabilität des Kosmos, die so wichtiSo schon von Schmidt, Hiob. Das Buch vom Sinn des Leidens, 52. Müller, Altes und Neues zum Buch Hiob, 292. 178 Dietrich, in: Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 2, 85. 176 177

146

2.1 Probleme der Auslegung

ge, ihm eingeschriebene Zeitfolge (Gen 1,14) als Quelle von Widersinnigkeit und Schrecken angegriffen. Die Welt läuft aus dem Ruder: Gott bringt die Berge zum Beben, nimmt der Sonne ihr Strahlen (9, 5-7), und diese Unordnung, argumentiert Hiob und blickt damit weit über sein individuelles Geschick hinaus, setzt sich in den manifesten Rissen der sozialen Ordnung fort: Da ist die Not der deklassierten Armen: „Wie Wildesel in der Steppe ziehen sie zu ihrer Lohnarbeit, [immer] auf Nahrung aus in der Wüste, auf Speise für ihre Kinder. Auf dem Feld, das ihnen nicht gehört, ernten sie, im Weinberg des Frevlers schuften sie. Nackt übernachten sie, ohne Kleid und ohne Decke in der Kälte; vom Regen der Berge sind sie durchnässt, klammern sich ohne Schutz an den Felsen (24, 5-8).

Hiob stellt seine verzweiflungsvolle Lage „als paradigmatisch für die condition humaine schlechthin dar, die durch das Nebeneinander von Unterdrückern und Unterdrückten und das daraus resultierende quälende Elend charakterisiert ist“.179 Er lässt sich zu der Frage hinreißen, warum Gott eine solche Welt überhaupt am Leben erhält: „Warum gibt er den Bedrückten Licht und Leben denen, deren Kehle voll Bitterkeit ist, die auf den Tod warten, und er kommt nicht, die nach ihm graben mehr als nach Schätzen?“ (3, 20f.) Das also ist der Hintergrund der Anklagen Hiobs. Er fordert eine Antwort heraus, wie sie dann in den abschließenden Reden gegeben wird, indem Gott seine Schöpfung, seinen Kosmos vorführt  – keine „heile Welt“ voll Harmonie, sondern durchbrochen von Hagel, Ostwind, Regenflut, chaotischer Wüste und animalischer Grausamkeit, und zugleich eine Welt von einer nutzlosen, spielerischen Zweckfreiheit, die jeder nachrechnenden Einsicht unvorstellbar überlegen ist.

179

Keel, Jahwes Entgegnung an Hiob, 17.

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2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

2.2 Der „Fall Hiob“ In diesem ersten, meist verabsolutierten Aspekt geht es um das existentielle Problem. Dass Menschen unter und an Gott leiden, ist eine in der Bibel oft beschriebene Erfahrung. Es ist aber ein Unterschied, ob es dafür wie in der prophetischen Drohung des Amos (9,2-4) einen erkennbaren Grund gibt – Ungehorsam, persönliches Versagen oder manifeste Schuld –, so dass Menschen es mit dem zum Gericht entschlossenen Gott zu tun haben, oder ob hier „umsonst“ (das Schlüsselwort des Hiobbuches), ohne erkennbaren Anlass und Ursache gelitten wird und gleichwohl Gott seine Hand dabei im Spiel hat. Dieses theologisch neue Problem stellt sich erstmals mit dem krisenhaften Zerbrechen des Tun-ErgehenZusammenhangs. Hier bricht die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf, die sich, wie H.-P.Müller versucht hat, in einer umfassenderen Perspektive vielleicht in den Horizont des Theodizeeproblems hineinstellen ließe.180 (1) Die Maske des Satans. Die Rahmenerzählung geht jedoch einen anderen Weg, den Weg eines riskanten Experiments, um gleich zu Beginn Gott förmlich zu entlasten. Sie lässt den Satan auftreten, der hier noch am Beginn seiner Karriere steht. Er wird nicht als Rivale Gottes, sondern als eine Gestalt seines Hofstaats eingeführt, die nur in begrenzter Selbständigkeit agieren darf (1,6) und der nun das Motiv des „umsonst“ in die dramatische Auseinandersetzung einspielt: „Ist es etwa umsonst (hinnam), dass Hiob gottesfürchtig ist? (1,9). Folgt seine Frömmigkeit nur der Maxime do, ut des („Haut um Haut“; 2,4), oder ist sie selbstlos auf Gott gerichtet? Gott lässt sich auf diese Wette – eine Prüfung wie in Gen 22 – ein. Er lässt den Satan den Part der Vernichtung Hiobs, seiner Kinder und seines Besitzstandes übernehmen. Die Novelle aber lässt keinen Zweifel da180

Müller, Theodizee? Anschlussüberlegungen, 249-279.

148

2.2 Der „Fall Hiob“

ran, dass dieses erzählerische Gegenüber der Sache nach eine – und zwar die zerstörerische – Seite Jhwhs repräsentiert. H. Spieckermann setzt eine dramatische Pointe und spricht geradezu von der „Satanisierung“ Gottes: „Theologisch ist der Satan der Schatten Gottes. Die Novelle tut alles, darüber keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Satan rät Gott, seine Hand gegen Hiob auszustrecken. Gott gibt Hiob in die Hand des Satans (1,11f; 2,5f.). Beide arbeiten Hand in Hand, weil es sich um dieselbe Hand handelt. Folglich reagiert Hiob auf die beiden Prüfungen, indem er Gott und niemand sonst als den Urheber seines Geschickes benennt.“181 Man wird diese Dramatik jedoch etwas herabstimmen müssen: Zwar belegt Hiob selbst in 16,9 die erlittene Anfeindung mit dem Wort ‚satam’182, doch ist Gott damit nicht schon zum Satan geworden; er handelt in der Maske des Satans. Die Tradition hat mit Recht festgehalten, dass auch der Satan nicht umhin kann, mit der Zielsetzung Gottes zu kooperieren, selbst wenn er das Gegenteil, die Pervertierung dieser Zielsetzung anstrebt. Damit ist das theologische Experiment ist auf die Spitze getrieben. Man muss diese Verkleidung ernst nehmen, auch wenn sie „nur“ eine literarische Fiktion ist. Es gab und gibt offenbar Erfahrungen, die diese Maske erzwingen. Die von den Freunden Hiobs ein ums andere Mal beschworene Weisheit mitsamt den von ihnen so vehement verteidigten verlässlichen Ordnungen der sozialen Welt steckt theologisch in der Sackgasse. An einer Welt, in der Übeltäter straflos bleiben und ihre Kollaborateure Erfolg haben, in der man über Schuldlose spottet und die elementarsten Rechte der unter die Räder Gekommenen missachtet, muss jeder theologische Deutungsversuch wie an einer Wand abprallen. Sie ist 181 182

Spieckermann, Die Satanisierung Gottes, 435. Ebd., 439.

149

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

des Teufels, und wer sich dennoch um die Quadratur des Kreises bemüht und diese verzweifelte Realität mit Gott auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen versucht, muss diesem Gott – wenigstens experimentell – diabolische Eigenschaften beilegen, ihn in der Rolle seines eigenen Quertreibers und Widersachers auftreten lassen, und ihm wie Hiob Dinge ins Gesicht sagen, dass einem der Atem stockt. Das Problem ist so gestellt, dass eine „Lösung“ in den Kategorien theologischen Redens und Denkens über Gott ausgeschlossen zu sein scheint, und man eigentlich nur die Frage aufwerfen kann, ob diese Travestie Gottes einen erkennbaren und verstehbaren Sinn haben mag. In der Rolle des Satans begegnet Gott Hiob als Feind. Das „Ende“ der Weisheit manifestiert sich in der „Annullierung des theologischen Zentrums des Alten Testaments, nämlich […] der Menschenfreundlichkeit Gottes“.183 In Hiob begegnen wir einem Menschen, der angesichts des zum Unheil entschlossenen Gottes leben muss und nun gezwungen ist, diesen Gott als Menschenfeind wahrzunehmen: „Ich will nicht mehr, ich kann nicht immer weiterleben. Lass ab von mir, denn nur ein Hauch sind meine Tage … Wie lange schon schaust du nicht weg von mir, lässt nicht einmal mich meinen Speichel schlucken? Habe ich gesündigt, was tat ich dir damit, du Menschenwächter? Warum stellst du mich dir als Zielscheibe hin? … Warum nimmst du mein Vergehen nicht fort, vergibst mir nicht meine Schuld? Nun lege ich mich in den Dreck, da suchst du mich, doch ich bin weg.“ (7, 16-21)

183

Ebd., 431.

150

2.2 Der „Fall Hiob“

Gott gedenkt des Menschen nicht mehr, um ihn – wie in Ps 8,5 – mit „Ehre und Herrlichkeit“ zu krönen. Hiob bekommt die „böse Rückseite“ dieser Wachsamkeit zu spüren. „Gottes Aufmerksamkeit realisiert sich als permanente Musterung, seine Zuwendung als Erdrückung.“184 Hier hat sich alles verändert. Gott nimmt sein vergängliches Geschöpf ins Visier, um es wie einen gleichrangigen Gegner tödlich zu treffen: „Meiner Ehre hat er mich entkleidet, hat mir die Krone vom Haupt genommen“ (19,9). Die einst ihm verliehene Menschenwürde hat Gott selbst ihm wieder entzogen. So steht Hiob am Ende des Dialogs sozusagen nackt vor Gott, noch des letzten Rechtes beraubt, das jeder Angeklagte geltend machen kann, des Rechtes auf seine Anklageschrift. Nur die selbstunterzeichnete Erklärung seiner Unschuld trägt er als Krone auf dem Haupt (31,36), um sie Gott zu präsentieren. Was ist das für ein Mensch? Derselbe, der in der Novelle den Titel „mein Knecht“ erhält (1,8; 2,3; 42,7f.) und der uns von ferne an das neutestamentliche „Ecce homo!“ (Joh 19,5) erinnern mag. (2) Hiobs Klage. Die existentielle Seite des „Falles Hiob“ wird in den nicht abreißenden Klagen sichtbar. Im Genus der Klage, nicht in der Form der Reflexion, wird die Chronik des Leidens in den Dialogen ausgebreitet. Hier geht es nicht um ein theoretisches Problem, sondern um tiefe Krisen in der Beziehung zu Gott, dramatisch verschärft noch dadurch, „dass Gott dabei in zweifacher ‚Instanz’ erscheint, als Adressat der Klage und als deren Grund“.185 Er zeigt sich in diesen trostlosen Redegängen von seiner fremdesten, dunkelsten Seite: weltüberlegen, transzendent, dem Menschen unerreichbar. So kennt Hiobs Klage keinen Gedankenfortschritt, auch keinen theologischen: „Meinen Weg hat er 184 185

Ebach, Streiten mit Gott, Teil 1, 83. Ebach, ebd., Teil 1, XII.

151

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

verbaut, ich kann nicht weiter.“ (19,8) Es ist alle Morgen dasselbe: „Mein Antlitz ist vom Weinen rot, und tiefes Dunkel liegt auf meinen Wimpern.“ (16,16) Doch wer klagt, hat ein Gegenüber, mag es auch noch so hartnäckig schweigen. Er hat gefunden, was einer späteren Zeit, die die „wirklichen“ Ursachen so gut durchschaut, über allem Erklären unter der Hand zerrinnt: eine Instanz, an die er sich halten kann, einen Adressaten, der zuständig ist. Und so geht ihm die menschlichste aller Fragen glatt von den Lippen: Warum gerade ich? „Bin ich denn das Meer oder der Meeresdrache, dass du eine Wache gegen mich aufstellst?“ (7,12) Er denkt jedoch nicht einen Augenblick daran, seine Leiden dem Weltlauf, den „Verhältnissen“ oder einer anonymen Schicksalsmacht zuzuschreiben. Sie kommen von Gott. „Auf der Basis dieses Satzes, der seinerseits keiner Diskussion unterworfen wird, bewegt sich der ganze Dialog.“186 Hiob steht nicht vor der Sinnverschlossenheit der Welt, er steht vor der Sinnverschlossenheit Gottes: „Er versteht ihn aber nicht in diesem Widerfahrnis. Er erkennt ihn, seinen Gott, darin nicht wieder. Er sieht darin wohl Gott – aber gewissermaßen einen Gott ohne Gott, d.h. einen Gott, der nicht die Züge des Angesichtes seines, des wahren Gottes trägt […] Er zweifelt keinen Augenblick daran, dass er es mit diesem, seinem Gott zu tun hat: es bringt ihn aber fast oder ganz von Sinnen, dass eben er ihm in einer Gestalt begegnet, in der er ihm schlechterdings fremd ist.“187

Hier fällt ein Licht auf die Bedingungen, unter denen im Hiobbuch gefragt und geantwortet wird. Im Spiegel dieser Klagen wird das theologische Problem Israels aufgerollt: Gilt der Bund, den Gott Abraham geschworen hat, noch angesichts der geschichtlichen Katastrophen des Volkes und der Leidenserfahrungen seiner einzelnen 186 187

Von Rad, Weisheit in Israel, 273. Barth, KD IV/3, 463.

152

2.2 Der „Fall Hiob“

Glieder? Doch da ist die Bürgschaft der Novelle, die Gott für Hiob übernommen hat, und an dieses „Manifest“, das ihn zum Sachwalter eines Anderen macht, appelliert er im Zuge einer scharfen Erwiderung an seine so argumentationsstarken Freunde: „Jetzt aber, siehe: Im Himmel ist mein Zeuge und mein Bürge in der Höhe.“ (16,19) Gegen den Angriff, den Gott gegen ihn führt, kann nur Gott selbst aufgeboten, nur er als Anwalt und Richter angerufen werden. Und so blickt Hiob gewissermaßen auf den dunkelsten Punkt, dorthin, wo ihm das Schweigen am undurchdringlichsten begegnet, in der Gewissheit, dort den Gott zu finden, mit dem er es in seinem unbegriffenen Leiden zu tun hat: „Ich weiß, dass mein Löser (go’el) lebt und sich zuletzt auf dem Staub erhebt. Nachdem meine Haut so geschunden ist, werde ich mit meinem (bloßen) Fleisch Gott sehen, ich bin es, der ich ihn für mich sehen werde, mit meinen Augen werde ich sehen – und nicht als Fremder.“ (19, 25-27)

Diese Verse gehören zu den meist interpretierten des Hiobbuchs. Sie haben eine breite Spur in der christlichen Auslegungsgeschichte hinterlassen. Man hat sie als ein alttestamentliches Auferstehungszeugnis gelesen, hat in dem „Löser“ den Erlöser des Lebens durch bzw. nach dem irdischen Tod gesehen. Ebach hat diese Deutung mit guten Gründen als eine „Uminterpretation“, ja geradezu als eine „Enteignung“ zurückgewiesen.188 Denn hinter dem go’el (so der Nachweis Rainer Kesslers) steht ein sozialgeschichtliches Institut: „Auf den Löser angewiesen ist einer, der so verarmt ist, dass er aus eigener Kraft seinen Besitz oder seine Person nicht mehr halten

188

Ebach, a.a.O., Teil 1, 161ff.

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2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

kann.“189 Ihm fehlt ein Äquivalent, das er seinen Gläubigern anzubieten hätte. Es geht um die Not des diesseitigen Lebens, das nicht über den Tod hinausblickt. Die Auslegung muss die verbale Grundbedeutung – „aus fremder Verfügungsgewalt befreien“ – im Blick behalten, die sich bei Deuterojesaja (41,14 u.ö.) mit dem Ereignis der Befreiung aus Ägypten verbindet und durch diese Herkunft zu einem Attribut Gottes geworden ist. Die Erwartung Hiobs, sein „Wissen“, richtet sich demnach darauf, dass der go’el ihn „auslösen“, d.h. ihn von seinem gegenwärtigen, extrem erniedrigten Zustand befreien und ihn in den ursprünglichen Status seines früheren Lebens und seines Rechts wieder einsetzen wird. Auch hier geht es nicht um die „Lösung“ einer theoretischen Frage, sondern um ein Lebensproblem, um die Erlösung aus konkreter Bedrängnis. Wer also ist der go’el? Der Text (V.26) lässt kaum eine andere Möglichkeit zu, als ihn mit Gott zu identifizieren, dem Gott, den er als Feind erfahren und aufs heftigste unter Anklage gestellt hat. Hiob ruft Gott gegen Gott an. Denn welche andere Instanz sollte man gegen ihn  – zumal in einem monotheistischen Kontext – aufbieten? Nemo contra Deum nisi Deus ipse, niemand kommt gegen Gott an außer Gott selbst, heißt es in einem Diktum unbekannter Herkunft, das freilich nicht nur jedes theologische Denken vor unlösbare Schwierigkeiten stellt. Auch und erst recht das Theodizeeproblem lässt sich in seiner klassischen Gestalt mit dieser Formel nicht bewältigen. Auf das existentielle Problem, warum der Gerechte mit und nach Hiob leiden muss wie Hiob, gibt sie keine Antwort. Andererseits ist sie jedoch die angemessenste Form, „die Frage richtig zu stellen, und zwar als Frage an Gott, nicht als Aussage über Gott“.190 Lässt sich dann aber etwas anderes tun, als 189 190

Kessler, „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ 150. Ebach, a.a.O., Teil 1, 167.

154

2.3 Das Hiob-Problem

an der Theodizee als Frage festzuhalten und mit Hiob auf eine Antwort zu warten, also angesichts traditioneller Engführungen darauf zu verzichten, eine Antwort, komme sie aus der Philosophie oder der Theologie, für eine Rechtfertigung Gottes auszugeben? Immerhin wird hier eine in den Psalmen jener Spätzeit oft genug wiederkehrende Erwartung deutlich genug ausgesprochen. Gott wird sich zu den Menschen, die leiden wie Hiob, bekennen und sie ins Recht setzen: „Du gibst mein Leben nicht dem Tode preis und lässt deine Frommen nicht die Grube schauen.“ (Ps 16,10; vgl. Ps 73, 23f. u.ö.)

2.3 Das Hiob-Problem (1) Das Thema der Weisheit. Folgt man den älteren Auslegungen des Hiobbuches, so wäre mit diesen letzten Feststellungen alles gesagt, und die großen Gottesreden am Ende des Buches blieben ein schwer erklärbarer Fremdkörper. Auf die Fragen nach Hiobs Leiden und ihrem Warum geben sie keine Antwort. Hier soll daher die zweite Linie verfolgt werden, der „kosmologische“ Hintergrund, auf dem, wie ich zu zeigen versuchte, viele der in den Dialogen aufgeworfenen Fragen erst verständlich werden. So findet sich in der „argumentativen“ Mitte des Buches, eingerahmt von zwei umfangreichen Klagen, das oft zitierte große Lied von der weltimmanenten Weisheit, ein klassischer Topos der Lehre (Hiob 28). Es steht an genau der Stelle, an der die vorangegangene Suche nach einer „existentiellen“ Lösung (27,13-23) an ihr vorläufiges Ende gekommen ist, und eröffnet insofern eine neue Perspektive: Könnte man die breit ausladende Beschreibung der Suche nach dem Fundort der Weisheit nicht als Frage nach den Kriterien verstehen, denen auch eine Antwort auf das Problem des Leidens genügen müsste? Als Lebensproblem wäre 155

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

es damit in den Horizont der Lehre gerückt. Auffallend ist jedenfalls, dass hier wie in den Gottesreden die soziale Seite, die Frage nach den Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens, gegenüber dem dominanten kosmologischen Interesse ganz in den Hintergrund tritt. Man wird das immerhin als einen Hinweis nehmen müssen, dass die Konzentration allein auf das menschliche Leiden der Weite des hier eröffneten Problemhorizontes kaum gerecht werden kann. O. Keel betont zu Recht, dass Hiob auch ein „Problemträger“ ist.191 Indem das Weisheitslied den großen Bogen von der Kunstfertigkeit des Bergbaus über Kostbarkeit und Wert der in den Tiefen der Erde gefundenen Metalle und Edelsteine bis hin zu den kosmischen Phänomenen (Urflut, Wasser, Regen, Donnergewölk) abschreitet, lenkt es den Blick auf die menschlichem Verstand entzogenen Bereiche. In ihnen aber, darauf fällt nun alles Gewicht, manifestiert sich eine durchdringend bestimmende göttliche Vernunft („Weisheit“), die als so etwas wie der von Gott den Dingen eingestiftete „Sinn“, als ihr „göttliches Schöpfungsgeheimnis“ (G.von Rad), von jedermann mühelos erkannt werden kann. Von einer Irrationalität des Weltaufbaus, von prinzipiell undurchschaubaren Ordnungen ist hier so wenig wie in Hiob 38-41 mit keinem Wort die Rede, und darum auch nicht von einem Verweis auf die Unbegreiflichkeit Gottes, die ja nur eine resignierte Unterwerfung oder einen völligen theologischen Agnostizismus zur Folge haben könnte. Das Thema von Hiob 28, die Frage nach Ort und Weg der Weisheit, ist vielmehr die Frage nach dem von Hiob bestrittenen Plan der Welt, nach dem Maß der in ihr erkennbaren Ordnung des Weltlaufs. Hiob hat auf diese Frage mit der schärfsten nur denkbaren Anklage reagiert: Gott, „der die Berge umstürzt“ 191

Keel, Jahwes Entgegnung an Hiob, 47.

156

2.3 Das Hiob-Problem

und „die Erde in ihren Fundamenten erschüttert“, der den Orion und das Siebengestirn erschuf – „an mir geht er vorbei“ (9,11), ich zähle nicht, und dieses vernichtende Fazit wird nun auf die soziale Sphäre übertragen: Er macht keinen Unterschied zwischen dem Untadeligen und dem Verbrecher (V.22), er verhöhnt den Tod der Schuldlosen, wenn sie plötzlich umkommen (V.23), und als äußerste Zuspitzung folgt nun als Fazit: „Die Erde ist in die Hand eines Frevlers gegeben“ (V.24). Glaube und Erfahrung brechen hoffnungslos auseinander, und wer dennoch an Gott als dem Herrn der Welt festhalten will, kann die Frage, wer denn dieser Frevler sei, nur mit der rhetorischen Gegenfrage beantworten: „Wenn nicht Er, wer dann?“ Wer die Lösung des Hiob-Problems in einem mutigen oder resignierten „Trotz allem!“ sehen will, also in einer vertrauensvollen Selbsthingabe in die Hände Gottes, wird sich nun seinerseits fragen lassen müssen, ob sich ein Mensch wohl jemandem in den Arm werfen kann, den er für einen Verbrecher hält. Hier also wird in aller Form die Theodizeefrage aufgeworfen, und zwar in der Gestalt, in der sie Epikur für die Antike formuliert hat: Wenn Gott die Übel der Welt verhindern kann und [es] nicht will, dann ist er missgünstig, was sich für Gott nicht ziemt.192 Gegen diese Konsequenz wehrt sich das theologische Denken. Doch lässt sie sich vermeiden? Es ist eine Aporie, und sie ist es, die Hiob in sein existentielles Problem stürzt: Wie soll man sich diesem Gott anvertrauen? Sein Lebensproblem, das zeigt sich hier, ist untrennbar mit der Antwort auf das Problem der Lehre verbunden. (2) Noch einmal: die Gottesreden. Genau hier setzen die Gottesreden ein und geben der Problemstellung die entscheidende Wendung. Hiob hatte Zofar, einem seiner Freunde, entgegengehalten, als Verteidiger der lü192

Epikur, Von der Überwindung der Furcht, 80.

157

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

ckenlosen Verlässlichkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs solle er doch einmal prüfen, ob seine These, dass die Frevler das verdiente Unheil ereile, überhaupt der Erfahrung standhält. Liegt es nicht am Tage, dass sie „in voller Kraft, in allem sorglos und zufrieden“ nicht nur leben, sondern auch noch „sterben“? (21,13) Und nun kommt dieselbe Frage durch den aus dem Wettersturm zu ihm redenden Gott auch auf ihn selber zu: Ist seine These der aus den Fugen geratenen Weltordnung besser begründet? Kann sie sich mit größerem Recht auf Erfahrung berufen? Wenn man die weit ausholende Selbstdarstellung der Schöpfung nicht (wie Kant) als eine stumme, ihn niederschmetternde Machtdemonstration liest, sondern sie als das nimmt, als was sie genommen sein will, als eine gezielte und genau platzierte Antwort auf Hiobs Vorwurf, dann zeigt sich, dass hier die beiden Argumentationsebenen zusammentreffen: Dass Gott sich meldet, dass er tatsächlich erscheint und sich im Spiegel seiner Schöpfung „sehen“ lässt, ist die dringend erwartete Antwort auf sein Lebensproblem. Was er ihn sehen und hören lässt, ist – bis hin zu den „ebenso in der Schöpfung wie außerhalb ihrer Kriterien“ lebenden mythischen ‚Ungeheuern’ Leviathan (Krokodil) und Behemoth (Nilpferd)193  – eine nicht weniger zielgenaue Antwort auf das dahinter stehende Problem der Lehre. Diese Demonstration hat ja kaum den Sinn, Hiob über die Brücke „sprachlosen Staunens“ zum „Vertrauen gegenüber seinem Schöpfer“ zu führen.194 Von „Vertrauen“ ist in diesen „Antworten“ nicht die Rede. Es geht um fehlende Einsicht: ein „kosmologisches“ Problem. Doch ist dieses Problem in den Reden gelöst? Das wird man nicht unbedingt sagen können. Es ist in die 193 194

Ebach, Streiten mit Gott. Teil 2, 150f. (zu Hiob 40 und 41). So Maag, Hiob, 117.

158

2.3 Das Hiob-Problem

richtigen Proportionen zurückgestellt. Hiob weiß etwas, was er vorher nicht wusste. Das geben die letzten Sätze des Dialogs zu verstehen: „Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, jetzt aber hat mein Auge dich gesehen. Darum verwerfe (widerrufe) ich und ändere meine Einstellung – auf Staub und Asche.“ (42, 5-6)

Überwinden lassen sich Probleme, indem man sie löst oder indem man sie nicht mehr stellt, weil sich die Situation, in der sie aufbrechen mussten, verändert hat. Das offenbar ist hier geschehen. Denn tritt Gott nicht von außen, als ein erst noch hinzuzudenkender Inhalt in die Situation des Menschen hinein, dann bleibt uns nur zu fragen, wie seine Nähe sich in dieser Situation auswirkt und wie die Situation selbst sich über dieser Nähe wandelt. Hier werden zwei unterschiedliche Aussagen getroffen. An die Stelle des Hörensagens ist nun tatsächlich das Sehen getreten, also das, was Hiob nach 19,26f. noch wichtiger zu sein schien als die „Erlösung“ aus seinem Elend. Darüber hat seine Situation sich tatsächlich verändert, auch wenn er wie zu Anfang (2,8) noch „auf Staub und Asche“ sitzt. Er muss nicht mehr ins Leere nach Gott rufen; er hat ihn als seinen Gott gesehen und erkannt, und von ihm wird er am Ende mit Kindern und dem doppelten Bestand seiner Güter „wiederhergestellt“ (42,12f.). Damit ist der „Fall Hiob“ zum Abschluss gebracht. Und wie steht es mit dem „Hiob-Problem“? Hat Hiob auch etwas Neues zu wissen bekommen? Gesehen hat er ja nicht Gott selbst, von ihm auch keine theoretischen Grundsätze einer göttlichen Weltregierung erfahren. „Gesehen“ aber hat er den Gott, der in seiner ganzen Überlegenheit den Weg seiner Schöpfung begleitet, den Gott, dessen bedingungslose Prä-

159

2. Der „Fall Hiob“ und das Hiob-Problem

senz er selber in seiner Klage bezeugt. Er ist mit etwas Tatsächlichem und täglich Geschehendem konfrontiert worden, und die Dichtung ist davon ausgegangen, dass er diese Sprache verstanden hat. Er hat also auch etwas Neues zu wissen bekommen. Er trennt sich von der Forderung, der Weltlauf müsse sich an seinem eigenen Ergehen messen lassen, er hat verstanden, dass, wenn er leidet, nicht die ganze Welt ein Chaos ist. Darin bewährt er sich als Zeuge Gottes. Hier geht es um eine neue Erfahrung mit Gott, die Erfahrung, dass er nicht über dem Leiden seiner Schöpfung, ihrer Ohnmacht und Schwachheit entzogen, sondern (auch) mitten in ihm zu finden ist, dass er sich sozusagen „vor Ort“, in der Situation des Geschöpfes, als Gott definiert. Selbst die extreme Infragestellung durch Krankheit, Verzweiflung und materielle Not ist nicht der praktische Fall einer objektiv gottlosen Situation, weshalb es keinen Grund gibt, zu einem besseren und gerechteren Gott zu fliehen. Hiobs Anklage ist dem „Hörensagen“, dem Weg des Postulates, gefolgt. Sie hat Gott an der falschen Stelle gesucht. So weiß er tatsächlich etwas, was er zuvor nicht wusste, und kann seine bisherige Einstellung „verwerfen“. Denn wo diese verborgene Präsenz Gottes wahrgenommen, wo sie als Unterpfand seiner bleibenden Treue angenommen wird, da ist dem Problem der Theodizee der Boden entzogen. Denn wenn Gott selbst die Situation seines Geschöpfes teilt, dann spricht sie  – auch in extremis  – nicht gegen Gott, sondern für Gott. Insofern gibt es auch eine Vermittlung zwischen der kognitiven und der existentiellen Seite seines Problems. Denn es wird zuletzt auch in den Gottesreden eine bestimmte Erwartung geweckt: Die Schöpfung, in deren Plan Hiob „ohne Verstand“ hineingeredet hat, werde für Gott in einer Weise Zeugnis ablegen (wie sie es in Gen 1 angesichts der desolaten Situation des deportierten Volkes

160

2.3 Das Hiob-Problem

getan hat), so dass wir seine im Chaos menschlicher Lebensläufe nicht mehr erschwingbare Rechtfertigung ihr überlassen dürfen. Nur eines weiß Hiob nicht: warum das ganze Unheil gerade ihn getroffen hat, warum es auch nach ihm noch ungezählte Menschen treffen wird. Die Frage der Theodizee bleibt nach dieser Seite hin offen. Die Antwort des Hiobbuchs weist in eine andere Richtung: Auf den Gott Hiobs zu warten, bis „dich mein Auge gesehen hat“: Darauf käme es an, zu warten, dass er sich zeigt, und  – wann immer das dann auch sei  – selber erklärt, wie Krankheiten, Unglücksfälle oder Kriege mit seiner Weisheit zu vereinbaren sind. Das ist die Einsicht, die sich diesem sperrigsten Buch der Bibel zuletzt abgewinnen lässt. Und das ist nicht wenig, verglichen mit den Versuchen, Gott gewissermaßen auf eigene Faust ins Recht (oder auch ins Unrecht) zu setzen.

3. Die leidende Welt und der leidende Gott Wie ist angesichts der leidenden Welt von Gott zu reden? Das ist die Theodizeefrage, die das biblische Nachdenken über Abraham und Hiob hinaus bis hin zu den Märtyrern der hellenistischen Zeit in Atem hält. Wie weit kann, wie weit muss man sie vortreiben? Im Neuen Testament verbindet sie sich in letzter Schärfe noch einmal mit dem Weg und dem gewaltsamen Geschick Jesu, den die früheste Gemeinde als „Sohn Gottes“, später als „wahren Gott“ bekennt. Wie also erschließt sich Gott in der am Kreuz endenden Jesus-Geschichte? Er tut es als der leidende und mitleidende Gott, so hat es die Theologie der letzten Jahrzehnte (Bonhoeffer, Moltmann) wieder herausgestellt und damit die Gegenfrage provoziert, ob dieses göttliche Leiden am Ende doch nur

161

3. Die leidende Welt und der leidende Gott

eine „sublime Verdopplung menschlichen Leidens und menschlicher Ohnmacht“ sei.195 Wie aber sollte ein ohnmächtiger Gott der leidenden Welt helfen können? Die Theodizeefrage wäre „stillgelegt“. Dieser nicht leicht zu nehmenden Anfrage gehe ich in den folgenden Überlegungen nach.

3.1 Die historische und die theologische Ebene der JesusGeschichte Der Lebensweg Jesu endet auf dieser Erde als Passionsgeschichte, und diese Geschichte ist in ihrer Spitze, dort, wo ihr Ertrag als das Heil für alle Menschen verkündigt wird, die Geschichte einer gewaltsamen Tötung, eine Mordgeschichte, noch dazu eine, die unter Gottes Zulassung geschieht. Christus bekommt seinen Platz in der Mitte von zwei mit ihm hingerichteten Mördern (Lk 23,33). Dieses Bild  – der Ermordete unter den Mördern – hat eine tief in unser Bewusstsein eindringende Tradition geschaffen. Vergossenes Blut, symbolisch vergegenwärtigt im Ritus der christlichen Abendmahlsfeier, ist zum unheimlich zentralen Inhalt unserer Botschaft geworden. „Sooft ihr von diesem Brot esst und diesen Kelch trinkt“, interpretiert Paulus, „verkündigt ihr [damit] den Tod des Herrn, bis er (wieder)kommt“ (1 Kor 11,26). Der Tod Jesu gilt ihm als das entscheidende, den christlichen Glauben begründende Ereignis. Dafür steht das Zeichen des Kreuzes in unseren Kirchen, ein Zeichen, das uns an den dunklen Schatten der „frohen Botschaft“ erinnert. Sucht man es auf dem Boden der Theodizeefrage zu entschlüsseln, so lautet die Frage: Wird das diesseitige Böse durch das göttliche Leben, durch Gutes, überwunden, und zwar am Ort des Bösen selbst? 195

Metz, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 95.

162

3.1 Die historische und die theologische Ebene der Jesus-Geschichte

Die Evangelien erzählen die Geschichte Jesu absichtsvoll so, dass die dunkle Spur der Gewalt immer wieder in ihr aufleuchtet. An ihrem Anfang steht die Flucht nach Ägypten, der Säugling, der mit knapper Not dem von Herodes inszenierten Kindermord in Bethlehem entrinnt. In ihrer Mitte, bei der Taufe Jesu am Jordan, dem Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit, ertönt eine Stimme vom Himmel und erinnert an eine der abgründigsten Szenen der Bibel: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ (Mt 3,17) Hinter dem „einzig geliebten“ himmlischen Sohn taucht das Bild des irdischen Sohnes Isaak aus der alttestamentlichen Überlieferung auf.196 Die Erzählebene legt es nahe, die Jesus-Geschichte des Matthäus-Evangeliums in eine Parallele zur Abrahamerzählung der Genesis zu setzen und in beiden ein “Gottesexperiment“ zu sehen, in der die Treue Gottes und die Verlässlichkeit seiner Verheißungen auf dem Prüfstand stehen. Indessen gibt es einen gar nicht zu übersehenden Unterschied zwischen diesen beiden Erzählungen. Die Prüfung Abrahams findet ein gutes Ende. Die Stimme des Engels versichert ihn der unverbrüchlichen Treue seines Gottes. Die Entscheidung über die Gottheit Gottes fällt auf der Erzählebene von Gen 22 selbst. Das ist in der Jesus-Geschichte nicht der Fall. Gott lässt an ihrem Ende tatsächlich geschehen, was Abraham nicht hat tun müssen. Er hat, wie Paulus (wiederum mit einem wörtlichen Zitat aus Gen 22,16) formuliert, „seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben“ (Röm 8,32). Deshalb sehen wir in der letzten Szene Christus unter den Mördern. Die Ambivalenz des Gottesbildes wird bei Markus und Matthäus bis ins Extrem der Gottverlassen196

Dazu s. Abschnitt II. 1, 121-128.

163

3. Die leidende Welt und der leidende Gott

heit Jesu am Kreuz gesteigert. Auf der narrativen „historischen“ Ebene wird der Widerspruch zwischen dem von Jesus verkündigten „liebenden Vater“ und dem „Gottesverlust“ des am Kreuz sterbenden „Sohnes“ nicht gelöst. Die alte Frage Adolf von Harnacks, ob der liebende Gott ein Golgatha für seine Vergebung brauche, bleibt auf dieser Ebene ohne Antwort. Eugen Drewermann hat diesem „rätselhaften Widerspruch“ des ganzen Christentums, der Zumutung, „dass es der Tötung eines Unschuldigen bedarf, um von dem eigenen Unleben befreit zu werden“, einen weithin hörbaren Ausdruck gegeben: „Ein Gott, der seinen eigenen Sohn nicht schont, sondern ihn am Kreuz ‚dahingibt’, ein Gott, der seinem Sohn ‚Gehorsam’ unter Angstschweiß und Tränen abverlangt und der sich selbst zu dem vielfach Gefolterten, den er, wie die fromme Legende obendrein noch versichert, leichthin hätte retten können, schließlich erst bekennt, als alles bereits ‚vollbracht’ ist, ein solcher Gott erscheint keineswegs nurmehr als ein Gott der erlösenden Liebe, er erscheint vielmehr als unbegreiflich widersprüchlich, als unvorstellbar grausam, ja, als archaisch, barbarisch und roh.“197

Auf der historischen Ebene ist das theologische Problem der Theodizee nicht zu lösen. Erst die nachösterliche Gemeinde, die den Gekreuzigten als Auferstandenen erfahren hat und verkündigt, hat den Schlüssel gefunden, mit diesem Widerspruch fertig zu werden. Sie versteht den Tod Jesu im Licht von Ostern. Dementsprechend berichtet das Neue Testament die Jesus-Geschichte auf zwei , nach heutigen Begriffen methodisch zu trennenden Ebenen, einer historischen (die für ihre Autoren jedoch nicht einfach theologiefrei ist) und einer sozusagen explizit theologischen. An dieser Differenz entscheidet sich das biblische Verständnis. Auf der historischen Ebene der 197

Drewermann, Das Markusevangelium I70.

164

3.2 Der Tod Jesu als Opfer

Passionsberichte, ist Jesus das Opfer menschlicher Gewalt; er wird auf Betreiben der römischen Justiz hingerichtet. Den Tod, den er stirbt, haben vor und nach ihm unzählige Menschen erlitten; er ist alles andere als exklusiv. Zu diesem Tod aber setzt sich Gott in ein Verhältnis: „Das Leiden Jesu Christi ist der Ort der Selbstoffenbarung Gottes.“198 Hier bringt er sich selbst ins Spiel, und erst damit betreten wir die theologische Ebene, auf der das Theodizeeproblem zu bewältigen wäre. Dieser Differenz entspricht die (im Deutschen leider nicht vorgesehene) Unterscheidung zwischen victima, einem Gewaltopfer, und sacrificium, einem kultischen Opfer. Da das letztere weit verbreitete Interpretament, die Deutung des Todes Jesu als Opfer, zu gravierenden Missverständnissen der „Rolle“ Gottes im Drama der Passion geführt hat, soll hier der Diskurs beginnen.

3.2 Der Tod Jesu als Opfer Zu den in unserer Tradition fest verankerten, heute aber nahezu unverständlich gewordenen Deutungen des Todes Jesu gehört die Interpretation seines Leidens und Sterbens als Opfer. Für diese Deutung pflegt man sich vor allem auf den Hebräerbrief (9, 11-14) zu berufen. Hier wird der Kreuzestod als ein stellvertretend für alle Menschen Gott dargebrachtes Äquivalent verstanden, als Sühne für unsere Sünden, die Gott mit uns versöhnt. Oder war es gar ein von Gott gefordertes blutiges Opfer eines eigenen Sohnes, mit dem er seine Liebe zu uns unter Beweis stellt? Das Liedgut unserer Kirche hat gerade diese Deutung zum dominanten Auslegungsmuster verfestigt, allem voran der bekannte Choral Paul Gerhardts: 198

Härle, Leiden als Fels des Atheismus?, 142.

165

3. Die leidende Welt und der leidende Gott Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld / der Welt und ihrer Kinder, es geht und büßet in Geduld / die Sünden aller Sünder.

In einem Dialog zwischen Gott und Christus tritt das von Anselm übernommene, aber erheblich umgedeutete juridische Motiv der Strafe (aut poena aut satisfacio) als der entscheidende Grund der Passion ins Zentrum: Geh hin mein Kind und nimm dich an / der Kinder, die ich ausgetan / zur Straf und Zornesruten; die Straf ist schwer, der Zorn ist groß, du kannst und sollst sie machen los / durch Sterben und durch Bluten.

Durch das unschuldige Opfer Christi – so die hier weitergegebene Vorstellung – wird Gott mit uns, nicht aber, wie Paulus schreibt, die Welt mit Gott versöhnt (2 Kor 5,19). Schon der Heidelberger Katechismus hat diese in ihrer Wurzel juridische Argumentation übernommen und zum vielfach variierten Grundmuster christlicher Versöhnungslehre gemacht: „Gott will zu seinem Recht kommen; darum müssen wir unsere Schuld entweder selbst oder durch einen anderen vollkommen bezahlen.“ (Frage 12) Die Last des ewigen „Zornes Gottes“ liegt über dem Sterben Jesu, und diese Last hat die Theologie über die Jahrhunderte weitergetragen. Mit schonungsloser Härte zieht P. Gerhardt die Konsequenzen des so verstandenen Opfers für das Gottesbild und stellt in einer Strophe, die die Kirche zu Recht in ihre neueren Gesangbücher nicht mehr meinte aufnehmen zu dürfen, Gott unumwunden als den Mörder seines Sohnes dar:

166

3.2 Der Tod Jesu als Opfer Du marterst ihn am Creutzes-Stamm / mit Nägeln und mit Spiessen: Du schlachtest ihn als wie ein Lamm / machst Hertz und Adern fliessen.199

Das Wort vom Kreuz, das wie kein anderes eine befreiende Botschaft sein will, wird hier (wie oft genug die Kruzifixe in unseren Kirchen) nur noch als Symbol des Todes, der Folter und Unterdrückung verstanden. Demgegenüber hat Karl Barth schon vor mehr als einem halben Jahrhundert erklärt: „Es geht nicht an, den Begriff (der Strafe) wie es in den älteren Fassungen der Versöhnungslehre geschehen ist, geradezu zum Hauptbegriff zu erheben: weder in dem Sinn, dass Jesus Christus uns durch das Erleiden unserer Strafe erspart habe, sie selber erleiden zu müssen, noch gar in dem Sinn, dass er dadurch dem Zorn Gottes ‚genug getan’, Satisfaktion geleistet habe. Der letztere Gedanke zumal ist dem Neuen Testament ganz fremd“200 – ganz abgesehen davon, dass durch den Vollzug eines solchen Opfers „an seiner (des Menschen) Situation im Zwiespalt und Widerspruch […] nichts geändert wird“.201 Die neuere theologische Diskussion  – ich schließe mich der von Karl Barth angestoßenen, von Jürgen Moltmann und seinen Schülern weitergeführten Interpretation an  – hat sich denn auch von diesem Deutungsmuster getrennt. Gerade der Hebräerbrief, der die Opfertheologie so stark in den Vordergrund rückt, nötigt zu dieser Abkehr.202 Er bewegt sich mit seiner Argumentation auf der kult- und opferkritischen Linie, die sich bereits im Alten Testament nachzeichnen lässt.

Zitiert nach Gnädiger, Paul Gerhardt – Weg und Wirkung,16. Barth, KD IV/1, 279. 201 Ebd., 306. 202 Dazu: Brandt, War Jesu Tod ein „Opfer“?, 71f. 199 200

167

3. Die leidende Welt und der leidende Gott In Hebr 10, 5-7 werden Jesus Worte aus Ps 40, 5-7 in den Mund gelegt: „Schlachtopfer und Gaben hast du nicht gewollt, doch Ohren [zum Hören / Gehorchen] hast du mir gegraben, einen Leib mir bereitet. […] Damals sprach ich: Siehe, hier bin ich, in der Schriftrolle steht, was ich tun muss. Ich habe Lust, deinen Willen zu tun, mein Gott.“ In V.9f. werden diese Psalmworte interpretiert: Christus „hebt also das erste [= das kultische Opfer] auf, um das zweite [= Gottes Willen] zu tun, und in diesem Willen sind wir geheiligt durch die Darbringung (prosphora) des Leibes Christi ein für allemal.“ V.18 fügt als definitive Schlussfolgerung an: „Wo aber Vergebung für diese [Sünden und Übertretungen] ist, da gibt es keine Opfergabe mehr für die Sünden.“

Der Text lebt von der Antithese: hier Opfer, dort Erfüllung des Willens Gottes. Mit Opfern wird der Wille Gottes nicht erfüllt. Das Opfer hat seine theologische Legitimation verloren. Nimmt man diese Sätze ernst, dann verbieten sie uns, den Lebensweg Jesu im Sinne einer ihm auferlegten kultischen Opferrolle zu deuten – was im übrigen ja auch denkbar schlecht zu der in den Evangelien bezeugten Lebensfreude und Lebensfülle Jesu, seinen Gastmählern in den Häusern der Zöllner, seiner Wahrnehmung der leuchtenden Schönheit der Schöpfung passen will, ganz abgesehen davon, dass eine (einmalige) Hinrichtung etwas anderes ist als ein wiederholungsbedürftiger kultischer Akt. Der Hebräerbrief gibt denn auch eine andere Deutung: Mit seiner ganzen Existenz, ja unter Aufbietung seines eigenen Leibes hat er dem Willen Gottes zu entsprechen, ihn zu erfüllen gesucht. Dieser Weg, der Weg der Gerechtigkeit, der ihn auf die Seite der gesellschaftlich Ausgegrenzten, der „Armen“, führt, hat die Gewalt provoziert, der er zum Opfer (victima) gefallen ist. Man darf den Vergleich wagen: Wie politische und religiöse Dissidenten unserer Tage Gefängnis und Folter auf sich nehmen, um für ein besseres Morgen einzustehen, so hat Jesus mit diesem bis zur letzten Konsequenz durchschrittenen Weg der

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3.2 Der Tod Jesu als Opfer

Menschheit eine neue Zukunft eröffnet. Dieses Gewalt­ opfer (victima) erkennt Gott gleichsam rückwirkend als kultisches Opfer (sacrificium) an. Er lässt es als das nun definitiv letzte „Opfer“ einrücken in den Ort und in die Funktion der priesterlichen Opfer, er interpretiert es als Opfer (sacrificium). Das Wort „Opfer“ muss somit als Metapher verstanden werden. Sieht man im Sinne einer historischen Darstellung von dieser theologischen Interpretation ab, dann muss der Lebensweg Jesu als ein Weg des Scheiterns erscheinen. Der von Markus (15,34) und Matthäus (27,46) überlieferte Schrei der Gottverlassenheit Jesu: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ (Ps 22,1), fragt jedoch nicht wie unser „warum“ rückwärtsgewandt nach dem Grund, sondern – so der griechische Text  – mit dem Blick nach vorn, mit welcher Absicht und mit welchem Ziel („wozu“) Gott seinen Sohn diesem Geschehen ausgeliefert hat. Andernfalls könnte, wie Dalferth argumentiert203, das Scheitern tatsächlich das letzte Wort über diese Biographie sein. Denn der hier in höchster Verzweiflung angerufene Gott widerspricht allem, was Jesus über seinen „Vater im Himmel“ gesagt und gelehrt hat. In seiner Verborgenheit, seinem Schweigen, seiner Tatenlosigkeit und der Verweigerung jeglicher Hilfe erscheint er selber als das Böse, gegen das sich Klage und Anklage richten. Er scheint „sich selbst untreu geworden zu sein“, indem er, statt das bonum seines Reiches anbrechen zu lassen, dem malum tödlicher Agonie seinen Lauf lässt. Was ist dazu zu sagen? Wir wissen nicht, was Jesus tatsächlich in seiner Todesstunde gesprochen oder gesagt hat. Seine „letzten Worte“ am Kreuz, von Lukas und Johannes anders wiedergegeben, sind von Ostern her gesprochen. Es sind testamentarische Urteile der Gemeinde über seinen Lebensweg. Zugleich fällt etwas anderes hier ins Gewicht: Jüdisches Zitieren ist in 203

Dalferth, Malum, 473.

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott der Regel ein „Anzitieren“, das erwartet, „dass die Lesenden und Hörenden den Text fortsetzen können“.204 So auch im Fall von Ps 22,1. Der Kontext wird bei der Leser- und Hörerschaft als präsent vorausgesetzt (auch wenn nach Mt 27,44 die um das Kreuz „Herumstehenden“ wohl kaum zu solchen Hörern gehörten). Sie weiß oder kann es doch wissen, dass es sich bei diesem Zitat um das Gebet des leidenden Gerechten handelt, das mit der Wende: „Du gibst mir Antwort“ (V.22b) und dem Lobpreis Gottes in der Gemeinde (V.23) schließt.

Klaus Wengst erinnert in diesem Zusammenhang an die paradigmatische Darstellung des gewaltsamen Todes der Gerechten, wie sie sich in 2 Makk 7 findet205, eine Märtyrererzählung aus der Zeit der hellenistischen Judenverfolgung. Hier bricht (wie in Jes 26,19) die Hoffnung einer Auferstehung der Toten auf. Denn Gott lässt nicht zu, dass all die, die bis zum Tod für seine Wirklichkeit eingestanden sind, mit ihrer Hinrichtung ins Unrecht gesetzt werden: Er wird sie über den Tod hinaus ins Recht setzen; er wird sie auferstehen lassen. Jesus gehört ohne Zweifel zu diesen Gerechten. Das Bild des Opfers kann „darum nur sinnvoll auf das Geschehen des Kreuzes angewandt werden, wenn es das Geschehen der in Jesus sich hingebenden Liebe Gottes ausdrückt“.206 Von Ostern her liest sich das dann so: Auferstehung der Toten ist an ihrer Wurzel Protest Gottes gegen das Unrecht der Diktatoren, Widerspruch Gottes gegen die Macht, die sein Recht mit Füßen tritt. Die Auferstehungshoffnung widersteht dem Anspruch, dass dieser Macht die Zukunft gehören könnte. Sie ist Hoffnung, wie sie radikaler nicht gedacht werden kann: Enteignung der gewalttätigen Sieger der Geschichte. Sie setzt darauf, dass Gott zu seinem Recht kommt. Wengst, „…dass der Gesalbte … gestorben sei“, 106; dagegen Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 342f. 205 Ebd., 115f. 206 Krötke, Gottes Klarheiten, 179. 204

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3.2 Der Tod Jesu als Opfer

Interpretiert man den Verlassenheitsruf von Mk 15,34 vor diesem Hintergrund, setzt sich, wie man nun wird sagen müssen, der sterbende Jesus bewusst dem Ort der Gottlosigkeit aus, an dem die Täter und Mörder agieren, dann ist selbst an diesem dunkelsten Ort der Erde die Hoffnung nicht besiegt. Die neutestamentliche Überlieferung zeichnet in das Bild Jesu die Züge des „Gottesknechts“ von Jes 53 ein, der sich wie kein zweiter vor ihm auf die Seite Gottes gestellt hat und Gott auf seiner Seite wusste. Wie jener vertritt Jesus unsere von Gewalt entstellte Identität. Wie das Blut Abels (Gen 4,10) schreit auch sein Blut zum Himmel (Hebr 12,24) und fordert Gott heraus. Die Auferweckung des Gekreuzigten will darum als Gottes schöpferische Antwort auf die Gewalt derer verstanden werden, die Jesus zu Tode gebracht haben. Sie bestreitet dem Tod und seinen Handlangern das Recht, das letzte Wort über das Leben dieses Menschen und damit auch über seine Schöpfung zu sprechen. Mit seinem „Urteil“ (K. Barth) schaltet sich Gott sozusagen in den tödlichen Kreislauf menschlicher Gewalt ein, wird er selbst zum Subjekt dieses Dramas und setzt seine Gottheit darin aufs Spiel. Indem er sich zu diesem Ende des Lebensweges Jesu bekennt, indem er, wie Eberhard Jüngel in einer äußersten Zuspitzung zu sagen wagt, sich mit einem zu Tode gebrachten Menschen „identifiziert“207, ist er es, Gott selber, der sich allem Augenschein zuwider dem Elend der leidenden Welt aussetzt. Er erträgt die Berührung dieses Todes und begründet dadurch ein neues Verhältnis zum Menschen und zu seiner Welt. Deshalb ist das historische Kreuz mehr als ein Symbol letzter Solidarität mit der leidenden Menschheit. Es ist der Ort der Auseinandersetzung Gottes mit der „umfassenden Negation des

207

Jüngel, Tod, 137.

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

Geschöpfes und seiner Natur“208, in welcher alles menschliche Leiden seinen Ursprung hat. Das Kreuz ist seitdem in den Gottesbegriff eingezeichnet. Mit der Auferweckung des Gekreuzigten gibt Gott gleichsam zu Protokoll, dass er nicht mit denen verwechselt werden will, die Menschenopfer fordern oder denen man sie meint darbringen zu müssen. So verstanden ist die Auferweckung die genaue sachliche Entsprechung zur Zurückweisung des „Opfers“ Isaaks in Gen 22. Gott braucht keine Opfer, er fordert keine Opfer, er nimmt dieses Opfer (victima) nicht an. Das ist gemeint, wenn der Hebräerbrief (10, 18) mit dem Tode Jesu das Ende aller Opferpraxis besiegelt sieht. Das Neue Testament blickt tatsächlich in eine andere Richtung und korrigiert damit unsere Erwartungen an eine Theodizee. Gott „erträgt“ nicht nur die Leidensgeschichte der Welt und die Unrechtsgeschichte der Menschheit, er lässt sich durch sie verwunden. Die Weltgeschichte geht nicht ohne Spuren an ihm vorüber. Ihr unentrinnbares Dunkel, der Zwiespalt der ganzen Schöpfung ist mit dem Tode Jesu in ihm versammelt und gegenwärtig. Dort, wo wir zu Opfern der Gewalt werden, wo wir unter die Räder kommen, ist er, mit Jesus von Nazareth sich identifizierend, zum Opfer unter den Opfern geworden. Deshalb erzählen die Evangelien die Passionsgeschichte Jesu als die Geschichte des Immanuel: „Gott mit uns“, mit uns in unseren Leiden und unserem Sterben. Und sie erzählen sie als die Geschichte des Christus: „Gott für uns“, für uns, die Schuldiggewordenen und Zukunftslosen. Sie erzählen, wie Gott in unsere Situation hineintritt und sich diesen verlorenen Posten zu eigen macht. Die Preisgabe des alten metaphysischen Apathie-Axioms, der These einer prinzipiellen Leidensunfähigkeit Gottes, ist eine der folgenreichs208

Barth, KD III/3, 353.

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3.3 Das Leiden Gottes

ten und leuchtendsten Einsichten der neueren Theologie. Mit den Worten Helmut Gollwitzers gesagt: „Nun endgültig kann nicht mehr mit einem Gott jenseits der Menschen gerechnet werden, der in unberührbarer und unberührter Apathie und Majestät über uns thronte, fremd gegenüber den Leiden seines Geschöpfs […] Es gibt kein Menschsein und kein menschliches Leiden mehr, auch den Tod nicht mehr als etwas diesem Gott Fremdes, und wer fragt, warum Gott unsere Leiden zulasse, der muss jetzt zuerst ernst nehmen, dass dieser Gott das Leiden der Menschheit zuerst an sich selber zulässt. Wer ihn in seinem Leiden sucht, findet ihn jetzt als den neben ihm, mit ihm Leidenden, wird hingewiesen nicht auf den Himmel, sondern auf einen entsetzlichen Leidensort dieser Erde. Hier ist Gott wirklich ‚ganz anders’, als Menschen sich sonst Gott gedacht haben und zu denken pflegen.“209

Damit ist nun freilich eine Fülle von Fragen zur Stelle, die das Nachdenken über die Theodizee in den letzten Jahren noch einmal neu in Bewegung gebracht haben.210 Müsste der Jahrhunderte alte Protest, den das Leiden seit den Tagen Hiobs gegen Gott erhebt, nun nicht verstummen? Wenn Gott das Leiden der Menschheit und das Leiden der Schöpfung „zuerst an sich selber“ erfährt und zulässt, wenn wir ihn als den „leidenden Gott“ (D. Bonhoeffer) zu begreifen haben: Kann das Leiden dieser Welt dann überhaupt noch eine Anklage gegen ihn begründen?

3.3 Das Leiden Gottes Wie also ist der Satz zu verstehen, dass es „kein menschliches Leiden mehr (gebe) als etwas diesem Gott Fremdes“, ein Satz, der im modernen Theodizeediskurs zu den umstrittensten Aussagen christlicher Theologie ge209 210

Gollwitzer, Befreiung zur Solidarität, 73f. Dazu: Oelmüller (Hg), Neue Diskussionen zur Theodizeefrage.

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

hört? Der Hebräerbrief (4,15) könnte ein Verständnis nahe legen, wonach das Leiden Jesu in die Nähe menschlichen Mitleids zu rücken sei: „Wir haben nicht einen Hohen Priester, der nicht mit uns zu leiden (sympathein) vermöchte in unserer Schwachheit.“ Gott wäre dann als der zu verstehen, der dem Leiden Jesu nicht distanziert gegenüber steht, sondern von ihm mitbetroffen ist, was in einer Hinsicht (2 Kor 5,18) natürlich ein unbestreitbar richtiger Satz ist. In beiden Fällen aber wäre vorausgesetzt, dass er den Übeln der Welt unterliegt wie unsereiner. Wäre ein solches Leiden tatsächlich das Letzte, was von Jesus im Neuen Testament zu sagen ist, dann müsste es bei dieser Auskunft bleiben. Seine im Neuen Tesatament bezeugte Auferstehung verlangt indessen einen Wechsel der Perspektive (weshalb die Alte Kirche den „Patripassianismus“ zu Recht als eine Häresie verworfen hat). Eine bloße Mitleids-Christologie könnte nie und nimmer die Basis unserer Hoffnung auf Erlösung begründen. Sie würde das Leiden verewigen. Dann aber wird man in Umkehrung der hier vorausgesetzten Blickrichtung mit Bonhoeffer davon ausgehen müssen, dass „von der menschlichen Leidenserfahrung als solcher kein Weg dazu führt, das Leiden Gottes theologisch relevant auszusagen“.211 Was der Hebräerbrief meint, ist dann so zu übersetzen: Gott stellt sich in Christus dem menschlichen Leiden so, wie man sich einem Gegner stellt, was nicht ausschließt, dass man unter dessen Attacken wie jeder Mensch zu leiden hat. In diesem Sinne ist ihm tatsächlich kein menschliches Leiden fremd. Doch nicht darauf liegt der theologische Akzent. Ausschlaggebend ist vielmehr – hier liegt die Differenz zu allem menschlichen Leiden – dass in dieser Auseinandersetzung der Grund solcher Gegnerschaft erkannt und getroffen wird, nicht 211

Krötke, „Teilnehmen am Leiden Gottes“, 370.

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3.3 Das Leiden Gottes

das Leiden als solches, sondern die Wurzel, aus der es sich Tag für Tag erneuert. Diese Wurzel aber – das erst ist der entscheidende Punkt – ist die Perversion der guten Schöpfung Gottes, die Verkehrung des uns zugedachten Ortes „gelingenden“ Lebens in einen Ort des Scheiterns und nicht endender Qual. Nicht die mancherlei Misshelligkeiten der Welt, nicht ihre „Unvollkommenheit“ ist der Grund des göttlichen Leidens, sondern ihre praktizierte Gottlosigkeit. Ihr hat sich Jesus gestellt. Sein Leiden ist „das Aushalten der äußersten Zerrissenheit der Welt, das Aushalten des Todes“.212 Theologisch verstanden wird dieses Leiden also noch nicht, solange man es nur vom Gedanken der Solidarität mit menschlichem Schicksal begreift, als ginge es nur darum, dass Gott sich vorgenommen hätte, in Jesus mit der leidenden Welt zu leiden. Verstanden wird es erst dann, wenn man es mit Joh 3,16 als Ausdruck und Konsequenz einer Liebe begreift, die sich selbst noch in ihrem extremsten Gegenpol als Liebe zugunsten der im Zirkel von Gewalt und Leiden gefangenen Menschen zur Geltung bringt – einer Liebe, die, wie Hebr. 4,15 zu verstehen gibt, die „Versuchungen“ unserer menschlichen Existenz kennt, ihnen aber nicht unterliegt, sondern sie überwindet. Nur von dieser Liebe kann gesagt werden, sie sei „stark wie der Tod“ (Hl 8,6). Es hieße jedoch am Kern des Neuen Testaments vorbei gehen, wollte man das Kreuz Jesu nur als ein Symbol der Zerrissenheit unserer Welt ansehen. Was – mit Luther gesprochen – „durch Leiden und Kreuz“ dargestellt wird, ist zugleich mehr und etwas anderes. Es hat eine oft verkannte hermeneutische Funktion, indem es auf eine unterdrückte, verschüttete Wahrheit hinweist, aus deren Verlust das Böse erst seine destruktive Kraft bezieht. Die Wirklichkeit, die es deshalb im Zeichen der Auferstehung 212

Ebd., 370.

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

zu bedenken gilt, ist die, um deretwillen Jesus den Weg bis zum Kreuz gegangen ist: die Wirklichkeit, die sich im Leiden als eine unterdrückte, in der Krankheit als eine entstellte, im „Seufzen der Kreatur (Röm 8,19) als eine an ihrer Entfaltung notorisch gehinderte, hier gerade nicht zum Zuge kommende meldet. In diesem Leiden – ich erinnere noch einmal an die Dissidenten unserer Tage – wird eine Verantwortung für die Welt übernommen, die für ein besseres Morgen einzustehen bereit ist. Trägt man dieser Erkenntnis Rechnung, dann wird man den theologisch entscheidenden Punkt auch so formulieren können: Gott leidet an der Ablehnung seiner Liebe, die sich gleichnishaft in der Liebe Jesu darstellt. Sein Leiden ist der Schmerz über die Verweigerung dieser Liebe durch Taten, die ihr widersprechen. Seine „Ohnmacht“ (Bonhoeffer), eine freiwillig gewählte Machtlosigkeit, besteht darin, dass er diese Verweigerung zulässt, dass er hier nicht eingreift, sondern dem „mündigen“ Menschen und seinem ‚autonomen’ Willen sozusagen freien Lauf lässt. Unser Leiden hingegen ist die Folge dieser Verweigerung. Gott leidet an seiner zurückgewiesenen Liebe, wir leiden an unserer Lieblosigkeit und den daraus entspringenden (Un-)Taten. Zugespitzt formuliert: Gott leidet nicht wie wir unter Gewalt und menschlichem Unrecht, er leidet an dieser Gewalt, daran, dass er seine Schöpfung leiden sieht, dass sich die Menschen aus ihrem Elend nicht heraushelfen lassen. Deshalb steigt er exemplarisch an den Ort ihres Elends herab und setzt sich den Folgen dieser Notlage aus (Ex 3,7; vgl. Mt 9,36). Doch wie sollte er seine Liebe unter Beweis stellen, ohne auch an diesem Leiden teilzunehmen und es dadurch in seiner Gottwidrigkeit zu entlarven? Das aber heißt gerade nicht, dass er ihm – wie wir – schicksalhaft unterworfen wäre. Aus diesem Grund ist das eingangs zitierte, von Metz emphatisch vorgetragene Argument, die „Rede vom lei-

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3.4 Die Theodizeefrage im Zeichen der Kreuzestheologie

denden Gott“ bedeute am Ende nur eine Verdopplung menschlichen Leidens, theologisch nicht gut haltbar. Denn Gottes Leiden hat ein Ziel. Indem er sich den Gewaltverhältnissen der Erde freiwillig aussetzt – ich erinnere noch einmal an die Dissidenten unserer Tage  –, hält er das Gedächtnis an schuldloses Leiden wach, nicht um es zu verdoppeln, geschweige denn zu verewigen, sondern um den Kreislauf dieses Leidens zu unterbrechen, ihn zu beenden. Sein Leiden blickt, was Metz selber ja in unübertroffener Klarheit ausgesprochen hat, auf „menschlichere Lebensformen“ hinaus, auf ein „Wissen um Zukunft“213, was von dem weltweiten alltäglichen Leiden – Gewaltexzessen, politischen Morden und Folter  – nun wirklich nicht zu sagen ist. Welche Konsequenzen sich daraus für das Theodizeeproblem ergeben, will ich im Blick auf die paulinische und lutherische Kreuzestheologie erfragen.

3.4 Die Theodizeefrage im Zeichen der Kreuzestheologie Eine Verständigung über das Problem der Theodizee schließt von ihrem Ansatz her die Frage ein, wie wir uns der Gegenwart des hier zitierten Gottes in unserer Welt vergewissern können, und das heißt zugleich, welchen Gott wir mit dieser Frage eigentlich meinen. Die Auskunft der biblischen, von Luther profiliert ausgearbeiteten Tradition ist von den Prämissen der Philosophie denkbar weit entfernt. Fragen wir unter den Bedingungen unserer geschichtlichen Existenz, so ist es (worauf die Aporien der Entwürfe von Leibniz bis Hegel längst hätten aufmerksam machen müssen) jedenfalls nicht der Gott der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart. Und doch wäre es verfehlt, wenn hier nur der Eindruck 213

Metz, Erinnerung des Leidens, 349.

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

eines Gegensatzes entstünde: Vielmehr muss aus der theologischen Perspektive Anderes und mehr in Frage gestellt werden als aus der philosophischen, weshalb dann auch mehr und anders geantwortet werden kann. Wie also führt die theologische Perspektive konstruktiv klärend und so kritisch über die philosophische Perspektive hinaus? Offenbar geht es hier nicht um die Rechtfertigung der Wege Gottes mit dem Blick „von außen“, sondern um die Frage, ob und wie die (auch im Leiden) erfahrbare Anwesenheit dieses Gottes die Situation des Menschen, seinen Fragestatus, verändern könnte. Unter dieser Perspektive wende ich mich Paulus und Luther und in einem weiteren Schritt dann Bonhoeffer zu. Mit einer auch im Neuen Testament einzigartigen Ausschließlichkeit erklärt Paulus seiner neu gegründeten Gemeinde in Konrinth: „Ich beschloss nichts unter euch zu wissen als Jesus Christus, und zwar als Gekreuzigten“ (1 Kor 2,2) – ein riskanter Widerspruch zu allen Vorstellungen und Erwartungen seiner Umwelt! Denn schien die Ansage der Nähe eines gnädigen, auf Menschlichkeit bedachten Gottes durch diesen Tod an Jesus selbst nicht ad absurdum geführt zu sein? Im Zusammenhang seiner Rechtfertigungslehre nimmt Paulus eine urchristliche Bekenntnistradition auf, die zu den frühesten Deutungen des Todes Christi gehört: „Ihn hat Gott öffentlich eingesetzt als ‚hilasterion’ […] zum Erweis seiner Gerechtigkeit“ (Röm 3,25). Das schwer übersetzbare griechische Wort steht für das hebräische Nomen ‚kapporet’ (Ex 25,17-22) und bezeichnet den Raum zwischen den beiden Keruben im „Allerheiligsten“ des salomonischen Tempels, also den Ort, an dem der Hohepriester in der kultischen Zeremonie des großen Versöhnungstages das Opfer für Israel vollzieht.214 Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 347f. 351. Vgl. Bauer, Wörter­ buch zum Neuen Testament, 742. 214

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3.4 Die Theodizeefrage im Zeichen der Kreuzestheologie

Wir stehen im Umkreis der alttestamentlichen Sühnetheologie, deren Sinn – das gibt Paulus zu verstehen – der Kreuzestod Jesu wie kein zweites Ereignis dieser Erde einlöst und erfüllt, und das in zweifacher Hinsicht. (1) Die biblisch begriffene Sühne hat von Anfang an den Charakter der Interzession. Es braucht einen Mittler, den Priester, der die durch Sünde und Schuld aufgerissene Kluft zwischen Gott und seinem Volk überbrückt, indem er hier „in die Bresche tritt“ (Ez 22,30). In dieser Rolle – exemplarisch verdichtet in der Gestalt des „Gottesknechts“ von Jes 53 – begegnet uns Jesus von Nazareth in der Passionserzählung. Sie ist, alle anderen Mandate (Predigen, Heilen) zusammenfassend und interpretierend, seine bedeutsamste: „Unsere Krankheit“, die offene Gewaltbereitschaft, die mit Kain, dem ersten Menschensprössling, in die Geschichte getreten ist und einen Keil zwischen Gott und den Menschen treibt; die Krankheit, über der wir am Ende das verlieren, was uns nach der Bibel zu Menschen macht: die Ebenbildlichkeit zu Gott, unser menschliches Gesicht  – diese Krankheit trägt er hinweg. So übernimmt er die Stellvertretung für die Täter. „Unsere Schmerzen“, die Schmerzen der Gewaltopfer und die Qual der Entrechteten, lädt er auf sich. So wird er zum solidarischen Bruder der Opfer. Helden und wohl auch Mörder gehen aufs Ganze. Jesus ging durchs Ganze, durch alle Widersprüche hindurch, die das Ganze der von Gott geliebten Schöpfung zerreißen. Er tritt in den Riss, der alles zerreißt, den Riss zwischen Gott und Mensch. Auch deshalb steht sein Kreuz zwischen den Kreuzen der Mörder. (2) Sühne ist nach ihrer formalen Seite, ihrer Funktion, „Existenzstellvertretung“. Das zur Sühne taugliche Mittel, das Blut des Opfertieres, wird als „Lebensäquivalent“ verstanden, als Preis für das von uns „verwirkte“ Leben (Janowski). Der für Paulus entscheidende Punkt

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

ist nun das Ritual selbst, in welchem die „Hörner des Altars“ bzw. die Kapporet mit dem Blut des Tieres besprengt werden. Erst dieser Vorgang „bewirkt“ die Sühne. Warum? Weil dieser innerste Ort des ehemals heiligen Zeltes als Ort der Präsenz Gottes in Israel gilt, als ein irdisches Abbild der himmlischen, Mose auf dem Sinai gezeigten Wohnstätte Gottes. Hier kommt Gott dem Menschen mit seiner eigenen Nähe entgegen. Das ist es, was der Ritus des Opfers symbolisiert. Sühne ist Erneuerung der göttlichen Gegenwart, Zusage und Gewährung der Nähe des kommenden Gottes. Durch sie wird Zukunft erschlossen, Neuland für das in seiner Vergangenheit festgefahrene Leben, das nun wieder in sein schöpfungsgemäßes Recht eingesetzt wird. Genau hier vollzieht Paulus die aussagekräftige Identifikation: Zu dieser Kapporet, zum maßgeblichen, nun definitiven Sühneort hat Gott das historische Kreuz Jesu ein für allemal eingesetzt (Röm 3,25). Man muss diese Aussage jenseits aller Metaphorik wörtlich nehmen, um ihre Tragweite zu verstehen. Denn das heißt doch, dass das Kreuz von nun an die Wohnstätte Gottes auf Erden ist, Schnittpunkt von himmlischer und irdischer Wirklichkeit und als solcher der Ort der Präsenz Gottes, Quelle und Inbegriff einer Zukunft, die allein das kreatürliche Dasein davor bewahren kann, sich den Spielregeln zu überlassen, die in unserer atheistischen Wirklichkeit gang und gäbe sind. Im Kreuz trifft die Wirklichkeit der Welt mit der Wahrheit Gottes zusammen: „In Wirklichkeit ist der Gekreuzigte der […] gescheiterte, der durch das Gesetz ans Kreuz gebrachte Mensch. […] In Wahrheit dagegen ist er die konkrete Gestalt der Macht Gottes in unserer Welt.“215 Im Kreuz unterscheidet sich Gott von der Welt, aber er tut es gerade im Augenblick seiner intensivsten Beziehung zur Welt, im Augenblick seiner höchsten Weltlichkeit. 215

Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus, 230.

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3.4 Die Theodizeefrage im Zeichen der Kreuzestheologie

Unter den Reformatoren ist Luther der wohl konsequenteste Paulus-Schüler. Er nimmt die Erkenntnis, dass das Kreuz Gottes irdische Wohnstätte ist, in der programmatischen Erklärung seiner Psalmenvorlesung (1519) auf: „Crux sola nostra Theologia“ und verschärft sie zu der These: „Crux probat omnia“.216 Das Kreuz ist der Prüfstein aller theologischen Aussagen, es ist Grund und Kritik jeder christlichen Theologie. An ihm ist alles Reden von Gott zu messen. Denn hier ist die Wirklichkeit Gottes in die Weltwirklichkeit gleichsam eingebrochen. Der Basissatz seiner Theologia crucis lautet daher: Gott kann „nur unter dem Anschein des Gegenteils“ (sub contraria specie) gefunden werden“, nicht in Größe und Herrlichkeit, sondern „nur in Leiden und Kreuz“.217 In der Heidelberger Disputation (1518) hat er diesen Satz prägnant begründet, und zwar in Form einer scharfen Antithese zwischen einer Erkenntnis, die sich am Leitfaden der spekulativer Vernunft am „Unsichtbaren“ orientiert, und einem Zugang, der sich, durch Erfahrung geleitet, an das augenfällig Sichtbare hält. Die entscheidenden Sätze lauten: 19: Nicht den nennt man zu Recht einen Theologen, der Gottes unsichtbares Wesen durch die [von ihm] geschaffenen Dinge erkennt und ihn [daraufhin] wahrnimmt, 20: sondern den, der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, durch durch Leiden und Kreuz wahrnimmt und ihn [daraufhin] erkennt.218

Diese Sätze formulieren den Perspektivpunkt der gesamten biblisch ausgerichteten Theologie Luthers, die sich von der philosophischen Umklammerung ihrer scholastischen Vorläuferin gelöst hat. Daher die Polemik Luther, WA 5, 176. 32 und 179.31. WA 1, 362.28. 218 WA 1, 354. 216 217

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

gegen die Versuche, Gott gleichsam a priori auf der Linie der beweisförmigen „fünf Wege“ des Thomas v. Aquin219 in der „unsichtbaren“ Sphäre des rein Gedanklichen, Intelligiblen aufzusuchen. Denn wer hier sein spekulatives Glück versucht – gilt das nicht auch von den abstrakten Prädikaten eines „notwendigen“ bzw. „absolut vollkommenen Wesens“ der klassischen Theodizeediskurse?  – verliert den biblischen Gott aus den Augen und kreist um sein selbstentworfenes Gottesbild. Erst wer sich a posteriori der (so übersetze ich) „weltzugewandten“ Seite Gottes stellt und ernst nimmt, was dort wahrzunehmen und zu sehen ist, wer also realisiert, dass nur dort von „Offenbarung“, das heißt von Kenntlichkeit und Erkennbarkeit Gottes die Rede sein kann, verdient den Namen eines Theologen. Luther erläutert: „Das der Welt Zugewandte (posteriora) und Sichtbare am Wesen Gottes ist dem Unsichtbaren entgegengesetzt, nämlich seine Menschheit, Schwachheit, Torheit (1 Kor 1,23) […] Denn da die Menschen die Erkenntnis Gottes aufgrund seiner Werke missbrauchten, wollte Gott, dass er aus den Leiden erkannt würde […] als der, der in den Leiden verborgen ist […] So ist es für niemanden genug und nütze, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt […] Also, in dem Gekreuzigten liegt die wahre Theologie und Gotteserkenntnis begründet.“220

Man hat mit Recht auf das Revolutionäre dieser Feststellungen für das Denken über Gott und das Leben vor Gott hingewiesen. Schon hier wird das alte metaphysische Axiom seiner Leidensunfähigkeit (Apathie) und folglich Unwandelbarkeit in aller Form außer Kraft gesetzt. Nicht von Allmacht, sondern von Ohnmacht und Schwachheit ist hier die Rede. So stellt sich Gott in der Welt und vor der Welt im gekreuzigten Christus 219 220

Thomas v. Aquin, STh I, qu.2 art.3. WA 1, 362.3ff.

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3.4 Die Theodizeefrage im Zeichen der Kreuzestheologie

dar; so wird das Kreuz zum Bezugspunkt christlicher Welterfahrung. Darin liegt zugleich beschlossen, dass der Tod Jesu „ein Ereignis nicht nur unter Menschen, sondern […] ein Ereignis zwischen diesem einen Menschen und Gott [selbst]“221 ist, was wiederum höchst folgenreich für die Welt und für alle Menschen ist. Inwiefern? Die philosophische Debatte hat gezeigt, wie schwer, ja nahezu unmöglich es ist, den Glauben an einen allmächtigen und allgütigen Gott argumentativ mit der geschichtlichen Realität einer leidenden Welt zusammenzubringen. Hier öffnet die theologische Perspektive den Horizont einer neuen Erfahrung: Denn das Leiden ist keine Herausforderung, die sich an die Vernunft richtet, eher markiert es die Grenze ihrer Wahrnehmungsfähigkeit. Angesprochen wird vielmehr der Affekt, der ihm nicht neutral gegenübersteht. Auch ist das Kreuz Christi für Luther „nicht eine isolierte historische Tatsache, zu der das Leben des Christen nur in der Beziehung der Kausalität steht, […] sondern im Kreuz Christi ist evident geworden, wie es zwischen Gott und dem Menschen steht“.222 Gott leidet, so hieß es, an der Gottlosigkeit der Welt, daran, dass seine Evidenz als Gott in der Welt in Frage gestellt wird. Hier also wird die fides historica verabschiedet, die das Leiden nur in der Rolle des Betrachters zur Kenntnis nimmt. Stattdessen wird es als das Leiden Christi, auf das der Glaube sich richtet, nun zur je gegenwärtigen Matrix, in die das eigene Leiden eingezeichnet werden kann und soll. Mit Christus, in seiner Nachfolge leiden, heißt, sich mit ihm an seinen Ort vor Gott stellen, dorthin, wo das Leiden als Gottwidrigkeit erkannt wird und nun im Dienst der Hoffnung auf eine neue menschlichere Welt steht. Der Glaube ist bei Luther geradezu 221 222

Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 496. Loewenich, Luthers Theologia Crucis, 15f.

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

identisch mit der Erfahrung, die sich in dieser Weise mit Christus zusammenschließt. Es ist deutlich, dass auf dem hier beschrittenen Weg der Anspruch der klassischen Theodizee überboten wird. Lässt Gott sich in das Leiden Christi hineinziehen, geht das Leiden der Welt, wie ich sagte, nicht ohne Spuren an ihm vorüber, dann kann man ihn tatsächlich nicht als Instanz zur Erklärung dieses Leidens heranziehen. Dieser klassische Einwand richtet sich gegen das schöpfungstheologische Argument: Hätte Gott nicht eine bessere Welt erschaffen können, ja sogar müssen? Luther hätte diese Konsequenz auf den Spuren Augustins mit dem Hinweis auf die dem Menschen mitgegebene Freiheit zur Sünde bestritten. Er beschreibt das Böse eben nicht als Defizit (privatio) des Guten, sondern führt es auf die Aktivität des bösen menschlichen Willens zurück. Gott selbst wird bei ihm von der Urheberschaft des Bösen entlastet (ein Problem, von dem später zu reden sein wird). Er erklärt nicht, warum es den Bösen glänzend, den Guten hingegen oft jammervoll ergeht. Angesichts der erschreckenden Übel in der Welt kann jedenfalls er nicht der Ungerechtigkeit bezichtigt werden. Gegen diese Unterstellung reagiert Luther am Ende der Schrift „Vom unfreien Willen“ mit einem an die antike Skepsis erinnernden Satz: „Siehe, so regiert Gott die Welt in äußerlichen Dingen, dass, wenn du das Urteil der menschlichen Vernunft ansiehst und ihm folgst, du gezwungen bist zu sagen: Entweder es ist kein Gott oder Gott ist ungerecht.“223 Eine philosophische „Lösung“ der Theodizeefrage sähe anders aus. Bei Luther sucht man sie vergebens. Wohl aber gibt er eine nachdenkenswerte theologische Antwort auf ihr Problem. Denn wenn er den Glauben auf den exemplarisch leidenden Christus verweist und von 223

Luther, De servo arbitrio, WA 18,784.

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3.5 „Teilnahme am Leiden Gottes“ (D. Bonhoeffer)

einer Zusammengehörigkeit seines und unseres Kreuzes sprechen kann, dann ist das menschliche, ­jedenfalls das christliche Leiden offenbar dem mo­dernen Verdikt der Sinnlosigkeit entzogen. Es ist, kann er formulieren, „des Christen Recht, das und nichts anderes“.224 Es empfängt seinen Sinn im Horizont der Rechtfertigungslehre als eine Gestalt, genauer als eine Folge jener „passiven Gerechtigkeit“, „die wir nur empfangen, wenn wir nichts wirken, sondern einen anderen, nämlich Gott, in uns wirken lassen“.225 Luther spricht vom „leidenden Stand“ (vita passiva) des Christen mit und unter dem Kreuz. Denn im Leiden kommen wir nicht in unserm Sein (als Täter bzw. Sünder) in Betracht, sondern als Werdende, die gleichsam in Christus hineinwachsen. Deshalb hat er anders als die Mystik (Gersons oder Taulers) dieses Leiden nicht als Folge oder gar als Werk der Nachfolge (imitatio) begriffen, das sich an einem Vorbild der Vergangenheit orientiert, sondern als ein auf die verheißene Zukunft der Schöpfung uns ausrichtendes Widerfahrnis, das auf das Ziel unserer Hoffnung (Röm 8,21) blickt, die, wenn sie denn reine Hoffnung ist, sich allein auf Gott richtet (spes purissima in purissimum Deum), der uns wie Christus ins Recht setzt.

3.5 „Teilnahme am Leiden Gottes“ (D. Bonhoeffer) In einer tief veränderten Situation hat Dietrich Bonhoeffer in seinen späten Briefen aus der Tegeler Haftzeit das Motiv der Theologia crucis noch einmal aufgenommen und mit seinen Überlegungen zur „religionslosen“ und darin „mündigen“ Welt verbunden.226 VorausgeWA 18, 310.10f. WA 40 I, 41.3. 226 Dazu: Krötke, Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther, 453-495. 224 225

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

gangen, auch wenn diese Vorläuferschaft in den Briefen nicht eigens erwähnt wird, ist ihm G.W.F. Hegel in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen.227 Er selbst nimmt seinerseits wichtige Einsichten der von Johann Baptist Metz eingeübten „leidempfindlichen Gottesrede“ vorweg. Eine kurze Erinnerung an Hegel ist nützlich, um diese Zusammenhänge plausibel zu machen. Um den weltgeschichtlichen harten Kern des Passionsweges Jesu herauszuarbeiten, hat Hegel, die christologische Einheit von Gott und Mensch voraussetzend, mit Luther228 die ganze Konsequenz gezogen und von „Gottes Tod“ gesprochen. In seinen Vorlesungen zitiert er das „lutherische“ Lied von Johann Rist aus dem 17.Jahrhundert, worin es in dieser Zuspitzung heißt: „O große Not, Gott selbst ist tot, am Kreuz ist er gestorben“. Er interpretiert es aber bereits in einer seiner ersten Schriften in einer bemerkenswerten Umkehrung der dort gemeinten Blickrichtung. Denn sein Interesse gilt in den Frühschriften ausschließlich dieser großen Not. Deshalb habe die Philosophie zunächst den „Charfreitag, der sonst historisch war […] in der ganzer Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wieder(her)zustellen“229, und so nimmt er den „Tod Gottes“ zum Anlass, seinem Zeitalter die Diagnose zu stellen, die auffallend an Bonhoeffers Kennzeichnung der eigenen Epoche als einer „religionslosen Welt“ erinnert. Der Karfreitag, so Hegels These, das historische Datum, an dem sich die Menschheit mit der Ermordung Jesu seines Gottes entledigte, hält der aufgeklärten Neuzeit (wir stehen am Beginn des Industriezeitalters) den Spiegel (speculum) vor, damit sie in ihm ihr eigenes Gesicht erkenne. So wird das Kreuz zum Symbol der Gottverlassenheit der Welt, die sich über alle Lebensgebiete ausbreitet. Das ist der Sinn seines vielzitierten Wortes vom „spekulativen Charfreitag“.230 Es ist ein Karfreitag, auf den keine Ostergewissheit mehr folgt, und das bedeutet, dass die Menschheit nicht etwa aus Unwissenheit oder Blindheit verlernt hätte, diesen Tod im Licht der Auferstehung zu begreifen; es bedeutet vielmehr, dass sie unter Bedingungen lebt, die ein solches Begreifen unmöglich machen.

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion III.2, 1966. Luther, Von den Konziliis und Kirchen, WA 50, 590, 11-22. 229 Hegel, Glauben und Wissen (1802/03), 124. 230 Ebd.,124. Vgl. Link, Hegels Wort „Gott selbst ist tot“,13f. 79ff. 227 228

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3.5 „Teilnahme am Leiden Gottes“ (D. Bonhoeffer) Denn die neuzeitliche Wissenschaft und Technik hat sich die Natur in einer Weise unterworfen, dass für ein Eingreifen Gottes buchstäblich kein Raum mehr bleibt. Die Welt ist „für sich schon fertig“, sie hat ihre Fugen geschlossen, sie schweigt von Gott. Sie verweigert dem fleischgewordenen Wort den Raum seiner Offenbarung. Es zeigt sich, heißt es bei Bonhoeffer, „dass alles auch ohne Gott geht“ (477).231 Die Menschheit, folgert Hegel, ist mit der „großen Not“ des KarfreitagsTodes allein gelassen, und diese Wahrheit bestätigt sich ihm in einem bis dahin unbekannten „absoluten“, d.h. in einem von Krankheit, Unglücksfällen oder materieller Not ganz unabhängigen Leiden, das wir uns in unseren modernen Lebens- und Arbeitsbedingungen selbst bereiten. Hier meldet sich die dialektisch andere Seite der Aufklärung, die Metz heute fragen lässt: „Haben wir den Schrei der Menschen in den abgründigen Lebensgeschichten ihrer Welt zu schnell und zu sorglos aus der christlichen Passionsverkündigung verdrängt?“232

Bonhoeffer teilt die Diagnose Hegels, zum Teil auch die Folgerungen, die dessen religionskritische Nachfolger daraus gezogen haben, so etwa in der bekannten Feststellung: „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden“ (532). Er formuliert das Ergebnis seiner Überlegungen jedoch in einem Satz, der zwar auf dasselbe hinausläuft, es nun aber mit einem bemerkenswerten Wechsel des Subjekts geltend macht, und insofern doch etwas ganz anderes sagt als Hegel: Nicht Menschen haben Gott das Terrain streitig gemacht, sondern „Gott [selber] lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz“  – nicht in das „leere Jenseits“ der Religionskritik (Hegel), sondern an das historische Kreuz Jesu, und dieses Kreuz bleibt auf der Erde stehen, da, wo Menschen heute leiden und fragen: Wo ist Gott? „Wo behält nun Gott noch Raum?“ (533) Das verbindet Bonhoeffer mit Luther und dessen Auskunft von dem im Leiden verborgenen Gott, und beBonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf den Text dieser Ausgabe. 232 Metz, Memoria passionis. 165. 231

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

gründet den theologisch entscheidenden, sonst unverständlichen Satz: „Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade so und nur so ist er bei uns und hilft uns.“ (534) Durch Leiden und Tod wird Gott nicht in Frage gestellt, wohl aber werden wir mit einem Gottesbild konfrontiert, das unseren Erwartungen auf der ganzen Linie widerspricht. Damit sind zwei Fragen zur Stelle. (1) Worin besteht das Leiden Gottes? (2) Wie kann ein ohnmächtiger Gott uns helfen? (1) Dass Gott sich in und mit der Passion Jesu aus der Welt „herausdrängen“ lässt; dass seine Evidenz als Gott in den Lebensverhältnissen der aufgeklärten Welt in Frage gestellt wird, ist der „Sachgrund“ für das Phänomen und – so die zunächst befremdliche These – zugleich für „das Recht ihrer Religionskritik“.233 Wir leben in einer Welt, in der das Dasein Gottes prinzipiell bestreitbar geworden ist, einer Welt, in der wir „ohne den Vormund ‚Gott’“ nicht nur mit unseren weltlichen Fragen, sondern auch mit den „sogenannten ‚letzten Fragen’ – Tod [und] Schuld“ (477) – allein fertig werden, in der wir uns von den Erwartungen an einen „allmächtigen“ Gott trennen müssen. Wenn Jesus in Gethsemane fragt: „Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“ (Mt 26,40), so ist das „die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet“ (535). Wir leben in einer Welt, müssen in ihr leben, in der von einem Eingreifen Gottes nichts zu sehen ist. Das ist die von Hegel beschriebene objektiv gott-lose Welt, und an dieser Welt – das ist Bonhoeffers These – leidet Gott. Dass er „am Kreuz die Welt als die ihn nicht ertragende erträgt“234, macht sein Leiden aus. Er leidet, indem er sich die „Trennung des Menschen von sich, die Entzweiung des Menschen Krötke, „Teilnehmen am Leiden Gottes“. Zu Bonhoeffers Verständnis eines „religionslosen Christentums“, aaO. (Anm. 111), 362. 234 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 81. 233

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3.5 „Teilnahme am Leiden Gottes“ (D. Bonhoeffer)

mit ihm als Gott gefallen lässt“.235 An dieser Trennung mitleiden, d.h. „wirklich in der gottlosen [und in diesem Sinne ‚weltlichen’] Welt leben“, „befreit von den falschen religiösen Bindungen und Hemmungen“, das heißt „Teilnehmen am Leiden Gottes“ (535). Bonhoeffer spricht mit einem alten Ausdruck vom „messianischen“ Leiden, das den Anbruch einer neuen Weltzeit heraufführen wird. Hier geht es darum, „sich in den Weg Jesu mithineinreißen zu lassen“. Deshalb liegt das Zentrum seiner Gottesbeziehung für den christlichen Glauben nicht länger im menschlichen Leiden. Es fällt ja auf, dass sich die Frage nach den Ursachen dieses „absoluten“ Leidens für ihn gar nicht stellt. Deutlich ist jedoch, dass er nicht erwartet, Gott könne oder werde es aus der Welt schaffen. Schon aus diesem Grund kann das neuzeitliche Theodizeeproblem gar nicht in sein Blickfeld rücken. Die Rede vom Leiden Gottes, stellt Krötke in seinen luziden Analysen heraus, hat „im Kontext [seines] Verständnisses der ‚Religionskritik’ als ‚Mündigkeit’ und ‚Weltlichkeit’ seinen Ort“.236 Man muss sich bei alledem klarmachen, dass Bonhoeffers Situationsbeschreibung kein eigenständiges theologisches Recht beansprucht. Sie will auch nicht einfach den in der Aufklärung erreichten Stand der Dinge bewusst machen. Sie ist vielmehr der Versuch, die geschichtliche Situation der Welt als Ort Gottes zu begreifen, und nimmt deshalb den weltgeschichtlich gewordenen Karfreitag Hegels zu ihrem Haftpunkt. In dieser Blickrichtung schreibt er: „Dass wir in der Welt leben müssen, ‚etsi deus non daretur’ [auch wenn es keinen Gott gäbe] […] – eben dies erkennen wir vor Gott.“ (533) Dass die Welt ohne Gott zu denken sei, ist die These des neuzeitlichen Atheimus; dass sie um Gottes willen 235 236

Krötke, a.a.O. 370. Ebd., 361.

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3. Die leidende Welt und der leidende Gott

ohne Gott zu denken ist, ist die Form, in der die Theologie den Atheismus ernst nimmt. In dieser Gestalt wird er theologisch begriffen und damit als Gegenspieler Gottes ausgeschaltet. Während die Weltlichkeit der Welt Gott aus sich ausschließt, schließt die Göttlichkeit Gottes die Welt in sich ein.237 Es ist der Kreuzestod Jesu, der diese Erkenntnis begründet, und das bedeutet zugleich: Die „ohne Gott“ existierende Welt wird theologisch als Welt „vor Gott“ begriffen. So findet zuletzt auch das Paradox seine Auflösung, dass die Welt zwar sehr wohl ohne Gott, Gott aber nicht ohne die Welt zu denken ist. Denn als der sich Entziehende, sich aus der Welt herausdrängen Lassende gibt Gott die Beziehung zur Welt nicht auf; im Gegenteil: Er bleibt gerade jetzt und gerade so auf die Welt bezogen. (2) Die Teilnahme am Leiden Gottes, seiner „Ohnmacht“ in der Welt, also der menschliche Nach- und Mitvollzug des göttlichen Leidens, realisiert sich in der Bejahung der neuen geschichtlichen Situation, in einem „weltlichen“ Leben, wie Bonhoeffer sagt, einem Leben, das sich der Gottlosigkeit der Welt aussetzt. Inwiefern aber kann ein ohnmächtiger Gott eine Hilfe für uns sein? Eine erste Antwort lautet: Er befreit uns von den „falschen“ Ansprüchen der Religion, und das gilt mit gleicher Konsequenz auch für die Erwartungen der modernen Theodizee: Gott soll das Leiden verhindern, dem Bösen in den Arm fallen und dem Guten zum Sieg verhelfen. Hier wird der Mensch „in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt“ (534) verwiesen – wenn es ihn denn gibt. Bonhoeffers These zieht all diese Ansprüche als theologisch illegitim zurück Der leidende Gott hingegen  – „für mich […] immer eine der überzeugendsten Lehren des Christentums“238 – macht sich die 237 238

Dazu: Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 75ff. Brief an die Familie Leibholz, 1942, DBW 16, 759.

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3.5 „Teilnahme am Leiden Gottes“ (D. Bonhoeffer)

Negativposten der Welt zu eigen, ihre „Krankheit“, ihre „Schmerzen“ (Mt 8,17: 534). Er lässt sich nicht auf das Ideal einer „bestmöglichen“ Welt verpflichten, sondern steht zu ihrer ganzen Unvollkommenheit. Das schließt nicht aus, dass auch das Leiden als ein „Weg zur Freiheit“ gewürdigt werden kann, einer Freiheit, die sich darin erweist, „dass man seine Sache ganz aus den eigenen Händen geben und in die Hände Gottes legen darf“ (549), dass man also völlig darauf verzichten kann, „aus sich selber etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!)“ (542). Damit wird ein Grundanliegen der neuen religionslosen Situation ausdrücklich bejaht, die „Tendenz dieser Welt, sich allein als Welt zu verwirklichen“ und sich derart zu ihrer eigenen Stärke zu bekennen.239 Das ist – fern aller frommen Weltflucht – die Hilfe, die Gott mit seinem Leiden der Welt anbietet. Bonhoeffer spricht von der „vollen Diesseitigkeit des Lebens“, in der man erst zu glauben lernt (542). Hier wird die gott-lose Welt von ihrer Gottlosigkeit unterschieden und für Gottes Wahrheit in Anspruch genommen. Sie darf nicht (und braucht auch nicht) auf ihren Atheismus festgelegt (zu) werden, als sei er untauglich für jede Gottesbeziehung. Vielmehr ist sie in ihrer Gottlosigkeit „vielleicht gerade Gott näher als die mündige Welt“ (537). Denn indem sie „die Situation Gottes menschlich wiederholt“240, wird sie – das ist das große Thema Bonhoeffers  – fähig, das eigene Menschsein als Dasein-für-andere zu realisieren. Wer aber diese Existenzform einübt, stellt sich bereits in den Horizont der Zukunft, die ihm mit der Nähe des Reiches Gottes angesagt ist. Statt Gott zu rechtfertigen, lässt er sich von Gott ins Recht setzen. 239 240

Krötke, „Teilnehmen am Leiden Gottes“, 372. Ebd., 373.

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4. Theodizee nach Auschwitz

4. Theodizee nach Auschwitz Der Name Auschwitz steht als Symbol für eine Menschheitskatastrophe, einen bis dahin nicht gekannten Zivilisationsbruch, er steht für die Außerkraftsetzung aller Normen, die uns nötigen könnten, in der eigenen Gattung noch Wesen mit menschlichem Antlitz zu sehen und zu respektieren. Diese Katastrophe, die im Zeichen des technischen Fortschritts, erst durch ihn ermöglicht, über die Welt hereingebrochen ist, übersteigt bei weitem die Schrecken, die man einer entfesselten Natur zuzutrauen gelernt hatte, die aber einem Gott anzulasten schon die Aufklärung sich geweigert hat. Dem Erdbeben von Lissabon fielen sechzigtausend Menschen zum Opfer, in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches wurden sechs Millionen Juden ermordet. Gründlicher lässt sich das moderne Subjekt der Geschichte nicht diskreditieren. Die nationalsozialistischen Lager, analysiert Hannah Arendt, „dienten nicht nur der Ausrottung von Menschen und der Erniedrigung von Individuen, sondern auch dem ungeheuerlichen Experiment, unter wissenschaftlich exakten Bedingungen Spontaneität als menschliche Verhaltensweise abzuschaffen und Menschen in ein Ding zu verwandeln.“241 Den Lagerinsassen wurde alles genommen, was Menschen ihr eigen nennen können. Die Menschenrechte, welche ohnehin politisch kaum je gesichert gewesen waren, hatten auch „ihre rein proklamatorische, appellierende Wirkung verloren“ (921). So ging der physischen Vernichtung die „Tötung der juristischen Person“ voraus. Als Staatenlose standen sie „außerhalb jedes geltenden Rechtes“ (922). Der entscheidende Schritt war dann „die ErArendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), 1986, 908. Die in ( ) stehenden Ziffern verweisen auf dieses Buch. 241

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4. Theodizee nach Auschwitz

mordung der moralischen Person“. Indem unter der Fiktion der Rasse getötet wurde, war (wie oft betont) „zum ersten Mal in der Geschichte Märtyrertum unmöglich gemacht“ worden (929). So war auch dem eigenen Tod die letzte Bedeutung, die er für den einzelnen haben konnte, genommen. Mit der Reduzierung jeglichen Lebens auf das Rassische war er sinnlos geworden. Das belegt die „absolute Unschuld der Opfer“ (921). Wir haben es hier mit einem Leiden und mit Leidensgeschichten zu tun, die nicht auf menschliche Schuld bzw. Schuldgeschichten zurückgeführt, die mit diesen traditionellen Kategorien auch nicht mehr begriffen werden können. Was in Auschwitz und in anderen Konzentrationslagern geschah, übersteigt die Fassungskraft menschlichen Begreifens. Wir verstehen es nicht, wenn wir uns an das halten, was sich auf der Ebene des Vernünftigen, Psychologischen, auch des Biographischen einsichtig machen lässt. Erst recht führt uns die Frage nach dem Sinn dieses ungeheuerlichen Mordens, wenn sie nicht überhaupt als Blasphemie erscheinen muss, vor verschlossene Türen. Deshalb werden wir sie bis heute nicht los. Sie ist, im Rahmen traditioneller Theodizee gestellt, die Frage von außen, die uns verführt, uns mit Scheinlösungen zufriedenzugeben. Sie reichen „vom Kurzschluss, alles Leiden sei von Menschen verursacht, […] von der Bagatellisierung des Bösen bis zu der Aussage, für Gott könnte vielleicht als gut gelten, was den Menschen als böse gilt“.242 Vollends ist das gelegentlich geäußerte dogmatische Dekret: „Gott – das ist auch Auschwitz und Hiroshima“ und gehe auf den „dunklen, unerforschlichen Willen Gottes“ zurück, eine ebenso abstrakt wie extrem gezogene Konsequenz aus Luthers Lehre vom „verbor242

Ritschl, Zur Logik der Theologie, 66.

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4. Theodizee nach Auschwitz

genen Gott“.243 Mit der Vermutung, dieses Paradigma alles Bösen in unserer Zeit sei – in welchem Sinn auch immer – gottgewollt, müssten Theologie und Humanität zugrunde gehen. Hans Joachim Iwand hat den Bericht einer der vielen Massenexekutionen zu kommentieren versucht. Er hält inne bei der Schilderung eines Vaters, der einen zehnjährigen Jungen an der Hand hielt: „Der Junge kämpfte mit den Tränen, der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihm den Kopf und schien ihm etwas zu erklären.“ „Dieser zum Himmel erhobene Finger“ – so Iwand – „ist eigentlich alles, was von Menschenmund zu diesem Ganzen gesagt werden kann“.244

Ist der Holocaust ein Gegenstand und Thema der Theologie? Er ist es, aber, was spätestens hier deutlich wird, nicht für den historisierenden Blick aus der Vogelsper­ spektive, sondern für den Menschen, der ungefragt und ungewollt mit der Realität des Bösen konfrontiert wird. Ihm verwandelt sich die neutrale Frage: Wo war Gott in Auschwitz? mit Elie Wiesel in den bedrängenden Ruf: „Gott, wo bist du?“ Wir müssen uns dem Innenaspekt dieser Katastrophe öffnen und werden daher zuerst nach der Selbstdeutung der Opfer und der Überlebenden fragen. Das Erdbeben von Lissabon bewirkte einen Umbruch des philosophischen Denkens; angesichts der Erschütterung von Auschwitz stehen der Glaube und seine Theologie auf dem Spiel. Doch wer sich wie Israel zu der Größe Gottes bekennt, hat selbst in der Nacht des Grauens von seinem Glauben nicht lassen können, auch wenn es nun der Glaube an einen Gott war, der schweigt und sich entzieht. Elie Wiesel, Augenzeuge einer Hinrichtung auf dem Appellplatz von Auschwitz, hat diesem Zwiespalt einen bewegenden Ausdruck gegeben: 243 244

Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens II, 96. Iwand, Umkehr und Wiedergeburt, 363f.

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4.1 Gott im Holocaust: die Selbstdeutung der Opfer „Wer bist Du, mein Gott, dachte ich zornig, verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die Dir ihren Glauben, ihren Zorn, ihren Aufruhr zuschreit? Was bedeutet Deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? Warum noch ihre kranken Seelen, ihre siechen Körper heimsuchen?“ „Als Noahs Geschlecht Dir missfiel, da hast Du ihm die Sintflut geschickt, als Sodom keinen Gefallen mehr vor Deinen Augen fand, hast Du Feuer und Schwefel vom Himmel regnen lassen. Aber diese Männer hier, die Du getäuscht hast, die Du hast foltern, erwürgen, vergasen, einäschern lassen, was tun sie? Sie beten Dich an! Sie preisen Deinen Namen!“245

Bitterer ist mit der vermeinten Allmacht Gottes nicht abgerechnet, ihre rettende Gegenwart nicht in Zweifel gezogen worden. Nur eines geschieht nicht: Sie wird keinen Augenblick geradezu verneint. Das scheint das unentrinnbare Dilemma einer Theologie nach Auschwitz zu sein.

4.1 Gott im Holocaust: die Selbstdeutung der Opfer Die Frage drängt sich auf: Hat Auschwitz die historische Theodizeefrage auf ihren unüberbietbaren krisenhaften Höhepunkt geführt? Kann eine „Rechtfertigung“ Gottes, die nach neuen Gründen suchen müsste, noch im Zentrum der nicht abreißenden Bemühungen stehen, diese Leiderfahrungen zu bewältigen? Josef Klausner hat sie die „Frage aller Fragen“ genannt.246 Das ist bei den unmittelbar Überlebenden erstaunlicherweise nicht der Fall. Erst den jüdischen Theologen der zweiten Generation scheint sie sich in dieser Schärfe gestellt zu haben. Dennoch geben die Zeugnisse der Entronnenen deutlich genug zu verstehen, dass ihnen 245 246

Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa, 94. 96. Klausner, The Question of all Questions.

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4. Theodizee nach Auschwitz

die wie immer verborgene „Rolle“ Gottes in diesem Geschehen  – fast wie eine Art Schlüssel, den man nur eben nicht zu finden wusste  – außer Zweifel stand. „Man begreift es [das Reich der Stacheldrahtverhaue] nicht mit Gott. Und man versteht es nicht ohne ihn.“247 So bleiben die Fragen gewissermaßen elementarer, traditionsgebundener: Lassen sich die entsetzlichen Leiden am Ende doch mit Gott vereinbaren – und wenn: wie? Oder hat Gott die Erwählung seines Volkes widerrufen? Schon die hebräischen Namen der Katastrophe weisen auf Haftpunkte in der religiösen Überlieferung und ziehen entsprechende Deutungsmuster nach sich. „Holocaust“, von Elie Wiesel eingeführt als Übersetzung des hebräischen „Ganzopfer“, das auf dem Altar verbrannt wird, ist ein Terminus der Sühnetheologie und verbindet sich – eine Vorstellung, die ansonsten strikt abgelehnt wird – mit den Begriffen Sünde und Strafe. Das Unheil wäre als Strafgericht Gottes über Israel gekommen, weil das Volk die Existenz in der Diaspora nicht aufgeben wollte und sich weigerte, in das Land der kommenden Erlösung aufzubrechen. Oder auch umgekehrt: Der vorzeitige Versuch, eigenmächtig, ehe die Zeichen auf Erlösung standen, das Exil zu beenden, also der „Frevel des Zionismus“ (Joel Teitelboim), hätte das Unglück heraufgeführt. – Der von Ignaz Maybaum und Manès Sperber gebrauchte rabbinische Begriff „churban“ (hebr.: Ruin, Zerstörung), ursprünglich ein apokalyptischer Terminus, der eine Zeitenwende markiert, erinnert an die Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels, auf die nun als dritte Katastrophe die Vernichtung des europäischen Judentums gefolgt wäre. – Die heute gebräuchliche neuhebräische Bezeichnung „Ha-shoa“ (Verwüstung) akzentuiert die schlechthinnige Einma247

Wiesel, Der Mitleidende, 71.

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4.1 Gott im Holocaust: die Selbstdeutung der Opfer

ligkeit dieser Ereignisse und lässt zugleich ebenso an eine Zeitenwende denken. Repräsentative Zeitzeugen der Vernichtung haben diese geschichtstheologischen Linien weiter ausgezogen: Ignaz Maybaum248, ein Schüler Franz Rosenzweigs, ehemaliger Reformrabbiner und Lehrer am Leo Baeck College in London, knüpft an die Tradition des churban an. Er interpretiert ihn als einen Eingriff Gottes, der „wie ein Chirurg Vergangenes aus dem Körper der Menschheit herausschneidet“, nicht als Strafe, sondern um einen neuen Abschnitt wiedererlangter Gesundheit beginnen zu lassen. Er geht so weit, Hitler als ein zwar unwürdiges und verächtliches, aber eben doch als ein Werkzeug Gottes zu bezeichnen, um eine sündige Welt zu reinigen. So erscheint die Vernichtung der Juden im Bild des Propheten Amos (5,18f.) als der furchterregende „Tag des Herrn“, der die Vergangenheit – Hitler und seine Schergen – verdammt und zur „Überlebensformel“ der Juden wird gemäß dem Wort Jesajas (54,7): „Nur für eine kleine Zeit habe ich dich verlassen, doch mit großem Erbarmen werde ich dich heimholen.“ Eliezer Berkovitz249, orthodoxer Rabbiner und Professor für jüdische Philosophie am Hebrew Theological Seminary in Chicago, interpretiert den Holocaust als eine Zeit der „Gottesfinsternis“ (M. Buber), in der Gott seine Gegenwart verbirgt, ohne doch seine Herrschaft über die Welt aufzugeben. Er schreibt ihm die „letztliche Verantwortung“ für die Explosion des Bösen in Auschwitz zu und wendet doch die Frage nach dem unverdienten Leiden auf den Menschen zurück, das Risiko, auf das Gott sich eingelassen hat. Damit er in der ihm eigenen Freiheit auch zum äußersten Bösen existieren kann, muss Gott sich entfernen (verbergen); damit er an den absurden Folgen seiner Freiheit nicht zugrunde geht, muss Gott in der Welt bleiben. Er muss zugleich abwesend und gegenwärtig sein. Deshalb endet der Essay mit dem Bekenntnis: „Wie gottverlassen und öde die Geschichte weithin erscheinen mag, wir wissen um seine Gegenwart, wenn wir voll Erstaunen unsere Existenz betrachten.“

248 249

Maybaum, The Face of God after Auschwitz. Berkovitz, Faith after the Holocaust.

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4. Theodizee nach Auschwitz Richard Rubenstein250, vom Existentialismus geprägter Rabbiner, der während seines Rabbinats evangelische Theologie u.a. bei Paul Tillich in Harvard studierte, gehört zu dem Flügel jüdischer Gelehrter, welche die traditionelle Geschichtstheologie radikal ablehnen und in den Todeslagern des Holocaust den endgültigen Erweis des „Todes Gottes“ erblicken. Er führt ein Gespräch mit Propst Heinrich Grüber, dem unerschrockenen Verteidiger der Juden, als das entscheidende Datum für seine Abkehr von allem an, was bisher für die jüdische Existenz konstitutiv war: Gott, Erwählung, Bund und Tora. Denn Grübers Behauptung, es sei der Wille Gottes gewesen, „Adolf Hitler zu senden, um das europäische Judentum auszurotten“, widerspreche allem, was Glaube, Moral und Denken mit einem Gott verbinde. Ein solcher Gott „existiert nicht“. Seine Argumente – die völlige „Andersartigkeit“ gegenüber „früherem Unglück der Juden“; der Triumph der „technologischen Barbaren des 20. Jahrhunderts“; das „Versagen der Menschenrechte“ – erinnern an Hannah Arendt. Er schließt mit seinem Bekenntnis, als „Kind der Erde“ zu seinem Ursprung zurückzukehren. Denn hat nicht „der beste Teil [meines] Volkes“, statt ewiger Wanderer zu bleiben, jetzt eine „ihm gehörende Bleibe auf Erden gefunden“? „Das ist Heidentum.“ Emil Fackenheim251, ehemaliger Häftling im KZ Oranienburg, seit 1960 Professor für Philosophie in Toronto, zieht aus den Argumenten Rubensteins die entgegengesetzte Konsequenz: Es hieße, post festum an Hitlers Vernichtungsprogramm mitzuarbeiten, wollte man darauf mit der Absage an das jüdische Bekenntnis antworten. Die „paradoxe“, mit dem Sinai vergleichbare „Offenbarung“ von Auschwitz verlange vielmehr nach einer Neubewertung der Rede von Gottes Gegenwart. Gottes „gebietende Stimme“ habe in Auschwitz das 11. [614.] Gebot erlassen: „Israel soll leben“, dessen sichtbarstes Unterpfand die Existenz des Staates Israel sei.

Eine Antwort auf die Grundfrage von Auschwitz findet man in diesen persönlich gehaltenen Zeugnissen nicht. Denn wie könnte man die Leiden des der Vernichtung preisgegebenen Volkes mit der Liebe Gottes vereinbaren und zugleich an der die Geschichte providentiell lenkenden Macht dieses Gottes festhalten, die sie hätte verhin250 251

Rubenstein, Some Perspectives on Religious Faith after Auschwitz. Fackenheim, The Commanding Voice of Auschwitz.

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4.1 Gott im Holocaust: die Selbstdeutung der Opfer

dern können? Warum kommt der erlösende Messias nicht, wenn die Not am größten ist? Das sind Erinnerungen an die Theodizeefrage. Doch wer hätte sie beantworten können, und welches Wissen hätte ihn dazu legitimiert? Wenn Berkovitz von der Verborgenheit Gottes; wenn Fackenheim und Wiesel von einer Offenbarung von Auschwitz sprechen, dann weisen sie in eine andere Richtung: Man muss die Spuren der Erfahrung aufsuchen, also die Begegnungen mit der Wirklichkeit dieses Gottes befragen, die noch jeder theologischen Reflexion vorausliegen. Hier zählt nur das „einzigartige Zeugnis in Gestalt von erzählter Geschichte“.252 Und was fällt da ins Gewicht? Elie Wiesel fasst seine prägendste Erfahrung in den Sätzen zusammen: „Was immer wir tun oder lassen, wir sind bewegt von dem, was damals geschah in jenem Reich der Finsternis. […] Wir werden stets auf jenes unsichtbare Mysterium starren, wo sich Gott und Mensch voller Entsetzen in die Augen schauten.“253 Hier hat das Thema des leidenden Gottes seinen befremdlichsten, lebensgeschichtlich greifbaren Ort bekommen. Daran erinnert die Selbstbezeichnung jüdischer Existenz in den Todeslagern als „kiddusch haschem“ (Heiligung des [Gottes]Namens), der klassischen Formel jüdischen Märtyrertums. „Durch ihr Opfer leuchtete das Licht der Verheißung, der endlichen Erlösung durch den kommenden Messias.“254 Mit der Übernahme dieser Deutung wurde den aller bürgerlichen Attribute und Ehrenzeichen entkleideten Opfern ihre Würde zurückgegeben. Ihre klaglose Annahme des Leidens hält das Gedächtnis der Exile Israels wach, deren tiefstes Symbol, Gottes ‚Schechina’, der Lagerexistenz noch einen Rest an zeit­ Klappert, Das jüdische Zeugnis, 11. Wiesel, Die Massenvernichtung als literarische Inspiration, 23. 254 Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Frankfurt 1987, 11. 252 253

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4. Theodizee nach Auschwitz

enthobener Bedeutung geben konnte. Denn mit dem Exil verbindet sich von jeher jene tief in jüdischem Denken verankerte rabbinische Tradition der Selbsterniedrigung Gottes, die auf die Zerstörung des zweiten Tempels zurückgeht. So heißt es bereits bei Rabbi Akiba: „Wohin immer die Israeliten verbannt wurden, war die Schechina [Gottes Gegenwart und Repräsentation] gleichsam mit ihnen verbannt.“255 Dies, nicht aber eine Machtentsagung, meint die Rede vom leidenden Gott an ihrem geschichtlichen Ursprung (Ex 3,7f.). Seine Schechina begleitet Israel ins babylonische Exil und zieht nach dem Ende der staatlichen Existenz des Volkes mit ihm in die Zerstreuung. Erst die theologisch-begriffliche Aufarbeitung dieser Erfahrungen  – namentlich durch Hans Jonas – hat zu einer Verlagerung dieses Leidens auf die Problemebene göttlicher Macht geführt und gehört zu den meist diskutierten Texten der neueren Theodizee-Literatur.

4.2 Der Gottesbegriff nach Auschwitz – Abschied von der Theodizee Hans Jonas, einer der großen jüdischen Gelehrten des letzten Jahrhunderts, bekannt geworden durch seine wegweisenden Studien zur Gnosis und zur „Ethik für die technologische Zivilisation“, hat im Gedenken an seine in Auschwitz ermordete Mutter den letzten großen Versuch unternommen, eine Antwort zu finden auf die grauenvollen Erfahrungen seines Volkes im Holocaust. Er fragt als reflektierender Theologe nach den Bedingungen, die angesichts der nie dagewesenen Schrecken diese Katastrophe möglich gemacht haben, und zwar in der Zuspitzung auf das Problem, warum 255

Zit. nach Klappert, a.a.O. 14.

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4.2 Der Gottesbegriff nach Auschwitz – Abschied von der Theodizee

Gott in diesem extremen Fall menschlicher Erniedrigung und kreatürlichen Leidens nicht eingegriffen hat. Ein solcher Versuch kann nur mit dem Blick „von außen“ gelingen – Jonas spricht von einem „Stück unverhüllt spekulativer Theologie“ (7)256 –, der sich von der neutralen Vogelsperspektive freilich dadurch unterscheidet, dass er punktgenau auf die Situation ausweglosen Leidens bezogen bleibt. Er verzichtet daher (anders als die nachfolgende philosophische Diskussion257) auf alle theistisch-begrifflichen Prämissen, die das denkmögliche Wirkungsfeld Gottes a priori ausloten könnten. Die Hiobsfrage, erklärt Jonas eingangs, „seit jeher die Hauptfrage der Theodizee“ (16), hat sich verschärft. Auschwitz hat der jüdischen Geschichtserfahrung „ein Niedagewesenes hinzu(gefügt), das mit den alten theologischen Kategorien nicht zu meistern ist“ (14). Denn wenn nicht mehr um des Glaubens willen, sondern „unter der Fiktion der Rasse“ gemordet wird, müssen (wie schon Rubinstein feststellt) alle überlieferten Deutungsmuster, unter denen man den gewaltsamen Tod der Juden theologisch verständlich zu machen versucht hat – Untreue des Gottesvolkes, Zeugenschaft des leidenden Gerechten, Opfer im Zeichen der „Heiligung des Namens“  – versagen. Doch Jonas zieht nicht die Konsequenz, Gott für tot zu erklären, sondern stellt sich die Aufgabe, den Gottesbegriff selbst neu zu vermessen. Denn „wer vom Gottesbegriff nicht einfach lassen will […], der muss, um ihn nicht aufgeben zu müssen, ihn neu überdenken und auf die alte Hiobsfrage eine neue Antwort suchen. Den ‚Herrn der GeJonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz,. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf diesen Essay. 257 Man vergleiche etwa Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 258260. 256

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4. Theodizee nach Auschwitz

schichte’ wird er dabei wohl fahren lassen müssen.“ Er steht vor der Frage. „Was für ein Gott konnte [das alles] geschehen lassen?“ (14). Diese Aufgabenstellung darf heute als überfällig gelten. Wenn Auschwitz, so J.B. Metz, „ein Attentat ist auf alles, was uns – den Christen  – hätte heilig sein müssen“, dann ist „auf jeden Fall“ eine Revision unserer „geschichtsidealistischen“ Theologie angezeigt.258 In dieser Absicht entwickelt Jonas in Gestalt eines „hypothetischen Mythos“ ein Gottesverständnis, demzufolge bereits der erste schöpferische Akt, in dem Gott ein Anderes neben sich anfangen und werden lässt, den Schatten von Auschwitz denkbar macht. Denn eine Schöpfung, die mit dem Anfang eines Anderen Gott selber ein Gegenüber setzt, ist auf jeden Fall ein Akt göttlicher „Selbstbegrenzung“ und gehört als solcher „zum Wesen Gottes“.259 Diese Selbstbegrenzung aber wird von Jonas nun derart radikalisiert, dass die Allmacht, die diesen Anfang ermöglicht, mit dem ersten Akt ihrer Betätigung auch schon erlischt. Der Anfang ist eine völlige Selbstentäußerung Gottes: Er „hielt […] nichts von sich zurück“, um die Schöpfung „von jenseits her zu lenken, zu berichtigen und letztlich zu garantieren“ (15f.), wie es die klassische Dogmatik lehrt. Vielmehr „entkleidete er sich seiner Gottheit, um sie zurück zu empfangen von der Odyssee der Zeit“, d.h. von dem Weltlauf, der sich nach jenen Gesetzen seiner Evolution formiert, die „keine Einmischung“ dulden und die „durch keine außerweltliche Vorsehung gemildert“ werden (16). Denn genau diese Welt ist es ja, die – „sich selbst überlassen“ – den Boden bereitet hat, auf dem zuletzt auch ein Auschwitz möglich wurde. Metz, in: Oelmüller (Hg.), Neue Diskussionen der Theodizeefrage, 159. 259 Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen, 154. 258

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4.2 Der Gottesbegriff nach Auschwitz – Abschied von der Theodizee

Damit ist zweierlei gesagt, zunächst: Gott macht sich von seiner Schöpfung abhängig; ihre autonome Entwicklung stellt den Boden bereit, „auf dem [seine] Gottheit sich erbaut“ (21). Er wird durch sie nicht nur begrenzt, sondern als Gott „alteriert, im Zustand verändert“, das heißt: Er „wird fortschreitend anders durch die Verwirklichungen des Weltprozesses“ (28f.). Er wird als ein „werdender Gott“ begriffen. Während er – zweitens – jedoch „im großen Glücksspiel der Entwicklung [von Pflanze und Tier] nicht verlieren“ kann, wird mit dem evolutiven Sprung der „Heraufkunft des Menschen“ und damit der „Heraufkunft von Wissen und Freiheit“ die Schwelle der Unschuld überschritten: Jetzt geht „das Bild Gottes […] in die fragwürdige Verwahrung des Menschen über, um erfüllt, gerettet oder verdorben zu werden durch das, was er mit sich und der Welt tut“ (22f.). An seiner Wahl für Gut oder Böse entscheidet sich, ob die von ihm übernommene Verantwortung Chance oder Gefahr für den im Werden begriffenen Gott bedeutet. Insofern ist er „auch ein gefährdeter Gott, ein Gott mit eigenem Risiko“ (32). Stünde es anders um ihn, könnte die Welt im Zustand permanenter Vollkommenheit sein. Das aber ist sie offenkundig nicht, was das Resultat der Geschichte bestätigt: Gott hat seiner Schöpfung einen Spielraum eigener Mitbestimmung überlassen, hat er doch bereits im Akt ihrer Erschaffung „darauf verzichtet, alles in allem zu sein“ (32f.). Auf diesen Machtverzicht, den „vielleicht kritischsten Punkt“, läuft das spekulative theologische Wagnis hinaus: „Das ist nicht ein allmächtiger Gott!“ (33) Hier also wird das Prädikat der Allmacht in aller Form aus dem Katalog der göttlichen Attribute gestrichen und damit zugleich der härteste Stein aus dem Gebäude der Theodizee herausgebrochen. Denn nur wenn Gott allmächtig ist, kann man die Frage stellen: Warum tritt er dem Unrecht und Leiden seiner Geschöpfe nicht

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4. Theodizee nach Auschwitz

machtvoll entgegen? Jonas hat diese Frage hinter sich gelassen. Wenn Gott nicht eingreift, wenn er dem Bösen nicht in den Arm fällt, so nicht deshalb, weil er eine Macht zurückgehalten hätte, die er „unverkürzt besitzt, aber um des Eigenrechts der Schöpfung willen nur verkürzt gebraucht“ (40). Diese Regel äußerster Zurückhaltung hätte er angesichts von Auschwitz durchbrechen müssen: „Doch kein rettendes Wunder geschah; durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott. […] Und da sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein […] Ich proponiere die Idee eines Gottes, der für eine Zeit – die Zeit des fortschreitendes Weltprozesses  – sich jeder Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben hat; der dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein antwortet nicht ‚mit starker Hand und ausgestrecktem Arm’, wie wir Juden alljährlich im Gedenken an den Auszug aus Ägypten rezitieren, sondern mit dem eindringlich stummen Werben seines unerfüllten Zieles.“ (41f.)

Diesen eindrucksvollen Versuch, der „die ganze Wucht geschichtlicher Erfahrung in die Arbeit des Denkens einbringt“260, kann man nicht gut mit der Bemerkung diskreditieren, er sei irgendwo „im Feld zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen willkürlicher privater Phantasie und Allgemeingültigkeit beanspruchender Theorie“ angesiedelt.261 Er erweitert vielmehr die traditionelle Problemstellung, die sich zwischen den Polen göttlicher Allmacht und Allgüte bewegt, indem er sie unter eine zusätzliche Bedingung stellt, die Verstehbarkeit: „Ein gänzlich verborgener, unverständlicher Gott ist ein unannehmbarer Begriff nach jüdischer Norm.“ (39) Unverständlich aber müsste er sein, „wenn ihm zusammen mit Allgüte auch Allmacht zugeschrieben würde“. So for260 261

Jüngel, (Anm. 259), 158. So Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 255.

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4.2 Der Gottesbegriff nach Auschwitz – Abschied von der Theodizee

muliert Jonas ein Trilemma derart, dass unter diesen drei Begriffen nur jeweils zwei miteinander vereinbar sind. Angesichts der unleugbaren Existenz des Bösen, das ein allmächtiger Gott müsste aus der Welt schaffen können, muss das Allmachtsprädikat weichen. Hinter diesem modernen Mythos und seiner Interpretation der creatio ex nihilo steht eine sehr viel ältere Auslegung der Schöpfung, die auf die jüdischen Kabbala (Isaak Luria) zurückgeht und durch Gershom Scholem und Jürgen Moltmann wieder ins theologische Gespräch eingeführt worden ist.262 Danach wird die Existenz einer Welt außerhalb Gottes durch eine Inversion (Kontraktion) Gottes ermöglicht. „Um Raum zu machen für die Welt, musste […] der Unendliche sich in sich selbst zusammenziehen und so außer sich die Leere, das Nichts entstehen lassen, in dem und aus dem er die Welt schaffen konnte.“ (46) Gott „schafft“, indem er seinlässt, einräumt und sich zurücknimmt. Diese Vorstellung wird von Jonas allerdings erheblich radikalisiert. Die Kabbala rechnet damit, dass die Kontraktion Gottes einmal endet. Dann verlieren die endlichen Dinge ihr Eigensein wieder ins göttliche „alles in allem“. Diese Möglichkeit ist hier nicht vorgesehen. Denn Jonas hat die Kreatur „nicht als ein Sein neben dem Schöpfer, sondern als das Anderssein des Schöpfers“ begriffen. Am Ende jedenfalls steht Gott ihr nicht gegenüber; er verläuft sich in ihr. „Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott [jetzt] nichts mehr zu geben.“ (47) Als der gegenwärtig erfahrbare Geber aller guten Gaben kommt er nicht mehr in Betracht.

Die theologischen Implikationen dieses Mythos scheinen in schroffem Gegensatz zur christlichen Lehrüberlieferung zu stehen. Namentlich der (angesichts von Auschwitz in der Tat blasphemisch wirkende) Gedanke der Providenz hat in diesem Entwurf keinen Raum. Denn er müsste ja die Folgerung nach sich ziehen, Gott hätte dieses ungeheuerliche Geschehen bewusst gewollt. Diese Konsequenz a limine auszuschließen, ist indessen die erklärte Absicht dieses Essays. Dabei steht das traditioScholem, Die jüdische Mystik, 285ff.; Moltmann, Gott in der Schöpfung,98ff. 262

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4. Theodizee nach Auschwitz

nelle Bedürfnis, Gott zu rechtfertigen, nicht einmal im Blickpunkt dieses spekulativen Versuchs. Es geht vielmehr um die eingangs gestellte Frage, ob ein Schöpfer, der sich der Möglichkeit wirksamer Vorsehung und Regierung der Welt begibt, der sich also nicht mehr als „Herr der Geschichte“ (14) ansprechen lässt, überhaupt noch ein Gott genannt werden kann. Zwei Entscheidungen lassen das fragwürdig erscheinen: die Preisgabe des Allmachtsprädikats und, daraus folgend, die Übernahme des Leidens in die Wesensbestimmung Gottes. (1) Der Allmachtsverzicht scheint zunächst kein revolutionärer, sondern nur ein besonders konsequenter Schritt zu sein. Denn die Einschränkung göttlicher Macht war von jeher „das Grund- und Hauptargument der Theodizee“.263 Sie liegt bereits in der Prämisse der Problemstellung beschlossen. Nur weil Gott die Leiden und Übel der Welt zugelassen hat, gibt es hier überhaupt ein Problem. Seine Macht begrenzt sich – so die Tradition – an der ihm vorgegebenen Materie (Platon), an dem „bösen“ Schöpfergott (Markion) oder an dem aus Freiheit sündigenden Menschen (Augustin). Jonas zieht aus diesen Vorgaben nur die ganze Konsequenz, wenn er bereits Gottes schöpferisches Anfangen als Selbstbegrenzung, das heißt als Allmachtsschranke begreift. Dagegen ist schon rein logisch nichts einzuwenden. Denn Allmacht, verstanden als „absolute, totale Macht“, bedeutet „Macht, die durch nichts begrenzt ist, nicht einmal durch die Existenz von etwas anderem überhaupt“ (34). Dann nämlich hätte sie  – begriffsrichtig verstanden – „überhaupt keinen Gegenstand, auf den sie wirken könnte“ und bliebe – wie in der Physik Kraft ohne Widerstand  – „leer“ (35f.). Das lässt sich auch theologisch nicht bestreiten. Wenn also Gott dem Geschöpf jenen Spielraum der Mitbestimmung konzediert, dann 263

Marquard, Schwierigkeiten beim Ja-Sagen, 92f.

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4.2 Der Gottesbegriff nach Auschwitz – Abschied von der Theodizee

will er sich durch dessen Existenz begrenzen lassen. Er „verzichtet“ darauf, ihm „den Missbrauch [seiner] Selbständigkeit einfach unmöglich zu machen“.264 Das Problem des Mythos tritt erst darin zu Tage, dass die Allmachtsschranke hier vom Wollen in das Können Gottes zurückverlagert wird und damit das Sein Gottes auf eine ganz andere Weise tangiert. Die „Machtentsagung“ (48) wird mit der Selbstauslieferung an den Werdeprozess der Welt begründet. Dann aber kann von einer Rechtfertigung Gottes derart, dass er am Ende überlegen, von dem Unwesen der Welt sich scheidend, aus diesem Prozess hervorgehen könnte, keine Rede mehr sein. Insofern wird hier tatsächlich der Abschied von der Theodizee vollzogen. Denn nun sind die Weichen so gestellt, dass die „Odyssee der Zeit“, von der er seine Gottheit dereinst zurückzuempfangen hofft, sein Bild zwangsläufig verändern, wenn nicht gar entstellen muss. Die „Zufallsernte“ unvorhersehbarer Erfahrungen kann die Schrecken der Geschichte nicht abstreifen. Dann aber unterläge Gott zuletzt dem Schicksal, um dessentwillen zu ihm geschrieen wird. Er hörte auf, ein Fluchtpunkt menschlicher Hoffnung zu sein. Wir brauchten ihn nicht: „Die Wunder, die [in Auschwitz] geschahen, kamen von Menschen allein.“ (41) (2) Radikaler als von Jonas ist das Apathie-Axiom der klassischen Theologie, die Vorstellung eines leidensunfähigen Gottes, der dem wehrlosen Sterben seiner Kreatur teilnahmslos zusieht, nicht in Frage gestellt worden. Der auf seine Allmacht verzichtende Gott leidet mit seiner Schöpfung. Auch gegen diese These ist im Namen einer biblisch orientierten Theologie – ich erinnere an Luther und Bonhoeffer – kein Einspruch zu erheben. Die Hebräische Bibel kennt ein göttliches Leiden, Gottes „Selbsthingabe an Israel“; das Neue Testa264

Barth, KD II/1, 670f.

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4. Theodizee nach Auschwitz

ment stellt den Kreuzestod Jesu ins Zentrum seiner Rede von Gott. Jonas, in jüdischer Tradition denkend, will seine These allerdings nicht „mit der christlichen Bedeutung [dieses] Ausdrucks […] verwechselt“ wissen, doch anders als Elie Wiesel weiß er sich auch von dem Gott Jeremias und Hiobs getrennt. Seine Begründung des Leidens Gottes unterscheidet sich signifikant von den Motiven der biblischen Überlieferung, und daraus resultiert ein Problem, das – ganz jenseits der „konfessionellen“ Differenz – von erheblichem Gewicht ist. Sein Gott leidet, indem er sich „vom Augenblick der Schöpfung an“ an die Bedingungen der Welt ausliefert; er existiert sozusagen nur in der entfremdeten Gestalt kreatürlichen Daseins. Sein Leiden ist sein Schicksal, und das teilt er mit der Schöpfung. Er wird im Modus seiner Entäußerung als Substanz (statt als Subjekt) begriffen. Er hat aufgehört, sich als Gegenüber seiner Schöpfung zu verstehen. Deshalb lässt sich auf ihn nicht hoffen. Er wird von keinem Gebet, keiner Klage und keinem Schrei aus der Tiefe erreicht. Man kann nur darauf warten, dass er durch die „Inspiration der Propheten und der Thora“ (42) dem Weltprozess zu einem guten Ausgang verhilft. So aber hat Jonas jedenfalls sein selbstgestecktes Ziel (für und mit Israel) erreicht, trotz des allgegenwärtigen Elends der Erde Gott nicht zu verlieren. Doch er zahlt, wie er weiß, einen hohen Preis, indem er sich ebenso weit wie von der christlichen auch von der jüdischen Lehre entfernt. Hans Hermann Henrix265 fragt denn auch, ob seine letzte Antwort, das Warten auf Gottes „eindringlich stummes Werben seines unerfüllten Zieles“ (42), nicht doch zu sehr „in der Kategorie des Ästhetischen“ verbleibt, statt zum Appell an die Lebenden zu werden. Hätte er nicht statt einer äs265

Henrix, Machtentsagung Gottes?, 137f.

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4.2 Der Gottesbegriff nach Auschwitz – Abschied von der Theodizee

thetischen „Lockung“ mit Levinas von einer „ethischen Vorladung vor das Tribunal unendlicher Verantwortung“ reden müssen? Henrix’ Anfrage richtet sich an die im Mythos dekretierte Zuordnung von Immanenz und Transzendenz. Denn wenn Gott sich vorbehaltlos in das weltliche Geschehen entäußert; wenn er keinen Teil für sich zurückbehält, muss seine Transzendenz dann nicht „unkenntlich“ werden, mehr noch: Wird sie dann nicht „ontologisch aufgelöst“? Kann ihre Epiphanie in jenem „stummen Werben“ dann überhaupt noch erwartet werden? Hier wusste die Hebräische Bibel mehr zu sagen, wenn sie von Gott beides bekennt, dass er „in der Höhe und als Heiliger thront und bei den Zerschlagenen und Demütigen“ (Jes 75,15; Ps 113,6). Ist dieser Preis, die völlige „Machtentsagung“ Gottes, nicht zu hoch, sofern sie für die Leidenden von Auschwitz und die Toten der Shoa nun keine Verheißung mehr enthält? Müsste es nicht einen „Hoffnungsvermerk für die Toten von Auschwitz“ geben, zumindest einen Platz für die klagende Rückfrage an Gott angesichts der Gräuel in der Schöpfung? Dieser Preis ist unter dem Titel einer „Verohnmächtigung“ Gottes heute zum Gegenstand einer intensiven Auseinandersetzung geworden. Die Differenz gegenüber der Tradition lässt sich ja nicht übersehen: Auch der biblische Gott leidet an und mit der Welt, aber er verliert sich nicht in ihr, ist dem Leiden nicht unterworfen wie die vergängliche Kreatur. Er verhält sich (als Subjekt) zu dem, woran er leidet; er gibt sich sozusagen nicht aus der Hand. Daran gemessen ist die Freiheit Gottes das Problem dieses Entwurfs. Im Augenblick seiner Selbstentäußerung begibt sich Jonas’ Gott dieser Freiheit. Das tangiert rückwirkend auch den Begriff der Allmacht. Denn unter der Bestimmung der Freiheit gedacht, könnte er sehr wohl etwas anderes bedeuten als die schrankenlose Macht eines „Alleskönners“, nämlich

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4. Theodizee nach Auschwitz

eine ‚Macht über seine Macht’, Macht, die sich um des Anderen willen begrenzt, so dass sie auch der Ohnmacht fähig ist, fähig, um Anderer willen zu leiden. Deshalb wird sie in der Bibel die ‚Macht der Liebe’ genannt. Freiheit ist die Bedingung, unter der allein Liebe denkbar und ein Leiden aus Mitleid möglich ist. Doch andererseits: Wird, wer aber an der neutestamentlichen Definition festhalten will, dass Gott die Liebe ist (1 Joh 4,16), auch nur eine der Fragen zum Schweigen bringen, die das Problem der Theodizee zum Stachel im Fleisch der Theologie gemacht haben? Hat, wer bereits das Werk der Schöpfung als ein Werk dieser Liebe begreifen will, eine andere Wahl, als die Verantwortung auch für die Leiden und Übel der Welt bei eben diesem Gott zu suchen? Das scheint der Preis zu sein, der ihm abverlangt wird. Er ist kaum weniger hoch.

4.3 Der leidende Gott – „Stillstellung“ der Theodizee? Der auf seine Weise eindrucksvolle Versuch von Jonas ist nicht unbestritten geblieben. Gewiss, Jonas hat erreicht, dass Gott von der Urheberschaft und damit von der Verantwortung für das weltgeschichtlich angewachsene Leiden der Erde entlastet wird. Doch lässt sich, so der Einwand von Henrix, dieser leidende Gott noch als „Grund und Garant eschatologischer Hoffnung verstehen?“266 Ändert sich, gibt Dorothee Sölle zu bedenken, das Geringste an den Qualen eines Häftlings, wenn Gott mit ihm leidet?267 Hinzu kommt der Vorbehalt des rabbinischen Judentums, das Leiden Gottes könnte die Not der Menschen am Ende vergrößern, weil Gott sich nun selber erlösungsbedürftig macht. 266 267

Henrix, Machtentsagung Gottes?, 140. Sölle, Leiden, 160.

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4.3 Der leidende Gott – „Stillstellung“ der Theodizee?

Denn wer sagt uns, dass diese Leiden einander aufheben und sich nicht im Gegenteil „summieren“? Damit wären Frage und Problem der Theodizee „stillgelegt“. Gerade diese vermeinte Solidarität Gottes stellt das Denken vor kaum zu bewältigende Schwierigkeiten: „Wie hat es Gott fertig gebracht, Sein Leiden noch zu vermehren, um das unsrige auszuhalten? Soll man das eine als Rechtfertigung des anderen betrachten? Nein, bestimmt nicht. Nichts rechtfertigt Auschwitz. Wenn der Herr selbst mir darauf eine Antwort gäbe, wiese ich sie als irrig und falsch zurück […] Das ist das Dilemma, dessen sich der gläubige Mensch unter Schmerzen bewusst wird: Indem Gott dem Geschehen seinen Lauf ließ, wollte Er den Menschen etwas kundtun. Und wir wissen nicht, was. Dass Er litt? Er hätte seiner Qual ein Ende machen können. Er hätte es tun müssen, indem er das Martyrium Unschuldiger beendete. Warum hat Er es nicht getan? Ich weiß es nicht.“268

Der schärfste Angriff kommt indessen von den Vertretern der klassisch-philosophischen Theodizee. Unbeeindruckt von dem lebensgeschichtlichen Problem, auf das Jonas eine Antwort sucht, richten sich F. Hermanni (und auf andere Weise A. Kreiner) mit ihrer Kritik gegen den zentralen, mit Recht größte Aufmerksamkeit auf sich gezogenen Versuch, den Gottesbegriff selbst neu zu vermessen. Er unterlaufe damit, so lautet das Argument, „die theistischen Prämissen, die das Theodizeeproblem konstituieren“.269 Das ist zweifellos richtig, aber eben bewusst gewollt. Jonas – hier liegt nachgerade die theologiegeschichtliche Pointe seines Entwurfs – hat sich aus dem Schatten von Leibniz gelöst, das von ihm abgesteckte Feld verlassen und das Problem mit einem neuen Ansatz als lebensweltliche Anfrage zu bearbeiten versucht. Dieser Versuch wird hier a limine mit einem erheblichen Aufwand logischer Argumente abgewiesen. 268 269

Wiesel, Der Mitleidende, 73. Hermanni, Abschied vom Theismus?, 170.

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4. Theodizee nach Auschwitz

Dass die (ungeklärte) Gottesfrage, wie ich zu zeigen versuchte, den Dreh- und Angelpunkt aller bisher anfallender Schwierigkeiten bilden könnte (und an dieser Stelle in der Tat Fragen an Jonas – aber auch an Leibniz – zu richten sind), kommt dabei jedoch überhaupt nicht in Sicht. Biblisch-theologische Einsichten namentlich im Blick auf das „Leiden“ Gottes sucht man hier vergebens. Vielmehr bestimmt die Frage, was man unter der metaphysischen Voraussetzung eines absolut „vollkommenen Wesens“ von diesem Gott erwarten könnte und müsste, den Diskurs. Dass dieser Weg zu theologisch vertretbaren „Lösungen“ führen könnte, darf man bezweifeln. Bezweifeln darf man freilich auch, dass die Rede vom leidenden Gott, so wie sie im Spiegel ihrer Kritiker als „neue Orthodoxie“ wahrgenommen wird, schon aus den Sackgassen traditioneller Probleme herausführt. Absicht und Ziel dieser Fragestellung sind jedoch allemal bedenkenswert. Sie will die unerträgliche Diskrepanz zwischen dem erfahrungsfernen Nachdenken und Disputieren über das Leiden und den Erfahrungen derer, die ihm ausgesetzt sind, überwinden. Vergegenwärtigt man sich die (kaum befriedigenden) Antworten, die seit Augustin zur Erklärung von Unrecht und Leiden der Weltgeschichte vorgebracht worden sind – es ist von Gott zugelassen, ist als Strafe oder Erziehungsmittel über die Menschheit verhängt –, dann werden die gegenwärtig erprobten Neuansätze verständlich. Denn die klassischen Theorien können nicht beides erreichen, was sie erreichen wollen: die Erfahrungen des Menschen ernst nehmen und zugleich Gott entlasten. Wer sich dem Rätsel des Bösen aussetzt, muss daher das metaphysische Gottesbild in Frage stellen, statt dieses Rätsel wie Augustin gleichsam aufzusaugen durch das übergroß anwachsende Problem menschlicher Sünde und Schuld, und Gott von jeder Berührung mit dem Elend der Erde fernzuhalten. Er muss die Nähe zur Er-

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4.3 Der leidende Gott – „Stillstellung“ der Theodizee?

fahrung des Leidens zurückgewinnen – selbst um den Preis, dass er Gott darein verwickelt. Darin stimmen so unterschiedliche Ansätze wie die von Jürgen Moltmann, Hans Jonas oder Peter Koslowski grundsätzlich überein.270 In einem ersten Schritt will ich daher die von der philosophischen Kritik gemeinte Argumentationslinie nachzeichnen, und sodann in einem zweiten Schritt im Anschluss an die Überlegungen des Abschnitts 3.2 die systematische Frage nach der Theodizee-Relevanz der Rede vom „leidenden Gott“ aufnehmen: Geht es hier, wie in den meisten Darstellungen vorausgesetzt, um die Selbstauslieferung Gottes an überlegene Mächte, mithin um das Thema vollendeter „Ohnmacht“, oder hat dieses Leiden auch eine aufdeckende hermeneutische Funktion und weist damit über sich selbst hinaus? (1) Mehr noch als Hans Jonas ist in der neueren Diskussion die protestantische Theologie in die Kritik geraten, allen voran Jürgen Moltmann, der ebenso wie H.Jonas die von Isaak Luria entwickelte Lehre von der Kontraktion Gottes (Zimzum) als „Erklärung“ für den Ursprung der Schöpfung in Anspruch nimmt und diesen Anfang nun als „ersten Akt der Selbsterniedrigung Gottes“ deutet, „die im Kreuz Christi ihren tiefsten Punkt erreicht“.271 Er verbindet diese Tradition mit dem Spitzensatz der Christologie, indem er eine ältere Arbeit zitiert, die ihm den Vorwurf „trinitarischer Euphorie“ (Metz) eingetragen hat: „Das durchgehende, einheitliche Zeugnis vom Kreuz ist der Schriftgrund für den christlichen Glauben an den dreieinigen Gott, und der kürzeste Ausdruck für die Trinität ist die KreuMoltmann, Der gekreuzigte Gott, 353ff.; Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz; Koslowski, Der leidende Gott, 33-66. 271 Moltmann, Gott in der Schöpfung, 99f. 270

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4. Theodizee nach Auschwitz

zestat, in welcher der Vater den Sohn sich durch den Geist opfern lässt.“272 Nimmt man die paulinische Bestätigung hinzu: „Gott war in Christus“ (2 Kor 5,19), so steht man hier (mit Luther) auf solidem biblischen Grund. Moltmann interpretiert: „In der Hingabe des Sohnes gibt auch der Vater sich hin.“273 Hier allerdings liegt das Einfallstor für sehr verschiedene Deutungen. Er selbst besteht auf einer wichtigen Differenz: Das Leiden und Sterben des Sohnes (Mk 15,34) ist ein anderes Leiden als das des Vaters am Tod des Sohnes, weshalb man den Tod Jesu nicht „patripassianisch“ als „Tod Gottes“ verstehen dürfe. Wohl aber müsse man, „um zu begreifen, was zwischen Jesus und seinem Gott und Vater am Kreuz geschehen ist, trinitarisch reden“.274 Hält man an dieser Differenz fest, dann darf man von einem leidenden Gott reden, ist aber nicht genötigt, mit Jonas von einer völligen „Machtentsagung“, einer „Ohnmacht“ Gottes (Bonhoeffer) und daraus folgend von einer Entlastung Gottes von allen Übeln der Welt zu sprechen. Hier würde der Theologie ein Resultat abgezwungen, das ihre biblischen Basistexte nicht hergeben. Wohl wird man, wie Moltmann hegelianisierend formuliert, sagen können, dass die „konkrete Geschichte Gottes [auf Golgatha] alle Tiefen und Abgründe der menschlichen Geschichte in sich“ birgt275, doch selbst wenn man – als äußerste Konsequenz – daraus folgern wollte, dass in dieser „Geschichte Gottes“ deshalb auch alle von Schuld und Tod gezeichnete menschliche Geschichte – also „wie das Kreuz Christi (so) auch Auschwitz“276 – aufgehoben und in die ZuSteffen, Das Dogma vom Kreuz, 152. Moltmann, Der gekreuzigte Gott, 230. 274 Ebd., 230. 275 Ebd., 233. 276 Ebd., 266. 272 273

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4.3 Der leidende Gott – „Stillstellung“ der Theodizee?

kunft dieser Geschichte integriert sei, kann von einer Rechtfertigung dieses Todesortes dennoch keine Rede sein. Das Problem der Theodizee: ‚Warum alles Leid in der Welt, warum das Böse, warum der Tod?’ bleibt in der Welt. (2) Die These vom leidenden Gott, den man wegen des Leidens seiner Schöpfung nicht mehr zur Rechenschaft ziehen könne, löst in der Tat keines der im Umfeld der Theodizee aufbrechenden Probleme. Vor allem ist sie in höchstem Maße missverständlich, unterstellt sie doch einen Gott, dem die Spielregeln der von ihm geschaffenen Welt und ihrer Menschen wie dem „Zauberlehrling“ über den Kopf gewachsen wären. Wenn daher das Kreuz Christi „Grund und Kritik christlicher Theologie“ (Moltmann) bleiben soll, stehen wir vor der Frage, ob wir das göttliche Leiden überhaupt richtig verstanden haben, solange wir es lediglich als Ausdruck letzter Ohnmacht interpretieren, verweigert es sich doch offenkundig der ihm zugedachten Rolle, dem „Reich der Stacheldrahtverhaue“ einen verstehbaren Sinn zu geben. Im Neuen Testament gewinnt es seine Bedeutung und sein Gewicht dagegen im Zeichen der Auferweckung Jesu als dem Akt, in welchem Gott den Gekreuzigten gegen die lebenzerstörenden Mächte der Welt ins Recht setzt. Statt sich mit den Leidensgeschichten der Welt resignierend abzufinden, ermutigt die „Verkündigung des Todes Christi“ (1Kor 11,26) daher zum Protest gegen das Leid verursachende Unrecht der Erde. Sein Leiden steht im Dienst des Lebens der Schöpfung. Es erinnert an das ihr verweigerte Recht, ist Hinweis auf das „Nichtseiende“, dem Gott ruft, „dass es sei“ (Röm 4,17). Das Neue Testament versteht den Tod Jesu zugleich als Gericht über das Unrecht der Erde und dessen selbstzerstörerische Folgen. Deshalb ist die Gemeinde, die diesen Tod bezeugt, nicht nur der Ort der Versöh-

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4. Theodizee nach Auschwitz

nung, sondern auch der Ort, an dem Unrecht und Gewalt als reale Schuld eingestanden wird. Sie lebt sozusagen in der Umgebung von Golgatha. Beides – Versöhnung und Gericht – gehört zusammen. Karl Barth hat das Leiden, von dem sie betroffen wird, daher mit einem schwer bestreitbaren Recht als den Schatten begriffen, der vom Kreuz her auf die Welt fällt: „In diesem Schatten hat Israel gelitten, in diesem Schatten leidet die Kirche. Dass sie in diesem Schatten leidet, das ist es, was die Kirche der Welt als Antwort auf die Frage nach der ‚Theodizee’, das heißt nach der Gerechtigkeit Gottes in den uns in der Welt auferlegten Leiden zu sagen hat. […] Der Schatten fiele nicht, wenn das Kreuz Christi nicht im Lichte seiner Auferstehung stünde.“277 Wenn wir den Spuren des göttlichen Leidens nachgehen, werden wir in ein anders vermessenes Gelände eingewiesen, als die zeitgenössische Debatte um die Stillstellung der Theodizee und die vermeintliche Entlastung Gottes uns nahelegen will. Das geben die ungehaltenen, immer wieder zitierten, aber offenbar nie wirklich verstandenen Sätze Karl Rahners zu verstehen: „Um einmal, primitiv gesagt, aus meinem Dreck und Schlamassel und meiner Verzweiflung herauszukommen, nützt es mir doch nichts, wenn es Gott, um es einmal grob zu sagen, genau so dreckig geht.“ Es gehört, „doch zu meinem Trost, dass Gott, wenn und sofern er selber in diese Geschichte als seine eigene eingetreten ist, jedenfalls auf eine andere Weise eingestiegen ist als ich.“278

In diesem Sinne wäre mit Bernhard Waldenfels zu fragen, „ob man mit den Quellen des Leidens nicht auch die Quellen des Lebens verstopft und damit die Erfah277 278

Barth, KD II/1, 456f. Rahner, Im Gespräch, Bd. I (1964-1977), 245.

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4.3 Der leidende Gott – „Stillstellung“ der Theodizee?

rungen, die wir mit der Welt, mit anderen und mit uns selbst machen, austrocknet“.279 Gewiss, Gottes Eintritt in die Welt endet mit dem Tod Jesu, und dieser Tod, so berichten die Evangelien übereinstimmend, war ein radikal profaner, kein heroischer Tod. Er war aber – auch das entnehmen wir den Berichten – nicht einfach das unfreiwillige, passiv erlittene Ende eines Gescheiterten. Im Kreuz kommen vielmehr Jesu Handeln und seine Verkündigung ans Ziel. Das macht sein Leiden, wie erwähnt, als messianisches Leiden, als Leiden im Dienst der noch ausstehenden, letzten Zeit kenntlich. Es hat seinen theologischen Ort an der Schnittstelle, an welcher der hoffnungslose, „nichtige“ Kreislauf des irdischen Geschehens von der Vision einer neuen, bislang unbekannten Freiheit durchbrochen wird. Es markiert den „Zusammenprall der Heillosigkeit dieser Welt und ihrer Menschen mit dem Heil Gottes“.280 Paulus hat diese ungewöhnliche Sicht im Römerbrief entfaltet: „Das ängstliche Seufzen der Kreatur wartet auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit der Söhne Gottes. Denn der Nichtigkeit wurde das Geschaffene unterworfen, nicht freiwillig, sondern um des willen [des Menschen], der es ihr unterwarf – auf die Hoffnung hin, dass auch das Geschaffene selbst befreit werden wird von der Knechtschaft des Verderbens zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.“ (Röm 8,19-21)

Auch wenn das Leiden in sich selbst keine eigene theologische Qualität hat (und deshalb weder glorifiziert noch nachgeahmt sein will), ist es der Beweis dafür, dass in der Welt etwas zum Zug kommen, wirklich werden will, das an seiner Entfaltung bisher noch gehindert wird. Es beweist ihre Abständigkeit von dem, was sie sein könnte und unter der Gewalt des „Nichtigen“ doch 279 280

Waldenfels, Das überbewältigte Leiden, 129. Balz, Heilsvertrauen und Welterfahrung, 102.

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4. Theodizee nach Auschwitz

nicht sein kann. Schon in der Tatsache des Leidens meldet sich der Protest der Welt gegen ihre Zwangslage. Die Schöpfung erkennt ihren irdischen Status quo sozusagen nicht an. Luther hat das Gewicht seiner Auslegung von Röm 8,19f. ganz auf diesen Punkt konzentriert: „Paulus redet von der Kreatur, wie wenn sie’s fühlt und lebendig ist und Leid darum trägt, dass sie gezwungen wird, solange den Gottlosen zu dienen, indem man sie missbraucht […], wo sie doch dazu geschaffen ist, dass durch sie und in ihr Gott verherrlicht werde. Auf dieses Ziel also wartet sie naturgemäß.“281

Hier also darf, was Rahner einschärfen will, ein Unterschied nicht übersehen werden. Zu einer uns bedrängenden Frage wird das Leiden, weil wir uns darin mit dem Bösen und dem Übel konfrontiert sehen. Es ist ein Leiden, das uns kläglich verstummen lässt; es kennt keine Hoheit. Es ist nichts Großes, nichts Erhabenes, sondern in seiner Wurzel eher ein Rückzug auf die letzte Bastion des eigenen Ich, bestenfalls ein Manifest der Solidarität mit anderen. Und doch fragt sich, ob dabei in der gegenwärtigen Diskussion nicht ein entscheidender Zug übersehen wird: Hat das Leiden, wo immer es sich meldet, in seiner ganzen Unansehnlichkeit nicht auch eine unersetzliche Signalfunktion? Kann es – das wäre sein theologischer Aspekt – nicht zum Hinweis werden auf eine „Lücke“ im Dasein, die wir nicht eigenmächtig schließen können? Zu einer die Bibel bewegenden Frage wird das Leiden, weil es den Schrei nach Erlösung laut werden lässt. Es konfrontiert die bestehende Welt mit dem, was noch aussteht, ist geradezu die Erfahrungsgrundlage der Hoffnung, die sich in der Bitte ausspricht: „Erlöse uns von dem Bösen!“ Es ist ein neuer Zeithorizont, der 281

Luther, Römerbrief-Vorlesung 1515/16, WA 56, 371f.

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4.3 Der leidende Gott – „Stillstellung“ der Theodizee?

Horizont der Hoffnung, der sich dem Leidenden auftut. Deshalb wird die Welt in ihrer theologischen Bestimmung als Schöpfung nicht erst dort erkannt, wo sie mit den „Gottessöhnen“ jubelt und mit den „Morgensternen“ frohlockt (Hiob 38,7), sondern gerade auch dort, wo sie sich als leidensfähig erweist und sich ihr Leiden eingesteht. Denn auch wir leiden nicht nur unter den Verhältnissen, ihrem unerträglichen Druck, der uns zu zerbrechen droht; wir leiden ebenso an den Verhältnissen, daran, dass hier eine Wahrheit unterdrückt wird, auf die wir als Geschöpfe gar nicht verzichten können. Solches Leiden empfängt seine Sprache und seinen Sinn aus dem Vorgriff auf eine Welt, die – theologisch geredet  – das Werk Gottes ist und nicht das Produkt von Menschen. Ihr gilt der Schrei nach Erlösung. So enthüllt auch der „unendliche Schmerz“, den Hegel als Signatur der Neuzeit herausgestellt hat, nicht nur die Unwahrheit eines zerstörerischen Prinzips, sondern – ursprünglicher noch – das, was durch Zerstörung bedroht wird: die klaren Verhältnisse des Lebens, die unter der offensiven Macht des Todes zu zerbrechen beginnen, die Menschlichkeit, die sich unter dem Druck zivilisatorischer Normen in Barbarei verwandelt, und nicht zuletzt die theologische Sprachfähigkeit der Welt, die unter dem Zugriff des homo faber verstummt. So gesehen hat das Leiden einen durchaus kritischen Sinn, eine unersetzliche hermeneutische Funktion, die die analytische Kraft der empirisch geschulten Vernunft übersteigt. Hier stehen wir an dem theologisch entscheidenden Punkt. Leiden schärft den kritischen Blick auf die Wirklichkeit, lehrt zwischen echt und unecht unserer gestaltenden Eingriffe zu unterscheiden. Es drängt über den Status quo hinaus. Denn unter den Bedingungen dieser Erde kann die ausstehende Wahrheit der Welt nur „durch Leiden und Kreuz“ (Luther) dargestellt werden. Man

219

4. Theodizee nach Auschwitz

sagt darum zu wenig, wenn man die Bedeutung des Todes Jesu allein in der Solidarität Gottes mit den Benachteiligten und Unterdrückten sehen wollte. Sein Leiden geht über das Leiden an den Folgen der beschädigten Welt weit hinaus. Es entzündet sich an der Vision einer Welt, in der die „ Sanftmütigen […] das Land besitzen“, in der „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit“ gestillt werden sollen (Mt 5,5f.). Für die Zukunft einer versöhnten Welt und ihre „von vorn“ uns erreichenden Möglichkeiten ist Christus gestorben. Sein Leiden hat mit Weltentsagung nichts zu tun. In ihm wird vielmehr in höchster Aktivität etwas übernommen und ans Licht gebracht: eine Verantwortung für die Welt, die vom Denken in den uns bekannten Spielarten der Rationalität gar nicht mehr wahrgenommen werden kann, geht es hier doch nicht um die Zukunft einer planbaren, machbaren Gestalt der Welt, sondern um die Zukunft dessen, was sich unter dem Realitätsdruck der Gesellschaft, die wir kennen, heute noch in Krankheit, Not und Leiden flüchten muss. Solange das Leiden nur in seinem negativen Aspekt als Ohnmacht begriffen wird, bleibt es theologisch stumm. Es löst, wie ich sagte, keines der mit der „Theodizee“ uns aufgegebenen Probleme. Doch könnte es, wenn man es in seiner aufdeckenden aktiven Kraft wahrzunehmen vermag, nicht ein verborgener Schlüssel sein, der – im Sinne der von Metz gemeinten „gefährlichen Erinnerung“ – die verschlossene Tür zu einer tragfähigen Antwort wenigstens einen Spalt breit öffnet?

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5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung

5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung Keine Parallele im Umkreis der altorientalischen Religionsgeschichte hat das Urteil der Bibel, das die von Gott geschaffene Welt als eine gute, ja „sehr gute“ Schöpfung rühmt (Gen 1,31). Es gibt zu verstehen, dass ihrer Erschaffung keinerlei Tragik anhaftet. Die Kreatur tritt von ihrem ersten Anfang an  – und darum mit jedem ihrer sich fortsetzenden Neuanfänge – als eine bejahte, von Gott anerkannte Schöpfung ins Dasein. Das schließt die philosophisch auch möglichen Deutungen der Welt als Verhängnis (Buddhidmus) oder als Abfall vom Ursprung (Schelling) a limine aus. Vor einer allzu schnellen empirischen Vereinnahmung dieser Worte müsste jedoch schon die Beobachtung warnen, dass das „sehr gut“ mit Bedacht als Urteil Gottes formuliert ist, das auf eine künftige Geschichte zielt, die den Sinn der Schöpfung, ihre Eignung als „theatrum gloriae Dei“ (Calvin) bewahrheiten soll. Über seine (anfechtbare) Evidenz auf Seiten der Kreatur ist damit noch nichts gesagt. Wohl gibt es eine Unvollkommenheit unserer Existenz – angefangen von enttäuschten Erwartungen, unerfüllter Liebe bis hin zu Krankheit und biologischem Tod –, die das göttliche Urteil nicht in Frage zu stellen vermag. Es gibt aber auch Phänomene, die wir nur als grellen Widerspruch zur Güte dieser Schöpfung wahrnehmen können: Vulkanausbrüche, die Hunderte von Menschen das Leben kosten, Dürre und Hungersnöte, die ganze Landstriche entvölkern, ungesühnte Verbrechen und vorzeitigen Tod. Reinhold Schneider hat in den Skizzen seines Buches „Winter in Wien“ die Grausamkeit und Gnadenlosigkeit der Schöpfung an den Fundamenten ihres Bauplans nachgezeichnet. Darüber ist ihm das Bild des „väterlichen“ Schöpfers zerbrochen:

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5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung „Aber man gehe nur einmal durch das naturhistorische Museum – und Gott ist ebenso nahe wie fern. Es ist unmöglich, ihn vor dieser unübersehbaren Gestaltenvielfalt, dieser entsetzlichen Fülle der Erfindungen zu leugnen; ihn zu leugnen vor der absurden Architektur des Dinosauriers – eine Kathedrale der Sinnlosigkeit, des Lebenswillens der nicht leben kann; vor den bösen Gespenstern japanischer Krabben, eines hochbeinigen Liebespärchens aus dem Inferno […] Der schönste Vogel hascht im Flug den schönsten Schmetterling, er pflückt die Schwingen ab. […] Auch ist zur Zerstörung der Rose, wie es scheint, eigens ein goldgrün schimmernder Käfer erschaffen worden. Ich sah ihn bei der Arbeit in Muzot. Er hat, unreiner Widerspruch, keine Rose verschont. Und das Antlitz des Vaters? Das ist ganz unfassbar.“282

Man kann die Verantwortung für die vom Leid zerrissene und durchkreuzte Schöpfung nicht allein auf die sündig gewordene Menschheit abwälzen. Deshalb spreche ich von „natürlichen“, in der Konstitution der Welt begründeten Übeln. Die Last der kosmischen Leidensgeschichte lässt sich menschlicher Bosheit nun einmal nicht zuschreiben. Deshalb richten sich die Rückfragen zuletzt an Gott selbst, den man als Schöpfer nicht ernst nähme, wollte man ihn von „seiner“ Welt entlasten.

5.1 Das Problem der natürlichen Übel Seit dem verheerenden Erdbeben von Lissabon (1755) hat sich das neuzeitliche Bewusstsein von den Versuchen verabschiedet, eine rationale, die Vernunft befriedigende Lösung für das Rätsel der offenkundigen Disharmonien der Schöpfung zu suchen. Mit Kants Nachweis, dass die Vernunft außerstande ist, Gottes Weisheit gegen die Zweifel zu verteidigen, die sich aus dem Zeugnis der Welterfahrung ergeben, schien das vorerst letzte Wort zu dieser Sache gesprochen zu sein. Woran 282

Schneider, Winter in Wien, 280.

222

5.1 Das Problem der natürlichen Übel

man sich halten kann (und wohl auch muss), ist jenseits unserer Vorstellungen von der Weisheit, Güte und Gerechtigkeit Gottes zunächst die tatsächlich erfahrbare, so und nicht anders geschaffene Ordnung der Natur, für die uns die wissenschaftliche, insbesondere die ökologische Forschung die Augen geöffnet hat. Wir müssen sie (in welchem Sinn auch immer) als eine Anordnung Gottes anerkennen. Denn diese von ihm geschaffene Welt ist älter als der Mensch. Es ist das Verdienst von Albert Sahnwaldt, in einem zu wenig beachteten neueren, mit eindrucksvoller ökologischer Kenntnis und theologischer Redlichkeit geschriebenen Buch283 die Aufmerksamkeit auf diesen zumeist übersehenen elementaren Sachverhalt gerichtet zu haben: „Mir fiel auf, dass Theologen im Umgang mit der Theodizee-Frage den Blick sehr schnell auf ‚das Böse’ richten, das strukturelle Unheil in der Schöpfung, unter dem alle Geschöpfe unschuldig und schicksalhaft leiden, aber ausblenden oder regelrecht beschweigen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass das Böse stets dadurch manifest wird, dass es von Subjekten, also Menschen gedacht und getan wird. Hier handelt es sich nahezu immer um menschliche Schuld, und damit lässt Gott sich entlasten […] Hinsichtlich der Schöpfung bekommt die Theodizee-Frage eine andere Perspektive. Sie lautet nicht: Warum hat Gott dieses oder jenes Böse zugelassen? Sondern: Warum hat Gott seine Schöpfung so geordnet, dass sie bei ihren Abläufen vielfältiges Leid für seine Geschöpfe mit sich bringt?“284

Zwar muss man im theologischen Zusammenhang zwischen Natur und Schöpfung unterscheiden, aber die Natur ist das Substrat der Schöpfung, und dieses Substrat ist erheblich älter als der Mensch. Seine Strukturen legen die Bedingungen fest, unter denen auch er – alle ChanSahnwaldt, Die Schöpfung war (ist) nicht das Paradies,. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf dieses Buch. 284 Begleitbrief vom 2.2.2010 an den Verfasser. 283

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5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung

cen und Risiken inbegriffen – seinen Entwicklungsgang durch die Jahrtausende zurückgelegt hat. Deshalb lassen sich die Ordnungen der Natur, ihre Regelhaftigkeiten und „Gesetze“ so wenig wie der Rhythmus von „Saat und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,22), von ihrem theologischen Begriff als Schöpfung nicht trennen, und so auch nicht die strukturellen Übel, die damit verbunden sind, ja daraus entspringen. Das romantische Bild einer anfänglich friedvollen Schöpfung bedarf der Korrektur. So gewiss ihre Ökosysteme „weise geordnet“ sind (Ps 104,24), können wir uns doch nicht darüber hinwegsetzen, dass ihre hochdifferenzierten Ordnungen „keineswegs in jeder Hinsicht harmonisch“ sind, sondern auch „grausame und unheilvolle Aspekte einschließen“ (43)  – angefangen vom „Nahrungsvorgang“, der (nicht nur) im Tierreich das Töten von fremdem Leben voraussetzt, über Rivalitätskämpfe, Infektionen durch Krankheitserreger, denen ganze Populationen zum Opfer fallen, bis hin zu der Darwin schockierenden Tatsache der „Hekatomben von Lebewesen“, welche die Natur als Preis der Evolution verschwenderisch vergeudet. Das paulinische Wort vom „Tod als der Sünde Sold“ (Röm 6,23) „kann hier überhaupt nicht ins Spiel gebracht werden“ (127f.). Es ist das „strukturelle Risiko“ der so und nicht anders geordneten Schöpfung, das diese erschreckende Kehrseite zur Folge hat, ein Risiko, das „ganz unabhängig vom Menschen und seinem Handeln bereits vor [dessen] Erscheinen in der Natur da war“ (128). So stellt sich das Theodizeeproblem hier nicht etwa angesichts der Durchbrechung von Schöpfungsordnungen, sondern gerade mit und durch diese Ordnungen selbst. Zu diesen Ordnungen gehören, wie Sahnwaldt mit Recht geltend macht, auch bekannte „strukturellen Polaritäten“ wie: „Ordnung und Chaos, Geborenwerden und Sterbenmüssen, Lebenwollen und Tötenmüssen“ (21). Was Goethe der Natur in poetischer

224

5.2 Kann es eine bessere Welt geben?

Sentenz zuschreibt: „Der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu schaffen“, ist hier in nüchterner biologischer Prosa zum Ausdruck gebracht. „Töten und Zerstören von Gestaltordnungen (Chaos) sind eine Funktion der Ordnung des Lebens selbst“ (39). Mit moralischen Kategorien  – gut und böse  – sind diese Vorgänge überhaupt „nicht zu fassen“ (41). Nicht anders wird man auch von der unbelebten geologischen Seite der Schöpfung reden müssen, in die uns die Wissenschaft des letzten Jahrhunderts ungewohnt neue Einblicke verschafft hat: Bereits vor dem Auftreten des Menschen hat die Erde Katastrophen erlebt und überstanden, die durchaus apokalyptische Ausmaße hatten. Abgesehen von dem erst in unserer Ära nachgewiesenen Treibhauseffekt sind Dürreperioden und Überschwemmungen, auch Erdbeben und Vulkanausbrüche eine geophysikalische Erbschaft, die unserer Erde von Anfang an als zerstörerisches Potential mitgegeben ist. Hier stoßen wir auf eine „Antinomie in der Schöpfung“ (171f.), die noch kein theologisches Denken aufgelöst hat: Aus ein und derselben Hand, der Hand des Schöpfers, kommt die lebenstiftende Ordnung der Erde, aus ihr kommt auch ihr lebenzerstörendes Unheil. Auf die Frage nach dem Sinn dieser Antinomie gibt uns die Bibel keine Antwort.

5.2 Kann es eine bessere Welt geben? Diese Bestandsaufnahme nötigt uns, noch einmal die klassische, von Leibniz philosophisch entwickelte Antwort zu diskutieren, die, ohne Gottes Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen, mit unvermeidlichen Übeln in der von Gott geschaffenen Welt rechnet. Zwar hat Leibniz die Frage, weshalb die Existenzbedingungen unserer Welt auf die Lebensbedürfnisse ihrer Geschöpfe keineswegs optimal abgestimmt sind, nicht in dieser Schärfe 225

5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung

gestellt, er würde sie aber mit dem Theorem der „bestmöglichen aller Welten“ beantwortet haben. Damit ist zunächst gemeint: Gott hat sich in Freiheit dazu entschlossen, eine von ihm unterschiedene Welt ins Dasein zu rufen, und hat sich damit für etwas Gutes, nicht für etwas Übles entschieden. Weil es aber dieses Gute nicht ohne Einbuße einer letzten (nur ihm eigenen) Vollkommenheit geben kann, sind die Übel der Welt der Preis, der für das Dasein der Schöpfung zu entrichten ist. Auch Gott ist nur zum Bestmöglichen, d.h. zur Erschaffung einer Welt mit übel- und leiderzeugenden Randbedingungen und Ordnungen, nicht aber zum übelfrei Guten fähig. Immerhin schließt diese Einsicht eine wichtige Konsequenz ein, die uns zudem durch den Umbruch im neuzeitlichen Weltverständnis nahegelegt wird: Wohl können wir Gott für den naturgesetzlich geregelten Ereignisverlauf als solchen verantwortlich machen, nicht aber jedes einzelne Ereignis, das durch dessen Kausalität bewirkt wird, unmittelbar auf eine göttliche Verursachung zurückführen. So besteht kein Anlass, „beispielsweise eine Flutkatastrophe als intentionales Handeln Gottes zu erklären, z.B. als Bestrafung der Opfer“, oder etwa die „Flugbahn einer Gewehrkugel, die einen Unschuldigen trifft, […] ein[em] direkten planmäßigen Eingreifen Gottes“ zuzuschreiben.285 Was also kann mit der bestmöglichen Welt gemeint sein? Hier lautet ein zentraler Einwand: Wohl könne man nach einer besseren Welt, nicht aber nach der bestmöglichen fragen, weil dieser Begriff wie der einer größten Zahl in sich widerspruchsvoll, also, angewandt auf unsere „wirkliche“ Welt, sinnlos sei. Denn der Abstand zwischen unserer „unausweichlich endlichen Welt“ und dem „unendlich vollkommenen Gott“ lasse sich „von keiner, wie auch immer beschaffenen endli285

Kreiner, Gott im Leid, 1997, 332f.

226

5.2 Kann es eine bessere Welt geben?

chen Welt überbrücken“.286 Umso mehr müsse man dann aber auch nach einer besseren als der von Gott ins Leben gerufenen Welt suchen, einer Welt etwa ohne HIV-Viren oder bösartige Tumoren. Was ist dazu zu sagen? Mögliche Welten, unter denen Gott nach Leibniz eine ausgewählt hat, unterliegen der Bedingung der Kompossibilität, sie müssen nicht nur logisch widerspruchsfrei denkbar, d.h. mathematisch beschreibbar sein, sie müssen auch physikalischen Sachverhalten Rechnung tragen, d.h. mit kontingenten Aussagen kompatibel sein, die nicht durchweg miteinander vereinbar sind. Eine mögliche Welt ist somit „die Menge aller [in ihr] notwendigen Aussagen plus einer Menge jener kontingenten Aussagen, die zugleich wahr sein können“.287 Widerspruchsfrei denken kann man sich ein Universum, in dem die Lichtgeschwindigkeit nach oben oder unten von dem uns bekanten Wert abweicht; ob es aber angesichts der weitreichenden Veränderungen, die eine solche Abweichung nach sich ziehen müsste, auch existieren kann, ist eine andere Frage, und fraglich ist erst recht, ob eine derart denkbare „Optimierung“ der Naturgesetze zu einer Verminderung des kreatürlichen Leidens führen könnte. Nimmt man hinzu, dass die Existenz menschlichen Lebens von der in unserem Universum realisierten Feinabstimmung der Naturkonstanten abhängt (sog. Anthropisches Prinzip), dann reduziert sich die Auswahl der möglichen Welten nahezu auf eine einzige, jene, die Leibniz in der Darstellung seiner Theorie an die Spitze einer Pyramide gesetzt hat.288 Man wird die Versuche, eine „bessere“ Welt zu entwerfen, daher getrost ins Reich der Spekulation verweisen können. Ebd., 326. Hermanni, Das Böse und die Theodizee, 170. 288 Leibniz, Théodicée III, 416, Gerhardt 6, 364. 286 287

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5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung

Dennoch gibt es in der Nachfolge von Leibniz einen zweiten, in den letzten Jahrzehnten ausführlich diskutierten Argumentationsstrang, der davon ausgeht, dass Gott aufgrund seiner Allmacht eine „bessere“ Welt hätte erschaffen können. Er hätte es sogar tun müssen, wenn er nur auf diese Weise ein Gut schaffen könnte, das sich anders nicht realisieren lässt. Dieses Gut – so die These – sei die Freiheit zu eigenverantwortlichen Entscheidungen, die allerdings die Möglichkeit, Böses zu tun, impliziert, denn es könne kein (in Leibniz’ Sinne) „genuines“ Übel geben, ohne dessen Existenz die Welt alles in allem nicht besser wäre. Umgekehrt, argumentiert Swinburne (davon war die Rede), könne es ohne derlei Übel eben auch keine solche Freiheit geben.289 Warum? Weil die Entscheidung, Gutes oder Böses zu tun, voraussetzt, dass wir die Folgen unseres Handelns einschätzen können, und das könne nur aufgrund von Erfahrungen gelingen, die wir mit natürlichen Übeln machen. Schließlich sei auch menschliche Freiheit das Ergebnis einer langen Evolutionsgeschichte, die voll ist von Schmerz, Leid und Tod und uns gerade auf diesem Weg das hohe Gut von Geduld, Mitgefühl und Ermutigung hätte erreichen lassen. Die natürlichen Übel werden hier also erklärt (und zugleich gerechtfertigt) durch ihre teleologische Zuordnung zu diesen Gütern bzw. „personalen Werten“, die uns erst jenen Freiheitsspielraum haben eröffnen können. Offen bleibt freilich in diesen „anthro­ pozentrischen“ Überlegungen, was dies alles etwa am Leid der Tiere ändern würde, inwiefern also auf den hier skizzierten Linien eine Verminderung des Leidens der Schöpfung zu erwarten sei. Die Entscheidung, die diesem Argumentationsgang zugrunde liegt, steht in einer offenkundigen Spannung zu der Basisannahme des Leibnizschen Entwurfs. Hieß 289

Swinburne, The Free Will Defense, 588.

228

5.2 Kann es eine bessere Welt geben?

es dort: Das Übel ist der Preis für das Dasein der Schöpfung, so hier in einer, wie gezeigt, unverkennbaren Engführung: Das Übel (Leiden) sei der Preis der Freiheit. In dieser Zuspitzung (die man sogar widerspruchsfrei vertreten kann) geht jedoch die Tragweite und nicht zuletzt auch die theologische Pointe verloren, die Leibniz’ Argument der prinzipiellen geschöpflichen Unvollkommenheit offen hält. Mit Dalferth gesprochen: Wenn Gott als Schöpfer „eine von ihm verschiedene Welt (will), dann will er sie, weil es gut ist, dass es nicht nur Vollkommenes, sondern auch Unvollkommenes gibt. Das ist die schöpfungstheologische Grundprämisse [seiner] ganzen Argumentation.“290 Hier ist von einer „ursprünglichen“, also wesensmäßigen „Unvollkommenheit“ der Kreatur die Rede, die Leibniz noch vor jeder aktuell sich ereignenden Sünde im göttlichen Verstand, der „Region der ewigen Wahrheiten“ angesiedelt hat291 – mit der bemerkenswerten Konsequenz, dass das metaphysische und das ihm korrespondierende natürliche Übel (anders als das moralische) weder dem Schöpfer noch dem Geschöpf als Schuld zugerechnet werden kann. Denn nicht im göttlichen Willen haben die natürlichen Übel ihren Ursprung, sondern in der Beschränktheit (limitation) der Kreaturen, die, wie gezeigt, die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass eine von Gott unterschiedene Schöpfung überhaupt ins Dasein treten kann. Man kann diese Prämisse nicht in Frage stellen, wenn man über die Verfassung der Welt realistische theologische Aussagen machen will, wie immer man über die metaphysischen Zusatzannahmen dieses Entwurfs urteilen mag. Vor allem kann erst dann auch die von Leibniz so betonte Güte der Schöpfung in ihrem ganzen Umfang 290 291

Dalferth, Malum, 203. Leibniz, Théodicée I, 20, Gerhardt 6, 115.

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5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung

ans Licht treten. Sie schließt die Klage über die Endlichkeit der Welt, den Ausblick auf ihre Grenzen, auf ihre Hinfälligkeit und auf das Ende aller Dinge, sie schließt auch den Tod nicht aus, sondern nimmt ihn in sich auf. Sie manifestiert sich darin, dass Gott überhaupt eine Welt neben sich haben will, dass er sie in den Schranken ihrer Endlichkeit mit einem Maximum an Vollkommenheit und einem Minimum an abträglichen Übeln ausgestattet hat, und schließlich darin, dass er seinen Geschöpfen angesichts ihrer Unvollkommenheit zu Hilfe kommt, wann immer sie in den Sog der Sünde zu geraten drohen.292 Dass sich gleichwohl eine bessere Welt als unsere von Krisen, Katastrophen und nicht endender Gewalt heimgesuchte Erde denken lässt, steht außer Frage. Dass sie jedoch auf den hier angedeuteten spekulativen Wegen vorstellbar, geschweige denn realisierbar sei, lässt sich mit Gründen bezweifeln.

5.3 Falsche Weichenstellungen Man muss allerdings hinzufügen, dass die These der „besten aller möglichen Welten“ und ihre Identifizierung mit unserer faktischen Welt auch nur unter den von Leibniz gesetzten Prämissen haltbar ist, vorab unter der Leitfrage nach dem „Ursprung des Übels im Blick auf Gott“ (par rapport à luy).293 Dalferth weist mit Recht darauf hin, dass die Bestimmung des malum metaphysicum und die weitreichenden daraus abgeleiteten Schlüsse das eigentliche Problem dieses Entwurfes darstellen. Unter der Disjunktion von Vollkommenheit bzw. Unendlichkeit (Gott) und Unvollkommenheit bzw. Endlichkeit (Mensch) wird das Geschöpf in seiner Qualität nur noch 292 293

Leibniz, Discours de Métaphysique, n. 30. Théodicée, Préface, Gerh. 6, 29f.

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5.3 Falsche Weichenstellungen

negativ als ‚Mängelwesen’ wahrgenommen, „während es doch [theologisch begriffen] als Positives und als Gewinn verstanden werden müsse“.294 Denn die Endlichkeit ist die Auszeichnung des Menschen, kein zu behebender Mangel, und wenn ihm das moralische und physische Übel mit Recht zugeschrieben wird, so hat das seinen Grund nicht in seiner Geschöpflichkeit, sondern in deren „Verdunkelung und Verkehrung“: „Nicht die Endlichkeit ist ein malum, sondern die pervertierte Endlichkeit.“295 Wenn also von gut und böse geredet werden soll, so sind das keine abstrakten, aus der Vogelperspektive dekretierbaren Urteile. Sie bedürfen der Näherbestimmung, für wen oder was sie jeweils gelten sollen. So auch die Prädizierung der faktischen als der bestmöglichen Welt. Sie ist aus der Beurteilungsperspektive Gottes abgeleitet, indem sie das jeweils Vorhandene „unter dem Gesichtspunkt seiner Vervollkommnungsfähigkeit im Gesamt der Schöpfung Gottes“ betrachtet, d.h. im Blick auf die ihr providentiell zugesagte „Voll­kommenheit“.296 Deshalb ist sie nur für den einsichtig, der diese Perspektive teilt – was das Befremden schon der Zeitgenossen ihr gegenüber, erst recht aber der Agnostiker unter Leibniz’ Erben hinreichend beweist. Dies vor Augen wird man angesichts der heutigen philosophischen Bemühungen im Umfeld der Theodizeefrage – nicht zuletzt auch im Blick auf das Problem der natürlichen Übel  – zweierlei kritisch geltend machen müssen. (1) Theologisch ist schwer zu begreifen, dass selbst ihre avanciertesten Theorien wie selbstverständlich das theistische Weltbild des 18. Jahrhunderts voraussetzen, das heißt ihren Überlegungen das Bild eines allmächtigen, allwissenden, allgütigen, also eines als solDalferth, Malum, 209. Ebd., 210. 296 Ebd., 21. 294 295

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5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung

chen über- und außerweltlichen Gottes zugrunde legen  – und das in der Hoffnung, auf dieser Basis den Entwurf eines logisch konsistenten „besseren“ Universums wenigstens gedanklich konstruieren zu können. Die Theologie hat sich (in ihrem Hauptstrom) längst von diesem Gottesbild getrennt. Erst wenn man den Schritt wagt, auch im Gottesverständnis neue Wege zu beschreiten, lassen sich die heutigen Aporien  – vielleicht – überwinden. (2) Mit ihrem Gottesbild übernehmen diese Versuche unkritisch auch die alte Vorstellung der Schöpfung als fabricatio mundi, als wäre die Welt, so wie wir sie kennen, unmittelbar aus Gottes Hand hervorgegangen. Es wird nicht danach gefragt, wie sich der Weltprozess nach gegenwärtigem Wissen (in Physik und Biologie) vollzogen hat. So gewinnt man den Eindruck, als könnte Gott kraft seiner immer wieder beschworenen Allmacht diesen Prozess aufgrund rein logischer Erwägungen über das, was möglich (zulässig) ist und was nicht, regulieren wie der Regisseur das Drehbuch seines Films. Heute können wir wissen, dass die Evolution nicht einem von Anfang an festliegenden Plan folgt. Das Universum ist „nicht Gottes Puppentheater, in dem alles nach seinem Skript abläuft, sondern eine Arena von Improvisationen, in der es der Schöpfung erlaubt ist, ‚es selbst zu machen’, [d.h.] ihre Potentiale durch das […] Ausprobieren von Möglichkeiten zu realisieren“.297 Hier ist mehr Eigendynamik und „autopoietische“ Selbstbestimmung und dementsprechend mehr Risiko des Scheiterns im Spiel, als jene Entwürfe ahnen lassen. Ihre unaufhebbare Instabilität ist das hervorstechendste Merkmal der Natur. „Das Leben wird über ‚Abgründe des Todes’ weitergereicht

297

Polkinghorne, Theologie und Naturwissenschaft, 108.

232

5.3 Falsche Weichenstellungen

und variiert.“298 Entsprechend schwierig ist die Rolle Gottes in diesem Werdeprozess zu bestimmen. Nur soviel ist sicher, dass sie nicht von außen – weder als Intervention noch als Determination aufgrund eines irgendwie gearteten logischen Kalküls  – beschrieben werden kann. Auch wenn man dieser modernen Interpretation des Werdeprozesses unserer Welt Rechung trägt, bleibt es bei der eingangs beschriebenen Antinomie. Die Schöpfung war nie ein Paradies (Sahnwaldt). Man kann auf die staunenswerten Seiten ihrer Strukturen und ihrer Organisation hinweisen – das Wunder der DNS als einem Grund-Code alles Lebens, die Vielfalt ihrer Baupläne, die Schönheit ihrer Formen und Farben, die bewundernswerte Fähigkeit der Anpassung an die unterschiedlichsten, ja extremsten Umweltbedingungen oder die hochdifferenzierten Wechselwirkungssysteme z.B. der Nahrungsketten  – das alles ändert nichts an der grausamen Kehrseite ihrer Leiden, die mitsamt der nicht weniger katastrophischen kosmischen Evolution das Auftreten menschlichen Lebens überhaupt erst ermöglicht haben. An Versuchen, einen theologischen Schlüssel für diese Disharmonien zu finden, fehlt es nicht. Jürgen Moltmann hat eine folgenreiche Korrektur der klassischen Schöpfungstheologie vorgeschlagen: die Abkehr von der einseitigen Betonung der Welt-Transzendenz Gottes. Kann man schon Gottes innergeschichtliches Handeln, seine Verwicklung in die Kämpfe und Krisen Israels, so erst recht das kosmische Wirken seines „lebendig machenden Geistes“ nicht verstehen, ohne auch von einer Welt-Immanenz dieses Gottes zu reden. Sie wird zum Schlüssel der Interpretation des göttlichen Wirkens in und an der Natur in Anspruch genommen: Wie das 298

Altner, Charles Darwin, 43.

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5. Theodizee angesichts der „natürlichen“ Übel der Schöpfung

geschichtliche Schaffen von Freiheit, Gerechtigkeit und Heil in der prophetischen Tradition als „Mühe und Arbeit Gottes“ (Jes 43,24) beschrieben wird – Gott erleidet den Widerspruch seiner Geschöpfe, und aus dem Erleiden des Unrechts geht das Aufblühen der Gerechtigkeit hervor –, so lasse sich per analogiam auch sein schöpferisches Handeln in der Natur als eine Öffnung der an ihrer Selbstverschlossenheit leidenden Lebenssysteme für neue Möglichkeiten verständlich machen. Die Abkapselung dieser Systeme gegenüber dem „überredenden“ Einfluss des göttlichen Geistes (wie es in der Prozesstheologie heißt) wäre demnach die Ursache ihrer Krisen und ihres Leidens, woraus dann folgt: „Nicht durch übernatürliche Eingriffe, sondern durch seine Passion und die Öffnung von Möglichkeiten aus seinem Leiden führt Gott seine Schöpfung zum Ziel und treibt er auch die Evolution voran.“ 299 Die Tragfähigkeit dieses „Modells“, einer Analogie aus theologisch gedeuteter Erfahrung, ist schwer zu beurteilen, zumal ein Ziel der Schöpfung in der Natur nicht zu erkennen ist. Zu fragen wäre mit Günter Altner, „ob der Geschehenszusammenhang, wie er auf Seiten der Evolutionsbiologie als autopoietischer Prozess beschrieben wird, transparent sein kann für das, was die moderne Theologie unter [Gottes] schöpferischer Dynamik versteht“.300 Nur dann könnte der atemberaubende Prozess der Selbstorganisation „über Abgründe des Todes hinweg“ gleichnishaft verdeutlichen, dass Gott in seiner „Passion“ der Schöpfung entgegenkommt. Zu größter Zurückhaltung mahnt jedoch das Beispiel Hiobs, der „Modellfall des unschuldig Leidenden“, in dem die Bibel „ein Gegenbild zu dieser [auf Erklärung bedachten] Theologie“ entwirft.301 Hiob beMoltmann, Gott in der Schöpfung, 218. Altner, Charles Darwin, 97. 301 Sahnwaldt, Die Schöpfung, 172. 299 300

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5.3 Falsche Weichenstellungen

kommt keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seiner Leiden, und doch wird er angesichts der Konfrontation mit dem redenden Gott befähigt, die unbeantwortete Frage, die sich ihm beim Hinsehen auf die Schöpfung stellt, auszuhalten und mit ihr zu leben. Auf dieser Linie weiterdenkend hat neuerdings Hans-Dieter Mutschler, ohne sich auf ein Handgemenge mit der Naturwissenschaft einzulassen, zwischen zwei „Großerzählungen“ unterschieden, der „materialistischen“ Erzählung der Physiker (W. Quine, St. Weinberg) und Biologen (J. Monod) und einer „riskanten“ Erzählung, die als christliche Narration „sowohl die physikalische als auch die biologische Evolution“ beschreibt, und zwar „ohne dass wir im geringsten mit den Fakten kollidieren“, die nun einmal vielfach interpretierbar sind.302 Erscheint das Universum dort nach einem viel zitierten Diktum Steven Weinbergs „um so sinnloser, je begreifbarer es wird“, so hört hier zwar alles erklärende Begründen auf. Das Theodizeeproblem bleibt ein „Fels des Atheismus“ (Georg Büchner). Dafür aber wird mit der Existenz eines göttlichen Schöpfers gerechnet, so dass der Gegensatz zwischen dessen Güte und dem Bösen in der Welt einen benennbaren Haftpunkt bekommt. Und wichtiger noch: Nur dann gibt es Hoffnung auf eine Gerechtigkeit „für die Opfer [der Natur und] der Geschichte“.303

302 303

Mutschler, Halbierte Wirklichkeit, 325. Ebd., 328.

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage Das in den biblischen Traditionen aufbrechende Theodizeeproblem mündet zuletzt ein in die Frage: Wie schafft Gott den Leidenden Gerechtigkeit, den Opfern der Geschichte Recht? Hier erreicht es seine äußerste theologische Zuspitzung. Kann das Böse in einer Welt Bestand haben, von der der Glaube bekennt, dass Gott sie zu ihrer Vollendung führen wird? Die Bibel kennt dieses quälende Rätsel, macht jedoch nicht den geringsten Versuch, es denkerisch aufzulösen. Sie tritt ihm mit der Gewissheit entgegen, dass Gott, der die Welt als sein „Eigentum“ beansprucht (Joh 1,11), nicht für immer am Widerspruch des Bösen scheitert, sondern tatsächlich zu seinem Ziel kommt: „Er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein“ (Offb 21,4). Doch mit welchem Recht, so möchte man fragen, kann im Ton solcher Gewissheit geredet werden, und mit welcher Verbindlichkeit wird uns diese Verheißung zu glauben zugemutet? Hier jedenfalls geht es nicht um ein Postulat, sondern um die äußerste Konsequenz, die das theologische Denken aus der widerständigen Hoffnung der jüdischen Märtyrer (Jes 26,19; 2 Makk 7,29) und zuletzt aus der Gewissheit der Auferstehung Christi gezogen hat: „Das Leben ist erschienen, und wir haben es gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben.“ (1.Joh 1,2) Wer so reden kann, rechnet mit einer an die Person und den Weg Jesu untrennbar verbundenen Erfahrung, die offenbar derart zwingend ist, dass sie die Grenzen ihres historischen Ortes übersteigt und die Erwartung ihrer universalen Bestätigung – sei es in noch so ferner Zukunft  – unausweichlich macht. Deshalb steht die Frage der Theodizee – das unterscheidet ihre biblische Gestalt von ihrer zeitlos-philosophischen

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6.1 „Wie lange noch?“

Form – in einem eschatologischen Horizont. Das paulinische Wort: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen“ (Röm 13,12) wird zur Situationsbestimmung der Gemeinde. Statt der Versuchung zu erliegen, diesen Tag vorwegzunehmen, als wäre er schon angebrochen, müssen wir uns eingestehen, dass unsere Lage eher mit jener zu vergleichen ist, die mit dem schönen, unter die Jesaja-Orakel aufgenommenen edomtischen Wächterlied aus der Exilszeit angesprochen wird: „Es kommt ein Ruf aus Seir in Edom: ‚Wächter, wie lang noch ist die Nacht?’ Der Wächter spricht: Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt [ein anderes Mal] wieder!“ (Jes 21,11) Das noch ausstehende, noch nicht „herausgebrachte“ Geheimnis der Zeit ist in dieser apokalyptischen Sprache die Erscheinung Gottes als Gott. Noch aber leben auch wir im Exil, wie Calvin mit der ihm eigenen Nüchternheit zu verstehen gibt: „Uns wird das ewige Leben verheißen – aber uns, den Toten […]. Wir hören von unaussprechlicher Seligkeit – aber wir werden von unendlichem Elend erdrückt“ (zu Hebr. 11,1).

6.1 „Wie lange noch?“ Wie lange noch? – das ist von alters her die Frage der von menschlicher Gewalt Erdrückten: „Wie lange noch sollen Gewalttägige triumphieren?“ (Ps 94,3) „Wie lange noch, heiliger und wahrhaftiger Herrscher, richtest du nicht und vergiltst unser Blut nicht an denen, die auf Erden wohnen“? (Offb 6,10) Es ist der Schrei nach Wiederherstellung des Rechts. Es ist die Frage der Getöteten und mundtot Gemachten, denen der Seher der Apokalypse eine Stimme gibt; und zugleich die kürzeste und in dieser Kürze eindringlichste Form der Theodizeefrage. Aufmerken lässt zudem, dass Gott hier (das einzige 237

6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

Mal in der Bibel!) als „Despot“ angerufen wird, d.h. mit dem bis heute gebräuchlichen Titel „gewaltsamer Unterdrücker“  – mit dem entscheidenden Unterschied freilich, dass die Prädikate „heilig und gerecht“ ihn gegenüber allen vermeintlichen als den allein „wirklichen“ Herrscher“ auszeichnen. Als solchem wird ihm hier (und nur hier in der Apokalypse!) unumschränkte Macht, im Wortsinne „Allmacht“, zugeschrieben. Während das Allmachtsprädikat seit der Fehlübersetzung des hebräischen El shaddaj in der Septuaginta (pantokrator) sich als Fremdkörper in der Auslegung des Alten Testaments (und im klassischen Theodizee-Diskurs) festgesetzt hat, ist es allein im Buch der „Offenbarung“ tatsächlich in seiner authentischen griechischen Bedeutung rezipiert worden. Denn wem zugetraut wird, am Ende aller Zeit auch der katastrophalen Gewaltgeschichte der Erde ein Ende zu setzen, der muss in der Tat, was von keinem Menschen zu sagen ist, „allmächtig“ sein. Angesichts der himmelschreienden Zustände seiner Schöpfung darf, ja muss man es wagen, von Gottes Allmacht zu sprechen. Wer sonst könnte den Opfern der Geschichte Recht verschaffen? Nur wie stellt man diese Frage „richtig“? Johann Baptist Metz beklagt zu Recht, „dass man unserer Theologie – gerade nach Auschwitz – die Leidensgeschichte der Menschheit so wenig anhört und ansieht“.304 Denn hier geht es um die Frage von Menschen, die glauben wollen und Leid erfahren. Sie braucht nicht erst von Theologen und Philosophen erfunden zu werden. Dort wird sie oft genug auf Distanz gehalten und wird zu einer „Frage ohne Risiko“ (E. Jüngel), was sie in ihrer ursprünglichen, elementaren Gestalt – „Wie lange noch?“ – nie hat werden können. Hier erwächst sie aus Fragen, die uns deshalb angehen, 304

J.B. Metz in: Oelmüller, Neue Diskussionen, 152.

238

6.1 „Wie lange noch?“

weil wir ihnen ausgesetzt sind, die wir nur als durch sie selber in Frage Gestellte, sozusagen als „Text aus fremder Feder“ stellen können, dann nämlich, „wenn es ‚das Übel’ und ‚das Böse’ ist, mit dem wir auf diese Weise konfrontiert werden“  – nicht als „interesselose Zuschauer“, sondern angesichts einer Herausforderung, in der „ein leidenschaftliches, unabweisbares Interesse sich ausspricht“.305 Diese riskante Distanzlosigkeit unterscheidet die biblische Frage am offenkundigsten von vielen der gegenwärtig geführten philosophischen Diskussionen. Sie ist freilich auch in der Literatur der letzten Jahrhunderte – man denke an Dostojewski, an Camus oder an Elie Wiesel – mit einer ganz neuen Dringlichkeit aufgebrochen. Hier stehen wir selbst auf dem Spiel. Worauf richtet sich diese Frage, die Metz die eschatologische Frage schlechthin genannt hat, und worauf die in ihr unüberhörbar mitschwingende Hoffnung? Sie blickt über jedes absehbare Ende unserer Geschichte hinaus, und hier liegt auch das eigentümlich mit ihr gestellte Problem. Denn alle Eschatologie steht vor der Schwierigkeit, dass sie unser Wissen an eine Grenze führt, an der Erfahrung und Erkenntnis abbrechen. Die Apokalyptik hat sich bis an diese Grenze vorgewagt. Sie rechnet mit einem gewaltsamen Abbruch der Geschichte, einem kosmischen Weltenbrand, über dem sich die neue Welt Gottes erheben wird (Mk 13,14-27). Sie ist ein notwendiger Begleiter der messianischen Eschatologie, von der sie sich freilich nicht unerheblich unterscheidet. Denn deren Wurzeln liegen in der alttestamentlichjüdischen Hoffnung auf das Königreich Gottes, das den menschlichen Weltreichen ein Ende setzen wird (Daniel 1 und 2). Hier dagegen richtet sich die Erwartung auf ein Tausend-jähriges Friedensreich unter dem 305

Jüngel, Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes, 164.

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

kommenden Messias, das seine Vollendung in der „Wiederbringung aller Dinge“ (Apg. 3,21), d.h. in einer neuen Schöpfung findet. Steht dort das Ende der Geschichte, so hier ihr Ziel im Zentrum aller Erwartung. Auf dieses, uns noch verborgene Ziel blickt die Frage: „Wie lange noch?“ Es wird in den biblischen Texten mit den Symbolen „Gericht“ und „Reich“ erläutert, mit Vorstellungen, die „aus der politische Welt genommen“ sind306, derselben Welt wohlgemerkt, die das Elend der Gegenwart zu verantworten hat – nun aber in einer gegenläufigen kritischen Wendung: Jetzt soll es um „Offenbarung“ gehen, um Apokalypsis, das heißt um Aufdeckung, Entschlüsselung und Entlarvung von bislang Verborgenem. Dafür steht wie kein zweites Symbol der Begriff des Gerichts. Es begegnet uns als Drohung mit allen Schrecken des Tages, „an welchem Gott das Verborgene des Menschen richten wird“ (Röm 2,16) – freilich umhüllt von der Verheißung, dass er am Ende aller Tage die Not der Erde beenden und „gerade richten“ wird, was durch menschliche Gewalt und Unrecht entstellt ist. Mit ihr antwortet die Bibel auf das quälende Rätsel unserer Geschichte und zugleich auf den Widerspruch unserer Gotteserfahrungen und Gottesbilder. Der Widerspruch zwischen einer niederschmetternden Allmacht, an der Hiobs Klage und Protest wie an einer Wand abprallen, und der Erfahrung einer ebenso tiefen Ohnmacht, die Menschen in den Katastrophen unseres Jahrhunderts vergeblich nach Gott hat rufen lassen, soll nicht zu einem Gegensatz erstarren, der jedem menschlichen Vertrauen das Fundament entziehen müsste. Er wird sich in der Gewissheit lösen, dass Gott kommt, „den Erdkreis zu richten mit Gerechtigkeit“ (Ps 9,9) – wenn eben „richten“ heißt: zurechtbringen und aufrichten, heilen und Recht schaffen, wozu es in einer Welt „zer306

Moltmann, Das Kommen Gottes, 151.

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6.1 „Wie lange noch?“

stoßener Rohre“ und nur noch matt „glimmender Dochte“ (Jes 42,3) allerdings einer jeder menschlichen Gewalt überlegenen Macht bedarf. Denn was wäre das für ein Ende der Welt und ihrer Geschichte, wenn Gewalt und Unrecht der Erde unaufgedeckt im Dunkel der Vergangenheit blieben, wenn sich ihre Vollendung über das Leid und die Tränen der Schuldlosen hinweg vollziehen könnte! Denn hier gibt es nicht nur die Opfer, es gibt auch die Täter. Beiden gilt die Ankündigung dieses „Jüngsten Gerichts“, beide gehen ihm entgegen, beide werden dem seiner Verheißung treuen Gott begegnen, allerdings auf unterschiedliche Weise: Treue dem Opfer gegenüber heißt, das Unrecht beim Namen zu nennen, das ihm widerfuhr. Treue dem Täter gegenüber, heißt, auch ihn ernst zu nehmen, und das geschieht, indem seine Untaten „ins Licht vor deinem Angesicht“ (Ps 90,8) gestellt werden. Weil die Aufrichtung von Gerechtigkeit und Frieden an diese Treue gebunden bleibt, führt der Weg zur Vollendung durch das Gericht. Ohne Apokalyptik, die Enthüllung der „Tatbestände“ menschlicher Geschichte, ist die Eschatologie nicht zu haben. Deren Glanz umgibt bereits den Stuhl des Weltenrichters: „Er hat uns wissen lassen, sein herrlich Recht und sein Gericht.“307 Missverstanden freilich wäre dies alles, wollte man es als Vertröstung auf einen kommenden Äon lesen, wollte man also mit dem Hauptstrom der älteren Theologie einen kategorialen Schnitt zwischen Gottes neue Welt und die Belange und Sorgen unseres irdischen Daseins legen. Demgegenüber hat Bonhoeffer allemal das Richtige getroffen, wenn er, alttestamentlich denkend, schreibt: „Nur wenn man die Erde und das Leben so liebt, dass mit ihr alles verloren und zu Ende zu sein scheint, darf man an die Auferstehung der Toten und 307

EG 389,2.

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

eine neue Welt glauben.“308 Wer mit dieser Liebe zur Erde glaubt, weil er Gott als einen Liebhaber des Lebens kennt, wird von dem Tag des Jüngsten Gerichts nicht erwarten, dass unsere vergangene Geschichte ad acta gelegt werden könnte. Sie soll – das ist der Kern der biblischen Hoffnung – bis auf ihren Grund noch einmal vergegenwärtigt werden, zwar mit den Augen des historischen Bewusstseins, aber im Schein eines neu einbrechenden Lichtes (Ps 90,8), das auch das längst Vergangene, für abgestorben Erklärte, noch einmal zum Leben erweckt. Eine Erlösung aus der Geschichte, jenseits von ihr, kennt die Bibel nicht. Das Ende aller Dinge ist uns, vollends seit wir es technisch herbeiführen können, tatsächlich in Sichtweite gerückt. Seit wir imstande sind, die Apokalypse im atomaren Inferno selber zu inszenieren, sehen wir in den Bildern jenes endzeitlichen Schreckens (Offb16 u.ö.) den Spiegel unserer eigenen Macht. Daher rührt die Faszination, die das apokalyptische Denken heute ausübt, während umgekehrt die offene Gewaltbereitschaft, mit der wir die Zerstörung der Erde betreiben, die latente in den biblischen Visionen an den Tag bringt. Doch nicht die Kosmologie des Sehers von Patmos ist unser Problem, sondern die Theologie. Können wir uns einen Gott vorstellen, der so kompromisslos mit seiner Schöpfung ‚aufräumt’? Und selbst wenn wir es könnten: Unvollziehbar bliebe uns der Gedanke, das mögliche Ende unserer Welt könnte ein notwendiges Vorspiel für Gottes endzeitliche Herrschaft sein. Denn ohne die Erde und die Menschheit, an die er sich gebunden hat, ist auch Gott selbst undenkbar. Er hätte seine Identität als Gott verloren. Dass sie und mit ihr Gottes Wahrheit endlich an den Tag kommen und sich universal durchsetzen werde, ist jedoch der Kern aller apokalyptischen 308

Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 226.

242

6.1 „Wie lange noch?“

Hoffnung. Wer an ihr festhalten will, muss sich von den Bildern trennen, mit denen eine längst vergangene Zeit ihr Ausdruck zu geben versucht hat. Wie also lassen sich die Übel und Leiden der Welt mit Gottes Allmacht vereinen? Mit der klassischen Problemformulierung Epikurs gesprochen: Wenn wir es nicht mit einem schwachen Gott zu tun haben, der sie beseitigen will, es aber nicht kann, auch nicht mit einem missgünstigen Gott, der sie beseitigen könnte, es aber nicht will, dann stehen wir zuletzt vor der Frage: Wenn er es aber als guter Gott kann und will – warum tut er es dann nicht? Logisch ist dieser Aporie nicht beizukommen, auf einer begrifflichen Ebene lässt sie sich nicht auflösen. Es hat jedoch immer wieder Versuche gegeben, sie auf die ein oder andere Weise zu umgehen. Denn wenn Gott die Übel aus der Welt schaffen kann und will und es doch nicht tut, dann drängt sich der Schluss auf, dass es in Wahrheit gar keine Übel sind. So hat schon Leibniz argumentiert: Was uns als unbegreifliches Übel erscheint, hätte nach Gottes (uns verborgenem) Plan nur den Zweck, uns größerer Güter teilhaftig werden zu lassen, die wir ohne solche Leiden gar nicht gewinnen könnten. Da stellt sich dann der KernkraftUnfall von Fukushima als Glücksfall heraus, weil er den Weg zur längst fälligen Wende der Energiepolitik endlich frei gemacht hat. Doch wie weit darf man in dieser frommen Aufrechnung gehen, ohne zum Zyniker zu werden? Wo sollte der Segen der Toten von Auschwitz liegen? Spätestens diese Menschheitskatastrophe hat derlei Überlegungen ad absurdum geführt. Denn was erreichen sie am Ende anderes, als den Weltlauf, so wie er nun einmal ist – und angeblich sein muss –, mit Gott zu rechtfertigen, ja zuletzt mit ihm zu identifizieren? Eine andere Strategie, dieses Problem zu umgehen, hat sich bereits im Eingang des Hiobbuches (1,6) gezeigt. Die prekäre Stelle Gottes wird

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage mit dem Satan besetzt, dessen Karriere eben hier beginnt. Nun geht es nach der Logik: Je kompromissloser Gott auf der Seite des Guten stehen soll, desto mächtiger muss der Teufel werden, bis er angesichts der überwältigenden Macht des Bösen zuletzt als der faktische Regent allein auf der Bühne des Weltgeschehens bleibt. Die moderne Variante dieses Theodizeemodells hat Odo Marquard mit einem Zitat Stendhals auf die Formel gebracht: „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, dass es ihn nicht gibt.“ Er spricht von einem „Atheismus ad maiorem Dei gloriam“.309

Das Ergebnis dieser Überlegungen lässt nur einen Schluss zu: Jeder Versuch, die Theodizeefrage hier und heute zu beantworten, ist zum Scheitern verurteilt. Abgesehen von der Anmaßung, wir könnten Gottes Plan durchschauen, einer, wie wir seit Kant wissen, offenkundigen Illusion, könnten wir an der für jede Theologie unaufgebbaren Voraussetzung nicht länger festhalten: dass wir auf die Barmherzigkeit und Güte Gottes vertrauen dürfen. Sollten oder müssen wir sie deshalb aufgeben? Auch das ist keine Lösung. Denn wenn wir sie nicht als Frage nach Gott stellen, überlassen wir die Antwort anderen Instanzen, die sich nun an Gottes Stelle setzen, den Menschen, den Verhältnissen oder den „ehernen“ Gesetzen der Geschichte. Wir hören nur das Echo dessen, was wir selbst in den Wald gerufen haben. Deshalb müssen wir die Theodizeefrage bis zum Jüngsten Tage als „Frage gegen alle Antworten“ wach halten in der Hoffnung, dass uns „die Antwort in welcher Form auch immer von Gott selbst gegeben wird“.310 Wir müssen es um Gottes willen, der in „seinem Leiden“ (Bonhoeffer) den wachen Menschen auf seiner Seite haben will (Mt 26,40f.). Wir müssen es aber auch um des Menschen willen, der Gott braucht, um die Erfahrung des Marquard, in Oelmüller, (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann (Anm. 200), 27. 310 Ebach, Ein weites Feld, 149f. 309

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6.1 „Wie lange noch?“

Übels einem überlegenen Gegenüber klagend – und anklagend – ins Gesicht zu sagen. Denn mit unserer Klage bringen wir ja die Hoffnung zum Ausdruck, dass zuletzt Gott selbst sich gegen alle Vorwürfe rechtfertigen wird, die heute noch der jammervolle Zustand unserer Welt gegen ihn erhebt. Diese größere Hoffnung hat ein Choral des 18. Jahrhunderts in die Worte gefasst: Du wirst dein herrlich’ Werk vollenden, der du der Welten Heil und Richter bist. Du wirst der Menschheit Jammer wenden, so dunkel jetzt dein Weg, o Heilger, ist. Drum hört der Glaub’ nie auf, zu dir zu flehn; du tust doch über Bitten und Verstehn.311

Damit aber stehen wir unweigerlich vor einer zweiten Frage: Was bedeutet diese Gewissheit für unsere Auseinandersetzung mit der Theodizeefrage hier und jetzt? Die Erkenntnis, dass wir sie heute, vor dem Eschaton, gar nicht beantworten können, hat, wenn sie nicht folgenlos bleiben soll, einen ebenso kritischen wie kons­ truktiven Sinn – kritisch, weil sie unseren vorschnellen Urteilen mit Röm 9,20 einen Riegel vorschiebt, konstruktiv, weil die Aussagen unserer Theologie, Anthropologie oder Kosmologie offen gehalten werden müssen für das, was nur vom Eschaton erhofft werden kann. Beides entzündet sich an der Differenz zwischen Gottes Verheißungen und ihrer noch ausstehenden Erfüllung, einer Kluft, die wir gar nicht schließen können. Gott ist mit der Welt noch nicht am Ziel; deshalb ist „noch nicht zu Tage getreten, was wir sein werden“ (1 Joh 3,2). Wenn es aber dieses Ziel „gibt“, wenn es, wie wir hoffen, dort um die „Rettung“ unserer irdischen Geschichte, die Befreiung von ihrem Leid und ihrer Not geht, dann können wir nicht erwarten, dass mit der „Erlösung“ ihre 311

K.H. von Bogatzky (1750), EG 241,8.

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

Vergangenheit ad acta gelegt werden könnte. Sie soll bis auf ihren Grund noch einmal vergegenwärtigt werden. Hier, so sehe ich es, hat die Theodizeefrage auch in den Formen ihrer Rationalität – gewissermaßen als ein notwendiges Präludium – ihren theologischen Ort. Sie würde nicht gestellt, wenn die Welt „in Ordnung“ wäre, und sie belegt selbst da, wo wir ihre Antwortversuche „scheitern“ sehen, den zukunftshaltigen Verweis: Wir erwarten mehr von Gott, als wir heute erkennen und sehen. Was nur vom Eschaton erhofft werden kann und deshalb in unseren anthropologischen Aussagen offen gehalten werden muss, ist die Überwindung und Aufhebung der Schranken unserer Endlichkeit: die (moralischen) Fehler und Krankheiten, die Enttäuschungen und Abbrüche unserer Biographien, die nicht „verewigt“ werden sollen. Analog ist es in unseren kosmologischen Aussagen die Aufhebung der Differenz von Natur und Kreatur: Wir können unsere natürlichen Lebensräume bis zur Unbewohnbarkeit zerstören, die Erde kann uns mit Überschwemmungen und tektonischen Beben heimsuchen: Die Bewahrung und Vollendung des Kosmos als Schöpfung aber ist nicht unsere Sache. Auch hier ist unserem theologischen Wissen eine  – theodizeerelevante! – Grenze gezogen. Was bedeutet das für unser Reden von Gott? Hier hat der schon mehrfach erwähnte Johann Baptist Metz nachdenkenswerte neue Wege beschritten.

6.2 Die Theodizeefrage als eschatologische Rückfrage an Gott (J.B. Metz) Eine Lösung der Theodizeefage hat die christliche Theologie nicht anzubieten, wohl aber sucht sie immer neu nach einer Sprache, um sie als Frage nach Gott dem Vergessen zu entreißen. Sie ist die Frage von Menschen, die 246

6.2 Die Theodizeefrage als eschatologische Rückfrage an Gott

auch heute noch „hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“ (Mt 5,6). Denn Eschatologie weist nicht nur auf das Ende der Zeit, sondern wie in den Gleichnissen Jesu auf dessen verborgene Präsenz in der Zeit, d.h. auf die Nähe des Reiches Gottes, die Menschen in Erwartung und Unruhe versetzt. In diesem Horizont hat Johann Baptist Metz – zuletzt in seinem eindrucksvollen Buch „Memoria Passionis“– das Sprach- und Problemfeld der Theodizee noch einmal in provozierender Absicht erweitert. Anders als die klassische Theodizee fragt er nicht nach einer (verspäteten) Rechtfertigung Gottes durch die Theologie. Das traditionelle Argument der „Zulassung“ hat er vollkommen aus der Diskussion gezogen. Ihm wird stattdessen zum Problem, „wie denn überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der abgründigen Leidensgeschichten der Welt, ‚seiner’ Welt“ (4f.)312. Zum Thema wird hier „die eschatologische Frage, die sich jeder Funktionalisierung entzieht“ (7). Denn die Antworten, die man bisher auf sie gegeben hat, auch die theologischen, bringen die Fragen, auf die man hatte antworten wollen, nicht zum Verschwinden. Auf wenigstens drei wichtige neue Einsichten will ich hinweisen. (1) Metz streitet an einer zweifachen Front. Einmal gegen Augustin und die auf ihn sich berufende Tradition, die die erhoffte „Rettung“ aus dem Unrecht und den Gewaltzusammenhängen der Geschichte exklusiv als „Erlösung von Sünde und Schuld“ begreift und sich dabei über jene Leidensgeschichten hinwegsetzt, die sich „alltagsempirisch gerade nicht auf Schuld bzw. [auf eine] Schuldgeschichte“ zurückführen lassen (15). Während Augustin die eschatologische Frage nach Gott durch die anthropologische Frage nach der Sünde des Metz, Memoria passionis, 2006. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf dieses Buch. 312

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

Menschen ersetzt, erinnert Metz an einen Grundzug der neutestamentlichen Überlieferung, der eigentlich keinem aufmerksamen Leser verborgen bleiben kann: „Jesu erster Blick galt nicht der Sünde der Anderen, sondern dem Leid der Anderen. Sünde war ihm nicht zuletzt Verweigerung der Teilnahme am Leid der Anderen.“ (163) Es sind seit und mit Hiob gerade die unschuldig Leidenden, die ihn vor ein neues Problem stellen. Nur über die so gewendete Frage, die memoria passionis, kann sich die Frage nach Gott „ihres universellen Anspruchs vergewissern“. Deshalb wird gerade die Apokalyptik zum Wegweiser, sich in diesem Problemfeld neu zu orientieren. Erst ein „apokalyptisch-gewissenhaftes Christentum“ mit seiner „Sensibilität für fremdes Leid (macht) auf die tiefe Ambivalenz unserer Zeiterfahrungen aufmerksam“ (138). Damit gewinnt der theoretische Theodizee-Diskurs eine gegenwartsbezogene praktische Zuspitzung, die Einübung einer Ethik der Compassion: Die Autorität Gottes manifestiert sich in der Autorität der Leidenden, die nun sogar als irdischer Vorschein der Nähe Gottes (Mt 25) betrachtet werden. Eine kritische Anfrage richtet sich in diesem Zusammenhang gegen die Rede vom „leidenden Gott“ in den Entwürfen von Moltmann, Jüngel oder Hans Urs von Balthasar: Kann sie das Theozizeeproblem bewältigen, „auflösen“, oder führt sie am Ende nur zu seiner „Stilllegung“, d.h. zu einer „Versöhnung mit Gott hinter dem Rücken der menschlichen Leidensgeschichte“? (19) Auf das theologische Sachproblem, insbesondere auf den von Metz erhobenen Vorwurf eines „semantischen Betrugs“, bin ich in früherem Zusammenhang am Leitfaden von Luthers Theologia crucis und ihrer Rezeption durch Bonhoeffer eingegangen313 und habe das göttli313

Abschnitt 3.2 und 3, 173ff und 181ff.

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6.2 Die Theodizeefrage als eschatologische Rückfrage an Gott

che Leiden von allen Formen menschlichen Mitleids deutlich unterschieden. Hier gibt es tatsächlich eine Differenz. Menschliche Liebe und Mitleid sind bedroht von der Gefahr völliger Vergeblichkeit, was man von Gott und seiner Liebe unmöglich sagen kann. Das lässt Metz zu Recht fragen: „Wie könnte er Gott sein und bleiben, wie wäre er etwas anderes als die verheißungslose Verdoppelung unseres eigenen Leidens und unserer Liebe, wenn seine Liebe selbst in diesem Leiden und Mitleiden scheitern könnte?“314 Aber haben Jüngel und Moltmann das nicht auch gemeint, wenn sie darauf insistieren, dass die uns bedrängenden Fragen von Leid, Schuld und Tod nur ausgehalten werden können, wenn sie im Licht des Kreuzes Christi angenommen, das heißt auf den soteriologischen Grund des Christentums bezogen werden? Dieser gegenwärtige Grund des Heils tritt jedoch in den Überlegungen von Metz auffallend in den Hintergrund. Er hat das Problem des Leidens auf den Spuren des jüdischen Messianismus sozusagen aus der Soteriologie in den Denkhorizont der Eschatologie hinausverlagert und es dadurch ungeheuer verschärft.315 Er fragt nicht. „Wo ist Gott?“, sondern: „Wo bleibt Gott?“ Und wer wollte bestreiten, dass dieser apokalyptische Schrei weder aus der Christologie noch aus der Schöpfungslehre gestrichen werden kann? In dieser Perspektive erinnert Metz denn auch an das alttestamentlich-biblische Israel, das er mit Elly Sachs als eine eschatologische „Landschaft aus Schreien“ beschreibt (9), sozusagen als „Volk mit besonderer Theodizee-Empfindlichkeit“.316 Das unterscheidet Israel ohne Frage markant von den Hochkulturen seiner orientalischen und griechischen Umwelt. Es blieb „eine Erinnerungs- und ErwartungsMetz, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 93. Dazu: Kim, 95f. 316 Metz (Anm. 195). 85f. 314 315

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

landschaft, wie übrigens auch die frühe Christenheit, deren Biographie bekanntlich auch mit einem Schrei [Offb 22,20] endet, mit einem nun christologisch angeschärften Schrei“ (9). Hier gehen die Ausführungen von Metz am weitesten über die traditionsverhafteten Theodizee-Diskurse hinaus. Darin liegt ihre kaum zu überschätzende Bedeutung für unsere Gegenwart. (2) Dieser hervorgehobenen Sensibilität Israels, die sich aus Erinnerung und Erwartung speist, entspricht eine ebenso charakteristische „Zeitempfindlichkeit“. Sie verdankt sich der Beunruhigung, die von den apokalyptischen Traditionen ausgeht. Wer die Frage „Wie lange noch?“ mit solcher Emphase stellen kann wie die Psalmen und das Buch der „Offenbarung“, hat ein anderes Verhältnis zur Zeit als das abgeklärte Wissen der griechischen Philosophie. Er erfährt sie als befristete Zeit, als die uns noch zugemessene Frist. Diese wie neu entdeckte Erkenntnis ist die innere Mitte des von Metz ausgearbeiteten Entwurfs, der sich zu einer „politischen Theologie“ weitet. Was hier geltend gemacht wird, liest sich als genaue Antithese zum Lebensgefühl der Moderne, die Nietzsches Botschaft vom „Tode Gottes“ als „Aufkündigung der Herrschaft Gottes“ einleitet und die sich mit der „Ankündigung der Herrschaft der Zeit“ vollendet – einer Zeit, die nicht beginnt und nicht endet. Es ist eine „Zeit ohne Finale“, die „keine Fristen kennt, keine himmlischen und keine irdischen“ (135). Sie kennt nur „Termine“ und unterwirft uns stattdessen dem Zwang des gnadenlos fortschreitenden Kalenders. Deshalb gibt es auch ein „Leiden am Fehlen der Finalität“, das JeanFrançois Lyotard als Kennzeichen der Postmoderne diagnostiziert hat.317 Es manifestiert sich in der „Geschichtsmüdigkeit“ unserer Gegenwart und hat „Gott undenkbar gemacht“ (132f.). 317

Lyotard, Postmoderne Moralitäten, 95.

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6.2 Die Theodizeefrage als eschatologische Rückfrage an Gott

Anders als unser Zeitalter hat ein seiner biblischen Tradition verpflichtete Christentum keinen „zeitlosen Kern“, wohl aber einen „Zeitkern“, der in den Überlieferungen des Exodus lebendig geblieben ist und die „Nah­ erwartung“ der ersten Gemeinden geprägt hat: „Wir ­haben hier keine bleibende Stadt“ (Hebr 13,14). So ist die biblische Botschaft „in ihrem Kern auch eine Zeitbotschaft, eine Botschaft vom Ende der Zeit“ (129). Ihre qualifizierten theologischen Aussagen, namentlich ihre Verheißungen, tragen einen „Zeitvermerk“. Das gilt in Sonderheit von ihren apokalyptischen Texten. Man darf sie daher nicht schon auf angekündigte Katastrophen und Untergangsängste festlegen, entscheidend ist vielmehr, dass sie mit „einer Art Temporalisierungsprogramm“ aufwarten, mit dem „Versuch der Aufdeckung des befristeten Wesens der Weltzeit“ (137), zu der auch die von Paulus beschriebenen „Leiden dieser Zeit“ (Röm 8,18) gehören. Davon bleibt das Reden von Gott nicht unberührt: Seine Zeit verläuft sich nicht wie das homogene Kontinuum unseres Kalenders im Endlosen. Sie drängt in gespannter Erwartung auf jenen Tag hin, an dem er selbst sich rechtfertigen wird. Diese „eschatologische Dramatisierung“ verhindert, dass erlittenes Unrecht vergangener Generationen im Strom der Zeit untergehen und vergessen werden könnte. Denn jetzt wird „im Aufdecken der Antlitze der Opfer“ jenes Kontinuum aufgebrochen, und diese „Unterbrechung“ kommt den ungerecht Leidenden und Toten zugute. Sie räumt den Menschen einen Platz ein „für die klagende Rückfrage […] an Gott angesichts der Gräuel in seiner Schöpfung“. Nicht umsonst hat die Apokalyptik ihren ‚Sitz im Leben’ in den „Leidens- und Verfolgungssituationen der jüdischen Gemeinden“ (137). Ihre „Zeitbotschaft“ begründet den Imperativ eines „apokalyptisch-gewissen Christentums“: Es muss in sich zusammenführen, wozu die Treue zu seinem Erbe es nötigt: das „Gottesgedächt-

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

nis im Eingedenken der Leidensgeschichte der Menschen“ (138). Hier liegt die Pointe der Theodizeefrage, die Metz beharrlich hervorkehrt: Im Hoffnungshorizont Gottes wird das verweigerte Recht der Toten und Verlorenen der Geschichte aufbewahrt. (3) Was folgt daraus für unser theologisches Reden von der Welt und ihrem so oft vergeblich gesuchten göttlichen Gegenüber? Um den von Metz vorgelegten Entwurf zu würdigen, wird man ihn (auch) als eine hermeneutische Programmschrift mit einer eminent praktischen Zielsetzung lesen müssen. Das hier neu aufbrechende Interesse an der Apokalyptik will ja nicht eine längst vergangene zeitgeschichtliche Strömung wieder beleben, die, historisch interpretiert, längst ins Abseits geraten ist und im Zeichen einer existentiell (oder idealistisch) getönten Eschatologie oft genug abgewertet wurde. Hier wird sie zum Schlüssel, unsere eigene Wirklichkeit zu entdecken. Um deren Zerrissenheit und ihr Leiden zu erkennen, braucht es gewiss keine sonderlich geschärften Sinne, wohl aber, um gerade hier in den „Widersprüchen der menschlichen Passionsgeschichten“ (die nur noch ein atheistisches Credo zuzulassen scheinen) das verlorene Gegenüber wiederzufinden. Gerade in diesen Widersprüchen, in der „Erfahrung von Nicht-Identität“  – so lautet die zentrale These  – „schärft sich das Gottesgedächtnis“ (29). Hier erst entsteht die biblische Vision einer „universalen Gerechtigkeit, die auch die vergangenen Leiden rettend einschließt“318 und die Kirche auf das Reformprogramm der „Compassion“ verpflichtet. Es ist der in unserer Gegenwart „vermisste“ Gott, nach dem Metz fragt, der Gott, den wir in seiner vermeinten Objektivität als „höchstes Wesen“ über den Abgründen unserer Geschichte (dort, wo Leibniz und 318

Metz, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 1995, 91.

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6.2 Die Theodizeefrage als eschatologische Rückfrage an Gott

seine philosophischen Erben ihn gesucht haben) nicht finden, an den wir deshalb auch nicht mehr glauben können. Er spricht geradezu von einem „Vermissungswissen“ (11.28) und fordert gegenüber der Einstellung des philosophischen Bewusstseins eine Neuorientierung unserer Perspektive „Wie groß muss die Distanz eines strikt objektivierenden Redens gegenüber den Leidenden selber geworden sein, […] dass die Fragen: ‚Wie lange noch?’, ‚Wo bleibt Gott?’ ortlos werden und verstummen müssen?“ (14) . Nur deshalb haben die biblischen Theodizee-Traditionen ein solches Gewicht – das eben war ja aus den scheinbar ausweglosen Konfliktsituationen zu lernen, in die Abraham und Hiob hineingeraten sind  –, weil wir in ihnen gerade dort Gott begegnen, wo jeder „objektive“ Glaube an begrifflichen Widersprüchen zu zerbrechen droht. Damit kehrt sich die Richtung der uns vertrauten Gottesfrage um: Es gibt nicht nur einen Aufstieg der Seele zu Gott, sondern auch „den Abstieg zu Gott, gewissermaßen die ‚Transzendenz nach unten’, dorthin, wo nur noch […] der Schrei aus der Tiefe“ bleibt (100). Die einzig angemessene Sprache, diesen Gott zu erreichen, von ihm zu reden, ist daher die Sprache des Gebets, eine „Leidens- und Krisensprache“, „viel rebellischer und radikaler als die Sprache der zünftigen Theologie“ (97). Ihr Schrei geht nicht ins Leere, ins Unbekannte. Im Gegenteil! Er ist als solcher der Ausdruck einer besonderen, ja extremen Weise, dem unfassbaren und unaussprechlichen Gott nahe zu sein: „In diesem Schrei, und gerade in ihm, ist Gott ‚da’, ereignet sich das Da-Sein Gottes“ (100). Er ist „ein erster Ausdruck präsentischer Eschatologie“ (102). Hier geht es nicht um ein neues begriffliches Wissen von Gott, sondern um eine neue Erfahrung mit Gott: die Erfahrung Hiobs, dass er nicht über dem Leiden seiner Schöpfung, ihrer Ohnmacht und Schwachheit entzogen, sondern mit-

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6. Der eschatologische Horizont der Theodizeefrage

ten in ihm zu finden ist, dass er sich sozusagen „vor Ort“, in der Situation seines Geschöpfes als Gott kenntlich macht. Nur eine Frage ist in all diesen Überlegungen offen geblieben, eine Frage, die das Theodizeeproblem von jeher als Unterstrom begleitet: Wie steht es mit der Wurzel aller Übel, die uns bedrängen, dem Bösen (malum)? Wenn wir uns von der augustinischen Auskunft trennen müssen, Gott dürfe in diese Frage nicht hineingezogen werden, wenn es also nicht angeht, das Böse ausschließlich auf der Seite des Menschen zu verorten: Ist Gott selber dann – wie auch immer – in dieses mysterium iniquitatis involviert?

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III. Gott und das Böse

Einleitung: Die Frage nach dem Bösen Das Theodizeeproblem gewinnt seine eigentümliche Schärfe dadurch, dass hier zwei Realitäten aufeinander treffen, die ihrem traditionellen Verständnis nach in einem schlechthinnigen Gegensatz zueinander stehen und doch nicht voneinander getrennt werden können, als gingen sie einander nichts an: Gott und das Böse. Die Problematik steckt im „und“, „jenem kleinen und theologisch womöglich schwierigsten aller Worte“ (Ebach): Beschreibt es einen Konflikt, einen unauflösbaren (gar logischen) Widerspruch oder einen uns verborgenen Zusammenhang, den man kennen müsste, um zu verstehen, warum unsere Welt so ist, wie sie ist? Gibt es eine Verantwortung Gottes für das manifest Böse der Erde? Dass diese Frage keine allgemein gültige, von Philosophen und Theologen gemeinsam getragene Antwort finden kann, hat der Gang der Untersuchung gezeigt, auch wenn beide sich zuletzt auf eine gemeinsame Problemformulierung einigen können: Wie ist die Erfahrung von Leid und Übel mit dem Glauben an einen guten und allmächtigen Gott zu vereinen? Entscheidend jedoch ist der Sinn dieser Frage: Welche Voraussetzungen fließen in das Verständnis Gottes, welche in das Verständnis des Bösen ein? Und welcher der beiden Pole hat hier das größere Gewicht? Für ein theologisches Nachdenken kann der Ausgangspunkt, den J.B.Metz genommen hat, nicht strittig sein: Es geht um die Frage, „wie von Gott zu reden ist angesichts der abgründigen Leidensgeschichte der Welt“. Von der Erwartung einer „alles versöhnenden Antwort“ werden wir uns trennen

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Einleitung: Die Frage nach dem Bösen

müssen. Wohl aber gilt es, eine „Sprache“ zu suchen, „um [diese Frage] unvergesslich zu machen“.319 Die heute diskutierten Antworten weisen in zwei durchaus verschiedene Richtungen: (1) Wenn Gottes Urteil über die von ihm geschaffene Welt gilt: „Siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31), dann ist jede kausale Rückführung des Bösen auf Gott ausgeschlossen. Er selber ist vielmehr der erste von ihm Betroffene. Wenn das Böse vollends am Kreuz von Golgatha als der definitive Feind Gottes sichtbar wird, dann ist eine Komplizenschaft mit ihm undenkbar. Von einem „ontologischen Zusammenhang“, dem Versuch, das Böse „in die gute Gesellschaft mit Gott“ zu bringen (K.Barth), kann keine Rede sein. Es lässt sich, wie schon Kant erklärte, kein Zweck denken, um dessentwillen es notwendig wäre. (2) Andererseits ist eine Entlastung Gottes von den Leiden und Übeln der Erde, wie sie in der augustinischen Tradition gelehrt wird, angesichts eindeutiger biblischer Aussagen (Jes 45,7; Klgl 3,38) nur schwer möglich. Vergegenwärtigt man sich die Antworten, die man hier zur Erklärung des Bösen vorgebracht hat  – Gott hätte es „zugelassen“ als Strafe oder als Erziehungsmittel der Menschen –, dann wäre es vorgängig doch durch menschliche Bosheit in die Welt gekommen, und Gott wäre allenfalls als Schöpfer dieses fehlbaren Menschen anzuklagen. Er hätte dem Bösen zwar nicht kausal, wohl aber in der Weise einer instrumentalen Ursache – etwa als Mittel seiner Providenz bei der „Verstockung“ Pharaos – zur Existenz verholfen. Ältere Versuche sind noch einen Schritt weiter gegangen. Thomas von Aquin etwa nimmt die alte Frage des Boethius auf: „Si Deus est, unde malum?“320 und argumentiert: Es gäbe das Böse nicht, wenn die Ordnung des Guten (ordo boni) beseitigt 319 320

Metz, Theodizee-empfindliche Gottesrede, 82f. Boetius, De consolatione Philosophiae, Prosa 4, MPL 63, 625 A.

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Einleitung: Die Frage nach dem Bösen

würde, dem es sich in der Weise der Privation verdankt. „Diese Ordnung aber existierte nicht, wenn es Gott nicht gäbe.“321 Das heißt zunächst: Wenn es Böses gibt, dann gibt es auch Gutes; es wird nur am Kontrast zum Guten erkannt. Also muss es ein Wirkliches geben, an dem es vorliegt. Da aber alles Wirkliche auf Gott zurückgeht, kann er – so die Konsequenz – nicht aus der Verantwortung dafür entlassen werden, dass es überhaupt Böses in der Welt gibt.322 So augenfällig uns das Böse in seinen Ausstrahlungen begegnet einfach dadurch, dass wir an und unter ihm leiden, so rätselhaft wird es freilich, sobald wir danach fragen, was uns da begegnet. Denn wenn es nur im Kontrast zum Guten in Escheinung tritt, nur das von Gott geschaffene Gute aber als Sein (ens) qualifizierbar und ansprechbar ist, dann fällt es offenbar aus allen Kategorien heraus, unter denen wir Wirklichkeit, Seiendes, zu begreifen pflegen. Es gehörte – nur wie sollen wir uns das vorstellen?  – zum „Nichtsein“, von dem Paul Tillich sagen konnte, dass „Gottes schöpferisches Leben“ auch dies und mit ihm die „Negativität des kreatürlichen Lebens“ umschließt.323– In einem ersten Schritt werde ich mich daher den Phänomenen des Bösen in ihrer Rätselhaftigkeit zuwenden, kraft der sie sich jeder begrifflichen Bestimmung entziehen.

Thomas v. Aquin., Summa contra Gentiles, III, 71. Dazu: Dalfert, Malum, 48-55. 323 Tillich, Systematische Theologie I,311. 321 322

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1. Das Rätsel des Bösen

1. Das Rätsel des Bösen In Dantes Göttlicher Komödie stehen über dem Eingang des Höllentores die Worte: „Die ihr mich durchschreitet, lasset alle Hoffnung fahren.“ Sofern sich im mythischen Bild der Hölle darstellt, wie das Böse inmitten unserer Welt beschaffen ist und sich in ihr auswirkt, ist das Umfassendste, was sich darüber sagen lässt, die Feststellung: Das Böse ist das in sich Hoffnungslose. Ohne Hoffnung aber, ohne die Aussicht unser Heute könnte morgen auch anders sein, können wir nicht leben und auch nicht denken. Denn da wir wissen, dass wir in der Zeit sind, ist alles menschliche Denken und Handeln auf die Zukunft ausgerichtet und empfängt von dort her seine Perspektive. Deshalb können wir das Böse unter den Bedingungen der Normalität gar nicht begreifen. Das Erste, was uns Erfahrung und Nachdenken zeigen, ist denn auch der Umstand, dass sich das Böse unserem Zugriff hartnäckig entzieht. Es scheint unserem Vorstellungsvermögen immer einen Schritt voraus zu sein. Wir bekommnen es in seiner Wurzel nicht zu fassen. Vollends in seiner personifizierten Gestalt als Satan ist es uns abhanden gekommen – und das nicht erst seit heute. „Die Vorstellung vom Teufel, wie sie sich unter uns ausgebreitet hat“, erklärte schon Schleiermacher, „ist so haltlos, dass man eine Überzeugung von ihrer Wahrheit niemandem zumuten kann; aber unsere Kirche hat auch niemals einen doktrinalen Gebrauch davon gemacht.“324 „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben“, kommentiert Goethe im Faust ironisch diese epochale Wende der Aufklärung. Die Eigendynamik des Bösen hat ihre handliche personale Maske tatsächlich abgestreift, doch dieser Abschied vom „Leibhaftigen“ hat das 324

Schleiermacher, Der christliche Glaube I, 211.

258

1.1 Die Wandlungen des Bösen

ungelöste Problem, für das sie stand, keineswegs erleichtert. Denn das Böse geht – in einer ganz anderen Weise noch, als wir es von der Mode kennen – mit der Zeit. Man würde seinen Charakter verkennen, wollte man es nur mit extremen Gewalttaten in Verbindung bringen und seine Präsenz in alltäglichen Geschehenszusammenhängen übersehen. Paul Ricœur hat in wegweisenden Analysen seine Epigenese, seinen unerwartet sprunghaften Gestaltwandel vorgeführt, seine neuen Gestalten, die sich nicht schon auf altbekannte Manifestationen zurückführen lassen, sondern sich gleichsam evolutionär entfalten.325 Knut Berner ist diesem Phänomen in seiner Untersuchung zur „Theorie des Bösen“ nachgegangen.326

1.1 Die Wandlungen des Bösen Trotz ihrer aufdringlichen Faktizität ist uns die Wirklichkeit des Bösen nicht unmittelbar zugänglich, sondern immer nur symbolisch vermittelt. Von einem Symbol ist mit Ricœur da zu reden, „wo die Sprache Zeichen verschiedenen Grades produziert, in denen der Sinn sich nicht damit begnügt, etwas zu bezeichnen [Absicht oder Ziel einer Handlung], sondern einen anderen Sinn bezeichnet, der uns nur in und mit seiner Ausrichtung zu erreichen ist“.327 So ist die Gesichtslosigkeit des Bösen ein durchaus neuer Zug. Er lässt sich eindrucksvoll demonstrieren am exponentiellen, dabei durchaus legalen Wachstum von Geldvermögen in den Händen weniger, das zur Ballung von Macht ohne Mandat führt und die Destabilisierung ganzer GesellRicœur, Phänomenologie der Schuld, Bd. 2. Berner, Theorie des Bösen. 327 Ricœur, Die Interpretation, 29. 325 326

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1. Das Rätsel des Bösen

schaften durch soziale Ungerechtigkeit zur Folge hat. Man darf auch an die weltweit sich entwickelnde Gentechnik denken, die  – weithin unbeeindruckt vom Streit um die Kriterien der Menschenwürde und wenig bereit, sich einer freiwilligen Kontrolle zu unterziehen  – mit unabsehbaren Folgen am genetischen Erbe der Menschheit manipuliert. Wissenschaftler werden zu „Zauberlehrlingen“, die nicht wissen können und nicht danach fragen, wozu ihre Experimente und Erfindungen einmal dienen werden. Dennoch fehlt es keineswegs an plausiblen Rechtfertigungen: Es geht um die Heilung bisher unheilbarer Krankheiten und somatischer Defekte, also um etwas unbestreitbar „Gutes“. Der Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker hat auf dem Hintergrund des II. Weltkriegs eine schwer bestreitbare Rechnung aufgemacht und das Problem hautnah zugespitzt: „Aus Naturwissenschaft folgt Technik, aus Technik kommen Maschinen, Maschinen werden zum Töten und Quälen missbraucht, schließlich steht der Zauberlehrling da und weiß nicht, wann das Böse überhaupt angefangen hat: War diese Wissenschaft nur böse angewendet, oder war sie von Anfang an böse?“328 Ich würde sagen: Sie war neutral. Das ist ihr Verhängnis. „Die Logik begründet das Denken des Mörders und des Quäkers.“ Es ist ihr Verhängnis, dass sie sich seit ihren neuzeitlichen Anfängen aus der Sphäre der Natur und der Lebenswelt des Menschen, ihren Bedürfnissen und ihren Rechten, ihrer Schönheit und ihrem Leiden, buchstäblich herausreflektiert hat. Nachdem sie sich derart von allen Qualitäten und Werten emanzipiert hat, blieb ihr nur ein Wert zurück: ihre Objektivität oder unverblümt gesagt: die Möglichkeit, aus methodischer Distanz die Welt nach ihrem eigenen Entwurf (das heißt zugleich: 328

V. von Weizsäcker, Der Begriff sittlicher Wissenschaft, 233.

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1.1 Die Wandlungen des Bösen

nach ihrem eigenen Interesse) zu ordnen und zu gliedern. Diesen Wert nennt sie „Wertfreiheit“. Dass das Böse derart vom Guten, und sei es das vermeintlich Gute, zehrt, dürfte die Quelle sein, aus der es seine stärkste Kraft bezieht. Der historische Anschlag vom 11. September 2001 auf die Twin-Towers in New York wurde nicht von gewissenlosen, moralisch skrupellosen Männern inszeniert. Die ihn ausführten, haben sich vielmehr auf der Seite des Guten verortet und ihrem Anschlag eine hochmoralische Legitimation gegeben. Der Sinn ihres Normbruchs bestand darin, auf eine höherrangige Moralordnung aufmerksam zu machen, nach der ihre Angriffe tugendhaft und gerecht wären, während die Gegenseite der Vorwurf der Bösartigkeit und Heuchelei treffen sollte. Zum Indikator einer neuen Wirksamkeit des Bösen wurde der Anschlag dadurch, dass er zu der Fehleinschätzung führte, nur die Störung der Ordnung westlicher Zivilisationen für bedeutsam zu halten, die Unordnung aller anderen Lebenswelten aber zur Marginalie herabzustufen. Auf ähnliche Weise führt uns unsere Gesellschaft vor Augen, dass gravierende Untaten nicht um des Bösen, sondern um eines verabsolutierten Guten willen – sei es Ordnungsliebe, Pflichtgefühl oder Gehorsam  – durchgeführt werden. Das Böse wird nicht von niedrigen Motiven geleitet, sondern verbirgt sich im Mantel der Moral und verschwindet schließlich darin. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hat darauf aufmerksam gemacht, dass Demütigung und Erniedrigung des Menschen, Entwürdigung und Zerstörung seines Personkerns – denn darauf zielt das Böse zuletzt immer ab – ihre verheerende Wirkung vor allem dort entfalten, wo sie sich mit moralischen Positionen und humanistischen Grundsätzen legitimieren, namentlich in der Pädagogik: „Selbst Eltern, die ihre Kinder weitgehend auf ihre eigenen Bedürfnisse zurichten“, gelingt es in

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1. Das Rätsel des Bösen

der Regel, „sich einzureden, dass dies für das Kind gut sei. Keine Strafe wird verhängt, ohne als Lernhilfe für das Kind rationalisiert zu werden. Kein unerfüllter Ehrgeiz wird stellvertretend dem Kind aufgebürdet, der nicht allein diesem nützen soll […] Dennoch verteidigt die Gesellschaft hartnäckig die Illusion, für die optimale Entfaltung des Kindes alles zu tun […] und Verstöße gegen diese Fürsorgepflicht als moralisches oder kriminelles Versagen von Außenseitern zu erklären.“329 Sogar das Bedürfnis, das Kind laufend als Sündenbock bei irgendwelchen Freveln zu ertappen, rechtfertigt sich als unbeirrbare Wachsamkeit. Hier maskiert sich das Böse im Dienst des Lebensförderlichen, das dadurch gerade unmöglich gemacht wird.

1.2 Notwendige Abgrenzungen Definieren lässt sich das Böse nicht. Wohl aber lässt sich beschreiben, wie und woran es sich auswirkt und – so die These von Hermann Häring  – sich zuletzt auch „durchschauen“ lässt: „Als böse wird erfahren, was bedroht, Ordnung auflöst, Leben zerstört, Entwicklungen in Katastrophen enden lässt. Es bedeutet im Kern Angriff auf Dasein und Leben. Seine Richtung ist der Tod. Augustinus nennt es in aller Kürze und wohl auch präzis: ‚id quod nocet’  – das, was schadet.“330 Diese Beschreibung trifft auf zwei unterschiedlich zu interpretierende Phänomene zu, die im Zusammenhang der Frage nach dem Bösen nicht ausgeblendet werden dürfen, aber doch kaum schon als zureichende Indikatoren in Anspruch genommen werden können: auf Seiten Richter, Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik, 149f. 330 Häring, Das Problem des Bösen, 29. 329

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1.2 Notwendige Abgrenzungen

der Theologie auf die nur vom Menschen auszusagende Fähigkeit und Neigung zur Sünde, auf naturgeschichtlicher Ebene auf die auch unter Tieren anzutreffende Bereitschaft zur Aggression. (1) Sünde und Böses. Dass die Welt im Argen liegt, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Kein zweites Zeitalter hat wie unseres ähnliche Explosionen des Bösen erlebt: Völkermord, systematisch angewandte Folter, Giftgase und Atomwaffen, die Menschen wie Ungeziefer vertilgen, und ideologische Rechtfertigungen, die das alles als notwendig und sinnvoll hinstellen. Hier manifestiert sich ein Riss in der Schöpfung, dessen Spiegel im menschlichen Verhalten die Theologie von alters her als Sünde angesprochen hat, ein Riss, dem mit dem Aufwand unserer Moral offenbar gar nicht beizukommen ist. Wir wissen kaum, wonach wir eigentlich fragen sollen: nach der Organisation unserer Gesellschaft und ihren oft problematischen Normen, nach einem dahinter liegenden „radikal Bösen“ (Kant) oder nach einem Gott, der den Menschen mit einem bedenklichen Konstruktionsfehler erschaffen hätte. Der biblische Sprachgebrauch hat Sünde und Böses in die denkbar größte Nähe gerückt: „Die Sünde ist der Völker Verderben“ (Spr 14,34); er hat die destruktive Kraft des Bösen mit ihr förmlich identifiziert: „Der Sünde Sold ist der Tod“ (Röm 6,23). Sünde, schreibt Bonhoeffer, ist „nicht einfach ein ethischer Fehltritt, sondern ist die Zerstörung der Schöpfung durch das Geschöpf.“331 Und doch gibt es hier einen markanten Unterschied, den das Vaterunser in seiner letzten Bitte festhält. Dort heißt es: „Erlöse uns von dem Bösen!“, nicht: ‚Erlöse uns von der Sünde!’ Denn das wäre die Bitte um Befreiung von unserer so und nicht anders ge331

Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, 89.

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1. Das Rätsel des Bösen

schaffenen Natur, unserer problematischen Freiheit und Fähigkeit, all das tatsächlich zu tun, was unser Jahrhundert zum Zeitalter nicht abreißenden Terrors gemacht hat. Sünde, auch wenn sie „unerkannt“ bleibt (Ps 90,8), wird dem Menschen zugerechnet; sie ist Schuld, die der Sühne oder der Vergebung bedarf. Wer aber wollte ihm das Böse, ein Erdbeben oder einen tödlich sich auswirkenden Kälteeinbruch, zurechnen? Schuld setzt einen Maßstab voraus, an dem wir schuldig werden, weil wir ihm nicht genügen, und nur weil wir diesen Maßstab, das göttliche Gebot, kennen (Micha 6,8), lässt sich Sünde überhaupt thematisieren: „Durchs Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20). Daraus folgt als erster und wichtigster Satz: Sünde ist ein theologischer Relationsbegriff. Hier steht das Verhältnis zu Gott auf dem Spiel, wie Luthers prägnante Diagnose zu verstehen gibt: „Von Natur aus kann der Mensch nicht wollen, dass Gott Gott ist; vielmehr wollte er selbst Gott sein und Gott nicht Gott sein lassen.“332 Noch in seiner Sünde bleibt er auf Gott bezogen, und das eben lässt sich vom Bösen nicht sagen. Es ist von allem Anfang an das Gott schlechthin Entgegengesetzte, das ihm in der Form der Feindschaft, der Negation, gegenübersteht. Es ist der Initiator einer von Gott sich ablösenden „Privatgeschichte“. Das schließt nicht aus, dass es hier einen verborgenen Zusammenhang gibt. Die Sünde, erklärt Karl Barth, ist die „konkrete Gestalt, in der das Nichtige [= Böse] wirksam ist und sichtbar wird“.333 Sie aktualisiert, so müsste man sagen, das sonst latent bleibende Böse, sie schafft ihm gleichsam Luft, sich auszuagieren und auszuleben. Da sich der Hauptstrom der neueren Theologie jedoch überwiegend nur mit dem isolierten Phänomen 332 333

Luther, Disputatio contra scholasticam Theologiam, WA 1, 225.1. Barth, KD III/3, 347.

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1.2 Notwendige Abgrenzungen

der Sünde beschäftigt hat, ist sie auf die Bedeutung dieser entscheidenden Differenz nur unzureichend aufmerksam geworden. Man darf sie indessen, wie Wolf Krötke betont, nicht so interpretieren, als wäre „das Nichtige das Allgemeine jenes Konkreten“. Denn dann bestünde die Aufgabe darin, „zunächst die konkreten Gestalten [der Sünde] zu erkennen und zu beschreiben“ und dann „von diesen Gestalten [. ..] her auf ein allgemeines Wesen [zu] schließen. Das wäre [dann] das Nichtige [Böse].“334 Ein solcher Schluss vom Phänomen der Sünde auf dessen Wesen als „Böses“ blickte jedoch an Gottes Ja zur Schöpfung vorbei und bliebe abstrakt. Gemeint ist vielmehr etwas sehr viel Radikaleres, an die Wurzel unserer Verfehlungen Rührendes: „Der Mensch wartet mit einer Macht im Rücken gegen Gott auf.“335 In dieser Macht manifestiert sich das Böse. Es kann – ein kategorialer Unterschied! – offenbar nicht mit dem subjektiven Vorgang des Sündigens verständlich gemacht werden, sondern ist – ihm voraus – die Macht, die uns zu Fall bringt, uns in Sünde fallen lässt. Worin äußert sich diese Macht? Bonhoeffer hat sie an der Fähigkeit, eine uns gesetzte Grenze zu überschreiten, verdeutlicht, jenseits derer sich uns der Abgrund – oder soll man sagen: die uns nicht zuträgliche „Überhelle“ – des Bösen öffnet. Er stellt ins Zentrum seiner Auslegung des „Sündenfalls“ (Gen 3)  – ein Text, in dem, bemerkenswert genug, das Wort „Sünde“ überhaupt nicht vorkommt! – den „Baum der Erkenntnis“, den er als Symbol einer kreatürlichen Grenze begreift, auf die Adam in dem göttlichen Verbot angeredet wird, und interpretiert: Dieser Baum steht mit Bedacht in der „Mitte“ des Gartens Eden. Denn auch „die Grenze des Menschen ist in der Mitte seines Daseins, nicht am Rand.“ Sie ist 334 335

Krötke. Sünde und Nichtiges, 17. Ebd., 18.

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1. Das Rätsel des Bösen

anders als die Grenze seiner Beschaffenheit, seiner Technik, seiner Möglichkeit[en], „die am Rand des Menschen gesucht wird“, die „Grenze seiner Wirklichkeit, […] die das gesamte Dasein, das Menschsein in jeder möglichen Haltung begrenzt“.336 Der Eingriff in die durch sie geschützte „Mitte“ setzt die Macht des Bösen frei. Denn was ist hier geschehen? „Zunächst dies: die Mitte ist betreten, die Grenze ist überschritten, nun steht der Mensch in der Mitte, nun ist er ohne Grenze […] Er ist sicut deus. Nun lebt er aus sich selbst, nun […] ist er sein eigener Schöpfer, bedarf er des Schöpfers nicht mehr. […] Er hat sich seiner Geschöpflichkeit entrissen. Er ist sicut deus, und dieses ‚ist’ ist ganz ernst gemeint, nicht: er fühlt sich so, sondern er ist es. Mit der Grenze verliert Adam seine Geschöpflichkeit.“337

Das ist ein rückblickendes Urteil, das die Frage nach dem Warum – sie ist „keine theologische Frage“ – offen lässt. Bonhoeffer spricht von der „völligen Unbegreiflichkeit der Tat“, die die Rätselhaftigkeit des Bösen dadurch zum Ausdruck bringt, „dass nicht plötzlich eine irgendwoher kommende böse Gewalt offensichtlich in die Schöpfung hineinbricht, sondern dass sich dies Böse ganz in der Schöpfungswelt verhüllt, in der Schöpfung durch den Menschen geschieht“.338 Gegenüber dieser am Text der Genesis entlang gehenden Darstellung vollzieht sich in der Neuzeit mit Kants Lehre vom „radikal Bösen“ eine nicht unerhebliche Problemverschiebung. Mit der Sünde wird nun auch das Böse ins Subjekt hinein verlagert. Kant rechnet mit einem „natürlichen“ und, „da er doch immer selbstverschuldet sein muss“, einem „angeborenen“ Hang zum Bösen in der menschBonhoeffer, Schöpfung und Fall, 60. Ebd., 84f. 338 Ebd., 76. 336 337

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1.2 Notwendige Abgrenzungen

lichen Natur, der „am Ende in einer freien Willkür gesucht werden muss“.339 Wir handeln böse, weil wir, statt uns der sittlichen Ordnung zu unterwerfen, uns von den „Triebfedern der Selbstliebe und ihren Neigungen“ bestimmen lassen. Dadurch wird der „Grund aller Maximen“, d.h. unserer allgemeinen Lebensregeln, verdorben.340 Deshalb heißt dieses Böse „radikal“. Es ist an der Wurzel freier menschlicher Selbstbestimmung angesiedelt; es wird subjektiv verortet. Kant beschreibt damit genau das, was die theologische Tradition „Erbsünde“ nennt. Emil Brunner, einer unter vielen, hat diese Argumentation aufgenommen: Das Böse „ist ein Teil unseres Wesens, unserer Natur“; theologisch gesprochen: Es entzündet sich „an der göttlichen Bestimmung des Menschen“, seiner „Gottebenbildlichkeit, Freiheit“.341 Es ist als Sünde verstanden. Das Böse wird zu einer Erblast des Subjekts. (2) Das „sogenannte Böse“ (K. Lorenz). Auf der hier nachgezeichneten Linie bewegt sich auch der naturgeschichtliche Entwurf des Verhaltensforschers Konrad Lorenz, der das Phänomen der Aggression ins Zentrum seiner Untersuchungen stellt.342 So kontrovers und vielfältig der Begriff der Aggression in der empirischen und anthropologisch orientierten Forschung diskutiert wird: Faktisch ist er zum „Platzhalter“ (H. Häring) dessen geworden, was wir als das Böse zu bezeichnen pflegen. Aggression, ein subjektives Verhalten, zielt auf soziale oder psychische Schädigung eines Anderen, sie stellt Handlungen in den Dienst destruktiver Zerstörung. Das einflussreiche, in mehr als 20 Auflagen verbreitete Buch „Das sogenannte Böse“ besticht durch seine (durchaus Kant, Die Religion, 33. Ebd., 39. 341 Brunner, Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung,103f. 342 Lorenz, Das sogenannte Böse, 35ff. 339 340

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1. Das Rätsel des Bösen

nicht unbestritten gebliebene) Methode, aggressives Verhalten bei Mensch und Tier methodisch unter einem einheitlichen Ansatz zu verrechnen. Tiere, die berühmt gewordene Graugans Martina, halten uns den Spiegel vor: Es sind soziale oder ökologische Überforderungen, auf die jedes Lebewesen mit Stress oder Aggression reagiert. Die Folgerung lautet: An die heutigen Verhältnisse ist der Mensch nur unzureichend angepasst. Aus diesem Mangel erwächst die Quelle des Bösen. Es wäre so gesehen ein sekundäres Kulturphänomen.

1.3 Das Böse: Ordnung oder Chaos? Die alte Frage nach dem „unde malum?“ ist mit diesen Ausführungen noch gar nicht berührt, und doch lässt sich aus den angeführten Beispielen  – auch theologisch – einiges lernen. Wir sind es gewohnt, das Böse mit Chaos und Destruktion zu identifizieren (seine Auswirkungen werden oft genug darauf hinauslaufen), das Gute hingegen mit Ordnung und stabilen Verhältnissen. Auch die Theologie hat es so gehalten. Die Bewältigung des Chaos ist der erste Akt der guten Schöpfung; denn Gott steht auf der Seite der Ordnung. Angesichts der Wirklichkeit des Bösen  – das sollten die geschilderten Szenen des ersten Abschnitts (1.1) zeigen – versagt jedoch diese klassische Unterscheidung. Dort war es gerade die wie immer begründete und durchgesetzte Ordnung, die das Böse freisetzt, ja ihm zum Durchbruch verhilft. Dietrich Ritschl, einer der wenigen Theologen, der auf diesem Problemfeld neue Wege eingeschlagen hat, erklärt auf diesem Hintergrund mit Recht: „Das Böse und das Sinnlose kann nicht mehr einfach mit Unordnung und Chaos, Gott und das Gute [nicht] mit Ordnung gleich-

268

1.3 Das Böse: Ordnung oder Chaos?

gesetzt werden.“343 Die Übergänge zwischen Festem und Beweglichem, zwischen gesetzmäßiger Ordnung und Unordnung bis hin zum Chaos sind (jedenfalls in der Wahrnehmung der Physik) fließend geworden. „Vielleicht“, fährt er fort, „ist das, was man jahrtausendelang als ‚Ordnung’ und als Norm bezeichnete, nur die Ausnahme inmitten statistischer Unwahrscheinlichkeit.“ Dann „wäre der Schluss erlaubt, Gesundheit sei die Ausnahme von Krankheit, Friede die Ausnahme von Krieg, Liebe die Ausnahme in einer Welt des Hasses.“344 Das hätte Konsequenzen für unser Verständnis von Gott und müsste uns nötigen, die Theodizeefrage, weshalb Gott Böses zulässt, in neuer Weise zu stellen. Denn richtet man das Phänomen der Unordnung als Frage an Gott, dann erkennt man, dass in den traditionellen Antwortversuchen Scheinlösungen nicht auszuschließen sind. Die Auskunft etwa, alles Leiden sei von Menschen verursacht, da Gott auf der Seite der Ordnung stehe, ist sicher ein Kurzschluss. Die Toten einer Erdbebekatastrophe kann man menschlicher Bosheit oder auch nur Unachtsamkeit nicht anlasten. Doch umgekehrt: Ist das Böse dann von allem Anfang an in die wohlgeordnete Schöpfung eingelassen? Eine Antwort auf die Frage nach dem Rätsel des Bösen – geschweige denn, was es seiner Natur nach ist – haben wir bisher nicht gefunden. Einen Schritt weiter – auch dies ein wichtiger Hinweis Ritschls – führt jedoch die Frage nach seinem ‚Sitz im Leben’: Lässt sich das Feld beschreiben, in dem das Symbol des Bösen seinen Ort hat? Wenn Paulus die Christen ermahnt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ (Röm 21,21), so rechnet er damit, 343 344

Ritschl, Zur Logik der Theologie, 1984, 65. Ebd., 67.

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1. Das Rätsel des Bösen

dass wir dem Bösen nicht machtlos ausgeliefert sind, sondern ihm Widerstand leisten können. Es gibt eine „Differenz zwischen menschlichem Können und menschlichem Verhalten“, und sie ist es, die offenbar das Feld absteckt, in dem sich das Böse manifestiert. In dieser Differenz, so Ritschl, liegen die „Freiräume für die Verwirklichung menschlicher Existenz jenseits biologischer und sozialer Bedingtheit [und damit] für die Verwirklichung des Bösen. Das Böse ist nicht eine Folge [dieser] Bedingtheiten, es ist vielmehr die Nichtbeachtung der Freiräume in der Fehleinschätzung des menschlichen Könnens“. Es handelt sich dabei um einen „Missbrauch der Freiheit“, der aber „nur in einem moralischen Urteil als ‚böse’ bezeichnet werden kann, nur gegenüber göttlichen oder menschlichen Gesetzen und Ordnungen“.345 Eine weitere Revision traditioneller Auffassungen hat sich uns im Gang der bisherigen Überlegungen aufgedrängt. Die Neuzeit – ich erinnerte an Kant – hat die Wurzel des Bösen im Subjekt, in den „Triebfedern“ und Motiven seines Handelns und nicht zuletzt in seinem freien Willen, gesucht. Das Böse „wohnt“ demzufolge im Menschen. Mit diesem Ansatz, so zeigte sich, kann man jedoch allenfalls das Phänomen der Sünde erklären, nicht aber die Kraft, aus der sie sich nährt und uns in ihren Bann schlägt. Versuchen wir daher, dem Rätsel des Bösen mit der umgekehrten These näher zu kommen: Der Mensch wohnt (auch) im Bösen. Was diese These meint, ist am ehesten von dem Volk zu lernen, das unter diesem Bösen am härtesten gelitten hat, den Juden des vergangenen Jahrhunderts. Auf den Versuch, das Böse zu verstehen oder zu erklären, sei es aus den Motiven von Hass und Neid oder aus einem Ressentiment, das in nackte Gewalt umschlägt, müssen wir verzichten. Wenn Bonhoeffer das Böse in 345

Ebd., 256.

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1.3 Das Böse: Ordnung oder Chaos?

der irreparablen Zerstörung der menschengerechten Schöpfung und ihren Ordnungen manifest werden sieht, dann hat Hannah Arendt, das jüdische Schicksal vor Augen, wohl Recht, wenn sie feststellt, dass wir das Böse am sichersten daran erkennen, „dass wir es weder bestrafen noch vergeben können, was nichts anderes heißt, als dass es den Bereich menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den Machtmöglichkeiten des Menschen entzieht“.346 Zwar machen auch Strafe und Vergebung angesichts von schuldhaftem Vergehen das Geschehene nicht wieder gut, wohl aber beenden sie den Kreislauf von Rache und Vergeltung, der sich aus dessen Folgen ergeben könnte. Sie ermöglichen die Kontinuität menschlichen Handelns und öffnen es für eine neu zu gestaltende Zukunft. Deshalb verläuft genau hier die von Arendt markierte Grenze. Taten, die wir nicht vergeben und darum in der Regel auch nicht bestrafen können, sind Taten, hinter denen sich keine Zukunft mehr auftun kann. Sie setzen den Ordnungszusammenhang des Lebens definitiv außer Kraft. Sie machen „alles weitere Tun unmöglich“, wie bereits Schiller in klassischer Prägnanz ausgesprochen hat: „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“ Darum sind wir dem Bösen gegenüber machtlos. Es „übersteigt“ den von uns beeinflussbaren „Bereich menschlicher Angelegenheiten“. Es etabliert eine Ordnung, richtiger: eine Gegenordnung, die den von uns in Freiheit gesetzten und anerkannten Regeln menschlichen Zusammenlebens abweisend und fremd gegenüber steht. An einem Vergleich, den man nicht überziehen darf, will ich die hier gemeinte Pointe erläutern: Kann man eine Krankheit bestrafen? Kann man eine Krankheit vergeben? Beides scheint völlig unangemessen zu sein – 346

Arendt, Vita activa, 307.

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1. Das Rätsel des Bösen

schon deshalb, weil die Krankheit kein Subjekt hat. Sie überfällt uns anonym wie ein Regenguss oder eine Hitzewelle. Doch was ist es, das uns da aus dem Gleichgewicht bringt? Man kann das Phänomen der Krankheit nicht als Abweichung eines Individuums von der Norm des Gesunden (als Mangel, privatio boni) definieren geschweige denn es als Folge einer solchen Abweichung erklären. Vielmehr scheint die Krankheit selbst so etwas wie eine Norm zu haben bzw. auszubilden, andernfalls wäre sie medizinisch gar nicht zu erforschen; man könnte sie nicht an bestimmten Symptomen erkennen (was immer deren Ursachen sein mögen). Die Norm des Gesunden definiert ein Regelsystem, das auf die Selbsterhaltung des Organismus zielt. Soll eine Störung des Organismus als Krankheit auffallen, dann muss sie ebenfalls – man denke etwa an den Krebs – „eine gewisse Selbsterhaltung als diese Krankheit“ zeigen. „Sie scheint also selbst so etwas wie ein Regelsystem vorauszusetzen, durch das sie selbst aufrechterhalten wird.“347 Eben hier liegt der Vergleichspunkt. Wir sind geneigt, das Böse als das Ungeordnete, Chaotische, d.h. als willkürliche und damit in sich regellose Zerstörung einer bewährten Ordnung aufzufassen. Wir verstehen es von dem her, was es vernichtet und zerstört, und zwar als dessen Negation. Doch damit unterschätzen wir es. Es manifestiert sich als ein parasitäres Regelsystem, das eine eigene Ordnung innehält, eine Ordnung, die mit den Regeln des normalen, gesunden Organismus inkommensurabel ist und darum weder durch dessen Sanktion, die Strafe, getroffen noch durch dessen Gegenwehr aufgehalten oder auch nur eingedämmt werden kann. Und mit der Krankheit hat das Böse auch dies gemeinsam, dass es  – bildlich gesprochen  – jedes 347

C.F .von Weizsäcker, Modelle des Gesunden und Kranken, 327.

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1.3 Das Böse: Ordnung oder Chaos?

Organ befallen kann. Es umspielt uns in unzähligen Masken, sogar im Gewand der Schönheit – man halte sich an die Kunstproduktion im Dritten Reich –, die uns durch die Reflexe des Narzissmus zu faszinieren vermag. Es versteckt sich in bürgerlichen Tugenden (Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Gehorsam), in Idealen, Erfolgen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Es kann ein rigoroses Pflichtgefühl ebenso durchdringen wie die Liebe zur Technik oder die Begeisterung am Sport. Deshalb vollzieht sich das Verhängnis in der Regel unbewusst, wir nehmen es immer zu spät wahr. Am Ende stehen wir fassungslos vor dem Ausbruch des Übels, das wir so wenig verstehen wie ein unbekanntes Krankheitsbild. Hier dürfte der Grund dafür liegen, dass man das Böse moralisch auf keine Weise zu fassen bekommt. Moral ist die von uns selbst entworfene Ordnung der praktischen, auf das Ziel des Zusammenlebens der Menschen gerichteten Vernunft. Das Böse entwirft seinen destruktiven Zielen entsprechend eine ebenso stabile, aber gewissermaßen anonyme Gegenordnung. „Was soll man mit dem Begriff des Mordes anfangen“ fragt Hannah Arendt angesichts von Auschwitz, „wenn man mit der Fabrikation von Leichen konfrontiert ist?“348  – durchgeführt von Mördern, die keineswegs aus mörderischen Motiven handeln, die nicht einmal wissen, was Mord ist, sondern die den millionenfachen Mord so organisieren, dass alle Beteiligten subjektiv unschuldig sind. Nicht zuletzt bildet das Böse auch eine eigene Rationalität aus. Man hat oft darauf hingewiesen, dass ohne den fabrikmäßig technischen Perfektionismus der Konzentrationslager der Massenmord nicht möglich gewesen­ wäre. Deshalb spricht Rubenstein von den

348

Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 912.

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1. Das Rätsel des Bösen

„technologischen Barbaren des 20. Jahrhunderts“.349 Es war nicht der gewissenlose Unmensch, der das Inferno entfesselt hat, sondern die Gewissenhaftigkeit einer Forschung, die nach Jahren der Vorbereitung ihr Ergebnis dem Auftraggeber zum Experimentum mortale ablieferte. Auschwitz ist auch das Symbol einer Wissenschaft, die sich für wertfrei hielt, weil sie nicht gelernt hatte, auf die Folgen ihres Tuns zu reflektieren. Mit der Verselbständigung ihrer Instrumente ist die Situation entstanden, die das Unheil möglich gemacht hat. Die wenigen, die über diese Instrumente verfügten (von „beherrschen“ kann ja im Ernst keine Rede sein), waren im Besitz einer gottgleichen Macht und übten sie mit einer jedes Menschenmaß übersteigenden Furchtbarkeit aus, und dieser Allmacht entspricht auf der Seite der Anderen eine völlig neuartige, so nie gekannte Ohnmacht. Günther Anders hat sie später (angesichts der atomaren Bedrohung) auf die Formel gebracht: „Wir sind heute nicht primär ‚sterbliche’, sondern ‚tötbare’ Wesen.“350 Kein Theoretiker der Moral hätte in früheren Jahrhunderten die Voraussetzung in Frage zu stellen gewagt, dass es Menschen geben werde und solle, und dass der Mensch als „Zweck an sich selbst“ (Kant) existiert. Dieses Fundament europäischer Ethik ist erst in Auschwitz aus den Angeln gehoben worden. Nichts demonstriert diese harte Wahrheit eindringlicher als das vielfach beschriebene Zeugnis, dass den Häftlingen das Letzte genommen wurde, was jeder Mensch sein eigen nennen kann, den individuellen Tod, den Sinn, den das Sterben immer hatte haben können. Die Lager – so Hannah Arendt – „schlugen gewissermaßen dem einzelnen seinen eigenen Tod aus der Hand, zum Beweise, dass ihm nichts mehr und er niemandem mehr 349 350

Rubenstein, Der Tod Gottes, 118. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, 405.

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1.3 Das Böse: Ordnung oder Chaos?

gehörte“351. Was diese Gemordeten verband, war nicht das Schicksal der Endlichkeit, zu dem wir uns fragend, trauernd oder auch protestierend verhalten können, sondern der anonyme Tod, der sie reflexionslos auslöschte. Das Böse, darauf wollen diese Überlegungen hinaus, hat seinen Wohnsitz gewechselt. Wir treffen es nicht mehr verkörpert in Individuen an, gegen die wir kämpfen könnten, sondern in anonymen Funktionskreisläufen, die diese Menschen instrumentalisiert haben: zu Robotern, die mit der teilnahmslosen Gleichgültigkeit von Maschinen ihre Opfer in den Tod trieben. Der physischen Vernichtung ging die Vernichtung der moralischen und der rechtlichen Person voraus, eine „Präparierung“ gewissermaßen, „die den einzelnen gleich gut für die Rolle des Vollstreckers wie für die Rolle des Opfers vorbereiten kann“.352 Das aber ist nur unter Bedingungen möglich, die den Raum des Handelns und damit die Wirklichkeit der Freiheit völlig zum Verschwinden bringen. In diesem Vorgang, sofern er sich überhaupt fassen und von seinen Ausstrahlungen her beschreiben lässt, tritt der Kern des Übels zu Tage. Es ist die abstrakte, durch kein logisches Argument und keine (in Kriegszeiten immerhin denkbare) Zweckmäßigkeitsüberlegung unterbrochene Zwangsläufigkeit, mit der sich dieser Prozess der Perversion und Dehumanisierung vollzogen hat. Er lief für alle aktiv und passiv Beteiligten mit einer von außen offenbar nicht zu erschütternden und darum am Ende nicht mehr in Frage zu stellenden Stimmigkeit ab. Der Realitätsverlust, die Zerstörung aller Sinnzusammenhänge, mit denen wir normalerweise rechnen, genauer: die Verachtung und systematische Außerkraftsetzung aller Maßstäbe, die uns „Wirklichkeit“ richtig einzuschätzen und angemessen mit ihr 351 352

Arendt, (Anm. 348), 930. Ebd., 961.

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1. Das Rätsel des Bösen

umzugehen lehren, scheint das am wenigsten sichtbare, aber untrüglichste Kennzeichen jenes Regelsystems zu sein, mit dem das Böse die Normalität des Alltags untergräbt. Ideologien, so sagt man, sind blind. Doch rührt die Blindheit in diesem Fall nicht (wie die Nacht, in der alle Kühe grau sind) von der Unterbestimmtheit der Wirklichkeit her, sondern im Gegenteil von ihrer grellen Überbestimmung. In dem Bewusstsein, den Schlüssel gefunden zu haben, mit dem sich die Rätsel der Geschichte lösen lassen, konstruierten die Mörder der Konzentrationslager und ihre Helfer ihre eindeutige, aber ins grotesk Einfache verzerrte Weltanschauung und erzeugten – noch einmal mit Hannah Arendt geredet – auf diese Weise „über der Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft“ eine Art von „Suprasinn, durch den in absoluter […] Stimmigkeit jede, auch die absurdeste Handlung und Institution ihren Sinn empfängt“.353 Hier bestätigt sich vollends, was die Schilderungen der schikanösen Zählappelle und Strafrituale ohnehin belegen, dass nicht ein Zuwenig an Ordnung, sondern ein Zuviel, nicht der Zerfall von Ordnungen, sondern ihre Überhöhung zu einem jede Spontaneität und damit die letzte subversive Regung erstickenden Regelement die des­ truktive Kraft des Bösen zugleich freisetzt und offenbart. Sie erschafft jene fiktive totalitäre Welt, in der allein der Versuch unternommen werden konnte, das Unmögliche, die Transformation des Menschen zu einem perfekt beherrschbaren Organismus möglich zu machen. Deshalb bedeutet „Auschwitz“ den Kontinuitätsbruch gegenüber aller bisherigen Geschichte. Denn das Unmögliche wollen, heißt ihr Ende, das Ende aller vorstellbaren Zukunft herbeizuführen. Mit den in ihren eigenen Traditionen bereitgestellten Mitteln des Den353

Ebd., 939.

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1.3 Das Böse: Ordnung oder Chaos?

kens und Handelns lässt sich dem hier manifest gewordenen Bösen denn auch nicht beikommen.

2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt? Für eine Erklärung des Bösen wird niemand die hier vorgetragene Interpretation halten. Ich habe versucht, das Böse gleichsam phänomenologisch nach seinen besonders auffallenden Manifestationen zu beschreiben. Kann man mehr tun? Am Bösen scheitern alle Kategorien. Dennoch haben Theologen und Philosophen immer wieder versucht, dieses dunkle Rätsel aufzuhellen. Denn wenn das Böse nicht einfach ein Mangel an Gutem (privatio boni) ist, sondern sich als eine Wirklichkeit sui generis geltend macht, dann, so argumentiert man, müsse es sich als Resultat des Wandels von einer ursprünglichen schöpfungsgemäßen Vollkommenheit zum Schlechteren hin verständlich machen lassen, und dieser Wandel wiederum könne nur zwei Ursachen haben: Entweder er ist die Folge eines nur vom Menschen verursachten „Falles“, den Gott lediglich zugelassen hätte. Dann wäre das Böse ein Privileg des Menschen, und seine Auswirkungen könnten Gott selbst nicht zur Last gelegt werden. Oder aber das Böse ist, wie Schelling lehrte, bereits im Akt der Schöpfung – gleichsam als dessen negative Bedingung und damit zugleich als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit  – grundgelegt. Dann fällt die Verantwortung für seine offenkundige Existenz unvermeidlich auf den „zulassenden“ Gott zurück. Wie also ist vom Bösen zu reden, dessen Wirklichkeit wir gleichwohl immer nur an einem anderen – Bonhoeffer erklärt: „ganz in der Schöpfungswelt verhüllt“ –

277

2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt?

erfahren? Eines haben die angeführten Beispiele immerhin deutlich gemacht, was auch frühere Erklärungsversuche wussten: Es kann kein Böses geben, wenn es nicht auch Gutes gäbe, hilfreiche Lebensordnungen, an denen es gewissermaßen „andockt“, was umgekehrt nicht der Fall sein kann. Das nämlich wird man vor Augen haben müssen, wenn man fragt, „wie es möglich sein könne, dass es [überhaupt] malum gibt, wenn Gott Gutes schafft und Böses durch Gutes überwindet“.354 Hier hat das Theodizeeproblem – es ist in seinem Kern eine an Gott gerichtete Frage – seinen Haftpunkt: Ist Er verantwortlich für alle Übel und Leiden der Erde? Wie sind repräsentative theologische Entwürfe auf diese Problematik eingegangen? Wie haben sie die Frage nach dem Bösen in seinem Bezug zu und auf Gott zu beantworten versucht? Davon soll im Folgenden die Rede sein. Was ist von diesen Entwürfen zu erwarten? Wenn sich das Böse als das schlechthin Sinnwidrige zeigt, das sich jeder Erklärung entzieht, dann kann auch eine theologische Deutung nicht die Lücke ausfüllen wollen, die wissenschaftliche, moralische oder psychologische Interpretationsversuche hier zwangsläufig offen lassen mussten. Sie hat keine Erklärung anzubieten für das, was sonst unerklärbar ist, und erst recht kein Sinnangebot zu machen für das, was evidentermaßen sinnlos ist. Das bedeutet allerdings nicht, auf jedes Verstehen zu verzichten. Die neuzeitliche Wissenschaft hat sich von den Instanzen getrennt, an denen ein solcher Versuch früher ansetzen konnte. Sie hat die Vernunftordnung des Kosmos oder den Schöpfungszusammenhang der Welt aus ihrem Fragehorizont methodisch ausgeblendet. Hier wird die Frage nach dem Bösen nicht mehr gestellt. Sie wandert ab in den Zuständigkeitsbereich der Ethik oder der Psychologie. Ob sie dort besser aufgehoben ist oder zuletzt ein Opfer anthropologischer Verkürzungen werden muss, darf man immerhin fragen. Wenn demgegenüber theologisches Nachdenken mit seiner Frage an Gott dort einsetzt, wo dieser Gott sich mit seinem Urteil über das, was in seiner Schöpfung nicht sein soll, zum Bösen in ein Verhältnis gesetzt hat, dann ist es jedenfalls in354

Dalferth, Malum, 506.

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2.1 Martin Luther: Das Böse in Gottes Hand sofern im Vorteil, als es das Problem dort verortet, wo es sich bereits im Tier- und Pflanzenreich rätselhaft genug meldet: an den Fundamenten der Konstitution unserer Welt.

2.1 Martin Luther: Das Böse in Gottes Hand Mit seltener Konsequenz hat Luther das Problem des Bösen von seinem Gottesverständnis her aufgerollt. Es findet seinen klarsten, freilich auch härtesten Ausdruck in dem Satz, dass Gott „alles in allem“ wirkt. „Lächerlich“ müsste Gott sein, wenn er nicht alles vermöchte und täte oder irgendetwas ohne ihn geschähe“ schreibt er in seinem Buch „Vom unfreien Willen“ (1525).355 Es ist die Alleinwirksamkeit, ja Allwirksamkeit, die ihn vor allen Kreaturen auszeichnet und gegen jeden Einspruch des Menschen sichern soll. In seinen unbeschränkten Wirkungsbereich fällt auch das Böse. Luther zieht hier die ganze Konsequenz: Wie Gott dem Menschen als überlegene Macht gegenübersteht, so ist von ihm auch das weit weniger Selbstverständliche zu sagen, dass er sogar das Böse und selbst den Teufel unter sich hat. Er wirkt, so heißt es an einer ebenso berühmten wie theologisch riskanten Passage, „notwendigerweise auch im Satan und im Gottlosen; er wirkt in ihnen so, wie sie sind und wie er sie vorfindet, […] so dass das Böse unter Gottes Antrieb geschieht“ (709). Es gibt eine Omnipotenz Gottes auch im Bösen. Auch Finsternis und Unheil der Welt kommen allein von ihm. Es gibt keinen Bereich der Natur, also kein Erdbeben, keine Hungersnot, und auch keinen Bereich der Geschichte, also keinen Krieg und keinen vorzeitigen Tod, der sozusagen im Schatten seiner Allmacht läge und seiner Herrschaft entzogen wäre. Das aber sagt Luther mit einem wichtiLuther, De servo arbitrio, WA 18. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf diesen Band der Weimarer Ausgabe. 355

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2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt?

gen Vorbehalt, einer bedeutsamen Einschränkung. Niemals darf das Böse als solches ursächlich auf Gott selbst zurückgeführt werden. Gott findet es vor, er ist nicht sein Urheber, wohl aber, so die erklärte These, behält er es in seiner Hand. Seine Allmacht bringt er dadurch zur Geltung, dass er dies Böse und seine Agenten (so den ägyptischen Pharao von Ex 5-13) in den Dienst seiner Weltregierung stellt. Hans Joachim Iwand hat wohl Recht, wenn er zu dieser Demonstration bemerkt, dass die so verstandene Allmacht „gerade die innerste Intention der Gottlosigkeit (vereitelt)  – das Freiwerden-Wollen von Gott“.356 Auch im Bösen hat es der Gott-lose mit Gott zu tun und kann der Aktion seines Treibers nicht entkommen (710). „Den ehernen Ring seines [des göttlichen] Wollens“ kann das Böse „nicht sprengen“.357 Niemand soll es ihm zuschreiben, niemand aber ihm die Verfügungsmacht über seine Einflusssphäre absprechen. Um das zu erreichen, verteilt Luther die Problemlast sozusagen auf beide Hände Gottes. Er unterscheidet zwischen Gottes rechter und seiner linken Hand, seinem eigentlichem und seinem fremden Werk (opus proprium und opus alienum). Diese Unterscheidung zweier gegensätzlicher Werke Gottes verbindet sich mit der für seine Theologie charakteristischen und folgenreichen Unterscheidung zwischen dem verborgenen und dem offenbaren Gott, dem Deus absconditus und dem Deus revelatus. Sie ist „bestimmend“, betont Eberhard Jüngel, „für Luthers Verständnis von derjenigen Verborgenheit Gottes, die den Menschen zur Verzweiflung bringt“.358 Denn namentlich in seinem befremdlichen Werk, dem opus alienum, nimmt sein verborgenes Wirken, das Kriege und Iwand, Einleitung. Erläuterungen, 299. Ebd., 298. 358 Jüngel, Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes, 173. 356 357

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2.1 Martin Luther: Das Böse in Gottes Hand

Katastrophen der Weltgeschichte einschließt, grauenvolle Züge an, die an das heidnische Schicksal erinnern. Dieses Grauen steigert sich noch, wenn man nach dem göttlichen Willen fragen wollte, der das befremdliche Werk des Zerstörens und Niederreißens auslöst. Das aber darf und soll man nicht tun. Hier hat Luther eine entscheidende letzte Barriere aufgerichtet, die man nicht überspringen darf, wenn man ihn verstehen will: Es gibt diesen Willen, aber er bleibt uns in jeder Hinsicht verschlossen. Darum die Warnung: „Quae supra nos, nihil ad nos!“ – Was dir zu hoch ist, das lasse ungeforschet! (685). Wer hier Auskunft bekommen wollte, stünde vor einer absoluten theologischen Schranke. Denn da, so Luther, hat Gott sich selbst „nicht in Grenzen eingeschlossen“, das heißt: sich als Gott  – „durch sein Wort!“ – gar nicht definiert, „sondern hat sich die Freiheit seiner selbst über alles vorbehalten“ (685). Hier stoßen wir auf das zentrale theologische Problem dieses Entwurfs, das eine Antwort auf die Frage nach Ursprung, Herkunft und Wesen des Bösen unmöglich macht. Luther bewegt sich mit seinen Ausführungen (wie er selbst weiß) aus dem Bereich heraus, in dem Gott sich fassbar gemacht, sich als „unser“ Gott zu erkennen gegeben hat. Eberhard Jüngel hat diese Spur aufgenommen und die von Luther offen gelassene Frage nach der Herkunft des Bösen zu beantworten versucht, indem er die Rede von „der dunklen Verborgenheit Gottes nur im Blick auf sein [Grauen erregendes] Werk“ gelten lassen will – in der Hoffnung, dass dieses verborgene Wirken Gottes „im eschatologischen Licht der Herrlichkeit“ seine „Aufklärung“ finden werde.359 Es gebe „ein Wirken Gottes, das gerade keinen Rückschluss auf Gott selbst erlaubt“. Für eine Lösung des Problems wird man diese 359

Jüngel, Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes, 176.

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2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt?

Auskunft jedoch kaum halten können, auch wenn man sie auf der Linie der reformierten Theologie verstehen wollte: Was contra Deum, d.h. gegen Gottes Willen geschieht, geschieht doch nicht praeter Deum, d.h. an seinem Willen vorbei.360 Denn die hier behauptete Unterscheidung, um nicht zu sagen: Trennung von Gottes Werk und Gottes Sein muss zu problematischen Konsequenzen führen. Wann sollte man Gott nicht auf sein Wort und sein Tun festlegen können, die doch die einzigen Quellen sind, aus denen und durch die wir ihn kennen? Eine Antwort auf die Frage nach dem Bösen und seinem Woher haben wir nicht gefunden. „Diese Seite des Problems berührt Luther kaum.“361 So bleibt es bei der Feststellung: Das Böse ist ein Fremdkörper in der göttlichen Ökonomie; aber Gott behält es in seiner Hand.

2.2 Paul Tillich: Das Böse als Bedingung kreatürlicher Existenz (Entfremdung) Die Problemstellung hat sich im 20. Jahrhundert – nicht zuletzt unter dem Einfluss existentialistischer Strömungen – verändert. „An die Stelle der Theodizee“, so beschreibt Walter Sparn die neue Situation  – „tritt programmatisch die radikale Teilnahme der Theologie an der Situation des modernen Menschen“.362 Einer der profiliertesten Vertreter dieses Wandels ist Paul Tillich. Mit der Schärfe des philosophisch geschulten Bewusstseins macht er die Probleme der kreatürlichen Existenz zum Perspektivpunkt seiner Interpretation. Dabei richtet sich die Frage nach dem Bösen nicht schon an den MenWolleb, Christianae Theologiae Compendium. So mit Recht Iwand, Einleitung. Erläuterungen, 299. 362 Sparn, Leiden, 249. 360 361

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2.2 Paul Tillich: Das Böse als Bedingung kreatürlicher Existenz

schen und seine fehlgeleitete Freiheit, sondern  – ihr vorgeordnet – an den „Grund“, dem er sein Dasein verdankt und dem die „tragische Universalität [seiner] Existenz“ entspringt (I, 51).363 Sie hat im Symbol der „gefallenen Welt“ (II, 51) ihren theologischen Niederschlag gefunden. Dabei erklärt der traditionell an die Spitze gestellte Fall der Engel hier gar nichts. Dessen Wahrheit reduziert sich auf die Feststellung, dass Engel und Dämonen „mythologische Namen“ sind „für überindividuelle Strukturen des Guten und […] des Bösen“ (II, 47), für „Seinsmächte“, deren Ursprung man im Prozess der Schöpfung selbst aufsuchen muss – eine bemerkenswerte Abkehr vom augustinischen und neuzeitlichen Subjektivismus. Ohne eine grundlegende Aussage über die Beziehung von Gott und Welt ist die Frage nach dem Bösen als „Frage, die im Wesen des Geschöpfes als Geschöpf liegt“ (I, 291), gar nicht zu beantworten. Zum Ausgangspunkt seiner Interpretation nimmt Tillich daher die dogmatische Formel der „Schöpfung aus dem Nichts“ (creatio ex nihilo). Er greift in seiner Auslegung auf Jakob Böhmes These vom „Ungrund“ und Schellings Potenzenlehre zurück, in deren Hintergrund die (auch von H. Jonas rezipierte364) kabbalistische Vorstellung von der Kontraktion Gottes steht, durch die – gleichsam als partielle Negation des göttlichen Seins  – jenes nihil ins Dasein tritt, das die Schöpfung ermöglicht. Diese Tradition also kennt ein Nichtsein, ein „negatives Element“ im göttlichen Grund der Schöpfung, das, so interpretiert Tillich, sich universal an und in der Welt auswirkt: Das „Stigma des aus dem Nichts Hervorgegangenseins ist jedem Geschöpf aufgedrückt“ (I, 221). Es Tillich, Systematische Theologie. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf dieses Werk. 364 S.o. Teil II, 4.2, 205. 363

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2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt?

manifestiert sich in der „Tragik“ aller menschlichen Existenz als „Erbteil des Nichts“. Deshalb findet die Frage nach dem Bösen, und das ist in ihrem Kern „die Frage nach der Theodizee“, ihre endgültige Antwort erst im „Mysterium des schöpferischen Grundes“ (I, 311). Was hat es mit diesem Mysterium der Teilnahme Gottes „an den negativen Zügen kreatürlicher Existenz“ auf sich? Um Tillichs ebenso originelle wie eigenwillige Interpretation zu verstehen, muss man auf Schelling zurückgreifen, insbesondere auf dessen Schrift über „Das Wesen der menschlichen Freiheit“ (1809), die man in gewissem Sinne als Vorlage lesen kann. Schelling hat es mit der ihm eigenen Genialität fertiggebracht, Gottes gute Schöpfung und den „Einbruch“ des Bösen aus ein und derselben Wurzel verständlich zu machen, das heißt Gott und das Böse einander dialektisch zuzuordnen. Denn um eine Welt zu erschaffen, muss Gott sich einer Bedingung unterwerfen, ohne die eine frei sich entfaltende nicht-göttliche (und darum für den Einbruch des Bösen anfällige) Schöpfung gar nicht denkbar ist. Dazu unterscheidet Schelling zwischen einem doppelten Willen in Gott. Das ist einmal der Wille des Grundes, der die Schöpfung in ihre eigenständige, von ihm sich emanzipierende Existenz treten lässt. Indem er den Eigenwillen der Kreatur erregt, führt er zur Trennung vom Ursprung und schließt somit das Geheimnis des Bösen, die Entfremdung von Gott, in sich. Ihm gegenüber tritt der Wille der Liebe, der das von Gott getrennte Dasein wieder mit ihm zu versöhnen sucht, der also dem wirksam gewordenen Bösen als lebendige Kraft entgegenarbeitet. Beides gehört zusammen: „Der Grund muss wirken, damit die Liebe sein könne, und er muss unabhängig von ihr wirken, damit sie reell existiere.“365 Denn Liebe – das ist der philosophisch zwingende Grundge365

Schelling, Das Wesen der menschlichen Freiheit, 375.

284

2.2 Paul Tillich: Das Böse als Bedingung kreatürlicher Existenz

danke – gibt es nur, kann es nur geben, weil es Entzweiung gibt. In der Entzweiung hat auch sie ihren Grund, „damit der [göttliche] Geist als Wille der Liebe […] ein Widerstrebendes finde, darin er sich verwirklichen könne“. Deshalb ist das „Wirkenlassen des Grundes“ auch der „einzig denkbare Begriff der Zulassung, welcher in der gewöhnlichen Beziehung auf den Menschen völlig unstatthaft ist“.366 Es ist wichtig zu sehen, dass in dieser „Erklärung“ kein Schatten eines Vorwurfs auf Gott fällt. Denn nur die Möglichkeit des Bösen lässt sich von ihm her verständlich machen, sofern der Wille des Grundes nur auf „die Erweckung des Lebens“ zielt, das sich in Freiheit entfalten will, das „Böse unmittelbar und an sich“ jedoch gar nicht betrifft.367 Das vielmehr geht in jedem einzelnen Fall aus dem (freilich von Gott erregten) Eigenwillen der Kreatur hervor. Es ist „nichts anderes als der Urgrund zur Existenz, inwiefern er im erschaffenen Wesen zur Aktualisierung strebt“368, und ist so verstanden zugleich eine (negative) Bedingung aller kreatürlichen Existenz. Während jedoch Gott die Bedingung, die seine „persönliche Existenz“ als Schöpfer ausmacht, „in sich“ trägt, bekommt der Mensch seine Bedingung, die Existenz einer unabhängig von ihm bestehenden Welt, „nie in seine Gewalt, ob er gleich im Bösen danach strebt“. Daraus erklärt sich „die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, und wenn in Gott eine wenigstens [relative] unabhängige Bedingung ist, so ist in ihm selber ein Quell der Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut [Tillichs „Tragik“], der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens. Ebd., 375f. Ebd., 400. 368 Ebd., 378. 366 367

285

2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt? Freude muss Leid haben, Leid in Freude verklärt werden. Was daher aus der bloßen Bedingung oder dem Grunde kommt, kommt nicht von Gott, wenn es gleich zu seiner Existenz notwendig ist.“369

Leiden und Schwermut der Schöpfung und deren Wurzel, das Böse, kommen mithin nicht von Gott. Wohl aber gehören sie zu den Bedingungen, ohne die er nicht schöpferisch hätte tätig werden können. Tillich hat sich dieser philosophisch imponierenden Argumentation angeschlossen. Auch er geht davon aus, dass das Böse seinen Ursprung im „Prozess des göttlichen Lebens“ hat, der auch „das Endliche und mit ihm das Nichtsein umschließt“ (I, 311), ohne jedoch kausal von Gott bewirkt zu werden. Andererseits kann Gottes Leben nicht als „tote“ Identität begriffen werden. Es muss in sich selbst – das erst macht es zu einem schöpferischen Leben – dem Anderssein Raum gewähren. Es ist nicht in sich verschlossen, sondern zur Kreatur hin geöffnet, und zwar so, dass es an jedem geschöpflichen Leben partizipiert, ja geradezu als „Prinzip der Partizipation“ (I, 283) angesprochen werden kann. Folglich wirkt sich das „negative Element“ in Gott, das den Schöpfungsvorgang anstößt, auch auf die Kreaturwelt aus. Doch „während es in Gott [durch Liebe] überwunden ist, ist es im Geschöpf nicht überwunden, sondern als mögliche Zerspaltung wirksam“ (I, 285). In ihm treten, anders als in Gott, Potentialität und Aktualität definitiv auseinander. Deshalb kann sein Versuch, „zu verwirklichen, was es wesensmäßig ist“ (I, 294), nicht gelingen. Denn in dem Maß, in dem es seine eigenständige Existenz zu gewinnen sucht, muss es sich von seinem schöpferischen Grund entfernen. Das bedingt die für Tillichs Schöpfungslehre und Anthropologie so charakteristi369

Ebd., 399.

286

2.3 Karl Barth: Das Böse als Nichtiges

sche Spannung von Essenz und Existenz. Sie betrifft in gleicher Weise Mensch und Natur. Mit dem unvermeidlichen Übergang von der Essenz (dem, was die Kreatur nach ihrem göttlichen Entwurf sein könnte) zur Existenz, in welcher sie ihre endliche Selbständigkeit und Freiheit verwirklicht, vollzieht sich der (Sünden-) „Fall“, der Einbruch des Bösen, den wir als Entfremdung erfahren (II, 52ff.). Denn die Entfernung von Gott hat die Entfremdung von sich selbst zur Folge. „Schöpfung und Fall koinzidieren“ (II, 51). Das begründet die tiefe Zweideutigkeit der Schöpfung, die unser Leben durchdringend bestimmt. Umgekehrt zeigt sich „erst im Bezug auf Gott das eigentliche Böse im Leben des Menschen, das all seinem Übeltun und Übelerleiden zugrunde liegt“.370 Diese in sich „stimmige“ Lösung des Problems ist allerdings mit einer Prämisse erkauft, die sich die Theologie nicht gut zu eigen machen kann. Tillich setzt (wie vor ihm Schelling und Kierkegaard) voraus, dass die Sünde, die Trennung von Gott, die schlechthin notwendige Bedingung für das Auftreten kreatürlicher Freiheit ist. Wer diese neuzeitliche Prämisse bestreitet, wird die Frage nach Gott anders stellen und anders beantworten müssen, als Tillich es getan hat. Dies noch einmal versucht zu haben, macht den besonderen Rang des theologischen Entwurfes aus, den Karl Barth in seiner Providenzlehre vorgetragen hat.

2.3 Karl Barth: Das Böse als Nichtiges Karl Barth begreift die unbestreitbare Realität des Bösen mit einem „nur mythologisch beschreibbaren“ (E. Jüngel) Ausdruck als das Nichtige, das „dem Willen des Schöpfers und darum auch der guten Natur seines Ge370

Dalferth, Malum, 352.

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2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt?

schöpfes feindlich entgegengesetzt“ ist (327).371 Es wird auch hier als „Fremdkörper“ eingeführt und angesprochen. Das aber bedeutet  – ein wichtiger methodischer Unterschied gegenüber Tillich! –, dass es sich weder aus einer Phänomenologie der uns bekannten Schöpfung noch aus der Empirie menschlichen Verhaltens, den Gestalten der Sünde, also ontologisch auf keine Weise verständlich machen, geschweige denn erklären lässt. Es bleibt auch unter der Herrschaft des Schöpfers ein „fremder Faktor“ (328), eine „eigene dritte Weise“ des Seins und somit gegenüber dem Schöpfer und seinem Geschöpf ein „drittes Wirkendes“, kenntlich daran, dass es im Widerspruch zu Gottes Erhaltung und Bewahrung der Schöpfung darauf gerichtet ist, die Kreaturwelt zu unterminieren und zu zerstören. Seine Existenz und Wirksamkeit „ist ja auch objektiv der Bruch im Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf“ (332). Denn wer dem Bösen ins Auge sehen will, wie könnte er im gleichen Augenblick Gottes Angesicht schauen? Müsste nicht jeder Versuch, es auf die eine oder andere Weise mit Gott zusammenzubringen, seinen zerstörerischen Charakter verkennen und damit Gott aufs höchste zweideutig machen? Doch umgekehrt: Kann man seine Existenz und Wirksamkeit allein aus der Aktivität der Geschöpfe herleiten und Gott von jeder Verantwortung für diese bedrohliche Realität entlasten, ohne seine Herrschaft damit auf ein bloß passives Zulassen beschränken? Es ist eine Gratwanderung, auf die sich die Theologie einlassen muss, um an diesen beiden Gefahren vorbeizukommen. Der gravierendere, theologisch auf jeden Fall zu vermeidende Fehlweg – man halte sich an die breit geführte Auseinandersetzung mit Leibniz (360ff.) und Schleiermacher (365ff.) – ist offensichtlich der VerBarth, KD III/3, 1961. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf diesen Band. 371

288

2.3 Karl Barth: Das Böse als Nichtiges

such, das Böse als ein notwendiges und darum von Gott gleichsam eingeplantes Element zur Ausbalancierung der bestmöglichen Welt in Rechnung zu stellen oder aber die Anfälligkeit des Menschen, ihm in und mit seiner Sünde Raum zu geben, als eine bloße „Unkräftigkeit bzw. Gehemmtheit“ unseres Gottesbewusstseins zu erklären. Das Böse lässt sich deshalb nicht schon vom Guten her als dessen Mangel (privatio boni) verständlich machen (obwohl es ohne Gutes auch kein Übles geben kann), sondern ist in einem durchaus anderen Sinne „wirklich Privation: Raub an Gottes Ehre und Recht und zugleich Raub am Heil und am Recht des Geschöpfes“ und so verstanden „in seiner Gestalt als Sünde wie in seiner Gestalt als Übel und Tod gerade nicht als Naturvorgang erklär(bar)“ (408). Es ist „zuerst und vor allem Gottes eigenes Problem“ (409). So bleibt am Ende nur der Weg, die Frage nach dem Bösen von dessen Verhältnis zu Gott her aufzurollen. Diesen Weg hat Barth  – trotz mancher in der neueren Literatur namhaft gemachter Unklarheiten und irreführender Behauptungen372  – mit großer Konsequenz und einem bis dahin unerreichten Problembewusstsein beschritten. Barth greift in seiner Interpretation auf die Erwählungslehre, das heißt hinter jede empirisch denkbare Auskunft zurück. Das Böse, so lautet seine paradox formulierte These, hat seinen „Ursprung“ (wenn man denn so reden darf) im Akt des göttlichen Verneinens, es ist das, was nicht sein soll. Man versteht es nur, wenn man es als „das durch Gottes Ja zu seinem Geschöpf Verneinte, Verworfene und zum Scheitern Verurteilte erkennt“.373 Gott hat es bereits im Akt der Schöpfung als „Chaos“ hinter sich gelassen; es kann nur in der durch Krötke, Sünde und Nichtiges, 38.41.45; Wüthrich, Gott und das Nichtige, 56.132f.; Dalferth, Malum, 506f. 373 Jüngel, Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes, 177. 372

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2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt?

diese Entscheidung ihm zugewiesenen „Negativität“ wirklich sein (84). Dementsprechend hat es als das Nichtige von vornherein einen prekären Status: „Es hat keinen Bestand, so gewiss es nicht von Gott geschaffen ist. […] Es hat keine Substanz: woher sollte es sie haben, da Gott sie ihm gerade nicht geben, da er es nicht erschaffen wollte? Es hat nur seine Leere: wie sollte es nicht leer sein, da es nur unter Gottes Unwillen ist, was es ist? So hat es Sein, Gestalt und Raum zu Gottes linker Hand als Gegenstand seines opus alienum.“ (147)

Die letzte dieser negativen Bestimmungen erinnert an Luther. Doch darf man sich dieses „fremde Werk“ nicht so vorstellen, als hätten wir es hier mit der Hand eines im Dunkel agierenden verborgenen Gottes zu tun, der das Böse (was Luther seinen Lesern zugemutet hat) als Instrument in seinen Dienst hätte stellen wollen, um seinen allmächtigen Willen durchzusetzen. Den Widerspruch zu dem in Christus offenbaren Gott hat Barth vermieden. Er hat vielmehr das untrügliche Kennzeichen des Nichtigen geradezu definitionsmäßig an ein christologisches Kriterium gebunden, es also vom Evangelium her als solches ausgewiesen: Das Nichtige, erklärt er, ist die ‚Wirklichkeit’, „um deretwillen (nämlich im Gegensatz zu der) Gott selbst in der Geschöpfwelt Geschöpf werden, der er sich in Jesus Christus selbst stellen und unterwerfen“ wollte  – mit der Konsequenz: „Was Christus ans Kreuz gebracht und was er am Kreuz besiegt hat, das ist das wirklich Nichtige“ (346). Die Auseinandersetzung mit ihm wird in und aus der „Mitte aller christlichen Wirklichkeit und Wahrheit“ geführt (416). Schärfer lässt sich nicht betonen, dass das Böse eben nicht zur guten Schöpfung gehört und deshalb auch nicht, wie in der neueren Diskussion häufig argumentiert wird, als „Preis der Freiheit“, das heißt als eine geschöpfliche Möglichkeit des Menschen, ausgegeben werden kann, die in seiner Freiheit als Selbstbestimmung gründet.

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2.3 Karl Barth: Das Böse als Nichtiges

Und doch meldet sich schon in der missverständlichen Formel von „Gottes Werk zur Linken“ (opus alienum) ein nicht leicht zu nehmendes Problem. Man muss ja nur mit Jüngel fragen, ob Barths Versuch, das Dasein des Bösen mit Gottes Verneinung, es also „letztlich vom Tun Gottes her verstehbar zu machen“, eben dieses Tun, „gerade weil er es nicht als verborgenes Tun Gottes gelten ließ, ins Zwielicht gebracht hat“.374 Barth spricht jedenfalls in einem durchaus verschiedenen Sinn von der Verneinung des Nichtigen: Einmal ist es das, „was nicht sein soll“; in der Erwählungslehre hingegen erscheint es als dasjenige, dem durch die Scheidung von dem, was Gott als das Gute erwählt hat, „gerade […] eine Art Existenzmöglichkeit und Existenzwirklichkeit eingeräumt und verschafft wird“.375 Das Nichtige wäre dann, was die Rede vom opus alienum ohnehin nahelegt, die „reale Entsprechung des göttlichen Nichtwollens“ (406), und demzufolge müsste Gott selbst  – entgegen Barths ausdrücklicher Intention – zuletzt doch in eine quasi kausale („reale“) Verbindung mit ihm gebracht werden. Diese Behauptung aber stünde in einem unaustragbaren Widerspruch zur Basisthese seines Entwurfs, dass Gott nur als der kompromisslose Feind des Bösen angesprochen werden kann. Dennoch hat dieser Entwurf seine unbestreitbaren Stärken. Das Böse kommt faktisch keinen Augenblick als ein selbständiges zweites, mit Gott konkurrierendes Prinzip in Betracht. Nur „zur Linken Gottes“ heißt hier: nur als „Gegenstand […] seines Eiferns, Zürnens und Richtens“ (407) hat es ein Existenzrecht. Und das bedeutet: Zwar sind wir selber oft genug Initianten und Akteure des Unheils unserer Geschichte, doch selbst als 374 375

A.a.o (Anm. 373), 177. Barth, KD II/2, 185.

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2. Ist Gott verantwortlich für das Böse der Welt?

Handlanger des Nichtigen agieren wir im Schatten eines Anderen. So heißt es in einer Paraphrase der von ­Luther entlehnten Metapher: Gott „ist der Herr zur Rechten und zur Linken. Nur von da aus ist auch das Nichtige. Aber von da aus ist es. Indem Gott auch zur Linken Herr ist, ist er der Grund und Herr auch des Nichtigen. So ist auch das Nichtige nicht von ungefähr. Und es ist kein zweiter Gott. Und es hat sich nicht selbst erschaffen. Es hat keine Macht, die ihm nicht von Gott gegeben wäre. Auch es ist von Gott.“ (405)

Eine Aussage an der Grenze des Denkbaren! Aber man muss genau lesen: Barth sagt nicht, das Böse stamme von oder gar aus Gott. Er sagt auf der Linie von Joh 19,11 – das verbindet ihn mit Luther – sehr viel zurückhaltender, es hätte „keine Macht“, wenn sie ihm nicht „von oben herab“ verliehen wäre. Es existiert contra, aber deshalb doch nicht praeter Deum. Wohl ist es mitten in der Schöpfung präsent, aber nicht, wie die Tradition erklärte, unter Gottes (unvermeidlicher) Zulassung, sondern (was etwas ganz anderes ist) unter Gottes Verfügung. Schon deshalb besteht kein Anlass, Gott aus dem Dunkel der Geschöpfwelt herauszuhalten, wohl aber verbietet sich jeder Gedanke an eine Komplizenschaft Gottes mit dem Bösen. Wenn er bei dessen Exzessen nicht einfach abseits steht, wenn er  – sei es denn  – sogar „in“, aber gewiss nicht „mit“ ihm wirkt, dann so, dass er der ihm innewohnenden Dynamik entgegentritt und ihm die „Fülle“ seiner möglichen Manifestationen „verbietet“. Denn der einzige, allerdings entscheidende Zusammenhang zwischen Gott und dem Bösen ist das Kreuz Jesu Christi. So hat die Theologie m.E. gute Gründe, gegenüber den spekulativen Entwürfen, die in der Schule Hegels und Schellings entwickelt worden sind, dem biblischen Ansatz Karl Barths den Vorzug zu geben. Zwar kann (und will) er das philosophische Bedürfnis, das Böse

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2.3 Karl Barth: Das Böse als Nichtiges

(selbst im Gewand einer Rechtfertigung Gottes) zu erklären, nicht befriedigen. Seine Herkunft und das Faktum seiner Existenz müssen wir als ein dunkles Rätsel stehen lassen. Es wird als eine „von Gott her unerklärliche Wirklichkeit“ verstanden, die jedoch „als solche eindeutig und präzise beschrieben werden“ kann.376 Dennoch erhebt dieser Entwurf nicht den Anspruch, die vorfindliche Wirklichkeit unserer Welt zu entschlüsseln, geschweige denn zu rechtfertigen. Vielmehr ist das breit ausgeführte Lehrstück ganz darauf angelegt, die Auseinandersetzung Gottes mit dem Bösen im Zeichen der Versöhnung, seinen Sieg über das Nichtige am Ort von dessen scheinbar höchstem Triumph im Tode Christi, als das entscheidende, hier namhaft zu machende Ereignis herauszustellen. Deshalb lässt sich die Frage nach dem Recht und der Existenz des Bösen auch nicht „von außen“ stellen und beantworten. Von beidem kann nur im „Rückblick“ darauf geredet werden, dass dieser ‚Fremdkörper’ durch die in Jesus Christus erschienene Liebe Gottes „widerlegt und erledigt“ ist, und dass „in Christi Wiederkunft eben diese Widerlegung und Erledigung allgemein offenbar werden wird“ (423).

3. Die Überwindung des Bösen Das große biblische Symbol christlicher Hoffnung, dass Leiden und Übel der Erde nicht das letzte Wort behalten werden, ist die Verheißung des kommenden Gottesreiches, in dem „kein Geschrei, noch Leid, noch Schmerz“, ja selbst der Tod nicht mehr sein wird (Offb. 21,4). Dass dieses Reich nicht erst in utopischer Zukunft auf uns 376

Krötke, Sünde und Nichtiges, 101.

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3. Die Überwindung des Bösen

wartet, sondern sich schon in der Gegenwart geltend machen will, wie ja auch die Theodizeefrage den Blick auf das Heute unserer Welt richtet, ist die feste Überzeugung des Neuen Testaments. Eine theologische Aufarbeitung des Theodizeeproblems wird sich daher der Frage der Überwindung des diesseitigen Bösen unter den Bedingungen der Gegenwart, und zwar am Ort des Bösen selbst, stellen müssen. Das unterscheidet sie von dem traditionellen philosophischen Diskurs, in dessen wie immer gesuchten „Lösungen“ dieses Thema auch nur als Möglichkeit nicht vorgesehen ist. Wer diese Frage stellen will, wird das, was zu den „Bedingungen der Gegenwart“ zu sagen ist, weiter fassen müssen, als es im Rahmen traditioneller Philosophie geschieht. Was wir als Gegenwart erfahren, ist ja immer mehr als das Faktische, das uns von der Vergangenheit her determiniert. Es ist umgeben von einem Horizont offener Möglichkeiten, auf die sich unsere Erwartungen und Hoffnungen ausstrecken und die uns von vorn her bestimmen. Wäre es anders, ließen sich geschichtliche Krisen, im Alten Testament die Krise des Exils, im Neuen die des gewaltsamen Todes Jesu, die Krise des Kreuzes, nicht bewältigen. Die theologische Perspektive ist von ihren Anfängen an von den Erfahrungen der Geschichte und den in ihr gemachten Entdeckungen geprägt. Sie erwartet, pointiert gesagt, den Einbruch der „Fülle der Zeit“ in unsere auf Erfüllung noch wartende Zeit (Gal 4,4). So wird die Theodizee zu einem Thema der Eschatologie. Von den Entdeckungen, die auf diesem Wege die Arbeit auch am Gottesbegriff motiviert und angetrieben haben, soll in den folgenden Abschnitten die Rede sein.

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3.1 Noch einmal: die Frage nach dem Bösen

3.1 Noch einmal: die Frage nach dem Bösen Schon die Frage, was denn das Böse ist, um dessen Überwindung es geht, stellt sich im Rahmen der geschichtsbewussten biblischen Traditionen anders und darum auch noch einmal anders, als in der Problemskizze des ersten Abschnitts dargestellt wurde.377 Nicht alles, was uns anstößig, unzweckmäßig oder gefährlich erscheint, enttäuschte Liebe, ausbleibender Erfolg, übermäßige Arbeitslast, kann dieser Kategorie zugeschlagen werden. Vollends Leibniz’ These, dass schon die Endlichkeit als solche (als malum metaphysicum) dazu gehöre, lässt sich theologisch nicht gut rechtfertigen, ist sie doch von Gott mitsamt ihren Schattenseiten als gute Schöpfung ausgezeichnet worden. Überdies kann kein Phänomen von sich aus als böse qualifiziert werden, schon weil es unter einem anderen Aspekt – etwa einer Verspätung, die mich davor bewahrt, ein Flugzeug zu besteigen, das im Nebel an einer Felswand zerschellt – durchaus als gut erscheinen wird. Insbesondere auf dem weiten Feld des religiösen Umgangs mit Bösem muss eigens erfragt und entdeckt werden, was im Verhältnis von Gott und Mensch hier jeweils auf dem Spiel steht. Hier gilt erst recht, dass nicht alles, was wir als abträglich und böse beurteilen, vor Gott ebenso ins Gewicht fällt. Paulus kann Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger und Gefahren  – Inbegriff des Bösen für wohl jeden Menschen – ganz anders wahrnehmen und erleiden, weil sie ihm als Zeichen der innersten Verbundenheit und Gemeinschaft mit Christus gelten (2 Kor 4,10; Phil 2,20). Für ihn zählt weder der Gedanke an irgendeine Art der Kompensation noch der Wunsch, von seinen Entbehrungen und Leiden befreit zu werden. Stattdessen gelingt es ihm, sich selbst angesichts der auf ihn eindrängenden Übel neu zu verstehen und dadurch 377

III. 1, besonders 272ff.

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3. Die Überwindung des Bösen

eine neue Einstellung zu ihnen zu gewinnen. Damit ist ein wichtiger Hinweis auf den Maßstab, an dem sich das Böse erkennen lässt, gegeben: Es sind dies offenbar nicht schon unsere Erfahrungen und Empfindungen und unsere daraus abgeleiteten Urteile. Die Instanz, es als solches zu identifizieren, ist vielmehr das von Gott uns angebotene Gute, das imstande ist, das Böse zu überbieten. Schon von Barth war zu lernen, dass keine Untersuchung weltlicher Phänomene uns auf die Spur des wirklich „Nichtigen“ führen kann. Es ist, theologisch begriffen, das von Gott Verneinte, das von ihm Verworfene und zum Scheitern Verurteilte. Umgekehrt wird man daraus folgern dürfen: Was uns von Gott, der Quelle des Guten, trennt und die Gemeinschaft mit ihm untergräbt (und das ist zum Glück nicht bei jedem uns widerfahrenden Übel der Fall), das ist das hier gemeinte Böse, das wir durch Gutes überwinden sollen (Röm 12,21). Das Problem wird allerdings dadurch noch einmal erheblich erschwert, dass Gott selbst in den Zusammenhang des Bösen involviert zu sein scheint. Angesichts dessen, dass er nach biblischen Zeugnissen den Vernichtungsbann über ganze Städte anordnet und sie bis hin zu Frauen und Kindern ausrotten lässt (Dtn 7,20; 20,16f.); dass er Hungernöte, Pest, Krankheit und Tod über ganze Völker bringt (Jer 14,12)378 und Fromme wie Hiob ärger als den schlimmsten Feind behandelt, könnte eine Überwindung des Bösen in seinem Namen geradezu als ein Selbstwiderspruch erscheinen. Das Gute, an das Paulus appelliert, liegt also nicht auf der Hand, erfüllt sich nicht in der Vorstellung einer harmonischen „heilen Welt“, sondern kann nur im Durchgang, und das heißt zugleich im Aushalten und Ertragen einer konfliktgeladenen Welt, einer Welt voller Widersprüche, gesucht und entdeckt werden, der378

Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes 1, 77ff. 99ff.

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3.2 Theologische Entdeckungen des Guten

selben Welt, in der sich das Verständnis des menschenfreundlichen Gottes gerade am Kreuz von Golgatha erschlossen, also in einem Prozess mannigfacher Umbildungen geklärt hat. Gegenüber dem philosophischen ist das biblische Gottesverständnis insofern sehr viel beweglicher und darin auch aufgeklärter, als es mit geschichtlichen Entdeckungen rechnet, die zu dem hier entscheidenden Merkmal des Guten geführt haben, das allein imstande ist, das Böse zu überwinden. Es sind dies Entdeckungen, in die Menschen mit ihren Erfahrungswegen, ihren Lebens- und Gotteskrisen, von Anfang an involviert waren. Erst die anhaltende Arbeit am Gottesbild und am Gottesbegriff, ausgelöst etwa durch Jesjas Verkündigung des großen Abbruchs, dem alle Geschichte entgegeneilt (Jes 2, 10-21), oder durch die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Verführung durch fremde, „falsche“ Götter, vollends durch die Erfahrungen der Exilszeit und sehr viel später dann durch die Krise des Kreuzes (Mk 15,34), hat das Heilsame und Gute entdecken lassen, das sich mit dem Namen Gottes verbindet.379

3.2 Theologische Entdeckungen des Guten Wie also kommt es zur Entdeckung des Guten? Dafür lassen sich markante Beispiele aus geschichtlichen biblischen Lernprozessen anführen: (1) Dass die Welt, die uns als Lebensraum zugewiesen ist, „sehr gut“ sei (Gen 1,31), widerspricht aller Erfahrung. Das wusste man auch im Alten Orient. In den Gottesreden des Hiobbuches wird sie denn auch keineswegs nur als Inbegriff wohltätiger Ordnungen vorgestellt, sondern durchbrochen von Schnee, Regenflut, chaotischer Wüste und 379

Von Rad, Die Wege Gottes in der Weltgeschichte, 224f.

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3. Die Überwindung des Bösen

animalischer Grausamkeit. Die berühmte Lehrerzählung der Priesterschrift (Gen 1) stammt, soweit wir wissen, in ihrer Endgestalt aus der Zeit des babylonischen Exils. Sie ist die theologische „Antwort auf den Zusammenbruch der vorexilischen Staatsgeschichte“380, verfasst auf dem Hintergrund des zerstörten Tempels – die Gewalt der Vertreibung sozusagen noch vor Augen –, des jähen Endes von Königtum und staatlichen Institutionen. Hier wird den ins Chaos hineingeratenen Menschen ein Gegenbild ins Bewusstsein gerufen: Noch immer gilt die Ordnung der Sieben-Tage-Woche, noch immer der Rhythmus von Tag und Nacht, noch immer bevölkern Pflanzen und Tiere die Erde. Dies, eine Minimalbedingung menschlicher Existenz, ist gut, und gut sind erst recht die ihr im Vollzug des göttlichen „Scheidens“ gezogenen Grenzen, Grenzen des Raumes und der Zeit, Grenzen des Umgangs mit der Schöpfung und des eigenen Lebens, die wir nicht erst seit heute zu unserm Unheil überschreiten. Hier am Ort der Gefährdung, dass die Erde wieder „zur Wüste“ werden könnte (Jes 45,18), wird das Gute entdeckt. An diesem Lernort und nur hier kann es das Böse überwinden. (2) Auf einem ähnlich kritischen Hintergrund spielt sich, wie gezeigt, das Drama Hiobs ab. Historisch, davon war die Rede, spiegelt sich in ihm die Krise der hebräischen Weisheit. Der von Gott garantierte Zusammenhag von Tun und Ergehen ist außer Kraft gesetzt. Ist eine Lebensorientierung an Gott dann aber überhaupt noch möglich? Hier wird eine Korrektur des überlieferten Gottesbildes gefordert, und zwar im Zeichen der Gerechtigkeit, die von jeher den Stachel des Theodizeeproblems ausmacht und darum die biblische Klage als eine Art cantus firmus durchzieht: „Warum geht es den Gottlosen so gut und leben so sicher alle, die treulos sind?“ 380

Zenger, Gottes Bogen in den Wolken, 44; Link, Schöpfung, 34.

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3.2 Theologische Entdeckungen des Guten

(Jer 12,1) In Hiobs trostlosen Redegängen wird sie nachgerade zum Anklagepunkt gegen Gott: „Gott überlässt mich den Ungerechten, in die Hände der Gottlosen stürzt er mich.“ (Hi 16,11) In Gott selbst begegnet ihm das fassungslose Böse als Ungerechtigkeit. Das Schlüsselwort der ersten Szene: „Ist Hiob etwa umsonst [ohne Entgelt] gottesfürchtig?“ (Hi 1,9) nimmt diese Problematik auf. Es ist dies zugleich eine Frage an Gottes Gerechtigkeit und den Maßstab, an dem sie sich bemisst: Kann es eine Stimmigkeit in Lehre und Leben geben, die nicht jener „Logik des Tausches“ folgt? Denn „wo der Widerspruch zwischen Gottes Gerechtigkeit und dem Zustand der Welt nicht ausgesprochen werden darf, wo weder Klage noch Rebellion als Ausdruck dieses Widerspruchs zugelassen sind, da wird der Glaube zur Ideologie.“ Da wird Gottes Gerechtigkeit „mit dem ‚Status quo’ des Zustandes der Welt schlechthin gleichgesetzt“.381 Um diesen Widerspruch geht es, und wenn er nicht als illegitimer Widerspruch stehen bleiben soll, muss der hier vorausgesetzte Begriff der Gerechtigkeit korrigiert werden, und eben das ist es, was hier geschieht. Gerechtigkeit, vollends Gottes Gerechtigkeit wird gänzlich gelöst und entflochten von jeder Erwartung auf Lohn, d.h. von dem Rechtsanspruch, den wir auf privates (auch öffentliches) Wohlergehen und Lebensglück meinen geltend machen zu können. Das ist die neue Erkenntnis, die in Hiobs Begegnung mit dem „aus dem Wetter“ redenden Gott eingebracht wird. Die Gerechtigkeit, die hier proklamiert wird, ist zweckfrei, „umsonst“, ohne von Gott ein Entgelt zu erwarten. Sie hat ihren Sinn und Grund allein in sich selbst. Sie treibt sozusagen einen Keil zwischen unsere an Lohn und Verdienst orientierte Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit und unsere, an diesem Denken und Handeln zer381

Ebach, Gott und die Normativität des Faktischen, 62.

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3. Die Überwindung des Bösen

brechende Welt, was uns heute im Spiegel unserer Ökonomie drastisch vor Augen geführt wird. Im Zeichen dieser neuen, „besseren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20; 6,33) geht es um die Zukunft der heute noch an ihren Krisen leidenden Welt; es geht um den „gerechten“ Lohn, der das Brot für den morgigen Tag sichert; es geht um das Versprechen, dass die, welche heute mit Tränen säen, morgen mit Freuden ernten werden (Ps 126,5). Das ist das Gute, das mit der geschichtlich erfahrenen Präsenz Gottes über dem Zerbrechen der alten „Logik des Tauschs“ aufleuchtet und sich in der Verkündigung Jesu als Symbol des „Reiches Gottes“ meldet. Der Kreislauf von Unrecht, Hunger und Leiden soll am Ort des Bösen selbst überwunden werden. In den Gleichnissen vom „ungerechten Richter“ (Lk 18,1-8) oder den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,116) schafft sich diese Gerechtigkeit ein Szenarium, das unsere Begriffe des „Gerechten“ sprengt. Es muss nicht so bleiben, wie es ist. Es ist mehr möglich! Das lässt sich an modernen Konflikten verdeutlichen. Die Frage nach der Gerechtigkeit gewinnt ihre Schärfe dadurch, dass sie heute an der Stelle aufbricht, wo wir uns hinter der Mauer des Rechts verschanzen: Denn Recht schaffen, Wirtschaftsrecht, Völkerrecht, vollends Asylrecht, ist vergleichsweise leicht. Aber Gerechtigkeit? Gerechtigkeit für die von unseren Märkten abhängigen Drittweltländer, Gerechtigkeit für den Ausländer, Gerechtigkeit für den politisch Verfolgten oder den Flüchtling aus Hungergebieten? Das ist wesentlich schwerer. Deshalb wird Gerechtigkeit heute weltweit gegen eine Rechtsordnung eingeklagt, die ein großer Teil der Menschheit als Unrecht empfindet. Es ist ein Konflikt zwischen Humanität und Recht. Hier geht es um ein Zeichen jener Gerechtigkeit, die sich „umsonst“ der Not der Erde annimmt, ein Orientierungszeichen für alle, die gegen den Strom schwimmen.

(3) Wie aber steht es mit dem Gott selber angelasteten Bösen, das den Kriegsgesetzen des Deuteronomium so unverhüllt eingeschrieben ist (Dtn 20, 13 und 16f.; vgl. Jes 34,2f.) und das seinen erschreckendsten Ausdruck

300

3.2 Theologische Entdeckungen des Guten

im Bericht der Amalekiterschlacht (1 Sam 15) gefunden hat? Saul verliert sein Königtum, weil er den Gottesbefehl, an diesem Volksstamm den Vernichtungsbann zu vollstrecken, also diese Ethnie mit „Mann und Maus“ auszurotten, nicht ausführt. Völkermord im Namen Gottes? Wenn man das Umfeld dieser und vergleichbarer anderer Texte (Jos 10,38-42) kennt, wird man zunächst jedoch andere Fragen an diese befremdlichen Schilderungen stellen, um zu verstehen, wie es zu solchen Texten kommen konnte. Etwa: Was bedeutet es, dass Gott hier als Kriegsherr auftritt, während die Könige und Soldaten eigentlich nur in Statistenrollen agieren? Offenbar eine Kritik unserer Kriegsbereitschaft und -begeisterung. Oder: Was ist der Sinn dieses altertümlichen Bann-Rituals? Pure Mordlust? Kaum. Vielmehr werden alle Wertgegenstände, alles, was Krieger gemeinhin reizt, ihre Haut zu Markte zu tragen, zum Eigentum der Gottheit erklärt. Ist es verstiegen zu vermuten, „dass, wenn überhaupt nur Bann-Kriege geführt werden dürften, überhaupt keine Kriege mehr geführt würden?“382 Vor allem aber: Hat die hier berichtete Szene überhaupt stattgefunden? Ist es eine historische Begebenheit? Nach allem, was wir heute wissen, ist das nicht der Fall. Sie hat eine ganz andere Funktion. Sie will nicht über die Frühzeit aufklären, sondern ist der Kampf- und Notschrei einer jüdischen Gruppe im Exil, die den Verlust ihrer eigenen Identität fürchtet und nun im Blick auf die Vergangenheit feststellt: Damals hätte man alle fremden Völker ausrotten müssen, dann „hätten sie die Israeliten nicht all die Übel auszuüben gelehrt, die sie für (deren) Götter verübten“ (Dtn 20,18). Was also ist der harte Kern? Die im Rückblick gewonnene Erkenntnis, dass die Zerstörung des Tempels und die eigene Deportation an die „Flüsse Baby382

Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1, 200.

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3. Die Überwindung des Bösen

lons“ eine Folge des Abfalls von ihrem Gott, seiner sich entziehenden Gegenwart, gewesen ist. Man darf also nicht übersehen, dass hier trotz aller wahnhaften Züge und der kompromisslosen Härte einer Spätzeit gegen alle Fremdreligionen zugleich eine geradezu blutig schmerzhafte Selbstkritik geübt wird. Die aus unserer Sicht gelegentlich als „Texte des Terrors“ apostrophierten Berichte haben also ein anderes Ziel. Sie erinnern an die wohltätigen Weisungen der Tora, von denen „der Mensch lebt, der sie tut“ (Dtn 4,40). Auch hier wird (in gewiss in paradoxer Gestalt) zuletzt das Gute wiederentdeckt, das Israel vor dem bösen Schicksal des Exils bewahrt hätte. (4) In einer besonders schwierigen Konstellation wird die Entdeckung des Guten, die das christliche Gottesbild bleibend geprägt hat, als „Wort vom Kreuz“ vergegenwärtigt, dem sich nach der paulinischen Verkündigung der christliche Glaube verdankt (1Kor 1,18).383 Gerade hier soll ja exemplarisch sichtbar werden, dass und inwiefern sich das Heil am Ort des vermeintlichen Unheils ereignet. Denn das historische Kreuz – ich erinnere an Karl Barth384 – ist die Manifestation des Bösen schlechthin, und das nicht nur als tödlicher Angriff auf das Leben Jesu, sondern, was schwerer wiegt, als Angriff auf seine Verkündigung und seine Botschaft. Mit dem Schrei der Gottverlassenheit (Mk 15,34) schien alles widerlegt zu sein, was er predigend, lehrend, durch Gleichnisse und Zeichenhandlungen vom Gott der Barmherzigkeit und Liebe gesagt hatte. Dieses Bild ist – gleichsam als ein Wortbruch Gottes – an seinem Kreuz ad absurdum geführt worden. Der unerträgliche Widerspruch zwischen seiner Verkündigung und dem ‚Gottesverlust‘ des Sterbenden ist im Markus383 384

Dazu: Dalferth, Malum, 471-478. Abschnitt 2.3, 290ff.

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3.2 Theologische Entdeckungen des Guten

Evangelium noch ungeglättet stehen geblieben. Er wird in der Jesus-Geschichte selbst nicht aufgelöst. Erst im Rückblick, in der Geschichte derer, denen der Gekreuzigte als Auferstandener in neuer Präsenz erschienen ist und die ihn als Christus bekennen, wird das Dunkel beseitigt. Deshalb gehören Karfreitag und Ostern untrennbar zusammen. Diese entscheidende Entdeckung, die alle historischen Kategorien sprengt, hat dazu geführt, dass die Jesus-Geschichte als Geschichte der an ihn glaubenden Gemeinde fortgeschrieben werden konnte und musste, als eine Geschichte, die jetzt durch den in Christus wirksam gewesenen göttlichen Geist nun auch ihre neue Richtung und ihr Gefälle erhält und die Erwartung einer künftigen Vollendung des damals erst gleichnishaft sichtbar gewordenen „Gottesreiches“ wach gehalten hat. Am „Wort vom Kreuz“, das im Rückblick der Evangelien daher beides umfasst, Jesu Verkündigung der nahen Gottesherrschaft und seine von den ersten der an ihn Glaubenden bezeugte Auferweckung, entzündet sich die Gewissheit, dass Gott nun an allen Menschen so handeln wird, wie er an diesem Toten gehandelt und wie dieser es in seiner Botschaft vom Gott Abrahams als einem „Gott der Lebendigen und nicht der Toten“ (Mt 22,32) angesagt hat. Er wird dem Bösen, in welcher Gestalt es uns noch begegnen mag, als der Überlegene entgegentreten, als der er sich in der am Kreuz endenden Geschichte Jesu erwiesen hat. Das ist die neue „Entdeckung“, die mit dem Bekenntnis zur Auferweckung des Gekreuzigten das Gottesverständnis noch einmal verändert hat. Es ist von nun an geprägt durch die Jesusgeschichte. Der Widerspruch zwischen der Gottesverkündigung Jesu und seinem Lebensende ist ihm eingeschrieben, nicht aber, wie es im Markus-Evangelium scheinen konnte, als eine bleibende Aporie, sondern  – so gibt mit besonderem Nachdruck das johanneische Schrifttum zu verstehen –

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4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen?

als der selbstlose Weg einer Liebe, die den Tod nicht scheut, die vielmehr noch diesen extremen Gegensatz ihrer selbst umfasst und als Gottes Liebe „ihre schöpferische Wirksamkeit darin erweist, dass nicht das malum das bonum scheitern lässt, sondern das bonum das malum überbietet“.385 Deshalb ist der Glaube an diese Liebe „der Sieg, der die Welt [mitsamt dem ihr noch innewohnenden Bösen] überwunden hat“ (1 Joh 5,4).

4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen? Was ergibt sich aus der Kette dieser Überlegungen für die Bewältigung des Theodizeeproblems, den angemessenen Umgang mit ihm? Überwinden lassen sich Probleme, indem man sie löst oder indem man sie nicht mehr stellt, weil sich die Situation, in der sie aufbrechen mussten, gewandelt hat. Die Frage der Theodizee scheint nicht zu diesen Problemen zu gehören. Denn was hilft das biblische Wissen, dass das Gute das Böse überbietet und nicht an dessen Gewalt scheitern muss, dem, der sich  – ob schuldhaft oder nicht – in seinem Leiden wie in einer Gefängniszelle eingemauert sieht? Es gibt offenbar keinen Erkenntnisweg, der gleichsam linear von den alten Bibeltexten zu unseren heutigen Fragen und Zweifeln, unserer „Glaubenssituation“ führt. Wandeln könnte sich diese Situation nur, wenn sie durch eine neue Erfahrung durchbrochen würde. Denn den Widerspruch zwischen der erfahrenen Wirklichkeit des Bösen und der geglaubten Güte Gottes hat noch kein Denken, auch kein theologisches, aufgelöst. Hier wer385

Dalferth, Malum, 496.

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4.1 Erkennen durch Widererkennen

den wir warten müssen bis zu dem verheißenen Jüngsten Tag, der nicht aus der Logik der Geschichte resultiert, auch nicht aus der Ordnung der Schöpfung. Er schließt nicht an die vergangenen irdischen Tage an, sondern er schließt sie zusammen, mehr noch: Er schließt sie auf. Er wird Licht bringen in das Verborgene, Dunkle, in das Unentschlüsselte und Unbegriffene aller bisherigen Tage. Er wird den Zusammenhang des Ganzen aufdecken, und das kann er, die Kraft dazu hat er, weil mit ihm Gott selber zu Tage kommen will und „vollenden“, zum Ziel bringen wird, was hier gewaltsam oder schuldhaft abgebrochen ist. Nicht unser Mangel, sondern seine Fülle setzt hier das Maß. 4.1 Erkennen durch Widererkennen. Wir fragen nach dem uns heute möglichen, dem Maß unseres Glaubens entsprechenden Umgang mit dem Theodizeeproblem. Auch hier haben wir keine andere Möglichkeit, als mit dieser Fülle zu rechnen, das heißt uns an die Entdeckung jenes Guten zu halten, das größer ist, als dass es am Bösen scheitern könnte. Zwar „löst“ der Glaube noch keines unserer Lebensprobleme, wohl aber öffnet er uns eine Perspektive, die uns besser mit ihnen umzugehen lehrt, wenn wir uns auf die Basis besinnen, auf der seine orientierende Kraft beruht. Dann könnte ein erhellendes Licht auf unsere Situation fallen, so dass wir die Spannung zwischen der uns zugesagten Güte und der erfahrenen Not unseres Daseins auszuhalten vermögen. In diesem Licht, in dem noch das bedrängteste Leben zum Spiegel der Güte Gottes werden kann, hat sich Paulus zum Sprecher von Menschen gemacht, die dem Verstummen nahe und doch zum Reden ermächtigt sind: „In allen Dingen erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsal, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr und Mühen, […] durch Waffen der Gerechtigkeit zur

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4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen? Rechten und zur Linken, durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte; als die Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; […] als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles besitzen.“ (2 Kor 6, 4-10)

Ein Echo dieser Gewissheit, die sich in das Gewand leuchtenden Vertrauens kleiden konnte, spricht aus den Providenzliedern, die im Schatten des Dreißigjährigen Krieges, einer der dunkelsten Epochen der europäischen Geschichte, entstanden sind: „Es kann mir nichts geschehen, als was Gott hat ersehen und was mir selig ist.“386 Paul Gerhardt hat dieses Vertrauen auf die denkbar breiteste Basis gestellt: In allen Widerfahrnissen des persönlichen Lebens, der schwierigen Balance, die wir oft kaum zu halten wissen, haben wir es mit demselben Gott zu tun, der „auch den Himmel lenkt, der Wolken Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“.387 Nicht als „Lückenbüßer“, der einen Wissensmangel kompensiert, sondern als der, der „des Lebens Mangel“ ausfüllt, ist er dem christlichen Glauben als „unser“ Gott bekannt. Hier wird in der Sprache der Hoffung geredet. Statt Gottes Wirklichkeit wie ein Laborbericht an den Tatsachen der Welt zur Entscheidung zu bringen – ein Versuch, der bei hinreichend kritischer Sonde noch immer mit der Feststellung seiner Abwesenheit geendet hat  –, bindet die biblische Tradition das „Tun“ Gottes an die Präsenz seines „Angesichts“, das über den Menschen „leuchtet“ oder das sich ihnen entzieht. Hier stehen wir im Ausstrahlungsbereich seiner Anwesenheit. Mit der Präsenz seines Angesichts öffnet sich Gottes Zeit für die Zeit der Kreatur. Der Er386 387

P. Fleming, In allen meinen Taten (1633), EG 368,3. P. Gerhardt, Befiehl du deine Wege (1653), EG 361,1.

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4.2 Abraham

kenntnisweg verläuft jetzt von der Interpretation der eigenen Lebenswelt zurück zur biblischen Erzählung. Dafür gibt es beredte biblische Beispiele: Zwei Männer aus dem Kreis der Jesus-Schüler, so berichtet Lukas (24,13-35), erschüttert über das schreckliche Ende ihres Lehrers, sind auf dem Weg von Jerusalem in ihr Heimatdorf. Zu ihnen stößt  – inkognito  – der auferstandene Christus und lässt sich in ihr Haus einladen. Als sie sich zu Tisch setzen, spricht er das Dankgebet und bricht ihnen das Brot. Da fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen. Sie stehen im Licht der göttlichen Präsenz und erkennen in dem Fremden den, den sie immer schon kannten. Die Situation ist verwandelt. Erkennen durch Wiedererkennen: Das ist der Schlüssel zum Verständnis der verborgenen Gegenwart des göttlichen Angesichts. Biblische Szenarien illustrieren, dass und wie das Wort „Gott“, das sich empirisch auf keine Weise zureichend umschreiben lässt, gleichwohl in all unsere Erfahrungen von Wirklichkeit hineinspielen kann. „Hier geschieht ‚Offenbarung’, nicht im ersten Jahrtausend vor Christus und im ersten Jahrhundert nach ihm.“388 Nach diesem Muster gehen biblische Erzählungen auf unsere, oft in aussichtslos erscheinender Situation gestellte Frage nach Gottes Güte und Gerechtigkeit ein. Es hängt daher alles daran, ob und wie wir diese theologischen „Bearbeitungen“ der Theodizeefrage verstehen, die nun abschließend noch einmal vergegenwärtigt werden sollen, und wie wir uns durch sie unsere eigene Lebenssituation neu erschließen lassen könnten. 4.2 Abraham. Gott lässt sich von Abraham in einem Gespräch, zu dem er noch dazu selber die Initiative ergreift, über den beschlossenen Untergang Sodoms zur RechenRitschl, Gotteserkenntnis als Wiedererkennen, in: Bildersprache und Argumente, 8. 388

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4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen?

schaft ziehen (Gen 18,17-33).389 Hier darf die Theodizeefrage gestellt werden. Gott lässt seine Gerechtigkeit auf den Prüfstand stellen. Sollte vor ihm selbst eine kleine Anzahl von Unschuldigen nicht so wichtig sein, dass diese Minderheit ihn zum Strafaufschub für das ganze Gemeinwesen veranlassen könnte? Sollte er selbst nicht stellvertretend zur Übernahme der Schuld der Mehrheit und ihrer Folgen bereit sein? Dass er sich dieser Frage nicht verschließt, sondern bis zum Ende des Gesprächs – auch wenn es nur „zehn Schuldlose“ geben sollte – diese Möglichkeit offen hält: Das ist das neue Licht, welches an dieser Stelle auf die heillose Situation der Menschheit fällt. In der Botschaft von dem Einen, der sich dieser Situation rückhaltlos gestellt und für die „Vielen“ Sühne und Heilung erwirkt hat (Jes 53,5.10), bahnt es einer neuen theologischen Stunde den Weg. Hinter Abrahams Frage und seinem Schweigen leuchtet wie in der Erzählung von der „Opferung“ Isaaks (Gen 22) bereits diese letzte, hier noch nicht gezogene Konsequenz auf und nötigt die Theologie, „von Gott immer noch mehr zu erwarten als von sich selbst, ihren eigenen Folgerungen und Erwartungen“. Statt sich selber zur Antwortinstanz zu erheben, „kann sie darauf zählen, dass Gott einst die Antwort geben wird, die die Frage nach [seiner] Gerechtigkeit zum Verstummen bringt“.390 4.3 Hiob. Wo Menschen unter dem Druck unsäglicher Leiden Herkunft und Sprache verlieren und im Schweigen untergehen, da sollen und dürfen wir reden. Hiob ist der Leidende, in dem die Erfahrung schuldlosen Leidens bis in unsere Gegenwart hinein ihren dichtesten Ausdruck gefunden hat. Er ist in seiner ganzen Existenz das lebendige Argument gegen Gott. Aber er ver389 390

Dazu: Frettöh, „Sollte, wer die ganze Welt richtet, …?“, 138ff. Ebd., 154.

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4.3 Hiob

sinkt nicht im Schweigen, sondern führt in seiner Klage das bittere Streitgespräch mit dem Gott, dem er widerspricht. Er hat ein Gegenüber, dem er seine Anklagen ins Gesicht schleudern kann, mag es auch noch so hartnäckig schweigen. Sein Leiden bleibt nicht namenlos. Wird doch das vielfache Leiden unserer Zeit erst dadurch so unmenschlich, dass es ganz anonym bleibt. Es ist niemand zuständig und wenn, dann sind es ungreifbare Größen: ein politischer Umsturz, der die Gefängnisse füllt, ein namenloser Bazillus, der den gesunden Körper zerfrisst. Es ist ein Leiden ohne Instanz, das nur darauf warten kann, vergessen zu werden, ein Leiden am Rande der Scheol. Das neuzeitliche Denken ist an diesem Punkt unerbittlich: Entweder entspricht Gott der „gerechten“ Erwartung des Menschen, oder es ist kein Gott. Das Buch Hiob stößt mit seiner Konsequenz in die entgegengesetzte Richtung vor. Es steigt mit seiner Frage nach Gott in die Situation der Leiderfahrung hinab und lässt das traditionelle Gottesbild darüber zerbrechen. Die hier neu eingebrachte Erfahrung, dass Gott sich, wie Luther sagt, sub specie contraria, unter dem Gegensatz seiner Liebe und Treue zeigen kann, nämlich im Leiden der Schuldlosen, im Elend seiner Verehrer, im Scheitern der „gerechten Sache“; dass wir ihn sogar dort wiedererkennen können, wo wir ihn als Gott nicht mehr zu kennen meinten: Das ist die Gewissheit, mit der auch wir in unseren Lebenskrisen rechnen dürfen, mag sie uns auch als eine befremdliche Zumutung erscheinen. Denn Gott auf der Seite der Ordnung, der Normalität, stabiler sozialer und ökologischer Ordnungen, das entspricht unserer Erwartung, die sich mit dem Wort „Gott“ verbindet. Gott im Chaos der Kriege, in der Agonie einer zerbrechenden Ehe, in den Schmerzen des Tierreichs, wo die Großen die Kleinen fressen, da verweigern wir ihm das Heimatrecht. Gesetzt aber, wir könnten auch dort mit

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4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen?

seiner Präsenz rechnen: Müsste die Theodizeefrage dann nicht ihren Stachel verlieren? Was Hiob am Ende gelernt hat, indem Gott ihm seine Schöpfung in ihrer staunenswerten Schönheit und ihrer erschreckenden Widersprüchlichkeit vor Augen stellt, könnte auch uns helfen, die schwer erträgliche Spannung zwischen der Güte Gottes und dem Unheil der Gegenwart auszuhalten und  – vielleicht sogar  – durch diesen Widerspruch hindurch den so befremdlichen Gott als unseren Gott wiederzuerkennen, als den, der so, wie er die Schöpfung im Ganzen, so auch unseren Lebensweg aus der Nähe begleitet, steht er doch für den Bestand seiner Welt auch da ein, wo unsere Sinndeutung sie nicht mehr erreicht, und darum auch dort, wo wir mit unseren ungelösten Fragen an und unter ihr leiden. Müsste angesichts dieser verborgenen „Garantie“ unserer Lebenswelt nicht gerade hier der Lobpreis seiner Güte zu Wort kommen und der Glaube an seine Gerechtigkeit sich mitten im Leiden der Schöpfung und der Schuld des Menschen Gehör verschaffen? Auch wenn wir auf die Frage nach dem Warum dieses Leidens keine Antwort bekommen, brauchte von dieser Seite her Gott nicht mehr in Frage gestellt zu werden. Selbst Entbehrungen, Krankheit und Not könnten auf ihn keinen Schatten werfen, der sein Bild bleibend verdunkeln müsste. Denn wo seine Nähe wahrgenommen wird, da verändert sich die Situation. Da ist dem Problem der Theodizee der Boden entzogen. 4.4 Jesus von Nazareth. Der Weg, den Jesus von Nazareth von Galiläa nach Jerusalem geht, ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments Gottes eigener Weg. Als der Christus Gottes vergegenwärtigt er – der Leidende, Sterbende und Auferstandene – Gott selbst in seiner Schöpfung. Deshalb verkündigt Paulus den Weg zum Kreuz als die maßgebliche „Offenbarung“ Gottes (1 Kor 1,21-25),

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4.4 Jesus von Nazareth

der sich durch die Lebensgeschichte dieses Menschen „authentisch“, um mit Kant zu reden, interpretiert und sich gerade so uns bekannt gemacht hat. Hier hat er sich mitten in den Tiefen und Abgründen der menschlichen Geschichte der tödlichen Gewalt ausgesetzt und sich als der kompromisslose Feind des Bösen erwiesen. Hier tritt er für das Recht seiner Schöpfung ein. Der Widerspruch zwischen der zugesagten Güte Gottes und dem Leiden der Menschen wird nicht gelöst wie ein Rätsel. Gott selbst nimmt ihn auf sich und begründet die Hoffnung auf die endgültige Überwindung von Leiden und Tod. Auf Golgatha – das ist der Preis seiner Güte – hat er „den Erweis seiner Gerechtigkeit“ erbracht (Röm 3,25). So verstanden ist mit dem Bekenntnis zu Christus, dem „gekreuzigten Gott“ (Moltmann), das Neue Testament die Antwort auf Hiobs Problem. „Die Nacht auf Golgatha“, weiß noch Albert Camus zu rühmen, „hat nur darum für die Geschichte so viel Bedeutung, weil in ihrem Dunkel die Gottheit, sichtbar auf alle Privilegien verzichtend, bis zu ihrem Ende, alle Verzweiflungen eingeschlossen, die Todesangst durchlebt“.391 Gottes Macht beschränkt sich uns zugute. Sie erweist sich im Tode Jesu als so mächtig, dass sie  – paradox gesprochen  – auch der Ohnmacht fähig ist, fähig, um anderer willen zu leiden. Darum wird sie die Macht der Liebe genannt.392 Nur die Liebe ist um der anderen willen ohnmächtig, sie kann ohne den Geliebten nicht sein. Sie ist ein Phänomen des Überflusses. Das macht sie jedem Tod – und darum auch der tödlichen Anklage Hiobs – überlegen. Hier geht es nicht um eine Erklärung, auch nicht um eine Deutung der gegenwärtigen Leiden. Das Neue Testament begnügt sich mit der Auskunft, dass das Erlei391 392

Camus, Der Mensch in der Revolte, 29. Dazu: Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 444f.

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4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen?

den des Bösen in das Mitleiden einer Liebe aufgehoben ist (Joh 3,16), in der es „nicht verharmlost, aber auch nicht verewigt, sondern als etwas bestimmt wird, was nicht das letzte Wort behält“.393 Der Blick richtet sich auf die Veränderung der zukünftigen Situation der Schöpfung, also auf das Recht und das Ziel ihrer Hoffnung. Diesen Richtungssinn der Passion hat Heinrich Vogel in seiner Auslegung des Verlassenheitsrufes Jesu (Mk 15,34) eindrucksvoll herausgestellt: „Es gibt keinen Ort und kein Geschehen, wo die Zukunft des Menschen so verloren scheint wie hier [auf Golgatha]. Das Wunderbare, mit keinen menschlichen Worten zu Beschreibende, durch keine Erkenntnis zu Erreichende liegt darin, dass gerade an dieser Stelle dem Menschen Zukunft, ewige Zukunft eröffnet wird. Dieser Mensch Jesus ist ja der, in dem der Sohn Gottes, also Gott selbst, sich uns zum Nächsten gemacht hat. Er ist es, der die Frage der ganzen Menschheit gehört hat, anders als wir uns Menschen selber verstanden. Auf tausend Wegen unserer Religiosität suchten wir Gott und endeten bei den Abbildern unserer selbst. Er aber suchte und fand uns da, wo wir schlechterdings verloren und am Ende waren. Zu ihm sprach Gott sein Ja und Amen, ihn hat er vom Tode auferweckt. Da er aber in Tod und Leben uns gehören wollte, gehören wir mit ihm zusammen. So ist er für uns die Tür zur Zukunft Gottes. Er selbst ist die Zukunft des Menschen.“394

4.5 Mit neuen Augen sehen. Von einer Rechtfertigung oder gar Verewigung menschlichen Leidens kann also keine Rede sein. Und wenn einer nun fragt: Wie kann ich unter der Macht des Bösen an Gottes Dasein und Gottes Güte glauben?, dann weisen ihn die Berichte der Evangelien auf Christus, den wir nicht als einen Toten im Rücken haben, sondern der uns als Auferstandener von vorn her erreichen will. In ihm lebt auf, wofür er in seinem irdischen Dasein eingestanden ist: die Botschaft des 393 394

Dalferth, Malum, 496. Vogel, Communio Viatorum, 299.

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4.5 Mit neuen Augen sehen

Friedens, die Möglichkeit der Versöhnung (auch mit der eigenen Biographie), die Vergebung der Schuld – um einen neuen Anfang zu ermöglichen. Damit wirbt er um unser Vertrauen und gibt uns den Schlüssel in die Hand, unsere Situation wie Paulus mit neuen Augen zu sehen: „als Betrübte, doch allezeit fröhlich, […] als Sterbende, und siehe, wir leben.“ (2 Kor 6,9f.). Neu sind diese Augen, weil die Abgründigkeit des Daseins sie nicht auf das „Sein zum Tode“ oder das Gespenst der Sinnlosigkeit verweist, sondern auf eine Erfahrung, die nach Pascal auch der Philosophie zugänglich ist: dass der Mensch von seinem Ursprung her „den Menschen unendlich übersteigt“ (transcende), dass es ein Mehr an Wirklichkeit gibt, ein Anderes, auf das wir im Entzug des uns Vertrauen stoßen können. Theologisch lässt sich solches Gewahrwerden als Gottes Wirklichkeit qualifizieren, denn es gehört ja zu seinen Eigenschaften, in seiner Schöpfung gegenwärtig und wirksam zu sein und deshalb möglich zu machen, was Menschen allein unmöglich ist. Die Hoffnung, auf die Paulus blickt, lässt sich nicht mit Surrogaten, Vertröstungen auf ein besseres Morgen, abspeisen, sie ist schon jetzt am Ziel. Was bedeutet das für die mühsamen Ebenen unseres Alltags? Auf jeden Fall dies: Was Jesus erlitten hat, soll und braucht kein Mensch mehr zu leiden. Die Verkündigung seines Todes (1 Kor 11,26) verbindet sich mit den guten Gaben des Abendmahls, mit Brot und Wein. Sie stellt uns die Zukunft einer Welt vor Augen, in der „Leid, Geschrei und Schmerz“ der Vergangenheit angehören (Offb 21,4) und durch die Vision eines „Lebens in überreicher Fülle“ (Joh 10,10) überboten werden. Nicht die Ergebung in, sondern der Protest gegen das Böse, das Leid verursachende Unrecht der Erde, ist hier angesagt. Bonhoeffers bekanntes (oft missverstande-

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4. Wie können wir mit dem Theodizeeproblem umgehen?

nes) Wort von der „Teilnahme am Leiden Gottes“395, die „den Christen“ ausmacht, spricht nicht dagegen. Es meint ein Leiden an der gottlosen Welt, das sich im diesseitigen „weltlichen“ Leben (und darum frei von jedem religiösen Zwang) vollzieht. Es hält die Gottlosigkeit der Welt aus, indem es die Situation Gottes menschlich wiederholt und darin wie Christus „für andere“ da ist. Diese Erfahrung wird nun selbst zu einem Teil des göttlichen Lebens, das „inkarnatorisch“ Göttliches und Menschliches verbindet, so dass in dieser Gewissheit die quälende Frage Hiobs: „Wo bleibt Gott?“ ihre Antwort findet. Wo dies geschieht, können die eigenen Nöte und Leiden ins zweite Glied rücken. So lernt man auch das eigene Leben neu zu verstehen. Zu einer „Stilllegung“ der Theodizee (wie oft behauptet) verführt diese Antwort nicht, so gewiss das Leiden der Welt noch andauert. Das Neue Testament macht nicht den geringsten Versuch, die Klage über diesen Zustand in ihrem Gewicht abzuschwächen. Wohl aber tritt sie ihr in der Gewissheit entgegen, dass Gott, der die Welt als sein „Eigentum“ beansprucht (Joh 1,11), mit diesem Anspruch nicht für immer am Widerstand des Bösen scheitert, sondern tatsächlich zum Ziel kommt: „Er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein“ (Offb 21,4). Diese Verheißung formuliert die äußerste Konsequenz, die das theologische Denken aus dem stellvertretenden Weg Jesu bis zum Kreuz gezogen hat, eine Konsequenz, von welcher der 1. Johannesbrief (1,2) geradezu als einer gegenwärtigen Erfahrung sprechen kann: „Das Leben ist erschienen, und wir haben es gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben.“ Doch über die Erscheinung Christi verfügt kein Denken und Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (Brief vom 18.7.1944), DBW 8, 535. 395

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4.5 Mit neuen Augen sehen

keine Theologie. Die Wahrheit jener Konsequenz kann daher nur in der Form der Bitte und des Gebets ausgesprochen werden. Darum bittet die Kirche: „Erlöse uns von dem Bösen!“ (Mt 6,13) Sie bittet um die definitive Erscheinung dieses Lebens, das sie selber in der Zeit ihrer Geschichte nur vorläufig und zeichenhaft darstellen kann. Damit spricht sie die Erwartung aus, dass dereinst Gott sich selbst in ihr zur Erscheinung bringen und sich in der Welt universal darstellen werde. Dann erst ist das Problem der Theodizee überwunden. Noch also ist es nicht soweit. Noch erfahren wir die Wirklichkeit des Bösen am eigenen Leibe, noch gibt es das „ängstliche Seufzen der Kreatur“ (Röm 8,19). Noch haben wir keine Antwort auf die Frage, warum das alles so sein muss. Auch die Kirche ist noch nicht an ihrem Ziel, sondern unterwegs. Sie kann den Grund ihrer Gewissheit nicht als Tatsache aufweisen. Sie „hat“ ihn nur in der Präsenz des Zeichens: in der Auferweckung des Gekreuzigten und in der Ausgießung des Geistes. Darum ist sie an den historischen Ort dieses Zeichens, die „Umgebung von Golgatha“ (Barth), gewiesen und blickt von dort aus in die Zukunft. Das aber tut sie schon heute in der Gewissheit, dass ihre Situation sich tatsächlich gewandelt hat gemäß dem Wort des Apostels Paulus: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag aber nahe herbeigekommen“ (Röm 13,12).

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Nachwort Eine letzte Frage mag sich aufdrängen: Wenn die Theodizeefrage so behandelt wird, wie hier geschehen, was ist dann der positive Sinn einer Auseinandersetzung mit ihr? Sie ist eine Menschheitsfrage und deshalb in ihrer Schärfe zuerst auf dem Boden der Philosophie gestellt worden. Als Frage nach dem Leiden der Welt und der Sehnsucht, davon befreit zu werden, bricht sie unvermeidlich auch im Raum der biblischen Theologie auf, die ihre neuzeitliche Bearbeitung – gerade bei Leibniz – vielfach beerbt hat. Deshalb habe ich den Eindruck eines schlechthinnigen Gegensatzes zwischen einer argumentativen Strategie hier und einer radikalen Infragestellung dort vermeiden wollen, zumal auf beiden Seiten ihre Unbeantwortbarkeit, ja Unlösbarkeit zuletzt eingestanden wird. Dennoch ist der Unterschied, sie in Philosophie oder Theologie zu stellen und mit ihr umzugehen, gar nicht zu übersehen. Er betrifft die Perspektive ihrer Wahrnehmung. Denn von der Perspektive, in der wir Dinge und Probleme sehen, hängt alle Erkenntnis und somit jedes Urteil zumal über strittige Sachverhalte ab. Hier erst wird die Auseinandersetzung zu einer theologischen ­Herausforderung. Denn es geht hier um den Gottesbegriff – seine umstrittene Notwendigkeit für den Zusammenhalt unserer Welt – und ineins damit um und das Aushalten der von Widersprüchen und Antinomien gezeichneten Gestalt dieser Welt. Die philosophische Fragestellung, der quasi zeitlose Blick „von außen“ – ich sprach von der Vogelperspektive – versucht, die unüberschaubare Welt überschaubar zu machen und eine nur subjektiv zu bewältigende Not in ein weltanschaulich bzw. kosmologisch bearbeitbares Problem zu überführen, das seinen charakteristischen

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Nachwort

Ausdruck in der breit verhandelten, aber fiktiven Frage findet, ob und unter welchen Bedingungen Gott eine bessere, nämlich leidfreie Welt hätte schaffen können. Demgegenüber lässt sich die Theologie ihre Perspektive durch den Blick auf bestimme Situationen vorzeichnen, die unseren unverwechselbar eigenen Ort mitenthalten. Erkenntnis ist, so verstanden, immer schon Deutung von Erfahrung. Was in jener rückwärts gewandten Problemstellung ausgeblendet wird (und die Differenz nun doch zu einer erheblichen Spannung werden lässt), ist die bei Hegel noch berücksichtigte Tatsache, dass wir in einer geschichtlich sich entwickelnden, wandelbaren Welt leben, in der wir nicht nur als Objekte einer alles bestimmenden göttlichen Macht, sondern immer auch als beteiligte Subjekte ins Spiel kommen. Diese Einstellung hat, wie gezeigt, Konsequenzen für den Gottesbegriff, der als archimedischer Punkt in den klassischen Diskurs eingeführt wird. Hier hat die Auseinandersetzung namentlich für Theologen einen guten, notwendiger Klärung dienenden Sinn. Denn die im Zeichen seiner „höchsten Vollkommenheit“ Gott zugeschriebenen metaphysischen Attribute der Allmacht, Allgüte und Allwissenheit, stecken das im philosophischen Diskurs zugelassene Argumentationsfeld ab, begrenzen es aber zugleich. Zwar finden sie sich auch in der biblischen Tradition, sind dort aber mit einem Zeitindex versehen, will sagen: Sie entspringen der aktuellen geschichtlichen Begegnung mit diesem Gott. Sie haben ihren lebensgeschichtlichen Ort in den (der Philosophie unbekannten) Akten des Betens, Dankens, Lobens und Klagens und lassen deshalb Raum auch für sehr andere, komplementäre Zuschreibungen, etwa der Reue, des Schweigens, der Abwesenheit, ja der Ohnmacht Gottes. So verstanden kann die geschichtliche Perspektive, die das erfahrungsbezogene Reden zu (und erst dann) von Gott durchdringend geprägt hat, kons­

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Nachwort

truktiv klärend über den Blickpunkt der Philosophie hinausführen. Sie kann die geschichtsfernen Entwürfe von innen her korrigieren und Pascals Einsicht bestätigen, dass der „Gott der Philosophen“ zuletzt doch ein anderer ist als der „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Mémorial). Sollte man die Theodizeefrage, die in der theologischen Dogmatik ohnehin kein Heimatrecht gefunden hat, am Ende verabschieden? Die Philosophen, denke ich, haben mit Recht vor ihrer Still-Legung gewarnt. Wenn man die Welt mit Kant als eine Bekanntmachung der Absichten des göttlichen Willens betrachten wollte, erweist sie sich als ein verschlossenes Buch. Sie schweigt von Gott. Wollte man Gott dem Leiden und Tod der Erde unterwerfen, dann erübrigte man ihn. Beide Wege sind Symptome des Atheismus, der sich heute unter uns ausbreitet. Nur solange die Theodizee als Frage in Theologie und Philosophie tatsächlich gestellt wird, wird sie als Frage nach Gottes unersetzlicher Gegenwart  – und sei es als „ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ (Habermas) – wachgehalten, und eben das ist der positive Sinn der hier geführten Auseinandersetzung mit ihrem Problem.

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