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German Pages 463 Year 2016
Schriften zum Völkerrecht Band 220
Das Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs Eine argumentationstheoretische Untersuchung
Von
Valerio Priuli
Duncker & Humblot · Berlin
VALERIO PRIULI
Das Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs
Schriften zum Völkerrecht Band 220
Das Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs Eine argumentationstheoretische Untersuchung
Von
Valerio Priuli
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich hat diese Arbeit im Frühjahrssemester 2015 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-14946-9 (Print) ISBN 978-3-428-54946-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84946-8 (Print & E-Book)
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Arbeit setzt sich mit dem völkerrechtsdogmatischen Thema der Sezession und dem völkerrechtstheoretischen Thema der Argumentation auseinander. Das Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs bot als Konjunktion beider Themen den Anlass, mich vertieft mit ihnen zu beschäftigen. Dies geschah von 2011 bis 2015 in Zürich, Cambridge (UK) und Amsterdam. Prof. Dr. Oliver Diggelmann betreute mich als Doktorvater während des ganzen Forschungsprojekts in ausgezeichneter Art und Weise. Er wies sowohl in fachlicher als auch in persönlicher Hinsicht auf neue Horizonte hin und gewährte zugleich die Freiheit, diese selbst zu erschliessen. Für seine kritische und konstruktive Begleitung möchte ich mich herzlich bedanken. Prof. Dr. Urs Saxer verfasste mit seiner Habilitationsschrift ein grundlegendes Referenzwerk der vorliegenden Arbeit. Ich danke ihm für den Austausch zu Beginn des Projekts und die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Prof. Dr. em. Tobias Jaag stellte mich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht der Universität Zürich ein und begleitete das Forschungsvorhaben anfangs aus europarechtlicher Perspektive, wofür ich mich herzlich bedanke. Ihm und meinen ehemaligen Lehrstuhlkolleginnen und -kollegen danke ich für die lehrreiche und schöne Lehrstuhlzeit. Der Schweizerische Nationalfonds unterstützte das Forschungsprojekt mit einem Stipendium für angehende Forschende und ermöglichte dadurch höchst bereichernde Forschungsaufenthalte im Ausland. Mein Dank gebührt den verantwortlichen Personen sowie namentlich Prof. Dr. Thomas Gächter für die Betreuung und einen entscheidenden Denkanstoss. Das Lauterpacht Centre for International Law der Universität Cambridge (UK) nahm mich für zwölf Monate als Gastforscher auf. Sowohl dem Leiter des Instituts, Prof. Dr. Marc Weller, als auch dem ganzen Institutsteam und den zahlreichen Gastforschern danke ich für die idealen Forschungsbedingungen, den anregenden Austausch und die produktiven Kaffeepausen. Der anschliessende Aufenthalt am Amsterdam Center for International Law der Universität Amsterdam bot die Möglichkeit des vertieften Austausches mittels Vorträgen, Lesegruppen und informellen Gesprächen, wofür ich mich beim Institutsleiter Prof. Dr. André Nollkaemper und dem ganzen Team bedanken möchte. Assistenzprofessor Dr. Ingo Venzke sei für die Ermöglichung des Aufenthaltes, den anregenden Austausch und die freundschaftliche Begleitung des Projektes herzlich gedankt. Mit der Hilfe von Prof. Dr. Jean D’Aspremont, Prof. Dr. Iain Scobbie, Anne van Mulligen, Lianne Boer, Dr. Gleiden Hernández
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Vorwort
und den Assistenzprofessoren Dr. Eveline Feteris und Dr. Geoffrey Gordon konnte ich verschiedene Aspekte der bearbeiteten Themen vertiefen – auch ihnen danke ich. Dem Geschäftsführer Dr. Florian R. Simon vom Verlag Duncker & Humblot danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe „Schriften zum Völkerrecht“. Claudia Priuli und Andri Perl besorgten die Korrektur des Manuskripts. Nina Burri, Nicole Bürli, Barbara Kammermann, Stuart Bruce und Adrian Gossweiler standen mir stets mit freundschaftlichem Rat zur Seite. Ohne ihre Hilfe wäre die Fertigstellung weit mühsamer und weniger unterhaltsam gewesen. Meine Eltern Delia und Agostino Priuli-Bondolfi unterstützten mich immer in allen Vorhaben. Sie haben mich zusammen mit Tiziana und Claudio Christoffel sowie Marcella und Dominik Büchi stets liebevoll begleitet. Ihnen gilt dafür ein besonderer Dank. Meine Frau Claudia Priuli war vor, während und nach dem Forschungsprojekt Stütze, Inspiration und vieles mehr. Ihr gebührt der grösste Dank. Unserer Familie widme ich diese Arbeit. Rechtsprechung und Literatur wurden bis zum 31. Januar 2015 berücksichtigt; dies ist auch der Stichtag für die Verfügbarkeit der zitierten Internetinhalte. Zumikon, im Herbst 2015
Valerio Priuli
Inhaltsübersicht 1. Teil Einleitung
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§ 1 Zur Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
§ 2 Forschungsinteresse: Sezessionsrechtliche Desorientierung und völkerrechtliche Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
2. Teil Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
49
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . .
49
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation . . . . . . . . . .
80
§ 5 Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 § 6 Die geltungsbezogene Argumentationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
3. Teil Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
152
§ 7 Von den Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen . . 152 § 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 § 9 Die Sezession als Willensäusserung des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 § 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 § 11 Die Sezession als abnormale Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 § 12 Die Sezession als Übergang des Hoheitstitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 § 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
8
Inhaltsübersicht 4. Teil Fazit: Teilorientierung im Zustand der Desorientierung
434
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Dokumentenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Urteilsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einleitung § 1 Zur Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Forschungsinteresse: Sezessionsrechtliche Desorientierung und völkerrechtliche Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Untersuchungsthema: Sezessionsrechtliche Desorientierung . . . . . . . . . . . . II. Untersuchungsgegenstand: Völkerrechtliche Argumentation . . . . . . . . . . . . III. Konjunktion von Thema und Gegenstand im Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einbettung der Arbeit in den Forschungsstand zum Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23 23 25 25 32 37 41
2. Teil Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
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§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe . . . . . . . . . . . . . I. Die völkerrechtliche Argumentation zwischen Deduktion und Persuasion . II. Argumentation als Deduktion in einem geschlossenen System . . . . . . . . . . 1. Das Völkerrecht als axiomatisches Normsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anschlussfähige juristische Argumentationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Problematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Argumentation als Persuasion in einem kommunikativen Prozess . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strukturelle Indetermination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sprachliche Indetermination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anschlussfähige juristische Argumentationstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Problematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 49 50 50 53 56 61 61 62 64 70 73 75
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation . . . . . . I. Die Grundlage der modernen Linguistik: Von der Repräsentation zur Differenzialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80 80
10
Inhaltsverzeichnis II. Vom differentiellen Zeichen zur Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zeichen und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Selbstverortung und Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung als vorläufige Spezifität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorläufige Spezifität und Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schlussfolgerungen für den Begriff des völkerrechtlichen Arguments . . . . 1. Der Zeichengebrauch als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die semiotische Dimension des Gutachterverfahrens . . . . . . . . . . . . . b) Die semiotische Dimension von Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut . . . . . . . . 2. Entscheidung und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84 89 89 91 93 96 96 97 99 103 109
§ 5 Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Basis der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom Zeichengebrauch zur Zeichenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Orientierung in Zeichenpraxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Orientierung an Zeichen und ihrem konventionellen Gebrauch . . . . . b) Orientierung durch Reflexion der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Primäre, theoretische und theoriegeleitete Praxis . . . . . . . . . . . . . bb) Orientierung durch Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Weitere epistemische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit: Argumentieren auf sicherer Basis als Erklären . . . . . . . . III. Der Übergang: Geltungsbezogenes Argumentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Suche nach Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Quaestio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die thetische Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Argumentation als Prüfung von Geltungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Grundoperationen der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Behaupten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rahmenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rahmensetzung im argumentativen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Manifeste und latente Rahmen – Perspektive und Sichtweise . . . . . . 5. Dynamischer Dialog und thetische Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die dynamische Konzeption des argumentativen Dialogs . . . . . . . . . . b) Die thetische Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Geltung: argumentationsstandrelative Einwandfreiheit als Geltungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
110 110 111 111 115 115 118 118 121 123 124 124 124 124 126 129 130 131 131 134 134 134 136 138 138 140 141
Inhaltsverzeichnis
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§ 6 Die geltungsbezogene Argumentationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Argumentationsanalyse als beobachtende Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Schritte der Argumentationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Teil Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens § 7 Von den Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Dokumente des Kosovo-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schriftliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Exkurs: Die schriftliche Stellungnahme der „Republik Kosovo“ . . . c) Repliken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mündliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Gutachten und Stellungnahmen der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einordnung der Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erster Parameter: pro Kosovo oder pro Serbien? . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweiter Parameter: Mitgliedschaft in Institutionen, die im kosovarischen Sezessionskonflikt eine steuernde Funktion innehatten oder -haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tabellarische Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vom Material zu argumentativen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Von argumentativen Texten zu Argumentationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . § 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schriftliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hauptthese der Position 1: „the UN has never accepted the principle of secession“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subthese 1: Das Prinzip der territorialen Integrität verbietet die Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Territoriale Integrität als grundlegendes völkerrechtliches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die inhaltliche Tragweite des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Anwendbarkeit ratione personae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Subthese 2: Keine Relativierung der territorialen Integrität durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als grundlegendes, aber klar begrenztes völkerrechtliches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis bb) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Inhaltliche Tragweite: das Selbstbestimmungsrecht als Prinzip der Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Repliken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Position 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Proponenten der Position 2 als Opponenten der Position 1 . . . . . . . . a) Einwände zum Prinzip der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einwände zur systematischen Stellung des Prinzips . . . . . . . . . . . bb) Einwände zur Anwendbarkeit ratione personae . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einwände zur Voraussetzung des Einverständnisses des betroffenen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwände zum Selbstbestimmungsrecht der Völker . . . . . . . . . . . . . . aa) Einwände zur systematischen Stellung und zur inhaltlichen Tragweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einwände zu den Trägern des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . c) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Proponenten der Position 3 als Opponenten der Position 1 . . . . . . . . a) Einwände zum Prinzip der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einwände zur systematischen Stellung des Prinzips . . . . . . . . . . . bb) Einwände zur Anwendbarkeit ratione personae . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 4. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mündliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Position 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Subthese 1: Prinzip der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Subthese 2: Selbstbestimmungsrecht der Völker . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186 191 195 195 196 197 198 198 198 202 202 203 203 203 203 204 205 206 206 207 208 208 211 211 211 211 212 216 218 220 220 220 222 226 226 227 228
Inhaltsverzeichnis
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2. Der Proponent der Position 4 als Opponent der Position 1 . . . . . . . . . . . a) Einwände zum Prinzip der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwände zum Selbstbestimmungsrecht der Völker . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 3. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229 229 231 231 232
§ 9 Die Sezession als Willensäusserung des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schriftliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hauptthese der Position 2: „Die vorstehenden Absätze sind nicht so auszulegen, als . . .“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Systematische Stellung des Selbstbestimmungsrechts und Verhältnis zum Prinzip der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Externe oder remediale Ausübung des Selbstbestimmungsrechts . . aa) Die externe Ausübung als Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Voraussetzungen der externen Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Lang anhaltende und schwere Verunmöglichung der Ausübung des internen Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . (2) Die Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechts als ultimum remedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Weitere Voraussetzungen: Referendumspflicht? Einhaltung von Menschen- und Minderheitenschutzstandards? . . . . . . . (4) Verwirkung des Rechts zur Sezession? . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 2 . . . . . . . a) Allgemeine Einwände zur Theorie der remedialen Sezession . . . . . . b) Einwände zur e contrario-Auslegung der Schutzklausel der FRD . . c) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Proponent der Position 5 als Opponent der Position 2 . . . . . . . . . . . a) Zur Theorie der remedialen Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zu einem generellen Recht zur Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Repliken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Position 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
234 234 234 235 240 242 242 247 248 249 249 250 251 251 256 256 256 259 264 264 265 265 266 266 267 267 267 268 268 269 269
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Inhaltsverzeichnis aa) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das remediale Recht zur Sezession und die zweite Voraussetzung der externen Ausübung als ultimum remedium . . . . . . . . . . b) Die Sezession des Kosovo als Teil der Dissolution der SFRJ . . . . . . . c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 2. Gegeneinwand zum Einwand, dass die Sezession eine dem Recht der Staatenverantwortlichkeit fremde Sanktion sei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zusammenfassende Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 3. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 2 . . . . . . . . a) Einwände zur systematischen Stellung des Selbstbestimmungsrechts der Position 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwände zu den Trägern des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . c) Einwände zur Theorie der remedialen Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einwände zum Bestehen eines remedialen Rechts zur Sezession bb) Einwände zur Rahmung der Sezession als Rechtsbehelf . . . . . . . cc) Einwände zur ersten Voraussetzung der Verunmöglichung der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . dd) Einwände zur zweiten Voraussetzung der externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts als ultimum remedium . . . . . . . . . d) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Proponenten der Position 3 als Opponenten und Proponenten der Position 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einwände zur Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker für den Vorgang der Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker im Falle der Bejahung seiner Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 5. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mündliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Position 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Systematische Stellung des Selbstbestimmungsrechts und Verhältnis zum Prinzip der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bejahung der kosovarischen Trägerschaft: Jordanien . . . . . . . . . . bb) Verneinung der kosovarischen Trägerschaft: Russland . . . . . . . . c) Externe oder remediale Ausübung des Selbstbestimmungsrechts . . . d) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 2 . . . . . . . . a) Einwände zu den Trägern des Selbstbestimmungsrechts der Völker .
269 270 270 271 272 272 273 276 276 277 279 279 281 281 282 283 283 283 287 287 288 291 292 293 293 293 294 294 295 296 297 299 299
Inhaltsverzeichnis
15
b) Einwände zur These des remedialen Rechts zur Sezession . . . . . . . . c) Einwände zu einem verfassungsmässigen Recht zur Sezession . . . . d) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Proponenten der Position 3 als Proponenten der Position 2 . . . . . . . a) Zusammenfassende Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Proponent der Position 5 als Opponent der Position 2 . . . . . . . . . . . a) Zusammenfassende Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 5. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300 303 303 303 304 305 305 305 309 309 310 310 310 311 311
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schriftliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hauptthese der Position 3: „Secession, if successful in the streets . . .“ . . a) Subthese 1: Die Unabhängigkeitserklärung und die Sezession als faktische Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Subthese 2: Die Neutralität des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsatz: Keine völkerrechtliche Regelung der Sezession . . . bb) Ausnahme: ius cogens-Verletzungen und kollektive Nichtanerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Annäherung an die Position 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 3. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Repliken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründungen der Position 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Subthese 1: die Faktizität der Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Subthese 2: die Neutralität des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 3 . . . . . . . a) Einwände zur Subthese 1: Die Unabhängigkeitserklärung und die Sezession als faktische Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwände zur Subthese 2: Die Neutralität des Völkerrechts . . . . . . .
312 312 312 313 315 315 324 329 329 333 334 334 335 335 336 336 336 337 338 339 339 341
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Inhaltsverzeichnis c) Einwände zum Lotus-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 3. Der Proponent der Position 5 als Opponent der Position 3 . . . . . . . . . . . . a) Einwände zur Subthese 1 der Faktizität der Sezession . . . . . . . . . . . . b) Einwände zur Subthese 2 der Neutralität des Völkerrechts . . . . . . . . aa) Zur Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur These, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung keine Völkerrechtssubjekte seien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mündliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Position 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur Subthese 1: die Faktizität der Sezession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Subthese 2: die Neutralität des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Grundsatz der Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Ausnahme der Illegalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stützung der Hauptthese durch eine neue Begründungsstruktur: Burundi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 3 . . . . . . . . a) Einwände zur These der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwände zur Neutralitäts-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einwand zur These der Konsolidierung der Staatlichkeit . . . . . . . . . . d) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Proponenten der Position 2 als Proponenten der Position 3 . . . . . . . a) Zusammenfassende Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 4. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 11 Die Sezession als abnormale Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schriftliche Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hauptthese der Position 4: „the essential basis of these rules, that is to say, territorial integrity, is lacking“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begründung der Hauptthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
342 343 345 345 345 345 347 348 348 349 353 353 354 354 356 356 368 369 374 377 377 377 379 382 382 383 383 384 384 385 385 386 386 386 387 390
Inhaltsverzeichnis
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a) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Replik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mündliche Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Position 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Berücksichtigung des historischen Kontexts der Unabhängigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Faktizität der Staatsentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Notwendigkeit der Berücksichtigung des Einzelfalls . . . . . . . . . . . . . d) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertiefung der subjektiven Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 4 . . . . . . . a) Zusammenfassende Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar: Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . 3. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
390 394 394 394 395
§ 12 Die Sezession als Übergang des Hoheitstitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schriftliche Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hauptthese der Position 5: „nothing has occured to cast doubt on Serbia’s uncontested title to Kosovo“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Souveränität und territoriale Integrität als grundlegende völkerrechtliche Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Subthese 1: Es gab keinen legalen Übergang des Hoheitstitels von Serbien auf den Kosovo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Subthese 2: Die Legalität der Staatsentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . II. Replik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mündliche Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Position 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Staatsentstehung und der Übergang von Hoheitstiteln . . . . . . . . b) Zur Legalität von Staatsentstehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . 2. Die Proponenten der Position 2 als Opponenten der Position 5 . . . . . . . a) Zusammenfassende Reformulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analytischer Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Intervenierende Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erhebung des Argumentationsstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
402 402
395 395 396 397 397 398 399 399 400 401
402 402 403 405 407 408 408 409 409 409 410 411 411 412 412 413
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 I. Das Gutachten: Der Gerichtshof als Proponent der Position 3 . . . . . . . . . . . 414
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Inhaltsverzeichnis 1. Weichenstellungen für die Begründung und Abweisung der Position 5 (Rz. 51 und 56) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abweisung der Position 1 (Rz. 79–81) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hinweis auf die Position 2 (Rz. 82–83) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Umsetzung der Position 3 am Beispiel der Frage nach den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erhebung des Arugmentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Spuren der anderen Sezessionen: Erklärungen, abweichende und gesonderte Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Richter als Opponenten des Gutachtens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einwände zu den Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einwände zur Identifizierung der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundsätzlicher Einwand: Keine Orientierung durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Richter Koroma als Proponent der Position 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Richter Cançado Trindade und Yusuf als Proponenten der Position 2 . . a) Die Begründung der funktionalen Ausrichtung der territorialen Integrität auf den Schutz der menschlichen Integrität: Richter Cançado Trindade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anerkennung des remedialen Rechts zur Sezession durch Richter Yusuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker: Richter Bennouna und Tomka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension . . . . . . 5. Erhebung des Argumentationsstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
414 415 416 416 417 419 419 419 421 423 424 425
425 428 429 430 433
4. Teil Fazit: Teilorientierung im Zustand der Desorientierung
434
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Dokumentenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Urteilsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
Abkürzungsverzeichnis ABl Abs. ACHPR AJIL A/RES ARSIWA ARSP Art. AU BYIL bzw. CERD-Ausschuss CJIL CYIL d. h. EG EGMR EJIL EPZ/EPC EU f./ff. Fn. GASP GLJ GUS ICJ ICTR ICTY IGH ILC I.L.M. ILR
Amtsblatt Absatz African Commission on Human and Peoples’ Rights American Journal of International Law Resolution der Generalversammlung der VN ILC Articles on the Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, in: ILC Yearbook 2001/II(2), 26 Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Afrikanische Union (vor dem 9. Juli 2002: OAU) British Yearbook of International Law beziehungsweise Committee on the Elimination of Discrimination Chinese Journal of International Law Canadian Yearbook of International Law das heisst Europäische Gemeinschaft/en Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Journal of International Law Europäische Politische Zusammenarbeit/European Political Cooperation Europäische Union folgende Fussnote Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU (vgl. Art. 23 ff. EUV) German Law Journal Gemeinschaft Unabhängiger Staaten International Court of Justice/Internationaler Gerichtshof International Criminal Tribunal for Rwanda International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia/Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Internationaler Gerichtshof International Law Commission/Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen International Legal Materials International Law Reports
20 INGO/s IO/s ISG ISGH IStGH i. S. v. IWF Jg. JZ KSZE lit. LNOJ LNTS MNU/s MPEPIL m. St. N Nr. OAS OAU OIK OIZ OSZE OVKS PISG RAB (EU) RdC
RGDIP Rz. S. SEV
Abkürzungsverzeichnis Internationale Nichtregierungsorganisation/en Internationale Organisation/en International Steering Group Internationaler Seegerichtshof Internationaler Strafgerichtshof im Sinne von Internationaler Währungsfonds Jahrgang Juristenzeitung Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (seit dem 1. Januar 1995: OSZE) litera League of Nations Official Journal/Offizielles Journal des Völkerbunds League of Nations Treaty Series/Vertragssammlung des Völkerbunds Multinationale/s Unternehmen Max Planck Encyclopedia of Public International Law (mpepil. com) mündliche Stellungnahme/n Randnote Nummer Organisation Amerikanischer Staaten Organization for African Union/Organisation für Afrikanische Einheit (seit dem 9. Juli 2002: AU) Organisation der Islamischen Konferenz (seit dem 28. Juni 2011: OIZ) Organisation für Islamische Zusammenarbeit (vor dem 28. Juni 2011: OIK) Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (vor dem 1. Januar 1995: KSZE) Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit Provisorische Selbstverwaltungsinstitutionen/Provisional Institutions of Self-Government Rat für Auswärtige Angelegenheiten der EU Recueil des cours de l’Académie de droit international de La Haye/Collected Courses of the Hague Academy of International Law Revue Générale de Droit International Public Randziffer Seite/n Europarat, Sammlung der Europäischen Verträge (1949–2003/ Nr. 001–193) und Sammlung der Europaratsverträge (ab 2004/ Nr. 194 ff.)
Abkürzungsverzeichnis S/PRST S/RES sog. SRSG
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Erklärung des Präsidenten des Sicherheitsrats der VN Resolution des Sicherheitsrats der VN sogenannt Sonderbeauftragter des Generalsekretärs der VN/Special Representative of the Secretary-General s. St. schriftliche Stellungnahme/n StIGH Ständiger Internationaler Gerichtshof u. a. unter anderem/n UNCIO United Nations Conference on International Organization (Gründungskonferenz der VN. Sie fand vom 25. April bis zum 26. Juni 1945 in San Francisco statt; auch: Konferenz von San Francisco) UNRIAA United Nation Reports of International Arbitral Awards UNTS United Nations Treaty Series Venedig-Kommission Europarat, European Commission for Democracy through Law (Venice Commission) vgl. vergleiche VN Vereinte Nationen YILC Yearbook of the International Law Commission ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht/ Heidelberg Journal of International Law z. B. zum Beispiel Ziff. Ziffer ZÖR Zeitschrift für öffentliches Recht/Journal of Public Law
1. Teil
Einleitung § 1 Zur Untersuchung Das Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs bot 43 Staatenvertretern und den Verfassern der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung die erstund bisher einmalige Gelegenheit, die grundlegende Frage der Rechtmässigkeit der Sezession in einem der wichtigsten Foren des Völkerrechts zu behandeln. Seit dem weitgehenden Abschluss der formellen Dekolonialisierung und dem Ende des Kalten Krieges ist die Beantwortung der Frage schwieriger geworden. Die Konflikte in Südossetien, Abchasien, auf der Krim und in der Ostukraine, die Aufteilung des Sudans oder die Sezessionsbestrebungen in mehreren europäischen Ländern und nicht zuletzt der nach wie vor umstrittene Status des Kosovo zeigen aber, dass sie auch nach Abschluss des Kosovo-Verfahrens immer wieder beantwortet werden muss. Die Antwort bedarf als völkerrechtliche Antwort der Begründung. Neben dem Thema der Sezession beschäftigt sich die Untersuchung daher mit dem „Gegenstand“ der völkerrechtlichen Argumentation. Dass das Völkerrecht als argumentative Praxis verstanden werden kann, ist mittlerweile ein völkerrechtstheoretischer Gemeinplatz. Es ist aber nicht immer klar, was damit gemeint ist und was die Folgen für den Begriff des völkerrechtlichen Arguments sind. Die vorliegende Untersuchung versucht, die völkerrechtliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des Arguments durch die Rezeption der neuesten argumentationstheoretischen Entwicklungen zu vertiefen und zu bereichern. Diese Untersuchung nimmt das Kosovo-Verfahren zum Anlass, sich sowohl mit dem Thema der Sezession als auch mit dem „Gegenstand“ der völkerrechtlichen Argumentation auseinanderzusetzen. Das an Thema, Gegenstand und Verfahren bestehende Forschungsinteresse wird sogleich begründet (§ 2). Bevor das Verfahren analysiert werden kann, ist die theoretische Grundlage der Analyse zu erarbeiten; dies geschieht im zweiten Teil der Untersuchung. Zuerst werden die im völkerrechtlichen Schrifttum am häufigsten verwendeten Argumentbegriffe problematisiert (§ 3). Danach wird eine zeichentheoretische Grundlage erarbeitet, die einerseits die Thesen eines rein logisch-deduktiven und eines rein rhetorisch-perlokutionären völkerrechtlichen Argumentbegriffs zu entkräften vermag. Andererseits legt sie das Fundament für eine pragmatische und dialogische Theorie – hierbei stützt sich die Untersuchung insbesondere auf die rechtsphilosophi-
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1. Teil: Einleitung
sche Arbeit von Thomas Coendet (§ 4). Danach wird die von Harald Wohlrapp entwickelte geltungsbezogene Argumentationstheorie eingeführt (§ 5). Gestützt auf einen so entwickelten Argumentbegriff werden die Schlüsse für die Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens gezogen (§ 6). Die Sezession des Kosovo wurde – mehrheitlich von westlichen Staaten – als sui generis-Fall bezeichnet. Diese Bezeichnung sollte zum Ausdruck bringen, dass die Sezession des Kosovo derart einzigartig sei, dass man sich in keinem anderen Fall auf sie beziehen könne. Die Argumentationsanalyse des Verfahrens zeigt, dass die argumentative Behandlung der kosovarischen Sezession und der Sezession im Allgemeinen weniger einen eigenen Genus als vielmehr folgende mehr oder weniger bekannte völkerrechtliche Sezessions-Genera hervorgebracht hat: Die Sezession als Abspaltung des Territoriums (§ 8), als Willensäusserung des Volkes (§ 9), als faktischer Vorgang der Staatsentstehung (§ 10), als abnormale Situation (§ 11) oder als Übergang des Hoheitstitels (§ 12). Diese fünf Genera bilden das Raster für die Darstellung der Argumentationsanalyse. Sie werden jeweils in den drei verfahrensrechtlichen Schritten des Gutachterverfahrens dargestellt und kommentiert. Dieses wurde durch Veröffentlichung des Gutachtens und der Stellungnahmen der Richter abgeschlossen. Der Abschluss wird vorliegend nicht bloss als autoritativer Entscheid, sondern als weiterer Beitrag zum argumentativen Dialog analysiert (§ 13). Der Gerichtshof tritt damit neben seiner Rolle als Richter auch als Proponent einer bestimmten Position und Opponent anderer Positionen auf. Die Untersuchung hat nicht zum Ziel, selbst eine Antwort auf die Frage nach der Rechtmässigkeit der Sezession zu geben. Sie zeigt vielmehr, welche Antworten von den verschiedenen völkerrechtlichen Akteuren vertreten worden sind und wie diese versucht haben, die mit ihren Antworten erhobenen Geltungsansprüche einzulösen. Sie kann auf zwei Arten gelesen werden: einerseits als Annäherung an den „Gegenstand“ der völkerrechtlichen Argumentation über das Thema der Sezession, andererseits als Annäherung an das Thema der Sezession über den „Gegenstand“ der völkerrechtlichen Argumentation. Beide Lesearten sollen einen Orientierungsgewinn bezüglich Thema und „Gegenstand“ bringen.
§ 2 Forschungsinteresse: Sezessionsrechtliche Desorientierung und völkerrechtliche Argumentation I. Untersuchungsthema: Sezessionsrechtliche Desorientierung „Ist die unilaterale Unabhängigkeitserklärung der provisorischen Selbstverwaltungsorganisationen des Kosovo völkerrechtskonform?“ 1 Diese Frage überwies die Generalversammlung der VN am 8. Oktober 2008 dem IGH. Sie wurde von Serbien formuliert und in die Generalversammlung eingebracht.2 Der Schritt wurde wie folgt begründet: „Although an overwhelming majority of Member States have not recognized Kosovo’s independence, this act has caused a number of controversies and divisions within the international community. [. . .] The international community considers the Court’s impartial advisory opinions to be the most authoritative interpretations of the principles of the international legal order. Member States share a deep commitment to the safeguarding of these principles, yet some are uncertain as to which arguments involving these principles they can rely on in this particular case. Many Member States would benefit from the legal guidance an advisory opinion of the International Court of Justice would confer. It would enable them to make a more thorough judgement on the issue.“ 3 1 A/RES/63/3: „Is the unilateral declaration of independence by the Provisional Institutions of Self-Government of Kosovo in accordance with international law?“. 2 A/RES/63/L.2. Die Bezeichnug aller Staaten orientiert sich an der Liste der Staatenbezeichnungen der Sektion II der Direktion für Völkerrecht des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten vom 30. April 2014 (http://www.eda. admin.ch/etc/medialib/downloads/edazen/topics/intla/cintla.Par.0011.File.tmp/140429_ liste_den_Etats_D.pdf). Der Kosovo, der sich selbst als Republik Kosovo bezeichnet, wird von Serbien Kosovo-Metochien genannt. In einem am 24. Februar 2012 zwischen Serbien und Kosovo abgeschlossenen Abkommen über die regionale Repräsentation des Kosovo haben sich die beiden Parteien in Ziff. 3 auf die Bezeichnung „Kosovo*“ geeinigt. Der Stern verweist auf folgende Aussage: „This designation is without prejudice to positions on status, and is in line with UNSC 1244 and the ICJ Opinion on the Kosovo declaration of independence.“ Aus Gründen der Leserfreundlichkeit wird die im Abkommen vereinbarte Bezeichnung ohne Stern übernommen. Grammatikalisch orientiert sich der Sprachgebrauch an der offiziellen Bezeichnung der Schweiz. 3 Explanatory Memorandum, in: Letter dated 15 August 2008 from the Permanent Representative of Serbia to the United Nations addressed to the Secretary-General, Request for the inclusion of a supplementary item in the agenda of the sixty-third session,
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1. Teil: Einleitung
Der Auszug verweist auf eine Kontroverse innerhalb der internationalen Gemeinschaft, auf eine Unsicherheit bezüglich der möglichen rechtlichen Argumente, auf die man sich stützen kann und auf den möglichen Nutzen einer rechtlichen Orientierung durch den Gerichtshof. Die Begründung des Ständigen Vertreters Serbiens bei den Vereinten Nationen spricht eine Desorientierung an, die unter anderem auch vom Gerichtshof ausgemacht wurde.4 Zahlreiche Staaten wiesen in der Besprechung des Resolutionsvorschlags darauf hin, dass ein Gutachten des Gerichtshofs in einem höchst umstrittenen Bereich des Völkerrechts, dem der Sezession, Orientierung schaffen könnte.5 Auch das völkerrechtliche Schrifttum geht von einem Zustand der Desorientierung und einer potenziellen Orientierung durch den Gerichtshof aus: „Where the Court is expected to address contested areas of international law, or problems that have not yet been fully addressed by international standards and practice, the influence of its pronouncements can be particularly powerful. The law of selfdetermination, secession, statehood, and recognition is one such area.“ 6
Die Antwort des Gerichtshofs wurde mit Spannung erwartet. Das Interesse am Gutachten zeigt sich beispielsweise an der hohen Beteiligung von 43 Staaten und der erstmaligen Teilnahme von China am mündlichen Teil des Verfahrens.7 Damit beteiligten sich erstmals alle fünf Vetomächte sowohl am schriftlichen als auch am mündlichen Teil des Verfahrens.8 Der Gerichtshof hat im Gutachten den Zustand der Desorientierung insofern anerkannt, als dass er auf die „radically different views“ hinweist, die in das Verfahren eingebracht worden sind. Für Peter Hilpold hat das Verfahren „die Gelegenheit für eine umfassende Diskussion dieser Thematik eröffnet.“ 9 Diese Gelegenheit soll hier wahrgenommen werden. Request for an advisory opinion of the International Court of Justice on whether the unilateral declaration of independence of Kosovo is in accordance with international law, 22. August 2008, A/63/195, 1 ff., 3 (Hervorhebungen hinzugefügt). 4 IGH, Kosovo, Rz. 82 f. Vgl. zum Begriff der Desorientierung unten § 5 III. 5 A/63/PV.22, Stellungnahmen von Serbien, Albanien, USA, Rumänien, Ägypten, Frankreich, Komoren, Costa Rica, Schweiz und El Salvador. Vgl. auch Burundi, m. St., 38. 6 Weller, Modesty, 128. Vgl. auch Christian Walter, Subjects of International Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Online-Edition (www.mpepil.com), Heidelberg/Oxford 2007, Rz. 8; Doehring, 55; Oeter, Self-Determination, 330 und Chernichenko/Kotlyar, die von einer „Ongoing legal debate on Self-determination and Secession“ sprechen. 7 Es weist eine ähnlich bedeutende Teilnehmerliste auf wie die Verfahren zu den Gutachten Nuclear Weapons und Wall, vgl. Mahasen M. Aljaghoub, The Advisory Function of the International Court of Justice 1946–2005, Berlin/Heidelberg 2006, 135 ff. 8 Ker-Lindsay, 4; Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 17; China (Xue), m. St., 28: „Although this is the first time for the People’s Republic of China to participate in the proceedings of the Court, the Chinese Government has always held great respect fort he authority and importance of the Court in the field of international law.“ 9 Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten, 69.
§ 2 Forschungsinteresse
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Die Sezession war vom ausgehenden 18. und bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts ein verbreiteter und umstrittener Modus der Staatsentstehung. Im 20. Jahrhundert werden die Staatsentstehungen im Zuge der Dekolonialsierung als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts teilweise als Sezessionen bezeichnet.10 Seit dem Ende des Kalten Krieges und insbesondere seit den Dissolutionen der UdSSR und der SFRJ ist die Frage nach der völkerrechtlichen Normierung der Sezession wieder aktuell. Aus der Dissolution der UdSSR sind ungelöste Sezessionskonflikte in folgenden Regionen hervorgegangen: Tschetschenien (Russland), Südossetien und Abchasien (Georgien),11 Nagorno-Karabach (Aserbaidschan),12 Transnistrien (Moldawien) und – seit neuestem – Krim und die Donbass-Region (Ukraine). Während der Dissolution der SFRJ wurden die Sezessionen der ehemaligen Republiken Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Mazedonien anerkannt13 und diejenigen der Repulika Srpska und der Republik Serbische Krajna nicht.14 Ebenso führt eine zunehmende internationale Verflechtung dazu, dass in gewissen Regionen die Option der Kleinstaatlichkeit an Attraktivität gewinnt.15 Exemplarisch sind die Sezessionsbestrebungen in Katalonien, im Baskenland und in Schottland. In allen drei Entitäten möchten sich die Sezessionisten vom Staat abspalten, gleichzeitig aber die europäische und internationale Verflechtung beibehalten. Mit der Anerkennung des Kosovo durch mittlerweile 112 Staaten hat erstmals ein bedeutender Teil der Staatengemeinschaft eine Sezession unterstützt, bevor der betroffene Staat sein Einverständnis gegeben hat.16 Es ist aber nach wie vor nie ein Staat in die VN aufgenommen worden, bevor sich der neue Staat und der von der Sezession betroffene Staat geeinigt haben.17 Sowohl im Schrifttum
10 Diese Bezeichnung kann für die Staatsentstehungen seit 1970 als unzutreffend angesehen werden, weil die kolonialisierten und nichtselbstverwalteten Gebiete über einen separaten Status verfügten. Vgl. FRD, Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, Absatz 7. 11 Vgl. z. B. Rein Müllerson, Precedents in the Mountains: On the Parallels and Uniqueness of the Cases of Kosovo, South Ossetia and Abkhazia, in: CJIL, Vol. 8, Nr. 1, 2009, 2 ff. 12 Vgl. z. B. Heiko Krüger, Der Berg-Karabach-Konflikt. Eine juristische Analyse, Dordrecht 2009. 13 Vgl. Badinter-Schiedskommission, Gutachten 4 bis 7. 14 Vgl. Badinter-Schiedskommission, Gutachten 2. 15 Borgen, Separatism, 1029; Buchanan, Stanford Encyclopedia of Philosophy, Secession, 1 (plato.stanford.edu/entries/secession). 16 Damit ist der Kosovo neben Palästina die einzige Entität, die nicht Mitglied der VN ist, von einer Vielzahl von VN-Mitgliedern aber anerkannt wurde. Palästina wird momentan von 132 Staaten anerkannt und hat in den VN den Status eines Beobachterstaats inne. Andere Entitäten werden nur von einem Staat oder einer kleinen Minderheit der Staatengemeinschaft anerkannt, so z. B. Nordzypern, Somaliland, Südossetien und Abchasien oder Taiwan. 17 Crawford, Creation, 390.
28
1. Teil: Einleitung
als auch in den Stellungnahmen der Akteure finden sich konträre Positionen zur Frage, wie in der Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges – die von Allen Buchanan als „the age of secession“ 18 bezeichnet wird – mit dem Thema der Sezession umzugehen ist. Sezessionskonflikte stellen alte Grenzen infrage und erzwingen neue Grenzziehungen – auch im Falle der Bestätigung alter Grenzen. Am augenfälligsten ist die Infragestellung der territorialen Grenze. Diese symbolisiert die für das moderne Völkerrecht grundlegende Grenze zwischen völkerrechtlichen und innerstaatlichen Jurisdiktionsbereichen, zwischen inter und intra der modernen Staatenwelt. Ihre erfolgreiche Verschiebung kann aus Freiheitskämpfern oder Terroristen Staatsvertreter,19 aus Minderheiten Mehrheiten, aus Mehrheiten Minderheiten,20 aus einer internen eine externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, aus innerstaatlichen internationale Konflikte21 und aus einem innerstaatlichen militärischen Einsatz eine völkerrechtswidrige Intervention machen. Während Sezessionskonflikten werden aber nicht bloss territoriale Grenzen infrage gestellt und gezogen. Die Begründung von Sezessions- und Gegenansprüchen führt zu „argumentativen Grenzziehungen“, die den eigenen Anspruch stützen und dem Gegenanspruch die Grundlage entziehen sollen. Dabei kann beispielsweise die Grenze der Anwendbarkeit des Prinzips der territorialen Integrität ratione personae umstritten sein. Müssen Sezessionisten die territoriale Integrität „ihres“ Staates respektieren oder muss hier eine Grenze zwischen Staaten und nicht staatlichen Akteuren gezogen werden? Bedarf es einer weiteren Differenzierung zwischen einer Aufstandsbewegung, die einen Teil des Staatsterritoriums kontrolliert, und anderen nicht staatlichen Akteuren?22 Ergibt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker eine rechtliche Grundlage für eine Sezession 18 Allen Buchanan, Self-Determination, Secession, and the Rule of Law, in: Robert McKim/JeffMcMahan (Hrsg.), The Morality of Nationalism, New York/Oxford 1997, 301. 19 Wobei sich hier die Verschiebung der Grenze gemäss Art. 10 ARSIWA nicht auf die Verantwortlichkeit der Akteure auswirken sollte. Vgl. für eine allfällige völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Amtsträgern im Kosovo: Arp, 862 ff. 20 Vgl. dazu das von Koskenniemi als „onion problem of nationalism“ bezeichnete Problem (Martti Koskenniemi, National Self-Determination Today: Problems of Legal Theory and Practice, in: International and Comparative Law Quarterly, Vol. 43, Nr. 2, 1994, 241 ff., 260): „What appear as ,minorities‘ from an extensive gaze (focusing on ,Yugoslavia‘) will turn themselves into majority populations once one’s focus is closer (on ,Croatia‘, say). The distance is not something that can be chosen independently of one’s preferred solution but intrinsically a part of it. Hence the difficulty of achieving a ,consistent‘ application of the right of self-determination and the conflict-prone character of an attempt to attain it.“ Vgl. beispielsweise für Nordzypern: EGMR, Loizidou v. Turkey, Gesonderte Stellungnahme von Richter Wildhaber, unterstützt durch Richter Ryssdal. 21 Vgl. unten § 8 II.3.b). 22 So Roberto Ago, in: ILC Yearbook 1972/II, 129. Vgl. Crawford, State Responsibility, 171.
§ 2 Forschungsinteresse
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ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts? Wie ist dann die Grenze zwischen Minderheiten und Völkern, zwischen der Dekolonialisierung und der Post-Dekolonialisierung und zwischen der internen und der externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu ziehen? Ist die Effektivität, die Legalität oder die Legitimität der Sezession der entscheidende Gradmesser für ihre Anerkennung?23 Reicht es, dass die Sezession „successful on the streets“ 24 ist oder können und wollen die internationalen Akteure Legitimitäts- und Legalitätsansprüche erheben? Schliesslich geht es bei der argumentativen Einlösung der sich widersprechenden Ansprüche um die Grenze des Völkerrechts selbst: Soll das Völkerrecht überhaupt Stellung beziehen oder soll es sich nicht vielmehr neutral verhalten? Kann es den Anspruch erheben, Sezessionskonflikte zu steuern oder soll es sich vielmehr auf die Regelung der rechtlichen Konsequenzen begrenzen? Diese und weitere Fragen werden im Laufe der Untersuchung behandelt. Vorläufig bietet die völkerrechtliche Staatsentstehungstypologie eine erste Orientierung. Diese versucht, höchst komplexe soziopolitische Vorgänge mit Staatsentstehungstypologien zu erfassen, um die Rechtskonformität und die Rechtsfolgen dieser Vorgänge möglichst klar zuordnen zu können.25 Die Typologisierung erfolgt im Schrifttum nicht einheitlich; dies wirkt sich auch auf den Begriff der Sezession aus. Die Grundunterscheidung der Staatsbildungstypologie ist jene zwischen Kontinuität und Sukzession von Staaten.26 Dabei handelt es sich um völkerrechtliche „Annahmen“ 27, die den soziopolitischen Wandel in Staaten – Regierungs-, Bevölkerung-, Verfassungs-, Parlamentsänderungen usw. – mit der Fiktion der völkerrechtlichen Kontinuität oder Sukzession versehen.28 Die Annahme der Kontinuität führt dazu, dass ein bestimmtes Völkerrechtssubjekt in der Zeit bestehen bleibt. Die Annahme der Sukzession hingegen dazu, dass ein vormals bestehendes Subjekt durch ein neues oder mehrere neue ersetzt wurde.29 Daher stellen 23
Vgl. Saxer, Steuerung, 159 ff. Quebec-Gutachten, Rz. 142 und unten § 10. 25 Saxer, Steuerung, 781. Dieser identifiziert folgende im Schrifttum am häufigsten vorkommende Typen: Fusion, Absorption, Sezession, Devolution, Dismembration, internationale Konstituierung, Separation, Dekolonisierung und die Rekonstruktion (Saxer, Steuerung, 782 f.). Crawford (Creation, 255 ff.) unterscheidet folgende Modi: Ursprünglicher Erwerb, Abhängige Staaten und andere abhängige Entitäten, Devolution, Sezession, Wiedervereinigung, Staatenföderationen und die Erschaffung von Staaten durch IOs. Vgl. auch: Kohen/Hébié, Rz. 7 ff. und Kosovo, s. St., Rz. 8.07, Fn. 446. 26 Grundlegend: Krystina Marek, Indentity and Continuity of States in Public International Law, 2. Aufl., Genf 1968. 27 So Crawford, Creation, 667. 28 Crawford, Principles, 427. 29 Eine Legaldefinition der Sukzession findet sich in: Vienna Convention on Succession of States in respect of Treaties, Art. 2 Ziff. 1 lit. b; vgl. auch Vienna Convention on Succession of States in respect of State Property, Archives and Debts, Art. 2 Ziff. 1 lit. a und ILC, Draft Articles on Nationality of Natural Persons in Relation to the Suc24
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1. Teil: Einleitung
sich im Falle der Sukzession Fragen des Übergangs und des Untergangs von Rechten und Pflichten. Die Sezession unterscheidet sich von anderen Modi der Staatsentstehung dadurch, dass sowohl Sukzession als auch Kontinuität angenommen wird: Ein neuer Staat entsteht und kein bestehender geht unter. Der Staatsbildungsprozess kann auch dazu führen, dass sich die neue Entität mit einem Drittstaat zusammenschliesst.30 Geht der bestehende Staat als Völkerrechtssubjekt unter, so spricht man von Dismembration oder Dissolution.31 Im Gegensatz zu letzteren ist bei Sezessionen eine Kontinuität der völkerrechtlichen Subjektivität und damit der völkerrechtlichen Rechte und Pflichten gegeben.32 Der vollständige Untergang eines Staates ist im Hinblick auf bestehende völkerrechtliche Bindungen – Verträge, Konzessionen, Schulden, Mitgliedschaften usw. – schwerwiegender als seine vollständige oder partielle Kontinuität.33 Für den Prozess als solchen kann hingegen das Bestehenbleiben des vormaligen Staates zu einer Eskalation des Konflikts führen. Wo es zu einer Dissolution kommt, bleibt keine organisierte Herrschaftsgewalt bestehen, die die Sezessionsbestrebungen als ehemaliger Souverän bekämpfen könnte.34 Ein weiteres Kriterium, das die Sezession von anderen Modi unterscheidet, ist dasjenige des fehlenden Einverständnisses des betroffenen Staates. Dieses findet sich in engen Sezessionsdefinitionen, die damit eine Unterscheidung zwischen Sezession und Separation einführen.35 Letztere findet dann per definitionem im cession of States, Art. 2 lit. a, in: Report of the International Law Commission on the work of its fifty-first session, 3 May–23 July 1999, Official Records of the General Assembly, Fifty-fourth session, Supplement No.10, A/54/10, 25. Eine weitergehende Definition, die nicht am Territorium, sondern an der Subjektivität anknüpft, findet sich schon bei Oppenheim: Jennings/Watts, Band 1, 208. 30 Der Zusammenschluss kann durch einen Anschluss an einen Staatenbund oder durch Inkorporation in einen bestehenden Staat erfolgen; vgl. für die Staatsbildung im Rahmen der Dekolonialisierung: GA/RES/1541(XV) vom 15. Dezember 1960, Prinzip VI. 31 Die FRJ hat im jugoslawischen Dissolutionsprozess die Ansicht vertreten, Rechtsnachfolgerin der SFRJ zu sein. Diese Position fand keine internationale Unterstützung. Der Sicherheitsrat, die Generalversammlung, die Badinter-Schiedskommission (Gutachten 8) und der IGH sind von der Dissolution der SFRJ ausgegangen. Dies führte u. a. dazu, dass die FRJ nicht in die VN-Mitgliedschaft der SFRJ eintreten konnte, sondern sich um eine Mitgliedschaft bemühen musste. Somit konnte sie nicht den IGH anrufen (vgl. IGH, Case Concerning Legality of Use of Force (Serbia and Montenegro v. United Kingdom), Preliminary Obections, Judgment of 15 December 2004, ICJ Reports 2004, 1307, Rz. 43 ff.). Sie wurde 2000 als neues Mitglied in die VN aufgenommen. 32 Vgl. zur unterschiedlichen Bedeutung von Sezession und Dissolutionen für die Stabilität des internationalen Ordnung: Saxer, Steuerung, 794. 33 Saxer, Steuerung, 785. 34 Crawford, Creation, 391. 35 Kohen, Introduction, 3; so z. B. Crawford/Boyle, 112: „(Secession is t)he creation of a new state without the consent of the former sovereign state.“ (Hervorhebung hinzugefügt). Saxer, Steuerung, 782, umschreibt die Sezession als eine „nicht einvernehm-
§ 2 Forschungsinteresse
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Einvernehmen statt. Die Prozesse der Sezession und der Separation unterscheiden sich sowohl im Hinblick auf ihre Rechtmässigkeit als auch auf die Rechtsfolgen erheblich. Separationen sind sowohl völkerrechtsdogmatisch als auch in der Praxis unproblematischer. Ein Staat kann auf einen Teil seines Territoriums und seiner Bevölkerung verzichten; dies kann völkerrechtlich insofern Konsequenzen haben, als dass er dadurch beispielsweise vertragliche Pflichten verletzen könnte. In der Praxis werden einvernehmliche Staatsbildungen in der Regel weder durch Drittstaaten noch durch IOs problematisiert. Fragen der Staatensukzession in Bezug auf Verträge, Bürgerrechte, Eigentum, Schulden, Archive usw. können in einem Sukzessionsvertrag einvernehmlich geregelt werden. Die Sezession ist viel problematischer.36 Es stellt sich die Frage, auf welches Recht sich die Sezessionisten stützen können und ob es eines solchen Rechts überhaupt bedarf. Zusätzlich ist die Sezession per definitionem ein Konflikt, weil der betroffene Staat und die Sezessionisten unvereinbare Ansprüche erheben.37 Der primäre Konflikt zwischen Sezessionisten und Staat kann auf internationaler Ebene zu einem potenzierten Konflikt zwischen verschiedenen internationalen Akteuren führen. Und es stellen sich komplizierte Fragen der Staatensukzession, die den Konflikt zusätzlich verschärfen können. Diese rechtlichen und faktischen Unterschiede zwischen einer einvernehmlichen Separation und einer konfliktuellen Sezession rechtfertigen eine typologische Differenzierung. Eine Sezession ist somit die Gründung eines neuen Staates auf dem Territorium des ehemaligen, weiterhin bestehenden Staates ohne dessen Einverständnis. Diese „statische“ Umschreibung ist problematisch, weil sie zu schwierigen und künstlichen Fixierungen des Sezessionsprozesses auf bestimmte Zeitpunkte führt: Wann erfolgt eine Abspaltung, wann entsteht ein neuer Staat? Meist ergibt sich erst aus einer ex-post-Perspektive das Bild, das die statische Umschreibung liche Losreissung vom Mutterstaat.“ Vgl. auch Thürer/Burri, Rz. 1. Thürer/Burri lehnen die weite Definition mit Hinweis auf den generellen Gebrauch und die eigene Intuition ab (Rz. 4). Vgl. für eine weite Definition: Kohen, Introduction, 2 und z. B. Georg Nolte, Secession and Intervention, in: Marcolo G. Kohen (Hrsg.), Secession. International Law Perspectives, Cambridge 2006, 65 ff., 65: „Secession, as a legal term, means the – not necessarily forceful – breaking away of an integral part of the territory of a State and its subsequent establishment as a new state.“ 36 Vgl. Kohen, Introduction, 3. 37 Vgl. für eine rechtliche Definition des Konfliktbegriffs: StIGH, Mavrommatis Palestine Concession, 11: „A dispute is a disagreement on a point of law or fact, a conflict of legal views or of interests between two persons.“ Der IGH stellt nach objektiven Kriterien fest, ob ein Konflikt vorliegt (Interpretation of Peace Treaties with Bulgaria, Hungary and Romania [First Phase], 74; vgl. auch South West Africa Cases, Preliminary Objections, 328; Armed Activities on the Territory of the Congo (New Application: 2002), Jurisdiction and Admissability, 90; Application of the CERD [Georgia v. Russian Federation]), Preliminary Objections, Rz. 30). Er beschränkt sich dabei auf offizielle Dokumente und Stellungnahmen der Parteien, um festzustellen, ob von einer Partei ein Anspruch erhoben wurde, der von der andern bestimmt abgelehnt wurde (Application of the CERD [Georgia v. Russian Federation]), Preliminary Objections, Rz. 33).
32
1. Teil: Einleitung
evoziert.38 Eine dynamische Version der engen Definition hat beispielsweise Crawford vorgeschlagen: „,Secession‘ is the process by which a group seeks to separate itself from the state to which it belongs and to create a new state on part of that state’s territory. It is essentially a unilateral process.“ 39 Diese dynamische Variante des engen Sezessionsbegriffs bietet eine erste Orientierung.
II. Untersuchungsgegenstand: Völkerrechtliche Argumentation Die Arbeit setzt sich nicht nur mit dem Thema der Sezession, sondern auch mit dem Gegenstand der völkerrechtlichen Argumentation auseinander.40 Der Begriff des Arguments wird sowohl in der völkerrechtlichen Praxis als auch im Schrifttum auffällig oft verwendet:41 In der Praxis bezeichnet er die Eingaben der Parteien;42 vor dem IGH tragen die Vertreter „oral arguments“ vor (Art. 2 RiG) und nach Abschluss des Verfahrens ziehen sich die Richter zurück, um die vorgebrachten Argumente zu studieren (Art. 3 RiG); in den Stellungnahmen des Gutachterverfahrens zum Kosovo werden Argumente präsentiert und Argumente von anderen Staaten aufgegriffen und kommentiert;43 das Gutachten weist in zu38 So auch Peter Radan, Secession: A Word in Search of a Meaning, in: Alexander Pavkovic´ /Peter Radan (Hrsg.), On the Way to Statehood. Secession and Globalisation, 2008 Aldershot/Burlington, 17 ff., 19. Vgl. auch Thürer/Burri, Rz. 3 und Wilfried Fiedler, Der Zeitfaktor im Recht der Staatensukzession, in: H. Haller/C. Kopetzki/R. Novak/S. L. Paulson/B. Raschauer/G. Ress/E. Wiederin, Staat und Recht. Festschrift für Günther Winkler, Wien 1997, 217 ff. Von einem genauen Datum der Sukzession sprechen auch die Wiener Konventionen zur Staatensukzession und die Draft Articles der ILC: Vienna Convention on Succession of States in respect of Treaties, Art. 2 lit. e, Vienna Convention on Succession of States in respect of State Property, Archives and Debts, Art. 2 lit. d und ILC, Draft Articles on Nationality of Natural Persons in Relation to the Succession of States, Art. 2 lit. g, in: Report of the International Law Commission on the work of its fifty-first session, 3 May–23 July 1999, Official Records of the General Assembly, Fifty-fourth session, Supplement No. 10, A/54/10, 26. 39 Crawford/Boyle, 72. Vgl. auch Crawford, Secession, 85 f.: „Secession is the process by which a particular group seeks to separate itself from the State to which it belongs, and to create a new State. It is to be distinguished from a consensual process by which a State confers independence on a particular territory and people by legislative or other means, a process which may be referred to as devolution or the grant of independence. The key difference between secession and devolution is that the former is essentially a unilateral process, whereas the latter is bilateral and consensual.“; Kohen, Introduction, 14: „Secession is not an instant fact. It always implies a complex series of claims and decisions, negotiations and/or struggle, which may – or may not – lead to the creation of a new state.“ 40 Vgl. zur „Gegenständlichkeit“ von Argumenten unten § 6 I. 41 Im englischen Sprachraum sowohl im Sinne einer Meinungsverschiedenheit als auch im Sinne einer Begründung. Vgl. für die Unterscheidung zwischen „having an argument“ und „making an argument“: Daniel J. O’Keefe, Two Concepts of Argument, in: Journal of the American Forensic Association, Vol. 13, Nr. 3, 1977, 121 ff. 42 Vgl. z. B. Ständiger Schiedshof, Island of Palmas-Fall, 836 f.; StIGH, Eastern Greenland, 45; Aaland-Fall (Zuständigkeit), 14; Aaland-Fall, 1; Quebec-Gutachten, Rz. 111.
§ 2 Forschungsinteresse
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sammenfassender Form auf die Argumente der Staaten hin,44 nimmt diese auf oder weist sie ab und entwickelt eine eigene Argumentation;45 und die Wissenschaft analysiert die im Verfahren vorgebrachten Argumente und baut sie in die eigene Argumentation ein.46 Die Staaten und der Gerichtshof bezeichnen mit Argument oder Argumentation in der Regel einen grösseren oder kleineren Teil des Texts, der in Hinblick auf die Begründung einer Behauptung eine bestimmte Funktion erfüllt. Im Schrifttum findet sich in der Einleitung oder Zusammenfassung von Aufsätzen und Monographien oft eine komprimierte Version des im Werk entfalteten Arguments oder der Argumentation. Dass der Argumentation im Völkerrecht eine zentrale Rolle zukommt, ist unumstritten. Dies wurde auch schon auf völkerrechtstheoretischer Ebene reflektiert und durch die These zum Ausdruck gebracht, dass das Völkerrecht eine argumentative Praxis sei.47 Durch den häufigen Gebrauch des Begriffs drängt sich die Frage auf: Was ist eigentlich ein Argument? Und was ist eine argumentative Praxis? Die Antwort auf diese Frage erfolgt sowohl in der völkerrechtlichen Praxis als auch im Schrifttum oft implizit.48 Die Frage kann nicht ohne argumentationstheoretischen Hintergrund beantwortet werden.49 Das völkerrechtliche Argument, das sich uns als Gegenstand zeigt, tritt nur vor einem argumentationstheoretischen Hintergrund in Erscheinung. Bevor das Gutachterverfahren des IGH als argumentative Praxis analysiert werden kann, sind daher die argumentationstheoretischen Grundlagen der Analyse zu erarbeiten. Dies geschieht wie folgt: Als erstes werden die im völkerrechtlichen Schrifttum in der Regel implizit verwendeten Argumentationsbegriffe 43 Z. B. Ägypten, s. St., Rz. 74; Argentinien, s. St., Rz. 132, Replik, 8, 15; Burundi, m. St., 29; Russland, m. St., 40; Kosovo, s. St., Rz. 7.04; Luxemburg, s. St., Rz. 15 ff.; Norwegen, s. St., Rz. 3, m. St., 43; Finnland, m. St., 63; Österreich, s. St., Rz. 24; Rumänien, s. St., Rz. 67; Schweiz, Replik, Rz. 2; Serbien, s. St., Rz. 589; Slowakei, s. St., Rz. 14; 36; Spanien, s. St., Rz. 9, S. 55, Replik, Rz. 2, m. St. 54; Zypern, s. St., Rz. 114, 140, 148, 160; Zypern, Replik, Rz. 5, 28; Zypern, m. St., Rz. 39; Burundi, m. St., 29; USA, m. St., 28; Venezuela, m. St., 8 f. 44 IGH, Kosovo, Rz. 32, 82. 45 IGH, Kosovo, Rz. 34, 118. 46 Z. B. Arp, 848, 850; De Brabandere, 4; Circovic, 900; Christakis, Kosovo, 81; Corten, 87 f., 89, 91, 93 f.; Jacobs, 5; Riegner, 1050; Weller, Modesty, 137; Vidmar, Kosovo Opinion and General International Law, 1; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 355, 373. 47 Koskenniemi, Methodology, Rz. 1, Counterdisciplinarity, 19 ff. und Apology; D’Aspremont, Epistemic Forces, 4 und Venzke, Argument, 1 m.w. H. Vgl. auch Spiermann sowie unten § 3 III. 48 So D’Aspremont, Epistemic Forces, 4 und Venzke, Argument, 1. 49 Vgl. für eine gute Einführung in das Thema der juristischen Argumentationstheorien: Feteris und Günther Kreuzbauer, Kleine Einführung in die Forschungsgeschichte der juristischen Argumentationstheorie, in: Günther Kreuzbauer/Silvia Augeneder (Hrsg.), Der Juristische Streit, Recht zwischen Rhetorik, Argumentation und Dogmatik, ARSP Beiheft Nr. 99, Stuttgart 2004, 9 ff.
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1. Teil: Einleitung
problematisiert (IV.). Aufgrund dieser Problematisierung wird die Zeichenpraxis als Grundlage der Argumentation eingeführt (V.). Es wird die sprachphilosophische Entwicklung von einem Repräsentationsmodell der sprachlichen Bedeutung über einen strukturalistischen zu einem poststrukturalistischen Zeichenbegriff nachvollzogen. Dies aus zwei Gründen: Erstens kann damit sowohl die Behauptung einer völligen Determination der sprachlichen Bedeutung in Raum und Zeit als auch diejenige einer völligen Indetermination entkräftet werden. Zweitens ist damit eine zeichentheoretische Grundlage für die Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie gegeben (VI.). Diese Theorie fasst Argumentation als eine geltungsbezogene sprachliche Handlung auf, die in einem Dialog geäussert wird. Der Geltungsbezug ist das entscheidende Kriterium. Mit einem Argument wird versucht, die Geltung einer erhobenen These auszuweisen. In unserem Fall beispielsweise die These „Die Sezession des Kosovo ist völkerrechtswidrig“. Als sprachliche Handlung wird die Argumentation von der Pragmatik her theoretisiert: Wer argumentiert, tut etwas in einer Praxis. Das dialogische Element wird eingeführt, weil dieses Tun an jemanden gerichtet ist (das kann im Sinne eines Selbstgesprächs auch der oder die Handelnde selbst sein). Aus dieser dialogischen Perspektive lässt sich ein Kriterium entwickeln, um ein Geltungsurteil über die analysierte Argumentation zu fällen. Die Theorie bietet ein Instrumentarium zur Analyse der Stellungnahmen des Gutachterverfahrens zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Sie liefert die Grundlagen, mit denen gewisse Teile der Stellungnahmen als „argumentative Züge“ interpretiert und das Gutachterverfahren als Dialog erfasst werden können. Mit diesen Mitteln lässt sich ein „dynamischer Dialog“ konstruieren, in dem die verschiedenen erhobenen Geltungsansprüche geprüft werden. Das Gutachterverfahren kann so als dynamischer Dialog erfasst werden, in dem die Akteure verschiedene argumentative Züge ausgeführt haben, um ihren Thesen zum Durchbruch zu verhelfen. Der dialogisch konzipierte Geltungsbegriff lässt als Resultat der Analyse ein Urteil über die argumentative Geltung der analysierten Argumentationen zu. Die Argumentationstheorie wird nicht nur pragmatisch und dialogisch, sondern auch reflexiv konzipiert. Das Geltungsurteil wird als Resultat der Analyse aus der Argumentation selbst gewonnen. Negativ formuliert ist eine reflexive Analyse weder normativ noch deskriptiv. Plakativ ausgedrückt würde eine normative Analyse mit verbindlich gemachten Regeln als Beobachter von aussen an die analysierte Argumentationspraxis herantreten und letztere am verbindlich gemachten Apparat messen. Eine rein deskriptive Analyse hätte den Anspruch, nur zu beschreiben, was schon da ist. Die reflexive Analyse anerkennt, dass sie nur über einen interpretativen Eingriff zu ihrem „Gegenstand“, den Argumenten, kommt. Wenn beispielsweise eine Randziffer einer Stellungnahme als These identifiziert
§ 2 Forschungsinteresse
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wird, dann ist das eine Setzung, die selbst wieder eine begründungsbedürftige These ist. Im Gegensatz zu der normativen Analyse versucht die reflexive, das Geltungskriterium nicht von aussen festzulegen und die beobachtete Praxis daran zu messen, sondern durch eine argumentative Reflexion die Geltung aus der beobachteten Praxis selbst zu gewinnen. Dies versetzt den Argumentationsanalytiker in die Position eines teilnehmenden Beobachters.50 Die Stärke dieser Methode liegt darin, dass sie die Argumentation ernst nimmt. Sie richtet den Fokus auf die Argumentation an sich. Diese wird weder auf eine blosse Rekonstruktion der hermeneutischen Sinnsuche noch allein auf ihre persuasive Wirkung reduziert.51 Die Argumentation ist eine selbstständige pragmatische Handlung, in der die Geltung von völkerrechtlichen Behauptungen bearbeitet wird. Diese Bearbeitung wirkt sich sowohl auf die Geltung der These als auch auf das in der Bearbeitung reaktualisierte Wissen, die erarbeiteten thetischen Konstruktionen und die Möglichkeit der (künftigen) Orientierung aus. Damit wird die völkerrechtliche Argumentation als zentraler völkerrechtlicher Vorgang theoretisiert. Die Methode liefert das nötige Instrumentarium, um diesem Vorgang zu folgen: Die für das Recht zentralen Vorgänge des Behauptens, des Begründens und des Kritisierens werden so ins Zentrum der Untersuchung gerückt. Als Fazit kann mit dieser Methode ein qualitatives Urteil über die Geltung einer Behauptung formuliert werden, das reflexiv aus der beobachteten Argumentation selbst gewonnen wurde. Damit erlaubt die Methode eine reflexive Aufstufung der Argumentation. Diese kann für künftige Argumentationen Orientierung schaffen. Die Frage nach der völkerrechtlichen Normierung der Sezession wird also nicht dadurch beantwortet, dass hier durch die Beobachtung der anerkannten Rechtstexte eine eigene völkerrechtliche Position erarbeitet wird, sondern dadurch, dass der Bearbeitung der Frage durch die Akteure des Gutachterverfahrens gefolgt wird. Die Stärke der Methode ist zugleich ihre Schwäche: Durch die Fokussierung auf die Argumentation werden die Akteure an den Rand gedrängt. Auf der einen Seite sind das die Verfasser der Argumentationen und ihre Motive. Es wird also kein Unterschied zwischen einem Argument der USA oder Russland und einem der Schweiz gemacht. Damit wird die Tatsache vernachlässigt, dass es für die völkerrechtliche Normierung der Sezession und den Ausgang von Sezessionskonflikten natürlich wichtiger ist, wie sich die beiden ständigen Sicherheitsratsmitglieder sezessionsrechtlich orientieren. Ebenso werden die Motive der Verfasser vernachlässigt: Es ist offensichtlich, dass Spanien, Zypern und Russland, die selber vom Thema betroffen sind, bestimmte Motive und Interessen haben, gegen eine völkerrechtliche Zulässigkeit der Sezession zu argumentieren. Vom Argu-
50 51
Vgl. unten § 6 I. Vgl. unten § 3.
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1. Teil: Einleitung
ment lässt sich aber nur schwer auf das Motiv schliessen. Zypern bringt dies in der schriftlichen Stellungnahme durch ein Zitat des zyprischen Präsidenten zum Ausdruck: „We are by your side not just because we deal with a violation of international law in Cyprus as well [. . .], but because your case, just like ours, is a case of principle.“ 52 Es ist für die Analyse der zyprischen Argumentation nicht zentral, ob aus Eigennutz oder aus Prinzip so argumentiert wurde. Zentral ist, wie die Thesen begründet und die Thesen der anderen kritisiert werden. Das Verhältnis zwischen Motiv und Argument ist daher nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Damit werden insbesondere Fragestellungen marginalisiert, die für die Wissenschaft der internationalen Beziehungen von Bedeutung sind. Die Methode liesse über die subjektive Seite der Argumentation einen Anschluss an diese Fragestellungen zu.53 Dies wäre ein höchst interessanter Forschungsweg, weil auch in den internationalen Beziehungen die Argumentation nicht mehr im Sinne einer realistischen Kritik als „cheap talk“ 54, sondern als relevanter konstruktivistischer Vorgang wahrgenommen wird.55 Darüber hinaus liesse sich damit an die kritische Analyse sozialer Strukturen anschliessen.56 Auf diese interessante Anschlussmöglichkeit kann in dieser Untersuchung aber nur hingewiesen werden. Es ist nicht das Ziel, ihr nachzugehen. Auf der anderen Seite werden die Adressaten der Argumentation, die nicht als Teilnehmer des argumentativen Dialogs angesehen werden, nur am Rande der Untersuchung wahrgenommen. Die persuasive Wirkung der Argumentation und – darauf gestützt – das Kalkül der Argumentierenden im Hinblick auf die Erzeugung dieser Wirkung bei einer bestimmten „Hörerschaft“ 57 sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Das Gutachten des IGH wird also nicht im Hinblick darauf untersucht, wie der Gerichtshof seine Begründung einem bestimmten Publikum angepasst und welche rhetorischen Mittel er dafür eingesetzt hat.58 Ebensowenig wird untersucht, wie der IGH in der Begründung seine eigene Rolle definiert und seine Autorität aufbaut.59
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Zypern, s. St., Rz. 89. Vgl. zur subjektiven Seite der Argumentation Wohlrapp, Begriff, 147 und unten § 5 II.2. 54 Risse, 8; Joseph Farrell/Matthew Rabin, Cheap Talk, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 10, Nr. 3, 1996, 103 ff. 55 Vgl. für die Rezeption der diskursethischen Argumentationstheorie im Schrifttum der internationalen Beziehungen z. B.: Risse, 8 ff.; Johnstone, 453 ff. und Ian Johnstone, The Power of Deliberation. International Law, Politics and Organizations, New York/Oxford 2011. 56 Diggelmann/Altwicker, 14 f. m.w. H. 57 Perelman/Olbrechts-Tyteca, 31 ff. 58 Vgl. dazu Prott, Argumentation und Prott, Style. 59 Vgl. dazu Hernández, 180 ff. 53
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Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass die Wirkung einer Argumentation und die Akzeptanz durch ein bestimmtes Publikum sehr wichtige Parameter für die Untersuchung der völkerrechtlichen Argumentation sind. Ebensowenig wird in Abrede gestellt, dass der Ethos der Argumentierenden entscheidend für den Erfolg eines Arguments sein kann. Es wird hier aber behauptet, dass die persuasive Wirkung des Arguments oder des Argumentierenden und die Akzeptanz durch ein bestimmtes Auditorium nicht die entscheidenden Kriterien sind, um ein qualitatives Urteil über die Geltung einer Argumentation zu fällen. Die theoretische Grundlage dieser Behauptung wird im zweiten Teil erarbeitet.
III. Konjunktion von Thema und Gegenstand im Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs Das Verfahren des IGH zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo war sowohl im Hinblick auf das Untersuchungsthema als auch auf den Untersuchungsgegenstand bemerkenswert: Erstmals nach dem Ende des Kalten Krieges und ausserhalb der Dekolonialisierung bearbeiteten höchst relevante völkerrechtliche Akteure vor einem internationalen Gericht das Thema der Sezession argumentativ.60 Der Gerichtshof setzte sich nicht ausführlich mit dem Thema auseinander, aber er führte das Verfahren auch nicht alleine durch. Die Staaten und die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung sowie die einzelnen Stellungnahmen der Richter setzten sich intensiv mit dem Thema auseinander. 43 Staaten und die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung brachten sich in das Verfahren ein.61 Damit ist ein knappes Viertel der gesamten Staatengemeinschaft vertreten. Die Akteure des Verfahrens haben einen erheblichen direkten und über IOs – allen voran die VN – indirekten Einfluss auf das internationale Krisenmanagement von Sezessionskonflikten.62 Für den kosovarischen Sezessionskonflikt ergibt sich die Relevanz der Stellungnahmen u. a. daraus, dass sich alle Vetomächte des Sicherheitrates, 5 von 6 Staaten der Kontaktgruppe sowie 18 von 24 Mitgliedern der ISG in das Verfahren eingebracht haben. Woraus ergibt sich ihre Relevanz für den Kosovo-Konflikt? Der Sicherheitsrat nahm mehrere Resolutionen zum Kosovo-Konflikt an,63 darunter die S/RES/ 1244 (1999), welche auf dem Territorium des Kosovo eine ITA installierte. Er entschied über die Aufnahme von Statusverhandlungen zwischen Serbien und
60 Der andere wichtige Fall ist das Verfahren zur Sezession Quebecs, das vom Obersten Gerichtshof Kanadas durchgeführt wurde (vgl. Quebec-Gutachten). 61 Vgl. für die Einordnung aller Teilnehmer unten § 7 I.2. 62 Vgl. grundsätzlich zum internationalen Krisenmanagement von Staatsentstehungsprozessen, darunter auch Sezessionskonflikte: Saxer, Steuerung, 413 ff. 63 S/RES/855 (1993), 1160 (1998), 1199 (1998) und 1203 (1998).
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1. Teil: Einleitung
Kosovo im Oktober 200564 und lehnte deren Resultat, den Ahtisaari-Plan, ab.65 Dieser hätte die schrittweise Überführung des Kosovo in die Unabhängigkeit vorgesehen.66 Als Begleitmassnahme zu dieser Überführung war die Einrichtung der sogenannten ISG vorgesehen, ein Zusammenschluss von Staaten. Nachdem sich weder Serbien und der Kosovo noch der Sicherheitsrat über den Status des Kosovo hatten einigen können, erklärte dieser sich am 17. Februar 2008 für unabhängig. Die ISG bildete sich aus Staaten, die den Kosovo als Staat anerkannten und die Implementierung des Ahtisaari-Plans unterstützen und überwachen wollten.67 Sowohl Russland als auch Serbien sahen darin eine Verletzung der Sicherheitsratsresolution 1244.68 In einem Bericht vom 2. Juli 2012 hielt die ISG fest, dass der Ahtisaari-Plan umgesetzt wurde. Sie beschloss daher die Einstellung ihrer Tätigkeit und die Auflösung der Gruppe.69 Damit war der Kosovo für die Steering Group offiziell in die Unabhängigkeit entlassen worden und die kosovarische Verfassung sollte die einzige Grundlage der kosovarischen Rechtsordnung bilden. Die sogenannte Kontaktgruppe formierte sich 1994 und war zunächst für den Konflikt in Bosnien und Herzegowina zuständig. Es handelte sich um eine informelle Gruppe von einflussreichen Staaten, die ein grosses Interesse an der politischen Entwicklung im Balkan hatten und haben. Zur Gruppe gehörten Frankreich, Deutschland, Italien, die Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Russ-
64 S/PRST/2005/51. Die Kontaktgruppe stellt zehn Verhandlungsprinzipien auf: Kontaktgruppe, Ten Guideline Principles vom 7. Oktober 2005, verfügbar auf: http:// www.unosek.org/unosek/en/docref.html. 65 Vgl. Statement issued on 20 July 2007 by Belgium, France, Germany, Italy, United Kingdom and the United States of America, co-sponsors of the draft resolution on Kosovo presented to the UNSC on 17 July, verfügbar auf: http://www.unosek.org/unosek/ en/docref.html. 66 Bericht des Sondergesandten des Generalsekretärs der VN zum künftigen Status des Kosovo, S/2007/168, Ziff. 1, 3 und 5. 67 Folgende Staaten gehören der Gruppe an: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Schweden, Schweiz, Slowenien, Tschechien, Türkei, Ungarn und die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Ahtisaari-Plan sieht eine andere Zusammensetzung vor, vgl. Ahtisaari-Bericht, Annex IX, Art. 4.1. 68 Russia protests Kosovo steering group establishment, in: Ria Novosti (staatliche russische Nachrichtenagentur), 3. März 2008, verfügbar auf: http://en.rian.ru/world/ 20080303/100494001.html; Serbia formally protests to UN about formation of international steering group for Kosovo, verfügbar auf: http://www.srbija.gov.rs/vesti/ vest.php?id=43779. 69 Communique der ISG, Sixteenth and final meeting of the International Steering Group for Kosovo, 10. September 2012, Pristina, verfügbar auf: http://www.ico-kos. org/index.php?id=8; vgl. Art. 5.2 Annex IX des Ahtisaari-Plans (in: Ahtisaari-Bericht).
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land. Die Gruppe war seit 1997 das wichtigste Koordinationsorgan für die Lösung der Kosovo-Krise.70 Diese drei Beispiele belegen, dass internationale Akteure einen erheblichen Einfluss auf die Sezession des Kosovo ausgeübt haben und dass daher ihre sezessionsrechtliche Orientierung für die Regelung von Sezessionskonflikten höchst relevant ist. Das Verfahren ist aber nicht bloss wegen der Zahl und Bedeutung der Staaten, die daran teilgenommen haben, spannend. Staaten können nur durch den Mund von Vertretern sprechen. Es ist gerade aus der Perspektive der völkerrechtlichen Argumentation höchst interessant, dass das Verfahren ein gut sichtbarer Treffpunkt des unsichtbaren Völkerrechtscolleges war.71 Zwischen der rechtsberaterischen und der wissenschaftlichen Tätigkeit ist zu unterscheiden: Die im Verfahren gemachten Aussagen können nicht der Person, sondern müssen dem Staat zugerechnet werden. Man täte den aufgetretenen Experten aber Unrecht, wenn man sie auf die Rolle der Staatsvertreter reduzieren würde. Dass es im Verfahren um mehr als um Staateninteressen ging, zeigt sich beispielsweise daran, dass ein enger Zusammenhang zwischen den im Verfahren und im Schrifttum vertretenen Positionen besteht.72 Oder auch daran, dass beispielsweise Jochen Abr. Frowein
70 Krieger, 115; am 24. September 1997 gibt die Gruppe erstmals eine Stellungnahme zur Situation im Kosovo ab, vgl. Krieger, 121. 71 Die beteiligten Akteure wurden vorwiegend durch den Botschafter des jeweiligen Landes in den Niederlanden oder durch einen Vertreter des Aussenministeriums vertreten. Zusätzlich bestand die Delegation noch aus einem oder mehreren Beratern. Die allermeisten Delegationen setzten sich aus drei bis fünf Personen zusammen. Die grösste Delegation hatte Serbien mit 16 Personen. Folgende Völkerrechtsexperten haben an den mündlichen Verhandlungen teilgenommen: Marcelo G. Kohen, Malcolm N. Shaw, Andreas Zimmermann (alle für Serbien), Michael Wood, Sean D. Murphy, Daniel Müller (alle für die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung), Jochen A. Frowein, Terry D. Gill (für Albanien), Jean d’Aspremont, Alain Brouillet (für Burundi), Vaughan Lowe, Colin Warbrick (für Zypern), Ole Spiermann (für Dänemark), Concepciòn Escobar Hernández, Araceli Mangas Martín, Carlos B. Jiménez Piernas, Paz Andrés Saénz de Santamaría, Jorge Cardona Llorens (alle für Spanien), Harold H. Koh (für die USA), Martti Koskenniemi (für Finnland), Allain Pellet, Mathias Forteau (für Frankreich), Niels Blokker, René Lefeber (für die Niederlande), Daniel Bethlehem, James Crawford, Samuel Wordsworth, Shaheed Fatima und Tom D. Grant (alle für das Vereinigte Königreich). 72 So z. B. Kohen/Del Mar; Katherine Del Mar, The myth of remedial Secession, in: Duncan French (Hrsg.), Statehood and Self-Determination. Reconciling Tradition and Modernity in International Law, Cambridge 2013, 79 ff.; Hafner/Kalb; D’Aspremont, Which (Il)Legality?. Dies ist nicht unüblich im Völkerrecht: „Advocacy and scholarship are often mixed up in the international law field, both in the pages of law reviews and (especially) in judicial proceedings.“ (Jack Goldsmith, in: Lori Fisler Damrosch/Beth Stephens/Jack Goldsmith/Bruno Simma/Harold G. Maier, Scholars in the Construction and Critique of International Law, Proceedings of the Annual Meeting, 5.–8. April 2000, ASIL, Vol. 94, 317 ff., 319).
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und James Crawford Zitierungen ihres Werks durch andere Staatsvertreter vor Gericht korrigieren.73 Gegen eine Fokussierung auf die Stellungnahmen könnte sprechen, dass es sich dabei um Dokumente handelt, die für ein bestimmtes Verfahren produziert worden sind und daher ausserhalb des Verfahrens keine Relevanz haben. Dieser Einwand greift jedoch zu kurz. Erstens unterschlägt er, dass die Stellungnahmen auch nach dem Verfahren der Rezeption offen stehen; sie werden nach Art. 106 der IGH-Verfahrensregeln veröffentlicht. Damit können sich neben dem Gerichtshof beispielsweise auch andere Staaten, IOs, INGOs, Medien, die Wissenschaft und die weitere interessierte Öffentlichkeit darauf beziehen. Die Stellungnahmen der Staaten sind anerkannte Dokumente, um bei der Konstruktion einer gewohnheitsrechtlichen Norm die opinio iuris der Staaten nachzuweisen.74 Sie entfalten durch diese Rechtsquellentheorie eine normative Wirkung, die über das einzelne Verfahren hinausweist. Zweitens unterlegt der Einwand ein bestimmtes Gerichtsverständnis. Demnach ist die Funktion des Gutachterverfahrens die der institutionellen Rechtsberatung: Das Gutachten ist an das Organ oder die Agentur adressiert, welche/s die Anfragen an den IGH gerichtet hat, und die Funktion des Gutachtens besteht darin, dem Adressaten eine „authoritative legal guidance“ 75 zu bieten.76 Die verfahrensrechtliche Funktion der Stellungnahmen besteht darin, dem Gerichtshof die für eine Antwort nötigen Informationen bereitzustellen.77 Nach dieser funktionellen Rahmung käme den Stellungnahmen tatsächlich keine über das Verfahren hinausgehende Bedeutung zu. Hier wird jedoch die Ansicht vertreten, dass sowohl die Bedeutung der Stellungnahmen als auch diejenige des Gutachtens über eine blosse Informationsbeschaffung und Rechtsberatung hinausgehen.78 Zusammenfassend wird in der vorliegenden Arbeit am Beispiel des Gutachterverfahrens des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo die argumentative Bearbeitung des Themas der Sezession durch höchst relevante völkerrechtliche Akteure mit der Methode der geltungsbezogenen Argumentationsanalyse untersucht. Dies verspricht einerseits einen Gewinn an 73
Vgl. unten § 10 III. ILC-Bericht über die Entstehung und den Nachweis von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht, Rz. 50; Wood, Rz. 14; van den Driest, 189 ff., 290 ff.; Waters, 286, Fn. 70. 75 WHO-Egypt Agreement, Rz. 81. 76 Nuclear Weapons, Rz. 14; Wall, Rz. 47; Interpretation of Peace Treaties (First Phase), 71. 77 Paulus, 1431, mit Verweis auf Procès-Verbal de la Conférence concernant la Révision du Statut de la Cour Permanente de Justice Internationale, 4.–12. September 1929, Völkerbund Doc. Nr. C.514.M.173.192, 43 f. 78 Vgl. für eine Kritik an diesem engen Gerichtsverständnis: von Bogdandy/Venzke, 43 ff. 74
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Orientierung bezüglich der Frage nach der völkerrechtlichen Normierung der Sezession und andererseits ein vertieftes Verständnis des Völkerrechts als argumentative Praxis.
IV. Einbettung der Arbeit in den Forschungsstand zum Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs Die völkerrechtswissenschaftliche Einordnung des Kosovo-Verfahrens ist fortgeschritten. Verschiedene Tagungen,79 Symposien,80 Aufsätze und Monographien haben es aus völkerrechtswissenschaftlicher Sicht beleuchtet. Wer sich diesem Gegenstand nähert, läuft Gefahr, bekanntes Wissen zu reproduzieren, ohne neues zu schaffen. An dieser Stelle wird daher die vorliegende Arbeit in den aktuellen Forschungsstand eingebettet. Der Forschungsstand wird wie folgt dargestellt: Zunächst wird danach gefragt, was sich die Forschung zum Gegenstand gemacht hat. Dann wird nach dem thematischen Kontext gefragt, in den sie den Gegenstand eingebettet hat. In einem ersten Schritt wird der Forschungsstand zum Gutachten, in einem zweiten derjenige zu den Stellungnahmen erhoben. Hauptsächlich untersucht die Forschung das Gutachten des Gerichtshofs als wissenschaftlichen Gegenstand.81 Vereinzelt werden auch die gesonderten und 79 U. a. die Tagung an der Universität Lancaster zum Thema „The Kosovo Precedent: Implications for Self-determination and Minority Rights“ vom 28. März 2009 und die Tagung zum Kosovo-Gutachten an der Universität Innsbruck vom 16. Dezember 2010. Nach den Tagungen wurde die Tagungsbände von James Summers (Hrsg.), Kosovo: A Precedent? und Peter Hilpold (Hrsg.), Das Kosovo-Gutachten publiziert. Der von Peter Hilpold herausgegebene Band wurde – ergänzt durch die Aufsätze von Tancredi und Richter – auch in englischer Übersetzung publiziert [Hilpold (Hrsg.), Kosovo and International Law)]. 80 Während des Verfahrens fand folgendes Symposium statt: CJIL, Agora: Kosovo (1–3), Vol. 8, Nr. 1–3, 2009. Nach Abschluss des Verfahrens folgende: German Law Journal, Symposium: Kosovo at the ICJ, Vol. 11, Nr. 8, 2011; AJIL, Agora: The ICJ’s Advisory Opinion, Vol. 105, Nr. 1, 2011, 50 ff.; Leiden Journal of International Law, Kosovo Symposium, Vol. 24, Nr. 1, 2011, 71 ff.; Goettingen Journal of International Law, Current Developments in International Law, Vol. 2, Nr. 3, 2010; The Hague Justice Portal, The International Court of Justice and Kosovo: Opinion or Non-Opinion?, Diskussion vom 28. September 2010 (http://www.haguejusticeportal.net/index.php?id= 12079). 81 Ahmad/Efevwerhan; Arp; H. P. Aust; Borgen, Introductory Note; Borgen, Separatism; Bothe, Kosovo – So What?; Burri; Cerone; Christakis, Kosovo; Christakis/Corten; Circovic; D’Aspremont/Liefländer, 14 ff.; Dugard, 175 ff.; Falk; Gattini; Gioia; Guliyeva; Hafner/Kalb; Hannum, Kosovo; Hilpold, Kosovo-Gutachten: Voraussetzungen; Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten; Howse/Teitel; Jamar/Vigness; Ker-Lindsay; Kohen/Del Mar; Robert Kolb, Chronique de la jurisprudence de la Cour internationale de Justice en 2010, in: SZIER 2011/1, 139 ff.; Mills; James E. Molinterno, What the ICJ’s Decision Means for Kosovars, in: German Law Journal, Vol. 11, Nr. 8, 2010, 891 ff.; Muharremi; Öberg; Oellers-Frahm; Peters, Kosovo und globaler Konstitutiona-
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1. Teil: Einleitung
abweichenden Stellungnahmen der einzelnen Richter behandelt.82 Die Stellungnahmen der Staaten und der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung werden in der Regel nicht behandelt. Einige Autoren verweisen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Gutachten auch auf die Stellungnahmen der Akteure.83 Die Forschung stellt das Gutachten in den historischen, politischen und rechtlichen Kontext des Sezessionskonflikts.84 Weiter wird die Zuständigkeit und die Ermessensausübung des Gerichtshofs untersucht.85 Ebenso wird die Methode besprochen.86 Insbesondere die Anwendung des Lotus-Prinzips wird diskutiert.87 Als besonderer Teil der Methode wird vor allem auch die Formulierung der Frage durch Serbien und die Auslegung durch den Gerichtshof, die sogenannte „question question“, besprochen.88 lismus; Peters, Kosovogutachten; Peters, Lotus-Land; Pippan; Richter; Riegner; Röben; Ryngaert; Saxer, Gutachten; Summers, Kosovo, 42 ff.; Shelton; Talmon/Weller; Tancredi, Kosovo; Tomuschat, Anerkennung; Tricot/Sander; van den Driest, 140 ff., 233 ff.; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion; Vidmar, Kosovo Opinion and General International Law; Waters; Weller, Modesty; Wilde, Accordance; Wilde, The Kosovo Advisory Opinion; Yee. 82 H. P. Aust, 183, 188 f., 197; Falk, 51; Talmon/Weller, 11; Peters, Lotus-Land, 99, 102, 108; Corten, 91; Christakis, Kosovo, 83; Hannum, Kosovo, 157 ff.; Jacobs/Radi, 349; Weller, Modesty, 132, 134, 144; Kohen/Del Mar, 113 ff., 118; Ryngaert, 483 f., 486, 488 ff., Pippan, 150, 154, 164; Tricot/Sander, 359 ff.; Mills, 1 f.; Yee, 769 ff., 773 f.; Circovic, 899, 902, 907; Burri, 886; Röben, 1077; Riegner, 1054; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 356 f.; Waters, 269, 300, 309, 314, 320, 329, 331; OellersFrahm, 801, 804, 823 f., 830; Ahmad/Efevwerhan, 551, 557 f.; Öberg, 84; Summers, Kosovo, 44 f., 47; Guliyeva, 292 f., 295, 301; Gattini, 207 f., 210, 221; Peters, Kosovo und globaler Konstitutionalismus, 233 f., 241; Tancredi, Kosovo, 85; Dugard, 182, 187 ff. 83 H. P. Aust, 186 f., 192, 196, 201; Arp, 848 f.; Talmon/Weller, 5; Peters, LotusLand, 100; Corten, 89 ff.; Christakis, Kosovo, 75, 78, 82 ff.; Hannum, Kosovo, 156; Weller, Modesty, 146; Kohen/Del Mar, 112 f., 117; Pippan, 158; Tricot/Sander, 331, 338 f., 358 f.; Yee, 775, 780; Jamar/Vigness, 919; Röben, 1070, 1079, 1082; Borgen, Separatism, 1019; Waters, 286, 290, 296, 299, 302 f., 306, 310; Oellers-Frahm, 809; Ker-Lindsay, 4; Shelton, 80; Summers, Kosovo, 43 ff.; Guliyeva, 296, 298, 300; Gattini, 208, 219, 221; Peters, Kosovo und globaler Konstitutionalismus, 232, 236, 240, 253, 255; Tancredi, Kosovo, 83, 85; Dugard, 181, 195 ff. 84 Hilpold, Kosovo-Gutachten: Voraussetzungen; Summers, Kosovo; Rrecaj, 109 ff.; Vidmar, Kosovo, 145 ff.; Oellers-Frahm, 794 ff.; Waters, 272 ff.; Riegner, 1037 ff.; Yee, 764 ff.; Cerone, 336 ff.; Pippan, 145 ff. 85 IGH, Kosovo, Rz. 17–48. Oellers-Frahm, 799 ff.; Muharremi, 868 ff.; Pippan, 149 ff.; Ryngaert, 482 ff.; Jacobs/Radi, 332 ff.; Jacobs, 5 ff.; De Brabandere, 4; Raphaël van Steenberghe, The General Assembly resolution requesting the Kosovo opinion and the ultra vires issue, in: The Hague Justice Portal, 15. Oktober 2010 (http:// www.haguejusticeportal.net/index. php?id=12325), 2. Anthony Aust äussert sich kritisch zur Praxis der Gerichtshofs, auch ein Gutachten abzugeben, wenn es sich um komplexe und umstrittene politische Fragen handelt, die nur durch politische Verhandlungen gelöst werden können: A. Aust, Advisory Opinions, 130 ff., 137 ff. 86 U. a. Peters, Lotus-Land, 96 ff.; Weller, Modesty; Talmon/Weller, 4 (Weller). 87 Oellers-Frahm, 812 ff.; Röben, 1067, 1075 ff.; Muharremi, 874 ff.; Cerone, 352 f.; Tricot/Sander, 326 ff.; Peters, Lotus-Land, 100 f.; Weller, Modesty, 134 f.
§ 2 Forschungsinteresse
43
In den Randziffern 85 bis 121 setzt sich der Gerichtshof mit dem durch die Sicherheitsresolution 1244 (1999) errichteten Interimsregime auseinander. Dieser Abschnitt gibt der Forschung Anlass, sich mit der Auslegung von Sicherheitsratsresolutionen durch den IGH,89 der Frage nach der Rechtswirkung von Sicherheitsresolutionen auf unbestimmte Zeit,90 dem Verhältnis zwischen Sicherheitsratsresolutionen und nicht staatlichen Akteuren91 sowie mit der internationalen Interimsverwaltung auseinanderzusetzen.92 Diese Forschung ist hier von bloss untergeordneter Bedeutung. Die vorliegende Untersuchung fokussiert auf die generelle völkerrechtliche Normierung der Sezession und lässt den partikulären Rechtsrahmen, der durch die S/RES/1244 (1999) geschaffen wurde, so weit als möglich beiseite. Es werden in der Forschung Verbindungen zwischen dem Kosovo-Gutachten und der OSZE,93 der EU,94 dem globalen Konstitutionalismus (hier insbesondere die Lotus-Methode),95 den Gutachten der Badinter-Schiedskommission96 sowie dem Quebec-Gutachten des Obersten Gerichtshofs von Kanada hergestellt.97 Eine folgenorientierte Verbindung wird hergestellt, indem gefragt wird, was das Gutachten für den Sezessionskonflikt des Kosovo98 und für weitere Sezessionskonflikte, insbesondere in Georgien,99 Spanien (Baskenland und Katalonien),100 Palästina,101 Russland102 und China103 bedeute. Zentral ist die Frage, ob der Fall 88 Oellers-Frahm, 803 ff.; Waters, 285 ff., 303 f.; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 357 ff.; Muharremi, 871 ff.; Cirkovic, 897 ff.; Yee, 770 ff.; Cerone, 351 f.; Tricot/Sander, 325; Mills, 2; Pippan, 152 ff.; Kohen/Del Mar, 111 ff.; Weller, Modesty, 130 ff. 89 Öberg; Muharremi, 876 ff.; Circovic, 903 ff.; Yee, 773 ff.; Cerone, 350 f.; Mills, 2 f.; Pippan, 156 ff.; Ryngaert, 484 f.; Weller, Modesty, 137 ff., 141 ff.; Kohen/Del Mar, 123 ff.; Jacobs/Radi, 340 ff.; Weller, Modesty, 140 f.; Wilde, Kosovo Advisory Opinion, 150 ff.; Jacobs, 3 ff. 90 Gioia; Öberg, 86 f. 91 Öberg, 84 ff.; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 377 f.; Gattini. 92 Kaikobad, 78 ff. 93 Matthias Niedobitek, Die OSZE und der Kosovo, in: Hilpold, Das Kosovo-Gutachten, 111 ff. 94 Kaikobad, 81 und Isabel Lirola Delgado, The European Union and Kosovo in the Light of the Territorial Issue, in: Hilpold, Das Kosovo-Gutachten, 129 ff. 95 Peters, Kosovo und globaler Konstitutionalismus. 96 Guliyeva. 97 Waters, 314 ff. 98 Richter; Bothe, Kosovo – So What?; Moliterno; Jamar/Vigness, 925 ff.; Hannum, Kosovo, 160 f.; Weller, Modesty, 145 f. 99 Vakhtang Vakhtangidze, The Impact of Kosovo: A Precedent for Secession in Georgia?, in: James Summers (Hrsg.), Kosovo: A Precedent?, 395 ff. 100 Miryam Rodríguez-Izquierdo Serrano, The Basque Country: With or Without the Spanish Constitution, Like or Unlike the Kosovo Precedent?, in: Summers, Kosovo: A Precedent?, 427 ff.; Borgen, Separatism, 1011 ff.; Jamar/Vigness, 920 ff. 101 Falk, 58 ff. 102 Jamar/Vigness, 916 ff.
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1. Teil: Einleitung
Kosovo ein Präzedenzfall für andere Sezessionen sei.104 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Reaktionen auf das sogenannte sui generis-Argument hinzuweisen.105 Für die vorliegende Untersuchung sind insbesondere die Randziffern 79 bis 84 des Gutachtens von Bedeutung. In diesen setzt sich der Gerichtshof mit dem Verhältnis von Unabhängigkeitserklärungen und dem generellen Völkerrecht auseinander.106 Davon ausgehend setzen sich im Schrifttum mehrere Autoren mit der Frage nach den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung auseinander.107 Mehrere Autoren setzen diesen Teil des Gutachtens in einen sezessionsrechtlichen Kontext und untersuchen die Bedeutung des Gutachtens für das Sezessionsrecht.108 In diesem Zusammenhang wurden auch folgende Themen besprochen: die Sicherheitsresolution 1244 (1999) und die Sezession,109 die notstandsmässige Sezession als Rechtsbehelf,110 Sezessionen und multilaterale Staatsbildungen,111 die Sezession in Afrika,112 die Sezession und Minderheitenschutz,113 die rechtliche Prozeduralisierung der Sezession114 sowie die Bedeutung von Rz. 80 des 103
Jamar/Vigness, 919 ff. Trifunovska, Kosovo Precedent; Ker-Lindsay, 6 ff.; Waters, 321 ff.; Jamar/Vigness; Pippan, 161 ff.; Talmon/Weller, 7 f. (Talmon). 105 U. a. Miodrag A. Jovanovic ´ , Is Kosovo and Metohija Indeed a ,Unique Case‘?, in: Summers, Kosovo: A Precedent?, 345 ff.; Yee, 776 und Thomas Fleiner, The Unilateral Declaration Secession of Kosovo as a Precedent in International Law, in: Ulrich Fastenrath/Rudolf Geiger/Daniel-Erasmus Khan/Andreas Paulus/Sabine von Schorlemer/ Christoph Vedder, From Bilateralism to Community Interest. Essays in Honour of Bruno Simma, New York/Oxford 2011, 877 ff. 106 Vgl. dazu: Oellers-Frahm, 807 ff.; Waters, 305 ff.; Muharremi, 873 f.; Burri, 885 ff.; Circovic, 899 ff.; Mills, 2; Pippan, 155 f.; Ryngaert, 488 ff.; Kohen/Del Mar, 121 ff.; Vidmar, Kosovo Opinion and General International Law, 2 f. Vgl. zum Minderheitenschutz: Arp, 857 ff. Zu einer möglichen Verantwortlichkeit der VN: Jacobs/Radi, 344 ff.; Kohen/Del Mar, 121 ff. 107 Oellers-Frahm, 805 ff.; Waters, 302, 307 ff.; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 359 ff.; Riegner, 1050 ff.; Ryngaert, 485 ff., 487 f.; Weller, Modesty, 143 ff.; Kohen/ Del Mar, 114 ff., 118 ff.; Vidmar, Kosovo Opinion and General International Law, 3 ff.; Jacobs, 2; Talmon/Weller, 9 (Weller). Vgl. zu einer möglichen Verantwortlichkeit der Verfasser: H. P. Aust, 194 ff.; Jacobs/Radi, 349 ff. 108 Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten; Oeter, Sezession; Tancredi, Kosovo; Goodwin, 89 ff.; Vidmar, Kosovo, 154 ff.; Ker-Lindsay, 1 ff.; Ahmad/Efevwerhan; Oellers-Frahm, 814 ff.; Falk, 56 ff.; Muharremi, 878 ff.; Burri; Circovic, 906 ff.; Yee, 777 ff.; Cerone, 344; Tricot/Sander, 330 ff., 338 f., 349 ff.; Pippan, 161 ff.; Ryngaert, 490 ff.; Peters, Lotus-Land, 98 ff.; Christakis, Kosovo; Hannum, Kosovo, 156 ff.; Wilde, Kosovo Advisory Opinion, 152 ff. 109 Oeter, Sezession, 95 ff.; Oellers-Frahm, 822 ff.; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 375 ff. 110 H. P. Aust, 185 ff. 111 Vidmar, Kosovo, 165 ff. 112 Shelton, 66 ff. 113 Arp, 853 ff. 104
§ 2 Forschungsinteresse
45
Gutachtens für das Sezessionsrecht,115 die Anerkennung von Staaten,116 das Selbstbestimmungsrecht der Völker,117 die Mitgliedschaft in IOs118 und das uti possidetis iuris-Prinzip.119 Diese Forschung deckt sich thematisch mit der vorliegenden Arbeit. Sie wird bei der analytischen Kommentierung der sezessionsrechtlichen Argumentationen der Akteure berücksichtigt. Vier Arbeiten beschäftigen sich mit den Stellungnahmen der Akteure als eigenständigem Gegenstand.120 Gerhard Hafner und Nadia Kalb setzen sich mit den Stellungnahmen Österreichs auseinander.121 Gerhard Hafner hat die Ausarbeitung der Stellungnahmen im österreichischen Aussenministerium geleitet und Nadia Kalb war als Mitarbeiterin daran beteiligt.122 Die Autoren kommen zum Schluss, dass das Gutachten über weite Strecken der Argumentation der österreichischen Stellungnahmen folgt.123 In Bezug auf das Sezessionsrecht halten sowohl die österreichischen Stellungnahmen als auch die beiden Autoren des Aufsatzes fest, dass das Völkerrecht Sezessionen nicht verbiete.124 John Dugard untersucht in seiner Monographie zur Sezession mehrere internationale gerichtliche und quasi-gerichtliche Entscheidungen, räumt dem Gutachterverfahren zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo aber den prominentesten Platz ein.125 Er analysiert zuerst das Gutachten an sich und kommt zum Schluss, dass das Gutachten „no substantive findings on the vexed question of the law of secession of States“ 126 beinhalte. Die Stellungnahmen der Akteure und die ge114
Peters, Lotus-Land, 105 ff.; Talmon/Weller, 11; Weller, Modesty, 147. Corten; Weller, Modesty, 135 ff.; Gazzini, 3; Talmon/Weller, 8 f. (Weller). 116 Tomuschat, Anerkennung; Vidmar, Kosovo, 163 ff.; Tricot/Sander, 330 ff., 339 ff., 352 ff.; Wilde, Kosovo Advisory Opinion, 152 f. Vgl. zur kollektiven Nichtanerkennung: Kaikobad, 68 ff.; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 371 ff. Zum Verhältnis von Unabhängigkeitserklärungen und Staatlichkeit: Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 368 ff. 117 Kaikobad, 56 ff.; Chadwick; Tierney; Shelton; Borgen, Separatism, 1001 ff.; Röben, 1073 ff.; Helen Quane, Self-determination and Minority Rights after Kosovo, in: Summers, Kosovo: A Precedent?, 181 ff., 206 ff.; vgl. zum Verhältnis von Unabhängigkeitserklärungen und Selbstbestimmungsrecht: Oellers-Frahm, 811 f.; Vidmar, Kosovo Advisory Opinion, 361 ff. 118 Rrecaj, 134 ff. 119 Allen/Guntrip; vgl. auch Bothe zur Grenzziehung als Instrument der Friedenssicherung: Bothe, Grenzziehung. 120 Hafner/Kalb; Dugard; van den Driest und Milanovic. 121 Hafner/Kalb. 122 Vgl. DiePresse.com, Kosovo: IGH folgt der Rechtsansicht Österreichs, OnlineArtikel vom 6. August 2010 (http://diepresse.com/home/recht/rechtallgemein/585993/ Kosovo_ IGH-folgt-der-Rechtsansicht-Osterreichs). 123 Hafner/Kalb, 267. 124 Ein völkerrechtliches Verbot sei u. a. mangels Völkerrechtssubjektivität der Sezessionisten nicht möglich (Hafner/Kalb, 262 und s. St. Österreich, 39). 125 Dugard, 170 ff. 126 Dugard, 175 ff., 194. 115
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1. Teil: Einleitung
sonderten und abweichenden Stellungnahmen der Richter zieht Dugard heran, als er sich mit der Frage beschäftigt, ob die Sezession des Kosovo ein Präzedenzfall für künftige Sezessionen ist.127 Hier weist er den Gebrauch des sui generis-Arguments bei der damaligen Aussenministerin der USA, dem Rat der EU, den schriftlichen Stellungnahmen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und Deutschlands nach;128 Einwände werden von Zypern und Serbien erhoben.129 Dugard kommt zum Schluss, dass der Sezession des Kosovo durchaus ein Präzedenzcharakter zukomme. Es sei davon auszugehen, dass ohne den Fall Kosovo Russland nicht in Abchasien und Südossetien interveniert hätte. Damit sei klar, dass Kosovo von sezessionistischen Bewegungen als Rechtfertigung herangezogen werden würde.130 Simone Franciska van den Driest beschäftigt sich in ihrer Untersuchung mit der notstandsmässigen Sezession („remedial secession“) und geht der Frage nach, ob es im Falle von gravierenden Rechtsverletzungen ein Recht auf eine externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gibt. Dabei untersucht sie sowohl völkerrechtliche Verträge, das Schrifttum, Urteile, Gutachten, generelle Rechtsprinzipien, unilaterale Staatsakte und Akte von IOs im Hinblick auf den Nachweis eines notstandmässigen Rechts zur Sezession.131 Die Stellungnahmen der Akteure analysiert sie im Rahmen eines möglichen Nachweises einer gewohnheitsrechtlichen Norm.132 Sie beschränkt sich dabei auf den Fall der kosovarischen Sezession, weil: „[T]he case of Kosovo [. . .] provides a unique opportunity to gain an insight in the contemporary stance of the international community as to attempts at unilateral secessions and, more specifically, the concept of remedial secession.“ 133 Nachdem sie in den offiziellen Reaktionen der Staaten und der IOs auf die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo keine substantiellen Nachweise eines not127
Dugard, 195 ff. Dugard, 195 f. m. H. auf die 2851. Tagung des Rats Allgemeine Angelegenheiten und Aussenbeziehungen, Brüssel, 18. Februar 2008, Mitteilungen an die Presse, Dok. 6496/08. Wiedergegeben in S/2008/105 sowie Statement by Secretary Condoleeza Rice, U.S. Recognizes Kosovo as Independent State, U.S. Dep’t of State Press Statement Nr. 2008/117 vom 18. Februar 2008, in: AJIL, Vol. 102, Nr. 3, 638 ff., 640. Vgl. auch den Brief, den der damalige Präsident der Vereinigten Staaten George W. Bush dem kosovarischen Präsidenten Fatmir Sejdiu am 18. Februar gesendet hat (georgew bush-whitehouse.archives.gov/nes/releases/2008/02/20080218-3.html). Dugard, 196 f. m. H. auf Frankreich, s. St., Rz. 2.19; Grossbritannien, s. St., Rz. 12; Deutschland, s. St., 26 f. und Replik, 6. 129 Dugard, 197 m. H. auf Zypern, s. St., Rz. 77 ff., Replik, Rz. 30 ff.; Serbien, s. St., 124 ff. 130 Dugard, 199. 131 Van den Driest, 97 ff. 132 Van den Driest, 245 ff. 133 Van den Driest, 233. 128
§ 2 Forschungsinteresse
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standsmässigen Rechts zur Sezession gefunden hat, widmet sich van den Dries den Stellungnahmen der Akteure im Gutachterverfahren.134 Diese teilt sie in zwei Gruppen ein: Akteure, die sich für, und Akteure, die sich gegen ein notstandsmässiges Recht zur Sezession ausgesprochen haben.135 Van den Driest setzt sich mit den Standpunkten jedes Akteurs einzeln auseinander und zeigt die „lines of argument“ über die drei Stadien des Verfahrens auf; diese fasst sie schliesslich nochmals in einem Absatz zusammen.136 Danach weist van den Driest darauf hin, dass die „positions of some States may be motivated by their own (geo-political) interest.“ 137 Die Motive hätten aber keinen Einfluss auf den Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Norm. Darüber hinaus hält sie fest, dass eine grössere Beteiligung von nicht westlichen Staaten wohl dazu geführt hätte, dass sich mehr Akteure gegen das Bestehen eines notstandsmässigen Sezessionsrechts ausgesprochen hätten.138 Van den Driest legt eine saubere Darstellung der einzelnen Argumente vor; aufgrund ihrer Methode, die sich an der klassisch-positivistischen Rechtsquellenlehre orientierte, kommt sie jedoch nicht dazu, eine qualitative Analyse der Stellungnahmen vorzunehmen. Sie konzentriert sich auf den Nachweis einer gewohnheitsrechtlichen Norm. Dabei scheint die Frage, ob ein Akteur eine solche Norm akzeptiert oder propagiert, zentral zu sein. Wie das Bestehen der Norm begründet wird, gerät dadurch aus dem Blickfeld. Marko Milanovic hat als Rechtsberater der serbischen Delegation am Gutachterverfahren teilgenommen. Er setzt sich über 45 Seiten mit den Argumentationen der einzelnen Staaten auseinander und legt dabei den Fokus der Untersuchung auf die Entwicklung und die Anpassung von Argumenten während des Verfahrens.139 Sowohl eine qualitative Beurteilung der Stellungnahmen der Staaten als auch die Entwicklung einer persönlichen Stellungnahme werden explizit ausgeschlossen.140 Milanovic kommt zu vier Konklusionen:141 Erstens stellt er eine Veränderung der Argumente durch den Wechsel von der politischen in die gerichtliche Arena des IGH fest. Zweitens habe dieser Wechsel insbesondere bei der Beurteilung der Unabhängigkeitserklärung aus Sicht des generellen Völkerrechts stattgefunden. Insbesondere das sui generis-Argument habe angepasst werden müssen, weil es 134
Van den Driest, 234 ff., insb. 244 und 245 ff. Akteure, die die Positionen vertreten haben, dass das Völkerrecht gegenüber Sezessionen „neutral“ sei, hat sie der letzten Gruppe zugerechnet (van den Driest, 272). 136 Van den Driest, 274. 137 Van den Driest, 274. 138 Van den Driest, 275 m. H. auf Summers, Kosovo, 44. 139 Milanovic, 1 f. 140 Milanovic, 1. 141 Milanovic, 44 f. 135
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1. Teil: Einleitung
per definitionem kein rechtliches Argument sei.142 Es fände sich im Gutachten dadurch wieder, dass dieses möglichst darauf bedacht sei, kein Sezessionspräjudiz zu setzen: „From the Court’s standpoint, the whole point of the opinion is that it is not memorable.“ 143 Als drittes Fazit hebt Milanovic die Wichtigkeit von Verbündeten hervor; nicht nur für die politische, sondern auch für die gerichtliche Arena. Insbesondere die Pro Kosovo-Seite habe sich im Laufe des Verfahrens geschickt koordiniert und sukzessive die Argumentation übernommen, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung nicht ein Organ der PISG, sondern eine Gruppe von demokratisch gewählten Repräsentanten, die ausserhalb der PISG-Strukturen operiert hätten, gewesen sei – ein entscheidender Punkt, der dann auch vom Gerichtshof übernommen wurde.144 Zum Schluss hebt Milanovic hervor, dass es auch für die besten und erfahrensten Juristen in den verschiedenen Rechtsberatungsdelegationen schwer vorauszusehen war, wie sich der Fall vor dem IGH entwickeln würde. Als Beispiel verweist Milanovic auf die knappe Entscheidung des Gerichtshofs zur Ermessensausübung. Der Gerichtshof hat fast auf ein Gutachten verzichtet, weil die Generalversammlung eine Anfrage zu einem Thema formuliert habe, mit dem sich primär der Sicherheitsrat beschäftigt.145 Die Forschung, die sich mit den Stellungnahmen auseinandergesetzt hat, wird wie folgt berücksichtigt: Die Arbeit von Hafner/Kalb wird bei der sezessionsrechtlichen Argumentation Österreichs rezipiert. Die Monographie von John Dugard wird generell bei der völkerrechtsdogmatischen Einordnung der Sezession herangezogen. Diejenige von van den Dries bei der Frage nach dem Bestehen eines notstandsmässigen Sezessionsrechts und bei der interpretativen Einordnung der einzelnen Argumentationen. Der Aufsatz von Marko Milanovic ist besonders wertvoll für die Berücksichtigung der Prozessdimension der Argumentationen.146 Milanovic zeigt gut auf, dass die Dreistufigkeit des Verfahrens dazu führt, dass Argumente umformuliert oder fallengelassen werden und dass an ihrer Stelle neue Argumente in das Verfahren eingebracht werden. Insbesondere die Zusammenarbeit innerhalb des Pro-Kosovo- und innerhalb des Pro-Serbien-Blocks sowie die Reaktion auf die Argumentationen der Gegenseite kommen dadurch zum Ausdruck. Von der bisherigen Forschung unterscheidet sich die vorliegende Arbeit vor allem in der Methode der geltungsbezogenen Argumentationsanalyse.
142 Milanovic, 13: „One cannot have legal rules if one then has to disapply them in supposedly unique situations without any clear criteria as to how and why an exception is warranted and can be made.“ 143 Milanovic, 44; vgl. auch Waters, 321 ff. 144 Vgl. unten § 13 I.4. und II.1.b). 145 Milanovic, 8 ff. und 45. Vgl. auch Hernández, 84. So hat beispielsweise Irland argumentiert: Irland, s. St., Rz. 8 ff., 12. IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahmen Tomka, Rz. 7; Skotnikov, Rz. 9 und Bennouna, Rz. 13. 146 Vgl. zur Prozessdimension unten § 5 III.5.
2. Teil
Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse § 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe I. Die völkerrechtliche Argumentation zwischen Deduktion und Persuasion Dem Begriff des Arguments kommt im Völkerrecht ein zentraler Platz zu.1 Meist wird jedoch bloss implizit zum Ausdruck gebracht, was mit dem Begriff gemeint ist. Im Sinne einer Problematisierung können die Verwendungen zwei Positionen zugewiesen werden, die sowohl völkerrechts- als auch argumentationstheoretisch wohlbekannt sind: Die erste Position rahmt den Begriff des Arguments als deduktive Anwendung einer Norm auf einen Fall (II.). Die zweite Position sieht das Argument als persuasives Mittel zur Überzeugung oder Überredung eines bestimmten Publikums (III.).2 Die nachfolgende Darstellung ist weder eine umfassende Übersicht über den Argumentbegriff im Völkerrecht noch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Systematizität des Völkerrechts.3 Die beiden Positionen werden dargestellt, um die damit implizierten Argumentbegriffe herauszuarbeiten (II.1. und III.1.–3.). Danach wird die Anschlussfähigkeit der implizierten Begriffe an juristische Argumentationstheorien aufgezeigt (II.2. und III.4.). Im Sinne einer Problematisierung werden Unzulänglichkeiten der Argumentbegriffe dargestellt (II.3. und III.5.). Diese sollen eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem völkerrechtlichen Argumentbegriff rechtfertigen (IV.). 1
Vgl. oben § 2 II. Vgl. zu den argumentationstheoretischen Implikationen der Unterscheidung zwischen Überzeugen und Überreden, die im Englischen beide durch den Ausdruck „to persuade“ zum Ausdruck gebracht werden: Neumann, Theorie/Rechtsphilosophie, 239 ff. m.w. H.; Wohlrapp, Argumente, 569 m. H. auf Immanuel Kant, Vom Meinen, Wissen, Glauben, in: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1781, A 820/B 848 ff.; Richard Raatzsch, Überreden versus Überzeugen. Rhetorik versus Philosophie, in: Geert-Lueke Lueken/Pirmin Stekeler-Weithofer (Hrsg.), Argumentation (= Dialektik, Vol. 1, 1999), 53 ff. und schon Perelman/Olbrechts-Tyteca, 35 ff. 3 Die Debatte, ob das Völkerrecht ein System oder bloss eine Sammlung von Normen ist, wird seit H. L.A. Harts These, dass das Völkerrecht bloss „a set of rules“ sei, leidenschaftlich geführt (vgl. z. B. Crawford, Change, 137 ff.). 2
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
II. Argumentation als Deduktion in einem geschlossenen System 1. Das Völkerrecht als axiomatisches Normsystem Nach der ersten Position ist das Völkerrecht ein geschlossenes System von Normen. Je nach vertretener Rechtsquellenlehre kann das ein positives, ein naturrechtliches oder ein gemischtes Normsystem sein. Die Frage nach der Herkunft der Normen ist für die Funktion der Argumentation nicht zentral. Den jüngsten umfassenden Versuch, das Völkerrecht als geschlossenes axiomatisches System von positiven Normen darzustellen, hat Alexander Orakhelashvili unternommen.4 Er vollzieht die Schliessung des Systems, indem er Recht von Fakten, Interessen, Werten und quasi-normativem Nicht-Recht trennt.5 Zentrales Kriterium der Normgenese ist die Staatenzustimmung („state consent“).6 Die Anwendung einer Norm erfolgt dadurch, dass die Entscheidung des Falles aus dem axiomatischen System abgeleitet wird. Der Prozess der Anwendung wird durch verschiedene Metanormen geregelt: Auslegungsnormen, Kollisionsnormen, Rechtfortbildungsnormen usw. Diese bestimmen, wie im Falle von Unklarheiten und Lücken vorzugehen ist. Der Gerichtshof muss die Entscheidung des Falls aus diesem Normenkomplex ableiten. In der Begründung hat er die Ableitung auszuweisen. Die in der Begründung enthaltene Argumentation ist funktionell Teil dieser Ableitung. Für den IGH ergibt sich die Pflicht, seine Entscheidung in Anwendung des Völkerrechts zu fällen, aus Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut. Dieser Artikel wird sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung als nicht abschliessende Positivierung der völkerrechtlichen Rechtsquellen behandelt.7 Demnach setzt sich das axiomatische System aus völkerrechtlichen Verträgen, Gewohnheitsrecht, allgemeinen Rechtsprinzipien und – als subsidiären Rechtsquellen – aus Präjudizien und dem Schrifttum zusammen. Die Ableitung wird am Beispiel der wichtigsten völkerrechtlichen Rechtsquelle, dem völkerrechtlichen Vertrag (lit. a), dargestellt. Durch einen rechtsgültigen völkerrechtlichen Vertrag wird das axiomatische Normsystem verändert. Die Aufgabe des Gerichts ist, die im Vertrag enthaltenen Normen im Rechtsverfahren auf den Fall anzuwenden. Dabei kommt der Staatenzustimmung zentrale Bedeutung zu, weil durch diese die Bedeutung der Normen 4 Dies impliziert auch die Berücksichtigung von naturrechtlichen Argumenten, vgl. Martti Koskenniemi, International Legal Theory and Doctrine, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Online-Edition (www.mpepil.com), Heidelberg/Oxford 2011, Rz. 15 ff. und Orakhelashvili, Interpretation, 51 f., 60 ff. und 69: „Consequently, the natural law argument is a valid and received part of the international legal argument [. . .].“ 5 Orakhelashvili, Interpretation, 108 ff. Vgl. dazu die Kritik bei Waibel, Demistifying, 586. 6 Orakhelashvili, Interpretation, 51 ff. 7 Statt vieler Pellet, IGH-Komm., Art. 38, Rz. 77.
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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stabilisiert wird.8 Der Vertragstext enhält objektive und intelligible Normen.9 Die Zustimmung soll als archimedischer Punkt die Bedeutung von Vertragstexten in Zeit und Raum stabilisieren. Sollte diese nicht klar sein, so muss sie durch Auslegung erkannt werden. Seit 1969 wird die völkerrechtliche Vertragsauslegung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, die WVK, geregelt.10 In Art. 31 bis 33 WVK sind die Auslegungsregeln kodifiziert.11 Art. 31 Ziff. 1 hält fest, dass ein Vertrag in Treu und Glauben auszulegen, den Begriffen ihre gewöhnliche Bedeutung in ihrem Kontext zu geben und der Vertrag im Lichte des Vertragssinns und -zwecks auszulegen ist. Sollte die Bedeutung auch nach der Auslegung noch unklar oder das Ergebnis unvernünftig oder absurd sein, können als zusätzliche Auslegungsmittel die travaux préparatoires (Materialien) herangezogen werden (Art. 32 WVK). In der Regel wird zwischen verschiedenen Auslegungsschulen unterschieden.12 Die Schulen unterscheiden sich dadurch, dass sie ein unterschiedliches Ausle8 Orakhelashvili, Interpretation, 286: „[. . .] interpretation methods must be those which deduce the meaning exactly of what has been consented to and agreed.“; Crawford, Principles, 21:„The law of treaties concerns the content of specific obligations accepted by the parties [. . .], that is, it concerns the incidence of obligations resulting from express agreement.“; Fernandez de Casadevante Romani, 37: „[The] text reflects the consensus of the parties concerning the content of the rule and constitutes the authentic written expression of their wills.“; Linderfalk, 32 f.: „What the applier uses is the norm content of the treaty, that is to say, the agreement confirmed in the treaty. [. . .] Arguably, the correct meaning of a treaty should be identified with the pieces of information conveyed by the treaty, according to the intentions held by each individual party, but only insofar as they can be considered mutually held.“; Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, 23: „Die Erkenntnis des Vertragsinhalts umfasst meist das Verstehen eines Vertragstexts als Ausdruck des von den Parteien Gewollten.“ 9 Orakhelashvili, Interpretation, 319. 10 Mit dieser Kodifizierung ist die auslegungstheoretische Diskussion im Schrifttum nicht zu einem Ende gekommen. In den letzten Jahren sind folgende Monographien und Kommentare zum Thema erschienen: Fernandez de Casadevante Romani; Gardiner; Robert Kolb, Interprétation et création du droit international, Brüssel 2006; Linderfalk; Orakhelashvili, Interpretation; Van Damme; Enzo Cannizzaro (Hrsg.), The Law of Treaties beyond the Vienna Convention, Oxford 2011; Olivier Corten/Pierre Klein (Hrsg.), The Vienna Convention on the Law of Treaties. A Commentary, Oxford 2011; Oliver Dörr/Kirsten Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Berlin/ Heidelberg 2012; Malgosia Fitzmaurice/Olufemi Elias/Panos Merkouris (Hrsg.), Treaty Interpretation and the Vienna Convention on the Law of Treaties: 30 Years on, Leiden 2010; Mark E. Villiger, Commentary on the Vienna Convention on the Law of Treaties, Leiden 2009. Vgl. für eine Übersicht Waibel, Demistifying. Hinzu kommen Konferenzen (z. B. The Cambridge Conference on Interpretation in International Law vom 27. August 2013) sowie Symposien (z. B. Symposium: The Interpretation of Treaties – A Re-examination, EJIL, Vol. 21, Nr. 3, 2010, 507 ff.). 11 Ihnen kommt gewohnheitsrechtlicher Charakter zu: IGH, Arbitral Award of 31 July, Rz. 48. Vgl. zur allmählichen Anerkennung der Auslegungsregeln der WVK durch den IGH: Gardiner, 13 ff. 12 Vgl. u. a. Waldock, Special Rapporteur of the ILC, YILC, 1964, Vol. II, 53 oder Scott, The Political Interpretation of Multilateral Treaties, 2004 Leiden, 1 f.
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gungsziel postulieren: das Finden der Parteienzustimmung als subjektives Element ausserhalb des Vertragstexts oder als objektives Element im Vertragstext und weiteren Texten oder des Sinn und Zwecks des Vertrags.13 Das Ziel wird durch die Anwendung der verschiedenen Auslegungsregeln in unterschiedlicher Gewichtung erreicht. Diese Auslegungslehre führt vom eigentlichen Text hin zu einer konsensualen Zustimmung seiner „Autoren“. In der Form der subjektiven Auslegungslehre ist diese ausserhalb der Sprache und vorwiegend mit dem Mittel der genealogischen Auslegung zu finden.14 In der objektiven Lehre ist sie textimmanent und die Bedeutung des Vertragsnormtexts durch andere Texte und die Mittel einer historischen Auslegung, also insbesondere durch Rückgriff auf die travaux préparatoires, zu bestimmen. Die konsensuale Zustimmung wirkt rechtsgenerativ und stabilisierend. Einerseits erklärt sie die Veränderung des axiomatischen Normsystems durch die Ratifizierung eines völkerrechtlichen Vertrags. Anderseits stabilisiert sie den Prozess der Anwendung und der Auslegung der Normen. Diese Position postuliert eine in Zeit und Raum stabile sprachliche Bedeutung.15 Dass sie damit auf Grundlagen beruht, die von anderen Disziplinen nicht (mehr) garantiert werden, sieht auch Orakhelashvili: „The linguistic debate as to whether there is such a thing as clear and established meaning of words is beside the point of this analysis. The principal factor is that, according to the attitude of the international community as expressed in Article 31 of the Vienna Convention and the respective judicial practice, words do have established meaning and interpreters are able to find it on a regular basis. This exercise is complete as soon as the meaning is objectively and intelligibly identifiable, whether or not it is seen as reasonable, satisfactory or sound.“ 16
Die Position wirkt für viele Völkerrechtler nach wie vor orientierend.17 Sie ist schlank und gibt Sicherheit. Sowohl die Geltung und die Bedeutung der Norm als 13 Die subjektive Schule wurde während den Vorarbeiten der ILC zur Ausarbeitung der WVK in prominenter Weise von Hersch Lauterpacht, die objektive von Gerald G. Fitzmaurice in ihrer jeweiligen Funktion als Sonderberichterstatter der ILC vertreten; vgl. dazu Spiermann, 98 ff.; Waibel, Uniformity, 380 m.w. H. An der Wiener Konferenz zur Verabschiedung der WVK konnten sich die „Objektivisten“ gegen die „Subjektivisten“ durchsetzen: vgl. die Erklärung zu Art. 31 in: Yearbook of the ILC (1966) Vol. 2, 220; Bernhardt, 497; Waibel, Uniformity, 380; Gardiner, 8. Für eine Kritik aus linguistischer Perspektive: Busse, 34 ff. 14 Problematisch an dieser Konstruktion ist, dass ein Konsens der Parteien, der über den Text hinausginge, nur eine Mutmassung des Auslegers sein kann. Vgl. dazu die Definition des völkerrechtlichen Vertrags von Philip Allott (The Health of Nations, Cambridge 2002, 305): „A treaty is a disagreement reduced to writing [. . .]. The parties to a treaty [. . .] no doubt have different ideas about what has been fixed in the treaty, and different interests in relation to its interpretation and its application to actual persons and events.“ 15 Bianchi, 36 ff. 16 Orakhelashvili, Interpretation, 319. 17 Bianchi, 36 f.
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auch die Legitimation der Entscheidung sind im Vertragstext zu finden.18 Die Richterin leitet die Entscheidung aus der Norm ab und wendet sie als „Subsumptionsautomat“ oder als „bouche qui prononce les paroles de la loi“ 19 auf den Fall an. Die Bindung zwischen Vertragstext und Rechtsentscheidung kommt durch eine Ableitung zustande. In der Begründung wird die Ableitung ausgewiesen. Die Geltung der Argumentation ergibt sich aus dem axiomatischen System, das der Argumentation vorgeht. 2. Anschlussfähige juristische Argumentationstheorien Die objektive und intelligible Norm setzt eine Prämisse, bevor die Argumentation überhaupt angefangen hat. Diese Prämisse verändert sich durch den Argumentationsprozess nicht. Deshalb kann eine These, die in der Argumentation erhoben wird, ex post an der Prämisse überprüft werden. Wenn der IGH in Rz. 80 die These aufstellt, dass sich die Anwendbarkeit der territorialen Integrität auf zwischenstaatliche Beziehungen beschränkt, kann überprüft werden, ob sich dieser Schluss aus einer völkerrechtlichen Norm ergibt. Weil eine semantische Stabilität der Prämisse angenommen wird, kann der Weg von der Prämisse zur Konklusion formallogisch überprüft werden. Eine klassische logische Definition eines Arguments ist: „An argument is any group of propositions of which one is claimed to follow from the others, which are regarded as providing support or grounds for the truth of that one.“ 20 Die Propositionen am Anfang sind die Prämissen (PP), die am Ende die Konklusionen (C); der Übergang (PP ! C) erfolgt durch einen inferentiellen Übergang (PPC-Struktur).21 Der unter Juristen bekannteste logische Schluss ist der Syllogismus, also ein deduktives Argument, das von der generell-abstrakten Regel über den individuell-konkreten Fall zur Rechtsentscheidung führt.22 Dieser Schluss ist wahrheitsbewahrend: Wenn die Prämissen wahr sind, müssen auch die Konklusionen wahr sein. Das Bild der logischen Argumentation findet sich auch in der Rechtsprechung. Hier ein frühes Beispiel von Richter Anzi18 Vgl. Müller/Christensen, 199: „[D]ie Geltung des Normtextes liegt in seiner Bedeutung und die Entscheidung ist legitim, wenn sie die erkannte Bedeutung genau auf den Fall anwendet.“ Vgl. auch: Linderfalk, 32 f. 19 Montesquieu, De l’Esprit des lois, Genf 1748, Buch XI, Kapitel VI. 20 I. M. Copi/C. Cohen, Introduction to Logic, 11. Aufl., Upper Saddle River (NJ) 2002, 6. 21 Günther Kreuzbauer, Topics in Contemporary Legal Argumentation: Some Remarks on the Topical Nature of Legal Argumentation in the Continental Law Tradition, in: Informal Logic, Vol. 28, Nr. 1, 2008, 71 ff., 72 f. 22 Eine gute Übersicht über die logischen Schlüsse aus juristischer Sicht bietet: Kaufmann, 43 ff. Vgl. für eine Übersicht über die Arbeits- und Funktionsweise der formalen Logik: Krimphove, 320 ff.
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lotti: „The grounds of a judgment are simply logical arguments, the aim of which is to lead up to the formulation of what the law is in the case of the question.“ 23 Der IGH hat es bei der Beurteilung der Frage, ob ein Schiedsspruch gültig begründet wurde, verwendet: „However, an examination of the Award shows that it deals in logical order and in some detail with all relevant considerations and that it contains ample reasoning and explanations in support of the conclusions arrived at by the arbitrator.“ 24 Niemand behauptet eine völlige Determination aller Rechtsentscheidungen durch das Völkerrecht.25 Die Determination wird beispielsweise dadurch relativiert, dass das System für einen bestimmten Fall keine Norm vorsieht (Lücke), dass die Anwendbarkeit oder der Inhalt der Norm „unklar“ sind oder dass sich verschiedene Normen widersprechen, also ein Normkonflikt vorliegt. Wenn die Prämissen unklar oder umstritten sind, muss zuerst um die Prämissen argumentiert werden. Diese Argumentation kann nicht aus sicheren Prämissen deduzieren; sie muss anders theoretisiert werden.26 Hierzu finden sich in der Literatur zu juristischen Argumentationstheorien verschiedene Vorschläge. Die drei berühmtesten juristischen Argumentationstheorien, die eine Zweiteilung zwischen deduktiver und nicht deduktiver Argumentation27 vorsehen, sind diejenigen von Robert Alexy, Neil MacCormick und Alexander Peczenik. Alexy übernimmt von Wróblewski die Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Rechtfertigung.28 Die interne Rechtfertigung ist das, was unter dem Titel „juristischer Syllogismus“ bekannt ist und mit den Methoden der modernen Logik behandelt werden kann. Also der inferentielle Übergang aus sicheren Prämissen.29 Die Aufgabe der externen Rechtfertigung ist, die „nicht 23 StIGH, Interpretation of Judgments Nos. 7 and 8, Abweichende Stellungnahme von Richter Anzilotti, 23 ff., 24. 24 IGH, Arbitral Award by the King of Spain, 216 (Hervorhebungen hinzugefügt). Vgl. auch: IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), Gesonderte Stellungnahme von Richter Luchare, 652. 25 Crawford, Change, Rz. 175; Koskenniemi, Apology, 36. 26 Hier hilft die Logik nicht weiter. Vgl. dazu Wesley C. Salmon, Logik, Stuttgart 1983, 12: „Wird ein Argument als eine Begründung seiner Konklusion vorgebracht, entstehen zwei Fragen. Erstens sind die Prämissen wahr? Zweitens: Stehen die Prämissen in der richtigen Beziehung zur Konklusion? Die Logik befasst sich mit der Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion und nicht mit der Wahrheit von Prämissen.“ (zitiert nach Lueken, Paradigmen, 23, Fn. 13). 27 Vgl. zu dieser Unterscheidung und ihrer Relativierung: Kennedy, 137 ff. 28 Alexy, 273 m. H. auf Jerzy Wróblewski, Legal Syllogism and Rationality of Judicial Decision, in: Rechtstheorie, Vol. 5, 1974, 39 ff.39 ff. Auch Aarnio übernimmt diese Unterscheidung. Er hält die interne Rechtfertigung jedoch für trivial und beschäftigt sich daher vorwiegend mit der externen (vgl. Aarnio, 120). 29 Alexys Beispiel (274): „Der Soldat muss in dienstlichen Angelegenheiten die Wahrheit sagen [. . .]. Herr M. ist ein Soldat. [. . .] Herr M. muss in dienstlichen Angelegenheiten die Wahrheit sagen.“
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unmittelbar aus dem positiven Recht zu entnehmenden Prämissen zu rechtfertigen.“ 30 Alexy unterscheidet hier zwischen sechs Gruppen der Regeln und Formen: Auslegung, Dogmatik, Präjudizienverwertung, Vernunft, Empirie und spezielle juristische Argumentationsformen (die Analogie, das argumentum a contratio, das argumentum a fortiori und das argumentum ad absurdum).31 Entscheidend ist, wie die Grenze zwischen deduktiver und nicht deduktiver Begründung gezogen wird. Alexy zieht sie wie folgt: In komplizierten Fällen reiche die interne Rechtfertigung nicht aus. Beispielsweise, wenn eine Norm mehrere alternative Tatbestandsmerkmale enthalte, ihre Anwendung eine Ergänzung durch andere Rechtsnormen erfordere, mehrere Rechtsfolgen möglich seien oder die in der Norm benutzten Ausdrücke mehrere Interpretationen zulassen würden.32 In diesen Fällen kann die Entscheidung nicht direkt von sicheren Prämissen abgeleitet werden. Die Prämissen müssen durch eine externe Rechtfertigung gesichert werden, bevor auch in diesen Fällen der Schluss logisch rekonstruiert werden kann. MacCormick identifiziert mehrere Grenzen der deduktiven Begründung: Erstens setzt die deduktive Begründung selbst eine Begründung voraus. Nämlich eine Begründung, warum die Rechtsanwender die Regeln, die sie als Rechtsanwender anwenden, anwenden müssen.33 Zweitens sind Regeln in Sprache gefasst und damit in gewissen Kontexten unklar („both open textured, and vague“).34 Hier zieht MacCormick die Grenze in zwei Schritten. In einem ersten Schritt nimmt er an, dass eine Unterscheidung zwischen klaren und schwierigen Fällen möglich sei. In ersteren sei eine Begründung durch simple Deduktion möglich, in letzteren wegen Auslegungs-, Relevanz- oder Klassifikationsproblemen nicht.35 In einem zweiten Schritt problematisiert er diese Unterscheidung: „But in truth there is no clear dividing line between clear cases and hard cases.“ 36 Die Grenze könne nicht gezogen werden, weil sie fliessend sei. Dies begründet MacCormick mit verschiedenen Begründungsstilen bei verschiedenen Richtern und in verschiedenen Epochen.37 Schliesslich umschreibt er die Fälle, in denen nur deduktiv begründet werden könne, wie folgt:
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Alexy, 281. Alexy, 283 ff., 341 ff. 32 Alexy, 276. Die gezogene Grenze ist jedoch nicht frei von Widersprüchen. Vgl. die Kritik bei: Feteris, 117. 33 MacCormick, 62 ff. und insb. 65: „In short, there are presupposed justifying reasons for accepting deductive justification, and these are not themselves explained by our prior explanantion of the content of deductive justification.“ 34 MacCormick, 66 und 67: „[. . .] rules can be ambiguous in certain contexts [. . .].“ 35 MacCormick, 197. 36 MacCormick, 197. 37 MacCormick, 198. Vgl. zum IGH: Prott, Style, 82 ff. 31
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse „The cases [. . .] are those in which either (a) no doubt as to interpretation of the rule or classification of facts could conceivably have risen; or (b) no one thought of raising and arguing a point which was in truth arguable; or (c) where such an argument has been trid but dismissed as artificial or far-fetched by the Court.“ 38
Aus dieser Klassifikation und aus MacCormicks Überlegungen zur Gesetzesauslegung geht hervor, dass gewisse Regeln eine klare und offensichtliche Bedeutung haben.39 Sobald dieser Bereich verlassen werde, könne nur eine folgenorientierte oder prinzipientreue Argumentation die jeweilige Auslegung rechtfertigen.40 Peczenik theoretisiert die juristische Argumentation als Folge von Transformationen. In der Transformation in das Recht wird nachgewiesen, dass eine bestimmte Norm zu einem bestimmten Rechtssystem gehört.41 In der Transformation innerhalb des Rechts unterscheidet er zwischen einer Rechtsquellen-, einer generellen und einer Entscheidungstransformation. Die erste Transformation ist die Begründung der Anwendung von Rechtsquellen (Gesetze, Präjudizien etc.) mit Hilfe einer primären Norm, die besagt, welche Quellen zu berücksichtigen sind (für den IGH Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut). Die generelle Transformation fragt nach der exakten Bedeutung der Norm, die der Rechtsquelle entnommen wurde.42 In der Entscheidungstransformation geht es schliesslich darum zu entscheiden, welches Urteil aus rechtlicher Sicht am besten ist. Dafür sind vier verschiedene Schritte denkbar: eine genaue Auslegung und Subsumption, eine Reduktion des Anwendungsbereichs der Norm oder eine vollständige „Entfernung“ der Norm aus dem Rechtssystem, Lückenfüllung durch Setzen einer neuen Norm oder Lösung eines Normkonflikts. Eine Auslegung ist beispielsweise nötig, falls eine dem Rechtssystem entnommene Norm nicht eindeutig anwendbar ist. Dieses Problem ergibt sich daraus, dass die Begriffe der Norm unklar sind.43 Bei all ihren Unterschieden haben die drei Theorien folgendes gemein: Normen sind grundsätzlich objektiv und intelligibel, sie gehen der Argumentation vor und ihre Semantik lässt eine Differenzierung zwischen deduktiver und nicht deduktiver Argumentation zu. 3. Problematisierung Weil die Rechtsentscheidung durch das Völkerrecht schon vor der eigentlichen Argumentation determiniert wird, kann die Funktion der Argumentation höchstens eine richtige Rekonstruktion sein: „The rules are assumed to operate inde38 39 40 41 42 43
MacCormick, 199. MacCormick, 208 f. MacCormick, 211. Peczenik, 298. Er übernimmt hierfür Kelsens Grundnormtheorie. Feteris, 149. Feteris, 150.
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pendently, and the arguments merely mimic the operation of the rules.“ 44 Die Richtigkeit einer Entscheidung ergibt sich aus den Normen, ihrer richtigen Anwendung und Auslegung. Sie ist damit unabhängig von der Argumentation. Dies führt jedoch in eine epistemologische Sackgasse, weil niemand einen direkten Zugang zu diesem idealisierten Vorgang hat. Die Position übersieht, dass eine Kritik einer juristischen Begründung notwendigerweise zu mehr juristischer Argumentation führt:45 „Even if it were the case that legal rules apply ,automatically‘, there is no way to establish this, and neither is there a way to discover the results. Therefore the idea that law is self-applying and that legal argumentation is merely reconstruction is at best an assumption that can neither be verified nor falsified.“ 46
Neben dieser epistemologischen Unzulänglichkeit ist auch das formallogische Bild der juristischen Argumentation problematisch. Es können vier Einwände gegen dieses Bild formuliert werden. Erstens wird die Argumentation als abstrakter Gegenstand angesehen, der sich aus Prämissen und Konklusionen zusammensetzt und idealerweise eine PPCStruktur aufweist. Durch diese Abstraktion besteht die Gefahr, dass der pragmatische und dialogische Bezug der Argumentation verlorengeht.47 Ein Argument wird nicht als eine Handlung angesehen, die von einer Person gegenüber anderen Personen vollzogen wird, sondern als formaler, inferentieller Übergang. Dadurch löst man die Argumentation von der Situation, in der sie, und den Personen, von und gegenüber denen sie geäussert wurde. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum die Geltung einer Argumentation unabhängig von diesen Aspekten sein soll. So macht es doch einen Unterschied, ob eine Argumentation analysiert wird, die vor Gericht oder im Fussballstadion stattgefunden hat. Dies gilt es bei der Analyse zu berücksichtigen.48 Eine Fokussierung auf Sätze und formale Übergänge tendiert dazu, diese pragmatische und dialogische Einbettung der Argumentation und ihrer Geltung zu übersehen. Zweitens kann die PPC-Struktur dazu führen, dass die Genese von Thesen und Gründen sowie die Retroflexivität ihrer Stützung übersehen werden. In Argumentationen ist nicht immer von Anfang an klar, was die Prämisse und was die Konklusion ist; dies kann sich erst im Verlaufe eines argumentativen Dialogs erge44 Hage, 131. Ähnlich schreibt Geert-Lueke Lueken in einer Untersuchung zu den verschiedenen Paradigmen einer Philosophie des Argumentierens (Paradigmen, 16): „In der Perspektive des logischen Paradigmas wäre die rationale Rhetorik eine Anwendungsdisziplin, die im Rahmen der Argumentationstheorie zur formalen Logik hinzutritt. Hinsichtlich der Geltungsfrage aber ist alles schon erledigt, bevor die rhetorische Pragmatik auf den Plan tritt.“ 45 Hage, 131 ff. 46 Hage, 133. 47 Vgl. Lueken, Paradigmen, 18 f. 48 Vgl. dazu unten § 6 I.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
ben.49 Und es ist auch nicht zwingend, dass jede Äusserung die Funktion hat, eine Konklusion zu stützen. So ist es beispielsweise möglich, einen Einwand gegen eine These zu formulieren, ohne dass der Einwand selbst eine (Gegen-)These stützt.50 Darüber hinaus verläuft die Stützung nicht bloss von den Prämissen zur Konklusion, sondern sie kann auch umgekehrt verlaufen. Vielleicht formuliert man im Gespräch zunächst einmal eine These und versucht, diese durch Erprobung verschiedener Gründe zu stützen.51 Lueken schreibt dazu: „Ein und derselbe Satz kann seine funktionale Rolle im Argumentationsprozess verändern. Was am Ende eine Argumentation stark macht, ist nicht die Stärke einzelner, einseitiger Stützungs- und Folgerungsverhältnisse zwischen Prämissen und Konklusionen, sondern die Stimmigkeit und Orientierungskraft eines Gesamtnetzes sich wechselseitiger stützender Überzeugungen, in das die Argumentation eingebettet ist und durch sie partiell explizit gemacht wird.“ 52
Damit spricht er die Einbettung der thetischen Konstruktion in epistemische Theorien an, die sich unter anderem durch Kohärenz auszeichnen.53 Die Annahme der PCC-Struktur kann dazu führen, dass in der Argumentationspraxis analysierte Argumente als mangelhaft angesehen werden, weil beispielsweise eine Prämisse fehlt.54 Statt sich auf die analysierte Argumentation einzulassen und sich zu fragen, warum der Argumentierende so argumentiert hat, zwingt man die analysierte Argumentation in ein vorgefertigtes Muster, ohne dasselbe von den pragmatischen und dialogischen Bezügen der Argumentation zu reflektieren. Drittens begründet kein Gericht ein Urteil in formallogischer Sprache. Die analysierte Begründung muss daher von der juristischen in die formallogische Sprache übersetzt werden. Auch dies führt zu nicht unerheblichen Eingriffen in die analysierte Argumentation: „Hat man mittels [. . .] Ersetzungen, semantischen Stabilisierungen, Ergänzungen, Tilgungen, Festsetzungen und Umformungen eine Argumentation in eine ,inhaltsleere‘ logisch-syntaktische Form gebracht, so ist die Frage der Geltung des Schlusses zu einer Frage der Zulässigkeit in einem Kalkül geworden.“ 55 49 Christensen/Sokolowski, 125 f.; Wohlrapp unterscheidet zwischen linearen und retroflexiven Argumentationen (Begriff, 313 ff.). In letzteren läuft die Stützung nicht nur linear von den Gründen zur These, sondern Gründe und Thesen werden in retroflexiver Stützung erarbeitet. Lueken unterscheidet zwischen thesenprüfenden und thesensuchenden Argumentationen (Paradigmen, 20 f.). 50 Lueken, Paradigmen, 21. Vgl. dazu unten § 5 III.3.c). 51 Vgl. dazu unten § 5 III.5.a). 52 Lueken, Paradigmen, 21. 53 Vgl. dazu unten § 5 II.2.b)bb) und III.1.b). 54 Lueken, Paradimgen, 21 f. In den aristotelischen Begrifflichkeiten der Argumentation könnte man dies dann als Enthymem ansehen. Vgl. zu diesem vielseitigen Begriff und seiner Rezeption in der Forschung zur juristischen Argumentation: Rechtstheorie, Vol. 42, Nr. 4, Sonderheft Rechtsrhetorik, 2011, 377 ff. 55 Lueken, Paradigmen, 25. Vgl. auch Christensen, Statement.
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Auch Dieter Krimphove sieht das zentrale Problem des Einsatzes formallogischer Mittel in der Rechtswissenschaft darin, dass die beiden Sprachen inkompatibel sind.56 In einem argumentativen Dialog ergeben sich darüber hinaus auch semantische Verschiebungen. Arnulf Deppermann zeigt dies anhand einer Analyse des Begriffs der Freiheit in einer umweltpolitischen Diskussion auf.57 Er kommt zum Schluss, dass es nahezu unvermeidlich sei, dass es in Argumentationen zu semantischen Verschiebungen komme. Die Bedeutung von „Freiheit“ werde praktisch in jedem untersuchten Gesprächssegment neu festgelegt.58 Und die Bedeutung sei auch am Ende einer Äusserung nicht abschliessend festgelegt, weil die Sprecher „weitere Aspekte hinzufügen oder Korrekturen anbringen“ 59 können. Gemäss Deppermann hat man es vielmehr mit „semantischen Prozessen zu tun, in denen Interpretationen lokal vollzogen und beständig modifiziert werden.“ 60 Daher sei es unvermeindlich, dass es in Argumentationen zu semantischen Verschiebungen komme. Aus Sicht einer logischen Semantik würden diese fast ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt betrachtet, dass sie Äquivokationen erzeugen und somit als Trugschluss betrachtet werden könnten (fallacy of equivocation).61 Deppermann deutet aber darauf hin, dass solche Verschiebungen nicht als Defizite, sondern als grundlegende Merkmale von Semantik und von Argumentationen überhaupt betrachtet werden sollten.62 Er fordert daher, dass die Argumentationstheorie „eine komplexere, interpretativere und kontextsensitivere Semantiktheorie [brauche], als sie logisch-semantische Ansätze anbieten.“ 63 Dies stellt die Möglichkeit der logischen Rekonstruktion infrage, denn für „die Verrechnung von Sätzen ist ihre semantische Stabilität nötig.“ 64 Ein argumentativer Dialog in einem Verfahren kann sich genau auf die Bedeutung bestimmter Worte beziehen. Der Streit der Parteien kann ein „semantischer Kampf“ sein.65 Dies macht semantische Verschiebungen zu einem wesentlichen Bestandteil der juristischen Argumentation, der durch die semantische Stabilisierung in der formallogischen Rekonstruktion verlorengeht. Viertens fokussiert das logische Bild auf die formale Geltung von Argumenten.66 Die materielle oder inhaltliche Seite wird so vernachlässigt. Auch hier ist 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Krimphove, 323 und 338. Deppermann. Deppermann, 148. Deppermann, 150. Deppermann, 150. Vgl. auch Christensen, Statement, 591 ff. Deppermann, 141 und 150. Deppermann, 150. Deppermann, 150. Christensen/Sokolowski, 128. Vgl. für das Völkerrecht z. B.: D’Aspremont, Wording, 21 ff. Lueken, Paradigmen, 22 ff.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
fraglich, ob dies nicht wesentliche Bestandteile der völkerrechtlichen Argumentation übersieht. Geht es nicht gerade um die Zulässigkeit von inhaltlichen Übergängen? Man denke beispielsweise an die Frage, wer Träger des Selbstbestimmungrechts ist? Hier geht es nicht bloss um korrekte formelle Übergänge, sondern um die Reaktualisierung völkerrechtlichen und politologischen Wissens: Was soll unter Volk verstanden werden? Rechtfertigt man die These, dass die Kosovaren ein Volk i. S. des Selbstbestimmungsrechts sind über ethnische, sprachliche und religiöse Merkmale oder über prozedurale Kriterien wie die Anerkennung durch Organe der VN? Zentral sind für die Analyse dieser Argumentationen nicht der formelle Übergang, sondern die inhaltlichen Gründe, die der Akteur für seine jeweilige These liefert. Eine Rekonstruktion als PPC-Struktur setzt diese inhaltlichen Aspekte in die Prämissen und damit an den Rand der formallogischen Analyse. Und fünftens kann die These, dass die völkerrechtliche Argumentation ein formallogisches Folgern aus objektiven und intelligiblen Normen sei, die argumentative Produktion von neuem Wissen und neuer Orientierung nicht erklären.67 Wie soll eine über bekanntes völkerrechtliches Wissen hinausgehende Begründung einer Entscheidung möglich sein, wenn sie idealiter schon vor der Begründung determiniert war? Argumentiert wird eben, wenn die Grenze der Orientierung überschritten wird. Solange wir orientiert sind, können wir auch einfach erklären.68 Zusammenfassend führt die Annahme der Determination der Rechtsentscheidung durch das Völkerrecht als axiomatisches positives Rechtssystem, das dem Verfahren vorgeht, dazu, dass die Funktion der völkerrechtlichen Argumentation auf die Rekonstruktion dieses Vorgangs reduziert wird. Weil die Prämissen zumindest in einfachen Fällen schon durch das System gesetzt werden, kann der Vorgang darüber hinaus als formallogische Ableitung begriffen werden, indem sich die Richtigkeit der Konklusion aus der Richtigkeit der Prämissen ergibt. Dieses Bild der völkerrechtlichen Argumentation wird dem komplexen Vorgang des Argumentierens jedoch nicht gerecht und deshalb auch zunehmend infrage gestellt. Verschiedene Autoren vertreten eine theoretische Position, nach welcher die Richtigkeit der Entscheidung nicht durch ein dem Verfahren vorgehendes System determiniert wird.
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Lueken, Paradigmen, 27 f. Vgl. unten § 5 II.3.
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III. Argumentation als Persuasion in einem kommunikativen Prozess 1. Einleitung Die Antwort auf die Frage nach der Völkerrechtskonformität ist nach dieser Position vor dem Verfahren völlig indeterminiert. Die Akteure bringen sich in das Verfahren ein, um den Gerichtshof in seiner Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Und auch der Gerichtshof begründet seine Entscheidung im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum.69 Gerade weil die Entscheidung nicht durch ein geschlossenes System determiniert wird, muss für die getroffene Entscheidung geworben werden. Die Argumentation ist funktionell nicht mehr eine Rekonstruktion einer Ableitung, sondern ein persuasiver kommunikativer Prozess. Die Antwort auf eine Rechtsfrage ist daher nicht klar, wenn die Normen klar sind, sondern wenn sich alle Akteure einig sind.70 Der Gerichtshof kann seine Entscheidung damit nicht mehr aus einem geschlossenen System ableiten, er muss vielmehr für seine Entscheidung werben. Werbemittel ist die Argumentation, Werbeziel die Schaffung von Akzeptanz. Es gibt mehrere Beispiele, die angeführt werden könnten, um die Skizze der völkerrechtlichen Indetermination zu exemplifizieren. Es bieten sich insbesondere rechtsrealistische und rechtskritische Ansätze an. Einflussreiche rechtsrealistische Ansätze sind die New Haven und die Transnational Legal Process School. Rechtskritische Ansätze wenden Erkenntnisse und Methoden der Critical Legal Studies im Völkerrecht an.71 Dabei lassen sich insbesondere zwei Arten von Indeterminationen unterscheiden: eine strukturelle und eine sprachliche. Weil sich diese Denktraditionen im Gegensatz zu den rechtsrealistischen stark mit der Indetermination von rechtlichen Rechtfertigungen auseinandergesetzt haben, wird die Indetermination des Völkerrechts an ihrem Beispiel eingeführt.72
69 Prott, Style, 77, 86: „The handing down of a judgment is a communication process, and to communicate persuasively, as we have seen, involves considering the particular qualities of the audience.“ 70 Bianchi, 40 f. m. H. auf die Neue Rhetorik von Chaïm Perelman (Logique juridique. Nouvelle rhétorique, Paris 1990, 36); Venzke, Interpretation, 46 f. 71 Eine gute Übersicht über den Einfluss der CLS auf das Völkerrecht bieten: Akbar Rasulov, New Approaches to International Law: Images of a Genealogy, in: José María Beneyto/David Kennedy (Hrsg.), New Approaches to International Law. The European and the American Experiences, Den Haag 2012, 151 ff. und Ignacio de la Rasilla del Moral, Notes for the History of New Approaches to International Legal Studies: Not a Map but Perhaps a Compass, in: José María Beneyto/David Kennedy (Hrsg.), New Approaches to International Law. The European and the American Experiences, Den Haag 2012, 225 ff. 72 Vgl. für eine Übersicht über die beiden rechtsrealistischen Ansätze und ihre Unzulänglichkeiten: Venzke, Interpretation, 32 ff.
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2. Strukturelle Indetermination Die einflussreichsten und umfangreichsten Arbeiten, die eine strukturelle Indetermination des Völkerrechts nachweisen, sind International Legal Structures von David Kennedy und From Apology to Utopia von Martti Koskenniemi. Die Arbeit von Koskenniemi baut auf der Arbeit von Kennedy auf und hat sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung weite Rezeption gefunden.73 Deshalb wird hier vor allem die Koskenniemi-Seite des „Kennedy-Koskenniemi-Arguments“ 74 dargestellt. Demnach ist das Völkerrecht nicht ein bestimmtes System, sondern eine bestimmte Sprache. Die Kompetenz der Völkerrechtler ist, eine komplexe argumentative Praxis zu beherrschen, in der sie ihre Entscheidungen mit völkerrechtlichen Argumenten rechtfertigen können.75 Die Worte des Völkerrechts, also die Regeln und Prinzipien, sind nur das „raw material“, das der muttersprachige Völkerrechtler gebraucht, um Sätze zu bilden und Bedeutung zu generieren.76 Diese Worte können aber nicht in beliebiger Weise gebraucht werden. Als Argumente nehmen sie die Form bestimmter Muster („pattern“) an und diese Formen sind limitiert.77 Sie ergeben sich aus der Struktur, die der völkerrechtlichen Argumentation inhärent ist, der Grammatik („grammar“) der völkerrechtlichen Sprache. Völkerrechtler greifen auf eine bestimmte völkerrechtliche Grammatik zurück, um völkerrechtliche Argumente zu bilden. Diese Grammatik ist das „system of production of good legal arguments.“ 78 Die völkerrechtliche Kompetenz ist daher „the ability to use grammar in order to generate meaning by doing things in argument.“ 79 Die Grammatik des Völkerrechts leitet sich aus einem politischen Liberalismus ab, der zugleich der Grund der Indetermination des Völkerrechts ist.80 Nach Koskenniemi reproduziert sich in der völkerrechtlichen Argumentation der grundlegende Widerspruch des Liberalismus zwischen Freiheit und Gleichheit.81 Es gibt demnach zwei Strukturen, auf die jede völkerrechtliche Argumentation rekurriert, eine aufsteigende und eine absteigende.82 73 Der IGH verweist in seiner Rechtsprechung gemäss Suchmaschine 35-mal auf Koskenniemi und keinmal auf David Kennedy (vgl. auch Diggelmann/Altwicker, 3, Fn. 5). 74 Diggelmann/Altwicker, 18. 75 Koskenniemi, Apology, 566. Koskenniemi verweist hier auf die Unterscheidung zwischen „discovery“ und „justification“. Vgl. dazu unten § 4 IV.2. und § 5 III.5.a). 76 Koskenniemi, Apology, 566. 77 Koskenniemi, Apology, 67 m. H. auf Philip Allott, Language, Method and the Nature of International Law, in: BYIL, Vol. 45, 1971, 79 ff., 102 ff. 78 Koskenniemi, Apology, 568. 79 Koskenniemi, Apology, 571. 80 Koskenniemi, Apology, 71 ff., 475 ff. 81 Individuelle Freiheit/Gemeinschaft; Souveränität/internationale Gemeinschaft; positives Recht durch Staatenzustimmung/Naturrecht usw.
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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Für die aufsteigende Struktur sind das Verhalten, die Interessen oder der Willen des Staates rechtsgenerativ; die Argumentation arbeitet aus der Beobachtung der Staatenpraxis das Völkerrecht induktiv heraus. Die absteigende Struktur ist gegenüber dem Verhalten, Interesse oder Willen eines Staates normativ; mit ihr lassen sich verbindliche Normen formulieren, die der faktischen Macht des Staates in einer deduktiven Argumentation entgegengehalten werden können.83 Am Beispiel des Begriffs der Souveränität: Die aufsteigende Argumentation setzt die Souveränität des Staates als Fakt voraus und generiert daraus die völkerrechtlichen Konsequenzen dieses Fakts.84 Die absteigende Argumentation leitet die Souveränität des Staates aus dem Völkerrecht ab.85 Diese beiden Argumentationen schliessen sich prima vista aus. Sie bedingen sich aber auch, weil eine aufsteigende Argumentation für sich allein genommen Gefahr läuft, eine Apologie der bestehende Zustände zu sein, während eine absteigende Argumentation ohne Faktenbezug utopisch werden würde. Sie bedingen sich jedoch auch, weil der „pure fact approach“ eine Regel voraussetzt, die besagt, welche Fakten für das Vorliegen der Souveränität entscheidend sind, und der „legal approach“ muss sich für das Vorliegen von Regeln auf Fakten beziehen.86 Sie bedingen sich also nicht nur, sie beinhalten sich gegenseitig.87 Dies impliziert die Möglichkeit der Reversibilität in der argumentativen Praxis: Das Konzept der Souveränität im Sinne eines „pure fact approach“ kann nicht nur in einer aufsteigenden Argumentation eingesetzt werden, um die Souveränität eines Staates im Sinne eines Abwehrrechts gegen Eingriffe von aussen zu rechtfertigen (Freiheit). Es kann auch eine absteigende Argumentation rechtfertigen, in der aus den faktisch vorliegenden Voraussetzungen ein Anspruch auf Gleichbehandlung formuliert wird (Gleichheit). Diese Reversibilität ist für Koskenniemi nicht nur ein weiterer Grund für die Indetermination, sondern Voraussetzung der völkerrechtlichen Argumentation.88 Gerade weil die völkerrechtlichen Konzepte jeweils in einer aufsteigenden und einer absteigenden Argumentation eingesetzt werden können, kommt es zur völkerrechtlichen Argumentation. Das Spiel der Abgrenzung eines Konzepts gegen82
Koskenniemi, Apology, 59 ff., 159 ff., 397 ff., 503 ff. Vgl. zu dieser Lesart des Begriffs normativ: David Kennedy, A New Stream of International Law Scholarship, in: Wisconsin International Law Journal, Vol. 7, Nr. 1, 1988, 1 ff., 7. Koskenniemi hat die Begriffe „aufsteigend“ und „absteigend“ von Ullmann (Walter Ullmann, Law and Politics in the Middle Ages; an introduction into the sources of medieval political ideas, London/Bristol 1975, 30 f.) übernommen und sie dem Begriffpaar „deduktiv“/„induktiv“ vorgezogen (Apology, 59, Fn. 141). 84 Koskenniemi, Apology, 224 ff., 255 ff. 85 Koskenniemi, Apology, 224 ff., 246 ff. 86 Koskenniemi, Apology, 300 f. 87 Koskenniemi, Apology, 503 ff. 88 Koskenniemi, Apology, 511. 83
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
über dem, was das Konzept auch beinhaltet, gibt der Argumentation eine bestimmte Bedeutung. In einer guten völkerrechtlichen Argumentation kann die These sowohl mit einer aufsteigenden als auch mit einer absteigenden Struktur begründet werden.89 Die Arbeit von Koskenniemi gilt als eines der bedeutendsten völkerrechtlichen Werke des späten 20. Jahrhunderts.90 Viele grundlegende Erkenntnisse des Werks, die teils auf die Arbeiten der Critical Legal Studies zurückgehen, werden hier nachvollzogen: dass das Völkerrecht nur durch Sprache zur Welt kommen kann;91 dass es eine argumentative Praxis ist, die primär der Rechtfertigung und nicht der Ableitung von Entscheidungen dient;92 und dass damit auch die „Rechtsanwenderin“ in der Verantwortung steht, gute Entscheidungen zu treffen und gute Begründungen zu geben. Die Indetermination der völkerrechtlichen Argumentation ergibt sich aus der Indetermination der völkerrechtlichen Strukturen. Koskenniemi geht von der differenziellen Struktur der Sprache aus und verweist auf Derrida, um festzuhalten, dass es keinen objektiven Standpunkt ausserhalb der Sprache gibt, um die objektive Richtigkeit einer Interpretation zu prüfen.93 Er bleibt aber insofern strukturalistisch, als dass die Reaktualisierung eines Wortes in einem neuen Text keine Verschiebung der Bedeutung und keine Veränderung der Strukturen mit sich bringt. Die Indetermination ist bei Koskenniemi nicht sprachlich, sondern strukturell bedingt.94 Bevor die Auswirkungen dieser Indetermination auf den Begriff des Arguments dargestellt werden, soll daher noch die Erfahrung der sprachlichen Indetermination und eine verbreitete Reaktion darauf dargestellt werden. 3. Sprachliche Indetermination Die völkerrechtliche Erfahrung der sprachlichen Indetermination lässt sich am Vorgang der Vertragsauslegung darstellen. Die grundsätzliche Frage, die sich bei diesem Vorgang stellt, ist, ob die Bedeutung aus dem auszulegenden Text gewonnen oder im Vorgang der Auslegung hergestellt wird. Im Gegensatz zu den vorne zitierten Autoren, die eine objektive und intelligible Bedeutung im Ausgangstext postuliert haben, gibt es eine Vielzahl völkerrechtlicher Autoren, die den Vorgang der Auslegung als bedeutungsgenerierend bestimmen.
89
Koskenniemi, Methodology, Rz. 1, 23 ff. Crawford, Change, Rz. 196. 91 Vgl. unten § 4 IV.2. 92 Vgl. unten § 4 IV.2. und 3. 93 Koskenniemi, Apology, 530 f. 94 Oscar L. Alcantara, Ideology, Historiography and International Legal Theory, in: International Journal for the Semiotics of Law, Vol. 9, Nr. 25, 1996, 39 ff., 66 f. Vgl. auch Miéville, 55. 90
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Herdegen schreibt in der MPEPIL: „Interpretation in international law essentially refers to the process of assigning meaning to texts [. . .].“ 95 Van Damme konzipiert die Auslegung als holistischen Denk- und Argumentationsprozess, in dessen Lauf dem autoritativen Text Bedeutung zukommt: „Treaty text is language requiring meaning to apply it to the concrete facts with which the adjudicator is presented. The process of coming to this meaning is interpretation.“ 96 Gardiner sieht Auslegung nicht als Suche nach einer ursprünglichen oder gewöhnlichen Bedeutung, sondern als Prozess, in dessen Lauf der Ausleger dem Text eine Bedeutung gibt.97 Dass das Verhältnis zwischen Schrift und Bedeutung nicht so einfach ist, wie es die positivistische Völkerrechtskonzeption annimmt, ist keine neue völkerrechtliche Erkenntnis. Henry Wheaton weist schon 1866 auf das schwierige Verhältnis von Schrift und Bedeutung hin: „Such is the inevitable imperfection and ambiguity of all human language, that the mere words alone of any writing, literally expounded, will go a very little way towards explaininig its meaning.“ 98 Die Erfahrung der semantischen Indetermination des auszulegenden Texts führt zu der Auffassung, dass die Bedeutung dem Text von der Auslegerin zugeschrieben wird. Exemplarisch wird diese „Humpty-Dumpty-Semantik“ in Llewis Carrols Buch Alice hinter den Spiegeln zum Ausdruck gebracht: „Wenn ich ein Wort gebrauche“, erwiderte Humpty Dumpty ziemlich hönisch, „dann bedeutet es gerade das, was ich es bedeuten lassen will – nicht mehr und nicht weniger.“ „Die Frage ist nur“, wendete Alice ein, „ob Sie Wörter so viele verschiedene Dinge bedeuten lassen können“. „Die Frage ist“, erwiderte Humpty Dumpty, „wer der Herr ist – nur das.“ 99
Das Zitat findet sich oft in der angelsächsischen Rechtsprechung, beispielsweise um eine Interpretation als willkürlich anzugreifen.100 Im Gutachterverfah95 Herdegen, Interpretation in International Law, Rz. 1 (Hervorhebungen hinzugefügt). Weitere Autoren, die in der Auslegung eine bedeutungsgenerierende Praxis sehen, sind: Van Damme 33, 379; Gardiner, 26 und 28; Koskenniemi, Apology, 597, vgl. auch 333 ff. und insb. 338 ff.; Venzke, Interpretation. 96 Van Damme, 33, 379. 97 Gardiner, 26 und 28. 98 Henry Wheaton, Elements of International Law, 8. Aufl., 1866, 365 (zitiert nach: AJIL, Vol. 29, Supplement: Research in International Law, 1935, Draft Convention on the Law of Treaties, Art. 19, 937 ff., 947). 99 Llewis Carrol, Alice hinter den Spiegeln (Übersetzung von: Helene Scheuriesz), Wien/Leipzig/New York 1923, 68 (die deutsche Übersetzung von „Humpty Dumpty“, „Plumpsti Bumbsti“, wurde hier nicht übernommen). 100 Das englische Zitat „When I use a word, Humpty Dumpty said, in a rather scornful tone, it means just what I choose it to mean, neither more nor less“ findet sich in 250 US-amerikanischen Urteilen, davon zwei des Supreme Court (Martin H. Redish/ Matthew B. Arnould, Judicial Review, Constitutional Interpretation, and the Democratic
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ren zum Kosovo hat es Michael Wood als Vertreter des Kosovo in der mündlichen Stellungnahme verwendet, um die Autonomiegarantie für den Kosovo in der serbischen Verfassung von 2006 infrage zu stellen. Gemäss Verfassung könne die serbische Nationalversammlung wie Humpty Dumpty alleine darüber bestimmen, was Autonomie für den Kosovo heisse. Diese institutionelle Ausgestaltung stelle die Autonomiegarantie infrage.101 Wie ist damit umzugehen, dass die Auslegerin dem auszulegenden Text eine Bedeutung zuschreiben kann? Wie kann zwischen einer richtigen und einer falschen Interpretation unterschieden werden, wenn der auszulegende Text und der Konsens der dahinterstehenden Autoren keine Grenze festlegen? Kann die Auslegerin dem Text irgendeine Bedeutung zuschreiben? Ist Sprache an sich völlig indeterminiert? Wenn der Ausgangstext und seine Autoren keinen stabilen semantischen Kern bieten, muss ein anderer Massstab für die Unterscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Auslegung gefunden werden. Warum also nicht dort ansetzen, wo die Bedeutung bestimmt wird, bei der Auslegerin? Die Verschiebung vom Auslegungstext zur Auslegerin liefert für sich allein genommen noch kein Kriterium für eine qualitative Unterscheidung zwischen verschiedenen Auslegungen, weil jede Auslegerin für sich selbst bestimmen kann, was beispielsweise Autonomie heisst. Eine mögliche Bewegung ist daher, die Auslegung zu vergemeinschaften: Nicht die Auslegung der einzelnen Auslegerin, sondern die Auslegung einer bestimmten Auslegungsgemeinschaft liefert das neue Kriterium. Diese Bewegung findet sich vermehrt im jüngeren völkerrechtlichen Schrifttum. Sie wird an drei aktuellen Beispielen dargestellt. Die Darstellung versucht die Bewegung nachzuzeichnen, um zu zeigen, was die Folgen für die völkerrechtliche Argumentation und die Methode der Argumentationsanalyse sind. Das erste Beispiel ist ein Aufsatz von Andrea Bianchi zur Textauslegung.102 Bianchi zeigt auf, warum die „,plain meaning‘ doctrine“ 103, die eine Determination des Texts und eine Objektivität der Auslegung behauptet, falsch ist. Ein- und Mehrdeutigkeit seien keine „linguistic properties“ der Worte, sondern kontextabhängig. Nach Ausführungen zur Relevanz von internen und externen Kontexten und einer Kritik am „Mythos der Indeterminität“ kommt er zum wichtigsten Teil des Aufsatzes: zur Frage, wie die Entstehung von Bedeutung erklärt werden Dilemma: Proposing A „Controlled Activism“ Alternative, in: Florida Law Review, Vol. 64, Nr. 6, 2012, 1468 ff., 1513). Die Suchmaschine des IGH gibt für „Humpty Dumpty“ 23 Treffer an. 101 Kosovo, m. St., Rz. 36. Vgl. auch Europarat, European Commission for Democracy through Law (Venedig-Kommission), Opinion on the Constitution of Serbia, 17.– 18. März 2007, Ziff. 7 f. 102 Bianchi. 103 Bianchi, 38.
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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kann.104 Als Erstes wird mit Wittgenstein darauf hingewiesen, dass Handlungen, Gesten und Worte nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Lebensform Bedeutung gewinnen. Von da wird der Schritt zur „communitarian dimension of the interpretive process“ vollzogen. Dies führt Bianchi zur „interpretive community“-Theorie von Stanley Fish.105 Diese wird im jüngeren völkerrechtlichen Schrifttum zunehmend rezipiert, um zwischen verschiedenen Interpretationen zu unterscheiden.106 Die Bedeutung ist nach dieser Theorie kein Proprium des ausgelegten Texts, sondern das Resultat einer Auslegung durch eine bestimmte Gemeinschaft: „[B]edeutungen sind weder das Eigentum von feststehenden und invarianten Texten noch von freien und unabhängigen Lesern, sondern von interpretativen Gemeinschaften, die sowohl für die Gestalt der Aktivitäten des Lesers, als auch für die Texte, die solches Handeln hervorbringen, verantwortlich sind.“ 107
Diese Gemeinschaft teilt eine bestimmte Rezeptionsstrategie. Daher bringen verschiedene Ausleger ähnliche Resultate hervor. Erst diese „Überlappung der persönlichen Rezeptionsstrategie“ macht den Text verfügbar.108 Gemäss Fish sind „[a]lle Gestalten interpretativ erzeugt.“ 109 Diese Position hat bedeutungsphilosophische Unzulänglichkeiten, die hier nur gestreift werden können: Sie kann das Problem der Inkommensurabilität verschiedener Rezeptionsstrategien nicht lösen.110 Und sie setzt die Interpretation als „einzige[s] Spiel, das gespielt wird.“ 111 Schliesslich gerät sie auch mit sich selbst in Widerspruch: Wie kann eine überlappende Rezeptionsstrategie dem Akt der Interpretation vorgehen, wenn alles – auch die Rezeptionsstrategien – erst durch Interpretation hervorgebracht werden? Diesen Problemen kann hier nicht nachgegangen werden. Entscheidend ist die Bewegung, die vollzogen wird: Der Fokus verschiebt sich vom 104
Bianchi, 51. Fish, Naturally; Fish, Text. 106 U. a. Detlef F. Vagts, Treaty Interpretation and the New American Ways of Law Reading, in: EJIL, Vol. 4, Nr. 1, 1993, 472 ff., 480 ff.; Bianchi, 51 ff.; Zarbiev, 98 ff.; Veronica Fikfak/ Benedict Burnett, Domestic Court’s Reading of International Norms: A Semiotic Analysis, in: International Journal for the Semiotics of Law, Vol. 22, Nr. 4, 2009, 437 ff.; Ian Johnstone, Treaty Interpretation: The Authority of Interpretive Communities, in: Michigan Journal of International Law, Vol. 12, 1990, 371 ff. und Johnstone, 439 m.w. H. 107 Fish, Text, 322 (deutsche Übersetzung zitiert nach: Patterson, Recht und Wahrheit, 116). 108 Patterson, Recht und Wahrheit, 116 m. H. auf Fish, Text, 355. 109 Fish, Naturally, 302 (deutsche Übersetzung zitiert nach: Patterson, Recht und Wahrheit, 121). 110 Patterson, Recht und Wahrheit, 118. Vgl. zum Problem der Argumentation zwischen inkommensurablen Positionen: Lueken, Inkommensurabilität, 215 ff. und Christensen/Sokolowski, 109 ff. 111 Patterson, Recht und Wahrheit, 119. Dies macht sie auch mit Wittgenstein inkompatibel: vgl. dazu Patterson, Interpretation. 105
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Text zu den Akteuren, die ihn auslegen.112 Die Unzulässigkeit einer bestimmten Auslegung ergibt sich nicht „from some intrinsic textual element but rather from the fact that, at a given time in a given social context, shared interpretative strategies within the relevant interpretative community do not provide support to a particular interpretation of a text.“ 113 Die interpretativen Strategien der Gemeinschaft determinieren die Bedeutung des Texts und entscheiden über die Richtigkeit einer bestimmten Auslegung. Das zweite Beispiel stammt von Ingo Venzke. Auch Venzke vollzieht die Bewegung vom auszulegenden Text zu den Auslegern: „Locating international lawmaking in the practice of interpretation follows a shift from sources towards communicative practices provoked by the argument that legal norms do not have meaning other than that attributed to them by their use.“ 114 Venzke beruft sich auf Austin, der nachgewiesen hat, dass die Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sprechakten nicht aufrechterhalten werden kann.115 Daraus folgt, dass jeder konstative Akt, beispielsweise „Das ist ein Apfel“ oder „Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ist völkerrechtswidrig“, auch ein performativer Akt ist. Dies wirft wiederum die Frage auf, wie die Ausleger an etwas gebunden sein können, das sie selber hervorbringen: „How is it possible to follow a rule that is only instituted by the practice of rule following?“ 116 Venzke greift auf die Sprachpragmatik von Robert Brandom zurück: „Brandom rightly and perceptively suggests that this assessment can only be part of the communicative practice itself. In this practice, applications of a concept in the present have to connect to the past in a way that convinces future applications. [. . .] Contents of commitments gain shape and develop in this process of ,negotiation‘; that is, in the practice of demanding and giving reasons for or against a particular application of a concept (a particular interpretation of an international norm).“ 117
Von hier fokussiert Venzke weniger auf das Fordern und Geben von Gründen, sondern auf die Akteure: „Who is influencial in this process?“ 118 Dies führt Venzke in das Reich der Rhetorik, in der die Funktion der Argumentation die Schaffung von Akzeptanz ist: „[. . .] actors in legal discourse seek acceptance for their interpretations by inducing a belief in the rightness of the interpretation
112 Bianchi, 53: „It simply shifts the focus from the text itself to the actors concerned with its interpretation.“ Vgl. auch 54: „[. . .] this theory focuses on the complex dynamic of social agents in charge of interpretation.“ 113 Bianchi, 53 f. 114 Venzke, Interpretation, 46. 115 Austin, 153 ff.; Eike von Savigny, J. L. Austins Theorie der Sprechakte, in: John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words). Deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart 2002, 7 ff., 15 ff. 116 Venzke, Interpretation, 56. 117 Venzke, Interpretation, 57. 118 Venzke, Interpretation, 57.
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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they endorse.“ 119 Venzke unterscheidet zwischen einer Akzeptanz, die auf der Ausübung von Macht und einer Akzeptanz, die auf der Ausübung von Autorität beruht. Erstere führt zu einer Überredung („persuasion“), letztere zu einer Überzeugung („conviction“). Die Unterscheidung wird wie folgt vollzogen: „Unlike exercising power at the point of a gun, legal interpretation seeks to induce acceptance by way of argument or persuasion.“ 120 Akzeptanz wird aber nicht unbedingt durch den Inhalt, sondern durch die Urheberschaft der Argumentation geschaffen: „Acceptance is a function not only of the content of the claim that is being made or of the interests and convictions of the accepting actor, but also of the author of the claim.“ 121 Deshalb geht die Bewegung von der Argumentation zum Argumentierenden: „What matters in legal interpretative practice is semantic authority.“ 122 Diese ergibt sich aus mehreren Faktoren, beispielsweise durch explizite Delegation, aber auch durch die Eigenschaften und das Verhalten des Argumentierenden, durch dessen Expertise und moralische Anziehungskraft („moral appeal“).123 Kurz: durch dessen Ethos. Dies ist einleuchtend, weil es natürlich für den Erfolg eines Arguments einen Unterschied macht, ob es vom IGH, einem berühmten Experten oder einem Dissertanten vorgebracht wird. Deshalb ist für Venzke die zentrale analytische Frage: „Who has authority in semantic struggles for the law?“ 124 Der Fokus der Analyse verschiebt sich von der Argumentation auf die Argumentierenden, den „Actors in the practice of interpretation“.125 Das dritte Beispiel ist das Buch von Jean D’Aspremont, in dem er eine verjüngte formelle Rechtfeststellungstheorie vorstellt. D’Aspremont zeigt auf, dass die Rechtsfeststellung nicht durch formelle Rechtfeststellungsregeln determiniert werden kann, sondern als eine soziale Praxis zu denken ist.126 Ich beschränke mich hier auf den ersten Teil des achten Kapitels, das die Bewegung zu den „communitarian semantics“ vollzieht.127 Auch D’Aspremont bestreitet die Theorie, dass Worten eine objektive und intelligible Bedeutung zukommen könne.128 Diese sei vielmehr ein Resultat der Konvergenz im Gebrauch der Worte.129 Dabei stützt sich D’Aspremont vor allem 119
Venzke, Interpretation, 59. Venzke, Interpretation, 63 m. H. auf Prott, Argumentation, 299 ff. 121 Venzke, Interpretation, 63. 122 Venzke, Interpretation, 63. 123 Venzke, Interpretation, 63 f. 124 Venzke, Interpretation, 64. 125 Diese sind vor allem private Normenterpreneure, Staaten und IOs (vgl. Venzke, Interpretation, 64 ff.). 126 D’Aspremont, Formalism, 148 ff. und 195 ff. 127 D’Aspremont, Formalism, 196 ff. 128 D’Aspremont, Formalism, 196 f., insb. m. H. auf Bentham. 129 D’Aspremont, Formalism, 197. 120
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auf den späten Wittgenstein und seine berühmten Paragraphen zum Regelfolgen.130 Für das formelle Rechtfeststellungsmodell folgert D’Aspremont daraus: „[. . .] the foundations and meaning of law-ascertainment criteria are thus found in the converging practice of law-applying authorities.“ 131 Damit stellt sich die Frage nach dem Grad der Konvergenz. Hier schwächt D’Aspremont das Konvergenzkriterium ab: Es braucht nicht eine aktuelle, totale und absolute Konvergenz, sondern es reicht ein „shared feeling“ im Gebrauch der Worte.132 Dabei sind die Motive unerheblich.133 Es setzt aber voraus, dass diejenigen, die die gleichen Worte gebrauchen, überprüfen können, wie die anderen die Worte gebrauchen: „It is argued here that the current circulation of decisions of authorities called upon to apply international law [. . .] are sufficient to ensure such a mutual confirmation system.“ 134 Die formelle Rechtfeststellung, die zwischen Völkerrecht und Nicht-Völkerrecht unterscheidet, geht nicht auf ein „objective agreement among law-applying authorities“ zurück, sondern es ist ein „shared feeling that they use the same criteria to ascertain international legal rules.“ 135 Von hier stellt sich die Frage, wer denn eine „Law-Applying Authority in International Law“ ist.136 Auch D’Aspremont vollzieht damit die Bewegung von dem Gebrauch vorgehenden Normen zur Normgenese durch Gebrauch. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Erfahrung der Indeterminität der Bedeutung in den auszulegenden Texten den Fokus auf die Leser, Ausleger oder Rechtsanwender verschiebt. Kurz: Nicht diejenigen, die die autoritativen Texte produzieren, sondern diejenigen, die mit ihnen arbeiten, generieren ihre Bedeutung. Weil damit alleine noch kein qualitatives Kriterium zur Beurteilung einer Auslegung gegeben ist, wird die Bewegung der Vergemeinschaftung der Leser, Ausleger oder Rechtsanwender vollzogen. Dies führt zur „interpretive community“ bei Bianchi, zur Frage nach der semantischen Autorität bei Venzke und zu den „communitarian semantics“ bei D’Aspremont. Was sind die Folgen dieser Verschiebung für den Begriff des Arguments? 4. Anschlussfähige juristische Argumentationstheorien Die Verschiebung vom auszulegenden Text zu den argumentierenden Akteuren hat weitreichende Konsequenzen für den Begriff des Arguments. Die Frage ist nicht mehr, ob eine Argumentation die Ableitung einer Entscheidung gültig re130 131 132 133 134 135 136
Wittenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 201 f. D’Aspremont, Formalism, 201. D’Aspremont, Formalism, 201. D’Aspremont, Formalism, 202. D’Aspremont, Formalism, 202. D’Aspremont, Formalism, 203. Vgl. dazu D’Aspremont, Formalism, 203 ff.
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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konstruiert, sondern ob sie akzeptiert wird. Die Verschiebung von der Argumentation zu den Akteuren führt zur Anschlussfähigkeit zweier argumentationstheoretischer Denkschulen, der rhetorischen und der konsensorientierten. Die Erfahrung der ursprünglichen Indetermination kann dazu führen, dass der völkerrechtliche Argumentbegriff auf seine rhetorisch-perlokutionäre Wirkung verkürzt wird. Der vorne zitierte Satz von Martti Koskenniemi in der MPEPIL zur Methodologie im Völkerrecht ist Teil des folgenden Absatzes: „International law is an argumentative practice. It is about persuading target audiences such as courts, colleagues, politicians and readers of legal texts about the legal correctness [. . .] of the position one defends. What passes for method, in other words, has to do with what counts as persuasive arguments in international law. [. . .] [I]t is the consensus in the profession – the invisible college of international lawyers – that determines, at any moment, whether a particular argument is or is not persuasive.“ 137
Die rhetorisch-perlokutionäre Wirkung eines Arguments wird zur neuen harten Währung der Argumentationsanalyse. Die Funktion der Argumentation liegt in der Persuasion: „The basic methodological question remains: how to convince this audience, here and now?“ 138 Auf den IGH übertragen führt dies zur Frage, wer eigentlich das Auditorium des Gerichtshofs ist und wie der IGH dieses überzeugen kann.139 Lyndell V. Prott hat diese Verschiebung argumentationstheoretisch nachvollzogen und die Urteile des IGH im Hinblick auf den Gebrauch von rhetorischen Argumentationen untersucht. Sie stützt sich dabei auf die von Perelman und Olbrechts-Tyteca entwickelte „Neue Rhetorik“.140 Sie geht davon aus, dass die Struktur der Argumentation des IGH „basically that of rhetorical reasoning“ 141 sei. Nach dieser Argumentationstheorie ist das „Auditorium“ die entscheidende Instanz der Argumentation. Prott identifiziert die Streitparteien, die professionelle Völkerrechtselite, Regierungen und „various national populations, or at any rate, the educated and concerned sections of the population“ 142 als das Auditorium des IGH. Sie macht insbesondere eine Entwicklung von einem rein westeuropäischen zu einem globaleren Auditorium aus, die den IGH nach wie vor heraus- und überfordere.143
137
Koskenniemi, Methodology, Rz. 1 (Hervorhebungen hinzugefügt). Koskenniemi, Methodology, Rz. 25. 139 Prott, Style, 78 ff. 140 Perelman/Olbrechts-Tyteca; Prott, Style. 141 Prott, Style, 77. 142 Prott, Style, 79. 143 Prott, Style, 81 ff.; vgl. für eine Analyse der Argumentationen des IGH in Fällen, in denen arabische Staaten involviert waren: Burgis, Boundaries, 97 ff. und Michelle Burgis, Discourses of Division: Law, Politics and the ICJ Advisory Opinion on the Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, in: CJIL, Vol. 7, Nr. 1, 2008, 33 ff. 138
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Diese Auffassung impliziert, dass Sprache ein „widerstandsloses Durchzugsgebiet kommunikativer Macht“ 144 ist: Caesar dominum et supra grammaticam.145 Am oben zitierten Beispiel der serbischen Verfassung: Die serbische Nationalversammlung kann über die Ausgestaltung der Autonomie des Kosovo entscheiden. Nach dieser Sprachauffassung kann sie aber nicht nur über die Ausgestaltung, sondern auch über die Semantik des Wortes „Autonomie“ entscheiden. Wenn dem so wäre, könnte man die konkrete Ausgestaltung der Autonomie nicht mehr mit Hinweis auf die Semantik des Wortes Autonomie kritisieren. Deshalb wird, wie oben gezeigt, das Kriterium der Akzeptanz vergemeinschaftet: Nicht die serbische Nationalversammlung alleine, sondern die Akteure einer bestimmten interpretativen Gemeinschaft, verschiedene semantische Autoritäten oder die Konvergenz des Wortgebrauchs einer gewissen Gemeinschaft bestimmen über die Semantik der „Autonomie“. Für den Argumentbegriff heisst das, dass diejenigen Argumente gültig sind, die von einer wie auch immer zusammengesetzten Gemeinschaft als solche akzeptiert worden sind. Wie soll diese Gemeinschaft zusammengesetzt sein? Diese Frage lässt sich nun argumentationstheoretisch normativ aufladen. Perelman und Olbrechts-Tyteca vollziehen diesen Schritt, indem sie das Auditorium universalisieren.146 Die diskursethische Argumentationstheorie sichert ihre Konsensorientierung durch prozedurale Regeln ab, die die Rationalität des Konsenses sicherstellen soll. Für die juristische Argumentationstheorie wurde das idealisierte Auditorium beispielsweise von Aulis Aarnio verwendet. Er entwickelt eine analytisch-normative Theorie, die erklären soll, wann die Begründung einer bestimmten Auslegung rational und akzeptabel ist.147 Aarnio übernimmt zwar die von Wróblewski eingeführte und von Alexy übernommene Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Rechtfertigung, identifiziert das zentrale Problem der juristischen Argumentation aber in der letzteren.148 Er konzipiert die Struktur der Begründung als Dialog.149 Wie Habermas und Alexy stellt er die Rationalität des Dialogs durch verschiedene Dialogregeln sicher.150 Von Alexy, MacCormick und Peczenik weicht Aarnio jedoch bei der Akzeptabilität einer Auslegung ab: Er identifiziert nicht eine axiomatische semantische Grenze im auszulegenden Text, sondern greift auf die rechtliche Gemeinschaft als theoretisches Konzept zurück. Dabei kombiniert er den Wittgen144
Christensen/Sokolowski, 121. Zitiert nach Venzke, Interpretation, 59. 146 Perelman/Olbrechts-Tyteca, 41 ff. 147 Feteris, 121. 148 Die interne Rechtfertigung, also der deduktive inferentielle Übergang einer Konklusion aus unbestrittenen Prämissen, sei ein trivialer Vorgang, der ex post immer rekonstruiert werden könne: vgl. Feteris, 125 und Aarnio, 120. 149 Feteris, 122. 150 Feteris, 127 ff. 145
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stein’schen Begriff der „Lebensform“ mit dem Perelmann’schen Begriff des „Auditoriums“. Die Akzeptabilität der Auslegung ergibt sich aus der Kohärenz der Begründung mit den in einer Gemeinschaft gepflegten Auslegungsmethoden. Diese Gemeinschaft definiert sich dadurch, dass Lebensformen sie teilen, die eine genügende Kohärenz im Gebrauch der Regeln aufweisen. Eine gewisse Auslegung ist aber immer an ein Auditorium gerichtet. Für die Akzeptanz einer bestimmten Auslegung ist vor allem das partikulare konkrete Auditorium („particular concrete Auditorium“) entscheidend. Das sind die Personen, welche die Auslegerin tatsächlich adressieren kann. Weil dieses Auditorium gemäss Aarnio eine Auslegung aber aus „nicht rationalen“ Gründen akzeptieren kann, ist es kein Gradmesser für die Rationalität einer Auslegung. Aarnio lädt daher mit Perelmann das Auditorium normativ auf und führt ein idealisiertes Auditorium in seine Theorie ein: Nur Personen, die fähig und gewillt sind, den prozeduralen Regeln eines rationalen Dialogs zu gehorchen, gehören zu dieser privilegierten Gruppe. Das universale ideale Auditorium besteht aus „allen rationalen Wesen“, das partikulare ist hingegen eine Gruppe von Personen, die gewisse Werte gemeinsam haben. Sie unterscheidet sich vom partikularen konkreten Auditorium, weil sich alle Mitglieder an die Rationalitätsstandards halten. Die Akzeptanz in dieser Gruppe ist gemäss Aarnio ein guter Gradmesser für die Rationalität einer Auslegung. Eine solche Auslegung hat die grössten Chancen auf soziale Akzeptanz. Dies ergibt sich nicht aus einer persuasiven Wirkung, die auf Macht oder Autorität zurückgeht, sondern aus der Rationalität ihrer Begründung. 5. Problematisierung Mit der Fokussierung auf die rhetorisch-perlokutionäre Wirkung eines Arguments wird ein wichtiger Aspekt der Argumentation hervorgehoben: der Personenbezug. Argumentation hat als Kommunikation eine subjektive Seite.151 Wenn sie aber auf die Persuasion allein beschränkt wird, geht der ebenso notwendige Geltungsbezug der Argumentation verloren: „Als gute Argumente erscheinen solche, die die Kraft haben, jemanden zu erreichen, jemanden zu überzeugen, seine Ansichten und Handlungen zu beeinflussen und gemeinschaftliche Orientierung zu stiften. Das wir aber von guten Argumenten nicht zuletzt auch verlangen, dass sie gültig sein sollen, und dies gehört zu unserem Begriff des guten Arguments, fällt einfach unter den Tisch.“ 152
Venzke löst dieses Problem, indem er Autorität von Macht abgrenzt. Während Macht mit unterschiedlichen Mitteln – nicht zuletzt dem Gewehrlauf – durchgesetzt werden kann, setzt die Autorität auf eine bestimmte Qualität der Durchsetzung. Dies macht den Unterschied zwischen „persuasion“ und „conviction“ aus. 151 152
Wohlrapp, Begriff, 147. Lueken, Paradigmen, 15.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Eine Argumentationstheorie, die allein auf die persuasive Wirkung und die faktische Akzeptanz fokussiert, hat aber Mühe, diese Grenze zu ziehen. Wenn aus dem Fakt der Akzeptanz auf Einsicht und damit auf die Gültigkeit der Argumentation geschlossen wird, wird die „argumentative Subjektivität nicht gesehen, verstanden, anerkannt, sondern sie wird umstandslos instrumentalisiert.“ Wäre Argumentation reine Persuasion, dann würde der Gerichtshof die in Rz. 80 genannten Gründe für die Stützung seiner These, dass die territoriale Integrität nur im zwischenstaatlichen Bereich anwendbar ist, bloss aufführen, um sein Auditorium von seiner These zu überzeugen. Damit wird von der Argumentation auf die Motivation des IGH geschlossen. Es könnte sein, dass der IGH nur deshalb so argumentiert hat. Dies kann jedoch nicht ausschlaggebend für die Geltung seiner Begründung sein. Die hier zu entwickelnde Argumentationstheorie wird ein Geltungskriterium einführen, das die subjektive Seite der Argumentation anerkennt, die kriteriale Seite damit aber nicht übergeht: „Der Rhetorik ist zuzugeben, dass die Entscheidung zum Argumentieren keine unhintergehbare ist. Erzwungen ist sie nur durch die Kontingenz des Verfahrens. Aber daraus folgt nicht, dass man den bloßen Erfolg zum Kriterium des guten Arguments machen muss. Für Gorgias war die Wahrheit nur ein schmückendes Beiwerk der Rede. Der Erfolg konnte als Kriterium für das gute Argument genügen, solange man unter Freien und Gleichen war, das heißt, dass Sklaven und Frauen nicht reden durften. Sobald man den Unfreien und Nicht-Gleichen eine Stimme zubilligt, wird diese Theorie zum Risiko. Um die leisere Stimme der Schwachen zu hören, muss man die Definition des Gorgias umkehren. Der Erfolg schmückt das gute Argument. Aber er definiert es nicht. Sonst liefert man das Recht den Stärkeren aus. Denn der Erfolg ist häufig der Knecht des Geldes oder der Macht.“ 153
Der Versuch, den Konsens der Gemeinschaft normativ aufzuladen, führt zu weiteren Problemen, von denen hier zwei angesprochen werden: Erstens kann er zu einer Delegitimisierung eines Anteils der Argumentationspraxis führen. Die von Habermas eingeführte Unterscheidung zwischen konsensorientiertem Argumentieren und strategischem Handeln führt beispielsweise dazu, dass die sprachlichen Handlungen derjenigen, die in der völkerrechtlichen Argumentationspraxis eigene Interessen verfolgen, delegitimisiert werden.154 Es werden alle Teilnehmer von der Argumentationspraxis ausgeschlossen, die die von aussen an die Praxis herangetragenen Regeln missachten. Der Wechsel vom partikularen konkreten Auditorium zum partikularen idealen Auditorium schliesst alle Personen aus der Gruppe aus, welche die Werte der „rationalen Wesen“ nicht teilen. Der Ausschluss erfolgt durch verbindlich gemachte prozedurale Regeln. Diese Verbindlicherklärung führt zum zweiten Problem dieses Ansatzes: Sie führt wieder objektive und intelligible Normen ein, die von aussen an die Argu153 154
Christensen/Sokolowski, 123. Vgl. dazu Christensen/Sokolowski, 116 ff.
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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mentationspraxis herantreten. Im diskursethischen Ansatz werden sie formalpragmatisch begründet.155 Damit tritt dieser Ansatz als Beobachter an die Argumentationspraxis heran.156 Der konsensorientierte Ansatz verwandelt „seine Reflexionsresultate, sein Teilnehmerwissen in einen (durch Beobachter anwendbaren) Apparat von Regeln und Normen, ohne die faktische Zustimmung anderer Teilnehmer jeweils noch einmal einzuholen.“ 157 Der Versuch, das schwache Geltungskriterium des Konsenses mit der Einführung von prozeduralen Rationalitätsregeln abzusichern, führt zu Rückkehr eines Regelkatalogs, der als axiomatisches System von aussen an die Argumentationspraxis herantritt und als Beobachter – nicht als teilnehmender Beobachter – über die Argumentationspraxis richtet. Es besteht die Gefahr, dass sich die „freundliche Utopie der Herrschaftsfreiheit“, die durch die prozeduralen Regeln sichergestellt werden soll, in eine „kommunikative Supermacht“ 158 verwandelt. Ein möglicher Ausweg wird von Geert-Lueke Lueken formuliert: „Rahmenregeln, metastufige Beurteilungen und Geltungskriterien werden nicht als konstitutive Voraussetzungen verstanden, die extern zu kontrollieren sind, sondern als möglicher Gegenstand der Argumentation; sie können bei Bedarf explizit gemacht werden, stehen damit auch immer zur Disposition.“ 159
IV. Fazit Die erste Position geht von Fällen aus, die schon vor dem Verfahren durch das Völkerrecht entschieden sind. Von dieser Determination vollzieht sie die Bewegung zu Fällen, deren Entscheidung weniger determiniert ist. Die zweite Position geht davon aus, dass Texte, die eine völkerrechtliche Geltung beanspruchen, die Entscheidung eines Falles nicht determinieren. Von dieser Indetermination werden über die Bewegung der Vergemeinschaftung der Leser, Ausleger und Rechtsanwender Kriterien der Determination eingeführt. Beide Positionen nehmen Zustände der Determination und der Indetermination an. Das mit der Position der Determination implizierte Bild der logisch-deduktiven Argumentation reduziert die Funktion der völkerrechtlichen Argumentation auf eine Rekonstruktion der von ihr unabhängigen „Anwendung des Rechts auf den Fall“. Sie impliziert dadurch eine Ableitung, deren Geltung zumindest in „klaren Fällen“ formallogisch überprüft werden könnte. Die Übersetzung von völkerrechtlichen Argumentationen in die formallogische Sprache ist jedoch mit erheblichen Eingriffen verbunden, die unter anderem dazu führen können, dass in 155 Vgl. zur Unzulänglichkeit einer argumentationstheoretischen Formalpragmatik: Lueken, Inkommensurabilität, 223 ff. Vgl. auch Krämer, 74 ff. 156 Wohlrapp, Begriff, 390 f. m.w. H. 157 Lueken, Inkommensurabilität, 232. 158 Christensen/Sokolowski, 119. 159 Lueken, Paradigmen, 16.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
der Argumentationspraxis vollzogene semantische Verschiebungen übersehen werden. Darüber hinaus kann dieses Bild der völkerrechtlichen Argumentation keine theoretische Grundlage für die Überschreitung völkerrechtlichen Wissens und die Erarbeitung neuer Orientierung in der Argumentationspraxis bieten. Die Position der Indetermination führt zu einer Verschiebung von der Argumentation zu den Akteuren der Argumentationspraxis. Die Fokussierung auf die Akzeptanz ermöglicht den Anschluss von rhetorischen und diskursethischen Argumentationstheorien. Die Verkürzung der Argumentationspraxis auf die rhetorisch-perlokutionäre Wirkung der Argumentation kann jedoch zur Gleichsetzung von Erfolg und Geltung führen. Diese Überhöhung der subjektiven Seite der Geltung führt zu einer Vernachlässigung der kriterialen. Der Versuch, die Konsensorientierung mit Hilfe von prozeduralen Regeln des Diskurses zu rationalisieren, führt hingegen zur Rückkehr eines von der Argumentationspraxis unabhängigen Regelkatalogs, der als Beobachter von aussen über die Geltung eines Arguments entscheidet. Damit kann man die analysierte Argumentationspraxis an einem normativen Modell messen, aber nicht die in der Praxis selbst bearbeitete Geltung von Argumenten herausarbeiten. Das grundlegende Problem ist, dass wir uns selber schon in der Argumentationspraxis befinden. Die zitierten Autoren bringen Argumente für ihre und gegen andere Positionen vor, um beispielsweise die „plain meaning“-Doktrin anzugreifen.160 Und auch hier wurde schon versucht, die Geltung einer bestimmten These durch das Vorbringen von Gründen zu stützen. Die beschriebenen völkerrechtlichen Positionen implizieren nicht nur einen bestimmten Begriff des Arguments und damit eine bestimmte anschlussfähige Argumentationstheorie, sie bestimmen auch die damit produzierte Argumentationspraxis. Die Orientierung an der ersten Position der ursprünglichen Determination hat beispielsweise zur Folge, dass man als Richter auf die Frage, was „unmenschliche Behandlung“ heisst und was das Zufügen von „starken Schmerzen“ ist, zum Wörterbuch greift, um die „klare Bedeutung“ dieser Worte zu finden.161 Die Orientierung an den „communitarian semantics“ würde hingegen zu einer völlig anderen Argumentation führen, die primär auf die Argumentation von anderen Akteuren verweist. 160
Vgl. z. B. Bianchi, 37, Fn. 8, 48, 55; Venzke, Interpretation. Vgl. EGMR, Irland v. United Kingdom, Fall Nr. 5310/71, 1978, Urteil vom 18. Januar 1978, gesonderte Stellungnahme von Richter Sir Gerald Fitzmaurice, Rz. 22 und 25; das zweite Beispiel bezieht sich auf das sogenannte „Bybee Memo“, in dem das Office of the Legal Council at the US Department of Justice eine Definition von Folter formuliert hat, die die Anwendung von „highly coercive techniques of interrogation“ gegenüber Terrorverdächtigen autorisierte. Vgl. für beide Beispiele Bianchi, 37 f. Für eine Kritik an der „Wörterbuchmethode“: Christensen, Paradoxie, 13 ff.; Christensen/ Kudlich, 3 f.; Christensen/Sokolowski, 3; Christensen/Lerch, 69. 161
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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Darüber hinaus lassen sich diese unterschiedlichen Orientierungen in einer Argumentation thematisieren. Damit kann sich die Quaestio der Argumentation beispielsweise von der Frage nach der korrekten Auslegung zur Frage nach der korrekten Anwendung verschieben. Diese Verschiebung hat beispielsweise Finnland in der dritten Runde vollzogen: „Mr. President, there are some facts that can be assessed by mechanical application of rules and other cases where many rules seem prima facie applicable and require careful attention to the facts of the situation. Or in other words, there is a difference between distributing parking tickets and legal assessment of a declaration of independence. In the former case, there is no need to examine the particularities. The type of car, or where it came from, are facts – but legally irrelevant. The rule of ,no parking‘ applies mechanically because what is being regulated is a matter of routine: everyday cases that repeat themselves in the millions. Independence is not like that. Here there is no routine – a recent history of the declarations of independence lists only ,more than one hundred cases‘, each one distinguished historically, politically and factually from the others. And here the differences are not irrelevant but at the heart of the statehood of each entity. A State is a State because it is special, not because it has come about by some procedural routine or some mechanical criterion. This is what those who attack the sui generis view appear to deny. As if deciding on statehood were like distributing parking tickets.“ 162
Die Frage nach der richtigen Anwendung der Norm auf den Fall wird Teil der Argumentation. Finnland geht auf diese Frage ein, um die Berücksichtigung spezieller Umstände im Kosovo-Fall zu rechtfertigen. In der Argumentation können auch die Geltungskriterien von Argumentationen selbst thematisiert werden. Man kann also auf ein völkerrechtliches Argument den Einwand erheben, dies sei kein gültiges Argument. Dies kann zu einem Wechsel der Quaestio von der völkerrechtlichen Beurteilung zur argumentationstheoretischen Geltung von Argumenten führen.163 Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Positionen ist ein semantischer: Nach der ersten Position liefert die Semantik einen archimedischen Punkt zur Überprüfung von Argumenten. Lueken schreibt dazu: „Die Betrachtung formaler Beziehungen zwischen Sätzen erfordert, dass die Sätze und ihre Bestandteile eine gewisse semantische Stabilität aufweisen.“ 164 Aus dieser Perspektive werden semantische Verschiebungen deshalb auch als störend oder fehlerhaft wahrgenommen. Wie Arnulf Deppermann aber gezeigt hat, sind solche semantischen Verschiebungen Bestandteil von Argumentationen.165 Nach der zweiten Position wird die Semantik nicht durch den auszulegenden Text, sondern durch die rechtsanwendenden Akteure festgelegt. Die Orientierung in dieser Frage 162 163 164 165
Finnland (Kaukoranta), m. St., 54 f. m. H. auf Armitage, 20. Vgl. dazu unten § 5 III.5. Lueken, Paradigmen, 23. Vgl. auch Christensen, Statement, 591. Deppermann.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
wirkt sich auf die Art und Weise aus, wie die völkerrechtliche Argumentation theoretisiert und was in einer Argumentationsanalyse gesehen wird: Wenn ich davon ausgehe, dass Art. 2 Ziff. 4 der VN-Charta eine objektive und intelligible Norm enthält, die auf die Sezession des Kosovo als Fall angewendet werden kann, dann ist die Rz. 80 des IGH-Gutachtens zum Kosovo der Versuch, diese Ableitung der These zur Anwendbarkeit ratione personae der territorialen Integrität aus dem „Wortlaut“ zu rekonstruieren. Ist die völkerrechtliche Argumentation strukturell indeterminiert und deshalb ein persuasives Mittel, um ein bestimmtes Publikum von der eigenen These zu überzeugen, so ist der Verweis auf Art. 2 Ziff. 4 der VN-Charta in Rz. 80 eine persuasive Instrumentalisierung des VNChartatexts, um die Akzeptanz der Entscheidung des Gerichtshofs zu erhöhen. Der IGH geht dann wahrscheinlich davon aus, dass sich sein Auditorium von solchen Verweisen überzeugen lässt. Wird die Bedeutung des VN-Chartatexts hingegen von einem konventionellen Gebrauch der relevanten semantischen Autoritäten oder völkerrechtlichen Akteure determiniert, dann ist die Rz. 80 des Gerichtshofs die Festsetzung der Bedeutung von Art. 2 Ziff. 4 durch einen der wichtigsten völkerrechtlichen Akteure. Hier ist für die Argumentationsanalyse nun entscheidend, ob man auf die Gründe fokussiert, die der Gerichtshof für seine Entscheidung vorgebracht hat, oder auf seine Autorität. Die Frage nach der Bedeutungskonstitution geht der Frage nach dem Begriff des Arguments vor und bestimmt, was wir in Rz. 80 des IGH sehen. Bertram und Coendet lokalisieren das Problem noch tiefer: „Die Frage nach dem Bedeutungsgeschehen ist selbst schon ein solches. [. . .] In der Frage werden schon Wörter als bedeutende gesetzt, wird schon die syntaktische Form der Frage als bedeutend gesetzt, wird schon die illokutionäre Kraft des Fragens als bedeutend gesetzt, usf. Bezogen auf [die] Antworten kommt jede erst zu entwickelnde Antwort irreduzibel zu spät. Sie gelangt nie in einen Zustand, in dem sie einholen könnte, was die Frage über sich selbst verstanden hat.“ 166
Weil in ihr schon etwas gegeben ist, kann die Frage nach der Bedeutung nicht dadurch beantwortet werden, dass man sich durch Entwicklung einer Theorie der Bedeutungskonstitution von der Frage entfernt. Eine solche Antwort wird immer eine doppelte sein: Sie wird durch Reflexion eine Theorie der Bedeutung entwickeln und in dieser Entwicklung durch ihr Vorgehen eine Praxis der Bedeutung sein.167 Daher besteht immer die Möglichkeit des Widerspruchs: Die Bedeutung, die die Theorie als Praxis entwickelt, kann anders zustande kommen, als es die Theorie zu erklären versucht. Der Frage nach dem Bedeutungsgeschehen wird daher in einer Rückwendung nachgegangen: Was ist schon da in Rz. 80? Da sind nur Schriftzeichen. Buchsta-
166 167
Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 83. Bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion, 82.
§ 3 Problematisierung der völkerrechtlichen Argumentbegriffe
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ben und Ziffern, zu Worten zusammengesetzt und durch Leerzeichen getrennt. Die Frage nach der Bedeutung von Rz. 80 ist die Frage nach ihrer Bedeutungskonstitution. Bevor eine völkerrechtliche Argumentationstheorie erarbeitet werden kann, ist deshalb darauf einzugehen. Wenn die „Auslegungslehre als implizite Sprachtheorie der Juristen“ 168 verstanden wird, ist zunächst eine sprachtheoretische Grundlage zu legen.
168
Christensen/Kudlich.
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation Das Kapitel gliedert sich folgendermassen: In einem ersten Schritt wird die von Ferdinand de Saussure gelegte Grundlage der modernen Linguistik dargestellt (I.). Danach kann die Weiterentwicklung des Saussure’schen Zeichenbegriffs und die Dekonstruktion der Signifikat-Signifikant-Dichotomie durch Jacques Derrida nachvollzogen werden (II.). Mit diesem Zeichenbegriff wird auf die Bedeutungskonstitution des Zeichengebrauchs eingegangen (III.). Gestützt darauf werden die sprachtheoretischen Schlüsse für die völkerrechtliche Argumentationstheorie gezogen (IV.).
I. Die Grundlage der modernen Linguistik: Von der Repräsentation zur Differenzialität Ferdinand de Saussure hat in seinem Cours de linguistique générale die Grundlage der modernen Linguistik gelegt.1 Er hat die Bedeutung eines Zeichens von der Repräsentation desselben gelöst und in der Differentialität begründet.2 Nach dem Repräsentationsmodell ergibt sich die Bedeutung der Sprache aus ihrer Relation zu Objekten, die ausserhalb der Sprache stehen. Die Sprache ist ein aliquid stat pro aliquo (etwas steht für etwas anderes).3 Das Objekt kann ein Gegenstand (z. B. ein Tisch4) oder etwas metaphysisches (z. B. die konsensuale Zustimmung der Staaten) sein. Die Sprache ist einer vorgängigen „Ordnung der Dinge oder Begriffe angepasst“.5 Saussure hat in Überwindung des Repräsenta1 Wobei zwischen Person und Autor zu unterscheiden ist: Das Werk Cours de linguistique générale wurde nicht von ihm selbst, sondern von Charles Bally und Albert Sechehaye aufgrund studentischer Mitschriften seiner Genfer Vorlesungen geschrieben und drei Jahre posthum veröffentlicht (vgl. dazu Wunderli, 26 ff.). Ob Saussure mit den darin vertretenen Auffassungen einverstanden gewesen wäre, ist eine umstrittene Frage; vgl. Krämer, 19 f. m.w. H. 2 Krämer, 20 f. 3 Vgl. William Ockham: „[. . .] signum naturaliter significans aliquid pro quo potest supponere“ (das Zeichen ist die Bezeichnung für etwas anderes, wofür es stehen kann; zit. nach Kocsáni, Grundkurs Linguistik, 35). Zur Sprachphilosophie von Wilhelm von Ockham, Summa Logicae, in: Jonas Pfister (Hrsg.), Texte zur Sprachphilosophie, Stuttgart 2011, 46 ff. 4 Vgl. das Beispiel bei Jürgen Trabant, Elemente der Semiotik, Tübingen/Basel 1996, 22: Die Zeichen „Tisch“ stehen dann für den Referenten, das Ding „Tisch“. 5 Krämer, 26 f.; Coendet, 31. Eco hat diese Relation des Zeichens zu etwas, das ausserhalb der Zeichen stehe, als „referenziellen Fehlschluss“ bezeichnet (vgl. dazu: Steg-
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation
81
tionsmodells die Sprache hingegen als autonomen Gegenstand konzipiert und seiner Wissenschaft damit ein zu untersuchendes Objekt gegeben.6 Der „Stoff der Linguistik“ seien alle Erscheinungen der menschlichen Sprache. Mit einer dem Völkerrechtler wohlbekannten Unterscheidung hält de Saussure fest, dass es dabei gleichgültig sei, ob es sich um wilde Völker oder zivilisierte Nationen handle.7 Er geht von folgender Trias aus: langage (Sprache), langue (Sprachsystem) und parole (Rede).8 Während langage die menschliche Sprachlichkeit in ihrer Gesamtheit umfasst und damit „einzelwissenschaftlicher Begriffsbildung“ 9 unzugänglich ist, sind langue und parole zwei verschiedene „Dinge“ 10, die es gibt und die auch getrennt wissenschaftlich untersucht werden können. Für die Sprache sind zwei Kriterien grundlegend: Systematizität und Sozialität.11 Die Sozialität bringt zum Ausdruck, dass die Sprache in ihrer Gesamtheit nie nur im Individuum, sondern immer in der „sozialen Masse“ 12 der Sprechenden existiert. Für den Zeichenbegriff heisst das, dass Zeichen nur dadurch existieren, dass sie von Individuum zu Individuum weitergegeben werden.13 Dies bringt die Möglichkeit mit sich, dass die Sprache nicht in der Zeit stabil bleibt, sondern sich stetig verändert: Sie ist als „fragiles, oszillierendes Gleichgewicht zu denken, das ständigen Veränderungen ausgesetzt ist“.14 Wenn der Sozialität in der Zeit diese verändernde Wirkung zukommt, so kommt der Systematizität die Aufgabe zu, diese Zeitlichkeit mit ihren verändernden Effekten zu „neutralisieren“.15 Saussure konzipiert diese Systematizität nicht dadurch, dass die Zeit ausgeschlossen wird, sondern dadurch, dass sie als Gleichzeitigkeit konzipiert wird. In dieser Sozialität und Simultaneität artikuliert sich die Sprache. Das Sprachsystem (langue) ist für Saussure ein Zeichensystem.16 Dieses System ist nicht etwas abstraktes, sondern ein „Objekt, das man für sich untersuchen
maier, Orientierung, 281 m. H. auf Umberto Eco, La struttura assente. La ricerca semiotica e il metodo strutturale, Milano 1968). 6 Krämer, 20. 7 De Saussure, 69. Zum Gegenstand der Linguistik: De Saussure, 71 ff. 8 Vgl. de Saussure, 73 und 81 sowie Krämer, 21. 9 Krämer, 21. Vgl. zur Unüberblickbarkeit der Sprache auch Müller, Syntagma, 326 f. 10 Saussure schreibt „choses“, Krämer „Sachen“ und Wunderli „Dinge“ (Saussure, 80; Krämer, 22; Wunderli, 81). 11 Krämer, 23. 12 De Saussure, 175. 13 Krämer, 24. 14 Fehr, Saussure: Zwischen Linguistik und Semiologie. Ein einleitender Kommentar, in: Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie – Notizen aus dem Nachlass. Texte, Briefe und Dokumente, Frankfurt a. M. 2003, 17 ff., 89 und 110. 15 So Krämer, 25. 16 De Saussure, 83.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
kann.“ 17 Dies zeige sich in der Schrift, welche das Sprachsystem – nicht das Sprechen – in Bildern fixieren könne.18 Nicht der akustische Laut, sondern das Lautbild wird in der Schrift visualisiert. Während der Laut als physisches oder physiologisches Geschehen ein nicht wiederholbares Ereignis ist, wird das Lautbild von Saussure als systemartig beschrieben.19 Diese Systematizität der Sprache komme in der Schrift unmittelbar zum Ausdruck. Im Gegensatz zum Repräsentationsmodell, das in der artikulierten Sprache eine Verbindung eines Repräsentanten mit einem vorbestehenden Repräsentierten sieht, bringt nach Saussure erst die Artikulation das, was sie vereinigt, hervor.20 Das Zeichen verbindet für de Saussure nicht „eine Sache und einen Namen miteinander, sondern ein Konzept und ein Lautbild.“ 21 Das Lautbild ist dabei nicht mit dem physisch wahrnehmbaren Laut gleichzusetzen; es ist vielmehr „der psychische Abdruck dieses Lautes, die Darstellung, die uns das Zeugnis unserer Sinne liefert [. . .].“ 22 Insofern ist das Zeichen eine „zweiseitige psychische Einheit [. . .].“ 23 Im Zeichen verweist ein bezeichnender Signifikant auf ein bezeichnetes Signifikat: „So stehen beispielsweise beim Zeichen „Buch“ die Buchstaben dieses Wortes für das, was wir uns unter einem Buch vorstellen, wenn wir dieses Wort lesen oder aussprechen.“ 24 Das Sprachsystem ist aber weder Laut noch Gedanke, sondern das, was das Hörbare und den Geisteszustand in die Form des Lautbilds oder der Vorstellung bringt.25 Das Zeichen bringt nicht etwas in Verbindung, das vorher schon als „abgegrenzte Form, mithin als eigenständige Entität, gegeben ist.“ 26 Erst im Sprachsystem werden Vorstellung und Lautbild in Form und in Verbindung gebracht. Damit ergibt sich die Bedeutung des Signifikants nicht durch ein aussersprachliches Signifikat. Beide sind Seiten derselben Sache, des sprachlichen Zeichens. Ihre Verbindung im Zeichen ist arbiträr.27 Im Gegensatz zu einem Symbol besteht beim Zeichen gemäss de Saussure keine innere Beziehung zwischen der Idee von Schwester und der Lautfolge „Schwester“; die Idee könne auch durch „sorella“ wiedergegeben werden.28 Arbitrarität ist nicht so zu verstehen, dass 17
De Saussure, 81. Vgl. de Saussure, 97 ff. 19 Krämer, 22. 20 Krämer, 28. 21 De Saussure, 169. 22 De Saussure, 169. Für Krämer ist das Saussure’sche Lautbild nicht der physikalische Laut, sondern etwas systematisches und gedachtes (vgl. Krämer, 22 f., 26 und 28). 23 De Saussure, 169. 24 Coendet, 31. 25 De Saussure, 247: „[. . .] ihre Verbindung führt zu einer Form, nicht zu einer Substanz.“ 26 Krämer, 28. 27 De Saussure, 171 ff. 28 De Saussure, 171. 18
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation
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man sich in der sozialen Praxis auf eine gewisse Verbindung, die auch eine andere sein könnte, einigt. Die Arbitrarität lässt sich nicht auf eine begründete Vernunft oder Ursache zurückführen, ist nicht mit Konventionalität gleichzusetzen.29 Sie ist vielmehr im Sinne einer Unmotiviertheit zu verstehen.30 Es gibt weder eine innere Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, noch kann diese Verbindung von Individuen durch eine Konvention festgelegt werden. Die so konzipierte Arbitrarität ist derart wichtig, weil sie „die Bedingung dafür ist, dass das Zeichen durch nichts dem Zeichen Fremdes und Äusserliches bestimmt wird.“ 31 Damit stellt sich unweigerlich die Frage: Durch was wird das Zeichen dann bestimmt? Gemäss Saussure durch Differentialität. 32 Hier folgt der grundlegende Bruch mit dem Repräsentationsmodell: Nicht mehr die Relation zwischen Zeichen und Objekt, sondern diejenige zwischen Zeichen und Zeichen ist bedeutungskonstitutiv. So haben beispielsweise die Zeichen „Kombattant“ nicht eine stabile Bedeutung, weil sie einen Kombattanten repräsentieren, sondern weil sie sich von „Zivilist“ unterscheiden.33 Oder: E unterscheidet sich von F und L, aber nicht von E. Die sprachliche Identität geht aus der Differenz hervor.34 Saussure unterscheidet zwei Arten der Differentialität: die syntagmatische (durch Präsenz) und die assoziative oder paradigmatische (durch Absenz).35 Erstere ergibt sich daraus, dass Zeichen nicht am gleichen Ort, sondern nacheinander „erscheinen“.36 Letztere daraus, dass durch die Anwesenheit bestimmter Zeichen andere abwesend sind: „Wenn wir „abreissen“ sagen, so reden wir gerade nicht von „durchreissen“ [. . .] oder sagen nicht etwa „abschneiden“ [. . .].“ 37 In dieser doppelten Differentialität ist ein Zeichen keine Entität mehr, sondern ein Wert.38 Ein einzelnes Zeichen kann es somit nicht geben, es wäre wert-los: „Da die Sprache aus mindestens zwei Zeichen bestehen muss, damit der Wert eines Elements durch seine Relation zu anderen Elementen bestimmt wird, kann es kein einzelnes sprachliches Zeichen geben. Das hat eine bedeutungstheoretische Implikation: Es macht keinen Sinn, sprachliche Zeichen als Träger von Bedeutung anzusehen. Bedeutung entsteht zwischen den Zeichen und kann nicht im Zeichen lokalisiert werden.“ 39
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Vgl. zur Frage nach dem Ursprung der Sprache: de Saussure, 177. De Saussure, 173. 31 Krämer, 31 (Hervorhebung hinzugefügt). 32 Vgl. dazu Krämer, 31 ff. 33 Das Beispiel stammt von Venzke, Game, 6. 34 De Saussure, 257; Krämer, 33. 35 De Saussure, 263 ff. 36 Vgl. de Saussure, 175 und 265 f. 37 Krämer, 33 (Hervorhebungen hinzugefügt). De Saussure, 267 f. 38 De Saussure, 243 ff. Jacques Derrida bezeichnet dies als die „These von der Differenz als Quelle des sprachlichen Werts.“ (Derrida, Grammatologie, 92). 39 Krämer, 34. 30
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Weil die Differenzierung der Zeichen bedeutungskonstitutiv ist, ergibt sich die Bedeutung eines bestimmten Zeichens durch seine syntagmatische und paradigmatische Differenzierung. Im Sprechen oder Reden (parole) werden Zeichen „in der zeitlichen Sukzession produziert, und das ist wahrnehmbar.“ 40 Damit aber auch die paradigmatische Differenzierung möglich wird, muss dieses Nacheinander in eine Gleichzeitigkeit überführt werden, die nur virtuell sein kann. Der Ort dieser virtuellen Gleichzeitigkeit der gebrauchten und gleichzeitig ausgeschlossenen Zeichen ist das Sprachsystem (langue). Damit hält Saussure eine Trennung von Sprechen und Sprachsystem aufrecht. Die in der parole gebrauchten Zeichen „Baum“ verweisen auf die im intellektualisierten Sprachsystem hergestellte Verbindung zwischen Vorstellung und Lautbild. Es ist die bekannte Unterscheidung zwischen Symphonie und Aufführung, System und Ausführung, Wesentlichem und Akzidentiellem, Kompetenz und Performanz, Norm und Aktualisierung oder Anwendung.41 Damit ist zwar ein aussersprachlicher Vorrang gegenüber sprachlichen Zeichen überwunden, nicht aber ein „logisch-genealogische[r] Vorrang [des Sprachsystems] gegenüber dem Sprechen.“ 42
II. Vom differentiellen Zeichen zur Spur Diesen behaupteten Vorrang hat Jacques Derrida dekonstruiert. D. h., dass er ihn nicht einfach aufkündigt, sondern ihn „beim Wort“ nimmt und mit ihm arbeitet.43 De Saussure leitet das Kapitel mit dem Titel „Das Zeichen als Ganzes“ wie folgt ein: „Alles, was bisher gesagt wurde, läuft darauf hinaus, dass es in der Sprache nur Unterschiede gibt. Mehr noch: Ein Unterschied setzt normalerweise positiv [definierte] Terme voraus, zwischen denen er sich konstituiert; aber in der Sprache gibt es nur Unterschiede ohne positive Einheiten.“ 44
Es gibt nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. Dieser vielzitierte Satz De Saussures ist nicht nur die Überwindung, sondern quasi die Umkehrung des Repräsentationsmodells. Letzteres hat die Bedeutung von Zeichen über die Identität definiert: Die Identität des Zeichens leitet sich aus der Identität des vom Zeichen Bezeichneten ab. De Saussure hat die Zeichen-Objekt- durch die Signifikat-Signifikant-Relation ersetzt. Er lässt das Konzept der Identität fallen und setzt dasjenige der Differenz in einen Gegensatz dazu. Wie lässt sich aber eine Ver40
Krämer, 36. Venzke, Game, 4 ff.; Krämer, 35, 96. 42 Krämer, 96; Derrida, Grammatologie, 76. 43 Vgl. Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg 1988; Peter Zima, Die Dekonstruktion, Tübingen 1994. Bertram (Hermeneutik und Dekonstruktion, 84) schreibt: „Dekonstruktion folgt den Konstruktionen, die vorliegen.“ 44 De Saussure, 259. Vgl. auch Bertram, 89. 41
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation
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schiedenheit ohne positive Einzelglieder denken? Wenn Verschiedenheit nichts anderes ist als „ist anders als“, sind positive Einzelglieder vorhanden.45 Eine so konzipierte Differentialität führt zu einer Differenz zwischen präsenten Identitäten. Derrida nimmt diesen Widerspruch zum Anlass, die Differenz anders zu denken.46 Entscheidend ist nicht die Differenz als Präsenz, sondern das, was sie hervorbringt, der Moment ihrer Differenzierung: „Dieser ökonomische Begriff [différance] bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinn dieses Wortes [différer – aufschieben/(von einander) verschieden sein].“ 47 Sie ist nicht als Unterschied zwischen zwei Punkten, sondern als Bewegung zu denken. Sie ist deshalb zu denken, weil sie nicht da sein kann; da ist nur das Schriftzeichen. Dieses kann aber nur durch die Bewegung der Differenzierung konstituiert worden sein. Durch diesen dynamischen Moment wird ein Abstand hergestellt, der zu einem Zwischenraum führt. Diesem Zwischenraum kann man sich über die Aspekte Raum, Zeit und Kraft nähern.48 Durch die Bewegung der Differenzierung werden die Zeichen räumlich voneinander getrennt. Die Zeichen nehmen einen bestimmten Platz im Raum ein und lassen einen bestimmten Zwischenraum zwischen ihnen, der sich am augenfälligsten in der Praxis des Leerzeichens zeigt. Die Zeichen materialisieren sich linear nebeneinander. Die assoziative, virtuelle Differenz findet sich hier als Aufschub wieder. Dieser ist ein notwendiger „konstitutiver Umweg“ 49, den ein Zeichen gehen muss. In den Worten von Bertram: „Wenn sich a nur mittels seiner Differenzierung von b bestimmt, muss immer zu b gegangen werden, um a zu erreichen. Das heisst, von a her ereignet sich ein Aufschub. Was a bedeutet, stellt sich nur verzögert ein. Die Verzögerung liegt in dem unumgänglichen Umweg begründet. Der Zwischenraum ist also die Zeit, deren das Zustandekommen von a bedarf: der Aufschub von a.“ 50
Diese beiden Aspekte erinnern noch stark an den Saussure’schen Zeichenbegriff mit seiner syntagmatischen und assoziativen oder paradigmatischen Differentialität. Bei Derrida gehen die Aspekte von Raum und Zeit aber ineinander über und werden so als „Bewegung von raumzeitlichen Differenzen“ konzipiert.51 45
Bertram, 89. Gemäss Bertram versucht Derrida, den Widerstreit zu schlichten (Bertram, 89). 47 Derrida, Grammatologie, 44. Vgl. auch Bertram, 89; Coendet, 32. Derrida schreibt das französische Wort für Unterschied (différence) mit einem a (Derrida, Grammatologie, 44). Vgl. dazu Krämer, 233 f. m. H. auf Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, 216. 48 Derrida, Grammatologie, 114 ff. Vgl. dazu Bertram, 89 ff.; Coendet, 32 ff. 49 Bertram, 90 (Hervorhebungen hinzugefügt). 50 Bertram, 90. 51 Derrida, Grammatologie, 118 ff. Coendet, 33 m.w. H. Krämer, 236: „Als gegenwärtiges Ereignis ist das Sprechen die Spur vergangener Ereignisse, wie es seinerseits als Spur die zukünftigen Ereignisse markieren wird.“ 46
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Diese Bewegung der Differenz muss als produktive Kraft gedacht werden. Sie stellt eine „Aktivität dar, aus der die differenzierten Punkte als Wirkungen hervorgehen.“ 52 Differenzen bestehen nicht einfach, sie sind Effekte dieser Bewegung der Differenzierung. Das Zitat von De Saussure liesse sich wie folgt umformulieren: „Es gibt, so liesse sich mit Derrida sagen, in einem Zeichensystem nur Einzelglieder, die von der Bewegung des Differenzierens (différance) aus konstituiert sind.“ 53 Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Bewegung weder „schlichte Beschreibung noch Ursache des Zeichengeschehens sein kann.“ 54 Schlichte Beschreibung kann sie nicht sein, weil sie keinen Einfluss auf das Zeichengeschehen hätte. Sie würde schlicht beschreiben was passiert, ohne dabei für den Effekt der Differenz verantwortlich zu sein. Sie kann aber, obwohl sie als vorausgehend gedacht werden muss, nicht etwas sein, das dem Zeichen vorausgeht. Das ist das Problem, wenn das Verhältnis zwischen différance und differentiellem Zeichen als Ursache und Wirkung dargestellt wird.55 Wenn wir die différance als Ursache bezeichnen, geben wir ihr die Bedeutung einer Ursache. Diese Bedeutung kann ihr aber nur aufgrund der différance zukommen. Différance selbst kann nicht etwas Bedeutendes sein, weil alles Bedeutende differentiell ist, die différance aber gerade nicht. Wenn Bedeutung da ist, war die différance immer schon am Werk, hat immer schon funktioniert. Sie kann deshalb nicht reflexiv eingeholt werden. Wie entkommt Derrida dieser Paradoxie? Einerseits dadurch, dass différance eben als „bedeutungs-lose(r)“ 56 Unterschied gedacht wird, anderseits dadurch, dass sie im differentiellen Zeichen als ihr Effekt gegeben ist. Die différance ist nicht Möglichkeitsbedingung der Zeichenbildung, sondern différance kann nur da gedacht werden, wo differentielle Zeichen sind.57 Sie lässt sich nur vom Zeichengebrauch her denken. Da ist nach wie vor nur das Schriftzeichen. Schriftzeichen sind nicht als Repräsentationen von in ihrer Abwesenheit präsenten Identitäten, sondern als Spuren zu denken.58 Derrida benutzt diesen Begriff und rückt ihn in die Nähe von Emmanuel Levinas und seiner Ontologie-
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Bertram, 90. Bertram, Übergangsholismus, 394. 54 Coendet, 33. 55 Vgl. Derrida, Grammatologie, 44 und 130 ff. 56 Bertram, 92. 57 Vgl. dazu Bertram, 93: „Sie ist nicht dasjenige, das Zeichen und damit Bedeutung ermöglicht. Entscheidend ist, dass sie sich überhaupt erst von einem Zeichen her formulieren lässt. Es bedarf einer Zeichenpraxis, um différance als Implikat dieser Praxis zu denken. Es gibt keine transzendentalen Zeichen, da diese sich nur mittels einer realen Zeichenpraxis formulieren lassen. Différance begründet nicht Zeichen in einem transzendentalen Sinn. Sie tritt mit Zeichen zugleich auf.“ 58 Derrida, Grammatologie, 81 ff. und 124 ff.; Bertram, 93 ff.; Coendet, 35 ff. 53
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation
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kritik.59 Er konzentriert sich im Gegensatz zu Levinas, der vor allem die metaphysische Bedeutung der Spur untersuchte, aber vor allem auf die Spur in Texten.60 Wie Levinas charakterisiert Derrida die Spur als „la présence de ce qui [. . .] n’a jamais été là, de ce qui est toujours passé.“ 61 Spuren haben einen materiellen Bezugspunkt und sind notwendigerweise vergänglich. Eine Spur materialisiert sich als raumzeitliche Differenz und ist in ihrer Präsenz zugleich die Drohung ihres potenzierten Verschwindens, des Verschwindens ihres Verschwindens. Als bestimmte Spur ist sie differentiell. Das heisst, dass sie nicht einfach für sich selbst anwesend ist, sondern nur dadurch, dass sie sich als Spur von anderem unterscheidet: „Wenn eine Spur erst aus der Differenzierung von Spuren hervorgeht, dann verweist sie gleichsam auf alle anderen Spuren, von denen sie sich differenziert. [. . .] Alle anderen Spuren haben an der Spur ihre Spur hinterlassen: genau diese Tatsache macht sie zur Spur. Eine Spur gibt es demnach nur als Spur von Spuren, als ein Zusammenkommen von Spuren, die sie gerade nicht ist.“ 62
Die Spur ist somit weniger durch ihre materielle Präsenz, als vielmehr durch einen „Verweisungszusammenhang“ 63 aus materiellen und vergänglichen und insbesondere potenziert vergangenen Spuren, also als Spur von Spuren zu umschreiben. Mit diesem Spurbegriff lässt sich das Zeichen nun als Spur von Spuren begreifen. Daraus ergibt sich die verwobene Struktur der Zeichen.64 Derrida hat dieses Gewebe wie folgt umschrieben: „Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder auf dem der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, dass sich jedes „Element“ [. . .] aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert. Diese Verkettung, dieses Gewebe 59 Derrida, Grammatologie, 122 ff. Vgl. dazu auch Levy, 145 ff., 149 ff.; Robert Bernasconi, The Trace of Levinas in Derrida, in: Robert Bernasconi/David Wood, Evanston (Illinois) 1988, 13 ff.; Werner Stegmaier, Die Zeit und die Schrift. Berührungen zwischen Levinas und Derrida, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Vol. 21, Nr. 1, 1996, 3 ff.; Stegmaier, Orientierung, 289 f. 60 Levy, 152. Vgl. für eine Übersicht über den Spurbegriff in der Epistemologie: Sybille Krämer, Immanenz und Transzendenz der Spur: Über das epistemologische Doppelleben der Spur, in: Sybille Krämer/Werner Kogge/Gernot Grube, Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a. M. 2007, 155 ff. 61 Emmanuel Levinas, Humanisme de l’autre homme, Montpellier 1972, 68 (zitiert nach: Levy, 150). 62 Bertram, 96. 63 Coendet, 36. Vgl. zur Idealität von Spuren Bertram, 96 f. 64 Dieses Bild der verwobenen Zeichen findet sich auch in der Etymologie des Wortes „Text“, das auf das lateinische „textus“ (Gewebe, Geflecht) und „texere“ (weben, flechten, zusammenfügend verfertigen, bauen, errichten) zurückgeht. Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hrsg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2. Aufl., Berlin 1993, Stichwort Text, in: DWDS – Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, OnlineAusgabe (http://www.dwds.de/).
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse ist der Text [. . .]. Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre. Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren.“ 65
Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wie sich ein bestimmtes Zeichen, eine bestimmte Spur von Spuren konstituiert. Um dies zu klären, ist auf den dritten von Derrida entwickelten Aspekt der Zeichenbildung einzugehen: die Wiederholung. Die Wiederholung muss – konsequenterweise und vielleicht kontraintuitiv – auch von der Differenz her konzipiert werden.66 Dies leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass Wiederholung diskriminiert: Sie spricht von mindestens zwei Zuständen. Daher impliziert sie Differenz. Für das Zeichen heisst das, dass es sich nicht nur von anderen Zeichen, sondern auch von sich selbst differenziert. Über den Raum, der durch die Wiederholung gesetzt wird (a, a) geht das Zeichen nicht nur den konstitutiven Umweg über die anderen Zeichen, sondern auch über sich selbst.67 Durch die konstitutiven Umwege lässt sich ein Zeichen nicht nur als Spur von Spuren, sondern als bestimmte Spur von Spuren lesen. Dadurch wird es zu einem bestimmten Zeichen. Auch zwischen diesen als gleich identifizierten Zeichen bestehen nur differenzierende Beziehungen. Die Wiederholung ergibt sich daraus, dass diese bestimmten Zeichen in einer wechselseitigen Beziehung stehen, einer „WiederholungsBeziehung“ 68. Da diese Beziehung aus der Differenzierung hervorgeht, muss Identität nicht vorausgesetzt werden. Identität beruht auf Wiederholung, die wiederum durch Differenzierung zustande kommt. Eine differenzierende Wiederholung schliesst eine unveränderliche Identität aus, ermöglicht aber eine wiedererkennbare und veränderbare Identität. Wiederholung ist im Zeichen als Spur selbst angelegt – und zwar einerseits schon, bevor es tatsächlich wiederholt wird, andererseits als Möglichkeit, bevor es sich als Zeichen konstituiert. Die Möglichkeit der Wiederholung ist für das Zeichen konstitutiv. Es kann also kein Zeichen geben, das nicht wiederholbar wäre. Diese Eigenschaft bezeichnet Derrida als Iterabilität des Zeichens.69 Sie gehört zum Zeichen als Spur, weil das „Verständnis der neuen, der anderen Bedeutung“ davon abhängt, „dass eine Spur der vorigen Bedeutung übrig geblieben ist.“ 70 Zugleich kann die Spur diese vorige Bedeutung aber nicht re-präsentieren. 65
Derrida, Positionen, 2. Aufl., Wien 2009, 50. Vgl. Coendet, 36. Zur Wiederholung Bertram, 99 ff.; Coendet, 37 ff. 67 Coendet spricht in Anlehnung an Hegel von einer „Bewegung des Sichunterscheidens und des Sichaufsichbeziehens“ (Coendet, 38 m. H. auf Hegel, Phänomenologie des Geistes, 95, 586–588). 68 Bertram, 101. 69 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, 80. Gemäss Levy wurde Derrida durch Levinas Begriff der „altérité“ („Andersheit“) zum Begriff der „itérabilité“ inspiriert (Levy, 150, Fn. 20). 70 Levy, 150. 66
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Die vergangene Bedeutung kann nicht volle Präsenz, sondern bloss als vergangene Spur in dieser Spur sein.71 Dadurch ergibt sich folgendes Bild des Zeichens: „Ein Zeichen ist eine Spur von Spuren, zu dem seine Wiederholung als Spur der Spur hinzutritt.“ 72 Durch diesen Zeichenbegriff kann nun der Gebrauch eines bestimmten Zeichens als Reaktualisierung verstanden werden, einerseits des Zeichens selbst, andererseits des ganzen differentielles Systems, dem das Zeichen „angehört“. Das System ist insofern im Zeichen gegeben, als es am Zeichen Spuren hinterlässt.73 Damit eröffnet sich auch die Möglichkeit der Veränderung des ganzen differentiellen Systems durch Zeichengebrauch. Zeichen reaktualisieren alte Spuren, setzen jedoch zugleich neue, die durch künftigen Zeichengebrauch wiederum als alte reaktualisiert werden. Das System ist insofern im Zeichen gegeben, als letzteres darauf verweist. Damit wird einerseits die „Zwei-Welten-Ontologie“ aufgegeben: Die Bedeutung eines Zeichens ergibt sich nicht mehr in einem virtuellen Zeichensystem, sondern dieses ist Teil des Zeichens selbst. Andererseits wird damit ein holistisches Sprachbild entworfen, weil das Zeichen als Teil der Sprache als Ganzes konzipiert wird.74 Ein bestimmtes gebrauchtes Zeichen verweist über die Spur der Spuren jedoch nicht auf das Ganze der Sprache, sondern stets nur auf die Teile, die durch die differenzierende Bewegung als Kraft in den Blick kommen.75 Mit diesem Zeichenbegriff kann nun auf das Verhältnis zwischen Zeichen und Bedeutung eingegangen werden.
III. Zeichen und Bedeutung 1. Selbstverortung und Verweisung Der Begriff des Zeichens wurde wie folgt umschrieben: Ein Zeichen ist eine differentielle Spur von Spuren, zu dem seine iterierende Wiederholung als Spur von Spuren hinzutritt. Coendet fasst den bisher erarbeiteten Zeichenbegriff wie folgt zusammen: „Zeichen sind zuallererst Spuren. Bedeutung erlangen Spuren jedoch nicht aus der Materialität oder aus ihrer eigenen Präsenz. Sie sind erst lesbar, wenn sie sich von anderen Spuren differenzieren und so deren Spuren in sich aufnehmen. Das macht sie zu Spuren von Spuren. Auf die Zeichen übertragen, besagt dies, dass Zeichen nie aus sich selbst heraus existieren, sondern immer in einem Zusammenhang mit anderen Zeichen stehen. Sie formieren sich über Zeichenketten ohne positive Einzelglieder. Folglich lässt sich Differenz von Zeichen nur noch als differenzierende Bewe71
Levy, 150. Coendet, 38. 73 Vgl. dazu Bertram, 102 f. 74 Vgl. dazu unten § 4 III.3. 75 Vgl. dazu Bertram, Übergangsholismus, 395 ff. und insb. 398 f. Zur holistischen Semantik u. a.: Verena Mayer, Semantischer Holismus. Eine Einführung, Berlin 1997. 72
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse gung denken. [. . .] Diesem Spiel der Spur innerhalb der textuellen Zeichenketten fügt die Wiederholung die Möglichkeit hinzu, in einem Text spezifische Spuren zu identifizieren.“ 76
Dieser Zeichenbegriff unterscheidet sich vom strukturellen Zeichenbegriff De Saussures, weil er keine strukturelle Differenz zwischen Signifikat und Signifikant postuliert. Der Signifikant sollte das Intelligible des Signifikats wahrnehmbar machen, ohne sich auf das Signifikat auszuwirken. Das Signifikat determinierte das, was durch den Signifikanten ausgedrückt wurde. Damit wurde die Bedeutung vom Wahrnehmbaren getrennt. Diese Trennung ist im soeben beschriebenen Zeichenbegriff verschränkt: „Materialität und Idealität, die die Metaphysik noch klar auf Signifikant und Signifikat verteilt, sind im Spurenverweis des Zeichens verschränkt.“ 77 Es gibt keine Bedeutungskonstitution ausserhalb des Zeichengebrauchs. Diese ergibt sich aus seiner differenzierenden Bewegung zu sich selbst und zu anderen Spuren. Durch die Reaktualisierung eines Zeichens im Zeichengebrauch wird ein Zeichen in einem Differenzgeflecht positioniert, es nimmt einen bestimmten Platz darin ein.78 Da sich die Bedeutung des Zeichens durch die Konstituierung desselben in einem Differenzgeflecht ergibt, stellt sich die Frage, ob nicht dieses Geflecht die bedeutungsdeterminierende Instanz ist. Daran anknüpfend lässt sich fragen, ob es nicht noch weitere solche Instanzen gibt. Diese Frage ist hier von Bedeutung, weil gerade die Auslegungslehren verschiedene Instanzen als bedeutungsdeterminierend für den Vertragstext identifizieren. Derrida hat sich insbesondere mit dem Kontext als möglicher externer Instanz befasst.79 Einer Instanz, die sich auch in Art. 31 Ziff. 1 und 2 WVK wiederfindet. Er hat seine Überlegung zum Kontext in Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie angestellt.80 Derrida nähert sich dem Kontext über den Begriff der Spur. Diese ist als Spur von Spuren bereits in jedem Zeichen angelegt. Das Zeichen verweist durch seine Reaktualisierung auf das differentielle System, dem es „angehört“. Dies geschieht durch den aktuellen Zeichengebrauch: „In seiner jeweiligen Reaktualisierung eröffnet das Zeichen sich seinen Kontext als einen momentanen.“ 81 Bertram unterscheidet zwischen einem Zeichen- und einem Ereigniskontext. Der erste ist die Zeichenkette, also die sprachlichen Zeichen, in denen das Zeichen steht. Der zweite ist im weiten Sinne zu verstehen: Ihm kann zugerechnet werden, was den Zeichengebrauch umgibt. Also Handlungen, Räu76 77 78 79 80 81
Coendet, 39. Vgl. zum Begriff der Zeichenketten auch unten: D.IV.2. Coendet, 41. Bertram, 108 ff. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext. Vgl. Coendet, 42 ff.; Bertram, 116 ff. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext; Austin. Bertram, 120.
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me, Ereignisse, Personen aber auch ein bestimmtes Bewusstsein oder eine Intention. Ereigniskontext weist hier somit auf etwas Äusserliches hin, das zu den sprachlichen Zeichen hinzutritt und Einfluss auf ihre Bedeutung hat. Es verweist über die Spur der Spuren nicht allein auf sprachliche Zeichen, sondern auch auf nicht sprachliche, die Coendet mit „weitere Bezugspunkte ihrer realen Umgebung“ 82 umschreibt. So geht die Dichotomie zwischen Text und (sowohl sprachlichem als auch nicht sprachlichem) Kontext in einem verflochtenen „Gewebe aus Spuren“ 83 auf. Zeichen verweisen von sich aus auf diese Kontexte. Wir kommen hier nochmals darauf zurück, dass Spuren eben nicht etwas Positives, sondern durch Differenzierung konstituiert sind: „Zitieren wir ein Zeichen in einem anderen Kontext, greifen wir daher nicht ein positives Einzelglied heraus und fügen es andernorts wieder ein, sondern verändern Spuren. Bedeutungsverschiebungen sind Veränderungen im Spurengewebe. Sie setzen somit nicht beim Text oder Kontext als abgetrennte Einzelgrössen an. In einem Gewebe von Spuren existiert auch kein von einem Kontext eingefasstes Textzentrum und folglich keine kontextzentrierte Textbedeutung [. . .]. Vielmehr trennt sich das Zeichen in seiner Selbstunterscheidung von Beginn an vom Kontext seiner Produktion sowie jedem festgelegten Rezeptionskontext. Seine Bedeutung korreliert in keinem Zeitpunkt mit einem bestimmten Kontext in der Gegenwart, vielmehr wiederholt das Zeichen vergangene Kontexte und verweist dabei gleichzeitig auf zukünftige.“ 84
Die Wiederholung und Verweisung weisen auf eine holistische Bedeutungskonstitution der Sprache hin. Wir werden sogleich darauf zurückkommen.85 Hier ist folgendes mitzunehmen: Wenn sich die Bedeutung des Zeichens als Spur von Spuren aus seinem bestimmten Spurenkomplex ergibt, ist das Bedeutungsgeschehen vom Zeichengebrauch her zu untersuchen. Nur so lässt sich der Zeichenkontext erschliessen. Der Kontext als bedeutungsdeterminierende Instanz ist nicht etwas, das von aussen an das Zeichen herantritt, sondern etwas, auf welches das Zeichen verweist. Er ergibt sich aus der Konstitution des Zeichens, ist somit auch durch différance, Spur und Wiederholung charakterisiert. 2. Bedeutung als vorläufige Spezifität Die Bedeutung von Zeichen ergibt sich aus ihrer Selbstverortung, die als Spur von Spuren auf ihre Kontexte verweist. Diese Verortung oder Verweisung ist keinesfalls beliebig.86 Aus ihrer Spezifität ergibt sich die Spezifität der Bedeutung. 82
Coendet, 43. Coendet, 43. 84 Coendet, 43 f. 85 Hinten § 4 III.3. 86 In diese Richtung geht aber die Kritik von Carlo Focarelli, International Law as Social Construct. The Struggle for Global Justice, Oxford 2012, 112 ff. Er wirft dekonstruktiven Denkern vor, einen absoluten Relativitätsanspruch zu erheben. Vgl. dazu 83
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Die Dekonstruktion kann nicht zu einer beliebigen Bedeutung führen, weil auch die Selbstverortung der Zeichen nie beliebig ist. Sie führt aber durch die Verweisungen zu einem vielschichtigen Bedeutungsbegriff, einer „Pluralität von bestimmten Differenzen, mit ihrer endlosen Ausstreuung und potentiellen Verbreitung von Sinn.“ 87 Diese Dissemination der Bedeutung ist weder mit ihrer Beliebigkeit noch mit einer Polysemie im Sinne einer Vielzahl von präsenten Bedeutungen gleichzusetzen.88 Die Behauptung einer völligen Relativität der Bedeutung ist strukturell gleich wie die Behauptung ihrer transzendenten Präsenz, weil sie einen absoluten Anspruch erhebt.89 Es ist also ein Zwischenweg zu gehen, der von Coendet wie folgt umschrieben wird: „Dekonstruktion [. . .] bedeutet den kritischen Hinweis, dass die Sinnkomplexität in Diskursen sich zum einen stetig iteriert und disseminiert, zum anderen sich niemals endgültig reduzieren lässt. Infolgedessen verlangt die Dekonstruktion, Sinn und Bedeutung kontextsensitiv, das heisst ausgehend von différance, Spur und Wiederholung zu ermitteln, ohne dabei in unkritische Argumentationsmuster zurückzufallen.“ 90
Die sprachliche Bedeutung wird in ihre verschiedensten Facetten aufgefächert. Diese Auffächerung ist eben nicht beliebig, sondern durch den jeweiligen momentanen Zeichengebrauch bestimmt. Die Bedeutung und die Dissemination derselben ergeben sich im Zeichengebrauch. Die Reaktualisierung von Zeichen führt somit nicht zu einer vollständigen Re-präsentation von vergangenen Bedeutungen. Wenn der Gerichtshof in Rz. 80 die Zeichen von Art. 2 Ziff. 4 der VNCharta zitiert, re-präsentieren diese Zeichen nicht eine in der VN-Charta vorfindliche Bedeutung. Er verschiebt aber die Spuren dieser Zeichen. Künftiger Gebrauch der Zeichen der VN-Charta können diese Spurverschiebung durch den IGH reaktualisieren und damit versuchen, die durch den IGH evozierte Bedeutungsverschiebung dieser Zeichen zu reaktualisieren. Damit werden aber auch wieder nur Zeichen zitiert, Spuren verschoben und nicht Bedeutungen re-präsentiert. Umgekehrt kann die Bedeutungskonstitution durch den Zeichengebrauch aber auch von denjenigen, die die Zeichen gebrauchen – in casu die Richter des IGH – nicht abschliessend kontrolliert werden. Die Bedeutung konstituiert sich durch den Zeichengebrauch. Dieser ist nicht mit dem Gebrauch von Zeichen auch Bianchi, 48 f. Diese Kritik muss jedoch fehl gehen, weil dekonstruktives Denken keinen solchen Anspruch erhebt. Vgl. dazu Jacques Derrida, Limited Inc., Wien 2001, 225 f. 87 Coendet, 47. 88 Vgl. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, 70 ff. 89 Vgl. dazu die den Hinweis von Bertrand Russell auf die Fehlinterpretation der Relativitätstheorie von Albert Einstein: „Es gibt eine Sorte ungemein überlegener Menschen, die gern versichern, alles sei relativ. Das ist natürlich Unsinn, denn wenn alles relativ wäre, gäbe es nichts, wozu es relativ sein könnte.“ (Bertrand Russell, Das ABC der Relativitätstheorie, München 1928, 2. Kapitel). 90 Coendet, 48 (Hervorhebung hinzugefügt). Vgl. auch Levy, 152 f.
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gleichzusetzen. Es ist somit mitzunehmen, dass den Zeichen im Gebrauch durchaus bestimmte, jedoch nicht abschliessend festgelegte Bedeutungen zukommen. 3. Vorläufige Spezifität und Kontinuität Wie ist eine Kontinuität von Bedeutung möglich, wenn diese bloss eine vorläufige Spezifität aufweist? Um diese Frage zu beantworten, ist nochmals auf den Begriff der Reaktualisierung zurückzukommen. Das Setzen eines Zeichens wurde vorne als Reaktualisierung dieses bestimmten Zeichens und des ganzen differentiellen Zeichensystems, dem das Zeichen „angehört“, beschrieben. Damit wurde auf eine Verbindung zwischen Zeichen und Zeichensystem verwiesen. Hier ist nun der Ort, wo vertieft auf diese Verbindung eingegangen werden kann. Dabei stützt sich dieser Teil der Untersuchung vor allem auf das von Bertram vorgeschlagene Konzept des „Übergangsholismus“.91 Der Begriff Holismus evoziert das Bild eines Ganzen und eines Verhältnisses zwischen dem Ganzen und seinen Teilen.92 Hier wurden die Begriffe Zeichen und Zeichensystem verwendet. Es stellt sich die Frage, wie das Ganze bzw. das Zeichensystem nun theoretisiert werden kann. Das Zeichen verweist als Spur von Spuren nicht auf ein dem Zeichengebrauch äusseres Ganzes, sondern es reaktualisiert vergangene und potenziert vergangene Spuren und verweist zugleich auf zukünftige. Die soeben eingeführte holistische Relation ist nach dem hier entworfenen Verhältnis weniger eine zwischen Teil und Ganzem, sondern zwischen Teil und anderen Teilen.93 Dabei wird der Begriff des Teils (Zeichen als Spur von Spuren) über die Beziehungen zu den anderen Teilen bestimmt. Diese Beziehung kommt notwendigerweise erst durch die Reaktualisierung eines bestimmten Zeichens zustande. Ausgangspunkt ist der Gebrauch eines Zeichens. Dies veranlasst Bertram, den „Holismus mit dem Begriff der Praxis zu verbinden.“ 94 So wie der Zeichengebrauch eine empirisch nachweisbare Praxis ist, ist auch das „Ganze“ eine konkrete Grösse. Nur durch den Gebrauch kommen die anderen Teile, die Bertram nun Elemente nennt, in den Blick.95 Das Zeichen verweist auf seine Kontexte, nicht umgekehrt. Sowohl der Begriff des Ganzen als auch die Gegenüberstellung eines Ganzen und seiner Teile werden fallengelassen. An ihre Stellen treten in Übereinstimmung mit dem hier verwen91
Bertram, Übergangsholismus, 407 ff. und insb. 409 ff. Bertram, Übergangsholismus, 391: „Bestimmungsprinzip – [. . .] Die Teile eines ganzen sind durch das Ganze bestimmt. [. . .]“ 93 Bertram, Übergangsholismus, 394: „Beziehungsprinzip – Die Teile eines Ganzen (von Teilen) sind durch die Beziehungen zu den anderen Teilen bestimmt.“ 94 Bertram, Übergangsholismus, 395. 95 Bertram, Übergangsholismus, 396: „Elemente-Beziehungs-Prinzip – Die Elemente einer in einem konkreten Gebrauch bestimmten Anzahl von Elementen sind durch die Beziehungen zu den anderen Elementen bestimmt.“ 92
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
deten Zeichenbegriff die Differenzierung des reaktualisierten Zeichen-Elements, das als Spur auf eine Vielzahl weiterer Spuren verweist, die am „Element ihre Spuren hinterlassen haben.“ 96 Damit ist die Differenzierung durch Verweisung dem Akteur – also beispielsweise demjenigen, der ein Urteil schreibt – entzogen. Sie wird dem Zeichengebrauch, nicht demjenigen der das Zeichen gebraucht, zugeschrieben.97 Ein Zeichen muss, um als solches funktionieren zu können, auch über den Tod des Benutzers hinaus als solches lesbar bleiben.98 Die differenzierende Verweisung über den konkreten Zeichengebrauch hinaus stellt damit nicht nur Differenzen, sondern auch Verbindungen her. Diese kommen aber nur durch die Kraft der différance zustande. Daher werden „die Elemente des Systems [. . .] nur so weit konstituiert, wie diese Kraft wirkt. Die Kraft ist das, was von den vorhandenen differenzierenden Elementen aus zu denken ist. Sie übersteigt aber diese Elemente darin, dass sie immer noch weitere Elemente betreffen kann.“ 99 Der durch die Reaktualisierung geschaffene Verweisungzusammenhang kann nicht geschlossen werden, beispielsweise durch die Intention des Akteurs. Die holistische Konzeption ist notwendigerweise offen. Aufgrund dieser Offenheit führt Bertram das Prinzip des Übergangs ein.100 Der so theoretisierte „Übergangsholismus“ besagt zweierlei:101 Erstens ist die Struktur von Elementen und Beziehungen an konkrete Praktiken mit sprachlichen Ausdrücken gebunden. Zweitens kommen diese Strukturen stets übergangsweise zustande. Die im Zeichengebrauch hergestellten Beziehungen sind sowohl für die Veränderung als auch für die Kontinuität der sprachlichen Bedeutung verantwortlich. Wie kann aber eine vom aktuellen Gebrauch her konzipierte differentielle Beziehung eine Kontinuität hervorbringen? Ein Zeichen wird im Gebrauch reaktualisiert. Obwohl die differenzierenden Verbindungen durch den Zeichengebrauch hergestellt werden, gibt es keine solchen Verbindungen, ohne dass jemand die Zeichen gebraucht. Die iterierende Wiederholung kann zwar von den Akteuren nicht abgeschlossen und damit auch nicht abschliessend kontrolliert werden, sie muss aber vom Gebrauch her gedacht werden. Ein Zeichen wird im Gebrauch als dessen Wiederholung bestimmt. Die Zeichen werden von den Akteuren so gebraucht, dass sie als Wiederholung bestimm-
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Bertram, Übergangsholismus, 396. Bertram, Übergangsholismus, 397. 98 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, 80. 99 Bertram, Übergangsholismus, 398. 100 Bertram, Übergangsholismus, 399: „Übergangsholismus-Prinzip – Die Elemente einer in einem konkreten Gebrauch bestimmten Anzahl von Elementen sind durch die Beziehungen zu den anderen Elementen bestimmt und in dieser Bestimmung immer auf eine Veränderung dieser Beziehungen bezogen.“ 101 Bertram, Übergangsholismus, 399. 97
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ter Zeichen identifiziert werden können. So können die in Rz. 80 gebrauchten Zeichen als iterierende Wiederholung der Zeichen von Art. 2 Ziff. 4 der VNCharta identifiziert werden. Hier werden ständig die Zeichen „Rz. 80“ gebraucht, um auf einen bestimmten Teil des IGH-Gutachtens zu verweisen. Damit werden die Spuren und die Bedeutung der Zeichen „Rz. 80“ verschoben; zugleich wird aber eine Verbindung hergestellt. Diese Verbindung kommt im aktuellen Gebrauch zustande: „Auch die Beziehungen, die zu vorangehenden Gebrauchszuständen des Zeichens bestehen, werden also in der differenzierenden Bewegung hergestellt, die das bedeutungstragende Zeichen konstituiert.“ 102 Eine Kontinuität zwischen vergangenem und aktuellem Gebrauch kommt damit gleich zustande wie die anderen differentiellen Verbindungen. Ein aktuell gebrauchtes Zeichen wird als seine eigene Wiederholung bestimmt, indem es sich seiner eigenen Wiederholung gegenüber differenziert. Die Kontinuität ist nicht eine Voraussetzung, sondern ein Moment des jeweiligen Gebrauchs.103 Ohne diesen Moment könnte kein Zeichen als dieses Zeichen betrachtet werden. Diese Reaktualisierung entsteht durch den Gebrauch. Sie besagt daher nicht, „dass ein Gebrauch in dieser Weise schon vorgekommen ist, sondern dass sich der Gebrauch auf andere Situationen bezieht, in denen er sich genau in dieser bestimmten Weise ereignet.“ 104 Die Kontinuitätsbeziehung zwischen vergangenem und aktuellem Gebrauch ist nicht linear, sondern vielmehr interstitiell zu denken. Dies wirkt sich auf das Verhältnis zwischen dem auszulegenden und dem herzustellenden Text aus. Die Verbindung kann hergestellt werden, indem die Zeichen im herzustellenden Text so gebraucht werden, dass der auszulegende Text in diesem aktuellen Gebrauch reaktualisiert wird. So hat der Gerichtshof in Rz. 80 durch den spezifischen Gebrauch von Zeichen eine interstitielle Beziehung zu Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta, der FRD und der Schlussakte von Helsinki hergestellt. Aufgrund der differentiellen Kontinuitätsbeziehung, die hier als Wiederholungs-Beziehung bezeichnet wurde, eröffnet sich die Möglichkeit der sprachlichen Konventionalität. Indem man die Zeichen gleich gebraucht wie andere in anderen Situationen, kann man versuchen, über den eigenen Gebrauch auf diese anderen Situationen zu verweisen. Bertram fasst dies wie folgt zusammen: „Das in dem Prozess enthaltene Moment von Kontinuität sedimentiert sich gleichsam in der Gleichförmigkeit, die das Sprechen einer natürlichen Sprache durch eine Sprechergemeinschaft prägt. [. . .] Im jeweiligen Sprechen ist die Reproduktion schon enthalten und prägt sich nur im sozialen Bereich aus, wenn eine beginnt, wie die andere zu sprechen. So erklärt die übergangsholistische Bedeutungstheorie die Konventionalität zu einem signifikanten, aber nicht grundlegenden Aspekt sprachlicher Praxis.
102 103 104
Bertram, Übergangsholismus, 409. Bertram, Übergangsholismus, 409. Bertram, Übergangsholismus, 410.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse Unser Sprechen ist deshalb so gleichförmig, da jedes Bedeutungsereignis tiefgreifende Kontinuitäten produziert – ohne allerdings seinen Ereignischarakter zu verlieren. Nicht Kontinuität durch Konvention, sondern Konvention aufgrund impliziter Kontinuität.“ 105
Die durch die Reaktualisierung hergestellte Kontinuität ermöglicht einen konventionellen Zeichengebrauch. Damit lassen sich die durch den Zeichengebrauch hergestellten Verbindungen jedoch nicht abschliessend kontrollieren oder auch nur erfassen: „Die Bestimmung eines X als Subjekt ist nie ein rein konventionelles Verfahren und gegenüber der Schrift nie eine indifferente Geste.“ 106 Daraus folgen drei wichtige Schlüsse: Erstens geht die Kontinuität vom aktuellen Zeichengebrauch aus. Dieser verweist auf andere Situationen, in denen die Zeichen gemäss den gleichen Konventionen gebraucht wurden. Zweitens kommt der Konventionalität ein wichtiger, aber kein grundlegender Platz im sprachlichen Bedeutungsgeschehen zu. Und drittens beinhaltet eine Reaktualisierung immer auch die Möglichkeit der Bedeutungsänderung durch Gebrauch, also auch durch einen konventionellen Gebrauch. Welche Schlussfolgerungen können nun für den Begriff des völkerrechtlichen Arguments gezogen werden?
IV. Schlussfolgerungen für den Begriff des völkerrechtlichen Arguments 1. Der Zeichengebrauch als Ausgangspunkt Ausgangspunkt der Bedeutungskonstitution ist der Zeichengebrauch. Diese „semiotische Wende“ 107 kann nun auch für die Frage nach der völkerrechtlichen Argumentation im Gutachterverfahren vollzogen werden. In einem ersten Schritt wird die „semiotische Dimension“ des Gutachterverfahrens dargestellt. Ich konzentriere mich auf zwei Dimensionen: Erstens ist die Durchführung des Gutachterverfahrens selbst ein konventionalisierter Gebrauch von Zeichen zwecks Herstellung, Einreichung, Zirkulation und Veröffentlichung von Texten. Zweitens verweisen die in Art. 38 Ziff. 1 positivierten Zeichen auf unzählige weitere Zeichen, die der Gerichtshof in seiner Arbeit berücksichtigen soll. Diese Übersicht beschränkt sich auf sprachliche Zeichen. Auf aussersprachliche Verweise kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingegangen werden.108
105 Bertram, Übergangsholismus, 411. Vgl. zu „Konventionen, die ihre Kraft durch sedimentierte Wiederholbarkeit gewonnen haben“ auch Judith Butler, Für ein sorgfältiges Lesen, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/Nancy Fraser (Hrsg.), Der Streit um die Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1993, 122 ff., 124. 106 Derrida, Grammatologie, 119 f. 107 Engelmann, 149 ff. 108 Vgl. dazu Seibert, Zeichen, Prozesse; Seibert, Gerichtsrede.
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a) Die semiotische Dimension des Gutachterverfahrens Das Verfahren wird durch eine schriftliche Anfrage eines dazu autorisierten Organs oder einer Agentur der VN eingeleitet. Dieser Anfrage wird ein vom Generalsekretär zusammengestelltes Dossier beigelegt (Art. 65 Ziff. 2 IGH-Statut und Art. 104 IGH-Verfahrensregeln).109 Dieses Dossier ist Teil der Informationsbeschaffung des Gerichtshofs. Zweck ist, dem Gerichtshof die Dokumente zukommen zu lassen, die für die Beantwortung der Frage relevant sein könnten. Der Gerichtsschreiber des Gerichtshofs kann weitere Dokumente beim Generalsekretär anfordern110 und der Gerichtshof kann auf eigene Initiative öffentlich zugängliche Dokumente konsultieren.111 Er hat jedoch nicht die Kompetenz, selber ein Beweisermittlungsverfahren durchzuführen.112 Im Fall Kosovo beinhaltet das Dossier, das der Generalsekretär der VN dem IGH am 30. Januar 2009 übermittelt hat,113 Information zu drei Bereichen, die für die Beantwortung der Frage relevant sind: Der erste Teil enthält Hintergrundinformationen bezüglich der Anfrage der Generalversammlung. Der zweite gibt Auskunft über die Errichtung der Interimsverwaltungsmission der VN im Kosovo (UNMIK), über die Verwaltung des Kosovo und den Statusprozess. Der dritte und letzte Teil setzt sich aus verschiedenen generellen völkerrechtlichen Dokumenten zusammen, die für die Beantwortung der Frage nützlich sein könnten.114 Gemäss Art. 66 Abs. 2 IGH-Statut können alle zum Gerichtshof zugelassenen Staaten und jede internationale Organisation, die über die gestellte Frage Aufschluss geben kann, entweder schriftlich binnen einer vom Präsidenten festgesetzten Frist oder mündlich in einer zu diesem Zwecke anberaumten öffentlichen Sitzung eine Stellungnahme abgeben.115 Der Gerichtshof (falls er nicht tagt: der Präsident) entscheidet, welche Staaten und welche internationalen Organisationen
109 Die Resolution zur Überweisung der Anfrage im Fall Namibia enthielt auch Instruktionen der Generalversammlung bezüglich der Zusammenstellung des Dossiers. Dies ist aber eine Ausnahme, in der Regel liegt die Erstellung des Dossiers im Ermessen des Generalsekretärs (vgl. Rosenne, 1670). 110 Art. 15 der Instruktionen für die Kanzlei. 111 U. a. die von INGOs im Friedenspalast hinterlegten Berichte; vgl. Practice Direction XII Ziff. 3. 112 Riddell/Plant, 371. 113 CR 2009/24, 29. 114 U. a. die VN-Menschenrechtspakte, die AEMR, die FRD, die Guidelines on the Recognition of New States in Eastern Europe and in the Soviet Union oder die Gutachten der Badinter-Schiedskommission; vgl. http://www.icj-cij.org/docket/index.php?p1= 3&p2=4&code=kos&case=141&k=21&p3=0. 115 Auch Staaten, die nicht Mitglied der VN sind, werden unter den Voraussetzungen von S/RES/9 (1946) von dieser Bestimmung erfasst (vgl. Art. 93 VN-Charta). Art. 66 Abs. 4 begründet das Recht, eine Replik einzureichen.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
dem Gerichtshof Informationen zukommen lassen dürfen.116 Der Gerichtsschreiber lädt die zugelassenen Akteure mittels direkter Mitteilung dazu ein.117 Nach der schriftlichen Phase des Verfahrens führt der Gerichtshof eine öffentliche Verhandlung durch, an der die Vertreter der interessierten Akteure mündliche Stellungnahmen abgeben können. Von den mündlichen Stellungnahmen werden wie im Streitverfahren Protokolle erstellt, die vom Gerichtsschreiber und vom Präsidenten unterschrieben werden (Art. 47 Ziff. 1).118 Im Falle einer Unklarheit darüber, was im mündlichen Teil der Verhandlung gesagt wurde, sind allein die amtlichen Protokolle massgebend. Weder Aufnahmen noch andere Texte dürfen zur Klärung herangezogen werden.119 Die schriftlichen Versionen der mündlichen Stellungnahmen sind nicht zuletzt deshalb relevant, weil sie in den Fussnoten die Zitate und Hinweise enthalten. Die Richter können in der schriftlichen Version nachlesen, auf welche anderen Zeichen sich der Rhetor bezieht.120 Nach Abschluss des mündlichen Verfahrens beginnt die deliberative Phase des Gerichtshofs.121 Diese richtet sich vor allem nach der RiG, die gemäss Art. 10 RiG auch für das Gutachterverfahren gilt. Direkt nach den mündlichen Verhandlungen erfolgt die erste Deliberation im Plenum. Ein vom Sekretariat vorbereitetes und vom Präsidenten abgesegnetes Schriftstück beinhaltet alle im Verfahren aufgeworfenen Fragen, die von den Richtern diskutiert werden sollten. Im Hinblick auf eine zweite Deliberationsrunde verfasst jede/r Richter/in eine schriftliche Notiz, die seine bzw. ihre Ansichten zum Fall zum Ausdruck bringt. Diese werden in der zweiten Runde nach dem Anciennitätsprinzip besprochen (amtsälteste/r Richter/in am Schluss). Danach werden in einem geheimen Verfahren zwei Richter/innen ausgewählt, die zusammen mit dem Präsidenten den Redaktionsausschuss zur Verfassung des Gutachtens bilden. Der Ausschuss bringt eine erste Fassung in Zirkulation und berücksichtigt Änderungsvorschläge der einzelnen Richter/innen. Danach kommt es zu einer ersten Lesung und die Richter/ 116
Rosenne, 1671 f. Vgl. zum Gutachterverfahren des Kosovo unten § 7 I.1.b). 118 Diesen Texten allein kommt amtlicher Charakter zu (Art. 47 Ziff. 2 und Art. 71 Ziff. 6 IGH-Verfahrensregeln). 119 Von Schorlemer, Komm. IGH-Statut, Art. 47, Rz. 24. 120 Jean D’Aspremont hat in seinem Plädoyer ausdrücklich darauf hingewiesen (Burundi, m. St., 29): „Monsieur le président, j’épargnerai à la Cour la lecture de toutes les références et sources qui accompagnent le corps de mon exposé. Tous ces éléments apparaissent dans mon texte écrit et font partie intégrante de ma plaidoirie.“ 121 Vgl. dazu Hernández, 104 ff.; Hugh Thirlway, The Drafting of ICJ Decisions: Some Personal Recollections and Observations, in: CJIL, Vol. 5, Nr. 1, 2006, 15 ff.; Raymond Ranjeva, La genèse d’un arrêt de la Cour internationale de Justice, in: Charalambos Apostolidis (Hrsg.), Les arrêts de la Cour internationale de Justice, Dijon 2005, 83 ff. und Robert Y. Jennings, The Role of the International Court of Justice, in: BYIL, Vol. 68, Nr. 1, 1997, 1 ff. 117
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innen haben die Möglichkeit, gesonderte und abweichende Stellungnahmen in Zirkulation zu bringen. Nachdem der Entwurf des Gutachtens und die Stellungnahmen der Richter/innen überarbeitet worden sind, kommt es zur zweiten Lesung und zur Abstimmung. Das Gutachten wird in öffentlicher Sitzung abgegeben, nachdem der Generalsekretär und die Vertreter der Mitglieder der VN sowie die anderen Staaten und IOs, die es unmittelbar angeht, vorher benachrichtigt worden sind (Art. 67 und Art. 107 IGH-Verfahrensregeln). Es wird zusammen mit den Stellungnahmen der Richter/innen, den Anordnungen, den Pressemitteilungen und den Stellungnahmen der am Verfahren beteiligten Akteuere (nach den Vorgaben von Art. 106 IGH-Verfahrensregeln) auf der Homepage des IGH veröffentlicht. b) Die semiotische Dimension von Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut Eine weitere semiotische Dimension eröffnet sich durch eine „oberflächliche“ 122 Lektüre von Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut. Art. 38 Ziff. 1 besteht auch aus Zeichen. Zugleich handelt es sich um eine Norm, die vorschreibt, was der Gerichtshof bei seiner Arbeit berücksichtigen soll. Diese besondere Funktion wird in der Metapher der Rechtsquelle ausgedrückt. Lässt man die Metapher beiseite, rücken die Zeichen in den Fokus. Art. 38 Ziff. 1 lit. a verweist auf „die internationalen Übereinkünfte, allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Parteien ausdrücklich anerkannte Normen aufgestellt worden sind“. Interessanterweise wurde durch die gewählte Formulierung des Artikels die klassisch-positivistische Auslegungstheorie positiviert, dernach sich die im Verfahren anwendbare Norm im Vertragstext befindet.123 Die Parteien haben sich aber primär auf Schriftzeichen geeinigt, denen eine bestimmte Bedeutung zukommen soll. Diese kann dann wiederum in sprachlichen Zeichen, z. B. einem memorandum of understanding oder den travaux préparatoires (vgl. Art. 32 WVK) festgehalten werden. Die Prävalenz von Schriftzeichen soll nicht heissen, dass es nicht auch mündliche völkerrechtliche Verträge gibt. Dies wurde schon 1961 von McNair in The Law of Treaties angesprochen: Obwohl das Völkerrecht sich damals noch nicht zur Form von Verträgen äusserte und McNair die Möglichkeit eines mündlichen Vertrags nicht prinzipiell ausschliessen wollte, gab es praktisch keine Beispiele aus der Praxis. Dies führte McNair darauf zurück, dass das Recht der Verträge, meist implizit, die Schriftform voraussetze, dass die mündliche Form nicht die Klarheit und Beständigkeit der schriftlichen aufweisen könne und dass es unde-
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Robert Kolb, The International Court of Justice, Oxford/Portland (Oregon) 2013,
78. 123 Die englische Version spricht von „rules expressly recognized by the contesting states“, die französische von „règles expressément reconnues par les Etats en litige“.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
mokratisch sei, wenn zwei Personen „whether they are Führers, Duces, or Caudillos, or merely Presidents, Prime Ministers, or Foreign Ministers, should be able to make an agreement binding millions of human beings by spoken words, without the intervention of any other political organ.“ 124 Acht Jahre nach Erscheinen des Buchs von McNair wurde in der WVK in Art. 2 Ziff. 1 lit. a die Schriftform in die Legaldefinition des völkerrechtlichen Vertrags nach WVK aufgenommen. Schriftlichkeit ist nicht auf Druckform beschränkt. Auch Telegramm, Fax und E-Mail können diese Formvorschrift erfüllen. Entscheidend ist, dass der Text beständig und lesbar ist.125 Nur so kann er die für die Orientierung wichtigen Anhaltspunkte schaffen.126 Dies schliesst nicht aus, dass mündliche Verträge abgeschlossen werden können (vgl. Art. 3 WVK). Sie fallen jedoch nicht in den sachlichen Geltungsbereich der WVK und ihre praktische Bedeutung ist nach wie vor marginal.127 Auch das für das Völkerrecht zentrale Gewohnheitsrecht ist auf sprachliche Zeichen angewiesen. Gewohnheitsrecht kann als „generalisierte Staatenpraxis“ 128 bezeichnet werden. Gemäss Art. 38 Ziff. 1 lit. b soll der IGH „das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“ anwenden. Eine Übung lässt nicht zwingend auf sprachliche Zeichen schliessen; es stellt sich jedoch die Frage, wie die von einer Rechtsüberzeugung getragene Übung nachgewiesen wird.129 Wer behauptet, eine gewohnheitsrechtliche Norm bestehe, muss nachweisen, dass eine mehr oder weniger langjährige Praxis existiert (Übung),130 und dass diese Ausdruck einer Rechtsüberzeugung sei (opinio iuris sive necessitatis).131 Auf was kann eine Akteurin zurückgreifen, um ihre These zu begründen? Crawford bietet folgende Aufzählung an:
124 McNair, 7 f. Wobei diese Argumentation die Frage aufwirft, ob die Schriftform und die Beteiligung eines anderen politischen Organs die einzigen Voraussetzungen sein sollen, um Millionen von Menschen zu binden. 125 Aust, Treaty Law, 19; vgl. auch Art. 5 Ziff. 6 des UK Arbitration Act vom 17. Juni 1996 (in: 36 I.L.M. 165 [1997]). 126 Vgl. unten § 5 II.2.a). 127 Vgl. die Beispiele bei Jan Klabbers, The Concept of Treaty in International Law, Den Haag 1996, 49 f.; Aust, Treaty Law, 9; D’Aspremont, Formalism, 171 f. 128 So schon IGH, Fisheries Case, Abweichende Stellungnahme von Richter J. E. Read, 186 ff., 191. 129 Vgl. Henkaerts: „Unlike treaty law, customary international law is not written.“ Dann aber: „To prove that a certain rule is customary one has to show that it is reflected in State practice and that there exists a convention in the international community that such practice is required as a matter of law. In this context, ,practice‘ relates to official State practice and therefore includes formal statements by states.“ 130 Die Dauer und Bedeutung der Übung leitet sich aus der unterlegten Theorie des Gewohnheitsrechts ab: vgl. dazu exemplarisch IGH, Nicaragua, Rz. 97 f. und 186 sowie die Übersicht bei van den Driest, 206 ff. 131 IGH, Continental Shelf Case, Rz. 27. Vgl. auch: Crawford (Principles, 23) spricht nicht von einem „Konstrukt“, sondern von einer „conclusion“.
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„diplomatic correspondence, policy statements, press releases, the opinion of government legal adivsers, official manuals on legal questions (e. g. manuals of military law), executive decisions and practices, orders of military forces (e. g. rules of engagement), comments by governments on ILC drafts and accompanying commentary, legislation, international and national judicial decisions, recitals in treaties and other international instruments (especially when in ,all states‘ form), an extensive pattern of treaties in the same terms, the practice of international organs, and resolutions relating to legal questions in UN organs, notably the General Assembly.“ 132
Michael Wood, der auch die Praxis von IOs unter den Begriff Staatenübung subsumiert, zählt folgende Möglichkeiten auf: „official documents issued by public authorities [including ,all organs of State such as those relating to the executive, legislative and judicial powers‘] such as diplomatic notes, letters of instruction, reports, internal memoranda, explanatory memoranda and texts of laws and regulations, parliamentary reports and discussions, national judicial and arbitral decisions. [. . .] To these lists could be added positions taken by States in their written and oral pleadings in international and domestic court proceedings; and under certain conditions their actions in drawing up and becoming party to treaties. But, as always, the particular circumstances of the words or actions in question have to be borne in mind.“ 133
Auch IOs können selbst Materialien produzieren, die dem Nachweis von Gewohnheitsrecht dienen.134 Nachweise von Staatenpraxis finden sich nicht zuletzt auch in Monographien, Artikeln, den Arbeiten der ILC, des Institut de Droit International, der International Law Association sowie in den ILM oder in den von einzelnen Staaten publizierten Digesten.135 Im Bereich des humanitären Völkerrechts ist die Arbeit des IKRK hervorzuheben.136 Im Bereich des Seerechts die International Maritime Boundaries-Serie.137 Der Nachweis von Gewohnheitsrecht ist somit primär eine Arbeit mit Texten. Daher sind der Zugang und die Systematisierung dieser Texte von eminenter Wichtigkeit: 132
Crawford, Principles, 24. Wood, Rz. 10 und 14; vgl. auch den ILC-Bericht über die Entstehung und den Nachweis von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht, Rz. 50; Robin Rolf Churchill/ Vaughan Lowe, The Law of the Sea, Manchester 1999, 10 f.; Oppenheim, International Law, 26 sowie zu den völkerrechtlich relevanten Urteilen nationaler Gerichte: ILR und die Online-Dokumentation Oxford Reports on International law (http://opil.ouplaw. com/home/ORIL). 134 Röben, International Law, Development through International Organizations: Policies and Practices, Rz. 32 ff. 135 Vgl. Wood, Rz. 26 f., Anhang „Selected Documents“ (8 f.). 136 Jean-Marie Henkaerts/Louise Doswald-Beck (Hrsg.), Customary International Law. Volume 1. Rules, Cambridge 2009; Jean-Marie Henkaerts/Louise Doswald-Beck (Hrsg.), Customary International Law. Volume 2. Practice, Cambridge 2005; sowie die Online-Dokumentation: http://www.icrc.org/customary-ihl/eng/docs/home. 137 Jonathan I. Charney/Lewis M. Alexander, International Maritime Boundaries, Dordrecht/London 2005 (Online: http://nijhoffonline.nl/pages/IMB). 133
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
„Evidence of State practice in the field of international law remains difficult to access and patchy. While much more is available than in earlier days (when the practice of only very few States was published systematically, often with a considerable time lapse), coverage is still limited. At the same time, the quantity of available material is daunting. Modern technology has made information far more accessible. Useful websites are too numerous to mention, and they are constantly changing: the United Nation’s online document system is particularly valuable. But there are limits to how far the search for practice can be automated; the selection and assessment of material requires experience and judgment.“ 138
Gewohnheitsrecht ist im Gegensatz zu internationalen Verträgen oder verbindlichen Resolutionen von IO nicht durch einen autoritativ festgelegten Text positiviert. Nichtsdestoweniger findet es sich in Texten.139 Einerseits bilden sie den Ausgangspunkt für jeden Akteur, der eine gewohnheitsrechtliche Norm konstruieren will, andererseits ist auch das Produkt dieser Konstruktion ein Text. Auch hier sind die Texte als Anhaltspunkte der Orientierung unerlässlich.140 Ähnliches gilt auch für Rechtsprinzipien. Wer die Existenz eines Rechtsprinzips behaupten will, muss nachweisen, dass sich dieses Prinzip in innerstaatlichen Rechtssystemen – vorwiegend im Privatrecht – findet und dass es sich für eine Anwendung im zwischenstaatlichen Bereich eignet.141 Crawford fasst diese Textarbeit wie folgt zusammen: „An international tribunal choses, edits, and adapts elements from other developed systems. The result is a body of international law the content of which has been influenced by domestic law but which is still its own creation.“ 142
Die in Art. 38 Ziff. 1 lit. d angesprochenen „Hilfsmittel“ – Gerichtsentscheide und die Lehre der anerkanntesten Autoren – sind selbstverständlich auch wieder sprachliche Zeichen. Die Zeichen in Art. 38 Ziff. 1 verweisen auf Zeichen, auf die sich der Gerichtshof im aktuellen Zeichengebrauch der Herstellung eines Gutachtens beziehen kann und soll. Die Konventionen, die bestimmen, wann der Gerichtshof dieser Pflicht nachgekommen ist, sind nicht Bestandteil der vorliegenden Untersuchung. Auf diese Frage wird daher nicht weiter eingegangen. (Vielleicht nur 138
Wood, Rz. 37. Vgl. auch Müller, Syntagma, 80 m. H. auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Herausgegeben von Johannes Hofmeister, 4. Aufl., 1955, 182 (§ 211, Zusatz). 140 Vgl. unten § 5 II.2.a). 141 Crawford, Principles, 35, mit Verweis auf Oppenheim, International Law, § 12; vgl. zur Analogie zwischen innerstaatlichem Privatrecht und Völkerrecht schon: Hersch Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies of International Law, London 1927 und grundsätzlich zu allgemeinen Rechtsprinzipien im Völkerrecht: Pierre-Yves Marro, Allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts. Zur Verfassungsordnung des Völkerrechts, Zürich 2010. 142 Crawford, Principles, 35. 139
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soviel: Obwohl in den Stellungnahmen unterschiedliche sezessionsrechtliche Thesen vertreten und unterschiedlich begründet werden, ist der Verweisungshorizont relativ homogen. Die meisten Akteure verweisen in ihren Argumentationen auf die folgenden autoritativen Texte: VN-Charta, FRD, die Schlussakte von Helsinki (insb. Prinzip IV), die Charta von Paris, die Wiener Erklärung von 1993, die Agenda for Peace, die Montevideo-Konvention, die VN-Milleniumserkärung und das VN-Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005. Als Präzedenzfälle dienen insbesondere Quebec, Katanga, Südrhodesien, Südwestafrika, Westsahara, TimorLeste und Somaliland. Aus dem Schrifttum finden sich vor allem die Werke von James Crawford, Antonio Cassesse, Rosalyn Higgins und Marcelo G. Kohen.) Rechtsarbeit ist eine Arbeit mit sprachlichen Zeichen. Im völkerrechtlichen Schrifttum wurde dieser Gedanke insbesondere von sogenannten New Approaches to International Law eingebracht. Diese stützen sich auf die im US-amerikanischen Raum entstandene Bewegung der Critical Legal Studies, die wiederum stark von Jacques Derrida beeinflusst worden ist.143 Mit Koskenniemi: „Instead of examining international law like a language it treats it as a language.“ 144 Gemäss Cass kann man nicht vor der Sprache flüchten. Wenn Recht aus Argumenten besteht, dann werden die Konzepte, die wir benutzen, nicht von den Handlungen, der konsensualen Zustimmung oder den Interessen der Staaten hervorgebracht, sondern von der Konversation über die Argumente.145 Burgis schreibt: „[. . .] the construction of law in the courtroom is a process of argumentation.“ 146 Was ist nun die Folge für den Begriff des völkerrechtlichen Arguments? 2. Entscheidung und Begründung Nach Art. 38 Ziff. 1 muss der Gerichtshof die ihm unterlegten Streitigkeiten nach Völkerrecht entscheiden. Dies gilt kraft Verweis in Art. 68 auch für das Gutachterverfahren. Kann der Gerichtshof diese Entscheidung aus dem Völkerrecht ableiten oder muss er sie treffen? Damit eine Entscheidung abgeleitet werden kann, muss sie schon durch eine Instanz determiniert worden sein. Argumentationstheoretisch gesprochen braucht es eine sichere Prämisse, aus der sich die Konklusion inferentiell ableiten lässt. 143
Vgl. Derrida, Gesetzeskraft, 19 f. Koskenniemi, Apology, 568. Damit wird die durchgängige Sprachlichkeit des Rechts berücksichtigt; vgl. auch Kennedy, 133 f.; Müller, Syntagma, 323 ff. oder Busse. 145 Deborah Z. Cass, Navigating the Newstream: Recent Critical Scholarship in International Law, in: Nordic Journal of International Law, Vol. 65, 1996, 341. Vgl. auch James Boyle, Ideals and Things: International Legal Scholarship and the Prison-House of Language, in: Harvard Journal of International Law, Vol. 26, Nr. 2, 1985, 327 ff.; Dino Kritsiotis, The Power of International Law as Language, in: California Western Law Review, Vol. 34, 1997/1998, 397 ff. 146 Burgis, Boundaries, 34. 144
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut enumeriert solche möglichen Instanzen. Die „oberflächliche“ Lektüre hat die semiotische Dimension dieser Instanzen zum Vorschein gebracht. Der Vorgang der Auslegung erscheint durch diese Dimension eher als „Produktion neuer Texte anhand alter Texte“, „wobei der Ausgangstext nur noch als Referenz dient.“ 147 Diese Referenz kann einerseits darin bestehen, dass diejenigen, die einen völkerrechtlichen Text – also beispielsweise eine Stellungnahme zuhanden des IGH – produzieren, solche alten Texte konsultiert haben, um sich zu orientieren.148 Andererseits können aber im neuen Text die Zeichen so gebraucht werden, dass sie auf diese alten Texte verweisen. Diese „Referenz“ ist aber nicht so zu verstehen, dass in der Auslegung als „Herstellen von mehr Text“ 149 eine Bedeutung re-präsentiert würde, die der aktuellen Zeichenpraxis vorginge. Die Verbindung zwischen alten und neuen Texten ist interstitiell.150 Diese interstitielle Verbindung ist möglich, weil der Zeichengebrauch eine Reaktualisierung ermöglicht. Die Möglichkeit der Reaktualisierung hat gezeigt, dass die alten Texte nicht als Behälter einer re-präsentierbaren stabilen Bedeutung, sondern als Verweisungshorizonte des aktuellen Zeichengebrauchs zu denken sind. Die in Art. 38 Ziff. 1 enumerierten „Rechtsquellen“ sollten durch den zustimmenden Staatenkonsens stabilisiert werden.151 Weitere mögliche Instanzen der Stabilisierung finden sich in Art. 31 WVK: gewöhnliche Bedeutung, Kontext, Sinn und Zweck oder eine spezielle Bedeutung, falls die Vertragsparteien sich darauf geeinigt haben. Können diese Instanzen eine Bedeutung vor der Entscheidung determinieren? Als sprachliche Zeichen gelangen auch sie nur über eine Reaktualisierung zu Bedeutung. Andernfalls würden sie beanspruchen, ausserhalb der Bedeutungskonstitution zu Bedeutung zu kommen.152 Durch die Reak147
Luhmann, 340; vgl. auch Gräfin von Schlieffen, die die „Rechtsgewinnung als einen Vorgang der textlichen Herstellung“ umschreibt (Katharina Gräfin von Schlieffen, Wie Juristen begründen. Entwurf eines rhetorischen Argumentationsmodells für die Rechtswissenschaft, JZ, 66. Jg., Heft 3, 2011, 109 ff., 116). 148 Vgl. unten § 5 II.2. 149 Luhmann, 340. 150 Vgl. oben § 4 III.3. Michael Rosenfeld, Deconstruction and Legal Interpretation: Conflict, Indeterminacy and the Temptations of the New Legal Formalism, in: Cardozo Law Review, Deconstruction and the Possibility of Justice, Vol. 11, 1990, 1211 ff., 1217: „[A] present writing is a re-written past writing and not yet re-written future writing.“ Oder Philip Allott (in: Alexander Orakhelashvili [Hrsg.], Research Handbook on the Theory and History of International Law, Cheltenham 2011, Foreword, ix): „The past is present in the present, and so is the future.“ Vgl. zu dieser interstitiellen Struktur der Rechtspraxis auch: Venzke, Interpretation, 49. 151 Vgl. oben § 3 II.1. und 2. 152 Die differentielle Struktur aller Zeichen weist auf eine Verschränkung von Sein und Sollen hin und lässt keine strikte Trennung von normativen und deskriptiven Sätzen zu. Eine solche Trennung würde ausserhalb der Zeichenpraxis stehen und sich nicht durch das Moment der différance konstituieren. Normativität ist somit eher ein normatives Sein als ein Sollen; auch sie ist auf Materialisierung angewiesen. Vgl. dazu Coen-
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tualisierung verschiebt sich ihre Bedeutung. Letztere kommt nicht vor dem, sondern durch den Zeichengebrauch zustande. Die Entscheidung lässt sich daher nicht aus der Bedeutungskonstitution vorgehenden Prämissen ableiten, sie muss vielmehr getroffen werden. Die Dissemination der Bedeutung kann durch eine Entscheidung nicht eingeholt werden. Die Entscheidung erfolgt notwendigerweise in einem bestimmten Moment. Sie kann intuitiv, nach reiflicher Überlegung oder als rechtstheoretisches Gedankenexperiment nach Besorgung unendlich verfügbarer Informationen, allem Wissen usw. erfolgen. Sie bleibt aber immer eine Unterbrechung. Den Moment der Entscheidung hat Derrida als „Nacht des Nicht-Wissens und der Nicht-Regelung“ bezeichnet. Diese ist „nicht die eines Fehlens der Regel oder des Wissens, sondern die einer erneuten Einrichtung oder Einsetzung der Regel, der definitionsgemäss kein Wissen und keine Garantie vorausgehen.“ 153 Es gibt „in der Entscheidung für die Normanwendung keine weitere Entscheidung für die Entscheidung.“ 154 Ausgangspunkt der Entscheidung ist die Unentscheidbarkeit.155 Der „context of discovery“ bleibt hier im Dunkeln: „Die Beratungen des Gerichtshofs sind und bleiben geheim“ (Art. 54 Ziff. 3 IGH-Statut). Daraus folgt nicht, dass man nicht nach dem Grund der Regelbefolgung fragen und eine gültige Begründung für eine Entscheidung verlangen sollte, sondern dass dieser Grund nie ein letzter, immer nur ein vorletzter sein kann.156 Gerade das Fehlen des letzten Grundes ermöglicht die Begründung von Entscheidungen: „Eine Gesellschaft, in der sich aufgrund der Abwesenheit von Fundamenten nichts regeln lässt, wäre eine Gesellschaft ohne Recht. Aber auch umgekehrt wäre eine Gedet, 58 ff.; Müller, Syntagma, 44 ff. m. H. auf Müller, Normstruktur und Normativität; ferner: Klaus Lüderssen, Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Frankfurt a. M. 1996, 283 ff.; a. M. Janina-Maria Gärtner, Ist das Sollen ableitbar aus dem Sein? Eine Ontologie von Regeln und institutionellen Tatsachen unter besonderer Berücksichtigung der Philosophie von John R. Searle und der evolutionären Erkenntnistheorie, Berlin 2010. 153 Derrida, Gesetzeskraft, 54. Im Anschluss führt Derrida diese überstürzende Dringlichkeit der Entscheidung auf die performative Struktur der Entscheidung zurück; nicht ohne einen Vorbehalt gegenüber der Unterscheidung zwischen dem Performativen und dem Konstativen anzubringen (Derrida, Gesetzeskraft, 54 f.). 154 Coendet, 67; Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, 293 f. 155 Derrida, Gesetzeskraft, 49 ff.; so auch Luhmann, 308: „Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht Unentschiedenes!) vorliegt. Denn andernfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müsste nur noch „erkannt“ werden.“ Vgl. auch Stegmaier, Orientierung, 248, 502. Vgl. für eine systemtheoretische Herleitung dieser These u. a.: Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Vol. 29, Nr. 1, 2008, 9 ff. Und für eine systemtheoretische Analyse der rechtlichen Argumentation: Niklas Luhmann, Legal Argumentation. An Analysis of its Form, in: The Modern Law Review, Vol. 58, Nr. 3, 1995, 285 ff. 156 So Luhmann, 406: „Die letzten Gründe sind immer nur vorletzte Gründe.“
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sellschaft, in der sich aus dem letzten Grund des Gerechtigkeitsbegriffs alles arithmetisch ableiten lässt, eine Gesellschaft, in der eben ohne Rechtsentscheidung alles schon vorentschieden wäre.“ 157
Umgekehrt heisst das, dass die in ihrer Struktur notwendigerweise endliche Entscheidung nie endgültig sein kann – die getroffenen Entscheidungen und die gegebenen Gründe werden immer durch die ungewisse Dimension der Zukunft herausgefordert.158 Hier ist der Fokus daher auf den „context of justification“ 159 zu richten: „Der Entscheid ist zu begründen“ (Art. 56 Ziff. 1; für das Gutachterverfahren: Art. 107 Ziff. 2 Lemma 5 IGH-Verfahrensregeln). Die bedeutungsdeterminierenden Instanzen können keine Bedeutung in Raum und Zeit stabilisieren und damit auch keine Entscheidung determinieren, die dem Zeichengebrauch vorgehen würde, sie können aber durch den Zeichengebrauch und damit in der Begründung zu Bedeutung kommen. Dies macht sie aber nicht zu stabilen, sondern zu „flüchtigen Instanzen“: „Was Derrida als das Erlöschen von Spuren beschreibt, zeigt sich rechtstheoretisch darin, dass Instanzen des Normsinns sich in den Spuren des Rechts verflüchtigen. So erscheint beispielsweise der Gesetzgeber nicht als irgendeine metaphysische Instanz, sondern er verstreut sich in den Spuren der Verfassung, der Gesetzesmaterialien, der Rechtsgeschichte usw.“ 160
Der Gedanke der Verflüchtigung der rechtlichen Instanzen in den Zeichen findet sich auch bei Seibert: Eine Zeichenkette kann das vom Gesetzgeber geschaffene Gesetz, durch seine Verkettung mit anderen Zeichenketten aber auch eine ganze Institution oder die Jurisprudenz an sich sein.161 Müller fasst den deut157 Christensen/Sokolowski, 154 m. H. auf Ernesto Laclau, Jenseits von Emanzipation, in: Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien 2002, 23 ff., 40 ff. 158 Auf diese Herausforderung kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. aber u. a.: Derrida, Gesetzeskraft, 21, 46, 56 ff.; Thomas-Michael Seibert, Dekonstruktion der Gerechtigkeit: Nietzsche und Derrida, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., Stuttgart 2009, 27 ff., 39, 41; Koskenniemi, Apology, 545; Coendet, 68 ff.; Stegmaier, Orientierung, 502 f. und Joachim Lege, Was Juristen wirklich tun – Jurisprudential Realism, in: Winfried Brugger/Ulfried Neumann/Stephan Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008, 207 ff., 208. 159 Man könnte auch von Motiv und Argument, von Herstellung und Darstellung oder von der „outward show of legal argument“ (so Venzke, Interpretation, 46 und 49 ff.) sprechen. So Neumann, Theorie/Rechtsphilosophie, 236 m. H. auf Neumann, Argumentationslehre, 4 f. Vgl. auch Bogdandy/Jacob sowie zur Unterscheidung zwischen Motiven und Gründen sowie zur Unerheblichkeit der „psychischen Motive“: Luhmann, 375. Wobei auch diese Dichotomie nicht endgültig ist. Vgl. zum Zusammenhang zwischen „discovery“ und „justification“: Neumann, Theorie/Rechtsphilosophie, 236; Neumann, Wahrheit, 381 f.; Schroth, 296; Schneider, 349; Luhmann, 362 ff. sowie unten § 5 III.4.a). Der Verweis auf (hypothetische) Motive kann natürlich auch Teil der Begründung sein: vgl. z. B. IGH, Nicaragua, Rz. 95. 160 Coendet, 61. 161 Seibert, rechtssemiotik.de, Zeichenketten.
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation
107
schen Verfassungsstaat als Textstruktur auf.162 Für Busse können die Gründungsurkunden von Institutionen derart wichtig werden, dass sie nicht nur als Texte in Institutionen gelten können, sondern selbst zur Institution werden.163 Staaten können ihre Existenz auf Zeichen stützen, denen eine „mystische“ 164 Bedeutung als Gründungsdokument zukommt: Auch eine Unabhängigkeitserklärung muss sich in Zeichen materialisieren. Schon Art. 31 WVK weist auf diese Verflüchtigung der bedeutungsdeterminierenden Instanzen hin. Der Kontext geht auf in Text, Präambel und Annexen (Ziff. 2 Satz 1), weiteren Verträgen und „Instrumenten“, die in Zusammenhang mit dem auszulegenden Vertrag geschlossen worden sind (Ziff. 2 lit. a und b) sowie nachfolgenden Vereinbarungen und nachfolgender Praxis (Ziff. 3 lit. a und b). Wie können aber „flüchtige Instanzen“ eine Bedeutung erlangen? Ihre Bedeutung konstituiert sich durch Selbsverortung und Verweisung.165 Damit ist sie als vorläufige Spezifität zu denken, die aber eine Kontinuität zulässt.166 Diese Kontinuität der Bedeutung weist darauf hin, dass die Flüchtigkeit nicht dazu führt, bei der Begründung einer Rechtsentscheidung in jedem neuen Fall von null zu beginnen. Das Zeichen weist als Spur von Spuren auf eine holistische Bedeutungskonstitution hin. Die Verweisung erfolgt durch den Gebrauch. Dieser verweist nicht auf ein äusseres Ganzes, sondern auf andere Elemente, die durch die Kraft der différance in das Blickfeld rücken. Die Bewegung geht somit vom aktuellen Zeichengebrauch zu anderen Elementen des damit reaktualisierten differentiellen Systems. Von diesem Gebrauch aus konstituiert sich die Bedeutung der konsensualen Staatenzustimmung, des Sinn und Zwecks usw. Die Bedeutungskonstitu162 Zuletzt: Müller, Syntagma. Verfasstes Recht, verfasste Gesellschaft, verfasste Sprache im Horizont von Zeit, Berlin 2012. 163 Busse, 117 f. und Dietrich Busse, Textsorten des Bereichs Rechtswesen und Justiz, in: Gerd Antos/Klaus Brinker/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager (Hrsg.), Textund Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Berlin/New York 2000, 658 ff., 664. IOs existieren nur durch ihre Gründungsdokumente: Die VN sind ohne VN-Charta, die EU ohne das primäre Vertragsrecht, der Europarat ohne die Satzung des Europarats, die WTO ohne das Marrakesch-Abkommen, der IGH ohne das IGH-Statut, der ICTY ohne die S/RES/827 (1993), der ICTR ohne die S/RES/955 (1994) oder der IStGH ohne das Römer-Statut von 1998 (A/CONF.183/9) nicht denkbar. Vgl. auch IGH, Nuclear Weapons in Armed Conflicts, Rz. 19: „From a formal standpoint, the constituent instruments of international organizations are multilateral treaties [. . .]. [. . .] But the constituent instruments of international organizations are also treaties of a particular type; their object is to create new subjects of law endowed with a certain autonomy, to which the parties entrust the task of realizing common goals. Such treaties can raise specific problems of interpretation owing, inter alia, to their character which is conventional and at the same time institutional [. . .].“ (Hervorhebungen hinzugefügt). 164 Derrida, Gesetzeskraft, 27 f., 48. 165 Vorne § 4 III.1. 166 Vorne § 4 III.2. und 3.
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
tion der flüchtigen Instanzen ist vom aktuellen Fall und von den sich stellenden Rechtsfragen zu denken. Die holistische Bedeutungskonstitution bringt jedoch nicht nur eine von innen nach aussen gehende Verweisung, sondern auch eine Beziehung zwischen den Elementen ins Spiel. Die Elemente und ihre Beziehungen bilden eine Struktur, die stets übergangsweise zustande kommt.167 Eine bestimmte Bedeutung konstituiert sich durch die Selbstverortung des Zeichens in einem differentiellen Geflecht.168 Wenn sich die Bedeutung des Zeichens nun durch seine differenzierende Bewegung in diesem Geflecht ergibt, heisst das, dass das Zeichen eine bestimmte Struktur hervorbringen muss. Es muss sich also nicht nur von anderen Elementen, sondern auch in seinen Beziehungen zu den anderen Elementen unterscheiden. Sonst wären alle Differenzierungen gleich und damit nicht mehr unterscheidbar:169 „Das Alphabet ist insofern zwar ein anschauliches, aber letztlich doch ein schlechtes Beispiel für ein System differenzierter Zeichen. Die dort vorliegende Gleichförmigkeit der Differenzierung ist auch ein Grund dafür, dass die einzelnen Buchstaben nicht als bedeutende Zeichen betrachtet werden können. Ein bedeutendes Zeichen wird immer als ein Zeichen gebraucht, das in unterschiedlich bestimmten Differenzierungen steht.“ 170
Im aktuellen Gebrauch verortet sich das Zeichen an einem bestimmten Ort und bringt damit eine bestimmte Struktur hervor. Auch die Argumentation mit den flüchtigen Instanzen bringt eine bestimmte Struktur hervor. In der interstitiellen Verbindung zwischen vergangenem und künftigem Zeichengebrauch können diese Strukturen nun reaktualisiert werden. Die Argumentation mit den flüchtigen Instanzen kann sich zu einer spezifisch rechtlichen Sprachkonvention ausbilden, die eine konventionalisierte Begründungsstruktur hervorbringt. Als Konvention wirkt sie sich in einer bestimmten Praxis strukturierend auf den Zeichengebrauch aus: „Gesetze, Prinzipien, Theorien und Methoden des Rechts lassen sich so als Ergebnis eines Strukturierungsprozesses der rechtlichen Zeichenpraxis begreifen.“ 171 Die Strukturen einer Praxis lassen sich im aktuellen Gebrauch reaktualisieren. Insofern bilden sie einen Teil des „Möglichkeitsraums“ 172, in dem eine Entscheidung getroffen wird. Ihre Reaktualisierung wird jedoch keine identischen, sondern bloss als gleich identifizierbare Strukturen hervorbringen. 167
Vorne § 4 III.3. Vorne § 4 III.1. 169 Coendet, 63. 170 Bertram, Übergangsholismus, 397. 171 Coendet, 63. 172 Gunther Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Vol. 29, Nr. 1, 2008, 9 ff., 17. 168
§ 4 Zeichenpraxis als Grundlage der völkerrechtlichen Argumentation
109
3. Fazit Entscheidungen werden getroffen und können durch Reaktualisierung von Konventionen begründet werden. Wir richten unseren Fokus daher auf die Frage, wie sie gültig begründet werden können. Die Schwierigkeit besteht nun darin, die völkerrechtliche Argumentation so zu theoretisieren, dass sie nicht mit der beschriebenen Bedeutungskonstitution des Zeichengebrauchs in Widerspruch gerät. Insbesondere ist darauf zu achten, dass nicht wieder Instanzen eingeführt werden, die beanspruchen, die Bedeutungskonstitution von ausserhalb des Zeichengebrauchs zu determinieren. Trotzdem muss erklärt werden können, wie eine Entscheidung gültig begründet werden kann. Die von Harald Wohlrapp entwickelte Argumentationstheorie ermöglicht die Entwicklung eines anschlussfähigen Kriteriums der argumentativen Geltung.
§ 5 Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie I. Einleitung Harald Wohlrapp vertritt die in der Argumentationstheorie verbreitete Ansicht, dass wir nur argumentieren können, wenn nicht alles fraglich ist.1 Exemplarisch kommt diese Ansicht in Wolfgang Kleins Grundthese zur Argumentation zum Ausdruck: „In einer Argumentation wird versucht, mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen.“ 2 Klein spricht damit vier Kriterien der Argumentation an, von denen hier drei übernommen werden. Das erste Kriterium ist die Geltung: Wer argumentiert, erhebt einen Geltungsanspruch. Das zweite ist örtlich: Der Ort der Argumentation ist dort, wo das Geltende verlassen und ins Fragliche vorgestossen wird. Das dritte Kriterium ist funktional: Die Funktion der Argumentation ist, vom Geltenden aus das Fragliche ins Geltende zu überführen. Das vierte Kriterium von Klein ist das Kollektiv.3 Dieses wird durch das Kriterium der Orientierung ersetzt. Die Basis der Argumentation ist nicht das kollektiv Geltende, sondern Orientierung (II.). Der Ort der Argumentation ist die Grenze zwischen Orientierung und Desorientierung. Die Funktion ist das Schaffen von Orientierung im Zustand der Desorientierung. Mit Hilfe der Basis wird in der Argumentation im Zustand der Desorientierung versucht, den mit einer These erhobenen Geltungsanspruch einzulösen (III.). Ob das gelungen ist, kann mit dem Kriterium der argumentativen Geltung überprüft werden (IV.).
1 Vgl. unten § 5 II.2.b)aa). Das rechtstheoretische Pendant ist die These von Dennis Patterson, dass wir nur auslegen können, wenn wir schon etwas verstanden haben: vgl. Patterson, Interpretation, 696. Er stellt sich damit insbesondere gegen interpretative Rechtstheorien, die Interpretation als Voraussetzung des Verstehens setzen. Patterson setzt Verstehen als Voraussetzung der Interpretation. 2 Klein, 19. Vgl. auch schon Quintilian, Institutio oratoria (V.10.8): „Ratio per ea, quae certa sunt, fidem dubiis adferens.“ Und die Übersetzung von Kopperschmidt (Argumentationsanalyse, 122): „Argumentation ist ein rationales Verfahren, dessen pragmatische Voraussetzung problematisierte [Geltungsansprüche] sind („dubia“), dessen Methode die systematische Vermittlung zwischen problematisierten und nicht-problematisierten [Geltungsansprüchen] ist und dessen Ziel darin besteht, aus dieser Vermittlung („per“) eine überzeugungskräftige und konsensuell ratifizierbare Stützung („fidem adferens“) der problematisierten [Geltungsansprüche] zu ermöglichen.“ 3 Klein, 9 ff.
§ 5 Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie
111
II. Die Basis der Argumentation Die Basis der Argumentation ist für Harald Wohlrapp ein Zustand der Orientierung. Der Begriff der Orientierung geht auf den Kirchenbau zurück. Kirchen wurden so geplant und gebaut, dass ihre Apsis nach Osten zeigte, also orientiert war.4 Orientierung gibt eine Richtung vor. Man kann sich danach ausrichten. Gemäss Stegmaier ist Orientierung „die Fähigkeit, sich in einer neuen Situation zurechtzufinden und Handlungsmöglichkeiten in ihr zu erschliessen.“ 5 Wohlrapp fasst den Zustand der Orientierung wie folgt zusammen: Wir wissen auf einer praktischen Ebene, was zu tun ist, um etwas Intendiertes zu vollbringen, und wir können uns auf einer reflektierten theoretischen Ebene erklären, warum unser Tun gelingt. 1. Vom Zeichengebrauch zur Zeichenpraxis Wer argumentiert, kann schon etwas. Diese alltägliche Handlungskompetenz ist der Ausgangspunkt für die Entwicklung der pragmatischen Seite der Wohlrapp’schen Argumentationstheorie.6 Wer vor einem Haus eine Wasserpumpe betätigt, weiss schon, wie er seinen Arm bewegen und seine Finger krümmen muss, um den Hebel der Pumpe zu bewegen. Kommt Wasser aus der Pumpe, so ist die Handlung gelungen. Dieses Beispiel weist auf zwei Seiten der beobachteten Situation hin, eine Aussen- und eine Innenseite.7 Die Aussenseite ist das Handeln als zeit- und ortgebundenes Ereignis in der Welt, das von anderen wahrgenommen werden kann. Wir sehen eine Person, die die Wasserpumpe betätigt. Auch Zeichen müssen sich, um solche zu sein, notwendigerweise raumzeitlich differentiell materialisieren. 8 Die Innenseite des Handelns weist darauf hin, dass die Handlung absichtlich erfolgt: Wer die Wasserpumpe bedient, hat die Absicht, Wasser zu pumpen.9 Wohlrapp unterscheidet zwischen diesen zwei Seiten der Handlung, weil sie auseinanderfallen können.10 Eine Handlung kann in der Aussenseite etwas anderes bewirken, als in ihrem Entwurf vorgesehen war. Eine sol4
Luckner, 226. Stegmaier, Anhaltspunkte, 83. Vgl. zur Frage, wer sich eigentlich orientiert: Stegmaier, Orientierung, 293 ff. 6 Wohlrapp, Begriff, 57 ff. 7 Diese metaphorische Zweiteilung ist der Kern des Wohlrapp’schen Handlungsbegriffs: Wohlrapp, Begriff, 57 ff. 8 Vgl. dazu oben § 4 III.1 und 2. 9 Wohlrapp unterscheidet zwischen einer Wert, Sinn- und Zweckdimension, die eine Handlung für den handelnden Menschen haben kann. Der Zweck ist der Zustand, zu dem eine Handlung führen soll. Der Wert einer Handlung ist das, was die Handlung dem Subjekt im Hinblick auf Genuss, Erfüllung und Selbstbestätigung einträgt. Sinn ist die Einbettung in das Ganze des Lebens – Handlung als ein Moment im Werden des Subjekts (Begriff, 58). 10 Wohlrapp, Begriff, 57. 5
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
che Handlung kann man als misslungen bezeichnen. Umgekehrt gelingt eine Handlung, wenn sie in etwa das bewirkt, was ihr Entwurf vorsah. Mit der Zweiteilung wird ein Urheber oder Kontrolleur der Handlung eingeführt. In Anlehnung an Beck nennen wir diese Handelnde als Gegenstand unserer Betrachtung „Akteurin“.11 Auf den Zeichengebrauch gewendet ist damit ein Subjekt da, das die Zeichen mit Absicht gebraucht. Wir haben gesehen, dass sich die Bedeutung, die durch den Gebrauch von sprachlichen Zeichen konstituiert wird, nicht von der Absicht ihrer Urheber abschliessen lässt. Wer Zeichen gebraucht, produziert notwendigerweise einen Verweisungsüberschuss.12 Der Zeichengebrauch entwickelt seine performative Kraft nicht wegen der „Souveränität des Sprechers“, sondern aufgrund der „sedimentierten Wiederholung durch die Zitatförmigkeit“.13 Weil die Reaktualisierung jedoch nicht zu einer identischen Reproduktion, sondern zu einer differentiellen Kontinuität führt, kann die Handlung nicht als Mechanismus, sondern muss als „Spielraum des Performativen“ 14 gedacht werden. Dies hat die negative Konsequenz, dass sich Handlungen nicht einfach beobachten lassen. Sie lassen sich erst durch ihren Verweisungszusammenhang erschliessen. Die Konsequenz für die Argumentationsanalyse ist, dass der Argumentationsanalytiker dem Akteur eine bestimmte Absicht unterstellt. Dazu muss er sich notwendigerweise auf die von ihm beobachtete Argumentation einlassen. Nur so kommt er zum „Gegenstand“ der Handlung. Die Auswirkungen für den Status der Argumentationsanalyse werden weiter hinten dargestellt.15 Das zentrale Postulat des Wohl’rappschen Handlungsbegriffs ist, „dass wir beim Handeln Gelingen von Misslingen unterscheiden und das Gelingen anstreben [. . .].“ 16 Im Kriterium des Gelingens finden die Aussen- und die Innenseite wieder zusammen.17 Das Gelingen einer Handlung wird durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt. In gewissen Lebensbereichen, in denen Handlungen im Normalfall gelingen sollen, werden deshalb sogenannte Praxen gebildet: „Eine Praxis ist ein System oder ein Feld von Handlungen, die aufeinander bezogen sind, sich gegenseitig voraussetzen, ermöglichen, stützen, korrigieren, unter variie11 Lueken, Inkommensurabilität, 195 m. H. auf Lewis White Beck, Akteur und Betrachter. Zur Grundlegung der Handlungstheorie, Frankfurt a. M. 1975. 12 Vorne § 4 III. Vgl. auch Seibert, Gerichtsrede, 80. Vgl. zu diesem Spannungsverhältnis unten § 6 I. 13 Krämer, 256 f. Diese Weiterentwicklung des Handlungssubjekts in der Sprechakttheorie geht insbesondere auf Judith Butler zurück (vgl. z. B. Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998). 14 Krämer, 259. Vgl. zu diesen „Spielräumen des Sinns“ auch: Stegmaier, Anhaltspunkte, 92. 15 Vgl. unten § 4 I. 16 Wohlrapp, Begriff, 59. 17 Die Innenseite kann mehrere Arten von Intentionen vorsehen (Wohlrapp unterscheidet zwischen einer Zweck-, Wert- und Sinndimension), die sich auf die Beurteilung der Handlung auswirken.
§ 5 Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie
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renden Umständen ersetzen und die geeigneten Gefüge oder Geflechte von Situationsumständen herstellen, zusammenhalten, sichern.“ 18
Die Durchführung eines Gutachterverfahrens ist beispielsweise ein solches Geflecht von Situationsumständen, in dem die Handlungen der einzelnen Akteure aufeinder bezogen sind, sich gegenseitig bedingen und sichern.19 Die Einreichung der schriftlichen Stellungnahme ist durch die Einladung und Fristsetzung des Gerichtsschreibers bedingt. Wird sie innerhalb der Frist eingereicht, gelingt die Handlung höchstwahrscheinlich. Erfolgt sie nach Ablauf der Frist, wird das Gelingen fraglicher.20 In einer Praxis sind die Handlungen aufeinander bezogen und standardisiert, das heisst gleichförmig. Aufgrund der zeichenimmanenten Kontinuitätsbeziehung hat sich eine Gleichförmigkeit im Zeichengebrauch herausgebildet, die wiederum bestimmte reaktualisierbare Verweisungsstrukturen hervorgebracht hat. Bertram beschreibt das Verhältnis zwischen der übergangsholistischen Bedeutungskonstitution und der Praxis wie folgt: „Übergangsholismus besagt so erstens, dass die Struktur von Elementen und Beziehungen an konkrete Praktiken mit sprachlichen Ausdrücken gebunden sind. Zweitens erweisen sich die Strukturen im Zusammenhang mit den Praktiken als solche, die stets übergangsweise zustande kommen. In dieser Weise prägt die Bindung an Praktiken die Struktur, ohne dass die Praktiken als etwas verstanden werden könnten, das die Strukturen herstellt. [. . .] Von diesem Zusammenhang her erklärt das übergangsholistische Modell die Möglichkeit der Veränderung genau in einem Zug mit der Normalität der Fortsetzung des Sprachgebrauchs.“ 21
Die Standardisierung von Praxen soll sicherstellen, dass Handlungen gelingen. Bestehen die Handlungen im Gebrauch sprachlicher Zeichen, so kommen diese Strukturen stets übergangsweise zustande.22 Das heisst, dass jemand, der in dieser Praxis Zeichen konventionell gebraucht, durch den Gebrauch der Zeichen intendierte Wirkungen hervorbringen kann. Wer Zeichen auf diese Weise gebraucht, tut nicht nur etwas, er kann auch etwas: „Wenn Menschen etwas kön18
Wohlrapp, Begriff, 60. Vgl. die zeitliche Abfolge von der Anfrage der Generalversammlung, der Notifikation des Eingangs der Anfrage des Gerichtsschreibers an alle Staaten, der Einladung zur Stellungnahme an die Staaten und die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, der Eingabe des Dossiers durch den Generalsekretär der VN, der Stellungnahmen der Staaten und der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, der Entscheidung zur Durchführung von mündlichen Stellungnahmen, der Eingabe von Repliken, der Festsetzung eines Zeitplans für die mündlichen Stellungnahmen, der Durchführung der mündlichen Stellungnahmen, der Beratungen des Gerichtshofs bis zur öffentlichen Verkündung des Gutachtens (IGH, Kosovo, Ziff. 1 bis 16). 20 Im Falle der schriftlichen Stellungnahme Venezuelas führte die Verspätung nicht zu einem Misslingen (IGH, Kosovo, Ziff. 7; IGH, Kosovo, Press Release, No. 2009/20, 19. Mai 2009). 21 Bertram, Übergangsholismus, 399. 22 Vorne § 4 III.3. 19
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
nen, haben sie sich durch Entwicklung einer Praxis aus den Unwägbarkeiten des Gelingens einzelner Handlungen herausgearbeitet.“ 23 Dieses Herausarbeiten erfolgt durch die Etablierung von Gelingensstrukturen.24 Diese machen für Wohlrapp den „harten Kern einer Praxis aus.“ 25 Sie lassen seine pragmatisch konzipierte Theorie mehr sein als eine „Ansammlung von Begriffen und Sätzen, welche ewig hypothetisch und fallibel sind.“ 26 Die Gelingensstrukturen sind nach Wohlrapp standardisierte Handlungen, die den Übergang von einem pragmatischen Zustand zu einem anderen ermöglichen. Praxen haben neben dem Standardisieren und Sicherstellen von Gelingensstrukturen noch weitere Dimensionen. Eine wichtige ist beispielsweise ihre sozialisierende Wirkung. Die Einzelhandlung geht in der Praxis in vielen, standardisierten Handlungen auf. Eine Handlung kann nicht allein auf ihren Zweck reduziert werden, sie hat darüber hinaus als soziale Handlung identitässtiftende, vertrauens- und gruppenbildende Wirkung. Mit der Teilnahme am Gutachterverfahren konnten die Staaten ihre Völkerrechtsfreundlichkeit zum Ausdruck bringen und das Vertrauen in das Gutachterverfahren als „Treffpunkt“ der interessierten Staatenwelt und Möglichkeit der friedlichen Streitbeilegung stärken.27 Ebenso haben sich die Staaten im Verfahren in Gruppen wiedergefunden, die sich über die Unterstützung oder Ablehnung der kosovarischen Unabhängigkeit identifiziert haben. Diese sozialisierende Dimension von Handlungen in Praxen ist auch für makrosoziologische Entitäten wie Staaten relevant (so hat sich beispielsweise eine spanische Wissenschaftlerin an einer rechtswissenschaftlichen Tagung zur Unabhängigkeit des Kosovo darüber beklagt, dass sich Spanien aus Rücksicht auf die innerstaatliche Situation nicht gleich wie die Mehrheit der anderen EU-Staaten postioniert habe und sich jetzt in der Kontra-Gruppe befände, wo das Land eigentlich nicht hingehöre). Zusammenfassend lässt sich Handeln als eine intendierte Materialisierung von Zeichen begreifen, die gelingen oder misslingen kann. Eine Praxis ist ein Feld von Handlungen, in denen Handlungen standardisiert und aufeinander bezogen sind und in denen das Gelingen zum Normalfall wird. Zeichengebrauch in einer Praxis ist damit eine meist gelingende intendierte Materialisierung von Zeichen in einem standardisierten Handlungsfeld: Zeichenpraxis. 23
Wohlrapp, Begriff, 60. Dies setzt Personen voraus, die sich in die Praxis einbringen. Vgl. für das Völkerrecht: Martti Koskenniemi, Between Commitment and Cynicism: Outline for a Theory of International Law as Practice, in: Martti Koskenniemi, The Politics of International Law, Oxford/Portland 2011, 271 ff. 25 Wohlrapp, Begriff, 61. 26 Wohlrapp, Begriff, 61. 27 In den allermeisten Stellungnahmen finden sich, meist als Prolog, Bekenntnisse der Staaten zum IGH als Weltgerichtshof und zum Gutachterverfahren als wichtigem Beitrag zur Stärkung des Völkerrechts. 24
§ 5 Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie
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2. Orientierung in Zeichenpraxen Dass man an eine Praxis herantritt, merkt man dadurch, dass das Gelingen nicht erprobt werden muss, sondern erlernt werden kann.28 Man kann durch eine Lehr-Lern-Situation in die Praxis eingeführt werden. Im besten Fall erlernt man das Verstehen der und das Handelnkönnen in der Praxis. Man tritt nicht an eine objektive Realität heran, sondern erlernt das Handeln in der Praxis. Dieses Lernen beeinflusst beide Seiten des Handelns: Nach innen entwickelt man ein Bewusstsein für sein Tun, nach aussen sieht man, dass dieses Tun zunehmend gelingt.29 Man erwirbt nicht eine „Abbildung der Realität, sondern Orientierung in ihr.“ 30 Wie erwirbt man Orientierung in einer Zeichenpraxis? Erste Anhaltspunkte sind die Zeichen. Ausgehend von diesen Anhaltspunkten ist eine Orientierung am konventionellen Zeichengebrauch denkbar. Schliesslich ergmöglicht eine theoretische Reflexion der Gelingensstrukturen der Praxis die Erarbeitung von Wissen. Dieses bietet die stabilste Grundlage der Orientierung, auf der eine Argumentation aufbauen kann. a) Orientierung an Zeichen und ihrem konventionellen Gebrauch Zeichen müssen sich, um solche zu sein, raumzeitlich differentiell materialisieren.31 Ihre Konstitution als Spur von Spuren unterscheidet sie von ihrer Umgebung und macht sie wahrnehmbar – sie fallen auf.32 Stegmaier hat sich über diese Auffälligkeit der „Orientierung in Zeichen“ genähert. Die Tatsache, dass jemandem etwas auffällt, stiftet jedoch noch keine Orientierung. Wer Zeichen „wahrnimmt, muss wiederum unterscheiden und entscheiden, welche in einer Situation für ihn von Belang sind, welche nicht.“ 33 Dies spricht eine Kompetenz von Juristen an: die relevanten Zeichen finden, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden, aus vielen Zeichen einen Sachverhalt und eine Norm konstruieren usw.34 28 Vgl. zum pragmatischen Theoriebegriff: Wohlrapp, Begriff, 63 ff. Zur Lehre als Zugang zum Wissen: Wohlrapp, Begriff, 101 ff. 29 Damit verändert sich mit zunehmender Orientierung nicht nur die Aussenseite, sondern auch die Innenseite der Handlungen. Unser Wissen und Handeln verändert auch uns selbst (vgl. Wohlrapp, Begriff, 69 f.). Vgl. zu dieser subjektiven Seite der Argumentation (dem sog. Orientierungssystem): Lueken, Inkommensurabilität, 209 und Wohlrapp, Begriff, 163 ff. 30 Wohlrapp, Begriff, 65. 31 Vgl. oben § 4 III.1. und 2. 32 Auch Stegmaier nähert die Begriffe des Zeichens und der Spur einander an (Anhaltspunkte, 91 ff.). 33 Stegmaier, Orientierung, 269. 34 Vgl. auch Luhmann, 339: „Das Finden der für die Entscheidung relevanten Texte erfordert fachliche Kompetenz und ist so ein zentrales (oft übersehenes) Moment juristischen Könnens.“
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Gewisse Zeichen fallen auf, weil sie markant sind.35 Man hält sich länger bei ihnen auf und kehrt zu ihnen zurück. Markanz ist ein Selektionskriterium. Etymologisch weist das Wort sowohl auf „auffallend“, „ausgeprägt“, „einprägsam“ und dadurch „abgrenzend“ hin.36 Dies führt zu Markierung, Markstein, Grenze, ein Territorium markieren. Sezessionskonflikte sind gerade auch Konflikte um solche Markierungen. Sezessionisten versuchen, sich durch abgrenzende Markierungen abzuspalten. Es ist gerade dieses „Fakten schaffen“, das gemäss dem Effektivitätsprinzip für die Entstehung eines neuen Staates entscheidend ist.37 Wer behauptet, dass eine Sezession zu einem neuen Staat geführt hat, kann auf diese Markierungen verweisen. Von hier finden wir auch wieder zu Derrida zurück, der die Begriffe der Schrift und des signe (Schriftzeichen) ebenfalls vom Begriff der Marke (marque) her entwickelt.38 Eine erste Orientierungsfunktion von Zeichen ist somit, etwas zu markieren. Aber was? Gemäss Stegmaier markieren Zeichen Anhaltspunkte der Orientierung. Die Bewegung der Orientierung hält an Zeichen an und sich vorläufig an sie.39 Vorläufig, weil noch nicht klar ist, ob der Anhaltspunkt auch haltbar ist; ob er „wirklich hilft, Übersicht über die Situation zu schaffen und Handlungsspielräume zu erschliessen.“ 40 Die Zeichen sind erst aufgefallen, noch ist nicht klar, ob sie uns einen Handlungsspielraum erschliessen. Wir müssen uns zuerst – soweit als möglich – ihren Verweisungszusammenhang erschliessen und abschätzen, ob wir die so erschlossene Orientierung auch gebrauchen können. Die Reaktualisierung der Zeichen stellt die neu erlangte Orientierung in eine Kontinuitätsbeziehung zur schon einmal dagewesenen und verweist auf künftige: „Spuren [stellen] einen Wiedererkennungseffekt in Aussicht, der eintreten kann oder auch nicht, und es könnte eben diese Spannung sein, die die oft so beschwerliche Orientierung immer neu attraktiv macht.“ 41 Zeichen markieren den Ort potentieller Orientierung. Für eine Praxis ergibt sich daraus die Forderung, solche markanten Spuren zu speichern und den Praxisteilnehmern zur Verfügung zu stellen.42 Umgekehrt heisst das, dass das Vermögen der Produktion, Speicherung und Veröffentlichung markanter Zeichen die künftige potentielle Orientierung beeinflusst.43 35
Stegmaier, Orientierung, 271. Stegmaier, Orientierung, 271. 37 Vgl. Kohen/Hébié, Rz. 25 ff. 38 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext. Auf diesen Zusammenhang weist Stegmaier hin (Orientierung, 272, Fn. 5). 39 Stegmaier, Anhaltspunkte, 90. 40 Stegmaier, Anhaltspunkte, 91. 41 Stegmaier, Anhaltspunkte, 92. 42 Vgl. für völkerrechtliche Verträge und Völkergewohnheitsrecht oben § 4 IV.1.b). 43 Vgl. z. B. Cassese, der darauf hinweist, dass nur die Staatenpraxis von einigen westlichen Staaten in Zeitschriften und Digesten zugänglich und eine Analyse dieser 36
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Als Jurist sucht man Spuren nicht wie der Jäger im Wald. Man muss nicht für jeden neuen Fall in die Rechtsbibliothek und alle Bücher lesen. Wenn man schon orientiert ist, kann man gezielt nach Büchern und in Büchern nach Randziffern suchen, um sich in jedem Fall neu zu orientieren. Vorausgesetzt, dass die Bücher nicht verschwunden sind und man sich daran erinnert. Eine zweite Funktion ist deshalb darin zu sehen, dass die Orientierung an den Zeichen etwas hat, das stehenbleibt.44 Schriftzeichen können das Gedächtnis entlasten – man muss nur behalten, wo sie „stehen“ und dort wieder „nachsehen“.45 Auch das ist eine wichtige juristische Kompetenz. Wer gelernt hat, wo er nachschauen muss und wie er die so erschlossenen Zeichen in einer Praxis gebrauchen kann, ist durch Zeichen orientiert. Er kann sie dann konventionell gebrauchen. Der Spurensucher wird als Zeichengebraucher Teil der Zeichenpraxis. Als Zeichenpraxis wurde ein in einem Handlungsfeld konventioneller Gebrauch von Zeichen bezeichnet.46 Diese Konventionalität wurde als Gleichförmigkeit im Gebrauch umschrieben. Dies impliziert eine gewisse Regelmässigkeit. Eine solche kann Vertrautheit stiften.47 Nicht jeder neue Fall wirft uns in einen Zustand der Desorientierung. Wir haben schon gewisse Anhaltspunkte und wissen, wo wir weitere finden. Die Reaktualisierung dieser Anhaltspunkte führt zu einem regelmässigen Gelingen der Orientierung.48 Die Frage, ob die Schweiz ein Staat ist, führt zu einem anderen Zustand der Orientierung als die Frage, ob der Kosovo ein Staat ist. Diese Orientierung an Vertrautem gelingt jedoch nicht immer gleich. Die Frage, ob der Kosovo ein Staat ist, hat sich bei der Unabhängigkeitserklärung von 1991 anders gestellt als 2003 und 2008. Erst diese letzte Unabhängigkeitserklärung hat zu einem Verlust vertrauter Anhaltspunkte geführt. Sollte die Konsolidierung der kosovarischen Staatlichkeit gelingen, so könnten die Fragen nach der schweizerischen und der kosovarischen Staatlichkeit künftig wieder zu einem gleichen Zustand der Orientierung führen. Das regelmässige Gelingen kann als Routine bezeichnet werden. Ein Wort, das auf die „route“ (den Weg) verweist.49 Bezogen auf die Begründung einer Entscheidung ist man darüber orientiert, wie der Weg von einer Behauptung zu ihrer
Praxis daher „highly selective“ sei (Self-determination, 93). Seit 2002 wird beispielsweise die chinesische Praxis im CJIL publiziert. 44 Stegmaier, Orientierung, 275 ff. 45 Die Gedächtnisforschung weist darauf hin, dass die Funktion des Gedächtnisses nicht primär korrekte Wiedergabe, sondern angepasste Wiederverwendung – man könnte sagen: Reaktualisierung – vergangener Zustände ist (Stegmaier, Orientierung, 307 ff., 310). 46 Vgl. oben § 4 III.3. 47 Stegmaier, Orientierung, 302 ff. 48 Stegmaier, Orientierung, 304. 49 Stegmaier, Orientierung, 304.
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Begründung zurückgelegt werden kann.50 Wer in einer Zeichenpraxis orientiert ist, weiss, welche Anhaltspunkte zu reaktualisieren sind, um eine getroffene Entscheidung zu begründen. Er kann Begründungen routiniert reaktualisieren und sich dadurch orientieren. Wer sich in Routinen orientieren kann, verfügt über ein „Orientierungswissen“ 51. b) Orientierung durch Reflexion der Praxis aa) Primäre, theoretische und theoriegeleitete Praxis Orientierung kann man sich durch das Erlernen der Gelingensstrukturen der Praxis verschaffen. Wohlrapp koppelt den Begriff der Theorie funktional an diese Gelingensstrukturen und formuliert so einen pragmatischen Theoriebegriff: Eine Theorie soll die Gelingensbedingungen der Praxis darstellen.52 In dieser Funktion dient die pragmatische Theorie „dem Gewinnen, Bestimmen, Prüfen von Orientierung, die die Welt, ausgehend von praktischen Bezügen, überschaubar macht.“ 53 Um das Verhältnis von Theorie und Praxis näher darzustellen, wird hier eine Differenzierung eingeführt, die von Geert-Lueke Lueken erarbeitet wurde.54 Das Verhältnis wird meist so dargestellt, dass Praxis die Anwendung von Theorie sei; eine Zweiteilung, in welcher Theorie das Schema bereitstellt, das in der Praxis aktualisiert wird.55 Lueken lässt diese Dichotomie fallen und setzt Theorie und Praxis in ein reflexives Verhältnis zueinander. Er unterscheidet zwischen einer primären, einer theoretischen und einer theoriegeleiteten Praxis. In der primären Praxis ist das selbstverständliche Können vorherrschend.56 Es ist ohne grosse theoretische Anstrengung zugänglich. In diesem Bereich ist ein Handeln möglich, das weder bewusst auf theoretische Annahmen rekurriert noch über sie verfügt. Der Akteur braucht keine Theorie, um sich zu orientieren. Er kann sich mit Hilfe eines alltäglichen Könnens in der Praxis bewegen. Die Einführung in die Praxis geschieht durch Erprobung, nicht durch Aneignen des Wissens über die Praxis.57 Wer das erste Mal an eine Wasserpumpe herantritt, kann durch Erproben versuchen, Wasser zu pumpen; er muss dafür nicht über ein Wissen verfügen, das die Funktionsweisen von Kolben-, Plunger-, Kreiselpumpen oder archimedischen Schrauben und hydraulischen Widdern erklärt. Das Können 50 51 52 53 54 55 56 57
Vgl. zur Metapher des Wegs unten § 5 III.2.b). Stegmaier, Orientierung, 306. Wohlrapp, Begriff, 55, 71. Wohlrapp, Begriff, 71. Lueken, Inkommensurabilität, 174 ff. Vgl. oben § 4 I. Lueken, Inkommensurabilität, 176 ff. Vgl. zum Wissen sogleich § 5 II.2.b)bb).
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ist immer situationsbezogen und es kann durch Vormachen und Nachahmen weitergegeben werden. Entscheidend ist, dass das Können nicht als Aktualisierung einer Theorie ausgegeben wird. In der primären Praxis wird die Situation bewältigt, ohne dass ein Geltungsanspruch thematisiert wird. Daher führt das Gelingen bzw. Misslingen der Handlung nicht zu einer Bestätigung bzw. Infragestellung der Theorie. Der Bereich der primären Praxis wird verlassen, sobald der theoretische Aspekt der Handlung in den Vordergrund tritt. Dies geschieht beispielsweise, wenn die Handlungen in der primären Praxis nicht mehr gelingen und man die dadurch auftretenden Probleme nicht mit den Handlungen der primären Praxis bewältigen kann. Wenn im Falle von Problemen und Konflikten Geltungsfragen auftauchen, wird der Bereich der primären Praxis verlassen. Die Orientierungssuche geht anders vonstatten. Durch die Distanzierung von der primären Praxis begibt man sich in eine theoretische Praxis. Der Begriff der theoretischen Praxis wird mit Lueken demjenigen der Theorie vorgezogen, weil er auf den Handlungsaspekt auch dieser Praxis hinweist. Der Schritt wird durch eine Distanzierung vollzogen: „Wir kommen aus der Ebene der Praxis in die der Theorie durch einige besondere Schritte, die in der Philosophie ,Reflexion‘ genannt worden sind. Diese Reflexion ist eine Distanzierungsoperation, mit ihr treten wir heraus aus dem Eingebundensein in die Praxis [. . .].“ 58
Das aufgetretene Problem wird anders behandelt als durch unreflektiertes Können. Es werden Anstrengungen unternommen, um das Problem als solches zu beschreiben und sich angesichts der Situation neu zu orientieren. Auch diese theoretisierende Reflexion ist ein primärpraktisches Können, sie setzt ein Handelnkönnen voraus. Der Übergang kann vollzogen werden, ohne dass man damit aus einem Zeichengebrauch heraustritt. Die Orientierung in Zeichen kann helfen, „sich von der jeweiligen Situation zu lösen und ,allgemein‘ und, bei weiterer schrittweiser Lösung der Zeichen von den Situationen ihres Gebrauchs, schliesslich ,theoretisch‘ zu sprechen.“ 59 Man löst sich im Zeichengebrauch von der primärpraktischen Situation und versucht von einer distanzierten Position aus, das aufgetretene Problem zu lösen. Diese Distanzierung kann mit einer Abstraktion der einzelnen Situation einhergehen. Dadurch wird die einzelne Situation mit anderen vergleichbar. So kann der Konflikt im Kosovo eben beispielsweise als Sezessionskonflikt betrachtet werden. Damit werden die Konfliktparteien in abstraktere Kategorien eingeordnet (Staat und Sezessionisten). Ein so abstrahierter Konflikt kann nun mit anderen Konflikten der gleichen Kategorie verglichen werden. Dies ermöglicht ein Vergleich zwischen so unterschiedlichen Situationen 58 Harald Wohlrapp, Über die philosophischen Voraussetzungen konstruktiver Begründungen, Vortrag auf dem Leibniz-Kongress, Hannover 1983, 2 (zitiert nach: Lueken, Inkommensurabilität, 178 f.). Vgl. auch Wohlrapp, Begriff, 445 ff. 59 Stegmaier, Anhaltspunkte, 92.
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wie der Sezession des Kosovo mit der Staatsentstehung Bangladeschs, den Sezessionsversuchen von Katanga und Südrhodesien oder der Unabhängigkeitserklärung der USA. In der theoretischen Praxis wird Theorie geprüft und gebildet. Entscheidend für die Unterscheidung zwischen primärer und theoretischer Praxis ist der Geltungsanspruch. Dieser wird erst in letzterer erhoben: „Was [. . .] als [Theorie] auftritt, beansprucht, sich durch seine Begründbarkeit von blossem Glauben oder Meinen unterscheiden und als geltend ausweisen zu können. Der Anspruch wird eingelöst, indem er begründet wird. [. . .] Das Medium der Begründung ist die Argumentation. Ihre argumentative Überzeugungskraft gewinnt eine Begründung dadurch, dass sie, sofern auf gemeinsam verfügbares Wissen nicht rekurriert werden kann, zunächst nur primärpraktisch Gekonntes in Anspruch nimmt, um daraus schrittweise das als gewusst Beanspruchte zu gewinnen. Die schwierigsten und wichtigsten Schritte sind dabei die Distanzierungs- und Reflexionsschritte, durch die die Gegenstände konstituiert werden.“ 60
In der Argumentation kann damit auf bereits vorhandene Theorie zurückgegriffen werden, um den erhobenen Geltungsanspruch einzulösen. Ist dieses nicht verfügbar, so muss die Argumentation auf das vorhandene Können abgestützt werden. Schon vorhandene Theorien erheben den Anspruch, die Praxis zu orientieren. Orientiert sich ein Handeln in einer Praxis an solchen Theorien, so spricht Lueken von theoriegeleiteter Praxis.61 In der theoriegeleiteten Praxis wird die Theorie als Orientierung im Handeln verwendet. Sie kann in der theoretischen Praxis verwendet werden, um erarbeitete Theorien mit bereits vorhandenen zu vergleichen, zu erproben usw. Orientiert sich das Handeln zur Lösung primärpraktischer Probleme daran, so kommt es zu theoriegeleiteter Praxis auf primärpraktischer Stufe. Im Idealfall gelingen die Handlungen (wieder) und die Akteure können sich an neu erarbeiteten Theorien orientieren. In der theoriegeleiteten Praxis stellt nicht nur die Theorie die Gelingensbedingungen der Praxis dar, auch die „prozessuale Praxis repräsentiert – wenn auch zeichenhaft in verkürzter Form – Theorie.“ 62 Bewährt sich die Orientierung daran und wird diese zur Gewohnheit, tritt der Geltungsanspruch wieder in den Hintergrund. Die Theorie wird eingeübt und mit der Zeit gekonnt, ohne dass sie jeweils aktualisiert werden müsste. Die Geltungsfrage tritt zurück, das theoriegeleitete Handeln geht in die primäre Praxis über. 60 Lueken, Inkommensurabilität, 181. Lueken verwendet den Wissensbegriff für das, was hier als Theorie bezeichnet wird. Wissen ist hier eine besondere Art von Theorie und nicht die einzige, die in einer Argumentation reaktualisiert werden kann. Vgl. zu dieser Dynamisierung sogleich § 5 II.2.b)bb) und cc) sowie § 5 II.1. 61 Lueken, Inkommensurabilität, 181 f. Der hier verwendete Wissensbegriff wird weiter unten noch dynamisiert: vgl. § 5 II.2.b)bb) und cc). Und für die Auswirkungen dieser Weiterentwicklung auf den Begriff des Arguments: unten § 5 II.3. 62 Seibert, Zeichen, Prozesse, 10.
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Das Verhältnis zwischen pragmatischer Theorie und Praxis wird hier als reflexiv und historisierend dargestellt. Durch theoretische Reflexion lässt sich die Praxis stabilisieren und in der Praxis lassen sich die neuen Theorien untereinander und mit den alten verbinden und erproben. In der historisierenden Reflexion zwischen Theorie und Praxis kann nun zwischen Theorien unterschieden werden, die schon formuliert und in die Praxis eingegangen und solchen, die erst im Entstehen begriffen sind. Während erstere ihre orientierende Funktion schon voll wahrnehmen, erheben letztere erst den Anspruch, dies zu können. Umgekehrt kann die Praxis dazu führen, dass orientierende Theorien ihre orientierende Wirkung verlieren. Es gibt somit unterschiedliche Arten von pragmatischen Theorien. Solche, die ihre praxisorientierende Funktion schon wahrnehmen, bezeichnet Wohlrapp als „epistemische Theorien“. Er unterscheidet zwischen Wissen [bb)] und weiterer epistemischer Theorie [cc)]. bb) Orientierung durch Wissen Wissen ist eine besondere Art von Theorie. Wer sie reaktualisiert, kann Geltungsanspruch auf eine besonders „abgeschlossene Weise“ 63 erheben.64 Wohlrapp grenzt Wissen mit Hilfe von vier Kriterien von anderen pragmatischen Theorien ab: Neben der bereits beschriebenen Praxisorientierung sind dies die Realisierung, der methodische Aufbau und die Kohärenz der Theorie.65 Eine realisierte Theorie ist derart in die Wirklichkeit eingegangen, „dass sie die Welt und die Menschen gestaltet.“ 66 Die brennende Glühbirne im Zimmer ist realisierte „chemische, physikalische und ästhetische Theorie, die über die Jahrhunderte gebildet worden ist.“ 67 Soziales Wissen ist in der öffentlichen Verwaltung, in politischen Institutionen, in der Trennung von Innen- und Aussenpolitik usw. realisiert. Realisierte Theorie ist derart in die Praxis eingegangen, dass sie teils nicht mehr wahrgenommen wird und uns durch historische Forschung bewusst gemacht werden muss. Ein Beispiel einer dynamischen Veränderung realisierter Theorie, die wahrgenommen wird, ist die Computerisierung unseres Lebens. Ein völkerrechtliches Beispiel ist die Weiterentwicklung der Souveränitätstheorie durch die Responsibility to Protect.68 63
Wohlrapp, Begriff, 86. Das heisst nicht, dass nicht auch dieser Geltungsanspruch argumentativ infrage gestellt werden kann. Dies ist aufgrund der retroflexiven Struktur der Argumentation grundsätzlich möglich. Vgl. dazu unten § 5 III.5.b). 65 Wohlrapp, Begriff, 87. 66 Zur Realisierung: Wohlrapp, Begriff, 88. 67 Wohlrapp, Begriff, 88. 68 Diese begann auch als thetische Theorie (Deng/Kimaro/Lyons/Rothchild/Zartman) und wirkt heute, zumindest in gewissen Bereichen, praxisorientierend (vgl. S/ RES/1970 [2011], Abs. 9). 64
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Eine weitere Voraussetzung von Wissen ist der methodische Aufbau.69 Sie betrifft die innere Organisation der Theorie. Für das Wissen als pragmatische Theorie ist damit nicht eine axiomatische, sondern eine „pragmatische Ordnung“ 70 gemeint. Diese besagt schlicht, dass die Theorie so geordnet sein muss, dass sie darstellen und erklären kann, durch welches Handlungsschema man von einem Situationsmerkmal zum nächsten kommt: Durch Backen wird Teig zu Brot; wer ein Haus bauen will, muss ein Fundament legen; wer ein Gutachten des IGH will, muss die Willensbildung in einem zur Anfrage berechtigten Organ dahingehend beeinflussen, dass dieses eine Anfrage formuliert und verabschiedet. Wer die Reihenfolge nicht befolgt, verstösst nicht gegen eine normative Forderung der Theorie, sondern scheitert in der Praxis. Die Handlung wird wahrscheinlich misslingen. Das heisst nicht, dass die Schritte auch in der Theorie misslingen. Sie können als fiktive Schritte einer methodischen Ordnung theoretisch gelingen, obwohl sie dann in der Praxis misslingen. In einem argumentativen Dialog würde dies allenfalls zu einem Einwand gegen die Theorie führen. Ebenso könnte die Handlung in der Praxis gelingen, obwohl die theoretischen Schritte nicht befolgt wurden. Dies könnte zu einem Wechsel in die theoretische Praxis und zur reflexiven Verbesserung der Theorie führen. Für Wohlrapp ist die methodische Ordnung einer Theorie, die sich aus der pragmatischen Ordnung der Praxis ergibt, nicht zwingend ein Kriterium dafür, ob eine Theorie besser oder schlechter ist, sondern ein Gradmesser ihrer Geltung. Bei Theorien, die einen Geltungsanspruch als Wissen erheben können, ist der Aufbau, der sich aus der pragmatischen Ordnung ergibt, methodisch durchschaut.71 Das letzte Kriterium, das Wohlrapp einführt, ist die Kohärenz. Hier stützt sich Wohlrapp auf die Kohärenztheorie der Wahrheit, schwächt den Kohärenzbegriff aber ab: Wird die Kohärenz als Wahrheitstheorie konzipiert, so ergibt sich die Wahrheit einer Theorie daraus, dass sie sich in das Gefüge von wahren Theorien einfügen lässt.72 Hier gilt die Kohärenz aber nicht als Gradmesser für die Wahrheit einer Theorie, sondern für ihre Orientierungsleistung in der Praxis. Daraus ergibt sich, dass „neue Theorie, die als Wissen auftreten möchte, [. . .] zu Theorie, bei der die Orientierungsleistung schon stabil ist, passen“ 73 muss.
69
Wohlrapp, Begriff, 88 f. Wohlrapp, Begriff, 90 m. H. auf Hugo Dingler, Die Methode der Physik, München 1938, 116. 71 Vgl. zur „pragmatischen Ordnung“: Wohlrapp, Begriff, 90. 72 Auch hier liesse sich das Thema der Wahrheitstheorien und ihrer rechtstheoretischen Rezeption stark vertiefen. Aus Rücksicht auf die Funktion dieses Aspekts für die Konzeption der Argumentationstheorie kann hier nur auf weiterführende Literatur verwiesen werden: zur Einführung Marian David, The Correspondence Theory of Truth, in: Edward E. Zalta (Hrsg.), SEP, Fall 2013 Edition (http://plato.stanford.edu/archives/ fall2013/entries/truth-correspondence/) m.w. H.; vgl. auch Kaufmann, 19 ff.; Patterson, Recht und Wahrheit, 1 ff., 53 ff. 70
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Zusammenfassend ist Wissen pragmatische Theorie, die den qualifizierten Anforderungen der Praxisorientierung, der Realisierung, des methodischen Aufbaus und der Kohärenz genügt. Damit ist weder ein objektiver noch ein stabiler Wissensbegriff eingeführt.74 Theorien können in der Praxis scheitern, ihre Orientierungsleistung einbüssen oder sich als methodisch falsch herausstellen. An ihre Stelle können andere Theorien treten, welche die – allenfalls veränderten – Gelingensstrukturen besser symbolisieren. Darüber hinaus ist eben auch die theoretische Praxis eine Zeichenpraxis. Daraus folgt, dass das Wissen nicht identisch reproduziert, sondern differentiell reaktualisiert wird. Die Dynamik des Wissens ist somit nicht nur pragmatisch, sondern auch semiotisch bedingt.75 cc) Weitere epistemische Theorie Neben Wissen gibt es weniger stark orientierende Arten von Theorie, die in einer Argumentation ebenso als Basis dienen können. Wohlrapp fasst diese Theorien als „doxastische Theorien“ zusammen.76 Der Begriff „Endoxa“ geht auf Aristoteles zurück und wird umgangssprachlich mit „anerkannte Meinung“ übersetzt. Die doxastische Theorie im Wohlrapp’schen Sinne ist nicht als eine allgemein akzeptierte oder herrschende Meinung zu verstehen, sondern als Theorie, der in der Praxis eine orientierende Funktion zukommt, die aber den verschärften Anforderungen des Wissens (noch) nicht genügt. Es gibt also Personen, die in der Praxis mit dieser Theorie arbeiten, aber ihre Geltung bleibt hinter derjenigen des Wissens zurück; sei es, weil sie zur Zeit nicht infrage gestellt wird, sei es, weil uns die Infragestellung nicht weiter bringt.77 Neben dieser doxastischen Theorie, der eine orientierende Funktion in der Praxis zukommt, weil sie geglaubt wird und zur Zeit nicht fraglich ist, führt Wohlrapp noch das „mundane oder lebensweltliche Wissen“ sowie die sinnstiftenden
73 Wohlrapp, Begriff, 94. Vgl. für einen aus diesem Wissensbegriff in Auseinandersetzung mit Edmund Gettiers Wissensbegriff entwickelten Wahrheitsbegriff: Wohlrapp, Begriff, 95 ff. 74 Vgl. zum „objectification mistake“: Koskenniemi, Apology, 537 f. m. H. auf Raymond Geuss, The Idea of a Critical Theory. Habermas & the Frankfurt School, Cambridge 1981, 71 ff. 75 Auf die Frage, wer völkerrechtliches Wissen produziert, beeinflusst, speichert, zur Verfügung stellt, modifiziert usw. kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu D’Aspremont, Epistemic Forces. 76 Wohlrapp, Begriff, 98. Damit hat Wohlrapp seine Terminologie im Vergleich zu älteren Publikationen leicht verändert. Was vorher doxastische Theorie war, ist jetzt epistemische. Epistemische Theorie bezeichnet jetzt Wissen und doxastische Theorie (vgl. den Hinweis bei Wohlrapp, Begriff, 99, Fn. 76). 77 So Wohlrapp, Begriff, 100.
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(insbesondere religiösen) Vorstellungen als wichtigste Kategorie doxastischer Theorie ein.78 3. Zwischenfazit: Argumentieren auf sicherer Basis als Erklären Epistemische Theorie ist die sichere Basis, auf die wir zurückgreifen können, um uns in einer Praxis zu orientieren. Sie ist nicht identisch verfügbar, sondern differentiell reaktualisierbar. In stabilen Praxen wird ihre Reaktualisierung in der Aussendimension etwa das bewirken, was im Entwurf vorgesehen war. Solange wir in Praxen so handeln können, sind wir orientiert. Wir können uns erklären, warum und wie unsere Handlungen gelingen. Aus diesem pragmatischen Zustand leitet Wohlrapp den ersten pragmatischen Modus des sprachlichen Handelns ab: das Erklären. Ob dies beim Gegenüber zu einer Einsicht führt oder nicht, ist offen. Entscheidend ist, dass das Gelingen oder Misslingen von Handlungen in der Praxis mit epistemischer Theorie erklärt werden kann. Nicht die Akzeptanz, sondern die Orientierung ist das Geltungskriterium. Dieser Zustand der Orientierung ist eine Leistung, die in einer Praxis erbracht werden kann oder nicht. Letzteres führt uns zum zweiten pragmatischen Zustand, dem der Desorientierung. Desorientierung ist nicht Orientierungslosigkeit.79 Sie kann negativ als Zustand umschrieben werden, in dem wir nicht orientiert sind. Die Reaktualisierung epistemischer Theorie führt nicht zu ausreichender Orientierung. Entweder ist noch keine Theorie vorhanden, die reaktualisiert werden kann, die Theorie ist widersprüchlich oder klarerweise in der Praxis gescheitert oder mehrere, im Widerstreit stehende Theorien bieten sich an. In diesen Fällen können wir uns nicht im pragmatischen Modus des Erklärens orientieren. Wir müssen in einen anderen Modus wechseln: „Der eine Modus ist der des Fraglichen, Unsicheren, das der Stütztung bedarf, der andere ist der des Sicheren und Festen, das zur Stützung benutzt wird.“ 80 Gestützt auf diese Unterscheidung wird nun der Modus des Fraglichen dargestellt.
III. Der Übergang: Geltungsbezogenes Argumentieren 1. Die Suche nach Orientierung a) Die Quaestio Wenn Orientierung fehlt, kann man sich die Praxis nicht erklären und man kann sich das Wissen auch nicht durch Lernen aneignen. Es braucht eine andere kognitive Tätigkeit, die uns neue Orientierung erschliesst. Wohlrapp nennt diese Tätigkeit „forschen“.81 78 79 80
Wohlrapp, Begriff, 100 f. Lucker, 227. Wohlrapp, Begriff, 47.
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Der Forschungsbegriff ist wiederum pragmatisch und funktional. Er zielt auf Verbesserung, Vervollständigung oder Korrektur der Orientierung.82 Daraus folgt, dass Forschung nicht auf reinen Wissensdurst oder Freude an der intellektuellen Betätigung reduziert werden kann. Im Zentrum steht vielmehr die Forschung als Reaktion auf ein praktisches Bedürfnis. Forschen besteht dann im Verfolgen dieses Bedürfnisses. Es kommt nicht nur zur Forschung, weil in einem Bereich beispielsweise Wissen fehlt. Es gibt Praktiken, in denen man sich gut bewegen und handeln kann, ohne das Wie und Warum des Gelingens durchschaut zu haben. Forschung setzt eine gewisse Erfassung eines praktischen Problems, einer Forschungsfrage, eines Widerspruchs voraus. Dies impliziert, dass dort, wo geforscht wird, nicht alles fraglich sein kann. Wenn etwas erfasst wurde, wurde es schon als etwas erfasst.83 Die Sezession wird schon als Abspaltung von einem anerkannten Völkerrechtssubjekt erfasst. Darüber hinaus wird im sezessionsrechtlichen Schrifttum der Dekolonialisierungkontext als Spezialfall unterschieden. Erst diese Setzungen und Unterscheidungen bringen die Quaestio um die Sezession ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts hervor. Ein Zustand totaler Desorientierung kann somit nicht erforscht werden. Gewisse Annahmen müssen eine zumindest vorläufige doxastische Geltung haben. Desorientierung allein führt noch nicht zu Forschung. Die Grenze der Orientierung muss als problematisch wahrgenommen werden.84 Ein solcher Zustand geht über einen vorliegenden Dissens oder Meinungskonflikt hinaus. Auch hier unterscheidet sich die geltungsbezogene Argumentation von rhetorischen Argumentationstheorien. Die Tatsache, dass die Auslegung eines völkerrechtlichen Begriffs umstritten ist, führt somit noch nicht zu Argumentation.85 Solange das Problem durch rechtliches Wissen beantwortet werden kann, erfolgt die Austragung des Disputs im pragmatischen Modus des Erklärens. Dies führt zu einer Reaktualisierung alten Wissens, aber nicht zu neuer Forschung. Zwischen den Beteiligten kann es dann zu einem Lehrer-Schüler-Verhältnis kommen und eine Seite kann den Disput dadurch schlichten, dass er durch Erklärung das nötige Wissen vermittelt. Kommt es dann zu einer Einigung, hat die eine Seite die andere überzeugt und es besteht wieder ein Konsens. Dieser Erfolg sagt jedoch nichts über die theoretische Basis aus, die im Verlaufe des Dialogs bearbeitet wurde.
81
Wohlrapp, Begriff, 107 ff. So auch Friedrichs/Kratochwil, 706, 716. 83 Vgl. dazu unten § 5 III.4.a). 84 Vgl. zum Begriff des „Problems“: Wohlrapp, Begriff, 114. 85 Dies ist der Ausgangspunkt der rhetorischen Argumentation: vgl. Bianchi, 41 m. H. auf die Neue Rhetorik von Chaïm Perelman (Logique juridique. Nouvelle rhétorique, Paris 1990, 36). 82
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Die Desorientierung muss problematisch sein. Wohlrapp umschreibt den Problembegriff wie folgt: „Die Grundstruktur des Problems als Impuls für die Forschung besteht aus: (a) einer eingrenzbaren Lücke in der Orientierung, die als offene Frage, fehlende Erklärung, hartnäckiger Widerspruch erscheint, (b) einem schwer abweisbaren Bedürfnis, die Orientierungslücke zu beheben, (c) dem Fehlen eines eindeutigen Lösungswegs, (d) einem Hintergrund von Orientierungen, die als epistemische Theorie zur Verfügung stehen, um das Problem zu artikulieren, Lösungsentwürfe zu formulieren und gedankliche Wege zur Lösung zu konstruieren.“ 86
Um diese qualifizierte Situation vom umgangssprachlichen Problembegriff abzugrenzen bezeichnet sie Wohlrapp als „Quaestio“.87 Um die Quaestio zu bearbeiten, kann man sich nicht mehr nur auf epistemische Theorie stützen, man muss diese auf die Lösung des Problems hin überschreiten. b) Die thetische Konstruktion Mit der Bearbeitung des aufgetretenen Problems beginnt die Forschung. Die bisherige epistemische Theorie ist im Forschungsprozess alte Theorie, die sowohl Stütze als auch Blockade sein kann. Es ist ja u. a. die alte Theorie, die das Problem hervorbringt. Zur Bearbeitung der Quaestio ist neue Theorie zu entwickeln und in der Praxis Schritt für Schritt zu erproben.88 Auf diese Weise entsteht neue Theorie, die noch nicht epistemisch, sondern erst „thetisch“ ist.89 Die Spitze der thetischen Theorie ist die These als Antwort auf die Quaestio.90 Im Gutachterverfahren wurden verschiedene Thesen formuliert: Der Vorgang der Sezession ist völkerrechtlich nicht geregelt; die Sezession ist völkerrechtlich verboten; ein Recht zur Sezession kann sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ergeben usw. Sie unterscheidet sich dadurch von der Hypothese, dass sie nicht rein kongnitiv, sondern in Übereinstimmung mit dem hier verwendeten pragmatischen Theoriebegriff auch handlungsleitend ist. Wer eine These vertritt, versucht auch nach ihr zu handeln. Er vertritt sie im Gutachterverfahren und versucht damit, sie vor dem IGH durchzusetzen. Falls dieser die These übernimmt, kann man diesen autoritativen Anhaltspunkt in künftigen Begründungen reaktua86
Wohlrapp, Begriff, 118 f. Der Begriff der „Quaestio“ ist dann wiederum vom römischen (Straf-)Verfahren und der gleichnamigen scholastischen Lehrmethode abzugrenzen. 88 Zur neuen Theorie: Wohlrapp, Begriff, 120 ff. 89 „Thetisch“ vom griechischen Wort „tithèmi“, also „setzen“ oder „aufstellen“ (Wohlrapp, Begriff, 47, Fn. 1). 90 In juristischen Prozessen, in denen Akteure antagonistische Positionen einnehmen, kann sich diese Funktion der These verdoppeln: Sie ist nicht nur die Spitze der thetischen Theorie, sondern auch die Spitze des Dissenses (vgl. Christensen/Sokolowski, 109). 87
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lisieren. Neben anderem geht es in Rechtsverfahren genau um diesen „ideological stake“ 91. Mit Weller könnte man sagen, dass sich Rechtsverfahren darin von Schachpartien unterscheiden, dass man nicht ums Gewinnen, sondern um die Regeln selbst spielt. Wer ein Spiel gewinnt, ändert die Regeln für das nächste Spiel.92 Der Gerichtshof entscheidet durch Gutachten oder Urteil über die Konventionen des konventionellen völkerrechtlichen Sprachgebrauchs. Die Anerkennung dieser Macht des Gerichtshofs ist eine Konvention der völkerrechtlichen Praxis, die in der Regel durch Reaktualisierung befolgt wird. Der Geltungsanspruch der thetischen Konstruktion ergibt sich daraus, dass sie den Entwurf einer Lösung formuliert. Sie erlaubt den kognitiven Übergang von der epistemischen Theorie zur These. Wer sie vertritt, kann somit nachweisen, dass es zumindest einen vorläufig gültigen Weg („route“) von der epistemischen Theorie zu seiner These gibt. Er schlägt der Praxis eine neue Routine vor, die das Potenzial hat, Orientierung zu schaffen. Die These wird in der thetischen Konstruktion reflektiert.93 Es wird gezeigt, dass sich die These aus der theoretischen Basis ergibt, dass sich die These „erreichen“ lässt. Diese thetische Konstruktion setzt sich aus reaktualisierter epistemischer Theorie und neuer Theorie zusammen. Damit wird die Orientierungsgrenze überschritten und gezeigt, warum gerade diese These als neue Orientierung gelten kann. Die These ist nicht eine Entscheidung, sondern eine Behauptung. Wer sie vertritt, hat schon entschieden, sie zu vertreten. Indem er sie vertritt, behauptet er, dass das die richtige Antwort auf die Quaestio ist.94 In der thetischen Konstruktion zeigt er auf, warum das so ist und inwiefern es sich aus der theoretischen Basis von epistemischer und thetischer Theorie ergibt. Die in der Praxis auftretende Quaestio setzt also einen Zeichengebrauch in Gang, durch den sie reflektierend behandelt wird. Die epistemische Theorie, die in diesen Prozess eingeht, wird nicht einfach als positives Einzelglied übernommen, sondern sie wird reaktualisiert. Auch die epistemische Theorie ist Teil des durch die Bearbeitung der Quaestio provozierten Zeichengebrauchs. Dies impliziert die Veränderung der epistemischen Basis in der Argumentation. In der Bearbeitung einer Queastio kann sich die epistemische Basis verändern und sie kann sogar verlustig gehen. Dies kann mit der holistischen Dimension der Bedeutungskonstitution erklärt werden.95 Mit Christensen und Sokolowski:
91
Kennedy, 57 ff. Weller, Modesty, 127 f. 93 Vgl. dazu auch unten § 5 III.2.a). 94 Vgl. zur Wichtigkeit der Behauptung für die Rechtspraxis: Patterson, Recht und Wahrheit, 193 ff. 95 Vgl. oben § 4 III.3. 92
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„Die Argumentformen verknoten die einzelnen Rechtsbehauptungen mit dem Netz einer ganzen Textstruktur von Recht. Zugleich aber ist deren Wahrheit strittig. Und mit ihr werden auch die für sie zur Stützung herbeigezogenen Überzeugungen aus dem ganzen Schatz juristischer Kenntnis zur Bewährung ausgesetzt. Mit jedem Argument also, das im Rechtsstreit vorgebracht wird, steht die Stabilität des Netzes in Frage. Und das kann auch gar nicht anders sein, sofern juristisches Argumentieren im Wechselspiel der Interpretation sich als Arbeit an Sprache, als Entscheidung von Bedeutung vollzieht. Weder die Sprachbedeutung so, wie sie in den von den Parteien vorgebrachten Lesarten in Erscheinung tritt, noch die Sprachform so, wie sie dem Juristen mit dem Text als Zeichen von Recht zur Hand ist, sind festgeschürzte Knoten im Netz.“ 96
Durch die Bearbeitung einer Quaestio kann auch die reaktualisierte epistemische Theorie zur Disposition gestellt werden.97 Diesem Umstand trägt Wohlrapp dadurch Rechnung, dass er für die epistemische Theorie, die in die thetische Konstruktion eingeht, einen „Funktions- oder Statuswechsel“ vorsieht: „[. . .] denn die epistemische Theorie ist bewährt in der Praxisleitung, die aber hier gerade nicht mehr (bzw. noch nicht) stattfindet. Dadurch können die Theorieteile Änderungen erfahren. Mindestens werden sie aus dem Zusammenhang, in dem sie als epistemische Theorie fungieren, herausgelöst. Meistens werden sie aber noch auf allerlei Weisen umgebaut, umgedeutet, komprimiert, erweitert. Es werden z. B. Begriffe umgedeutet, in einen unüblichen Kontext gesetzt, bislang unbeachtete Implikationen werden erschlossen, werden an Informationen aus anderen Bereichen assoziiert, Sachverhalte in Analogie zu schon bekannten Sachverhalten gesetzt.“ 98
Dieses Umbauen, Umdeuten, Komprimieren, Umsetzen ist die durch den Zeichengebrauch evozierte Veränderung von Spuren. Wohlrapp vermutet, dass der Lösungsentwurf zuerst etwas Holistisches ist und dann in einem reflektiven Prozess artikuliert, in Teile unterschieden, begründet und beurteilt wird.99 Diese Rechtsarbeit spiegelt sich in einer Beschreibung von Martti Koskenniemi, der als Rechtsberater von Finnland am Gutachterverfahren zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo teilgenommen hat. Er beschreibt die Arbeit an der finnischen Stellungnahme wie folgt: „Descending into the libraries, my colleagues and I examined not only the history of Kosovo or the former Yugoslavia, but the intricacies of Balkan policies in the past century, the relations between the ethnic and religious groups, the forms of external intervention and the role of international bodies in the conflicts. From this we tried to extract a pattern that could be articulated in the applicable legal doctrines of statehood, self-determination, sovereignty, minority rights, secession, use of force and so on. This would enable us to present a ,principled argument‘ that the Court could take to justify its decision. Indeed, it was impossible to argue about the lawfulness of the
96 97 98 99
Christensen/Sokolowski, 148. Wohlrapp, Begriff, 337. Vgl. auch unten § 5 III.4.b). Wohlrapp, Begriff, 127. Wohlrapp, Begriff, 127.
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unilateral declaration of independence without a general view of the significance of nationhood and sovereignty today, the role of international institutions and the experience of war and peacemaking in Europe and more widely. The (universal) legal concepts and the specific histories were then woven together by the legal ,teams‘ in a proposal to decide the case one way or another.“ 100
Die Spurensuche führte von der Geschichte des Kosovo, der SFRJ und des Balkans, den Verhältnissen zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen, der internationalen Intervention und der Rolle von IOs und INGOs über verschiedene völkerrechtliche Doktrinen zu einer verwobenen Argumentation, die der Gerichtshof zur Begründung seiner Entscheidung hätte verwenden können.101 Die thetische Konstruktion ist wie die epistemische Theorie transitorisch: „Sie beginnt nur mit einem Entwurf, der als theoretische Stütze von Probehandlungen fungiert, diese stellen den Kontakt mit der fraglichen Sache her und ihre Auswertung bezieht ihre theoretische Apparatur aus dem Entwurf, diesen auch ggf. ändernd. Zur Bezeichnung dieser genetischen, zyklisch progredierenden Seite der thetischen Konstruktion möchte ich den Ausdruck ,Forschungsprojekt‘ verwenden.“ 102
Der Ort, an dem sich das Forschungsprojekt gerade befindet, bezeichnet Wohlrapp als „Position“. Eine Position zu einer Quaestio zu haben bedeutet, eine ganze thetische Konstruktion aufbieten zu können. Wer eine Position vertritt, kann auf Nachfrage eine Begründung geben, die den mit der These erhobenen Geltungsanspruch sowohl durch Reaktualisierung von epistemischer als auch thetischer Theorie einlösen kann. Eine Position zu vertreten unterscheidet sich so qualitativ von dem bloss subjektiven Vertreten einer Meinung. Die Erprobung dieser Position in der Praxis kann dazu führen, dass sie sich als ganz oder teilweise untauglich erweist. Als Reaktion darauf kann man das Forschungsprojekt modifizieren oder aufgeben. Es gibt Theorie im Projekt, deren Modifikation das Projekt als solches nicht infrage stellt. Es gibt aber auch Theorie, die so wesentlich für das Forschungsprojekt ist, dass ihr Scheitern in der Praxis das ganze Projekt, die ganze thetische Konstruktion infrage stellen würde. Wohlrapp unterscheidet hier in Anlehnung an Lakatos zwischen einem „harten Kern“ und einem „Schutzgürtel“ des Forschungsprojekts.103 2. Argumentation als Prüfung von Geltungsansprüchen Argumentation ist als sprachliches Handeln auf Kommunikation ausgerichtet. In der geltungsbezogenen Argumentationstheorie ist diese Kommunikation weder 100
Koskenniemi, Counterdisciplinarity, 25. Vgl. zur verwobenen Struktur der Zeichen oben § 4 III.2. 102 Wohlrapp, Begriff, 137. 103 Wohlrapp, Begriff, 138 m. H. auf Imre Lakatos, Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974, 89 ff., 146 ff. 101
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ein konsensorientierter Diskurs noch eine erfolgsorientierte Persuasion. Das Kommunikative der Argumentation wird theoretisch als „argumentatives Gespräch zur Prüfung einer These“ 104 erfasst. Die argumentative Kommunikation ist funktional auf das Prüfen von mit Argumenten erhobenen Geltungsansprüchen bezogen. Eine solche Kommunikation nennt Wohrapp „Dialog“.105 Die im Dialog zu verteilenden Rollen sind die des Proponenten (des Vertreters der These) und die des Opponenten (des Kritikers). Die Offenheit der geltungsbezogenen Argumentationstheorie engt die beiden Rollen nicht durch Verhaltensregeln ein, sondern lässt in Übereinstimmung mit dem reflexiven Verhältnis zwischen Theorie und der zu analysierenden Praxis eine fallbezogene Anpassung zu. So kann die Theorie an verschiedene Situationen dialogischer Prüfung – vom Selbstgespräch über die Fernsehdebatte bis zum internationalen Rechtsverfahren – angepasst werden. Die Argumentation wird wie folgt theoretisiert: Erstens werden die argumentativen Grundoperationen eingeführt (3.). Zweitens wird die für eine Argumentation grundlegende Rahmenstruktur dargestellt (4.). Und drittens wird mit Hilfe der erarbeiteten Begriffe auf die Dynamik des argumentativen Dialogs eingegangen (5.). 3. Die Grundoperationen der Argumentation Die Operationen sollen helfen, der in einer Argumentation bearbeiteten Geltungsprüfung zu folgen. Die Argumentation wird durch die Funktion der Geltungsprüfung strukturiert. Vor diesem Hintergrund kann nun auch der Begriff Argument umschrieben werden: „Ein Argument ist ein [. . .] Teil einer Argumentation, welcher eine identifizierbare Funktion innerhalb des Erweises der Geltung oder Nichtgeltung der These hat.“ 106 Argumente werden hier also pragmatisch definiert: Ein Text wird als sprachliche Handlung aufgefasst, die dadurch strukturiert ist, dass in ihr ein Geltungsanspruch erhoben und eingelöst wird.107 Daraus ergibt sich die pragmatische Struktur, die man als Argumentation bezeichnen kann.108 Die nachfolgend dargestellten Operationen strukturieren die interpretativen Eingriffe in den Untersuchungsgegenstand und fallen deshalb minimalistisch aus. 104
Wohlrapp, Begriff, 141. Damit soll diese Theorie insbesondere von diskursethischen und dialektischen Argumentationstheorien abgegrenzt werden. 106 Wohlrapp, Begriff, 192. 107 Wohlrapp, Argumente, 566 f. 108 Wohlrapp verzichtet bewusst auf Individuierungskriterien für Argumente. Diese sollen intuitiv im Hinblick auf ihre geltungsbezogene Funktion hin identifiziert werden und nicht, um sie in quantitativen Vergleichen gegeneinander aufzurechnen (Wohlrapp, Begriff, 317, 325 f.; Wohlrapp, Argumente, 55 ff.). 105
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Wohlrapp unterscheidet zwischen drei Grundoperationen: Behaupten, Begründen und Kritisieren. a) Behaupten Behaupten ist das Vertreten einer These. Eine Behauptung überschreitet die Orientierungsgrenze und stellt den Geltungsanspruch auf, neue Orientierung zu bieten. Aufgrund dieses Anspruchs geht das Behaupten über ein blosses Reden oder das Vertreten einer Meinung hinaus. Im Gegensatz zur Meinung soll die These eben nicht nur für den Proponenten, sondern als Lösung der Quaestio gelten, die sich in einer bestimmten Praxis stellt. Der mit der These erhobene thetische Geltungsanspruch kann am Anfang eines Forschungsprojekts hinter einem Wahrheitsanspruch zurückbleiben. Wer eine These formuliert und behauptet, diese biete neue Orientierung, behauptet nicht zwingend auch, dass sich diese neue Orientierung genau so realisieren lässt und nach der Realisierung in der Praxis wie vorgesehen bewähren wird. Der thetische Anspruch erreicht noch nicht die Dringlichkeit des epistemischen.109 Dies ändert sich mit zunehmender Realisierung des Forschungsprojekts. b) Begründen Die zweite Operation ist das Begründen.110 Mit der Begründung wird der von der These erhobene Geltungsanspruch eingelöst. Wohlrapp umschreibt dies metaphorisch: Die These, die zunächst über dem Boden schwebe, werde nun ausdrücklich auf den Grund (des Gesicherten, des Wissens) gestellt. Sie könne nun auf eigenen Füssen stehen und brauche niemanden mehr, der sie vertrete.111 Durch die Begründung distanziert sich der Argumentierende von der These. Man muss sich nicht mehr mit den Personen, sondern kann sich mit den Gründen auseinandersetzen. Wohlrapp versucht auch hier, einen minimalistischen theoretischen Apparat zur Verfügung zu stellen. Er beschränkt sich auf die inferentielle Struktur einer Argumentation und identifiziert zwei Komponenten, die sich in ihrer pragmatischen Funktion unterscheiden: den Anfang und den Übergang. Der Anfang ist die Basis: das Sichere, Geltende, Epistemische. Der Übergang ist der gedankliche Weg von der Basis zur These. Die entscheidende Frage ist nun, wie dieser Übergang theoretisiert werden kann. Wohlrapp gibt jegliche von aussen an die Begründung herangetragenen Einschränkungen auf und fokussiert auf eine pragmatische und dialogische Begrün109 110 111
Vgl. dazu Wohlrapp, Begriff, 199. Wohlrapp, Begriff, 201 ff. Wohlrapp, Begriff, 201.
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dungsstruktur: „Das heisst, [der Begründungsbegriff] begreift die möglichen Sicherheiten, die eine argumentativen Begründung erzeugen kann, als Resultat einer Handlungsbasis und er bezieht die kritische Prüfung im Dialog ein.“ 112 Die pragmatische Dimension zeigt sich am Aufbau der Begründung, der an den vorne eingeführten methodischen Aufbau des Wissens erinnert. Eine Begründung ist ein gedanklicher Weg, der sich in Schritte einteilen lässt. Diese Schritte sind sprachliche Handlungen, welche einen Übergang von einem schon erreichten zu einem neuen Zustand vollbringen. Wer die Behauptung aufstellt, dass der Kosovo ein Staat ist, kann seine Begründung wie folgt beginnen: Die gewohnheitsrechtlich anerkannte völkerrechtliche Definition von Staat findet sich in der Montevideo-Konvention. Mit diesem Hinweis ist der Übergang von Staat auf Territorium, Volk, Hoheitsgewalt und Unabhängigkeit möglich. Von hier kann man sich dann mit den Fragen auseinandersetzen, ob die Kosovaren ein Volk sind usw. Ist ein solcher Übergang praxisorientierend und Teil einer abgeschlossenen, methodisch durchschauten und kohärenten Theorie, ist in der Begründung epistemische Theorie reaktualisiert worden, um vom Zustand „Staat“ zum Zustand „Volk“ zu kommen. Entscheidend ist, woraus sich die Stabilität des Übergangs ergibt. Um dies zu erläutern, wird kurz auf Stephen Toulmins Grundlagenwerk The Uses of Arguments eingegangen. Toulmin hat sich mit forensischer Argumentation beschäftigt und erkannt, dass die formallogische Sprache ein zu enges Korsett ist, um juristische Argumentationen zu analysieren. Er hat deshalb ein flexibleres Korsett zur Verfügung gestellt, das sich aus folgenden Elementen zusammensetzt: Gründe, Garantie, Rückhalt und These.113 Toulmin führt für den Übergang vom Grund zur These zwei Elemente ein: die Garantie („warrant“) und den Rückhalt („backing“). Zuerst wird etwas behauptet (These): „Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo verletzt die territoriale Integrität Serbiens.“ Auf kritische Nachfrage wird ein Grund eingeführt, um diese These zu stützen: „Die Unabhängigkeitserklärung gründet einen neuen Staat auf dem Territorium von Serbien.“ Bei Toulmin kommt die Verbindung zwischen Grund und These durch eine Garantie zustande. Die Garantie könnte in dieser Argumentation nun Abs. 10 der S/RES/1244 sein: „Reaffirming the commitment of all Member States to the sovereignty and territorial integrity of the Federal Republic of Yugoslavia and the other States of the region, as set out in the Hel-
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Wohlrapp, Begriff, 201. Toulmin, 87 ff. Dieses Grundmodell kann um einen „qualifier“ (Modalität) und einen „rebuttal“ (Widerlegung) erweitert werden. Das Beispiel orientiert sich an Patterson, der das Toulmin-Schema für seine rechtstheoretische Untersuchung verwendet: Patterson, Recht und Wahrheit, 193 ff. Auch Coendet verwendet das Modell: Coendet, 91 ff. 113
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sinki Final Act and annex 2, [. . .].“ Als Rückhalt dieser Garantie kommen nun die völkerrechtlich anerkannten Argumentformen ins Spiel: „Nach einer ,wortgetreuen‘ Auslegung sind zwar nur die Mitgliedstaaten und nicht die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung ratione personae von der Bestimmung erfasst; die Praxis des Sicherheitsrats zeigt aber, dass die Pflicht zur Beachtung der territorialen Integrität nicht nur für Staaten, sondern auch für innerstaatliche, in den Konflikt involvierte Gruppen gilt.“ 114 Die Argumentform dient als Rückhalt, um die Garantie so zu lesen, dass sie den Übergang vom Grund zur These stützen kann. Mit dem Toulmin-Modell lässt sich ein Übergang rekonstruieren, ohne dass die Argumentation in die formallogische Sprache übersetzt werden müsste. Woraus ergibt sich die Stabilität des Toulmin’schen Modells? Toulmin verlinkt die Garantie mit einem bestimmten „Feld“, in der die Argumentation stattfindet.115 Felder sind verschiedene Wissensregionen. Aus dem Wissen ergeben sich die Stabilität der Garantie und damit ihre stützende Wirkung im Argument. Wohlrapp knüpft hier an und verwendet einen dynamischen und pragmatischen Wissensbegriff.116 Damit öffnet sich der Wissensbegriff in zwei Richtungen, eine stabilisierende und eine forschende: Einerseits stabilisiert der pragmatische Theoriebegriff die Argumentation stärker, weil Wissen als epistemische Theorie eben realisiert, abgeschlossen, methodisch aufgearbeitet und kohärent ist. Wissen als kognitive Konvention im Sinne einer dogmatischen Theorie bleibt hinter diesem Anspruch zurück. Andererseits ermöglicht er die Argumentation mit neuer, thetischer Theorie, also Theorie, die noch nicht einmal doxastisch ist. Dieser pragmatische Zugang erlaubt eine dynamische Wissenskonzeption, in der Theorie und Wissen in einer Argumentation gewonnen wird und verloren geht. Darüber hinaus wird hier Wissen nicht positiv vorausgesetzt. Es muss durch die Zeichenpraxis erarbeitet und reaktualisiert werden. Juristen müssen, bevor sie erklären oder argumentieren können, in der Regel in der UNTS, den Standardwerken ihres Gebiets, der neuesten Rechtsprechung und Literatur nachschlagen. Je nach thetischer Dynamik der Argumentation kann diese dogmatische Aufarbeitung an ihre Grenzen stossen. Dann muss vielleicht noch rechtstheoretisches Wissen über die Vertragsauslegung usw. reaktualisiert werden. Das erarbeitete „alte“ – oder besser: reaktualisierte – Wissen wird in die thetische Konstruktion eingearbeitet und, falls nötig, mit thetischer Theorie angerei114 So der „Rückhalt“ von Argentinien (s. St., Rz. 75 ff. und 121 f.) m. H. auf die Praxis des Sicherheitsrats. Der Verweis auf diese Praxis kann nun wiederum als Grund angesehen werden, der die These stützt, dass der Grund eben nicht nach der „wortgetreuen“ Auslegung zu verstehen sei. 115 Toulmin, 14 ff. 116 Vgl. für eine Kritik am Toulmin’schen Feldbegriff die Beiträge von David Zarefsky, Charles Arthur Willard und Robert C. Rowland zu „Argument Fields“ in: William Benoit/Dale Hample/Pamela Benoit (Hrsg.), Readings in Argumentation, New York/Berlin 1992, 413 ff.
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chert. Die so hergestellte thetische Konstruktion findet dann Eingang in den Dialog – im Gutachterverfahren durch schriftliche und mündliche Stellungnahme sowie Replik. Dort wird sie von den anderen Akteuren und dem Gerichtshof rezipiert. Nach dem Verfahren findet sie den Weg in die Öffentlichkeit. Ein so konzipierter „gedanklicher Weg“ hat unterschiedliche Stabilitäten. Die Übergänge können sich aus logischen Schlüssen, aus altbekanntem Wissen, aus rhetorischen Figuren, aus neuen Theorien usw. zusammensetzen. Auch das Toulmin-Modell, das gegenüber der formallogischen Sprache lockerer ist, bleibt ein Korsett. Der gedankliche Weg kann auch anders zurückgelegt werden. Wohlrapp entwickelt deshalb keine formelle Theorie des inferentiellen Übergangs. Er belässt es bei der Metapher des Wegs, der durch „epagogische“ 117 Schritte zurückgelegt wird. c) Kritisieren Der Opponent verfügt über eine ihm eigene Operation: Kritik mittels Einwänden und Widerlegungen.118 Man kann sich fragen, ob es diese Operation als selbstständige neben dem Begründen überhaupt braucht. Der Kritiker behauptet ja auch. Und tatsächlich machen nicht alle Argumentationstheorien diesen Unterschied. Hier wird er nachvollzogen, weil somit klar ist, dass es ein sprachliches Handeln gibt, das sich explizit auf eine schon errichtete thetische Konstruktion bezieht. Der Kritiker muss nicht eine neue These als Antwort auf die Quaestio aufstellen, sondern er kann sich ganz der Begründung des Proponenten widmen. Dies scheint gerade auch für die Rechtsarbeit wichtig zu sein. Man kann mit der in einem Urteil vertretenen These einverstanden sein, aber den gedanklichen Weg ablehnen. Für den IGH zeigt sich dies exemplarisch an der Möglichkeit der gesonderten Stellungnahmen. Diese vertreten die gleichen Thesen, aber aus anderen Gründen (im Gegensatz zu den abweichenden Stellungnahmen, die andere Thesen vertreten).119 4. Die Rahmenstruktur a) Die Rahmensetzung im argumentativen Dialog Die Rahmenstruktur ist für die Theoretisierung der Argumentation grundlegend.120 Gegen „aussen“ konstituiert sie Gegenstände, gegen „innen“ Subjekte, 117 Damit ist ein weiterer aristotelischer Begriff eingeführt; griechisch für „hinführend“. Der Begriff wird hier nicht bloss für einen induktiven Schluss gebraucht, sondern für jeden Schritt auf dem Weg der Begründung. 118 Wohlrapp, Begriff, 223. 119 Wobei die Grenze zwischen gesonderten und abweichenden Stellungnahmen fliessend ist: vgl. Hernández, ICJ, 109 ff. 120 Man führe sich diese Tour d’Horizon vor Augen (Wohlrapp, Begriff, 237): „Der Rahmenbegriff, den ich hier entwickle, verwendet Gedanken aus der klassischen Ab-
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gegen „unten“ strukturiert sie das Handeln und gegen „oben“ das Verstehen.121 Der Rahmen ist die „Argumentation als XY“-Struktur. Er ist das unumgängliche Fokussieren. Wenn wir über etwas sprechen, haben wir schon fokussiert. Der kosovarische Statusprozess kann als Sezessionskonflikt um den völkerrechtlichen Status, als Verteilungskonflikt um den Besitz von Territorium, als Machtkonflikt um einflussreiche Positionen und Ämter (z. B. im Bildungs- und Sicherheitswesen), als langjähriger ethnischer und religiösier Anerkennungskonflikt, als mnemonischer Kampf usw. gerahmt werden. Der Vorgang der Sezession wird von den Akteuren des Gutachterverfahrens als Verlust des Territoriums, als Ausübung des Willens oder des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes, als vom Prinzip der Effektivität regulierter Staatsentstehungsprozess, als Konflikt oder als Übergang des territorialen Hoheitstitels gerahmt. Die Setzung des Rahmens ist ein grundlegender Schritt, weil damit die Quaestio formuliert und einer bestimmten Praxis zugewiesen wird: Ist die Sezession ein völkerrechtliches Problem, so sollten sich die im Völkerrecht ausgebildeten Juristen (in den Regierungen, in der Wissenschaft, in der Tagespresse usw.) damit befassen. Ist sie hingegen nicht vom Völkerrecht geregelt, so sollte das Problem besser von Politikern und den Wissenschaftlern der internationalen Beziehungen bearbeitet werden. Wird eine Krise als Finanzkrise bezeichnet, erfolg zugleich eine Zuweisung der Problematik an bestimmte Experten. Optisch gesprochen kommen durch den gewählten Rahmen gewisse Aspekte in den Fokus und werden vergrössert, andere werden verkleinert oder ganz ausgeblendet. Aus den vier Dimensionen, die soeben angesprochen wurden, ergeben sich zwei Schnittstellen, die nun besprochen werden. Die erste Schnittstelle ist die zwischen Subjekt und Objekt.122 Wohlrapp umschreibt den Rahmen als eine „Schnittstelle des Erlebens und Verarbeitens, an der auf der einen Seite das Objekt und auf der anderen das Subjekt anfängt, sich formt und ausbildet.“ 123 Die Rahmung bringt nicht nur das Betrachtete, sondern auch den Betrachter hervor: „Die spontane Rahmung ist etwas Habituelles und straktionslehre, der Aphairesis des Aristoteles, die in der Scholastik als die Qua-Thematisierung allgegenwärtig ist [. . .], verbindet das mit Heideggers ,Als-Struktur des Verstehens‘, Wittgensteins Gedanken zum Aspektsehen [man denke an den Entenhasenkopf] und dann insbesondere mit dem ,Frame‘-Begriff der amerikanischen Sozialpsychologie. Offenbar hat Bateson diese Struktur als erster in ihrer Relevanz für Psychologie und Psychotherapie gesehen, Watzlawick hat sie popularisiert, Goffmann hat sie mit seiner ,Rahmenanalyse‘ für die soziologische Perspektive fruchtbar gemacht, und Willems hat das soweit umrissene Rahmenkonzept mit dem Habitusbegriff von Gehlen und Bourdieu auf eine anthropologische Ebene gehoben, während die psychotherapeutische Gedankenspur im ,Neurolinguistischen Programmieren‘ unter der Bezeichnung ,Reframing‘ zu einer Art therapeutischem Universalschlüssel weiterentwickelt wurde.“ 121 Wohlrapp, Begriff, 238. 122 Wohlrapp, Begriff, 241 ff. 123 Wohlrapp, Begriff, 241.
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der Habitus entsteht und festigt sich durch die vorgenommenen Rahmungen.“ 124 Mit dem hier entwickelten Zeichenbegriff kann die spontane Rahmung als habituelle Reaktualisierung von sprachlichen Zeichen umschrieben werden. Dass damit nicht nur die Gegenstände, sondern auch das handelnde Subjekt hervorgebracht wird, wurde bereits angesprochen.125 Stehen ein Völkerrechtler und ein Architekt in Belgrad und hören das Wort „Sezession“, so wird der eine spontan an den Kosovo, der andere an das Hotel Moskva am Terazije-Platz denken. Wenn sie nun ein Gespräch über „Serbien und die Sezession“ führen wollen, müssen sie wohl zuerst ihre habituellen Rahmungen erkennen und allenfalls zur Disposition stellen. Dies ist die zweite Schnittstelle: die zwischen Theorie und Praxis.126 Der hier verwendete pragmatische Theoriebegriff impliziert, dass Theorie erarbeitet wird, um in der Praxis realisiert zu werden. Der Handlungsbegriff geht vom Gelingen einer Handlung aus, wenn sie in der Aussendimension in etwa so ausfällt, wie es in der Innendimension vorgesehen war. Die Rahmung hat die Konsequenz, dass wir Dinge so behandeln, wie wir sie wahrnehmen: „Einer Fokussierung im Wahrnehmen entspricht eine Fokussierung im Verhalten und Handeln.“ 127 Wohlrapp exemplifiziert dies mit Hinweis auf die verschiedenen Rahmen, die wir für unseren Umgang mit Tieren verwenden. Wir pflegen einen anderen Umgang mit Nutz- als mit Haustieren. Diese Rahmensetzungen haben für die betroffenen Tiere drastische Konsequenzen: Die Hauskatze wird mit Futter ernährt, das Huhn enthält. Ein Völkerrechtler verfolgt Staatsentstehungsprozesse anders als ein Ethnologe. Derselbe Völkerrechtler wird auf andere Rahmenstrukturen zurückgreifen, je nachdem, ob er einen wissenschaftlichen Aufsatz zum Thema verfasst oder ob er im Auftrag eines Staates eine schriftliche Stellungnahme für das Gutachterverfahren verfasst. Die Rahmung wird verschiedene Subjekte und verschiedene Gegenstände hervorbringen. b) Manifeste und latente Rahmen – Perspektive und Sichtweise Das Völkerrecht stellt Rahmen zur Verfügung und leitet aus unterschiedlichen Rahmen unterschiedliche Rechte und Pflichten ab. In Sezessionskonflikten kann eine Person als Mensch mit Menschenrechten, als Angehöriger eines bestimmten Staates, als Armeeangehöriger oder nach der im „Krieg gegen den Terror“ etablierten völkerrechtswidrigen Kategorie als „Terrorist“ usw. gerahmt werden. Die Tatsache, dass der Auflösungsprozess der SFRJ als Dissolution und nicht als eine 124 125 126 127
Wohlrapp, Begriff, 241. Vgl. oben § 5 II.1. Wohlrapp, Begriff, 243 ff. Wohlrapp, Begriff, 243.
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Folge von Sezessionen gerahmt wurde, hatte zur Folge, dass die FRJ nicht als Nachfolgestaat der SFRJ in deren Mitgliedsrechte bei den VN eintreten und somit nicht vor dem IGH gegen die Mitgliedstaaten der NATO für ihre Beteiligung an der „Operation Allied Force“ ein Streitverfahren vor dem IGH einleiten konnte. Im Gutachterverfahren zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo war die Frage umstritten, ob die Sezession des Kosovo der letzte Schritt der Dissolution der SFRJ war oder nicht. Die Rahmung hat entscheidende Konsequenzen für die Frage nach der Völkerrechtskonformität der kosovarischen Sezession, weil die Bejahung des Rahmens den Kosovo in Kontinuität zu den mittlerweile konsolidierten Staatsentstehungen von Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina und der FRJ (Montenegro und Serbien) stellen würde. Rahmen können sich gegenseitig ausschliessen: Die Auflösung der SFRJ kann nur entweder eine Dissolution oder eine Folge von Sezessionen sein. Es muss somit zwischen Rahmungen entschieden werden. Es fragt sich jedoch, ob immer zwischen verschiedenen Rahmen gewählt werden kann. Aufgrund der Verbindung zur „Innendimension“ bzw. zum Habitus liegen manche Rahmungen näher als andere. Die Wahl des Rahmens konstituiert eben nicht nur das Betrachtete, sondern auch den Betrachter. Gewissen Personen fällt es leicht, Personen als „Terroristen“ zu rahmen, denen weder fundamentale Menschenrechte noch die nach dem humanitären Völkerrecht garantierten Rechte – beispielsweise für Kriegsgefangene – zukommen. Für andere widerspricht eine solche Rahmung derart dem eigenen Selbstverständnis, dass sie sich höchstens in einem Gedankenexperiment darum bemühen können. Wohlrapp unterscheidet zwischen manifesten und latenten Rahmen.128 Manifeste Rahmen sind uns bewusst. Wir können eine bestimmte Sache so oder so rahmen und uns darüber austauschen. Andere Rahmen sind latenter. Sie entsprechen uns, ergeben sich aus unserem Habitus, sind typisch für uns usw. Dabei gibt es Rahmen, die so wesentlich für unsere Selbstkonstitution sind, dass wir nicht bereit sind, sie in einer Argumentation zur Disposition zu stellen. Ich würde nicht nur meine Position, sondern mich selbst zur Disposition stellen. Oder sie sind so latent, dass sie nicht in Erscheinung treten. Die Rahmung erfolgt so selbstverständlich, dass sie nicht als Rahmung in Erscheinung tritt; der Rahmen ist „gesunken“. Ist der Rahmen manifest, so spricht Wohlrapp von Perspektive. Sind die Rahmen hingegen latent, so spricht er von Sichtweise. Wir treffen hier wieder auf das potenzierte Nichtwissen. Wir können durch Zeichengebrauch Sachverhalte, Fakten und Rechtszustände beschreiben und so bewusst manifeste Rahmen setzen. Wir können aber nicht unterbinden, dass damit auch latente und gesunkene Rahmen gesetzt werden. Was für die Bedeu-
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Wohlrapp, Begriff, 246.
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tungskonstitution des Zeichengebrauchs gilt, gilt auch für die durch Zeichengebrauch hervorgebrachten Theorien: „Generell gesprochen enthält jede Theorie latente Rahmungen, die aus den Umständen ihrer Entstehung herrühren. Der latenten Rahmen ist ein doppeltes (oder potenziertes) Nichtwissen. [. . .] In diesem Sinne ist Theorie, ist das Wissen begrenzt und hängt der Erkenntnisfortschritt davon ab, dass die Rahmen erkannt bzw. manifest gemacht werden. Gewisse äussere Rahmungen, die mit unserem Menschsein zu tun haben, werden sich überhaupt nicht abstreifen lassen. Nie werden wir die Welt und unser Leben so innehaben wie die Stubenfliegen, die Wanderfalken und die Nilpferde.“ 129
Wenn wir in einer Argumentation über etwas sprechen, setzen wir immer auch manifestere und latentere Rahmen. 5. Dynamischer Dialog und thetische Dynamik a) Die dynamische Konzeption des argumentativen Dialogs Aus den drei Operationen und der grundlegenden Rahmenstruktur ergibt sich die dialogische Dynamik der Argumentation. Aufgrund der Offenheit dieser Theorie kann sie an verschiedene Argumentationspraxen angepasst werden. Sie schreibt keinen linearen Verlauf vor, sondern stellt begriffliche Mittel zur Verfügung, um der Geltungsbearbeitung in Argumentationen zu folgen. Wohlrapp teilt den Dialog in dialogische Züge ein. Ein Zug ist „das Vortragen irgendeiner Äusserung im Dialogspiel, d. h. in dem System der Äusserungen, die zur Erhebung, Überprüfung, Ratifizierung oder Zurückweisung eines Geltungsanspruchs beitragen können.“ 130 Der Eröffnungszug besteht dabei in der Regel im Aufstellen einer These. Dies kann ignoriert werden. Oder der Opponent übernimmt die These des Proponenten. Dann kommt es nicht zu einem argumentativen Dialog. Der Opponent kann auf die Eröffnung aber auch mit einem Anschlusszug reagieren. Er kann die These kritisieren, indem er ihre Geltung bezweifelt oder indem er ihr eine eigene These entgegenstellt. Der Proponent kann seine These nun zurückziehen oder auf die Kritik eingehen und die These begründen, die Gegenthese anzweifeln, der Gegenthese eine völlig neue These gegenüberstellen oder die Gegenthese in seine These integrieren. Der Opponent kann nun wiederum mit den gleichen Zügen auf die Züge des Proponenten reagieren. Im hier untersuchten Dialog wurden die dialogischen Möglichkeiten der Akteure durch das Verfahrensrecht des Gutachterverfahrens eingeschränkt. Wohlrapp fächert den argumentativen Dialog analog zum Rahmen in vier Dimensionen auf: Sach-, Subjekt-, Prozess- und Strukturdimension.131 Die Sach129 130 131
Wohlrapp, Begriff, 248. Wohlrapp, Begriff, 297. Wohlrapp, Begriff, 301 ff.
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dimension trägt dem Umstand Rechnung, dass Argumentation funktional auf das Erarbeiten neuer Orientierung bezogen wird. Daraus leitet Wohlrapp eine Verpflichtung zur Sachlichkeit ab. Diese Verpflichtung kann sich beispielsweise darin konkretisieren, dass in der Argumentation möglichst auf epistemische Theorie zurückgegriffen wird. Dies sichert die pragmatische Stabilität einer Argumentation. Eine weitere Möglichkeit der Versachlichung ist die Öffnung für die Perspektive des Opponenten. Also das Reagieren auf seine Anschlusszüge, das Einbauen seiner Kritik, das Einnehmen seiner Position usw. Dieser Forderung nach Sachlichkeit wird die Subjektdimension gegenübergestellt: Sie ist die subjektspezifische Rahmung des Sachverhalts. Proponent und Opponent treten mit unterschiedlichen Orientierungssystemen, Positionen und Forschungsprojekten in die Argumentation ein. Dieses Aufeinandertreffen kann nur in einer dynamischen Konzeption der Argumentation aufgelöst werden. Diese Dynamik wird mit der Prozess- und der Strukturdimension erläutert. Der argumentative Dialog ist ein Prozess, d. h. ein dynamischer und wandelbarer Vorgang in der Zeit. Dies ergibt sich nur schon aus der Vielfalt der möglichen Anschlusszüge. Die prozessuale Dimension bringt darüber hinaus zum Ausdruck, dass Thesen, Gründe und Einwände nicht nur in den Dialog eingebracht, sondern auch in ihm neu gebildet, modifiziert oder aufgegeben werden können.132 Solche Reformulierungen können zu Nachfolger-Thesen und Nachfolger-Gründen führen. In einem Dialog muss ein Argumentierender auf die Züge seines Gegenübers reagieren. Es wäre somit falsch, wenn eine Argumentationstheorie davon ausgehen würde, dass Argumente „fix und fertig aus den Köpfen der Diskutierenden herausspringen [. . .].“ 133 Sie können sich sowohl in einem einzelnen Dialog als auch über einen längeren Zeitraum durch verschiedene Dialoge in verschiedenen Foren entwickeln. Die vorne mit Vorbehalt eingeführte Trennung zwischen „context of discovery“ und „context of justification“ kann nun genauer dargestellt werden. In einem prozessual konzipierten Dialog findet zwischen „discovery“ und „justification“ eine Wechselwirkung statt.134 Rahmen wir also ein begründetes Urteil des IGH nicht als statische Begründung einer Behauptung, sondern als Beitrag zu einem argumentativen Dialog, können wir u. U. sehen, dass der Gerichtshof auf die Argumente der Parteien oder die Kritik aus der Wissenschaft eingegangen ist, dass er im Vergleich zu früheren Urteilen auf andere epistemische Basen zurückgreift usw. Die Begründung wird so Teil eines Dialogs, in dem Thesen und Argumente als Teil eines Prozesses reformuliert werden können. Durch die Einwände der Opponenten kann sich die bisherige Einsicht ändern und die Begründungen 132 Auf diesen Aspekt der Argumentation im Gutachterverfahren zum Kosovo weist Milanovic hin (vgl. oben A.III.2.; Milanovic). 133 Wohlrapp, Begriff, 311. 134 Schroth, 296; Schneider, 349.
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müssen künftig diesen Einwand berücksichtigen. Oder in der Begründung wird ein argumentativer „Versuchsballon“ eingebaut, der dann in der wissenschaftlichen Rezeption geprüft und bearbeitet wird. Der „context of justification“ wird so Teil des „context of discovery“. Die vierte Dimension der Argumentation ist die inferentielle Struktur. Ein argumentativer Dialog wird grundsätzlich dadurch strukturiert, dass Thesen auf ihre Geltung hin geprüft werden. Gelingt der Dialog, steht am Schluss eine geprüfte These da, die gültig begründet werden kann. Wohlrapp bezeichnet diesen Zustand als Konklusion.135 Dieser Zustand wird bei weitem nicht in allen argumentativen Dialogen erreicht. In Rechtsverfahren wird der Dialog nicht mit Erreichen der Konklusion, sondern durch Entscheid des Gerichts beendet. Entscheid und Konklusion können auseinanderfallen.136 Wird eine Konklusion erreicht, so liesse sich im Rückblick der Dialog darauf untersuchen, alle Prämissen aufzufinden, die zur Konklusion geführt haben. So liesse sich eine synchrone PPC-Struktur137 erstellen. Dieser Gedanke zeigt auf, dass die PPC-Struktur weniger eine Inferenzstruktur ist, die in allen argumentativen Dialogen vorkommt, sondern eher eine mögliche Reflexion solcher Dialoge ex post. Das Resultat einer Argumentationsanalyse kann jedoch nicht das Auffinden der PPC-Struktur als in der untersuchten Argumentationspraxis vorhandenem Gegenstand sein, sondern eine reflexive Anordnung der untersuchten Texte unter Annahme, dass darin versucht wurde, eine These gültig zu begründen. Die Analyse bringt selbst nur eine reflektierte Argumentation hervor. Daher ist das Resultat eher eine Erhebung des „Diskussionstands“ als der Nachweis einer PPC-Struktur: Argumente sind „werdende Prämissen“ und Thesen „werdende Konklusionen“ 138. So ist auch die Konzeption einer „retroflexiven Strukturgenese“ möglich, in der nicht nur die Gründe die These, sondern auch die These die Gründe stützen können.139 b) Die thetische Dynamik Es kann aufgrund der hier konzipierten Argumentationstheorie angenommen werden, dass in der zu analysierenden Argumentationspraxis Thesen aufgetellt und begründet werden.140 Durch Zeichengebrauch werden thetische Konstruktionen hergestellt. In der Sachdimension wird epistemische und thetische Theorie und in der Subjektdimension das eigene Orientierungssystem zur Disposition ge135
Wohlrapp, Begriff, 312. Vgl. zur Geltung sogleich § 5 IV. Lueken, Paradigmen, 34. Das Auseinanderfallen von Entscheidung und Konklusion könnte ein Kriterium liefern, um zwischen einer begründeten Rechtsentscheidung und einer willkürlichen Dezision zu unterscheiden: vgl. Wohlrapp, Begriff, 334. 137 Argumentationstheoretische Abkürzung für: Premise-Premise-Conclusion. 138 Wohlrapp, Begriff, 312. 139 Wohlrapp, Begriff, 314. 140 Vgl. zur thetischen Dynamik: Wohlrapp, Begriff, 482 ff. 136
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stellt. In dieser „positiven Dimension“ wird eine Begründungskette erstellt. Die „negative Dimension“ besteht in der Kritik des Opponenten. Dieser verfügt in der Regel über eigenes Wissen und eigene Orientierung. Er kann sein eigenes Wissen als Kritik einbringen. Und er kann die eigene Perspektive einbringen. Er kann geltend machen, dass sich der Sachverhalt anders rahmen lässt. Die Kritik kann nicht nur die thetische Konstruktion, sondern auch die subjektive Seite der Argumentation berühren. Damit stellt sich die Frage, wie der Proponent darauf reagiert. Es ist anzunehmen, dass er nicht bereit sein wird, in einer Argumentation seine ganze Selbstkonstitution zur Disposition zu stellen. Betrifft die Kritik manifeste Rahmen, Schutzgürtel des Forschungsprojekts, die Perspektive der Proponentin, kann er sie noch eher aufgeben oder modifizieren. Betrifft sie jedoch latente Rahmen, den Kern des Projekts, die Sichtweise, so wird er – zumindest im aktuellen Gespräch – auf seinem Standpunkt beharren. Damit wird der argumentative Dialog aber abgebrochen.141 Dieser muss sich nicht mit dem Gespräch decken. Aus dieser Darstellung werden nun zwei Schlüsse gezogen: Erstens können durch die thetische Dynamik eines argumentativen Dialogs sowohl thetische Konstruktionen auf- als auch abgebaut werden. Das reaktualisierte Wissen kann verloren gehen, die eigene Orientierung eingebüsst werden. Zweitens können die Argumentationsteilnehmer nicht zur Einsicht gezwungen werden. Sie können hinter ihren Einsichten zurückbleiben, an ihren argumentativ widerlegten Orientierungen festhalten, den argumentativen Dialog abbrechen.
IV. Die Geltung: argumentationsstandrelative Einwandfreiheit als Geltungskriterium Epistemische und thetische Theorie erheben unterschiedliche Geltungsansprüche. Erstere ist realisiert und kann im pragmatischen Modus des Erklärens vermittelt werden. In der Regel kann eine Meinungsverschiedenheit auf diesem Weg beseitigt werden. Der Opponent kann natürlich auch auf seiner Position beharren. Entweder stellt er sich damit bewusst gegen den momentanen epistemischen Wissensstand oder er kann nachweisen, inwiefern eine Quaestio voliegt. Dies kann auch erst ein Gefühl, die Quaestio erst im Entstehen begriffen sein. Der thetische Geltungsanspruch ist grundlegend anders: Er besagt nicht, dass die These bereits eine praxisleitende Funktion wahrnimmt, sondern nur, dass sie das sollte. Die thetische Konstruktion ist der argumentative Nachweis, dass sie es kann. Die thetische Geltung erschöpft sich in der argumentativen Geltung der thetischen Konstruktion. In dieser wird gezeigt, dass sich die These auf der Basis reaktualisierter epistemischer und neuer thetischer Theorie begründen lässt. Die Realisierung in der Praxis kann (noch) nicht Gradmesser der Geltung sein. Hier 141 Zum Zusammenhang zwischen dem argumentativen Dialog und der Anerkennung des anderen: Wohlrapp, Begriff, 486 ff.
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zeigt sich eine weitere Grenze der Argumentation. Auch eine gültige Argumentation kann in der Praxis scheitern. Die argumentative Geltung ist keine Garantie, sondern nur eine wissens- und argumentationsstandabhängige Qualifikation einer thetischen Konstruktion. Weil die Praxis nicht zur Verfügung steht, greift Wohlrapp auf eine Instanz zurück, die implizit durch die kommunikative Ausgestaltung der Argumentation schon da ist: die Opponentin.142 Die Geltung einer These ergibt sich aus dem argumentativen Dialog. Die Operation der Opponentin ist ihr Gradmesser. Der Proponent kann durch die Begründung aufzeigen, dass seine These theoretisch erreichbar ist. Die Kritik des Opponenten kann den gedanklichen Weg von der Basis zur These aber torpedieren. Er kann auf Lücken oder auf Widersprüche aufmerksam machen und so den Proponenten zwingen, darauf zu reagieren. Aus diesem Dialog kann die Geltung einer These hervorgehen. Die Geltung ist eine qualifizierte Erreichbarkeit. Sie ist erst gegeben, wenn es dem Proponenten gelungen ist, alle Einwände, die gegen seine Konstruktion offen sind, in die Konstruktion einzubauen oder zu widerlegen. Gelingt ihm dies, ist die These durch eine qualifizierte Begründung gestützt: „Eine These ist, relativ zum Stand der Argumente, die für und gegen sie im Dialog aufgetreten sind, gültig, wenn kein Einwand gegen sie offen ist.“ 143 Damit ist ein Kriterium gegeben, das nicht auf die faktische Zustimmung der Argumentationsteilnehmer abstellt, sondern auf die Argumentation selbst.144 Diese Geltung kann aufgrund ihrer transitorischen theoretischen Basis und der Möglichkeit des Scheiterns in der Praxis nur vorläufig sein. Die Geltung einer These ist immer „argumentationsstandrelativ“. Sie ergibt sich aus dem tatsächlichen, argumentativ erreichten Stand. Diese Relativität ist nicht in dem Sinne relativistisch, dass eine bestimmte These nur in einem bestimmten System gültig wäre.145 Sie ist so zu verstehen, dass eine These in der Zeit keinen absoluten Geltungsanspruch erheben kann. Sie kann das Auftauchen von neuen Argumenten, Einwänden oder das Entdecken von potenziertem Nichtwissen nicht unterbinden; deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie künftig wieder zur Disposition gestellt werden wird. Daraus ergibt sich nicht nur eine Relativität in der Zeit, sondern auch eine notwendige Offenheit der argumentativen Geltung.146 142 Die dialogische Struktur wird sowohl von der Wohlrapp’schen als auch von der pragma-dialektischen Argumentationstheorie verwendet. Vgl. für eine Kritik an dialogischen Argumentationstheorien: Christoph Lumer, Praktische Argumentationstheorie. Theoretische Grundlagen, praktische Begründung und Regeln wichtiger Argumentationsarten, Braunschweig 1990, 316 ff. 143 Wohlrapp, Begriff, 349. 144 Vgl. zur „motivationalen Seite“ der Geltung, der Wohlrapp in Abgrenzung zur Zustimmung mit dem Begriff der Einsicht nachgeht: Wohlrapp, Begriff, 340 ff. 145 Dieser Relativismus führt in die schon angesprochene Aporie eines absoluten Relativitätsanspruchs: vgl. oben § 4 IV.3.; Wohlrapp, Begriff, 374 ff.; Coendet, 111 f.
§ 5 Einführung der geltungsbezogenen Argumentationstheorie
143
Wohlrapp sieht drei mögliche Einwände gegen seine These der argumentationsstandrelativen Einwandfreiheit als Geltungskriterium.147 Aufgrund ihrer Einschlägigkeit werden zwei davon kurz reproduziert: Der erste Einwand besagt, dass ein Einwand immer und eine Geltung deshalb nie möglich sei. Dieser Vorwurf verkennt, dass Einwände nur dann zu einer Infragestellung einer einmal faktisch erreichten Geltung führen, wenn es sich um neue und wirkliche Einwände handelt. Wurden die Einwände schon einmal argumentativ bearbeitet und entkräftet, kann darauf verwiesen werden. Sind es neue Einwände, muss argumentativ geprüft werden, ob sie etwas am Argumentationsstand ändern. Können die neuen Einwände ausgeräumt werden, ohne etwas an der thetischen Konstruktion ändern zu müssen, haben sie keine Auswirkungen auf die Geltung. Der zweite Einwand wiegt schwerer: Er besagt, dass Einwandfreiheit „kein Kriterium der Geltung, sondern Indiz eines Forschungsmonopols“ 148 sei. Eine These kann gültig sein, weil niemand in der Lage ist, Einwände zu produzieren. Als Beispiel führt Wohlrapp die Forschung zum Einsatz von Gentechnik bei Lebensmitteln auf. Er hält fest, dass die „faktische Einwandfreiheit [. . .] hier durch die Struktur der Forschungslandschaft präjudiziert“ sei.149 Nichts anderes gilt für das Völkerrecht. Die Möglichkeiten, Thesen, Begründungen und Einwände zu produzieren, determinieren den völkerrechtlichen Argumentationsstand. Damit stellen sich folgende Fragen: Wer kann und wer darf völkerrechtliche Argumente produzieren? Dieser Einwand kann hier nicht ausgeräumt werden; er soll vielmehr auf einen blinden Fleck der Argumentationsanalyse aufmerksam machen. Für die Argumentationsanalyse eines Gutachterverfahrens des IGH muss man sich bewusst machen, dass die Richter durch die Generalversammlung und durch den Sicherheitsrat aus einer von den nationalen Gruppen des Ständigen Schiedshofs aufgestellten Liste gewählt werden (Art. 4 IGH-Statut) und dass sich nur Staaten und IOs am Verfahren beteiligen können (Art. 66 Ziff. 2).150 Die argumentative Geltung wird ausschliesslich von durch Staaten gewählte Richter oder Vertreter bearbeitet. Aufgrund dieser Exklusivität ist davon auszugehen, dass sich eine Ausweitung des zugelassenen Akteurenkreises erheblich auf die aus der Argumentationsanalyse gewonnene Geltungsbearbeitung auswirken würde.
146
Vgl. oben § 4 IV.3. und Coendet, 112 ff., 124 f. Wohlrapp, Begriff, 349 ff. 148 Wohlrapp, Begriff, 352. 149 Wohlrapp, Begriff, 353. 150 Vgl. zur Relativierung dieser Bestimmung durch das Kosovo-Verfahren unten § 7 I.1.b). Darüber hinaus legt der Generalsekretär der Gutachtenanfrage ein Dossier bei. Der Gerichtshof kann auch selber Dokumente beim Generalsekretär anfordern (Art. 15 der Instruktionen für die Kanzlei) und von INGOs im Friedenspalast hinterlegte Berichte konsultieren (Practice Direction XII Ziff. 3), selber aber kein Beweisverfahren durchführen (Riddell/Plant, 371). 147
144
2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Die hier vertretene Theorie verlegt die Geltung der Argumentation sowohl im Sinne eines Prozesses als auch im Sinne eines Produkts oder Ergebnisses in das Argumentationsgeschehen selbst.151 Damit ist es nicht möglich, einen vorbestimmten Rationalitätsmassstab und ein Geltungskriterium von aussen anzulegen. Es ist aber möglich, der Geltungsfrage in der Argumentation selbst zu folgen. So macht es argumentationstheoretisch keinen Unterschied, ob ein bestimmter Akteur die Möglichkeit hat, einen Einwand einmal oder fünfzig Mal zu erheben. Es macht aber einen Unterschied, ob ein Einwand überhaupt oder gar nicht erhoben werden kann. Allenfalls kann ein Einwand durch eine reflexive Argumentationsanalyse produziert werden.152 Schliesslich steht jeder thetisch gültigen These der Praxistest bevor. Die historische Dimension von unausgewogenen Forschungsprojekten besteht darin, dass sie als thetisch gültig befunden und in der Praxis umgesetzt werden können und somit alle, auch diejenigen die nicht am Projekt beteiligt waren, am Risiko der Realisierung teilhaben werden.
151 Vgl. zur Unterscheidung von Argumentation als Prozess, Prozedur und Produkt: Habermas, 47 ff.; Wohlrapp, Begriff, 301 ff. 152 Wohlrapp nennt diese Ebene die „intervenierende Ermittlung“: Wohlrapp, Begriff, 356. Vgl. dazu sogleich § 6 II.
§ 6 Die geltungsbezogene Argumentationsanalyse I. Argumentationsanalyse als beobachtende Teilnahme Eine Argumentationsanalyse ist die „Analyse eines beliebigen Textes im Hinblick auf argumentative Strukturen“.1 Wohlrapp bezeichnet mit dem Begriff der argumentativen Strukturen die erarbeiteten theoretischen Grundlagen der Argumentation: epistemische und thetische Theorie, die Operationen des Behauptens, Begründens und Kritisierens, Forschungsprogramm und Position, Rahmen und Aspekt, Perspektive und Sichtweise sowie insbesondere den Geltungsbegriff. Wie kommt ein Argumentationsanalytiker zu diesen „Gegenständen“? Die Argumentationstheorie wurde mit einem Handlungsbegriff eingeführt, der zwischen einer Aussen- und einer Innenseite der Handlung unterscheidet. Damit wir zum Untersuchungsgegenstand einer Handlung kommen, müssen wir einer in der Aussendimension wahrnehmbaren Materialisierung eine Innendimension bzw. eine Absicht unterstellen. Mit Lueken wird hier die These erhoben, dass dies nur aus einer Teilnehmerperspektive möglich ist.2 Zunächst zur Unterscheidung zwischen Teilnahme und Beobachtung: Beides sind relationale Ausdrücke. Sie drücken ein mindestens zweistelliges Verhältnis aus. Die erste Stelle der Relation benennt selber einen Handelnden: den Betrachter. Der Handelnde selbst hat immer einen privilegierten Zugang zu seinen Absichten. Bezogen auf die Absichten der anderen werden wir immer zu Betrachtern und diese zu Akteuren. Lueken unterscheidet mit Beck zwischen zwei einschlägigen Perspektiven, die der Betrachter in Bezug auf Handlungen einnehmen kann.3 Der Teilnehmer sieht sich in einem symmetrischen Verhältnis zum Akteur und fragt, welche Absichten der Akteur wohl haben mag. Um die Frage zu beantworten, stützt sich der Betrachter auf seine eigenen Kenntnisse der Handlungsweisen und auf sein Wissen über den Akteur und den Handlungskontext. Der Beobachter verwendet ausschliesslich Wissen über „objektive, gesetzmässige Zusammenhänge von beobachtbaren Ereignissen.“ 4 Er beobachtet ein Verhalten und eine Abfolge von Ereignissen. Dieses Verhältnis ist durch eine Asymmetrie ge-
1
Wohlrapp, Begriff, 387. Lueken, Inkommensurabilität, 190. 3 Lueken, Inkommensurabilität, 194 ff. m. H. auf Lewis White Beck, Akteur und Betrachter. Zur Grundlegung der Handlungstheorie, Frankfurt a. M. 1975. 4 Lueken, Inkommensurabilität, 196. 2
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2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
prägt. Der Akteur wird Objekt oder Gegenstand der Untersuchung. Der entscheidende Unterschied ist das Symmetrie- bzw. Asymmetrie-Verhältnis. Jemand bedient eine Wasserpumpe, und es kommt Wasser aus der Pumpe. Wir können sein Verhalten beobachten und das Ereignis festhalten, dass Wasser geflossen ist. Damit wir aber zum „Gegenstand“ einer Handlung kommen, müssen wir dem Akteur unterstellen, dass er Wasser pumpen wollte. Der einzige, der einen privilegierten Zugang zu dieser Absicht hat, ist der Akteur selbst. Die Betrachter können bloss durch Rückgriff auf ihre eigenen Kenntnisse über das Pumpen von Wasser und auf ihr Wissen über die betrachtete Situation Mutmassungen über die Absichten des Akteurs anstellen. In einfachen Fällen kann der Betrachter zum Akteur gehen und ihn nach dessen Absichten fragen. Letzterer könnte dann lügen. Der Betrachter könnte dann sagen, er sei von einer Handlung ausgegangen, weil er gewisse Bewegungen beobachtet und aus seinem eigenen Wissen auf gewisse Absichten geschlossen hätte usw. Damit treten die beiden in eine Kommunikation. Weil der Betrachter dem Akteur etwas unterstellt und zuschreibt, muss – wenn auch bloss als Hypothese – im Sinne eines Zugeständnisses der Akteur die Möglichkeit haben, sich dazu zu äussern. Da dies in den seltensten Fällen der Argumentationsanalyse möglich ist, ist die theoretische Konsequenz, dass sich der Beobachter als Teilnehmer versteht: Er schreibt als handelnder Mensch über handelnde Menschen. Die eingenommene Perspektive sollte deshalb eine „kommunikative, tendenziell dialogische [. . .]“ sein, „in der ein Rollentausch der Handelnden stets möglich ist.“ 5 Normative Argumentationstheorien treten als Beobachter an die Argumentationspraxis.6 Werden die Regeln während der Argumentation eingehalten und erreichen die Teilnehmer der Argumentation einen Konsens, so ist dieser rational zustande gekommen und deshalb gültig. Diese Konzeption überfordert einerseits die Leitungsfähigkeit der Argumentation: Wie oben gezeigt wurde, kann die juristische Argumentation keine Regel vorgeben, weil die Entscheidung die Regel selbst setzt, der sie folgt.7 Andererseits wird durch einen vorgegebenen Regelkatalog ein erheblicher Teil der Argumentationspraxis delegitimiert.8 Die Argumentationsanalyse kann aber auch nicht nur deskriptiv sein, weil sie den Gegenstand, den sie beschreibt, selbst hervorbringt. Eine deskriptive Argumentationstheorie würde nun unterstellen, einfach zu beschreiben, was schon da ist. Solange sich diese Beschreibung auf sogenannte Argumentationsindikatoren beschränkt, mag 5
Lueken, Inkommensurabilität, 197. Vgl. für diskursethische Regeln in juristischen Argumentationstheorien: Alexy, 233 ff. und 352 ff.; Aarnio (Feteris, 127 ff.); Peczenik (Feteris, 156). Für den beim pragma-dialektischen Ansatz aufgestellten „code of conduct for rational discussants“: Feteris, 165. 7 Vgl. oben § 4 IV.2. Sowie die Kritik bei Coendet, 89 und Christensen/Sokolowski, 116 ff. 8 Vgl. oben § 3 III.5. 6
§ 6 Die geltungsbezogene Argumentationsanalyse
147
dies möglich sein. Soll der untersuchte Text aber als argumentative Struktur rekonstruiert werden, ist ein Eingriff nötig.9 Dieser Eingriff macht den unbeteiligten Beobachter notwendigerweise zum Teilnehmer.10 Nur so kann er der Bearbeitung der argumentativen Geltung in der betrachteten Argumentationspraxis folgen: „In dem hier vorgeschlagenen Apparat ist, wie gesagt, die Analyse auf die Auffindung des argumentativ Gültigen ausgerichtet. Dieses Gültige ist so definiert, dass der Analysierende sich den Argumentationsstand aneignet und ihn mit dem, was er selber von der Quaestio hält und darüber weiss, beurteilt, dabei die Argumentation soweit nötig und möglich fortsetzend. Das heisst, hier beginnt die Analyse halbwegs ,beobachtend‘ und wird dann immer mehr ,teilnehmend‘.“ 11
Die Gegenstände der Argumentationsanalyse konstituieren sich durch ein reflexives Vorgehen.12 Die Reflexion richtet sich auf das praktische Handeln und versucht, die in der Praxis verwendete Theorie herauszuarbeiten und kritisch zu befragen, weiterzuentwickeln und daraus selbst eine reflektierte Theorie herzustellen. Diese reflektierte Theorie kann die zukünftige Praxis orientieren.13 Argumentationstheorie beeinflusst die Argumentationspraxis und umgekehrt. Dies setzt auf der Metaebene eine Argumentationstheorie voraus, die nicht zu einer Spaltung zwischen Argumentationspraxis und -analyse, sondern zu einer Schichtung führt. Wohlrapp umschreibt die Anforderungen an den argumentationstheoretischen Apparat wie folgt: „Einerseits „reflektiert“ er die Formen des konkreten Argumentierens und andererseits gibt er für die Metaebene die Formen vor, in denen um die Formen auf der Objektstufe zu argumentieren wäre.“ 14 Philosophische Argumentationstheorien können also nicht von aussen auf das Recht angewendet werden, um die Geltung von juristischen Argumenten zu beurteilen. Sie würden als Beobachter an die Rechtspraxis herantreten. Sie können „nur eine Unterstützung bei der aufstufenden Selbstreflexion juristischer Tätigkeiten“ sein.15
9 Vgl. für den Versuch, die Argumentation nur vom Beobachterstandpunkt aus zu untersuchen: Klein, 9 ff. Und die Kritik dazu in: Habermas, 50 ff. 10 Wohlrapp, Begriff, 390; Habermas, 163 ff.; Kopperschmidt, Argumentationsanalyse, 79; Seibert, Zeichen, Prozesse, 133. 11 Wohlrapp, Begriff, 391. Als Interpretationsregel empfiehlt Wohlrapp ein „moderates Charity-Prinzip“: „Interpretiere den Text so, dass er als ein angemessener Beitrag zur Argumentation um die Quaestio erscheint – und sei bereit, für deine Interpretation ggf. zu argumentieren.“ Vgl. zum Charity-Prinzip: Trudy Govier, Problems in Argument Analysis and Evaluation, Dordrecht 1987, 133 ff. 12 Vgl. dazu Wohlrapp, Begriff, 450. 13 Gute Gründe können eine künftige Entscheidung nicht selbst hervorbringen, sondern nur anleiten (vgl. Mastronardi, 7, Fn. 32 und oben § 4 IV.2.). 14 Wohlrapp, Begriff, 187. 15 Christensen/Sokolowski, 143.
148
2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
Der argumentationstheoretische Apparat muss offen sein, um eine Schichtung zu ermöglichen. Er muss offen sein, weil die Argumentationspraxis offen ist. Sie kann die Regeln, die von aussen an sie herangetragen werden, aufnehmen, reflektieren und modifizieren. Sie kann die Argumentation selbst zum Gegenstand ihres Dialogs machen. Ein Beispiel: Es geht um die Quaestio, ob sich die SFRJ während der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren in einer Dissolution befand oder ob sich die einzelnen Republiken von der SFRJ abgespaltet haben. Die Frage ist relevant, weil die FRJ als Vertreterin der zweiten These in Kontinuität zu den Rechten und Pflichten der SFRJ gestanden hätte; nach der ersten These wäre die FRJ ein neues Völkerrechtssubjekt. In einem Artikel zur VN-Mitgliedschaft der neuen (oder eben alten) Staaten hält Yehuda Z. Blum folgendes fest: „Following the secession of four of the six constituent republics, the two remaining republics of the old federation have continued to assert the continuity of Yugoslavia [. . .].“ 16 Matthew Craven nimmt diese Passage auf und kommentiert sie wie folgt: „Blum’s argument itself was by no means utterly compelling. To begin with, his assertion that four of the six repulics had ,seceded‘ leaving the rump Yugoslavia intact seemed [. . .] more of a conclusion than an argument.“ 17 Damit wechselt Craven von der eigentlichen Argumentation in die Metaebene und fragt, ob das, was er selber als Argument identifiziert hat, ein Argument oder nicht vielmehr eine Konklusion sei. Die Teilnehmer können die Argumentation auf einer Metaebene weiterführen und ihr implizit verwendetes argumentations-theoretisches Wissen problematisieren, verändern, weiterentwickeln usw. In einem mündlichen Dialog hätte Blum auf diesen Wechsel in die Metaebene reagieren können und dann wäre allenfalls ein Dialog über die Frage entstanden, was der Unterschied zwischen einem Argument und einer Konklusion sei. Deshalb muss die Argumentationstheorie fähig sein, auf Veränderungen zu reagieren. In der Argumentationsanalyse sind die Konstitutions- und die Objekttheorie nicht getrennt, sondern sie gehen ineinander über.18 Das Verhältnis zwischen Untersuchung und Untersuchungsgegenstand ist kein gespaltetes „Gegenstandsverhältnis“ zwischen Beobachter und Objekt, weil sich die Untersuchung als argumentative Zeichenpraxis auf argumentative Zeichenpraxis bezieht. Argumentationsanalyse ist das Betrachten einer argumentativen Praxis. In dieser Praxis ist schon Können und Wissen vorhanden. Eine Argumentationsanalyse kann das implizite Wissen und Können der Praxis reflektieren und argumentativ verarbeiten. Damit wird der Argumentationsanalytiker zum Teilnehmer, der durch die 16 Yehuda Z. Blum, UN Membership of the „New“ Yugoslavia: Continuity or Break?, in: AJIL, Vol. 86, Nr. 4, 830 ff., 833. 17 Matthew Craven, The Decolonization of International Law. State Succession and the Law of Treaties, Oxford 2007, 73. 18 Gemäss Mastronardi gilt dies für die ganze Rechtswissenschaft: Mastronardi, 1 ff.
§ 6 Die geltungsbezogene Argumentationsanalyse
149
Beobachtung der Argumentationspraxis eine reflektierte Argumentationspraxis produziert.19 Die Spaltung zwischen konstituiertem Objekt und Beobachter wird so zu einer Schichtung zwischen untersuchter und reflektierter Argumentationspraxis.20 In der vorliegenden Untersuchung ist zu fragen, wie die Teilnehmer des Gutachterverfahrens ihr sezessionsrechtliches Wissen und ihr argumentatives Können eingesetzt haben, um ihre jeweilige Position gegenüber dem Gerichtshof und der Öffentlichkeit zu vertreten.21 Und wie der Gerichtshof diese Argumentation aufgenommen, verarbeitet und durch Gutachten über sie entschieden hat.
II. Schritte der Argumentationsanalyse Die Argumentationsanalyse kommt durch mehrere Schritte zu ihren „Gegenständen“.22 In einem ersten Schritt wird aus dem zu analysierenden Material der argumentative Text hergestellt. Dazu wird zunächst die Quaestio formuliert, die den Analytiker oder die Analytikerin interessiert. Mit ihrer Hilfe können die Teile des Texts identifiziert werden, die sich mit der Quaestio beschäftigen. Das Material kann in einzelne Runden eingeteilt und durch Streichung der irrelevanten Teile gekürzt werden. Durch diesen Schritt wird aus dem analysierten Material ein argumentativer Text gewonnen, der auf die Quaestio bezogen ist. In einem zweiten Schritt wird aus dem argumentativen Text die Argumentationsstruktur herausgearbeitet: Der Text wird in einzelne argumentative Züge eingeteilt. Danach wird die thetische Funktion der einzelnen Züge bestimmt. Diese Bestimmung kann mit der Sach- und der Subjektdimension vertieft werden. Erstere lässt Schlüsse über die theoretischen Gehalte der Züge, letztere über die eingebrachten Positionen und Rahmen zu. Ein Zug ist „das Vortragen irgendeiner Äusserung im Dialogspiel, d. h. in dem System der Äusserungen, die zur Erhebung, Überprüfung, Ratifizierung oder Zurückweisung eines Geltungsanspruchs beitragen können.“ 23 Es lassen sich Eröffnungszüge und verschiedene Anschlusszüge unterscheiden.24 Dieser Aspekt der Argumentation tritt vor allem bei Analysen von Gesprächen in den Vordergrund. Für die vorliegende Untersuchung werden die möglichen Züge durch das Verfahrensrecht des Gutachterverfahrens eingeschränkt. Dies wirkt sich auf die Argu19 Vgl. Mastronardi, 7 f.; Kopperschmidt spricht von einer „virtuellen“ Teilnahme (Argumentationstheorie, 11 f. und Argumentationsanalyse, 79). 20 Wohlrapp, Begriff, 448. 21 Jean D’Aspremont spricht von „foundational doctrines“ und „argumentative skills“ (D’Aspremont, Epistemic Forces). 22 Vgl. Wohlrapp, Begriff, 393 ff. 23 Wohlrapp, Begriff, 297. 24 Vgl. oben § 5 III.5.a) und Wohlrapp, Begriff, 298 ff.
150
2. Teil: Theoretische Grundlagen der Argumentationsanalyse
mentationsanalyse aus: Erstens ist die Einteilung in Runden verfahrensrechtlich vorgegeben.25 Zweitens hatten die Akteure die Möglichkeit, fertige Texte einzureichen. Sie mussten ihre Argumentationen also nicht im Gespräch entwickeln, sondern konnten sie zwei Mal einreichen und ein Mal vortragen. In den einzelnen Einlassungen der Akteure überwiegt daher die strukturelle Dimension der Argumentation. Die Akteure versuchen eine These zu formulieren und den Geltungsbezug durch die Begründung einzulösen. Dies führt zu mehr oder weniger gut strukturierten Argumentationen. Zwischen den einzelnen Einlassungen kommt hingegen die prozedurale Dimension zum Tragen: Die Akteure konnten die Argumentationen der anderen Akteure konsultieren und gestützt darauf ihre zweite und dritte Einlassung formulieren. Die prozeduralen Entscheidungen – wie reagiere ich auf diese These, diesen Grund, diesen Einwand? – fallen also zwischen den einzelnen Runden. Zusammenfassend könnte man von folgendem Schema ausgehen: !
s. St.
!
Replik
!
m. St.
!
Gutachten
Prozess
Struktur
Prozess
Struktur
Prozess
Struktur
Prozess
Struktur
Im Gegensatz zu einem Gespräch liegen hier somit schon relativ gut strukturierte, dafür aber zahlreiche Argumentationen vor. Der Aufwand zur Gewinnung der argumentativen Struktur ist gegenüber der Analyse eines Gesprächs kleiner, er muss aber mehrmals durchgeführt werden. Es ist aufgrund des Umfangs des Untersuchungsgegenstands im Gegensatz zu einer Gesprächsanalyse nicht möglich, alle argumentativen Texte wiederzugeben und im Anschluss an die Wiedergabe eine Reformulierung anzufügen, die die thetische Funktion der einzelnen Äusserung bestimmt. Diese Arbeit wurde für jede einzelne Stellungnahme gemacht, sie kann hier aber nicht wiedergegeben werden. Stattdessen wurden die identifizierten Züge zu verschiedenen Positionen zusammengenommen.26 Diese unterschiedlichen Positionen werden hier durch zusammenfassende Reformulierungen der argumentativen Strukturen wiedergegeben. Da dies ein erheblicher Eingriff in die argumentativen Texte ist, wird in den Fussnoten jeweils genau angegeben, auf welche Stelle sich die zusammenfassende Reformulierung bezieht. Dies ermöglicht die Überprüfung des Eingriffs. Für die Leserin besteht der Vorteil darin, dass sie mit relativ wenig Leseaufwand einen guten Überblick über die vertretenen Argumentationen gewinnt. Der Nachteil ist, dass der Vergleich zwischen argumentativen Texten und analytischem Kommentar nur über die Konsultation der Originaldokumente möglich ist. Dieser Nachteil soll durch die zusammenfassenden Reformulierungen gemildert werden.
25 26
Vgl. unten § 7 II. Vgl. dazu unten § 7 III.
§ 6 Die geltungsbezogene Argumentationsanalyse
151
Im Anschluss an die zusammenfassende Reformulierung wird ein analytischer Kommentar verfasst. Dieser setzt sich aus vier Teilen zusammen: Erstens wird die sachliche Dimension vertieft. Diese führt zum eingebrachten theoretischen Gehalt der aufgestellten Forschungsprojekte. Folgende Fragen bieten analytische Orientierung: Welche epistemischen und thetischen Theorien verwenden die Akteure? Was davon ist Wissen? Wie wird das Wissen verwendet, um die inferentiellen Übergänge zu stützen? Was wird im Sinne thetischer Theorie als neue Orientierung für die Praxis angeboten? Wie verändert sich die Sachdimension im Prozess des argumentativen Dialogs? Zweitens wird die subjektive Seite vertieft. Diese Vertiefung führt zu den in die Argumentation eingebrachten Orientierungssystemen, den Positionen und Sichtweisen der Akteure. Folgende Fragen bieten analytische Orientierung: Wie orientieren sich die Akteure? Welche Rahmen werden gesetzt, um die Position zu formulieren? Wie fest sind die Position und der Rahmen im Habitus des Akteurs verankert? Wie verändert sich die subjektive Dimension im Prozess des argumentativen Dialogs? Drittens werden in der intervenierenden Beurteilung einzelne Gründe oder Einwände überprüft. Dadurch bringt sich der Argumentationsanalytiker selbst ein und beurteilt, ob der Grund eine These zu stützen vermag oder ein Einwand gültig ist oder enkräftet werden kann. Viertens wird nach jeder Runde der Argumentationsstand erhoben. Dies liefert einen Überblick über die Geltungsbearbeitung.
3. Teil
Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens § 7 Von den Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen I. Die Dokumente des Kosovo-Verfahrens Das Material der Argumentationsanalyse stellt sich aus den von den Akteuren des Gutachterverfahrens während des Verfahrens produzierten Stellungnahmen, dem Gutachten und den Stellungnahmen der Richter zusammen. Es ist auf der Homepage des Gerichtshofs verfügbar.1 1. Übersicht a) Schriftliche Stellungnahmen Das Gutachterverfahren wurde durch die Anfrage der Generalversammlung eingeleitet. Diese wurde als Resolution 63/3 am 9. Oktober 2008 vom Generalsekretär der VN an den Gerichtshof gesendet. Dieser erhielt sie am 10. Oktober 2008 und informierte darüber alle am Gerichtshof zugelassenen Staaten gemäss Art. 66 Abs. 1 IGH-Statut. In einer Mitteilung vom 17. Oktober 2008 setzte der Gerichtshof, gestützt auf Art. 66 Abs. 2 IGH-Statut, die VN und ihre Mitgliedstaaten davon in Kenntnis, dass sie bis zum 17. April 2009 die Möglichkeit haben, schriftliche Stellungnahmen zur eingegangenen Anfrage einzureichen. In der gleichen Mitteilung beschloss der Gerichtshof, dass auch die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo berechtigt sind, eine Stellungnahme einzureichen.2 Insgesamt gingen 37 schriftliche Stellungnahmen beim Gerichtshof ein. Folgende Staaten reichten eine Stellungnahme ein (in der Reihenfolge des Eingangs beim Gerichtshof): Tschechien, Frankreich, Zypern, China, Schweiz, Rumänien, Albanien, Österreich, Ägypten, Deutschland, Slowakei, Russland, Finnland, Polen, Luxemburg, Libyen, Grossbritannien, USA, Serbien, Spanien, Iran, Estland, 1 http://www.icj-cij.org/docket/index.php?p1=3&p2=4&code=kos&case=141&k=21 &p3 =0. 2 Vgl. dazu sogleich § 7 I.1.b).
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
153
Norwegen, Niederlande, Slowenien, Lettland, Japan, Brasilien, Irland, Dänemark, Argentinien, Aserbaidschan, Malediven, Sierra Leone, Bolivien und Venezuela. Auch die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung reichten eine schriftliche Stellungnahme ein. Die Stellungnahmen wurden entweder von den Botschaften oder den Aussenministerien der jeweiligen Länder eingereicht. In den allermeisten Fällen wird der Botschafter oder der Aussenminister als Signatar angegeben. Dies entspricht der Praxis im Gutachterverfahren; im strittigen Verfahren lassen sich Staaten eher von Beauftragten vertreten.3 Nur in einzelnen Fällen wird direkt ein Rechtsberater angegeben, so z. B. beim Vereinigten Königreich Daniel Bethlehem, bei den Vereinigten Staaten Joan E. Donoghue (die seit 2010 als Richterin beim IGH tätig ist) und bei Serbien Saša Obradovic´. b) Exkurs: Die schriftliche Stellungnahme der „Republik Kosovo“ Als sich abgezeichnet hatte, dass auch eine wie auch immer bezeichnete Vertretung des Kosovo eingeladen werden würde, wandte sich Serbien in einem Brief vom 14. Oktober 2008 an den Gerichtshof. Darin brachte Serbien zum Ausdruck, dass eine „sogenannte Republik Kosovo“ gemäss der VN-Charta und dem IGH-Statut nicht am Verfahren teilnehmen könne.4 Mit Entscheid vom 17. Oktober 2008 beschloss der Gerichtshof, dass auch die „Verfasser der Unabhängigkeitserklärung“ eingeladen werden würden, sich am Verfahren zu beteiligen.5 Die Verfasser reichten eine Stellungnahme der „Republic of Kosovo“ ein, die die Unterschrift des „Representative of the Republic of Kosovo before the International Court of Justice“, Skender Hyseni, trägt.6 Aus Praktikabilitätsgründen wird die Stellungnahme der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung in der Untersuchung als Stellungnahme „Kosovo“ bezeichnet. Der Gerichtshof hat sich in drei Fällen mit der Frage auseinandergesetzt, ob auch Staaten, die nicht Mitglieder des IGH-Statuts sind, beziehungsweise Entitäten, die noch keine ausreichende Anerkennung als Staat erreicht haben, eine Stellungnahme abgeben dürfen. Im ersten Fall, UN Reparations, ging es um die Frage, ob die VN eine Staatshaftungsklage gegen eine de iure- oder de facto-Regierung geltend machen könne; gemeint war Israel, das damals nicht Mitglied der VN war. Der Gerichtshof lud Israel, obwohl es klarerweise von der Fragestellung betroffen war, nicht ein, eine Stellungnahme einzureichen. Israel reichte denn auch keine Stellungnahme ein. Auch im Fall Western Sahara lud der Gerichtshof 3
Paulus, Rz. 12; Rosenne, 1680. Serbien, s. St., Rz. 15. Vgl. auch Serbien, Replik, Rz. 3; Argentinien, Replik, Rz. 2 und Bolivien, m. St., 7 f. 5 IGH, Kosovo, Order of 17 October 2008, Ziff. 4.; CR 2009/24, 28 f. 6 Vgl. die Proteste gegen diese Selbstbezeichnung bei: Argentinien, Replik, Rz. 2. 4
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
nur Mitgliedstaaten der VN ein, obwohl verschiedene mauretanische Volksgruppen unmittelbar vom Fall betroffen waren.7 Im Fall Namibia brachte sich die Organisation für Afrikanische Einheit (Vorgängerorganisation der AU) ein. Im Fall Wall lud der Gerichtshof Palästina zur Einreichung einer Stellungnahme ein;8 desweiteren beteiligten sich auch IOs am Verfahren.9 IOs wurden im Verfahren Kosovo nicht eingeladen und brachten sich auch nicht in das Verfahren ein. Im Falle der EU dürfte die Nichtbeteiligung auf die Uneinigkeit ihrer Mitgliedstaaten in Bezug auf die Sezession zurückzuführen sein.10 Die Einladung Palästinas im Fall Wall wurde unter anderem damit begründet, dass es am Resolutionsentwurf zur Anfrage des Gutachtens beteiligt gewesen war und einen Beobachterstatus in der Generalversammlung inne hatte. Gemäss Paulus sollte die analoge Anwendung von Art. 66 Abs. 2 IGH-Statut auf diese Fälle beschränkt bleiben.11 Mit der Einladung der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung lud der Gerichtshof über die Begründung im Fall Wall hinaus erstmals eine Gruppierung ein, die keinen Status gegenüber den VN inne hatte. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist es zu begrüssen, wenn alle Gruppierungen, die von einem Fall betroffen sind, sich in das Verfahren einbringen können.12 c) Repliken Gemäss Art. 66 Abs. 4 IGH-Statut sind Staaten oder Organisationen, die schriftliche Stellungnahmen vorgebracht haben, berechtigt, zu den Stellungnahmen der anderen Akteure Stellung zu nehmen. In der Mitteilung vom 17. Oktober 2008 setzte der Gerichtshof die Frist für diese Repliken auf den 17. Juli 2009.13 Insgesamt reichten folgende 14 Staaten und die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung eine Replik ein (in der Reihenfolge des Eingangs beim IGH): Frankreich, Norwegen, Zypern, Serbien, Argentinien, Deutschland, Niederlande, Albanien, Slowenien, Schweiz, Bolivien, Grossbritannien, USA, Spanien und Kosovo. 7
Vgl. Paulus, Rz. 13. IGH, Wall, Order of 19 December 2003, Rz. 2. 9 Im Fall Wall beteiligten sich die Liga der arabischen Staaten, die OIK und die EU (IGH, Wall, Rz. 6). Die Stellungnahme der EU wurde von Irland eingebracht, das damals die Präsidentschaft inne hatte. 10 Im Fall Wall bekräftigte die EU nämlich, dass sogar die damaligen Beitrittskandidaten die gleiche Meinung wie sie vertreten würden (Wall, Statement of Ireland on behalf of the European Union, 1; [http://www.icj-cij.org/docket/index.php?p1=3&p2= 4&k=5a& case=131&code=mwp& p3=1]). 11 Paulus, Rz. 13. 12 So auch Norwegen (s. St., Rz. 3), das sich auf das „principle of judicial fairness“ beruft. Kritisch dazu: Burundi (D’Aspremont), m. St., 37, Fn. 37. 13 CR 2009/24, 28. 8
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
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d) Mündliche Stellungnahmen Die mündlichen Stellungnahmen wurden gemäss Art. 66 Abs. 2 IGH-Statut an den öffentlichen Sitzungen des IGH abgegeben. Der Gerichtshof informierte mit Brief vom 8. Juni 2009 die VN und ihre Mitgliedstaaten darüber, dass er diese abhalten werde.14 Der Brief hielt darüber hinaus fest, dass auch die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung eine mündliche Stellungnahme abgeben dürfen. Im Gegensatz zu den Repliken, die nur von Akteuren abgegeben werden durften, die eine Stellungnahme eingereicht hatten, durften auch Staaten, die keine schriftliche Stellungnahmen abgegeben hatten, eine mündliche Stellungnahme abgeben. Die Mitglieder der VN und die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung mussten dem Gerichtshof bis zum 15. September 2009 mitteilen, ob sie an den öffentlichen Sitzungen teilnehmen werden oder nicht. Die Sitzungen fanden vom 1. bis zum 4. und vom 7. bis zum 11. Dezember 2009 in Den Haag statt. Folgende Akteure nahmen daran teil: Serbien, die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, Albanien, Deutschland, Saudi-Arabien, Argentinien, Österreich, Aserbaidschan, Weissrussland, Bolivien, Brasilien, Bulgarien, Burundi, China, Zypern, Kroatien, Dänemark, Spanien, USA, Russland, Finnland, Frankreich, Jordanien, Norwegen, Niederlande, Rumänien, Grossbritannien, Venezuela und Vietnam. Serbien und die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung hatten je drei Stunden zur Verfügung, alle anderen Staaten je 45 Minuten. Insgesamt ergab das eine Sprechzeit von 20 Stunden und 15 Minuten. In dieser dritten Stufe des Verfahrens brachten sich sieben Akteure neu ein: SaudiArabien, Weissrussland, Bulgarien, Burundi, Kroatien, Jordanien und Vietnam. Die beteiligten Akteure wurden, wie schon bei den schriftlichen Stellungnahmen, vorwiegend durch den Botschafter des jeweiligen Landes in den Niederlanden oder durch einen Vertreter des Aussenministeriums vertreten. Zusätzlich bestand die Delegation noch aus einem oder mehreren juristischen Beratern. Die allermeisten Delegationen setzten sich aus drei bis fünf Personen zusammen. Die grösste Delegation hatte Serbien mit 16 Personen. Die Richter hatten am Ende des mündlichen Teils des Verfahrens die Möglichkeit, den Akteuren Fragen zu stellen, die diese nach Abschluss des Verfahrens schriftlich beantworten konnten.15 Diese Antworten sind nicht publiziert und nicht Bestandteil der hier untersuchten Dokumente.
14
CR 2009/24, 29 Die Richter Koroma, Bennouna und Cançado Trindade haben Fragen gestellt (vgl. CR 2009/33, 23 ff.). Die Richter Bennouna und Cançado Trindade gehen in ihren Stellungnahmen auf die Antworten der Akteure ein: vgl. IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Bennouna, Rz. 47 und Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 225 ff. 15
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
e) Gutachten und Stellungnahmen der Richter Der chinesische Richter Shi Jiuyong legte sein Amt am 28. Mai 2010 vor Veröffentlichung des Gutachtens nieder.16 Die Motive für diesen Schritt ergeben sich nicht aus der Pressemitteilung des Gerichtshofs. Es ist möglich, dass er weder gegen die von China vertretene Position stimmen noch eine abweichende Stellungnahme abgeben wollte.17 Als Nachfolgerin wurde Richterin Xue Hanqin gewählt, die Vertreterin Chinas im mündlichen Teil des Kosovo-Verfahrens.18 Sie wurde auf den 29. Juni 2010 gewählt, stimmte aber nicht über das Gutachten ab. Dieses wurde am 22. Juli 2010 veröffentlicht.19 Der Gerichtshof entschied einstimmig, dass er für die Beantwortung der Frage zuständig sei. Er entschied mit neun zu fünf Stimmen, dass er dem Antrag folge und ein Gutachten abgebe. Mit zehn Stimmen zu vier entschied er in der Sache, dass die am 17. Februar 2008 angenommene Unabhängigkeitserklärung des Kosovo weder durch das Völkerrecht im Allgemeinen noch durch die Sicherheitsresolution 1244 (1999) im Speziellen verboten werde.20 Zum Gutachten haben zwei Richter eine eigene Erklärung (Peter Tomka und Bruno Simma), drei Richter eine abweichende Stellungnahme (Abdul G. Koroma, Mohamed Bennouna und Leonid Skotnikov) und vier Richter eine gesonderte Stellungnahme abgegeben (Kenneth Keith, Bernardo Sepúlveda-Amor, Antônio Augusto Cançado Trindade und Abdulqawa Ahmed Yusuf). 2. Einordnung der Dokumente Eine erste Einordnung soll einen Überblick über das Material verschaffen. Das Gutachten und die Stellungnahmen der Richter werden nicht berücksichtigt. Die Einordnung wird anhand zweier Parameter vollzogen: Wie steht der Akteur zur Unabhängigkeit des Kosovo? Diese Einordnung wurde danach vollzogen, ob der Akteur zum Zeitpunkt der Einleitung des Gutachterverfahrens den Kosovo als Staat anerkannt hatte oder nicht. Der zweite Parameter ist formell-institutionell. In welchen IOs und informellen Organisationen ist der Akteur Mitglied? Der Fokus wurde auf Institutionen gelegt, die im kosovarischen Sezessionskonflikt eine bedeutende steuernde Rolle übernommen haben.21 16 IGH, Judge Shi Jiuyong, former President and former Vice-President of the Court, will resign as a Member of the Court with effect from 28 May 2010, Pressemitteilung vom 11. Mai 2010 (http://www.icj-cij.org/presscom/files/7/15927.pdf). 17 Vgl. Talmon/Weller (Talmon), 2. 18 Vgl. Dapo Akande, Is China Changing its view of International Tribunals?, in: EJIL: Talk! vom 4. Oktober 2010 (http://www.ejiltalk.org/is-china-changing-its-viewof-international-tribunals/). 19 Vgl. Art. 67 IGH-Statut. 20 IGH, Kosovo, Rz. 79 bis 84 und 101 bis 121. 21 Eine tabellarische Übersicht findet sich unten § 7 I.3.
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
157
a) Erster Parameter: pro Kosovo oder pro Serbien? 37 Akteure reichten eine schriftliche Stellungnahme ein. Davon anerkannten 21 den Kosovo als Staat und 15 nicht.22 Mit den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung nahmen 22 Akteure die Position der Befürworter eines Staates Kosovo ein. Das numerische Ungleichgewicht zu Gunsten der Befürworter äussert sich auch im gesamten Seitenumfang der eingereichten Dokumente. Die Befürworter reichten insgesamt 758 Seiten ein (wovon 197 auf die Stellungnahme des Kosovo fielen). Die Gegner kamen demgegenüber auf 661 Seiten (wovon 363 auf die Stellungnahme Serbiens fielen). Rechnet man also die beiden umfangreichsten Stellungnahmen weg, so sieht man ein im Vergleich zu den beteiligten Akteuren überproportionales Verhältnis zugunsten der Befürworter (561 zu 299 Seiten). Von den 15 Akteuren, die eine Replik einreichten, waren zehn für die Unabhängigkeit des Kosovo und fünf dagegen. Das Ungleichgewicht vergrösserte sich somit noch: Hatten sich bei den Stellungnahmen nur eineinhalbmal soviele Staaten für die Anerkennung ausgesprochen, so waren es nun doppelt so viele. Die Befürworter verfassten insgesamt 343 Seiten (wovon 152 auf die Replik der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung fielen) und die Gegner 316 (wovon 248 von Serbien eingereicht wurden). Obwohl somit bei den beteiligten Akteuren ein Verhältnis von zwei zu eins zu Gunsten der Befürworter bestand, reichten die Gegner fast gleich viele Seiten ein wie die Befürworter. Diese Feststellung relativiert sich allerdings, wenn man die Repliken der beiden Hauptakteure wegrechnet. Dann reichten die Befürworter nämlich durchschnittlich mehr Seiten ein als die Gegner, was ihr numerisches Übergewicht (neun zu vier; Verhältnis: 2.25) also noch vergrössert (191 zu 68; Verhältnis: 2.8).23 Sieben Staaten äusserten sich erst bei den mündlichen Verfahren. Davon hatten vier den Kosovo als Staat anerkannt.24 Insgesamt anerkannten von den 29 Akteuren 15 den Kosovo als Staat und 14 nicht. Die Beteiligung von neuen Akteuren hatte die Auswirkung, dass das Übergewicht zugunsten der Pro-Akteure relativiert wurde; fast die Hälfte der Akteure des mündlichen Verfahrens anerkannte den Kosovo nicht. Dies hatte auch Auswirkungen auf den ganzen Untersuchungsgegenstand: Von den insgesamt 44 Parteien, die sich im Laufe der Debatte geäussert hatten, waren
22 Folgende Akteure haben den Kosovo anerkannt (in der Reihenfolge der Anerkennung): Frankreich, USA, Albanien, Grossbritannien, Deutschland, Lettland, Dänemark, Estland, Luxemburg, Polen, Schweiz, Österreich, Irland, Niederlande, Slowenien, Finnland, Japan, Norwegen, Tschechien, Sierra Leone und die Malediven. 23 Die Repliken waren in der Regel weniger umfangreich als die Stellungnahmen; die Ausnahmen bildeten Bolivien und Slowenien, die den Stellungnahmen von 1 bzw. 4 Seiten Repliken von 10 bzw. 37 Seiten folgen liessen. 24 Saudi-Arabien, Bulgarien, Kroatien und Jordanien.
158
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
nun 26 für und 18 gegen die Unabhängigkeit des Kosovo. Obwohl somit eine Mehrheit der Staaten, die sich erst jetzt äusserten, den Kosovo als Staat anerkannt hatte, war das Lager der Gegner im Verhältnis zu den Befürwortern stärker gewachsen. b) Zweiter Parameter: Mitgliedschaft in Institutionen, die im kosovarischen Sezessionskonflikt eine steuernde Funktion innehatten oder -haben In einem ersten Schritt werden Akteure, die zum Zeitpunkt des IGH-Verfahrens Mitglied der EU waren von den Nichtmitgliedern unterschieden. Diese Unterscheidung rechtfertigt sich durch die überragende Bedeutung der europäischen Perspektive für den Westbalkan und den Kosovo sowie durch den in Reaktion auf das Gutachten initiierten, von der EU überwachten, Dialog. Danach wird untersucht, inwieweit sich Mitglieder des Sicherheitsrates und Mitglieder von anderen internationalen Akteuren des Sezessionskonflikts in das Verfahren eingebracht haben. Aufgrund dieser Vorarbeit werden die wichtigsten Akteure des IGH-Verfahrens identifiziert. Zum Zeitpunkt des IGH-Verfahrens hatte die EU 27 Mitglieder. Von den 27 EU-Mitgliedstaaten nahmen 19 am Verfahren teil.25 Davon gehörten 15 dem ProKosovo- und 4 dem Pro-Serbien-Lager an.26 18 der 37 schriftlichen Stellungnahmen wurden von Unionsmitgliedern eingereicht. Zählt man noch Albanien, die Schweiz, Norwegen, Serbien und die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung hinzu, waren 23 europäische Akteure beteiligt. Die Teilnahme von 14 nicht europäischen Staaten zeigt aber, dass es sich nicht um Fragen von ausschliesslich europäischem Interesse handelte. Gerade die Tatsache, dass süd- und nordamerikanische, afrikanische und asiatische Staaten teilweise umfangreiche Stellungnahmen eingereicht haben, unterstreicht die Relevanz der aufgeworfenen Fragen.27 Von den 22 Pro-Kosovo-Akteuren, die eine 25 Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Lettland, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Polen, Slowenien, Tschechien, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern. Es fehlten Belgien, Griechenland, Italien, Litauen, Malta, Portugal, Schweden und Ungarn. 26 Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern gehörten zum Pro-Serbien-Lager. 27 Vgl. z. B. Burundi (Barankitse), m. St., 27: „La question posée à la Cour, fût-elle relative à un cas essentiellement européen et de nature sui generis, a potentiellement trait à de nombreux points de droit qui intéressent tous les Etats, et particulièrement les Etats du continent africain. Compte tenu de son histoire et de celle de la région des Grands Lacs, la République du Burundi est tout spécialement sensible aux problèmes juridiques que suscite l’apparition d’entités qui aspirent au statut de sujet de droit international.“ Bolivien schrieb, dass obwohl sich die Anfrage auf „particular factual circumstances“ richte, der Gerichtshof auch die „potentially farreaching normative consequences for international law“ berücksichtigen solle (Replik, Rz. 1). Vgl. auch Ägypten, s. St., Rz. 8 f.
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
159
schriftliche Stellungnahme einreichten, gehörten 8 nicht der EU an und nur 4 waren nicht europäisch.28 Von den 15 Pro-Serbien-Akteuren gehörten 11 nicht der EU an und 10 waren nicht europäisch.29 Die Pro-Kosovo-Seite war in erheblichem Masse von Unionsmitgliedern und europäischen Akteuren geprägt. Dieses Gewicht der europäischen Akteure akzentuierte sich noch bei den Repliken: 12 der 15 Repliken kamen aus Europa, davon 7 von EU-Mitgliedern, 1 kam aus Nord- und 2 kamen aus Südamerika.30 Im Stadium des mündlichen Verfahrens relativierte sich das Verhältnis wieder. Neu kamen 1 EU-Mitglied, 2 weitere europäische und 4 nicht europäische Akteure hinzu.31 Insgesamt nahmen 11 EU-Mitglieder, 6 weitere europäische und 12 nicht europäische Akteure an den mündlichen Verhandlungen teil.32 Das Kontra-Lager setzte sich wiederum aus mehrheitlich nicht europäischen Akteuren (9 von 14), das Pro-Lager aus mehrheitlich europäischen (12 von 15) zusammen. Für das ganze Verfahren zusammengefasst lässt sich somit folgendes festhalten: Von den insgesamt 44 Akteuren waren 19 EU-Mitglieder, 7 weitere europäische und 18 nicht europäische Akteure. Dieses europäische Übergewicht äusserte sich auf der Pro-Kosovo-Seite dadurch, dass bis auf Japan, Jordanien, die Malediven, Saudi-Arabien, Sierra Leone und die USA ausschliesslich europäische Akteure vertreten waren (20 von 26, davon 15 EU-Mitglieder). Auf der Pro-Serbien-Seite waren von 18 nur 6 europäische Akteure, davon 4 EU-Mitglieder. Dem Sicherheitsrat kam im Sezessionskonflikt eine zentrale Bedeutung zu. Nach der Unabhängigkeitserklärung führte er eine Sondersitzung durch. Dabei hätte er in verschiedenster Weise auf den Statusprozess einwirken können: Er hätte beispielsweise die Verwaltungsmission modifizieren oder beenden können. Oder er hätte die Verurteilung des Sezessionsversuchs in einer Resolution in Erwägung ziehen können.33 Oder der Ratspräsident hätte in einer Erklärung Stel-
28
Japan, Malediven, Sierra Leone und die USA. Ägypten, Argentinien, Aserbaidschan, Bolivien, Brasilien, China, Iran, Libyen, Russland und Venezuela. 30 USA, Argentinien und Bolivien. 31 Bulgarien (EU-Mitglied), Jordanien, Kroatien, Saudi-Arabien, Burundi, Vietnam, Weissrussland. 32 EU: Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Grossbritannien, Niederlande, Österreich, Rumänien, Spanien und Zypern; weitere: Albanien, Kosovo, Kroatien, Norwegen, Serbien und Weissrussland; nicht europäisch: Jordanien, SaudiArabien, USA, Argentinien, Aserbaidschan, Bolivien, Brasilien, Burundi, China, Russland, Venezuela und Vietnam. 33 Vgl. die Verurteilungen im Falle des Sezessionsversuchs der kongolesischen Provinz Katanga, S/RES/169 (1961), im Falle von Südrhodesien, S/RES/216 (1965) oder von Nordzypern, S/RES/541 (1983). Zu den Rechtswirkungen einer solchen Resolution Talmon, 320 ff. 29
160
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
lung beziehen können.34 Die Ratsmitglieder konnten sich aber nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen.35 Mit Frankreich, Russland, den USA, Grossbritannien und China brachten sich erstmals alle fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates in den mündlichen und schriftlichen Teil eines IGH-Verfahrens ein. Die USA, Grossbritannien und Frankreich setzten sich in allen drei Stadien des Verfahrens für das Pro-Lager ein, China und Russland engagierten sich beide bis auf die Replik im KontraLager. Von den zehn weiteren Mitgliedern des Rats beteiligten sich Kroatien, Libyen, Vietnam, Österreich und Japan am Verfahren, dabei waren drei für und zwei gegen die kosovarische Unabhängigkeit.36 Insgesamt waren somit 10 der 15 zur Zeit des Verfahrens im Rat vertretenen Staaten Teil des Verfahrens. Folgende weitere internationale Akteure engagierten sich im kosovarischen Statusprozess: die KSZE/OSZE, die OIK, die Kontaktgruppe, das IKRK, das UNHCR, die NATO, die G-8, die Kosovo-Troika, der SG, die UNMIK, die KFOR, die ISG und die Generalversammlung der VN. Es werden nur die Akteure behandelt, die ab der Unabhängigkeitserklärung eine determinierende Rolle im Statusprozess innehatten. Die Generalversammlung reagierte insofern auf die Erklärung, als dass sie die Anfrage an den IGH annahm. Sie nahm im Gegensatz zu früheren Fällen keine Resolution über die Rechtmässigkeit der Sezession an.37 Bis auf die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung waren alle am Verfahren beteiligten Akteure Mitglieder der Generalversammlung der VN. Die OSZE äusserte sich in einer Stellungnahme nach der Unabhängigkeitserklärung statusneutral und überliess die Entscheidung über den Umgang mit der Unabhängigkeitserklärung den Mitgliedstaaten. Von den 26 Pro-Kosovo-Akteuren waren 20, von den 18 Pro-Serbien-Akteuren sieben Mitglieder der OSZE. Auch hier zeigte sich das Übergewicht der europäischen Akteure auf der ProKosovo-Seite.
34 So rief er beispielsweise zur Nichtanerkennung der südafrikanischen Homelands auf, S/13549. Allerdings kommt einer solchen Erklärung keine bindende Wirkung zu, vgl. Talmon, 320. 35 Gemäss Art. 27 Abs. 3 VN-Charta hätte ein Beschluss der Zustimmung von neun Mitgliedern einschliesslich sämtlicher ständiger Mitglieder bedurft; die Enthaltung einer Vetomacht steht dem Zustandekommen nicht im Weg, vgl. IGH, Namibia, N. 22. 36 Folgende Staaten waren 2009 im Rat vertreten: Österreich, Burkina Faso, Costa Rica, Kroatien, Japan, Libyen, Mexico, Türkei, Uganda und Vietnam. 37 Dies wäre gestützt auf Art. 10 und Art. 11 Abs. 2 VN-Charta möglich; Talmon, 315 ff.
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
161
Von der Kosovo-Troika waren Russland und die Vereinigten Staaten vertreten, die EU reichte keine Stellungnahme ein. Von den G-8-Staaten waren bis auf Italien und Kanada alle Staaten vertreten. Von der Kontaktgruppe beteiligten sich fünf von sechs Staaten.38 Die ISG, die vom 28. Februar 2008 bis Ende 2012 existierte, war mit 18 von 24 Staaten vertreten.39 Konsequenterweise sprachen sich alle ISG-Staaten für die Unabhängigkeit des Kosovo aus. Folgende Akteure hatten aufgrund ihrer Mitgliedschaften ein erhöhtes Gewicht im kosovarischen Sezessionskonflikt: – USA (Kosovo-Troika, Vetorecht im Sicherheitsrat, OSZE, ISG, G-8, Kontaktgruppe) – Grossbritannien (EU, Vetorecht im Sicherheitsrat, OSZE, ISG, G-8, Kontaktgruppe) – Frankreich (EU, Vetorecht im Sicherheitsrat, OSZE, ISG, G-8, Kontaktgruppe) – Russland (Kosovo-Troika, Vetorecht im Sicherheitsrat, OSZE, G-8, Kontaktgruppe) – Deutschland (EU, OSZE, ISG, G-8, Kontaktgruppe) – China (Vetorecht im Sicherheitsrat) – Österreich (EU, Sicherheitsrat, OSZE, ISG) – Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Slowenien, Tschechien (alle EU, OSZE, ISG) – Kroatien (Sicherheitsrat, OSZE, ISG) Es handelt sich hierbei um eine formell-institutionelle Einordnung. Diese gibt die Kräfteverhältnisse aus einem bestimmten Blickwinkel wieder. Es ist darauf hinzuweisen, dass damit andere möglichen Einflüsse auf den kosovarischen Sezessionskonflikt, die sich aus historischen, wirtschaftlichen, kulturellen und persönlichen Verbindungen ergeben, ausgeblendet werden. 3. Tabellarische Übersicht Das Material lässt sich unter Berücksichtigung der beiden Parameter wie folgt darstellen:
38
Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Russland und die USA; es fehlte Italien. Österreich, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Lettland, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Polen, Slowenien, Schweiz, Grossbritannien, USA. Folgende ISG-Staaten fehlten: Belgien, Italien, Litauen, Schweden, Türkei und Ungarn. 39
162
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens Tabelle 1 Einordnung Material Schriftliche Stellungnahmen
Replik
Mündliche Stellungnahmen
Total
Akteure
37
15
29
44
Neue Akteure
37
0
7
44
pro Kosovo/ pro Serbien
22
15
10
5
15
14
26
18
EU
14
4
5
2
8
3
15
4
Sicherheitsrat
5
3
3
0
5
3
6
4
Kosovo-Troika
1
1
1
0
1
1
1
1
OSZE
18
6
9
3
12
6
20
7
G-8
5
1
4
0
4
1
5
1
ISG
16
0
8
0
11
0
18
0
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass sich die Mehrheit der Mitglieder der wichtigsten Institutionen des kosovarischen Sezessionskonflikts in das Verfahren eingebracht hat. In allen Kategorien besteht ein Übergewicht zugunsten der Befürworter einer kosovarischen Unabhängigkeit. Für die Pro-Serbien-Seite war das Engagement Russlands entscheidend. Russland war aus der formell-institutionellen Perspektive der einzige „big player“ des Sezessionskonflikts auf proserbischer Seite. Der grosse abwesende Staat war Italien. Als Mitglied der EU, der OSZE, des Sicherheitsrats in den Jahren 2007/08, der Kontaktgruppe, der NATO, der ISG und der G-8 wäre Italien ein weiterer wichtiger Akteur der ProGruppe gewesen. Anhand der anleitenden Fragen der geltungsbezogenen Argumentationsanalyse wird aus diesem Material nun die sezessionsrechtliche Argumentationsstruktur herausgearbeitet.
II. Vom Material zu argumentativen Texten Die Akteure äusserten sich in den Stellungnahmen zu verschiedenen Themen, die durch die Anfrage der Generalversammlung aufgeworfen worden waren. Hier interessieren die Teile des Materials, die eine Antwort auf die Quaestio geben, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist: Wie ist die Sezession völkerrechtlich normiert?40
40
Vgl. oben § 2 I. und § 5 III.1.a).
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
163
Das Material wurde im Hinblick auf die Beantwortung der Quaestio gesichtet. Negativ formuliert wurden Textteile des Materials entfernt, die sich ausschliesslich mit folgenden Themen befassen: Einleitung und Übersicht über die Stellungnahme,41 ereignisgeschichtlicher Rückblick über den Konflikt,42 Zuständigkeit und Ermessen des Gerichtshofs,43 Auslegung der Fragestellung,44 Konformität der Unabhängigkeitserklärung mit der Sicherheitsresolution 1244 (1999) und dem dadurch errichteten Interimsverfassungsrahmen,45 der Kosovo als sui gene41 Albanien, s. St., Rz. 1–3, Replik, Rz. 1–4; Ägypten, s. St., Rz. 1–3 und 10–12; Argentinien, s. St., Rz. 1–13, Replik, Rz. 1, 7–10, m. St., 35–36; Aserbaidschan, s. St., Rz. 1–5; Bolivien, Replik, Rz. 2–5, m. St., 6–8; Bulgarien, m. St., 18–19; Burundi, m. St., 26–28; China, m. St., 28; USA, s. St., 1–4, Replik, 1–5, m. St., 22–25; Schweiz, s. St., Rz. 1–12, Replik, Rz. 1–2; Serbien, s. St., 21–29, Replik, 11–20, m. St., 31–35; Slowakei, s. St., Rz. 1–2; Polen, s. St., 1–3; Russland, s. St., 1–2, m. St., 40; Irland, s. St., Rz. 1–3, 7; Rumänien, s. St., Rz. 1–9, m. St., 17; Norwegen, s. St., Rz. 1–3, Replik, Rz. 1, m. St., 42–43; Jordanien, m. St., 26–27; Kroatien, m. St., 50–5; Niederlande, s. St., Rz. 1.1–1.3, Replik, Rz. 1, m. St., 8; Luxemburg, s. St., Rz. 1–4; Kosovo, s. St., iii–xii, 1–8, Replik, Rz. 1.01–1.08, m. St., 6–15; Iran, s. St., 1; Frankreich, s. St., Rz. 1–8, m. St., 8–9; Tschechien, s. St., 2; Dänemark, s. St., 1–2, m. St., 65–67; Estland, s. St., 2; Spanien, s. St., Rz. 1–3, Replik, Rz. 1–2, m. St., 8–9; Grossbritannien, s. St., Rz. 0.1–0.27, Replik, Rz. 1–5; Österreich, s. St., Rz. 1–4; Deutschland, s. St., 2, m. St., 25–26; Zypern, s. St., Rz. 1–3, Replik, Rz. 1–2, m. St., 37–39; Slowenien, Replik, Rz. 1–2; Venezuela, m. St., 6–7; Vietnam, m. St., 16–17. 42 Albanien, s. St., Rz. 4–40, Replik, Rz. 5–33, m. St., 8–10; Bulgarien, m. St., 19– 22; USA, s. St., 4–40, m. St., 25–28; Serbien, s. St., 51–14, Replik, 43–64; Polen, s. St., 5–22; Russland, s. St., 11–19; Irland, s. St., Rz. 4–6; Jordanien, m. St., 28–31; Norwegen, s. St., Rz. 18–34; Kosovo, s. St., 9–106, Replik, Rz. 2.01–3.66, m. St., 15–29; Kroatien, m. St., 53–64; Frankreich, s. St., Rz. 10–29, m. St., 12–15; Estland, s. St., 2–3; Grossbritannien, s. St., Rz. 2.1–4.27, m. St., 42–43; Österreich, s. St., Rz. 5–13; Deutschland, s. St., 3–4, 8–25, Replik, 3–6; Zypern, s. St., Rz. 18–66; Slowenien, Replik, Rz. 9–110; Venezuela, m. St., 7. 43 Albanien, s. St., 41–70, Replik, 10–12; Ägypten, s. St., Rz. 13–25; Argentinien, s. St., Rz. 14–38, Replik, Rz. 11, 14–24, m. St., 36–37; Aserbaidschan, s. St., Rz. 6–9, m. St., 16–17; Burundi, m. St., 28–29; USA, s. St., 41–45, Replik, 6–9; Schweiz, s. St., Rz. 13–24; Serbien, s. St., 31–50, Replik, 31–42, m. St., 36–41; Polen, s. St., 4; Rumänien, m. St., 17–18; Russland, s. St., 3–6; Irland, s. St., Rz. 8–12; Iran, s. St., Rz. 1.1–1.5; Frankreich, s. St., Rz. 1.1–1.42, Replik, Rz. 4–23, m. St., 10–12; Tschechien, s. St., 3–5; Spanien, s. St., Rz. 7–9, m. St., 9–10; Weissrussland, m. St., 26–27; Zypern, s. St., Rz. 5– 17, Rz. 3–7. 44 Albanien, Replik, Rz. 34–44; Ägypten, s. St., Rz. 4–7; USA, s. St., 45–49, Replik, 10–12, m. St., 36–37; Bulgarien, m. St., 23; Polen, s. St., 4; Russland, s. St., 3–6, m. St., 40–41; Irland, s. St., Rz. 13–17; Luxemburg, s. St., Rz. 9–14; Japan, s. St., 1–2; Jordanien, m. St., 27–28; Kosovo, s. St., 125–136, Replik, Rz. 1.09–1.24, m. St., 30–38; Kroatien, m. St., 52–53; Norwegen, m. St., 43–45; Finnland, s. St., Rz. 1–4; Dänemark, s. St., 2–3; Spanien, s. St., Rz. 4–6, m. St., 10–12; Grossbritannien, s. St., Rz. 1.1–1.16, Replik, Rz. 9, m. St., 38, 46; Deutschland, s. St., 5–8, Replik, 3, m. St., 26; Rumänien, m. St., 18–20; Zypern, s. St., Rz. 67–74; Niederlande, Replik, Rz. 2; Serbien, Replik, 21–29, m. St., 41–43. 45 Albanien, s. St., Rz. 97–102, Replik, Rz. 66–68, m. St., 16–18; Argentinien, s. St., Rz. 65–68, Replik, Rz. 41–51, m. St., 37–42; Aserbaidschan, s. St., Rz. 10–16; Bolivien, Replik, Rz. 19–24; Brasilien, m. St., 15–17; Bulgarien, m. St., 25–26; USA, s. St., 61– 89, Replik, 24–45, m. St., 31–36; Schweiz, s. St., Rz. 31–52, Replik, Rz. 3; Serbien,
164
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
ris-Fall,46 spezifische Fragen zur Unabhängigkeitserklärung47 und abschliessende Zusammenfassungen.48 Diese Themen standen unter einer Vermutung des Ausschlusses. Hat die Lektüre ergeben, dass sie sich entgegen der Vermutung mit der hier aufgeworfenen Quaestio beschäftigen, wurden sie als relevant identifiziert und in den Korpus der argumentativen Texte aufgenommen.49 Folgende Teile der schriftlichen Stellungnahmen wurden als relevant identifiziert:
s. St., 243–323, Replik, 121–130, 151–198, m. St., 43–63, 68–72; Slowakei, s. St., Rz. 18–28; Polen, s. St.30; Sierra Leone, s. St., 1–2; Russland, s. St., 8–10, 20–26, m. St., 44–51; Rumänien, s. St., Rz. 10–62, m. St., 21–26; Norwegen, s. St., Rz. 11–17, Replik, Rz. 8–13, m. St., 51–54; Niederlande, s. St., Rz. 2.1–2.11; Luxemburg, s. St., Rz. 18–26; Japan, s. St., 5; Jordanien, m. St., 39–41; Lettland, s. St., Rz. 3–4, 6; Kosovo, s. St., 161– 182, Replik, Rz. 4.14–4.30, 5.01–5.74, m. St., 46–63; Dänemark, s. St., 8–12, m. St., 70–73; Estland, s. St., 12–15; Spanien, s. St., Rz. 56–86, Replik, Rz. 9–12, m. St., 12– 17; Grossbritannien, s. St., Rz. 6.6–6.17, Replik, Rz. 17–32, m. St., 43–46; Österreich, s. St., Rz. 28–34, m. St., 7–8, 13–14; China, s. St., 1–2, m. St., 28–32; Deutschland, s. St., 37–42, Replik, 7–8, m. St., 28–29; Zypern, s. St., Rz. 91–113, m. St., 42–46; Frankreich, Replik, Rz. 24–27, m. St., 20–26; Venezuela, m. St., 9–10; Vietnam, m. St., 21–23. 46 Japan, s. St., 3–5, 5–8; Estland, s. St., 4 und 11 f.; Irland, s. St., Rz. 33 f.; Polen, s. St., Rz. 5.1–5.2.5.2; Slowenien, s. St., 2, Replik, Rz. 6; Dänemark, s. St., 5–12, m. St., 73–74; Frankreich, s. St., Rz. 2.16–2.82; Grossbritannien, s. St., Rz. 0.17–0.23, m. St., 39–41; Luxemburg, s. St., Rz. 5–8; Norwegen, s. St., Annex 2; Aserbaidschan, s. St., Rz. 17; Zypern, s. St., Rz. 75–81, Replik, Rz. 28–40, m. St., 48–50; Argentinien, Replik, Rz. 33–35, m. St., 48; Serbien, Replik, 65–80, m. St., 88–89; Deutschland, Replik, 6; Bulgarien, m. St., 22. 47 Kosovo, s. St., 107–122. 48 Albanien, s. St., Rz. 111–113, Replik, Rz. 90–100; Argentinien, s. St., Rz. 132; Bulgarien, m. St., 26; USA, s. St., 90, Replik, 46, m. St., 39; Slowenien, s. St., 3, Replik, Rz. 111; Schweiz, s. St., Rz. 98, Replik, Rz. 11; Finnland, m. St., 63–64; Serbien, s. St., 359–362, m. St., 90–93; Polen, s. St., 31; Irland, s. St., Rz. 35; Rumänien, s. St., 160– 163, m. St., 36–37; Kroatien, m. St., 64–64; Niederlande, s. St., Rz. 4, Replik, Rz. 4, m. St., 16; Norwegen, s. St., Rz. 35, Replik, Rz. 14–17; Jordanien, m. St., 41–42; Luxemburg, s. St., Rz. 27; Japan, s. St., 8; Kosovo, s. St., 183–197, Replik, Rz. 6.01–6.36, m. St., 63–64; Iran, s. St., 10–11; Frankreich, s. St., 48; Tschechien, s. St., 12; Dänemark, s. St., 13, m. St., 74–75; Estland, s. St., 15; Spanien, s. St., 55–56, Replik, Rz. 13; Grossbritannien, s. St., Rz. 6.64–6.73; Deutschland, s. St., 43; Zypern, s. St., Rz. 193, Replik, Rz. 45; Bolivien, m. St., 12–13. 49 Albanien, s. St., 43–48, 56–58, 63–66, m. St., 23–24; Argentinien, Replik, Rz. 12– 13, m. St., 49–50; Spanien, m. St., 22; USA, Replik, 29 und m. St., 38.
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
165
Tabelle 2 Argumentative Texte Akteur
Relevante Randziffern/ Seiten
Behandelte Themen
Ägypten
s. St., Rz. 26–77
Prinzip der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Albanien
s. St., Rz. 71–96, 103–110 Völkerrechtskonformität der UnabhängigReplik, Rz. 45–65, 69–89 keitserklärung; Selbstbestimmungsrecht m. St., 12–16, 18–24 der Völker; Recht zur Sezession; Prinzip der territorialen Integrität; Minderheitenrechte
Argentinien
s. St., Rz. 39–64, 69–131 Replik, 12–13, 26–32, 36–40, 52–68 m. St., 42–49
Staatsentstehungsrecht; Prinzip der territorialen Integrität; Minderheitenrechte; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Verhältnis zwischen Unabhängigkeitserklärung und Sezession
Aserbaidschan s. St., Rz. 18–29 m. St., 16–25
Prinzip der territorialen Integrität; Recht zur Sezession
Bolivien
Replik, Rz. 6–18, 25–32 m. St., 8–12
Recht zur Sezession; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität
Brasilien
s. St., 2 m. St., 14–15, 17–18
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Prinzip der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Bulgarien
m. St., 23–25
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung
Burundi
m. St., 29–41
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Selbstbestimmungsrecht der Völker
China
s. St., 2–7 m. St., 32–37
Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Deutschland
s. St., 26–37 Replik, 7 m. St., 26–28, 29–32
Recht zur Sezession; Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Verhältnis zwischen Unabhängigkeitserklärung und Sezession
Dänemark
s. St., 3–5, 12–13 m. St., 67–70
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Selbstbestimmungsrecht der Völker
166 Akteur
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens Relevante Randziffern/ Seiten
Behandelte Themen
Estland
s. St., 3–12
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Recht zur Sezession; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Frankreich
s. St., Rz. 2.1–2.15 Replik, Rz. 9, 28–31 m. St., 15–20
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Recht zur Sezession
Finnland
s. St., Rz. 5–18 m. St., 51–63
Selbstbestimmungsrecht der Völker; Recht zur Sezession
Grossbritannien
s. St., Rz. 5.1–6.2, 6.18– 6.63 Replik, Rz. 6–8, 10–14, 33–46 m. St., 47–54
Staatsentstehungsrecht; Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Prinzip der territorialen Integrität; Recht zur Sezession
Iran
s. St., Rz. 2.1–5.4
Prinzip der territorialen Integrität; Recht zur Sezession
Irland
s. St., Rz. 18–32
Recht zur Sezession
Jordanien
m. St., 31–39
Selbstbestimmungsrecht der Völker; Prinzip der territorialen Integrität
Kosovo
s. St., 137–160 Replik, Rz. 4.01–4.13 und 4.31–4.53 m. St., 38–46
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Prinzip der territorialen Integrität (Replik); Selbstbestimmungsrecht der Völker (Replik)
Lettland
s. St., Rz. 1–2, 5, 7–8
Recht zur Sezession; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Libyen
s. St., Rz. 1–6
Prinzip der territorialen Integrität
Luxemburg
s. St., Rz. 15–17
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung
Niederlande
s. St., Rz. 3 Replik, Rz. 3 m. St., 8–16
Selbstbestimmungsrecht der Völker; Recht zur Sezession
Norwegen
s. St., Rz. 4–8, Annex 2 Replik, Rz. 2–8 m. St., 45–50
Recht zur Sezession; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Prinzip der territorialen Integrität; Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung (m. St.)
Österreich
s. St., Rz. 14–27, 35–43 m. St., 8–12, 14–16
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Staatsentstehtungsrecht
Polen
s. St., 24–29
Selbstbestimmungsrecht der Völker
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen Akteur
Relevante Randziffern/ Seiten
167
Behandelte Themen
Rumänien
s. St., Rz. 63–159 m. St., 20–21, 26–36
Prinzip der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Recht zur Sezession
Russland
s. St., 7–8, 27–38 m. St., 41–44
Anwendbares Recht; Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Recht zur Sezession (m. St.)
Saudi-Arabien m. St., 33–34
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung
Schweiz
s. St., Rz. 25–30, 53–97 Replik, Rz. 4–10
Unabhängigkeitserklärung und Sezession; völkerrechtliche Normierung der Sezession; Prinzip der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Serbien
s. St., 147–241, 325–358 Prinzip der territorialen Integrität; SelbstReplik, 81–121, 131–150, bestimmungsrecht der Völker; Recht zur Sezession 199–207 m. St., 63–68, 73–87
Slowakei
s. St., Rz. 3–17
Prinzip der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Minderheitenrechte
Slowenien
s. St., 3 Replik, Rz. 3–5, 7–8
Prinzip der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Spanien
s. St., Rz. 10–55 Replik, Rz. 3–8 m. St., 17–22
Recht zur Sezession; Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker (Replik)
Tschechien
s. St., 6–11
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Recht zur Sezession
USA
s. St., 50–61 Replik, 13–23, 29 m. St., 29–30, 38
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Prinzip der territorialen Integrität (Replik, m. St.); Selbstbestimmungsrecht der Völker (Replik, m. St.)
Venezuela
s. St., Rz. 1–5 m. St., 10–16
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität
Vietnam
m. St., 17–21
Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Weissrussland m. St., 27–32
Prinzip der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
168
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Akteur
Relevante Randziffern/ Seiten
Behandelte Themen
Zypern
s. St., Rz. 82–90, 114– 192 Replik, Rz. 8–27, 41–44 m. St., 39–41, 47
Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker; Staatsentstehung
Gutachten
Rz. 51, 56, 79–84
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Verbot der und Recht zur Sezession; Prinzip der territorialen Integrität
Richter Tomka Rz. 4, 12–35
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung
Richter Koroma
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität
Rz. 4, 8–25
Richter Simma Rz. 1–9
Selbstbestimmungsrecht der Völker
Richter Sepúl- Rz. 23–35 veda-Amor
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Prinzip der Souveränität und der territorialen Integrität; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Richter Bennouna
Rz. 36–69
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung
Richter Skotni- Rz. 15–17 kov
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung
Richter CanRz. 169–217 çado Trindade
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Richter Yusuf
Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung; Selbstbestimmungsrecht der Völker
Rz. 2–7, 9–11, 17–19
Die schriftliche Stellungnahme von Bolivien brachte die Unterstützung Boliviens für das Gutachterverfahren zum Ausdruck und behielt sich das Recht vor, sich nach vertiefter Auseinandersetzung mit den anderen Stellungnahmen substantiell zu den aufgeworfenen Fragen zu äussern.50 Die schriftlichen Stellungnahmen von Sierra Leone und den Malediven legten die Positionen der beiden Staaten gegenüber dem Kosovo dar, ohne vertieft auf die Frage der völkerrechtlichen Normierung der Sezession einzugehen. Die schriftliche Stellungnahme von Japan stützte in Bearbeitung der Quaestio ausschliesslich auf das sui generisArgument. Die mündliche Stellungnahme von Kroatien ging insbesondere auf die 50
Bolivien, s. St., 2.
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
169
ereignisgeschichtliche Entwicklung des Konflikts und nicht auf die hier behandelte Quaestio ein.51 Die gesonderte Stellungnahme von Richter Keith ging auch nicht auf die hier behandelte Quaestio ein. Diese sechs Stellungnahmen wurden deshalb nicht in den Korpus der argumentativen Texte aufgenommen. Die argumentativen Texte werden analog zu ihrer verfahrensrechtlichen Entstehung in vier Runden eingeteilt: Die Texte der schriftlichen Stellungnahmen bilden die erste Runde des Dialogs. Alle Akteure, die sich an dieser Runde beteiligten, hatten die Gelegenheit, die schriftlichen Stellungnahmen der anderen Akteure zu studieren und sich in einer Replik dazu zu äussern. Die Repliken bilden die zweite Runde des Dialogs. Die dritte Runde setzt sich aus den argumentativen Texten der Transskripte der mündlichen Anhörungen zusammen. Die vierte Runde ist die Beendigung des Verfahrens durch Veröffentlichung des Gutachtens und der Stellungnahmen einzelner Richter. Die verfahrensrechtliche Einteilung wird übernommen, weil ein argumentativer Dialog nicht nur eine Struktur-, sondern auch eine Prozessdimension hat.52 Die Akteure hatten zwischen den verfahrensrechtlichen Schritten die Möglichkeit, sich mit den anderen Argumenten auseinanderzusetzen, eigene Argumentationen zu modifizieren oder fallenzulassen und neue Argumente in das Verfahren einzubringen. Sie hatten insbesondere auch die Möglichkeit, sich innerhalb des Pro-Serbien- und des Pro-Kosovo-Blocks abzusprechen.53 Diese Prozessdimension würde bei einer synchronen Synthetisierung des Verfahrens verlorengehen. Aus diesem Grund werden die verfahrensrechtlichen Runden übernommen.
III. Von argumentativen Texten zu Argumentationsstrukturen Mit der Formulierung der Quaestio, der Herausarbeitung der argumentativen Texte und der Einteilung in verschiedene Dialogrunden ist der erste Schritt der Argumentationsanalyse abgeschlossen. Der zweite Schritt der Argumentationsanalyse soll vom Zustand argumentativer Texte zu einer Argumentationsstruktur führen. Der Schritt wird vollzogen, indem die argumentativen Züge identifiziert und ihre thetische Funktion bestimmt wird. Aufgrund des Umfangs des Untersuchungsgegenstands wird hier nicht jede Äusserung einzeln reproduziert und bestimmt. Die argumentative Struktur wird stattdessen durch zusammenfassende Reformulierungen der vertretenen Positionen wiedergegeben.
51 Kroatien ging nur sehr kurz auf die hier behandelte Quaestio ein. Es hielt fest, dass Unabhängigkeitserklärungen als solche nicht vom Völkerrecht geregelt seien: Kroatien (Metelko-Zgombic´), m. St., 65. 52 Vorne § 5 III.5.a). 53 Vgl. Milanovic.
170
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Die zusammenfassenden Reformulierungen sind wie folgt entstanden: Erstens wurde nach den in Beantwortung auf die Quaestio aufgestellten Hauptthesen gefragt. Zweitens wurden die Begründungsstrukturen für die Einlösung des mit der Hauptthese erhobenen Geltungsanspruchs erarbeitet. Wo die Akteure die gleichen Gründe mit den gleichen Verweisen vertraten, wurden diese zusammengenommen; in den Fussnoten wird auf die entsprechenden Stellen verwiesen. Abweichende Gründe und Verweise werden separat wiedergegeben. Das gleiche gilt für die formulierten Thesen und Einwände. Die zusammenfassenden Reformulierungen wurden zu Positionen verdichtet. Eine Position ist der Ort, an dem sich ein bestimmtes Forschungsprojekt befindet.54 Sie besteht aus einer Hauptthese und einer ganzen thetischen Konstuktion, die sich in der sachlichen Dimension aus epistemischer und thetischer Theorie zusammensetzt. In der subjektiven Dimension setzen die Akteure, die sie vertreten, bestimmte Rahmen und nehmen gewisse Perspektiven und Sichtweisen ein. In einem ersten Schritt wurden die verschiedenen Positionen durch die Hervorhebung bestimmter verwendeter Schlüsselwörter identifiziert.55 Mit Deppermann können Schlüsselwörter als „Ausdrücke“ verstanden werden, „die im Verlauf von Gesprächen einen zentralen Status hinsichtlich der angesprochenen Themen und der Positionen, die die Gesprächsteilnehmer einnehmen, gewinnen.“ 56 In einem reflexiven Vorgehen zwischen argumentativen Texten und Reformulierungen wurden folgende Schlüsselwörter identifiziert: Souveränität (sovereignty), territoriale Integrität (territorial integrity), Selbstbestimmungsrecht der Völker (selfdetermination of peoples), Neutral(ität) (neutral[ity]), Effektivität (effectivity), faktisches Ereignis (factual event), Staatsentstehung (creation of states), Menschenrechte (human rights), Minderheitenrechte (rights of minorities), abnormale Situation (abnormal situation) und Hoheitstitel (territorial title). Die Verwendung der Schlüsselwörter führt zur Reaktualisierung bestimmter epistemischer und thetischer Theorien und zum Verweis auf bestimmte Dokumente. Sie rahmen die Sezession aus einer bestimmten Perspektive bzw. Sichtweise und rücken so gewisse Aspekte ins Zentrum der Begründung, während andere wiederum ausgeblendet werden. Anhand der Verwendung dieser Schlüsselwörter lassen sich fünf verschiedene Positionen unterscheiden: Nach einer ersten ist die Sezession völkerrechtswidrig, weil sie gegen das Prinzip der territorialen Integrität verstösst. Nach einer zweiten ist die Sezession zulässig, wenn sie sich als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker rechtfertigen lässt. Diese ersten beiden Positionen 54
Vgl. oben § 4 III.1.b). Vgl. Wohlrapp, Begriff, 393. 56 Deppermann, 144 m. H. auf Werner Nothdurft, Schlüsselwörter. Zur rhetorischen Herstellung von Wirklichkeit, in: Werner Kallmeyer (Hrsg.), Gesprächsrhetorik. Rhetorische Verfahren in Gesprächsprozessen, Tübingen 1996, 351 ff. 55
§ 7 Von Dokumenten des Kosovo-Verfahrens zu Argumentationsstrukturen
171
nähern sich der Quaestio über die Abwägung zwischen dem Prinzip der territorialen Integrität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.57 Der Unterschied der Positionen ergibt sich weniger aus dem Gebrauch gewisser Wörter, sondern vielmehr aus der Art und Weise ihres Gebrauchs. Für eine dritte Position ist die Sezession ein faktischer Vorgang, der vom Völkerrecht nicht geregelt wird.58 Für die vierte Position ist die Sezession ein aussergewöhnlicher rechtlicher Zustand, der aussergewöhnlicher Regelung bedarf.59 Und für eine fünfte Position ergibt sich die Legalität der Sezession aus dem rechtskonformen Übergang des Rechtstitels.60 Die Argumentationsanalyse folgt in ihrer Darstellung diesen fünf Positionen.
57 58 59 60
Schlüsselbegriffe „territorial integrity“ und „self-determination of peoples“. Schlüsselbegriffe „neutral(ity)“, „effectivity“, „factual event“. Schlüsselbegriff „abnormal situation“. Schlüsselbegriff „title to territory“.
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums I. Schriftliche Stellungnahmen 1. Hauptthese der Position 1: „the UN has never accepted the principle of secession“ Als der damalige Generalsekretär der VN, U Thant, am 4. Januar 1970 in Dakar eine Pressekonferenz gab, wurde er nach dem Widerspruch zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Verhalten der nigerianischen Regierung gegenüber der Biafra gefragt. In seiner Antwort führte er unter anderem folgendes aus: „[W]hen a Member State is admitted to the United Nations, there is the implied acceptance by the entire membership of the principle of territorial integrity, independence, and sovereignty of that particular State. [. . .] So, as far as the question of secession of a particular section of a Member State is concerned, the United Nation’s attitude is unequivocable. As an international organization, the United Nations has never accepted and does not accept and I do not believe it will ever accept the principle of secession of a part of its Member State.“ 1
Die Antwort fand als Zitat über die Stellungnahmen von Aserbaidschan, China, Iran und Serbien den Weg in das Verfahren zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Es bringt die von der Position 1 vorgeschlagene Orientierung am Prinzip der territorialen Integrität und der kategorischen Ablehnung der Möglichkeit der Sezession exemplarisch zum Ausdruck. Die Position vertritt folgende Hauptthese: Die Sezession verstösst als Abspaltung eines Teils des Territoriums gegen den Willen des betroffenen Staates in jedem Fall gegen das Prinzip der territorialen Integrität. Folgende Akteure haben die Hauptthese in die erste Runde eingebracht: Ägypten, Argentinien, Aserbaidschan, Brasilien, China, Iran, Libyen, Rumänien, Serbien, Slowakei, Spanien und Venezuela. Die Begründungsstruktur zur Stützung der These verläuft in allen schriftlichen Stellungnahmen ähnlich. Eine erste Struktur leitet die Subthese 1 her, wonach die territoriale Integrität als grundlegendes völkerrechtliches Prinzip das Territorium des Staates gegen Sezessionen schütze [a)]. Eine zweite Struktur führt zur Subthese 2, wonach das Prinzip der territorialen Integrität nicht durch andere Prinzi1 Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 36 (Hervorhebung hinzugefügt).
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
173
pien oder Normen – allen voran das Selbstbestimmungsrecht der Völker – relativiert werde [b)]. Verschiedene Proponenten haben Einwände zur Theorie der remedialen Sezession formuliert. Diese werden hier als Einwände zur Position 2 wiedergegeben (§ 9.I.2.). a) Subthese 1: Das Prinzip der territorialen Integrität verbietet die Sezession Der erste Schritt besteht in der Aufstellung der Subthese, dass die territoriale Integrität als zentrales völkerrechtliches Prinzip die Sezession verbiete.2 Dazu gehen die Akteure auf die grundlegende Bedeutung [aa)], die inhaltliche Tragweite [bb)] und die Anwendbarkeit ratione personae [cc)] ein. aa) Territoriale Integrität als grundlegendes völkerrechtliches Prinzip Als Erstes wird die grundlegende Bedeutung des Prinzips der territorialen Integrität dargelegt.3 Für Ägypten ist das Prinzip der territorialen Integrität der Staaten ein „core principle of customary international law“ und ein „cornerstone of international relations“.4 Für Argentinien ist das Völkerrecht ein Normkorpus, das vornehmlich die zwischenstaatlichen Beziehungen regelt, und ohne dieses Prinzip nicht vorstellbar.5 Aserbaidschan sieht Staaten „at the heart of the international legal system and the prime subjects of international law“ – deshalb komme dem Prinzip eine wesentliche Bedeutung zu.6 Souveränität und territoriale Integrität seien verknüpft und grundlegende Prinzipien. Im Gegensatz zu vielen anderen völkerrechtlichen Normen könnten diese nur durch einen „conceptual shift in the classical and contemporary understanding of international law“ verändert werden.7 Eine solche Verbindung zwischen dem Prinzip und dem Völkerrechtsverständnis stellen auch Serbien und Spanien her.8 Für den Iran ist das Prinzip eine ius cogens-Norm i. S. v. Art. 53 WVK.9 China schreibt von einem „fundamental principle of international law upon which other principles of 2 Ägypten, s. St., Rz. 26 ff.; Argentinien, s. St., Rz. 69 ff.; Aserbaidschan, s. St., Rz. 18 ff.; Brasilien, s. St., 2; China, s. St., 2 ff.; Iran, s. St., Rz. 2 ff.; Libyen, s. St., Rz. 2; Rumänien, s. St., Rz. 63 ff.; Serbien, s. St., Rz. 412 ff.; Slowakei, s. St., Rz. 3 ff.; Spanien, s. St., Rz. 20 ff.; Venezuela, s. St., Rz. 1, 4 und 5. 3 Serbien legt zuerst die inhaltliche Tragweite dar und geht danach auf die Darlegung der grundlegenden Bedeutung durch Verweis auf zahlreiche Dokumente ein (s. St., Rz. 412 ff.). 4 Ägypten, s. St., Rz. 28. 5 Argentinien, s. St., Rz. 69 m. H. auf IGH, Corfu Channel Case, Rz. 35 und Nicaragua, Rz. 213 und 251 f. 6 Aserbaidschan, s. St., Rz. 18 m.w. H. Vgl. auch Serbien, s. St., Rz. 415 und 417. 7 Aserbaidschan, s. St., Rz. 19. 8 Serbien, s. St., Rz. 415 ff. und Spanien, s. St., Rz. 23. 9 Iran, s. St., Rz. 2.1.
174
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
international law rest.“ 10 Es sei gemäss Art. 2 das zentrale Prinzip der VNCharta. Auch Rumänien und Serbien sehen im Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten nach Art. 2 VN-Charta die grundlegende Norm, auf welcher das ganze VN-System aufbaut.11 Serbien folgert daraus mit O’Connell, dass das Territorium wahrscheinlich das „fundamental concept of international law“ sei.12 Die These, dass dem Prinzip der territorialen Integrität ein solch prominenter Platz zukomme, wird durch zahlreiche Verweise belegt, u. a. auf folgende Gründungsdokumente von IOs und regionale Dokumente: Art. 10 der Völkerbundsatzung,13 Art. 2 Ziff. 4 der VN-Charta,14 Art. V des Pakts der Arabischen Liga,15 Art. III der OAU-Charta,16 Art. 3 f. der Gründungsakte der AU,17 Art. 1 und 2 der OIK-Charta,18 Art. 1, 13 und 28 f. der OAS-Charta,19 Art. 2 Ziff. 2 der ASEAN-Charta,20 die Schlussakte von Helsinki21 und die Charta von Paris.22 China verweist als einziges Land auf die Fünf Prinzipien der Friedlichen Koexistenz.23 Desweiteren wird auf folgende Dokumente der Generalversammlung verwiesen: VN-Erklärung über die Dekolonialisierung,24 A/RES/20/2131,25 A/RES/21/2160,26 FRD,27 VN-Erklärung über das Recht auf Entwicklung 10
China, s. St., 2. Rumänien, s. St., Rz. 70 f. m. H. auf Franck/Higgins/Pellet/Shaw/Tomuschat, Rz. 2.16; Serbien, s. St., Rz. 414 m. H. auf FRD. Vgl. auch Slowakei, s. St., Rz. 3 und 13; Spanien, s. St., Rz. 20. 12 Serbien, s. St., Rz. 416 und 420 m. Zitat von Daniel Patrick O’Connell, International Law, 2. Aufl., London 1970, Vol. I, 403. 13 Ägypten, s. St., Rz. 31; Argentinien, s. St., Rz. 72; Serbien, s. St., Rz. 429. 14 Ägypten, s. St., Rz. 32; Argentinien, s. St., Rz. 72; Iran, s. St., Rz. 2.2.; Rumänien, s. St., Rz. 72; Serbien, s. St., Rz. 430; Slowakei, s. St., Rz. 4. 15 Ägypten, s. St., Rz. 33. 16 Ägypten, s. St., Rz. 34; Serbien, s. St., Rz. 486. 17 Serbien, s. St., Rz. 486. 18 Ägypten, s. St., Rz. 34; Serbien, s. St., Rz. 489. 19 Argentinien, s. St., Rz. 73 m. H. auf zahlreiche weitere regionale (süd-)amerikanische Dokumente. Auch China zitiert zahlreiche regionale Dokumente: China, s. St., 3. 20 Serbien, s. St., Rz. 490. 21 Argentinien, s. St., Rz. 72; China, s. St., 6; Iran, s. St., Rz. 2.2; Rumänien, s. St., Rz. 81 ff.; Serbien, s. St., Rz. 478; Slowakei, s. St., Rz. 5; Spanien, s. St., Rz. 26. 22 China, s. St., 6; Iran, s. St., Rz. 2.2; Rumänien, s. St., Rz. 92; Serbien, s. St., Rz. 479; Spanien, s. St., Rz. 26. Serbien verweist als einziger Staat noch auf folgende Dokumente (s. St., Rz. 481 ff.): Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, Art. 21 der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten; Art. 3 der GUS-Charta; Präambel und Art. 3 der OVKS-Charta; Art. II der GUAM-Charta sowie regionale amerikanische und afrikanische Dokumente. Rumänien verweist auf die Anerkennungsrichtlinien der EG (s. St., Rz. 93) und die Rz. 17–19 der Agenda for Peace (Rz. 65). 23 China, s. St., 3. 24 Ägypten, s. St., Rz. 35; China, s. St., 4; Serbien, s. St., Rz. 432. 25 Spanien, s. St., Rz. 25. 26 Spanien, s. St., Rz. 25. 11
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
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(Art. 5),28 A/RES/46/182,29 A/RES/48/128,30 A/RES/52/112,31 A/RES/53/ 71,32 Wiener Erklärung,33 VN-Erklärung zum 50. Jahrestag,34 VN-Milleniumserklärung35, VN-Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005,36 VN-Terrorismusbekämpfungsstrategie37 und die VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker (Art. 46).38 Und folgende Dokumente aus der Rechtsprechung: StIGH, Island of Palmas-Fall, 839;39 IGH, Corfu Channel Case, 35;40 Nicaragua, Rz. 213, 251 f.;41 Badinter-Schiedskommission, Gutachten 342 und die Rz. 127 des Quebec-Gutachtens.43 Und schliesslich dient auch das eingangs erwähnte Zitat von Generalsekretär U Thant als Anhaltspunkt.44 bb) Die inhaltliche Tragweite des Prinzips Nach der Darlegung der grundlegenden Bedeutung gehen die meisten Proponenten auf die inhaltliche Tragweite des Prinzips ein. Aus der Staatenpraxis leitet Argentinien drei Hauptelemente der territorialen Integrität her: Vollkommenheit (plenitude), Unantastbarkeit (inviolability) und die Garantie gegen die Aufteilung des Territoriums (guarantee against any dismemberment of the territory).45 Das erste Element besage, dass der Staat alle staatlichen Funktionen innerhalb des
27 Ägypten, s. St., Rz. 36; Argentinien, s. St., Rz. 70; China, s. St., 2 und 6; Iran, s. St., Rz. 2.2; Rumänien, s. St., Rz. 75 ff.; Serbien, s. St., Rz. 414, 433; Slowakei, s. St., Rz. 8; Spanien, s. St., Rz. 22 ff.; Venezuela, s. St., Rz. 5. 28 Ägypten, s. St., Rz. 37; Serbien, s. St., Rz. 434. 29 Ägypten, s. St., Rz. 38; Serbien, s. St., Rz. 434 (Serbien schreibt zwar 48/182, der zitierte Text, das angegebene Datum und der Titel verweisen aber auf 46/182). 30 Serbien, s. St., Rz. 434. 31 Serbien, s. St., Rz. 435. 32 Iran, s. St., Rz. 2.2. 33 Ägypten, s. St., Rz. 39; Iran, s. St., Rz. 2.2; Slowakei, s. St., Rz. 9. 34 Iran, s. St., Rz. 2.2; Spanien, s. St., Rz. 25. 35 Argentinien, s. St., Rz. 71; China, s. St., 5; Iran, s. St., Rz. 2.2.; Serbien, s. St., Rz. 436. 36 Ägypten, s. St., Rz. 40; Argentinien, s. St., Rz. 71; China, s. St., 5; Serbien, s. St., Rz. 436. 37 Serbien, s. St., Rz. 436. 38 Serbien, s. St., Rz. 437. 39 China, s. St., 3; Serbien, s. St., Rz. 419. 40 Argentinien, s. St., Rz. 69; Aserbaidschan, s. St., Rz. 20; China, s. St., 3. 41 Argentinien, s. St., Rz. 69; China, s. St., 3. 42 Argentinien, s. St., Rz. 72; Rumänien, s. St., Rz. 69. 43 China, s. St., 6. 44 Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 36. Zitiert von: Aserbaidschan, s. St., Rz. 26; China, s. St., 6 f. und Iran, s. St., 10. 45 Argentinien, s. St., Rz. 74 ff.
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ganzen Territoriums ausüben dürfe. Einschränkungen seien nur mit Einverständnis des betroffenen Staates oder durch eine bindende Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII VN-Charta möglich. Ein Beispiel hierfür sei die internationale Verwaltung des Kosovo durch S/RES/1244 (1999). Das zweite Element, dass eine Pflicht bestehe, keine staatliche Funktionen auf dem Territorium eines Drittstaats ohne dessen Einverständnis auszuüben.46 Das letzte Element, dass die Unterstützung von sezessionistischen Bewegungen eine Verletzung der territorialen Integrität des betroffenen Staates darstelle.47 Aserbaidschan leitet aus dem Prinzip die Pflicht der Staaten ab, die territoriale Integrität der anderen Staaten zu respektieren.48 Dies beinhalte nicht nur den Schutz des Territoriums an sich und des Rechts, die Hoheitsgewalt auf diesem Territorium auszuüben, sondern auch das Territorium als Ganzes bzw. die Delineation des einzelnen Staates aufrechtzuerhalten. Alle Staaten müssten die „territorial structure and configuration of a state“ respektieren. Rumänien unterstreicht zunächst, dass aus dem Prinzip der territorialen Integrität die Unantastbarkeit der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit eines Staates folge.49 Mit der Schlussakte von Helsinki hält Rumänien fest, dass Staaten sowohl das Recht der anderen Staaten respektieren müssten, ihre politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Systeme frei zu wählen und ihr Recht selbst zu bestimmen, als auch die Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen, die nur durch friedliche und konsensuale Mittel verändert werden dürften. Der letzte Punkt verbiete die Infragestellung der Grenzen und damit auch das Erheben eines Anspruchs oder das Vollziehen einer Handlung, die zur Inbesitznahme oder Usurpation eines Teils oder des ganzen Territoriums führe (Prinzip III der Schlussakte von Helsinki). Dieser Schutz gelte absolut.50 Änderungen von Staatsterritorium oder -grenzen könnten nur mit Einverständnis der betroffenen Staaten erfolgen. Eine unilaterale Sezession verstosse damit in jedem Fall gegen das Prinzip der territorialen Integrität. Für Serbien ist der Ausgangspunkt, dass die territoriale Souveränität eines Staates diesem das exklusive Recht gebe, die Funktionen eines Staates auszuüben.51 Die Exklusivität garantiere als Unabhängigkeit, dass kein anderer Staat auf dem Territorium dieses Staates die staatlichen Funktionen ohne Einverständnis dieses Staates ausüben dürfe. Damit habe das Prinzip zwei Seiten: gegen innen garantiere es das Recht des Staates, die Funktionen ausüben zu dürfen und 46
Argentinien, s. St., Rz. 74 m. H. auf StIGH, Lotus, 18. Argentinien, s. St., Rz. 74 m. H. auf S/RES/145 (1960), 169 (1961), 404 (1977) und 496 (1981). 48 Aserbaidschan, s. St., Rz. 21 ff. 49 Rumänien, s. St., Rz. 77 ff. 50 Rumänien, s. St., Rz. 97 f. 51 Serbien, s. St., Rz. 419 m. H. auf Island of Palmas-Fall, 839. 47
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gegen aussen garantiere es die Exklusivität dieses Rechts.52 Ein Staat dürfe sein Territorium nicht wissentlich anderen zur Verfügung stellen, um Handlungen zu vollziehen, die gegen die Rechte anderer Staaten verstossen.53 Die Staaten seien somit verpflichtet, die territoriale Integrität der anderen zu respektieren. Integrität heisse insbesondere auch, die territoriale Ganzheit bzw. die Delineation eines bestimmten Staates zu respektieren.54 Hier geht Serbien auf die Unterscheidung zwischen territorialer Souveränität und Integrität ein: „While the principle of territorial sovereignty focuses upon the nature of the relationship between the state and its territory and defines its essential legal character, the principle of territorial integrity takes the matter a step further in affirming that this relationship is one that must be protected internationally; as a matter of international law and within a defined spatial context.“ 55
Für Serbien beinhaltet das Prinzip nicht nur die „negative Seite“ der Nichteinmischung, sondern auch eine „positive“, die besagt, dass Staaten dazu verpflichtet sind, die Komposition der anderen Staaten zu schützen. Daraus folge auch die „strong presumption against dismemberment [. . .].“ 56 Mit Zitat aus dem IGH-Urteil Territorial Dispute (Libya v. Chad) hält Serbien fest, dass eine Änderung der Grenzen nur mit Einverständnis des betroffenen Staates herbeigeführt werden könne.57 Die Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo durch die internationale Gemeinschaft würde eine radikale Neuorientierung des Völkerrechts („radical re-orientation of international law“) mit sich bringen und das Prinzip der Stabilität der Grenzen infrage stellen. Die Slowakei verbindet das Prinzip durch Art. 2 Ziff. 4 und 7 VN-Charta mit dem Gewalt- und dem Einmischungsverbot in innere Angelegenheiten.58 Das Völkerrecht habe stets die territoriale Integrität eines Staates favorisiert und der Staat habe daher das Recht, sich mit rechtmässigen Mitteln gegen Sezessionsversuche zu wehren. Eine Unterstützung der Sezessionisten durch Drittstaaten sei als unrechtmässige Einmischung anzusehen. Spanien entwickelt die inhaltliche Tragweite des Prinzips anhand der FRD.59 Demnach würden die Prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität folgende Pflichten beinhalten: 52 53
Serbien, s. St., Rz. 420 f. m. H. auf StIGH, Lotus, 18. Serbien, s. St., Rz. 421 m. H. auf IGH, Corfu Channel Case, 22 und Asylum Case,
275. 54
Serbien, s. St., Rz. 423. Serbien, s. St., Rz. 423. 56 Serbien, s. St., Rz. 425 m. H. auf IGH, Continental Shelf (Tunisia v. Libya), Rz. 84 und Temple of Preah Vihear, 34. 57 Serbien, s. St., Rz. 426 m. H. IGH, Territorial Dispute (Libya v. Chad), Rz. 45 und 72. 58 Slowakei, s. St., Rz. 4. 59 Spanien, s. St., Rz. 22. 55
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– Absehen von jeglichen militärischen, politischen und ökonomischen Zwangsmassnahmen, die gegen die politische Unabhängigkeit und die territoriale Integrität eines Drittstaats gerichtet sind; – Anerkennung der souveränen Gleichheit aller Staaten; – Unterlassung der Drohung und der Anwendung von Gewalt; – Unterlassung jeglicher Handlung, die auf die partielle oder totale Zerstörung der politischen Einheit und der territorialen Integrität eines Drittstaats gerichtet ist, sowie – Anerkennung des Prinzips der Nichteinmischung, wonach kein Staat das Recht hat, sich in die internen und externen Angelegenheiten einzumischen.
Ägypten, Brasilien, China und Libyen gehen nicht auf die inhaltliche Tragweite ein. Für China müssen alle Staaten die Souveränität und die territoriale Integrität der anderen respektieren.60 Libyen geht davon aus, dass das Prinzip den Staaten absolute Souveränität über ihre Regionen gebe.61 cc) Die Anwendbarkeit ratione personae Entscheidend ist nun die Frage, wer an das grundlegende Prinzip der territorialen Integrität und seine inhaltliche Tragweite gebunden ist. Für die Proponenten der Position 1 steht ausser Frage, dass sich Drittstaaten daran halten müssen. Sie stellen darüber hinaus die These auf, dass neben den Staaten noch weitere Akteure daran gebunden seien. Für Argentinien ist es eine „obligation that applies not only to States and international organisations, but also to other international actors, particularly those involved in internal conflicts threatening peace and security.“ 62 Iran glaubt, dass „the principle of territorial integrity prevails both between and within states.“ 63 Rumänien hält fest, dass obwohl „the international documents referred to above apparently establish a general obligation of States to fully observe the principle of territorial integrity in their mutual relations, this principle imposes an erga omnes obligation [. . .].“ 64 Rumänien geht aber nicht weiter auf diesen Punkt ein. Für Serbien handelt es sich um eine „duty placed on all States and relevant non-state actors [. . .].“ 65 Spanien nähert sich dem Thema über die Praxis des Sicherheitsrats, die sich mit innerstaatlichen Konflikten auseinandersetzt.66
60 61 62 63 64 65 66
China, s. St., 2. Libyen, s. St., Rz. 2. Argentinien, s. St., Rz. 75. Iran, s. St., Rz. 3.1. Rumänien, s. St., Rz. 80 und 108. Serbien, s. St., Rz. 423. Spanien, s. St., Rz. 28.
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Diese Praxis bildet den hauptsächlichen Verweishorizont der Proponenten, um diese These zu begründen. Sie beziehen sich auf Fälle, in denen sich der Sicherheitsrat an nicht staatliche Akteure gewendet und auf den Schutz der territorialen Integrität des betroffenen Staates hingewiesen hat. Argentinien verweist auf die Praxis zum Kosovo,67 Bosnien und Herzegowina,68 Abchasien69 und der kroatischen Krajina.70 Jüngst habe der Sicherheitsrat in innerstaatlichen und sezessionistischen Konflikten in Somalien, der Demokratischen Repulik Kongo, dem Sudan und Georgien den Schutz der territorialen Integrität bekräftigt.71 Der Gerichtshof müsse die Etablierung von „double standards“ im Fall Kosovo unterbinden und wie der Sicherheitsrat die territoriale Integrität von Serbien schützen.72 Auch der Iran stützt sich zunächst auf die Sicherheitsratspraxis.73 Daneben jedoch auch auf die Praxis der Generalversammlung zur komorischen Insel Mayotte, in der die Generalversammlug im jahrelangen Konflikt um die Frage, ob Mayotte zu den Komoren oder zu Frankreich gehört, stets die territoriale Integrität der Komoren favorisiert habe.74 Als weiteren Anhaltspunkt bezieht sich Iran auf Art. 8 Ziff. 3 des Römer Statuts des IStGH, der festhält, dass sich Staaten in innerstaatlichen Konflikten aller rechtmässigen Mittel bedienen dürfen, um die Einheit und territoriale Integrität des Staates zu verteidigen. Für den Iran ist der Zweck hinter dieser Bestimmung, dem Missverständnis vorzubeugen, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit allenfalls die territoriale Integrität von Staaten mit innerstaatlichen Konflikten untergraben würde. Als letzte Referenz bezieht sich der Iran auf die Praxis europäischer Akteure. Diese hätten an der Jugoslawien-Konferenz von 1992 festgehalten, dass die Integrität der Grenzen von Bosnien und Herzegowina respektiert werden müsse und nur im gegenseitigen Einvernehmen verändert werden könne.75 Ein letzter Anhaltspunkt der iranischen Stellungnahme ist das Gutachten 2 der Badinter-Schiedskommission, in dem die Kommission zum Schluss gekommen ist, dass die Serben in Bosnien und Herze67
Argentinien, s. St., Rz. 75 f. m. H. auf S/RES/1203 (1998) und 1244 (1999). Argentinien, s. St., Rz. 77 m. H. auf S/RES/787 (1992). 69 Argentinien, s. St., Rz. 78 m. H. auf S/RES/971 (1995) und S/PRST/1994/78. 70 Argentinien, s. St., Rz. 79 m. H. auf S/RES/981 (1995), 990 (1995), 994 (1995) und 1009 (1995). 71 Argentinien, s. St., Rz. 80 m. H. auf S/RES/1772 (2007), 1784 (2007), 1756 (2007) und 1808 (2008). 72 Argentinien, s. St., Rz. 81 f. 73 Iran, s. St., Rz. 3.2. m. H. auf S/RES/688 (1991) zum Irak, S/RES/1287 (2000) zu Georgien, S/RES/794 (1992) zu Somalien sowie die S/RES/1484 (2003) und 1501 (2003) zur Demokratischen Republik Kongo. 74 Iran, s. St., Rz. 3.3 mit zahlreichen Hinweisen auf Generalversammlungsresolutionen zu Mayotte von 1973 bis 1992. 75 Iran, s. St., Rz. 3.5 m. H. auf Statement of Principles, 26 August 1992, International Conference on the Former Yugoslavia („London Conference“), Principle VIII, in: 31 I.L.M. 1533. 68
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gowina und Kroatien alle Menschen- und Minderheitenrechte ethnischer Gruppen, aber kein Recht zur Sezession hätten.76 Serbien streicht hervor, dass sich die VN-Erklärung über die Dekolonialisierung in Ziff. 4 auch an nicht staatliche Akteure richte.77 Ein weiterer Anhaltspunkt sei Art. 46 der VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, die sich an „any State, people, group or person“ richte. Dies zeige die Breite des potentiellen Anwendungsbereichs des Prinzips auf.78 Auch für Serbien bildet jedoch die VN-Praxis zu nicht staatlichen Akteuren in innerstaatlichen Konflikten den wichtigsten Verweisungshorizont.79 Serbien bezieht sich auf die Praxis zu den Konflikten in Bosnien und Herzegowina und Kroatien,80 späteren Resolutionen zu Bosnien und Herzegowina, die eine Referenz an das Dayton-Abkommen81 beinhalten, das wiederum den Respekt für die territoriale Integrität von Bosnien und Herzegowina festschreibt,82 Somalia und die sezessionistischen Bestrebungen in Somaliland und Puntland,83 Abchasien in Georgien,84 die Demokratische Republik Kongo,85 Sudan86 sowie „weitere Situationen“, zu denen Serbien den Irak, Afghanistan, Haiti, Nepal, Burundi, die Elfenbeinküste, Angola, Sierra Leone, die Komoren, die Ukraine, Aserbaidschan und den Libanon zählt.87 Die kontinuierliche Bestärkung der somalischen territorialen Integrität richte sich
76
Iran, s. St., Rz. 3.6 m. H. auf Badinter-Schiedskommission, Gutachten 2. Serbien, s. St., Rz. 431. 78 Serbien, s. St., 437 f. 79 Serbien, s. St., Rz. 440 ff. 80 Serbien, s. St., Rz. 442 ff. m. H. auf Ziff. 1 der S/RES/752 (1992), 770 (1992), Ziff. 3 der 787 (1992), 836 (1993), 847 (1993), Ziff. 6 der 859 (1993), 942 (1994), 982 (1995) zum Bosnienkrieg sowie S/RES/981 (1995), 990 (1995), 994 (1995) und 1009 (1995) zum Krieg in der kroatischen Krajina. 81 Dayton Agreement on Implementing the Federation of Bosnia and Herzegovina of 10 November 1995, in: 35 I.L.M. 170 (1996). 82 Serbien, s. St., Rz. 450 m. H. auf S/RES/1008 (1996), 1423 (2002), 1491 (2003), 1551 (2004), 1575 (2004), 1639 (2005), 1722 (2006), 1785 (2007) und 1845 (2008). 83 Serbien, s. St., Rz. 453 m. H. S/RES/1766 (2007) sowie Ziff. 3 der 1558 (2004) und 733 (1992), 1519 (2003), 1558 (2004), 1587 (2005) und 1744 (2007), 1772 (2007), S/PRST/2007/49, S/RES/1801 (2008), 1816 (2008), 1831 (2008), 1811 (2008), 1853 (2008), 1846 (2008) und 1851 (2008). 84 Serbien, s. St., Rz. 457 f. m. H. auf S/PRST/1994/78, S/RES/1752 (2007), 1781 (2007) und 1808 (2008). 85 Serbien, s. St., Rz. 459 ff. m. H. auf S/RES/1756 (2007), 1316 (2000), 1493 (2003), 1565 (2005), 1711 (2006), 1771 (2007), 1804 (2008), 1807 (2008) und A/RES/ 60/170. 86 Serbien, s. St., Rz. 464 ff. m. H. auf S/RES/1556 (2004), 1769 (2007), 1590 (2005), 1828 (2008), 1841 (2008), 1784 (2007) sowie den Rz. 13 und 17 der 1778 (2007), die sich an alle Parteien in Tschad, der Zentralafrikanischen Repulik und dem Sudan richtet. 87 Serbien, s. St., Rz. 473 ff. mit zahlreichen weiteren Hinweisen auf die Sicherheitsratspraxis. 77
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nicht nur an Staaten, sondern auch an nicht staatliche Akteure. Das „all parties“ der Resolution 1784 (2007) zum Sudan richte sich klarerweise auch an nicht staatliche Akteure. Aus all diesen Verweisen leitet Serbien zum Satz über, dass „there exists an international rule to that effect wich applies not only to neighbouring and other States, but also to those groups within the State in question that seek non-consensual secession.“ 88 Für Spanien ist die Sicherheitsratspraxis relevant, weil sie sich auf ähnliche Situationen wie diejenige des Kosovo, also innerstaatliche Konflikte, beziehe.89 Der Sicherheitsrat habe in allen Fällen – selbst in denjenigen, in denen die öffentliche Ordnung zusammengebrochen sei und man von einem „failed state“ sprechen könne – die Souveränität, die territoriale Integrität, die politische Unabhängigkeit und die Einheit der betroffenen Staaten als „indisputable precondition“ verteidigt.90 Spanien verweist auf die Praxis zu Afghanistan,91 zur Demokratische Republik Kongo,92 zu Somalia93 und zum Sudan.94 Gleiches gelte auch für die europäischen innerstaatlichen Konflikte der 1990er-Jahre. Spanien verweist auf Resolutionen zu Jugoslawien,95 Bosnien und Herzegowina,96 Kroatien97 und Mazedonien.98 Auch in den sezessionistischen Konflikten in NagornoKarabach,99 Tadschikistan100 und Abchasien101 habe der Sicherheitsrat stets den
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Serbien, s. St., Rz. 476. Spanien, s. St., Rz. 28 und 30. 90 Spanien, s. St., Rz. 31. 91 Spanien, s. St., Rz. 31, Fn. 39 m. H. auf S/RES/1076 (1996), 1833 (2008), S/ PRST/1994/43, S/PRST/1994/77, S/PRST/1996/6, S/PRST/1996/40, S/PRST/1998/9, S/PRST/1998/22 und S/PRST/2008/26. 92 Spanien, s. St., Rz. 31, Fn. 39 m. H. auf S/RES/1234 (1999) bis 1857 (2009), S/ PRST/2003/21, S/PRST/2004/15 und S/PRST/2008/38. 93 Spanien, s. St., Rz. 31, Fn. 39 m. H. auf S/RES/897 (1994) und 1744 (2007) bis 1863 (2009), S/PRST/2006/11 und 2007/49. 94 Spanien, s. St., Rz. 31, Fn. 39 m. H. auf S/RES/1547 (2004) bis 1841 (2008), S/ PRST/2005/38, S/PRST/2006/16, S/PRST/2006/19, S/PRST/2008/15 sowie den Missionsreport des Sicherheitsrats S/2008/460. 95 Spanien, s. St., Rz. 32 m. H. auf S/RES/855 (1993), 871 (1993), 970 (1995) und S/RES/1022 (1995), 983 (1995), 994 (1995), 1009 (1995), 1003 (1995), 1015 (1995), 1074 (1996) und 1088 (1996). 96 Spanien, s. St., Rz. 32 m. H. auf S/RES/770 (1992), 752 (1992), 838 (1993), in denen sich der Sicherheitsrat an „all parties and other concerned“ wendet und den Respekt der territorialen Integrität einfordert. 97 Spanien, s. St., Rz. 32 m. H. auf S/RES/815 (1993), 847 (1993), 958 (1994), 1009 (1995), 1037 (1996), 1038 (1996), 1066 (1996), 1079 (1996) und 981 (1995). 98 Spanien, s. St., Rz. 32 m. H. auf S/RES/1082 (1996) und 1371 (2001). 99 Spanien, s. St., Rz. 33 m. H. auf S/RES/822 (1993), 874 (1993) und 884 (1993). 100 Spanien, s. St., Rz. 33 m. H. auf S/RES/999 (1995), 1030 (1995), 1089 (1996), 1061 (1996), 1099 (1997), 1113 (1997), 1128 (1997), 1138 (1997), 1167 (1998), 1206 (1998), 1240 (1999), 1274 (1999). 89
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Schutz der territorialen Integrität der betroffenen Staaten (Aserbaidschan, Tadschikistan und Georgien) hochgehalten. Im Falle von Abchasien habe er ausdrücklich von einem „political status within the State of Georgia“ geschrieben.102 Weder sezessionistische Spannungen noch schwere Menschenrechtsverletzungen oder das Einschreiten des StIGH hätten in all diesen Fällen dazu geführt, dass der Sicherheitsrat seine etablierte Praxis, stets die territoriale Integrität zu schützen, aufgegeben habe. Dasselbe gelte selbstverständlich auch für den Kosovo.103 Der Sicherheitsrat habe neben den S/RES/1990 (1998) und 1203 (1998) vor allem im zehnten Absatz der Prämbel und in den beiden Annexen der Resolution 1244 (1999) den Schutz der territorialen Integrität Serbiens bestärkt. Darüber hinaus beinhalte die Resolution implizite Bestärkungen im Absatz 4 der Präambel und den Ziff. 1, 4, 5, 9 c), 10 sowie den Ziff. 6 und 10 des Annexes 2. Gemäss China müssen alle Staaten die Souveränität und territoriale Integrität respektieren.104 China geht nicht weiter auf die Frage der Anwendbarkeit ratione personae ein. Ägypten, Aserbaidschan, Brasilien, Libyen, die Slowakei und Venezuela gehen nicht explizit auf die Anwendbarkeit ratione personae ein.105 Sie gehen jedoch implizit davon aus, dass die Autoren der Unabhängigkeitserklärung daran gebunden sind, wenn sie die These aufstellen, dass diese gegen das Prinzip der territorialen Integrität verstosse. dd) Analytischer Kommentar (1) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Position 1 bietet folgende thetische Orientierung für die Beantwortung der Quaestio an: Die Sezession ist in jedem Fall völkerrechtlich verboten. Um diese Hauptthese zu stützen, vollziehen die Proponenten die folgenden Schritte: Zunächst wird das Völkerrecht als System, das sich über die territorial organisierte Staatlichkeit definiert, dargestellt. Die Staaten sind die wichtigsten Akteure dieses Systems und ihr wichtigstes Definiens ist das Konzept der Territorialität. Da-
101 Spanien, s. St., Rz. 33 m. H. auf S/RES/896 (1994), 937 (1994), 906 (1994), 993 (1995), 971 (1995), 1077 (1996), 1036 (1996), 1065 (1996), 1666 (2006), 1716 (2006), 1752 (2007), 1781 (2007), 1808 (2008). 102 Spanien, s. St., Rz. 33 m. H. auf S/RES/1096 (1997), 1124 (1997), 1150 (1998), 1255 (1999), 1287 (2000), 1462 (2003), 1494 (2003), 1494 (2003), 1524 (2004), 1554 (2004), 1582 (2005) und 1615 (2005). 103 Spanien, s. St., Rz. 35 ff. 104 China, s. St., 2. 105 Ägypten stützt sich zwar auch auf die Sicherheitsratspraxis zum Sudan, zur Demokratischen Republik Kongo und der Region der Grossen Seen, zum Irak, Afghanistan und Libanon, benutzt diese Verweise aber zur Darlegung der grundlegenden Bedeutung und nicht zur Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität (vgl. Ägpyten, s. St., Rz. 46 ff.).
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
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raus ergibt sich die zentrale Stellung und Bedeutung des Prinzips der territorialen Integrität. Aus der inhaltlichen Tragweite leiten sie eine Garantie gegen Dismembration und ein Verbot der Unterstützung sezessionistischer Bewegungen ab. Über die Anwendbarkeit ratione personae vollziehen die Proponenten den Übergang zur These, wonach auch innerstaatliche Akteure an die inhaltliche Tragweite gebunden seien. Für den ersten Übergang können die Proponenten eine Vielzahl von Gründungsdokumenten von IOs, regionalen Dokumenten und Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrats reaktualisieren. Die Thesen, dass der territorial organisierten Staatlichkeit ein zentraler Platz und dem Prinzip der territorialen Integrität eine grundlegende Bedeutung zukommt, können als epistemisch angesehen werden. Die Proponenten können sich auf autoritative Dokumente und auf das Schrifttum stützen. Nicht alle Dokumente stützen jedoch die These, dass dem Prinzip gegenüber anderen grundlegenden Prinzipien ein absoluter Vorrang zukomme. Verschiedene Dokumente stellen das Prinzip auf gleiche Höhe mit anderen grundlegenden völkerrechtlichen Prinzipien.106 Deshalb kann sich die These des absoluten Vorrangs nicht auf die gleiche epistemische Basis stützen wie die These der grundlegenden Bedeutung. Bezüglich der inhaltlichen Tragweite sind für die Stützung der Hauptthese die Übergänge relevant, die ein Verbot der Sezession vorsehen. Argentinien vollzieht den Übergang mit der Garantie gegen die Aufteilung des Territoriums und stützt diesen auf die Sicherheitsratspraxis. Aserbaidschan sieht auch das Territorim als Ganzes und dessen Delineation geschützt. Auch Rumänien und Serbien leiten über die geschützte Delineation auf das Verbot von Sezessionen über. Die Slowakei verbindet das Prinzip mit dem Gewalt- und Interventionsverbot. Spanien vollzieht den Übergang durch Reaktualisierung der FRD. Dass Staaten die territoriale Integrität der anderen Staaten respektieren müssen und dass sich daraus ein Verbot der Unterstützung sezessionistischer Bewegungen in Drittstaaten herleiten lässt, kann auch zum epistemischen Bestand gerechnet werden. Der entscheidende Übergang für die Stützung der Hauptthese ist die Aufstellung der These, dass neben den Staaten auch weitere Akteure an die inhaltliche Tragweite des Prinzips gebunden seien. Die systemische Begründung stützt diese These nicht, sie läuft ihr eher zuwider: Das Bild des zwischenstaatlichen Völkerrechts erklärt nicht, warum auch nicht staatliche Akteure Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten sein sollen.107 Die Proponenten stützen sich daher 106 Vgl. z. B. die FRD, Genereller Teil, Ziff. 2: In the interpretation and application the above principles are interrelated and each principle should be construed in the context of the other principles. Vgl. auch unten § 9 I.1.a). 107 Vgl. Andrea Bianchi, The Fight for Inclusion: Non-State Actors and International Law, in: Ulrich Fastenrath/Rudolf Geiger/Daniel-Erasmus Khan/Andreas Paulus/Sabine von Schorlemer/Christoph Vedder, From Bilateralism to Community Interest. Essays in Honour of Bruno Simma, New York/Oxford 2011, 39 ff., 40 ff.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
nicht mehr auf die eingangs zitierten Gründungsdokumente und regionalen Dokumente, sondern primär auf die Sicherheitsratspraxis. Diese Praxis soll die Anwendbarkeit ratione personae auf nicht staatliche Akteure ausgeweitet haben. Aus der Praxis zu einzelnen Fällen wird ein generelles Verbot hergeleitet. Dieser Übergang scheint bloss thetisch möglich zu sein. (2) Vertiefung der subjektiven Dimension Die Proponenten sind ausschliesslich staatenorientiert. Sie orientieren sich für die Behandlung der Quaestio an den Konzepten des Staatsterritoriums und des Staatenwillens bzw. -einverständnisses.108 Das Völkerrecht wird als territorial organisiertes System der staatlichen Herrschaftsausübung und die Sezession als Verlust von Staatsterritorium gerahmt. Ein möglicher Wandel der Systematizität des Völkerrechts ist ausschliesslich negativ konnotiert und ein Wandel von bestehenden Territorien gegen den Staatenwillen wird ausgeschlossen. Die Position definiert sich somit durch eine territoriale und konservative Perspektive. Als Orientierung bietet die Position ein für staatliche und nicht staatliche Akteure geltendes absolutes Verbot der Sezession an. b) Subthese 2: Keine Relativierung der territorialen Integrität durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker Die systemische Stellung, die inhaltliche Tragweite und die Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität sind formuliert. Nun stellt sich die Frage, ob es andere Prinzipien gibt, die das Prinzip relativieren und eine Sezession unter bestimmten Umständen rechtfertigen könnten. Dieser Schritt wird von Rumänien exemplarisch zum Ausdruck gebracht: „[. . .] after having analyzed the [declaration of independence] from the perspective of [. . .] the principles of international law regarding the inviolability of frontiers and the territorial integrity of States, the question is whether there might be other principles of, or rights established under, international law which would have entitled the Kosovo authorities to lawfully declare independence, thereby establishing a new State seceding from Serbia.“ 109
Alle Akteure, die diesen gedanklichen Schritt vollziehen, kommen zum Schluss, dass es keine solche Relativierung der territorialen Integrität und Rechtfertigung der Sezession gebe. Zu ihnen gehören Ägypten, Argentinien, China, Iran, Rumänien, Serbien und die Slowakei. China hält beispielsweise fest, dass 108 Man könnte mit George Scelle von einer „obsession du territoire“ sprechen: George Scelle, Obsession du Territoire, in: Frederik M. van Asbeck, Symbolae Verzijl. Présentées au professeur J. H. W. Verzijl à l’occasion de son 70e anniversaire, Den Haag 1958, 347 ff. 109 Rumänien, s. St., Rz. 114.
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„[t]he exercise of the right of self-determination shall not undermine the sovereignty and territorial integrity of the State concerned.“ 110 Für Iran ist „the right to self-determination for minorities [. . .] an internal one [. . .] and does not involve any right to secession.“ 111 Auch Rumänien hält fest, dass „the full exercise of the principle of equal rights and self determination of peoples should in no way undermine the territorial integrity of States and should not come at the expense of the territorial integrity of States [. . .].“ 112 Aserbaidschan, Brasilien und Libyen gehen nicht, Spanien erst in der Replik in substantieller Art und Weise auf diese Frage ein. aa) Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als grundlegendes, aber klar begrenztes völkerrechtliches Prinzip Für alle Akteure ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein grundlegendes völkerrechtliches Prinzip. Auf diese Feststellung folgt jedoch meist der Hinweis darauf, dass es nur beschränkt anwendbar sei. Ägypten: „Altough, the principle of the right to self-determination evolved within the international legal arena to attain the status of customary law, it has not been free of limitations and conditions.“ 113 Für Argentinien ist es ein „fundamental principle of international law“, dem eine erga omnes-Wirkung zukomme,114 aber es sei „framed by international law and this includes the determination of both the holders of the right as well as its scope and consequences.“ 115 China: „Altough the principle of self-determination has become a basic principle of international law, it applies within specific limits [. . .].“ 116 Serbien hält fest, dass es ein Prinzip „of considerable importance“ und „indubitably an important norm within the international community“ sei;117 es könne aber weder eine Sezession oder irredentistische Tendenzen in Nachbarstaaten legitimieren, noch ein Recht zur Sezession begründen.118 Auf 110
China, s. St., 4. Iran, s. St., Rz. 4.1. 112 Rumänien, s. St., Rz. 90. 113 Ägypten, s. St., Rz. 57 m. H. auf IGH, Namibia, Gesonderte Stellungnahme von Vizepräsident Ammoun zur Stützung, dass es ein gewohnheitsrechtliches Prinzip sei. Vor diesem Satz weist Ägypten auf den Vertrag von Versailles, Art. 1 Ziff. 2, 55 und 73 VN-Charta und die AEMR hin, nach diesem Satz in Rz. 62 f. auf die VN-Erklärung über die Dekolonialisierung und die FRD. 114 Argentinien, s. St., Rz. 87 m. H. auf IGH, East Timor, Rz. 29 und Wall, Rz. 88 und 156. 115 Argentinien, s. St., Rz. 87. 116 China, s. St., 3. 117 Serbien, s. St., Rz. 526 ff. m. H. auf Art. 1 Ziff. 2, 55, Kapitel XI und XII VNCharta, FRD, Deklaration über die Dekolonialisierung, A/RES/17/1755, 21/2138, 21/ 2151, 23/2379, 23/2383, S/RES/183 (1963), 301 (1971), 377 (1975), 384 (1975) und IGH, Western Sahara, Rz. 54 und 57, Namibia, Rz. 52, East Timor, Rz. 102 und Wall, Rz. 88 und 156. 118 Serbien, s. St., Rz. 526 f. 111
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
den Titel „Self-Determination: The General Principle in International Law“ folgt der Titel „The Right to Self-Determination is Carefully Limited in Law“.119 bb) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts Diese Akteure stellen die erste These auf, dass die Kosovaren nicht Träger des Selbstbestimmungsrechts sind. Die Begründung dieser These erfordert grundsätzlich zwei Schritte: Erstens ist zu begründen, wie die Frage nach den Trägern des Selbstbestimmungsrechts zu beantworten ist; zweitens ist zu begründen, ob und warum die Kosovaren solche Träger sind. Eine Präzisierung zur Terminologie des ersten Schritts: Die Frage nach den Trägern des Selbstbestimmungsrechts kann über die Anwendung des Rechts ratione personae und materiae aufgefächert werden. Hier wird von einer Anwendung ratione personae geschrieben, wenn die Proponenten die Träger über eine bestimmte Subjektivität identifizieren. Hingegen wird von einer Anwendung ratione materiae ausgegangen, wenn die Identifizierung über gewisse sachliche Voraussetzungen erfolgt – in casu bestimmte Eigenschaften von Territorien. Argentinien hält mit Zitat von Rz. 59 des Western Sahara-Gutachtens des IGH fest, dass nicht jede „human group“ berechtigt sei, sich auf das Selbstbestimmungsrecht zu berufen.120 Die Qualifikation als Volk i. S. des Selbstbestimmungsrechts sei weder eine soziologische noch ethnische, sondern eine rechtliche im Kontext des Völkerrechts. Die entscheidenden völkerrechtlichen Akteure, die ein solches Volk anerkennen, seien die Generalversammlung, der Treuhandrat, der DekolonialisierungsUnterausschuss der VN und regionale Organisationen.121 Selbst im Falle der Dekolonialisierung, die zum Entstehen einer Vielzahl neuer Staaten geführt habe, seien nicht alle Einwohner von nicht selbstverwalteten Gebieten als Inhaber dieses Rechts anerkannt worden.122 Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und der Einwohner von TimorLeste sei anerkannt worden.123 Nichts innerhalb der VN noch im regionalen Kontext weise im Falle von Kosovo darauf hin, dass ein sogenanntes kosovarisches Volk als Träger des Selbstbestimmungsrechts anerkannt worden sei.124 Die Londoner Friedenskonferenz zu Jugoslawien habe den Unabhängigkeitsanspruch der 119
Serbien, s. St., Rz. 526 und 534. Argentinien, s. St., Rz. 88 ff. 121 Argentinien, s. St., Rz. 90. 122 Argentinien, s. St., Rz. 91 m. H. auf die Fälle der Ifni (A/RES/23/2428), Gibraltar (A/RES/22/2353) und die Malwinen (A/RES/20/2065 und 28/3160). 123 Argentinien, s. St., Rz. 91 m. H. auf IGH, Wall, Rz. 118 (in Bezug auf Palästina) und s. St., Rz. 92 m. H. auf S/RES/1246 (1999) (in Bezug auf Timor-Leste). 124 Argentinien, s. St., Rz. 95. 120
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kosovarischen Vertreter nicht anerkannt und diese seien nicht einmal autorisiert gewesen, an den Plenarsitzungen teilzunehmen. Die Badinter-Schiedskommission habe im Gutachten 2 nicht anerkannt, dass die serbischen Bevölkerungsteile in Kroatien und Bosnien und Herzegowina das Recht auf eine externe Ausübung des Selbstbestimmungsrecht hätten. Diese Situation gleiche derjenigen des Kosovo. Desweiteren ergebe sich auch aus dem Rambouillet-Abkommen keine solche Anerkennung.125 Zwar verweise das Abkommen im Abschnitt, der sich mit dem künftigen Status des Kosovo beschäftigt, auf den Volkswillen („will of the people“), der bei der Festlegung des Status berücksichtigt werden müsse, dies sei aber keine Anerkennung des Volkes i. S. des Selbstbestimmungsrechts. Es gebe keine explizite Referenz an das Selbstbestimmungsrecht und eine implizite könne auch nicht hergeleitet werden, weil der gleiche Abschnitt auch noch auf andere Parameter verweise. Würde damit anerkannt, dass dem kosovarischen Volk ein Selbstbestimmungsrecht zukäme, so würde dem Parameter des Volkswillens gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zukommen. Darüber hinaus verweise der Absatz auch auf die Schlussakte von Helsinki, die den Respekt für die territoriale Integrität und die Unantastbarkeit der Grenzen unterstreiche. Es sei „of particular importance“, zwischen Völkern, die Träger des Selbstbestimmungsrechts sind, und Minderheiten bzw. indigenen Völkern zu unterscheiden.126 Eine gegenteilige Annahme würde diese im Völkerrecht klar gemachte Unterscheidung verwischen. Auf diese Unterscheidung weist auch der Iran mit Nachdruck hin.127 Es werde teilweise argumentiert, dass der gemeinsame Art. 1 der beiden VN-Menschenrechtspakte den Weg für ein Sezessionsrecht von Minderheiten ebne. Hier brauche es eine klare Unterscheidung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht, Minderheitenrechten und Sezession. Alle Staaten seien verpflichtet, die Minderheitenrechte nach Art. 27 VN-Menschenrechtspakt II zu respektieren. Aber diese Verpflichtung widerspreche in keiner Weise dem Prinzip der territorialen Integrität. Es gehe aus unterschiedlichen Dokumenten von zuständigen internationalen Autoritäten hervor, dass es für Minderheiten kein vom Völkerrecht anerkanntes Recht zur Sezession gebe. Der Iran verweist auf das Gutachten 2 der BadinterSchiedskommission, Ziff. 17 der Agenda for Peace und die Allgemeine Bemerkung Nr. 23 des VN-Menschenrechtsausschusses. Das gleiche Muster finde sich auch in S/RES/1244 (1999) wieder, das als Lösung ein substantielles Mass an Selbstverwaltung für die ethnische Minderheit der Albaner im Kosovo unter der Berücksichtigung der serbischen Souveränität und territorialen Integrität vorsehe. 125
Argentinien, s. St., Rz. 98 f. Argentinien, s. St., Rz. 93 m. H. auf Interamerikanische Menschenrechtskommission, The Miskito Case, Case 7964 (Nicaragua), Report on the Situation of a Segment of the Nicaraguan Population of Miskito Origin, OEA/Ser.L./V.II.62, doc. 10 rev. 3 vom 29. November 1983, Part Two(B), § 9. 127 Iran, s. St., Rz. 5. 126
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Über Art. 1 Ziff. 2 und 55 VN-Charta, die VN-Erklärung über die Dekolonialisierung und die FRD kommt China zum Satz, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker stets auf Fälle von kolonialisierten oder besetzten Territorien angewendet worden sei (z. B. Südrhodesien, Namibia, Westsahara, Timor-Leste, afrikanische Territorien unter portugiesischer Verwaltung, Palästina und die Inseln im pazifischen Ozean).128 Nach Beendigung der Dekolonialisierung habe sich der Anwendungsbereich ratione materiae nicht geändert.129 Dies sehe man an der VN-Milleniumsdeklaration und dem VN-Ergebnisdokument zum Weltgipfel 2005. China zitiert den in beiden Dokumenten vorkommenden Satz: „[W]e rededicate ourselves to [. . .] the right to self-determination of peoples which remain under colonial domination and foreign occupation [. . .].“ Rumänien nähert sich dem Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts über die völkerrechtliche Staatsentstehungstypologie.130 In Rz. 110 hält Rumänien fest, dass zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung der Hoheitstitel über den Kosovo unbestrittenermassen Serbien gehörte.131 In der internationalen Interimsverwaltung könne nicht ein Verzicht Serbiens auf diesen Titel gesehen werden. Die einzige Möglichkeit der Etablierung eines Staates auf dem Territorium des Kosovo sei daher die der Sezession, die eine Staatsentstehung ohne das Einverständnis des ehemaligen Souveräns impliziere. Die doktrinale Beschäftigung mit der Sezession habe grundsätzliche Unterscheidungen zwischen Sezessionen vor und nach 1945 sowie zwischen Sezessionen innerhalb und ausserhalb des Dekolonialisierungsprozesses eingeführt.132 Für Rumänien geht der Anwendungsbereich ratione materiae grundsätzlich über die Dekolonialisierung hinaus.133 Eine akkurate Beschreibung der völkerrechtlichen Regelung der Sezession nach 1945 ausserhalb der Dekolonialisierung habe der Oberste Gerichtshof von Kanada in Rz. 112 des Quebec-Gutachtens gegeben. Demnach sei die Sezession in diesem materiellen Anwendungsbereich primär eine Angelegenheit des inländischen Rechts. Unter Vorbehalt des Selbstbestimmungsrechts der Völker akzeptiere das Völkerrecht die innerstaatliche Regelung, dass eine Sezession verfassungswidrig sein könne. Rumänien weist expli128 China, s. St., 4 m. H. auf A/RES/17/1755, 221/2151, 23/2379, 23/2383, 26/2795, 29/3236, 29/3292, 58/163, S/RES180 (1963), 218 (1965), 183 (1963), 301 (1971), 384 (1975), 621 (1988), 683 (1990) sowie IGH, Namibia, Western Sahara, East Timor und Wall. 129 China, s. St., 5. 130 Rumänien, s. St., Rz. 110 ff. 131 Hier verfolgt Rumänien eine am Hoheitstitel orientierte Begründung, vgl. dazu unten § 12. 132 Rumänien, s. St., Rz. 112 m. H. auf Crawford, Creation, 374 ff. 133 Rumänien, s. St., Rz. 118 m. H. in Rz. 119 ff. auf die VN-Charta, die VN-Menschenrechtspakte I und II, die FRD, die Wiener Erklärung, siehe VN-Erklärung zum 50. Jahrestag und die Schlussakte von Helsinki.
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zit darauf hin, dass die serbische Verfassung, die am 17. Februar 2008 in Kraft war, kein Recht zur Sezession für den Kosovo vorsah. Deshalb stelle sich die Frage, ob der Kosovo im Moment der Unabhängigkeitserklärung als ein „subject of the right to self-determination“ anzusehen war oder nicht.134 Danach geht Rumänien auf die inhaltliche Tragweite des Selbstbestimmungsrechts in diesem spezifischen Bereich ein und kommt erst in Rz. 130 wieder auf den Anwendungsbereich zurück.135 Mit Crawford hält Rumänien fest, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker in folgenden Fällen anwendbar sei: Erstens, wenn das Recht von Entitäten durch internationale Verträge vorgesehen sei, insbesondere Mandat- und Treuhandgebiete sowie nicht selbstverwaltete Gebiete. Zweitens sei es auf existierende Staaten anwendbar; hier nehme das Recht die Form des Interventionsverbots an, das insbesondere besage, dass ein Volk eines bestimmten Staates die eigene Regierungsform bestimmen dürfe.136 Da zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung kein internationaler Vertrag – weder ein multi- oder bilateraler Vertrag noch ein bindendes VN-Dokument – in Kraft war, das für die Kosovaren ein Selbstbestimmungsrecht vorgesehen hätte, war der Kosovo zu diesem Zeitpunkt nicht eine Entität, die dieses Recht im Sinne eines Rechts zur Sezession hätte ausüben können.137 Die Einwohner des Kosovo waren und sind berechtigt, das Selbstbestimmungsrecht im zweiten Sinne, d. h. durch Wahl der eigenen Regierungsform, auszuüben.138 Die erste Unterscheidung, die Serbien trifft, ist diejenige zwischen Völkern und Minderheiten. Obwohl die internationalen Dokumente von „all peoples“ sprechen, zeigt die Praxis gemäss Serbien, dass es klarerweise nicht allen Völkern in einem „political-sociological sense“ 139 frei stehe, ihren politischen Status bis und mit zu einer Sezession selbst zu bestimmen. Die Praxis habe klare Unterscheidungen getroffen: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei auf Mandatund Treuhandgebiete, von europäischen Imperien kolonialisierte und wohl auch besetzte Gebiete anwendbar. Auf unabhängige Staaten sei es als menschenrechtliches Prinzip anwendbar, nicht als Recht zur Sezession.140 Diese Thesen begründet Serbien eine nach der anderen. Als erstes geht Serbien auf Mandats-, Treuhand- und nicht selbstverwaltete Gebiete ein.141 Nach kurzer Darstellung der Entwicklung des Mandats- und 134 135 136 137 138 139 140 141
Rumänien, s. St., Rz. 116 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 112. Vgl. zur inhaltlichen Tragweite sogleich § 8 I.1.b)cc). Rumänien, s. St., Rz. 130 mit Zitat aus Crawford, Creation, 126. Rumänien, s. St., Rz. 131. Auf diesen Punkt wird sogleich bei der inhaltlichen Tragweite eingegangen. Serbien, s. St., Rz. 533 m. H. auf StIGH, Greco-Bulgarian Communities, 4. Serbien, s. St., Rz. 534. Serbien, s. St., Rz. 535 ff.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Treuhandsystems durch den Völkerbund und die VN142 hält Serbien mit Zitat aus der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung fest, dass das Selbstbestimmungsrecht auf alle nicht selbstregierten Gebiete anwendbar sei und dass diese unter der VN-Charta einen vom verwaltenden Staat gesonderten Status inne hätten, bis diese ihr Recht ausgeübt hätten.143 Mit Zitat des Quebec-Gutachtens hält Serbien fest, dass das Recht von kolonialen Völkern, ihr Selbstbestimmungsrecht durch Lossagung vom Imperium ausüben zu können, unbestritten sei.144 Die Frage nach der Definition von „Volk“ sei vom IGH im Western SaharaGutachten angesprochen worden (Rz. 59). Demnach sei zur Identifizierung eines Volkes als Träger des Selbstbestimmungsrechts die Anerkennung einer relevanten internationalen Organisation erforderlich.145 In Bezug auf nicht selbstregierte Gebiete hätten die VN eine Methodologie zur Anerkennung entwickelt.146 In Bezug auf besetzte Gebiete weist Serbien durch Zitat auf die FRD und Art. 1 Ziff. 4 des ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen hin. Letzteres hält fest, dass Konflikte, in denen Völker gegen koloniale Herrschaft, fremde Besatzung oder rassistische Regimes kämpfen, internationale Konflikte sind. Serbien hält fest, dass in Bezug auf die Feststellung, ob eine fremde Besatzung vorliege, Beweise von relevanten IOs nötig oder zumindest höchst erwünscht seien.147 Klar sei, dass die Palästinenser unter israelischer Besatzung seien und damit ein Selbstbestimmungsrecht hätten.148 Ausserhalb dieser Anwendungsbereiche sei das Selbstbestimmungsrecht auch anwendbar, aber als „principle of human rights [. . .] within the territorial framework of independent states.“ 149 Es sei ein andauerndes Recht auf Regierungsbeteiligung.150 Dies setze aber die Anerkennung eines bestimmten Bevölkerungsteils als ein von Minderheiten und anderen Kollektiven unterscheidbares Volk voraus; dies werde mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 12 des VN-Menschenrechtsausschusses belegt. Demnach müssten die Staaten nach Art. 1 des VNMenschenrechtspakts I Dokumente einreichen, die die Teilnahme an sozialen und
142 Serbien, s. St., Rz. 535 m. H. auf Art. 22 Völkerbundssatzung und IGH, South West Africa (Status), 132, Namibia, Rz. 45 f., Phosphate Lands in Nauru, Rz. 41 und 44, Cameroon v. Nigeria, Rz. 212. 143 Serbien, s. St., Rz. 536 m. H. auf IGH, Namibia, Rz. 52, Western Sahara, Rz. 54 ff. und Wall, Rz. 88. 144 Serbien, s. St., Rz. 536 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 132. 145 Serbien, s. St., Rz. 538. 146 Serbien, s. St., Rz. 538 m. H. auf A/RES/1/9, 1/66, 16/1541 und 16/1654. 147 Serbien, s. St., Rz. 542 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 138. 148 Serbien, s. St., Rz. 543 m. H. auf A/RES/29/3236, 55/85, 58/163, 38/16, 41/100 sowie IGH, Wall, Rz. 118, 149, 155 und Cassese, Self-determination, 90 ff. 149 Serbien, s. St., Rz. 544. 150 Serbien, s. St., Rz. 544 m. H. auf Cassese, Self-determination, 101.
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
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politischen Strukturen, Dialoge mit Parteien und allgemein die Teilnahme der Bevölkerung an der Verwaltung des Staates belegten. Damit sei eine Verbindung zu den Art. 19, 21, 22 und 25 des VN-Menschenrechtspakts I gegeben und das Selbstbestimmungsrecht als allgemeiner Rahmen für die Beurteilung der Prinzipien einer demokratischen Regierung zu sehen. Damit ergebe sich eine Zweiteilung des Selbstbestimmungsrechts in einen externen und einen internen Aspekt, der u. a. auch in der Allgemeinen Empfehlung Nr. 21 des CERD-Ausschusses und in Rz. 126 des Quebec-Gutachtens zum Ausdruck komme.151 Die Ausgestaltung der Minderheitenrechte und der Rechte indigener Völker unterstreiche den Ansatz, wonach diese Rechte in unabhängigen Staaten nur innerhalb des Territoriums ausgeübt werden könnten.152 In Bezug auf die Minderheitenrechte zitiert Serbien Art. 27 des VN-Menschenrechtspakts I, die Allgemeine Bemerkung Nr. 23 des VN-Menschenrechtsausschusses zu Art. 27, Art. 1 und Art. 8 Ziff. 4 der VN-Erklärung über Minderheitenrechte und Art. 21 der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten. Auch indigene Völker hätten einen bestimmten und gesonderten völkerrechtlichen Status, der auch ein Selbstbestimmungrecht und einen Autonomiestatus in internen und lokalen Angelegenheiten vorsehe; die relevanten Dokumente würden aber alle die Pflicht statuieren, die territoriale Integrität des bewohnten Staates zu respektieren.153 Die Slowakei hält in einer Randziffer fest, dass „Volk“ als alle Völker eines bestimmten Territoriums zu verstehen sei. Alle Mitglieder bestimmter Minderheiten seien somit Teil der Völker des Territoriums. Als solche hätten sie kein Selbstbestimmungsrecht i. S. eines Rechts zur Sezession, zur Unabhängigkeit oder zum Zusammenschluss mit ähnlichen Gruppen in anderen Staaten. Ihnen kämen vielmehr die durch die Minderheitenrechte garantierten Menschenrechte i. S. von Art. 27 VN-Menschenrechtspakt II zu.154 Ägypten geht nicht auf die hier behandelte Frage ein. cc) Inhaltliche Tragweite: das Selbstbestimmungsrecht als Prinzip der Inklusion Mit Hinweis auf den VN-Menschenrechtspakt II und Thomas M. Franck hält Ägypten fest, dass das Selbstbestimmungsrecht als „principle of inclusion“ zu 151
Serbien, s. St., Rz. 546 f. Serbien, s. St., Rz. 548 ff. 153 Serbien, s. St., Rz. 554 ff. m. H. auf ILO, Convention Concerning Indigenous and Tribal Peoples in Independent Countries, Konvention Nr. 169 vom 27. Juni 1989, in: 1650 UNTS 383 und die Art. 1, 3 und 46 Ziff. 1 der VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker. Vgl. zur Frage, ob der Kosovo eine „self-determination unit“ sei: Serbien, s. St., Rz. 570 ff. 154 Slowakei, Rz. 15 f. 152
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
verstehen sei.155 Es sei ein Recht auf Teilnahme an der Gesellschaft. Obwohl das Recht gemäss Art. 20 der ACMVR „unquestionable and inalienable“ sei, sei die Ausübung desselben dynamisch und beinhalte eine Reihe von verschiedenen Optionen. Es weiche von einem Recht auf Staatlichkeit ab und müsse breiter ausgelegt werden, sodass es die Rechte von Völkern und Staaten umfasse.156 Die Generalversammlung habe immer das Gleichgewicht zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der territorialen Integrität bewahrt; dies zeige beispielsweise die Schutzklausel der FRD und Art. 8 Ziff. 4 der VN-Erklärung über die Rechte von Minderheiten. Dieser ausgewogene Ansatz habe wesentlich zur Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts durch die Staaten beigetragen. Die Ziff. 19 der Wiener Erklärung unterstreiche, dass die volle und effektive Ausübung der Menschenrechte durch in einem Staat lebende Minderheiten die politische und soziale Stabilität des Staates stärke. So gesehen sei das Selbstbestimmungsrecht i. S. v. voller und effektiver Ausübung der Menschenrechte ein Mittel zur Stärkung der territorialen Integrität, der nationalen Einheit und politischen Unabhängigkeit eines Staates.157 Lese man Art. 27 des VN-Menschenrechtspakts I zusammen mit Art. 1 Ziff. 3 der VN-Erklärung zur Dekolonialisierung und der FRD, so habe man einen gut abgerundeten Ansatz, der die Ausübung der Menschenrechte garantiere, ohne das Prinzip der territorialen Integrität zu verletzen.158 In Bezug auf die inhaltliche Tragweite muss gemäss Argentinien zwischen internem und externem Selbstbestimmungsrecht unterschieden werden.159 Hier geht Argentinien auf das Verhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und territorialer Integrität ein, das „clearly established“ 160 sei. Argentinien verweist auf Ziff. 2 der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung und Absatz 7 des Abschnitts über die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker der FRD, also die Schutzklausel. Für China sollte die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts die territoriale Integrität nicht unterminieren, sondern respektieren.161 Viele wichtige internationale und regionale Dokumente sähen neben der Garantie des Selbstbestimmungsrechts der Völker die Respektierung der staatlichen Souveränität und der territo155
Ägypten, s. St., Rz. 57 m. H. auf Franck, Democratic Governance, 59. Ägypten, s. St., Rz. 60 m. H. auf VN-Erklärung über die Rechte von Minderheiten und die Allgemeine Bemerkung Nr. 23 des VN-Menschenrechtsausschusses. 157 Ägypten, s. St., Rz. 66. In Rz. 67 geht Ägypten noch auf die Allgemeine Bemerkung Nr. 23 des VN-Menschenrechtsausschusses ein. 158 So der Abschlussatz in Ägypten, s. St., Rz. 67. Schliesslich verweist Ägypten noch auf die Rz. 126 f., 130 f. und 133 ff. des Quebec-Gutachtens, ohne jedoch etwas Substantielles seiner Argumentation hinzuzufügen. 159 Argentinien, s. St., Rz. 94 m. H. auf VN-Erklärung zum Recht indigener Völker, Art. 4 und 46. 160 Argentinien, s. St., Rz. 96. 161 China, s. St., 5. 156
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rialen Integrität vor. So z. B. Ziff. 6 der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung, die Schutzklausel der FRD, die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris. Das Gleiche sei auch vom Obersten Gerichtshof von Kanada in Rz. 127 des Quebec-Gutachtens festgehalten worden. Demnach müsse das Selbstbestimmungsrecht der Völker von der Sezession unterschieden werden. Die Sezession sei „different in nature“, „not recognized by international law“ und „always been opposed by the international community of states.“ 162 Rumänien schreibt: „Out of all norms of international law which should be observed when exercising the right to self-determination, the principle of territorial integrity was singled out within the context of the principle of equal rights and self-determination of peoples.“ 163
Dies unterstreiche einmal mehr, dass das Selbstbestimmungsrecht „a preponderant internal character“ habe. Gestützt auf mehrere autoritative Texte habe sowohl die Doktrin als auch die Rechtsprechung festgehalten, dass das Selbstbestimmungsrecht auch ausserhalb der Dekolonialisierung ausgeübt werden könne, aber bloss innerhalb der bereits existierenden Staaten.164 Mit Gutachten 2 der Badinter-Schiedskommission hält Rumänien fest, dass das Selbstbestimmungsrecht, wie es in den Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte I und II festgeschrieben sei, keinen externen Aspekt aufweise, der ein Recht zur Sezession gebe. Die Kommission habe im Gegenteil den internen Aspekt betont, also die Pflicht der Staaten, die Menschrechte zu respekieren – inklusive die Rechte derjenigen, die zu nationalen, ethnischen oder sprachlichen Minderheiten gehörten.165 Die Einwohner des Kosovo waren im Moment der Unabhängigkeitserklärung und auch jetzt berechtigt, zusammen mit den anderen Einwohnern von Serbien, ihre politische, ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung frei innerhalb des serbischen Staates zu verfolgen. Die serbischen Autoritäten stünden unter der Pflicht, diese freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts aller Völker in Serbien und die Menschenrechte von nationalen Minderheiten zu gewährleisten; dies impliziere, dass kein serbischer Bevölkerungsteil in missbräuchlicher oder diskriminierender Weise von dieser Ausübung ausgeschlossen werden dürfe.166 162 China, s. St., 6 m. H. auf Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 36. 163 Rumänien, s. St., Rz. 91 m. H. auf die Schlussakte von Helsinki, die Charta von Paris und die Anerkennungsrichtlinien der EG. 164 Rumänien, s. St., Rz. 123 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 122 und 126; CERDAusschuss, Allgemeine Empfehlung Nr. 21 (die wiederum auf Ziff. 17 der Agenda for Peace verweist), VN-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 12; einen hauptsächlich von Christopher J. Borgen geschriebenen Bericht der Association of the Bar of the City of New York zu Transnistrien (Moldawien; vgl.: http://www.nycbar.org/ pdf/report/NYCity%20BarTransnistriaReport.pdf); Badinter-Schiedskommission, Gutachten 2. 165 Rumänien, s. St., Rz. 128 f. m. H. auf Crawford, Creation, 126. 166 Rumänien, s. St., Rz. 131.
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Für Serbien unterscheidet sich die inhaltliche Tragweite des Selbstbestimmungsrechts der Völker, je nach den sachlichen und persönlichen Umständen seiner Anwendung. In unabhängigen Staaten entfalte sich das Prinzip als Garantie des Menschen- und Minderheitenschutzes sowie der demokratischen Beteiligung. Serbien geht noch explizit darauf ein, dass das Selbstbestimmungsrecht im Speziellen und das Völkerrecht im Allgemeinen kein Recht zur Sezession vorsähen.167 Die VN hätten jeglichen „attempt at the partial or total disruption of the national unity and territorial integrity of a State“ stets „strenously opposed“.168 Die internationale Praxis zeige, dass das Recht zur Selbstbestimmung nicht heisse, dass jede Gruppe als solche ihren politischen Status selbst bestimmen könne.169 Das Völkerrecht sehe sicherlich kein Recht zur Sezession von unabhängigen Staaten vor und keine Auffassung des Selbstbestimmungsrechts könne zu einem solchen Recht führen: „The emphasis placed by international law and international practice upon the norm of territorial integrity must also be understood to render non-consensual secession as illegitimate as such.“ 170
Die Slowakei hält fest, dass es „a common pattern of international responses to unilateral secession and threats of such secession in the non-colonial context“ gebe.171 Erstens würden unilaterale Sezessionen und ein Recht zur Sezession grundsätzlich abgelehnt werden und das Selbstbestimmungsrecht müsse durch Teilnahme am verfassungsrechtlichen System unter Respektierung der territorialen Integrität ausgeübt werden. Zweitens würden Referenden regelmässig zu hohen Zustimmungen zu Sezessionen führen; es sei jedoch Sache der Regierung, in demokratischer und respektabler Weise darauf zu reagieren. Selbst im kolonialen Kontext sei es primär Sache des kolonialisierenden Staates gewesen, die Unabhängigkeit herbeizuführen; nur subsidiär hätten die VN eingegriffen und eine unilaterale Sezession unterstützt. Ausserhalb des kolonialen Kontexts seien die VN „extremely reluctant to admit a seceding entity to membership against the wishes of the government of the state from which it has puroported to secede.“ 172 167
Serbien, s. St., Rz. 558 ff. Serbien, s. St., Rz. 558 ff. m. H. auf Ziff. 6 der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung, die Präambel der FRD, Art. III (3) der OAU-Charta, Art. 3 lit. b der Gründungsakte der AU, Prinzip VIII der Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris. 169 Serbien, s. St., Rz. 563 m. H. auf Hannum, Autonomy, 469; Cassese, Self-determination, 122 und 339; Crawford, Creation, 390 und 415; Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 36; eine Äusserung des britischen Aussenministers (in: BYIL, Vol. 54, 1983, 409); Badinter-Schiedskommission, Gutachten 2 und Quebec-Gutachten, Rz. 122 und 127. 170 Serbien, s. St., Rz. 569. 171 Slowakei, s. St., Rz. 17. 172 Slowakei, s. St., Rz. 17. 168
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dd) Analytischer Kommentar (1) Vertiefung der sachlichen Dimension Dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein grundlegendes völkerrechtliches Prinzip ist, dem gewohnheitsrechtlicher Charakter und eine erga omnesWirkung zukommt, gehört zum epistemischen Bestand. Aus der systemischen Stellung des Prinzips der territorialen Integrität ergibt sich für die Proponenten aber, dass dieses vorgehe und in keinem Fall durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingeschränkt werden dürfe. Dieser Vorrang artikuliert sich vor allem in der Frage nach den Trägern des Selbstbestimmungsrechts. Hier scheinen die Übergänge nicht mehr durch epistemische Theorie möglich zu sein. Zunächst zu den Trägern des Selbstbestimmungsrechts: Alle Proponenten weisen auf die Unterscheidung zwischen Völkern, Minderheiten und indigenen Völkern hin. Diese Unterscheidung ist epistemisch. Die Proponenten nutzen sie, um festzuhalten, dass Minderheiten klarerweise kein Recht zur Sezession hätten. Somit ist entscheidend, ob die Kosovaren als Volk Träger des Selbstbestimmungsrechts sind oder nicht. Argentinien schliesst „soziologische und ethnische Theorien“ zur Identifizierung von Trägern des Selbstbestimmungsrechts explizit aus. Entscheidend sei eine völkerrechtliche Beurteilung, die von völkerrechtlichen Akteuren vorgenommen und durch Anerkennung zum Ausdruck gebracht werde. Argentinien verweist insbesondere auf die Praxis der VN während der Dekolonialisierung. Auch Serbien schliesst eine Identifizierung nach „politisch-soziologischen Theorien“ aus und verweist auf die Anerkennung durch die VN. Die beiden Proponenten vertreten somit die These einer prozeduralen Anerkennung der Träger durch die VN. Argentinien und Serbien gehen in konsequenter Anwendung ihrer Begründung auf die Frage ein, ob ein kosovarisches Volk durch die VN anerkannt worden ist und verneinen sie. Dabei diskutieren sie insbesondere die Frage, ob ein kosovarisches Volk anlässlich der Londoner Friedenskonferenz oder der Rambouillet-Abkommen anerkannt worden ist. Die Konferenz fand vom 26. bis 27. August 1992 in London statt. Sie bestand in institutioneller Form während des gesamten Jugoslawien-Konflikts. Folgende Organisationen haben daran teilgenommen: die VN, die EU, die KSZE/OSZE und die OIK. Die kosovo-albanische Delegation strebte während der Konferenz eine Gleichbehandlung mit den sechs Republiken der SFRJ an, konnte sich mit diesem Anspruch jedoch nicht durchsetzen. Der kosovo-albanischen Delegation unter der Leitung von Ibrahim Rugova wurde kein Zugang zum Konferenzsaal gewährt, sie durfte aber in einer salle d’écoute der Konferenz folgen und im Queen Elizabeth II-Konferenzzentrum Teilnehmer treffen.173 Die Konferenz be-
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
schäftigte sich schwerwiegend mit dem Bosnien-Konflikt. Serbien wollte das Thema Kosovo unter dem Traktandum „Minderheiten“ behandeln, die KosovoAlbaner wehrten sich dagegen. Es wurde eine Spezialgruppe unter der Leitung des deutschen Botschafters Geert Ahrens eingesetzt.174 Die Gruppe fokussierte sich bald auf Verbesserungen des täglichen Lebens und liess die Statusfrage beiseite.175 Dieses Vorgehen stützt die argentinische Begründung insofern, als dass sie zeigt, dass in der Konferenz sicher nicht eine unumstrittene Anerkennung eines kosovo-albanischen Volkes gesehen werden kann. Auf die These der Anerkennung durch die Rambouillet-Abkommen werden die anderen Akteure noch vertieft eingehen. Alle anderen Proponenten wählen Übergänge über die Anwendbarkeit ratione materiae. Sie identifizieren also nicht ein bestimmtes Volk als Subjekt, das Träger des Selbstbestimmungsrechts ist, sondern bestimmte sachliche Voraussetzungen, die das Territorium betreffen und zur Anwendung des Rechts führen. China, Rumänien und Serbien anerkennen die Anwendung auf kolonialisierte und besetzte Gebiete. In unabhängigen Staaten nehme das Recht zwei Formen an: Erstens sei es als Interventionsverbot, zweitens als Recht auf Inklusion zu verstehen. Damit anerkennen die Proponenten einen engen sachlichen Bereich, in dem das Selbstbestimmungsrecht zu einer Änderung des Rechtsstatus des Territoriums führen kann. Der Kosovo fällt nicht in diesen engen Bereich. (2) Vertiefung der subjektiven Dimension Die Begründungsstruktur über den Anwendungsbereich ratione personae fügt sich weniger gut in die territoriale Perspektive der Proponenten ein als der sachliche. Die erste Perspektive erinnert an ein Zitat von Richter Dillard: „It is for the people to determine the destiny of the territory and not the territory the destiny of the people.“ 176 Für Rumänien und Serbien werden die Völker als Träger des Selbstbestimmungsrechts von den VN anerkannt. Sie gehen aber nicht auf die Voraussetzungen dieser Anerkennung ein und werden damit gegenüber der VNPraxis apologetisch. Kriterien, die an einer politischen, soziologischen oder ethnischen Subjektivität des Volkes anknüpfen, schliessen sie explizit aus (so auch Argentinien). Sie müssen daher auf die Anwendbarkeit ratione materiae einge173 Vgl. den Brief von Lord Carrington an Ibrahim Rugova vom 17. August 1992, in: Weller, Crisis, 86. 174 S/24795, Ziff. 82. 175 Weller, Statehood, 49 ff.; Saxer, Steuerung, 733. Die Gruppe fokussierte sich insbesondere auf Bildungsfragen, vgl. S/24795, Ziff. 90 und S/25490, Ziff. 17 ff. Erziehung und Bildung waren zentrale Streitpunkte zwischen Belgrad und Pristina, vgl. die St. Egidio-Bildungsvereinbarung vom 1. September 1996 zwischen dem serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic´ und Ibrahim Rugova, in: Krieger, 11 und Weller, Crisis, 93. 176 IGH, Western Sahara, Gesonderte Stellungnahme von Richter Dillard, 122.
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hen, womit sie wieder bei dem für sie zentralen Konzept des Territoriums anknüpfen können: Nicht bestimmte Völker, sondern Völker bestimmter Territorien können sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Hierzu die Entgegnung von Richterin Higgins auf das Zitat von Richter Dillard: „[. . .] it still has to be said that the territorial issue does come first. Until it is determined where territorial sovereignty lies, it is impossible to see if the inhabitants have a right of selfdetermination.“ 177 Über den sachlichen Anwendungsbereich kommen alle Proponenten zum Schluss, dass sich nur Völker von kolonialisierten und besetzten Gebieten auf das Selbstbestimmungsrecht berufen können. In unabhängigen Staaten sehen sie nur die Existenz eines Volkes im Sinne des Staatsvolkes bzw. der Bevölkerung oder von Minderheiten und indigenen Völkern. Für diese Kategorien nimmt das Selbstbestimmungsrecht die Form eines Rechts auf Inklusion an. Die Proponenten richten es funktional auf die Respektierung und Stärkung der territorialen Integrität des Staates aus. Keiner dieser Kategorien kommt ein Recht zu, das die territoriale Integrität des Staates relativieren könnte. Auf diese Weise fügen die Proponenten das Selbstbestimmungsrecht der Völker in ihre territoriale und konservative Begründungsstruktur ein. 2. Erhebung des Argumentationsstandes Die vertretene Hauptthese besagt, dass Sezessionen in jedem Fall als Verstoss gegen das Prinzip der territorialen Integrität völkerrechtswidrig sind. Der Geltungsanspruch der Hauptthese wird durch zwei Subthesen eingelöst. Die Subthese 1 stützt sich auf folgende Begründungsstruktur: Zunächst wird ein systemischer Vorrang des Prinzips der territorialen Integrität postuliert. Diese These stützt sich vor allem auf Gründungsdokumente von IOs und regionale Dokumente. Danach wird die inhaltliche Tragweite des Prinzips dargelegt, die insbesondere auch eine Garantie gegen Dismembration enthalte. In einem dritten Schritt wird die These erhoben, dass das Prinzip auch auf nicht staatliche Akteure anwendbar sei. Diese bloss thetisch gültige These stützt sich auf die Sicherheitsratspraxis. Die Subthese 2 stützt sich auf folgende Begründungsstruktur: Das Selbstbestimmungsrecht wird als wichtig, aber limitiert dargestellt. Die Limitierung zeigt sich insbesondere bei der Frage nach seinen Trägern. Hier beschränkt sich die Anerkennung einer externen Ausübung des Rechts auf die epistemischen Katego177 Rosalyn Higgins, International Law and the Avoidance, Containment and Resolution of Disputes. General Course on Public International Law, 1991, RdC, Vol. 230, 174. Vgl. auch Crawford, Creation, 126: „At the root, the question of defining ,people‘ concerns identifying the categories of territory to which the principle of self-determination applies as a matter of right.“ (Hervorhebung hinzugefügt).
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rien der Dekolonialisierung. In unabhängigen und souveränen Staaten wird die interne Ausübung im Sinne eines Rechts auf Inklusion anerkannt. Die Proponenten der Position 1 haben darüber hinaus schon in der ersten Runde Einwände gegen die Position eingebracht. Diese werden bei der Position 2 dargestellt.
II. Repliken 15 Akteure bringen sich in die zweite Runde des Verfahrens ein. Bolivien hat sich in der schriftlichen Stellungnahme noch nicht substantiell zur hier behandelten Quaestio geäussert. In der Replik wird nun Stellung bezogen – der plurinationale Staat ist ein weiterer Proponent der Position 1. Somit vertreten vier Proponenten die Position 1 (Argentinien, Bolivien, Serbien und Spanien). Vier Proponenten der Positionen 2 (Albanien, Niederlande, Schweiz und Slowenien) und sechs der Position 3 (Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Kosovo, Norwegen und die USA) erheben als Opponenten der Position 1 verschiedene Einwände. Diese werden im Anschluss an die Begründung der Position 1 dargestellt. 1. Begründung der Position 1 a) Die Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität Die Proponenten der Position 1 gehen in der Replik auf den umstrittensten Punkt ihrer Begründung ein, die Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität. Spanien ist der Meinung, dass es nicht möglich sei, eine Unterscheidung zwischen der zwischenstaatlichen und der innerstaatlichen Anwendung des Prinzips der territorialen Integrität einzuführen. Eine solche Unterscheidung würde dazu führen, dass das Prinzip nur auf internationaler Ebene anwendbar sei. Das sei ein formales Verständnis, das weder die innerstaatliche Realität noch die Staatenpraxis berücksichtige.178 Eine Verleztung der territorialen Integrität durch Handlungen eines innerstaatlichen Akteurs habe immer internationale Konsequenzen. Erstens, weil sie ein essentielles Element der Staatlichkeit betreffe und damit möglicherweise Auswirkungen auf die völkerrechtliche Persönlichkeit und Verletzungen von erga omnes-Verpflichtungen nach sich ziehe. Zweitens, weil es voraussichtlich Handlungen von internationalen Akteuren, primär Staaten, provoziere. Daher sei für Spanien die Beschränkung der Anwendbarkeit auf die zwischenstaatliche Ebene unhaltbar. Für Argentinien verletzt die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo die territoriale Intergrität Serbiens.179 Die Unabhängigkeit bringe einen Verlust des Territo178 179
Spanien, Replik, Rz. 4. Argentinien, Replik, Rz. 37 ff.
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riums für den betroffenen Staat mit sich. Geschehe dies ohne dessen Einverständnis, so sei es eine Verletzung der territorialen Integrität. Für den Dekolonialisierungsprozess gelte dies nicht, weil die FRD festhalte, dass das kolonialisierte Territorium einen „separate and distinct status habe“. Gemäss Argentinien werde behauptet, das Prinzip der territorialen Integrität sei nicht auf nicht staatliche Akteure anwendbar. Es verweist auf die in der schriftlichen Stellungnahme dargestellte VN-Praxis zu innerstaaltichen Konflikten.180 Der Sicherheitsrat und die Generalversammlung gingen davon aus, dass das Prinzip anwendbar sei. Der Fall der Bantustans werde beispielsweise als Fall präsentiert, in dem sich die Illegalität bloss aufgrund der Verletzung des Apartheid-Verbots und der Menschenrechte ergeben habe. Dies sei aber nicht die einzige Grundlage, auf die sich die Generalversammlung gestützt habe: Sie verweise auch darauf, dass die Bantustans die territoriale Integrität des Landes zerstören würden und sie verweise auf die unveräusserlichen Rechte des südafrikanischen Volkes als Ganzes.181 Darüber hinaus garantiere auch die S/RES/1244 (1999) die territoriale Integrität Serbiens.182 Serbien wiederholt zunächst die in der schriftlichen Stellungnahme vertretene Position zum Prinzip der territorialen Integrität und weist auf die Staaten hin, die eine ähnliche oder die gleiche Position vertreten haben.183 Danach geht Serbien auf die gegen die Position formulierten Einwände ein.184 Zunächst geht Serbien auf Grossbritannien ein, das folgendes festgehalten hat: „The protection of territorial integrity is a protection in ,international relations‘. It is not a guarantee of the permanence of the State as it exists at any time. Nor does it apply to secessionist movements within the territory of a State.“ 185
Serbien stimmt dem ersten Satz grundsätzlich zu, wirft aber die Frage auf, was alles zu „international relations“ gehöre. Die VN-Praxis der letzten Jahrzehnte zeige klar, dass Bürgerkriege,186 Verletzungen des humanitären Völkerrechts,187 180
Argentinien, Replik, Rz. 39 m. H. auf Argentinien, s. St., Rz. 75 ff. Argentinien, Replik, Rz. 40 m. Zitat aus A/RES/34/93G und Hinweis auf A/ RES/31/6A und 32/105N. 182 Argentinien, Replik, Rz. 41 ff. 183 Serbien, Replik, Rz. 225 ff. m. Zitaten aus Argentinien, s. St., Rz. 69 f.; Spanien, s. St., Rz. 25 und 27; Slowakei, s. St., Rz. 3; Rumänien, s. St., Rz. 97; Iran, s. St., Rz. 2.1; Zypern, s. St., Rz. 81 f. und 86 und Aserbaidschan, s. St., Rz. 19 sowie Hinweise auf China, s. St., 2 f.; Russland, s. St., Rz. 76 ff.; Ägypten, s. St., Rz. 26 ff. und Bolivien, s. St., 1. 184 Serbien, Replik, Rz. 252 ff. 185 Serbien, Replik, Rz. 253 m. Zitat aus Grossbritannien, s. St., Rz. 5.9. 186 Serbien, Replik, Rz. 254 m. H. auf S/RES/713 (1991) zur ehemaligen SFRJ, 733 (1992) zu Somalien und 788 (1992) zu Liberia. 187 Serbien, Replik, Rz. 254 m. H. auf S/RES/808 (1993) zur ehemaligen SFRJ und 955 (1994) zu Ruanda. 181
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Terrorismus188 und innerstaatliche militärische Machtübernahmen189 in den Bereich der internationalen Gefährdungen des Friedens und der Sicherheit und damit der „international relations“, nicht der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit nach Art. 2 Ziff. 7 VN-Charta fallen würden. Es stimme, dass die Doktrin der territorialen Integrität an sich keine Garantie für die Beständigkeit eines Staates sei, da konsensuale Änderungen jederzeit möglich seien. Es sei aber eine Garantie für die Beständigkeit, bis der betroffene Staat sein Einverständnis zur Änderung gegeben habe. Wenn dem nicht so wäre, würde sich der Zweck der grundlegenden Konzepte der Souveränität und der territorialen Integrität auflösen.190 Drittens sei die These falsch, dass das Prinzip der territorialen Integrität nicht auf Sezessionsbewegung anwendbar sei.191 Serbien unterscheidet zwischen zwei Gruppen von Sicherheitsratsresolutionen: Die erste Gruppe sind die Resolutionen, die sich mit Terrorismus beschäftigen. Diese würden klarerweise nicht staatliche Akteure adressieren.192 Diese Resolutionen würden – wie der Kosovo in der schriftlichen Stellungnahme festgehalten habe – den Staaten Pflichten gegenüber den darin genannten nicht staatlichen Akteuren auferlegen. Zu behaupten, dass sie deswegen nicht auch direkt die nicht staatlichen Akteure addressieren würden, verwechsle die Anwendbarkeit mit der Implementierung des Rechts.193 Eine zweite Gruppe von Resolutionen würde die Nichtverbreitung nuklearer, biologischer und chemischer Waffen betreffen. Diese Resolutionen würden nur Sinn machen, wenn man davon ausgehe, dass die darin beschriebenen Aktivitäten völkerrechtswidrig seien und dass die nicht staatlichen Akteure direkt Adressaten dieser völkerrechtlichen Bestimmungen seien.194 Zum Abschluss weist Serbien noch auf die S/RES/1845 (2008) hin, die unter Kapitel VII „Entitäten“ die Pflicht auferlege, mit dem ICTY zusammenzuarbeiten. 195
188 Serbien, Replik, Rz. 254 m. H. auf S/RES/731 (1992) zu Libyen und 1070 (1996) zum Sudan. 189 Serbien, Replik, Rz. 254 m. H. auf S/RES/841 (1993) zu Haiti. 190 Serbien, Replik, Rz. 255 m. Zitat aus Grossbritannien, s. St., Rz. 5.10. 191 Serbien, Replik, Rz. 255 f. m. Zitaten aus Kosovo, s. St., Rz. 8.06, 8.10, 8.19 f. und 9.02. 192 Serbien, Replik Rz. 257 m. Zitaten aus S/RES/1822 (2008), Ziff. 2 und 10 sowie Hinweis auf 1267 (1999), 1333 (2000), 1363 (2001), 1373 (2001), 1390 (2002), 1452 (2002), 1455 (2003), 1526 (2004), 1566 (2004), 1617 (2005), 1624 (2005), 1699 (2006), 1730 (2006) und 1735 (2006). 193 Serbien, Replik, Rz. 258 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 9.02. 194 Serbien, Replik, Rz. 259 f. m. Zitat aus S/RES/1540 (2004), Ziff. 1 und 2 sowie Hinweis auf 1673 (2006), 1718 (2006), 1737 (2006), 1803 (2008), 1810 (2008) und 1540 (2004). 195 Serbien, Replik, Rz. 261.
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
201
Der Sicherheitsrat habe in einer Vielzahl von Situationen Resolutionen angenommen, die nur Sinn machen würden, wenn man annehme, dass sie ein für nicht staatliche Akteure verbindliches Verbot der Erhebung von Sezessionsansprüchen formulieren würden. Zusammengenommen würden diese zeigen, „that international law now accepts that non-consensual secessions from recognised, sovereign and independent States are unlawful.“ 196 Serbien verweist als erstes auf die Anwendung des uti possidetis iuris-Prinzips während der Dissolution der SFRJ. Dieses habe es den serbischen Bevölkerungen in Kroatien und in Bosnien und Herzegowina verunmöglicht, sich für unabhängig zu erklären.197 Auch der Sicherheitsrat habe sich jeglichen Sezessionsversuchen innerhalb der aus den Republiken der SFRJ hervorgegagnenen neuen Staaten widersetzt.198 Diese Resolutionen könnten nur so verstanden werden, dass sie nicht nur den Nachbarstaaten, sondern auch nicht staatlichen Akteuren die Pflicht auferlegten, die territoriale Integrität der Nachfolgestaaten zu respektieren. Die Resolution 1845 von 2008 würde klar auch die Situation im Kosovo ansprechen. Der gleiche Ansatz finde sich auch in der Behandlung von Ostslawonien wieder.199 Als weiteren Fall verweist Serbien auf die Sicherheitsratsresolutionen zum Südsudan, in denen Sezessionsbestrebungen mit Hinweis auf die Souveränität, Einheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Sudans verurteilt worden seien.200 Die internationale Gemeinschaft nehme also keine Position der Neutralität gegenüber nicht konsensualen Sezessionsbestrebungen in unabhängigen Staaten ein, sondern vielmehr eine Position der positiven Verurteilung, die nicht nur Staaten, sondern auch nicht staatliche Akteure betreffe.201 Diese Praxis bestehe nicht nur generell, sondern auch bezüglich des Kosovo-Problems. Der Sicherheitsrat habe mehrfach auf den Schutz der territorialen Integrität der FRJ und Serbiens hingewiesen. Dieser Hinweis sei klarerweise nicht nur an Drittstaaten, sondern auch an innerstaatliche Akteure, die eine Sezession des Kosovo anstrebten, addressiert gewesen.202
196
Serbien, Replik, Rz. 262. Serbien, Replik, Rz. 263 m. H. auf Badinter-Schiedskommission, Gutachten 1, 2 und 3. 198 Serbien, Replik, Rz. 264 m. Zitaten aus S/RES/1031 (1995) und 1845 (2008). 199 Serbien, Replik, Rz. 266 f. m. Zitaten aus S/RES/1023 (1995), Präambel, Ziff. 2 f. und Hinweis auf 1037 (1996) sowie 1079 (1996) und Zitat aus 1120 (1997), Ziff. 1. 200 Serbien, Replik, Rz. 269 m.w. H. 201 Serbien, Replik, Rz. 272 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 453 ff. und 473 ff. sowie Zitat aus Spanien, s. St., Rz. 31. 202 Serbien, Replik, Rz. 275 ff. m. Zitaten aus S/RES/1160 (1998), Ziff. 5, 1203 (1998), 1244 (1999). 197
202
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
b) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Spanien, Argentinien und Serbien versuchen in den Repliken, den thetischsten Übergang ihrer Position zu stützen. Spanien bringt eine neue Begründung in das Verfahren ein: Das Prinzip der territorialen Integrität müsse auch innerstaatliche Anwendung finden, weil die innerstaatlichen Akte internationale Konsequenzen und Reaktionen von internationalen Akteuren nach sich ziehen könnten. Damit wird die Subthese 1 erstmals nicht mehr nur auf eine möglicherweise rechtsgenerative Sicherheitsratspraxis gestützt. Die Begründung fügt sich in die Position 3 ein, die eben nur die Konsequenzen und die Reaktionen der internationalen Akteure der Unabhängigkeitserklärung und nicht den Akt an sich für völkerrechtlich relevant halten. Die Proponenten der Position 3 machen eine Unterscheidung zwischen Akt und Folgen, um den Akt an sich aus der völkerrechtlichen Beurteilung auszuschliessen.203 Spanien stellt eine Verbindung zwischen Akt und Folge her, um den Akt in die Beurteilung einzuschliessen. Serbien weist darauf hin, dass sich der ausschliesslich innerstaatliche Jurisdiktionsbereich i. S. v. Art. 2 Ziff. 7 VN-Charta in der völkerrechtlichen Entwicklung stetig verkleinert habe. Und es modifiziert seine Position zur inhaltlichen Tragweite des Prinzips der territorialen Integrität, jedoch nur scheinbar: Im Gegensatz zur schriftlichen Stellungnahme hält Serbien fest, es sei keine Garantie für die Beständigkeit des Staates, weil eine Änderung mit Einverständnis des betroffenen Staates möglich sei. Grossbritannien hatte in der schriftlichen Stellungnahme behauptet, das Prinzip beinhalte eben keine Garantie für die Beständigkeit des Territoriums.204 Hier versucht Serbien, die beiden Behauptungen in Einklang zu bringen: Es gibt Grossbritannien scheinbar recht, um die Aussage Grossbritanniens in Einklang mit der eigenen Position zu bringen. Selbstverständlich wollte Grossbritannien zum Ausdruck bringen, dass es keine Garantie gegen nicht konsensuale Änderungen beinhalte. Um den entscheidenden Übergang zur ratione personae zu stützen, weist Serbien über die schon in der schriftlichen Stellungnahme genannten Sicherheitsratsresolutionen auf die Sicherheitsratspraxis zur Terrorismusbekämpfung und zur Nichtverbreitung nuklearer, biologischer und chemischer Waffen hin. Diese richten sich klarerweise auch an nicht staatliche Akteure. Der entscheidende Übergang bleibt aber gleich aufgebaut wie in der schriftlichen Stellungnahme: In Rz. 262 der Replik zieht Serbien aus den zahlreichen Resolutionen den Schluss, dass nicht konsensuale Sezessionen generell verboten seien. Spanien schlägt in der zweiten Runde einen neuen Begründungsweg vor. Argentinien und Serbien versuchen hingegen, den alten Weg zu stabilisieren. 203 204
Vgl. sogleich § 8 II.3.a)bb) sowie unten § 10 I.1.b), § 9 II.1.b) und § 9 III.1.b). Vgl. unten § 10 I.1.b)aa).
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
203
bb) Intervenierende Beurteilung Argentinien und Serbien stützen sich wieder mehrheitlich auf die Sicherheitsratspraxis. Argentinien versucht mit Hinweis auf die Praxis zu den Bantustans darzulegen, dass sich die Illegalität der Sezessionsbestrebungen nicht nur aus ihrer Verletzung des Apartheid-Verbots und Menschenrechtsverletzungen, sondern auch aus der Verletzung des Prinzips der territorialen Integrität ergeben habe. Der relevante Absatz der Resolution liest sich wie folgt: „The General Assembly [. . .] again denounces the establishment of bantustans as designed to consolidate the inhuman policy of apartheid, to destroy the territorial integrity of the country, to perpetuate white minority domination and to deprive the African people of South Africa of their inalienable rights [. . .].“ 205
Entscheidend ist die Frage, ob sich die Illegalität aus der Zerstörung der territorialen Integrität allein ergeben kann oder nicht. Die Resolution weist mehrheitlich auf die inhumane Politik der Bantustanisierung hin. In Ziff. 2 wird die „Unabhängigkeit“ der Bantustans verurteilt und für „totally invalid“ erklärt. Die Resolution scheint nach wie vor eine schwache Stütze für die Hauptthese zu sein, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo aufgrund ihres Verstosses gegen die territoriale Integrität von Serbien und ohne nachträgliche Verurteilung durch ein VN-Organ völkerrechtswidrig sei. Stärker ist hingegen der Hinweis auf die S/ RES/1244 (1999) und den darin enthaltenen Schutz der territorialen Integrität der FRJ. Dann wäre die Unabhängigkeitserklärung aber nicht wegen dem Verstoss gegen ein generelles Sezessionsverbot, das sich aus dem Prinzip der territorialen Integrität ergibt, sondern als Verstoss gegen die Sicherheitsratsresolution völkerrechtswidrig. 2. Die Proponenten der Position 2 als Opponenten der Position 1 a) Einwände zum Prinzip der territorialen Integrität aa) Einwände zur systematischen Stellung des Prinzips Für Slowenien gehen einige Stellungnahmen von einer Hierarchie der relevanten völkerrechtlichen Prinzipien aus.206 Die FRD und die Schlussakte von Helsinki würden eine Vielzahl von Prinzipien enthalten, die alle gleichwertig seien, auch wenn sie in der Praxis in Konflikt geraten könnten. Daher müsse jede Situation umfassend beurteilt werden. Selbst wenn das Prinzip der territorialen Integrität so ausgelegt werde, dass es Unabhängigkeitserklärungen verbiete (quod
205
A/RES/34/93G, Ziff. 1. Slowenien, Replik, Rz. 7 m. H. auf Iran, s. St., Rz. 21 f. sowie die s. St. von Ägypten, Libyen, Brasilien, Aserbaidschan, China, Slowakei, Rumänien, Spanien und Russland. 206
204
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
non), gelte es nicht absolut, sondern müsse in Abwägung mit anderen relevanten Prinzipien, u. a. dem Selbstbestimmungsrecht, verstanden werden.207 Ein Staat müsse sich den Schutz seiner territorialen Integrität verdienen; dies gelte insbesondere für ethnisch komplexe Staaten. Falls ein Staat das Selbstbestimmungsrecht nicht respektiere und seine Regierung nicht repräsentativ sei, könne er sich nicht darauf verlassen, dass seine territoriale Integrität gerantiert werde.208 In solchen Situation könne der Anspruch auf einen eigenen Staat auf Kosten der territorialen Integrität des bestehenden der einzige Weg sein, um das Recht auf Selbstbestimmung des politischen Status nach den Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte I und II zu realisieren. bb) Einwände zur Anwendbarkeit ratione personae Für Albanien findet das Prinzip der territorialen Integrität in casu keine Anwendung.209 Es sei ein „cardinal principle of international law“ und Albanien fände es löblich und wichtig, dass Serbien, nachdem es gegen andere ehemalige SFRJ-Republiken direkt oder über Vertreter Krieg geführt habe, die Wichtigkeit dieses Prinzips anerkenne. Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta verbiete die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität anderer Staaten, aber es komme nur zwischen Staaten zur Anwendung. Sezessionen fänden hingegen in der Regel innerhalb eines Staates statt und würden somit nicht in den Anwendungsbereich von Art. 2 Ziff. 4 fallen.210 Die Überschrift VI der schriftlichen Stellungnahme Serbiens sei irreführend und irrelevant.211 Das Prinzip schränke in keinem Fall den inneren verfassungsrechtlichen Prozess eines Staates ein. Es garantiere weder die Existenz eines Staates noch seines Territoriums gegenüber Entwicklungen, die ihren Ursprung innerhalb des Staates hätten.212 Es sei keine Garantie für den Staat gegenüber seiner Bevölkerung oder eines Teils davon.213 Daher sei die lange Auseinandersetzung mit dem Prinzip in der serbischen Stellungnahme im aktuellen Kontext irrelevant. Insbesondere der Teil, der sich mit internen Konflikten auseinander207
Slowenien, Replik, Rz. 8 m. H. auf Danilo Türk, Temelji mednrodnega prava, Ljubljana 2007, 157. 208 Slowenien, Replik, Rz. 8 m. H. auf Danilo Türk, Temelji mednrodnega prava, Ljubljana 2007, 158 und Frederik L. Kirgis, The Degrees of Seld-Determination in the United Nations Era, in: AJIL, Vol. 88, Nr. 2, 1994, 304 ff. 209 Albanien, Replik, Rz. 46. 210 Albanien, Replik, Rz. 46 m. Zitat aus Musgrave, 181 und die Leitprinzipien der Kontaktgruppe. 211 Der Titel lautet: „The Unilateral Declaration of Independence is in Contradiction with the Principle of Respect for the Territorial Integrity of States“. 212 Albanien, Replik, Rz. 50 m. Zitat aus Franck, Fairness, 148. 213 Albanien, Replik, Rz. 50 m. H. auf Schweiz, s. St., Rz. 98 lit. c.
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
205
setze, adressiere nicht die hier relevanten Fragen. Es sei zwar richtig, dass viele Sicherheitsratsresolutionen die territoriale Integrität eines bestimmten Staates bestätigt hätten. Diese Resolutionen würden sich jedoch alle auf Situationen beziehen, in denen die Gefahr bestand, dass ein Drittstaat durch Intervention auf dem Territorium der betroffenen Staaten einen Marionettenstaat errichte. Dies gelte für Georgien, für den Kongo und auch den Sudan.214 Der Sicherheitsrat könne eingreifen, wenn eine Drittstaatenintervention mit dem Ziel der Destabilisierung des betroffenen Staates den Frieden gefährde; in diesem Fall habe der Sicherheitsrat aber keine solche Gefahr gesehen und deshalb in Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärung auch keine Resolution angenommen. Dies obwohl er seit der Resolution 1244 (1999) in der Angelegenheit aktiv befasst war. Wie bereits dargelegt, bestehe in der Literatur ein Konsens darüber, dass die Sezession ein politischer Fakt sei, der durch das Völkerrecht nicht geregelt werde.215 Nur bei einer Drittstaatenintervention sei die Völkerrechtsverletzung evident und nur dann reagierten IOs. Dies zeige sich an der Zurückhaltung von IOs gegenüber langjährigen Sezessionskonflikten und am Fall Zypern, wo die VN die territoriale Integrität Zyperns gegen die türkische Intervention verteidigt habe. Es sei bezeichnend, dass Serbien diesen letzten Fall gar nicht anspreche. Dasselbe zeige auch die Dissolution der ehemaligen UdSSR.216 Für die Schweiz ist die territoriale Integrität ein wichtiges, aber kein absolutes oder von anderen Prinzipien isoliertes völkerrechtliches Prinzip.217 Es finde lediglich in zwischenstaatlichen Beziehungen Anwendung und sei daher für die Beurteilung von Unabhängigkeitserklärungen von Sezessionsbewegungen nicht relevant. Alternativ hält die Schweiz fest, dass im Kosovo-Fall die engen Voraussetzungen der externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts erfüllt waren, falls die territoriale Integrität auch innerhalb von Staaten anwendbar sei.218 cc) Einwände zur Voraussetzung des Einverständnisses des betroffenen Staates Für Albanien dreht das Kapitel V der serbischen Stellungnahme das Rad der Zeit zurück in das 18. Jahrhundert, weil darin behauptet werde, dass das Einverständnis des betroffenen Staates eine Voraussetzung der Sezession sei.219 Diese 214
Albanien, Replik, Rz. 51 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 163 f., 457 ff. und 464 ff. Albanien, Replik, Rz. 53 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 38 f., 73 f.; Tancredi, Normative „Due Process“, 172 und Patrick Daillier/Alain Pellet, Droit International Public, 7. Aufl., Paris 2002, 526 f. 216 Albanien, Replik, Rz. 54. 217 Schweiz, Replik, Rz. 4. 218 Schweiz, Replik, Rz. 6 m. H. auf Schweiz, s. St., Rz. 57 ff. 219 Albanien, Replik, Rz. 69. 215
206
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Frage sei nach der Unabhängigkeitserklärung der USA lange diskutiert worden und seit dem frühen 19. Jahrhundert sei klar, dass Drittstaaten einen effektiv unabhängigen Staat nach freiem Ermessen anerkennen könnten. Die Idee, dass Souveränität vom ehemaligen zum neuen Staat übertragen werden müsste, sei zwar bis etwa 1800 von vielen Autoren vertreten, danach aber klar von der Staatenpraxis und der opinio iuris verworfen worden.220 Sezession sei gerade der Vorgang, durch den ein neuer Staat ohne Einverständnis des betroffenen Staates etabliert und anerkannt werde: „Absence or refusal of consent by the parent State does no [sic!] preclude statehood.“ 221 Die Anerkennung durch Drittstaaten „does not grant retroactively legality or purge illegality.“ 222 Dies sei hier aber nicht relevant. Wo Drittstaaten interveniert hätten, habe die Anerkennung die Illegalität nicht eliminiert: Dies zeige sich in Nordzypern, Südossetien und Abchasien. In diesen Fällen habe sich die Anerkennung praktisch auf den interveniereden Staat beschränkt. Im Falle der Verletzung einer zwingenden völkerrechtlichen Norm bestehe darüber hinaus die kollektive Pflicht der Nichtanerkennung.223 Der Kosovo sei mittlerweile von 62 Staaten anerkannt worden; dies zeige, dass viele Staaten von der Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung ausgingen und dass die Praxis der kollektiven Nichtanerkennung keine Anwendung gefunden habe. b) Einwände zum Selbstbestimmungsrecht der Völker aa) Einwände zur systematischen Stellung und zur inhaltlichen Tragweite Der Titel des Kapitels VII der serbischen Stellungnahme ist für Albanien irreführend. Die Frage sei nicht, ob sich aus dem Selbstbestimmungsrecht eine Rechtsgrundlage für die Unabhängigkeitserklärung ergebe, sondern ob es als „limitation for the declaration of independence“ angesehen werden könne oder „whether this declaration was in line with the principle of self-determination as recognised in international law.“ 224 Die serbische Deutung des Selbstbestimmungsrechts setze sich sowohl über die Realität als auch über die Staatenpraxis hinweg. Aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebe sich nicht ein generelles Recht zur Sezession. Aber in ausser220 Albanien, Replik, Rz. 69 m. H. auf Jochen A. Frowein, Transfer or Recognition to Sovereignty – Some Eary Problems in Connection with Dependent Territories, in: AJIL, Vol. 65, Nr. 3, 1971, 568 ff. 221 Albanien, Replik, Rz. 71 m. H. auf Crawford, Secession, 85 f. und Zitat aus Crawford, Creation, 384. 222 Albanien, Replik, Rz. 72. 223 Albanien, Replik, Rz. 73 u. a. m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 57 und Dugard/Raic ˇ, 100 f. 224 Albanien, Replik, Rz. 55.
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207
gewöhnlichen Umständen könne es dazu kommen.225 Es sei klar, dass die dazugehörigen Voraussetzungen im Kosovo-Fall erfüllt gewesen seien.226 Die Schutzklausel der FRD lehne die Idee, dass die Sezession durch das Prinzip der Selbstbestimmung genehmigt werde, grundsätzlich ab. Damit sei die Diskussion nicht zu Ende: Die Frage sei vielmehr, ob das Völkerrecht eine Regel enthalte, die eine Sezession unter den Umständen des Kosovo verbiete.227 Eine solche Regel bestünde nicht. Die FRD sehe unterschiedliche Formen der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts vor, u. a. die Etablierung eines unabhängigen Staates. Die Schutzklausel halte fest, dass nichts in den vorstehenden Absätzen Handlungen genehmige oder begünstige, die gegen die territoriale Integrität des Staates gerichtet seien. Dies könne jedoch nicht als Garantie der territorialen Integrität gegen Sezessionsbewegungen eines Bevölkerungsteils verstanden werden. Darüber hinaus enthalte die Schutzklausel noch die Möglichkeit der remedialen Sezession, falls eine Regierung die Bevölkerung nicht diskriminierungsfrei repräsentiere.228 Das Argument, dass die Sezession gegen das Selbstbestimmungsrecht verstosse, werde durch diesen Teil der Schutzklausel ausgeschlossen. Es könne nicht gegen eine Sezession des Kosovo verwendet werden. Die Formulierung der Schutzklausel wolle ihre Anwendung auf Situationen beschränken, in denen sich Staaten in Konformität mit dem Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung verhalten würden. bb) Einwände zu den Trägern des Selbstbestimmungsrechts Albanien wiederholt, dass die Kosovaren sowohl in den Rambouillet-Abkommen als auch in einer Stellungnahme der Minister der Kontaktgruppe von 2006 und im Interimsverfassungsrahmen als Volk anerkannt worden seien.229 Die Niederlande gehen in ihrer Replik insbesondere auf die Frage ein, wer als Volk Träger des Selbstbestimmungsrechts sei.230 Die Niederlande hatten die 225 Albanien, Replik, Rz. 55 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 42 f.; Musgrave, 76, 182 f. und 188 f.; Buchanan, Self-Determination, 357 ff.; Buchheit, 92 ff.; Franck, Postmodern Tribalism, 13 f. und zur remedialen Sezession: Tomuschat, Secession, 38 ff. und Dugard/Raicˇ, 176. 226 Albanien, Replik, Rz. 55 verweist in Bezug auf die Voraussetzungen auf Dugard/ Raicˇ, 109. 227 Albanien, Replik, Rz. 56. 228 Albanien, Replik, Rz. 59 u. a. m. H. auf Dugard/Raic ˇ , 106 und Quebec-Gutachten, Rz. 138. 229 Albanien, Replik, Rz. 61 ff. m. Zitaten aus Kapitel 8 der Rambouillet-Abkommen; Stellungnahme der Kontaktgruppe für den Kosovo, London, 31. Januar 2006, Ziff. 7 und den Interimsverfassungsrahmen, Art. 1.1. 230 Niederlande, Replik, Rz. 3.1. ff.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
These aufgestellt, dass die Kosovaren als Volk Träger seien. Andere Staaten hätten nun die These aufgestellt, dass die Kosovaren als ganzes oder Teile davon kein Selbstbestimmungsrecht hätten, zumindest kein externes. Dies sei mit den Subthesen begründet worden, dass es dazu entweder einer Anerkennung durch eine IO bedürfe oder dass „Volk“ nur die ganze Bevölkerung eines Staates meine.231 Die erste These stütze sich in der Regel auf die Rz. 59 des Western SaharaGutachtens des IGH. Dieses Gutachten beziehe sich jedoch auf die Dekolonialisierung von nicht selbstverwalteten Gebieten. In diesem Prozess seien der Generalversammlung primär beratende Aufgaben zugekommen. Aus diesen Empfehlungen könne nicht hergeleitet werden, dass die Anerkennung durch die Generalversammlung oder andere VN-Organe eine Voraussetzung sei, um ein Volk als Träger des Selbstbestimmungsrechts zu identifizieren. Eine solche Anerkennug durch eine IO sei „no more than an indication of support for such a people’s cause.“ 232 Die zweite These besage, dass das Selbstbestimmungsrecht nur auf eine Bevölkerung als Ganzes Anwendung finde. Hier verweisen die Niederlande auf die Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte: Einige Staaten hätten zu den beiden Artikeln Vorbehalte angebracht, wonach das Selbstbestimmungsrecht nicht auf souveräne und unabhängige Staaten oder einen Bevölkerungsteil davon oder nur auf kolonialisierte, besetzte oder unter ähnlichen Herrschaften stehende Gebiete angewendet werden könne. Die Niederlande hätten gegen solche Vorbehalte Einspruch erhoben, mit dem Hinweis darauf, dass jeder Vorbehalt, welcher den in den relevanten Dokumenten festgelegten Anwendungsbereich einschränken wolle, das Konzept der Selbstbestimmung an sich infrage stelle und dessen universellen Charakter schwäche. Andere Staaten und der Oberste Gerichtshof von Kanada würden die Sicht der Niederlande teilen.233 c) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Slowenien geht zunächst auf die systematische Stellung ein: Das Prinzip der territorialen Integrität geniesse keinen Vorrang, sondern müsse gegen andere Prinzipien abgewogen werden. Dieser Einwand kann sich auf die FRD stützen, die im allgemeinen Teil in Ziff. 2 erklärt: „bei ihrer Auslegung und Anwendung sind die vorstehenden Grundsätze voneinander abhängig; jeder Grundsatz ist im Zusammenhang mit den anderen Grundsätzen zu verstehen; [. . .].“ Der Einwand 231 232 233
Niederlande, Replik, Rz. 3.2. Niederlande, Replik, Rz. 3.3. Niederlande, Replik, Rz. 3.4 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 124.
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bleibt somit bestehen. Der zweite Einwand stützt sich auf die Theorie, dass der Schutz der territorialen Integrität nicht Selbstzweck, sondern funktional auf die Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts ausgerichtet ist. Dieser Einwand ist weitreichend, wurde aber von Slowenien noch nicht ausreichend begründet. Albanien formuliert einen Einwand gegen die These, dass die Staatsentstehung das Einverständnis des ehemaligen Souveräns bzw. den legalen Übergang des Hoheitstitels voraussetze. Diese These sei durch die Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung der USA durch Frankreich infrage gestellt worden.234 Die Folge war, dass sich „die effektivitätsorientierte Anerkennung als eigentliches Rechtsinstitut“ ausbildete.235 Die Ausbildung des Effektivitätsprinzips in der völkerrechtlichen Staatsentstehungsdogmatik ist epistemisch. Albanien bringt es nun explizit als Einwand in das Verfahren ein. Der Einwand kann sich auf Wissen stützen – es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Effektivitätsprinzip in der Regel durch ein Legalitätsprinzip relativiert wird (vgl. Position 3) und dass sein epistemischer Status zunehmend infrage gestellt wird.236 Bezüglich des Selbstbestimmungsrechts der Völker reaktualisieren die Proponenten ihre Begründungsstruktur aus der ersten Runde,237 um sie in der Form mehrerer Einwände gegen die Position 1 einzubringen. Die Niederlande gehen auf die von Argentinien und Serbien vertretene These der prozeduralen Anerkennung der Träger des Selbstbestimmungsrechts durch die VN ein. Beide stützen ihre Begründung auf Rz. 59 des Western Sahara-Gutachtens ab, das folgendes besagt: „The validity of the principle of self-determination, defined as the need to pay regard to the freely expressed will of peoples, is not affected by the fact that in certain cases the General Assembly has dispensed with the requirement of consulting the inhabitants of a given territory. Those instances were based either on the consideration that a certain population did not consitute a ,people‘ entitled to self-determination or on the conviction that a consultation was totally unnecessary, in view of special circumstances.“
Die Niederlande erheben den Einwand, die Anerkennung von nicht selbstverwalteten Gebieten als Träger des Selbstbestimmungsrechts sei nicht konstitutiv, sondern bloss deklaratorisch gewesen. Deshalb müsse diese nicht vorausgesetzt werden. In einem zweiten Einwand verweisen die Niederlande auf den Einspruch, den die Niederlande gegen die Vorbehalte zu den Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte 234
Vgl. u. a. Saxer, Steuerung, 54 ff. Saxer, Steuerung, 57. 236 Brad Roth, Secessions, Coups and the International Rule of Law: Assessing the Decline of the Effective Control Doctrine, in: Wayne State University Law School Legal Studies Research Paper Series, Vol. 11, Nr. 10–15, 2011, 1 ff., 47 ff.; Saxer, Steuerung, 965 ff. 237 Vgl. unten § 9 I. 235
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I und II erhoben haben.238 Indien hatte am 10. April 1979 folgenden Vorbehalt zu den Art. 1 der beiden Pakte eingereicht: „[T]he words ,the right of self-determination‘ appearing in [article 1 of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights and article 1 of the International Covenant on Civil and Political Rights] apply only to the peoples under foreign domination and that these words do not apply to sovereign independent States or to a section of a people or nation – which is the essence of national integrity.“ 239
Gegen diesen Vorbehalt haben die Niederlande, die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich Einspruch erhoben und festgehalten, dass das Selbstbestimmungsrecht auf alle Völker, nicht nur solche unter fremder Besatzung, anwendbar sei – die VN-Charta sehe keine solche Beschränkung der Anwendbarkeit vor.240 Pakistan hat gegen Indien den Einspruch erhoben, dass es auf „all peoples under foreign occupation and alien domination“ anwendbar sei.241 Insofern reaktualisiert sich hier ein Konflikt um die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts, der seit der Inkraftsetzung der beiden Pakte ausgetragen wird. Die Niederlande stützen ihren Einwand jedoch auch auf die Rz. 124 des Quebec-Gutachtens: „It is clear that ,a people‘ may include only a portion of the population of an existing state. The right to self-determination has developed largely as a human right, and is generally used in documents that simultaneously contain references to ,nation‘ and ,state‘. The juxtaposition of these terms is indicative that the reference to ,people‘ does not necessarily mean the entirety of a state’s population. To restrict the definition of the term to the population of existing states would render the granting of a right to self-determination largely duplicative, given the parallel emphasis within the majority of the source documents on the need to protect the territorial integrity of existing states, and would frustrate its remedial purpose.“
Das Quebec-Gutachten formuliert einen teleologischen Einwand gegen die These, dass das Selbstbestimmungsrecht in unabhängigen und souveränen Staa238
Vgl. unten § 9 I.1.b). VN-Menschenrechtspakt I, Declarations and Reservations, India, Declarations, I. Vgl. auch die Vorbehalte von Indonesien: „the words ,the right of self-determination‘ appearing in this article do not apply to a section of people within a sovereign independent state and can not be construed as authorizing or encouraging any action which would dismember or impair, totally or in part, the territorial integrity or political unity of sovereign and independent states.“ Und Bangladesch: „[T]he words ,the right of selfdetermination of Peoples‘ appearing in this article apply in the historical context of colonial rule, administration, foreign domination, occupation and similar situations.“ (https://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-3&chapter =4&lang=en). 240 VN-Menschenrechtspakt I, Objections, Frankreich (30. September 1999), Bundesrepublik Deutschland (15. August 1980) und die Niederlande (12. Januar 1981) (https:// treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-3&chapter=4&lang =en). 241 VN-Menschrechtspakt I, Objections, Pakistan. (https://treaties.un.org/pages/View Details.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-3&chapter=4&lang=en). 239
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ten nur auf die Bevölkerung als Ganzes anwendbar sei: Das Selbstbestimmungsrecht würde mit dem Schutz der territorialen Integrität zusammenfallen (genau das, was die Proponenten der Position 1 anstreben) und seinen remedialen Zweck einbüssen. Zusammengefasst können die Niederlande den Konflikt reaktualisieren, der seit Inkraftsetzung der beiden Pakte ausgetragen wird und ihre schon damals vertretene Position durch ein als Einwand gegen die Position 1 in das IGH-Verfahren zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo eingebrachtes Zitat des Quebec-Gutachtens stärken. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Die Proponenten der Position 2 richten das Prinzip der territorialen Integrität funktional auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker aus. Die Staatlichkeit verliert aus dieser Perspektive ihren Selbstzweck und wird nur noch bedingt geschützt. Diese Perspektive kann in eine grössere völkerrechtliche Entwicklung gestellt werden, die mit den Begriffen der humanitären Intervention, der responsibility to protect, der individuellen völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit, des internationalen Menschen- und Minderheitenschutzes umrissen werden kann.242 Albanien nähert sich in der Formulierung der Einwände der Position 3 an: Albanien hat in der ersten Runde den „act of secession“ noch explizit als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gerahmt.243 Darüber hinaus hat es auf jahrhundertealte Präzedenzfälle hingewiesen, die ihre Unabhängigkeit auf eine repressive Politik des alten Souveräns gestützt hatten. In der Replik übernimmt Albanien die Rahmung der Position 3, wonach die Sezession ein politischer Fakt sei, der vom Völkerrecht nicht geregelt werde. 3. Die Proponenten der Position 3 als Opponenten der Position 1 a) Einwände zum Prinzip der territorialen Integrität aa) Einwände zur systematischen Stellung des Prinzips Grossbritannien und Norwegen gehen auf die systematische Stellung ein. Grossbritannien geht insbesondere auf China ein, das diesbezüglich auf die Stellungnahme von Generalsekretär U Thant verwiesen hat. Grossbritannien möchte dies nun in den richtigen Kontext stellen: Der Generalsekretär sei gefragt worden: „Isn’t there a deep contradiction between the people’s right to self-determination [. . .] and the attitude of the Federal Government of Nigeria towards Bia242 Vgl. für eine ausführlichere Darstellung dieser Entwicklung: IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Cançado Trindade. 243 Vgl. unten § 9 I.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
fra?“ Darauf habe er geantwortet, dass die Aufnahme eines Staates in die VN die Akzeptanz der territorialen Integrität, der Unabhängigkeit und der Souveränität dieses Staates impliziere. Im Falle des Kongo habe die VN Millionen aufgewendet, um die Sezession von Katanga zu unterbinden, die auf eine externe Einmischung gegen die territoriale Integrität des Kongo zurückzuführen sei. Die VN hätten den Kongo sowohl durch explizite Versicherungen als auch durch materielle Hilfe unterstützt. Das Engagement der VN im Kosovo sei hingegen auf den Schutz der Bevölkerung gegen die FRJ und die Errichtung einer autonomen Verwaltung in Reaktion auf schwerwiegende Missbräuche kriminellen Charakters zurückzuführen.244 Norwegen teilt die Ansicht der meisten Staaten, dass sowohl das Prinzip der territorialen Integrität als auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker wichtig seien. Es könne jedoch die These des Irans nicht akzeptieren, wonach das Prinzip der territorialen Souveränität der alleinige Grundpfeiler der VN-Charta sei und dass ihm gegenüber anderen Prinzipien eine Vormachtstellung zukomme. Die genannten Prinzipien müssten gemeinsam berücksichtig werden.245 bb) Einwände zur Anwendbarkeit ratione personae Die Proponenten der Position 3 formulieren am meisten Einwände gegen die These der Position 1, dass das Prinzip der territorialen Integrität auch auf nicht staatliche Akteure anwendbar sei. Frankreich, Grossbritannien, die USA und der Kosovo gehen zunächst vertieft auf die Dokumente ein, die die Proponenten der Position 1 herangezogen haben, um ihre These zu stützen. Frankreich hält fest, dass das Prinzip „[. . .] by virtue of all the major conventions and declarations – the Charter of the United Nations first and foremost [. . .]“ nur zwischen Staaten anwendbar sei.246 Für Grossbritannien enthält das Völkerrecht ausserhalb des kolonialen Kontexts keine Regel, die der Sezession Vorrang gegenüber der Bewahrung der bestehenden Grenzen gebe. Aber territoriale Integrität sei keine Garantie gegen interne Aufspaltung, wie die Dissolution der SFRJ zeige. Die VN-Charta beziehe sich in Bezug auf die territoriale Integrität vor allem auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt in zwischenstaatlichen Beziehungen. Keine führende Abhandlung zur Charta habe in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta eine Regelung identifiziert, die das Verhalten von innerstaatlichen öffentlichen Organen regle.247 Deshalb sei die Behauptung, dass das Völ244 Grossbritannien, Replik, Rz. 40 f. m. Zitat aus und Hinweis auf Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 35, 36 und 39 und S/RES/1244 (1999), Ziff. 1, 3 und 10. 245 Norwegen, Replik, Rz. 3 f. m. H. auf Agenda for Peace, Ziff. 17 ff. 246 Frankreich, Replik, Rz. 30. 247 Grossbritannien, Replik, Rz. 43 m. H. auf Leland M. Goodrich/Edvard Hambro, Charter of the United Nations. Commentary and Documents, 2. Aufl., London 1949,
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kerrecht die territoriale Integrität favorisiere und dass eine Regierung deshalb zu allen rechtmässigen Mitteln greifen darf, um einer Sezession entgegenzutreten, nicht gleichzusetzen mit der Behauptung, dass das Völkerrecht eine Regel enthalte, die Sezessionen verbiete und gegenüber Personen durchsetzbar sei, die innerhalb des Territoriums operierten.248 Die letzte Position sei von drei Staaten vertreten worden (Serbien, Iran und Ägypten). Sie sei jedoch eine Minderheitenposition, die durch keine erbrachten Nachweise gestützt werde. Separation sei nicht völkerrechtlich ausgeschlossen. Dies werde auch nicht durch Prof. Crawford – auf den sich u. a. Zypern stütze – suggeriert.249 Für die USA zeigen die Dokumente, die Serbien und andere in ihren schriftlichen Stellungnahmen zitieren würden,250 nur, dass das Prinzip ein seit langem etabliertes gewohnheitsrechtliches Prinzip sei, das zwischenstaatliche Beziehungen regle.251 Serbien zitiere beispielsweise Art. 10 der Völkerbundsatzung. Es ergebe sich aus dem Text, der die „Members of the League“ anspreche, dass er zwischen Staaten Anwendung finde. Auch die von Serbien zitierte Ziff. 4 des Art. 2 der VN-Charta spreche „[a]ll Members“ an.252 In der von Serbien zitierten FRD stehe „[e]very State“. Danach zitiere Serbien die VN-Erklärung über die Dekolonialisierung.253 Diese Erklärung sei im Kontext der Dekolonialisierung angenommen worden und habe zum Ziel, Kolonialmächten zu verunmöglichen, die Kontrolle über Territorien unter ihrer Verwaltung zu behalten oder diese zu ihren Gunsten aufzuteilen.254 Auch die anderen von Serbien zitierten Generalversammlungsresolutionen würden nichts am Prinzip der territorialen Integrität
102 ff.; Hans Kelsen, The Law of the United Nations. A critical analysis of its fundamental problems, New York 1950, Nachdruck: New Jersey 2000, 87 ff., 99 ff., 106 ff., 527 ff., 726 ff., 769 ff., 792; Bruno Simma et al. (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, 2. Aufl., Oxford 2002, 112 ff.; Jean-Pierre Cot/Alain Pellet/ Mathias Forteau (Hrsg.), La Charte des Nations Unies. Commentaire article par article, 3. Aufl., Paris 2005, 437 ff. und Schweiz, s. St., Rz. 55. 248 Grossbritannien, s. St., Rz. 44 m. Zitat aus Crawford, Bayefski, Rz. 8. 249 Grossbritannien, s. St., Rz. 44 m. Zitat aus Crawford, Creation, 384 und Hinweis auf Zypern, s. St., Rz. 150 ff.; Crawford, Creation, 384 und 390 sowie Lauterpacht, Recognition, 8. 250 USA, Replik, 13 und 15 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 423 ff. und 524; Zypern, s. St., Rz. 82 ff.; Russland, s. St., Rz. 76 ff.; Spanien, s. St., Rz. 20 ff. und 27; Argentinien, s. St., Rz. 75 ff. 251 USA, Replik, 16. 252 USA, Replik, 16 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 430; Zypern, s. St., Rz. 87 und Russland, s. St., Rz. 77. 253 USA, Replik, 16 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 431. 254 USA, Replik, 17 m. H. auf die travaux préparatoires in: Official Records of the General Assembly, Fifteenth Session (Part I), Plenary Meetings, Vol. 2 (27 October– 20 December 1960), 1271 (Kommentar des indonesischen Vertreters zur Ziff. 6), 1284 (Kommentar des marokkanischer Vertreters zu Ziff. 6) und in: Yearbook of the United Nations, 1960, 45 und 47; Franck/Higgins/Pellet/Shaw/Tomuschat, 282 f.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
ändern.255 Die Begründungen Serbiens, die sich auf regionale Dokumente stützten, würden alle den gleichen Fehler enthalten. Die Schlussakte von Helsinki und die anderen Dokumente würden alle die „participating states“ ansprechen.256 Kurz: Die in diesen Dokumenten verwendeten Formulierungen würden keine völkerrechtliche Regel begründen, die es nicht staatlichen Akteuren verbieten würde, sich für unabhängig zu erklären. Der Kosovo formuliert verschiedene Einwände zur These, dass die Prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität die Unabhängigkeitserklärung verbieten.257 Der Kosovo würde nicht die Wichtigkeit des Prinzips der Souveränität und der territorialen Integrität infrage stellen – er habe es selbst in der Unabhängigkeitserklärung anerkannt.258 Es sei aber nur auf zwischenstaatliche Beziehungen anwendbar. Die Verfasser hätten nicht als Staats-, sondern als Volksvertreter gehandelt. Die VN-Charta spreche in Art. 2 Ziff. 4 alle Mitgliestaaten und ihre internationale Beziehungen an.259 Die serbische Auflistung regionaler Dokumente würde nichts an der Argumentation ändern, weil diese nicht ein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen begründen würden.260 So würde beispielsweise die Schlussakte von Helsinki auch nur die teilnehmenden Staaten ansprechen. Die meisten zitierten Dokumente seien nicht einmal für Staaten bindend, geschweige denn für nicht staatliche Akteure. Und selbst wenn sie gewohnheitsrechtlichen Charakter hätten, würden sie die serbische These nicht stützen. Die von Serbien zitierte VN-Erklärung über die Dekolonialisierung sei schlicht nicht anwendbar im vorliegenden Fall, weil sie die partikuläre Situation der Dekolonialisierung betreffe und das Recht von Völkern auf die Integrität ihres nationalen Territoriums gegenüber äusseren Eingriffen regle.261 Auch die anderen zitierten Dokumente überzeugten nicht: Die FRD enthalte wie Art. 2 Ziff. 4 VNCharta und die VN-Erklärung über das Recht auf Entwicklung bloss eine zwischenstaatliche Pflicht. Die in A/RES/48/192 angehängten Grundsätze über die humanitäre Hilfe würden einen völlig anderen Sachbereich und die von Serbien 255 USA, Replik, 17 m. Zitaten aus der VN-Milleniumserklärung, Ziff. 4; FRD, Schutzklausel; VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, Art. 46. 256 USA, Replik, 17 f. m. Zitaten aus der Schlussakte von Helsinki, der Charta von Paris, der GUS-Charta, der OAS-Charta, der OAU-Charta und der OIK-Charta. 257 Kosovo, Replik, Rz. 4.04 m. H. auf Argentinien, s. St., Rz. 121 f.; Aserbaidschan, s. St., Rz. 27; Brasilien, s. St., 2; Zypern, s. St., Rz. 88 f.; Rumänien, s. St., Rz. 109; Russland, s. St., Rz. 76; Serbien, s. St., Rz. 498 ff.; Spanien, s. St., Rz. 55 und Venezuela, s. St., Rz. 4. 258 Kosovo, Replik, Rz. 4.05 m. H. auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und IGH, Corfu Channel Case, Rz. 213 und 252 f. und die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, die auf die VN-Charta, die Schlussakte von Helsinki und den Annex VIII des Ahtisaari-Berichts verweist. 259 Kosovo, Replik, Rz. 4.07 m. H. auf IGH, Nicaragua, Rz. 188 ff., der den gewohnheitsrechtlichen Charakter der Norm anerkannt habe. 260 Kosovo, Replik, Rz. 4.08 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 477 ff. und 491. 261 Kosovo, Replik, Rz. 4.10.
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angegebene Stelle das Einverständnis des betroffenen Staates zu externer Hilfe regeln. Die A/RES/52/112 über Söldner, die VN-Milleniumserklärung und das VN-Ergebnisdokument zum Weltgipfel 2005 würden auf Art. 2 Ziff. 4 VNCharta verweisen, ohne etwas am Anwendungsbereich zu ändern. Auch der Art. 46 der VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker würde Serbien nicht helfen. Die nichtbindene Resolution würde mit Sicherheit kein Verbot über das Verhalten von Völkern und Personen statuieren. Die USA formulieren auch zum zweiten Begründungsstrang, der sich auf die Sicherheitsratspraxis stützt, Einwände: Einige Staaten würden sich auf eine Serie von Situationen innerer bewaffneter Konflikte beziehen, um ihre These zu stützen.262 Im Gegenteil würden diese Beispiele aber zeigen, dass der Sicherheitsrat „has included language designed to promote the maintenance of the unity of particular states where it has concluded that doing so will advance international peace and security.“ 263 Keine der Resolutionen behaupte, dass die Sezessionisten durch die Unabhängigkeitserklärung Völkerrecht verletzt hätten oder dass es eine generelle Regel gebe, die dies verbiete, oder dass das Eingreifen des Sicherheitsrats zur Bewahrung der Einheit eines Staates in anderen Situationen das beste Mittel zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit sei.264 Es sei vielsagend, dass sich Serbien auf die Sicherheitsratsresolutionen zu den Konflikten in Bosnien und Herzegowina und Kroatien stütze. Diese Konflikte seien nicht, wie Serbien sie darstelle, Bürgerkriege oder sezessionistische Situationen gewesen. Es seien nicht interne Konflikte, sondern das externe Eingreifen der FRJ in diese zwei Länder zwecks möglicher Annexion begleitet von weitverbreiteten ethnischen Säuberungen und schweren Menschenrechtsverletzungen, die den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährdet hätten. Deshalb habe der Sicherheitsrat gehandelt.265 Der Kosovo geht darauf ein, dass einige Staaten auf den erga omnes-Charakter des Prinzips hinweisen. Doch der erga omnes-Charakter würde nicht dazu führen, dass das Prinzip auch für nicht staatliche Akteure bindend werde. Wie der IGH in Barcelona Traction festgehalten habe, bedeute erga omnes gegenüber allen Staaten.266 262
USA, Replik, 18 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 440 ff.; Argentinien, s. St., Rz. 80. USA, Replik, 18. 264 USA, Replik, 19 m. H. auf Michael Wood, The Interpretation of Security Council Resolutions, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law, Vol. 2, 1998, 77 f. 265 USA, Replik, 19 m. Zitaten aus IGH, Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Rz. 386 und 241; Marc Weller, The International Response to the Dissolution of the Socialist Federal Republic of Yugoslawia, in: AJIL, Vol. 86, 1992, 597 ff., 600 und Noel Malcom, Kosovo. A Short History, New York 1998, 350; S/RES/752 (1992), Ziff. 3, 787 (1992), Ziff. 5, 757 (1992), 836 (1993) und S/PV/3522 vom 21. April 1995. 266 Kosovo, Replik, Rz. 4.09 m. H. auf IGH, Barcelona Traction, Rz. 33. 263
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Auch das Prinzip der Stabilität internationaler Grenzen (uti possidetis iuris) ist für den Kosovo nur gegenüber gewaltsamen Veränderungen durch Drittstaaten anwendbar. Es sei keine Garantie gegen Dissolution, sondern ein nützliches Mittel, um den Zusammenbruch eines Staates auf dessen Territorium zu limitieren, ohne Änderungen der Nachbarstaatsgrenzen.267 Ein Staat könne sich gegenüber einem Drittstaat über Grenzänderungen beschweren, jedoch aus völkerrechtlicher Sicht nicht gegenüber seinen eigenen Bürgern. Selbst wenn das Prinzip auf die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung anwendbar wäre, sei klar, dass diese es nicht verletzt hätten. Kosovo respektiere die internationalen Grenzen der Nachbarstaaten.268 b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Grossbritannien formuliert einen Einwand zum Zitat von Generalsekretär U Thant, das von den Proponenten der Position 1 reaktualisiert worden war. Es stellt das Zitat durch Ausweitung des Ausschnitts in einen anderen Rahmen: U Thant spricht so nicht mehr den Vorgang der Sezession per se, sondern die Sezession als Resultat einer externen Einmischung an. Auf diese Weise passt das Zitat in die Begründungsstrukturen aller Positionen, die die epistemische These vertreten, dass die Sezession als Resultat einer Androhung oder Anwendung von Gewalt eines Drittstaats völkerrechtswidrig ist. Norwegen weist die These des Irans zum Vorrang des Prinzips der territorialen Integrität zurück. Es stützt sich hierbei auf die Agenda for Peace, deren berühmte Ziff. 17 folgendes festhält: „The foundation-stone of this work is and must remain the State. Respect for its fundamental sovereignty and integrity are crucial to any common international progress. The time of absolute and exclusive sovereignty, however, has passed; its theory was never matched by reality. It is the task of leaders of States today to understand this and to find a balance between the needs of good internal governance and the requirements of an ever more interdependent world. [. . .] Yet if every ethnic, religious or linguistic group claimed statehood, there would be no limit to fragmentation, and peace, security and economic well-being for all would become ever more difficult to achieve.“ (Hervorhebung hinzugefügt.)
Und die Agenda fährt in Ziff. 18 und 19 fort: „One requirement for solutions to these problems lies in commitment to human rights with a special sensitivity to those of minorities, whether ethnic, religious, social or linguistic. [. . .] The healthy globalization of contemporary life requires in the first instance solid identities and fundamental freedoms. The sovereignty, territorial integrity and independence of States within the established international system, and the principle of self-determination for peoples, both of great value and importance, 267 268
Kosovo, Replik, Rz. 4.12 m. Zitat aus Badinter-Schiedskommission, Gutachten 3. Kosovo, Replik, Rz. 4.12 m. H. auf Unabhängigkeitserklärung des Kosovo.
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must not be permitted to work against each other in the period ahead. Respect for democratic principles at all levels of social existence is crucial: in communities, within States and within the community of States. Our constant duty should be to maintain the integrity of each while finding a balanced design for all.“ (Hervorhebung hinzugefügt.)
Die Agenda for Peace stützt den norwegischen Einwand. Sie hat schon 1992 Einwände gegen die These des absoluten Vorrangs des Prinzips der territorialen Souveränität der Staaten erhoben – interessanterweise mit dem Hinweis darauf, dass sie die Realität (oder: Praxis) nicht reflektiere. Am meisten Einwände hat der Teil der Begründungsstruktur der Subthese der Position 1 provoziert, der sich mit der Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität auseinandersetzt. Grossbritannien stützt sich auf Kommentare der VN-Charta, die alle die These der zwischenstaatlichen Anwendung von Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta stützen würden. Dieser Übergang ist epistemisch. Danach weist Grossbritannien auf die von der Position 3 getroffene Unterscheidung zwischen einem Recht zur und einem Verbot der Sezession hin. Wenn kein Recht zur Sezession bestehe, dürfe die Regierung zu allen rechtmässigen Mitteln greifen, um sie zu bekämpfen. Dies heisse aber nicht, dass die Sezession deshalb verboten sei. Diese Unterscheidung kann sich auf das Schrifttum, insbesondere auf das Standardwerk von James Crawford und auch schon auf Hersch Lauterpacht stützen, der festgehalten hat, dass das Völkerrecht Rebellionen und Sezessionen per se nicht verurteile.269 Diese Literatur stützt die von Grossbritannien gemachte Unterscheidung, nicht die von Zypern in der schriftlichen Stellungnahme vorgebrachte Begründung, dass aus dem Nichtbestehen eines Rechts zur Sezession auf eine Illegalität derselben geschlosen werden könne.270 Die USA und der Kosovo gehen en détail auf die von Serbien vorgebrachten Dokumente ein, um aufzuzeigen, dass keines dieser Dokumente über ein zwischenstaatliches Verhältnis hinausgeht. Dieser Einwand kann sich insofern auf völkerrechtliches Wissen stützen, als dass die angegebenen Gründungsdokumente von IOs und regionale Dokumente nur Staaten ansprechen. Serbien hat diese Dokumente jedoch primär zitiert, um die These der zentralen Stellung des Prinzips der territorialen Integrität zu begründen, nicht für die Anwendbarkeit ratione personae. Für letztere ist vor allem die Sicherheitsratspraxis relevant. Diese Praxis interpretieren die USA so, dass die territoriale Integrität bestimmter Staaten in Ausnahmesituationen geschützt wurde, wenn dies zur Sicherung des internationalen Friedens und der Sicherheit beigetragen hat. Es liesse sich also kein generelles Verbot der Sezession auf diese Praxis stützen. 269 270
116.
Lauterpacht, Recognition, 8. So Zypern, s. St., Rz. 149 bis 152 m. Zitaten aus Crawford, Secession, 86 f., 114,
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Als argumentum ad hominem bringen die USA vor, es sei vielsagend, dass sich gerade Serbien auf Sicherheitsratsresolutionen zum Kroatien- und zum BosnienKrieg stütze. Hier zeigt sich die Bedeutung der Verschiebung der Grenze zwischen dem intra- und dem inter- der modernen Staatenwelt:271 Wenn man von der Verschiebung der Grenze und der Staatlichkeit von Kroatien und Bosnien und Herzegowina vor Annahme der Resolutionen ausgeht, handelt es sich um internationale Konflikte. Ihre stützende Wirkung kann daher im vorliegenden Fall dadurch infrage gestellt werden, als dass sich der hier behandelte Konflikt vor der Verschiebung der Grenze abspielt. Der Kosovo anerkennt die Wichtigkeit des Prinzips der territorialen Integrität. Wie Deutschland übernimmt auch der Kosovo die österreichische These, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung als Volksvertreter gehandelt hätten, nicht als Organe der PISG. Der Kosovo weist mit einem Einwand schliesslich noch auf eine wichtige Präzisierung hin: Die Proponenten der Position 1 hatten sich auch auf den erga omnes-Charakter des Prinzips der territorialen Integrität gestützt, um ihre These der Anwendbarkeit ratione personae auf nicht staatliche Akteure zu vertreten. Nach dem Standardfall zum erga omnes-Charakter ist jedoch klar, dass sich das „erga“ auf alle Staaten bezieht.272 Die Proponenten der Positionen weisen nirgends darauf hin, ob und wie sich der erga omnes-Charakter verändert habe, sodass jetzt damit auch nicht staatliche Akteure gemeint sein könnten. Insofern lässt sich der kosovarische Einwand auf völkerrechtliches Wissen stützen und die Geltung der in der Position 1 erhobenen These müsste noch eingelöst werden. 4. Erhebung des Argumentationsstandes Die Proponenten der Position 1 haben in der zweiten Runde versucht, ihren thetischsten Übergang zu stabilisieren. Spanien bringt einen neuen Grund ein, der für die Anwendung des Prinzips an der Fähigkeit, international relevante Folgen zu zeitigen, anknüpft. Argentinien stützt sich auf den Fall der Bantustans. Die intervenierende Beurteilung hat gezeigt, dass die Sicherheitsresolution nichts am thetischen Anspruch der These ändert. Serbien stützt sich hingegen neu auf die Begründung, dass sich der Anwendungsbereich von Art. 2 Ziff. 7 VN-Charta stetig verkleinert habe. Es verweist auf die Resolutionen im Bereich der Terrorismusbekämpfung und der Nichtverbreitung nuklearer, biologischer und chemi271
Vgl. oben § 2 I. IGH, Barcelona Traction, Rz. 33: „In particular, an essential distinction should be drawn between the obligations of a State towards the international community as a whole, and those arising vis-à-vis another State in the field of diplomatic protection. By their very nature the former are the concern of all States. In view of the importance of the rights involved, all States can be held to have a legal interest in their protection; they are obligations erga omnes.“ 272
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
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scher Waffen. Da diese Sachbereiche vorliegend nicht einschlägig sind, bringen sie keine substantielle Änderung für die Thetik des erhobenen Anspruchs. Die These des systematischen Vorrangs des Prinzips der territorialen Integrität hat vier Einwände provoziert. Zwei besagen, dass das Prinzip nicht das einzige grundlegende Prinzip sei und dass es zusammen mit anderen – insbesondere dem Selbstbestimmungsrecht der Völker – angewendet werden müsse. Die Einwände können sich auf die FRD und die Agenda for Peace stützen. Der dritte Einwand richtet das Prinzip der territorialen Integrität auf die Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts aus. Und der vierte Einwand richtet sich auf das Zitat von U Thant; dieses wird durch Erweiterung des Zitats als Anwendung des Falls der Sezession durch Drittstaatenintervention gerahmt. Zur Anwendbarkeit ratione personae werden sechs Einwände erhoben: Erstens gelte das Prinzip nach Art. 2 Ziff. 4 und den anderen von Serbien angegebenen Dokumenten nur für zwischenstaatliche Beziehungen. Zweitens beinalte das Prinzip der territorialen Integrität keine Garantie gegenüber der eigenen Bevölkerung. Drittens würden sich die Sicherheitsratsresolutionen auf Situationen beziehen, in denen die Gefahr einer Drittstaatenintervention (Albanien) bzw. eine Gefährdung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens (USA) bestand; ihre ausnahmsweise Annahme bestätige die generelle Nichtregelung, nicht ein generelles Verbot. Viertens sei keine solche Resolution nach der Unabhängigkeitserklärung angenommen worden. Und fünftens würden auch die Prinzipien erga omnes und uti possidetis iuris nicht über eine zwischenstaatliche Dimension hinausgehen. Schiesslich sei sechstens das Einverständnis des betroffenen Staates sei für den Vorgang der Staatsentstehung seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr notwendig. Zur Subthese 2 der Position 1 werden folgende Einwände erhoben: Die Unabhängigkeitserklärung müsse sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht abstützen können, um völkerrechtskonform zu sein. Und es gebe die Möglichkeit der Berufung auf das remediale Recht zur Sezession. Die Kosovaren seien nach der prozeduralen Theorie der Identifizierung der Träger in den Rambouillet-Abkommen, von der Kontaktgruppe und im Interimsverfassungsrahmen anerkannt worden. Die Niederlande halten hingegen fest, dass die Anerkennung nicht konstitutiv sei. Und mit Hinweis auf die VN-Menschenrechtspakte erheben sie einen Einwand gegen die These, dass es in unabhängigen Staaten nur auf Bevölkerungen als Ganzes Anwendung finde. Insgesamt hat die zweite Runde die Position 1 geschwächt: Während es den Proponenten nicht gelungen ist, ihre thetischen Übergänge mit epistemischer Theorie anzureichern oder mit alternativen thetischen Begründungen zu stabilisieren, konnten die Opponenten verschiedenen Einwände einbringen, die eine vorläufige Gültigkeit beanspruchen können. Die Aufgabe, den mit der Hauptthese erhobenen Geltungsanspruch einzulösen, ist für die Proponenten nicht einfacher geworden.
220
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
III. Mündliche Stellungnahmen 29 Akteure haben sich in den mündlichen Teil des Verfahrens eingebracht. 28 davon haben sich zur Quaestio geäussert.273 Neu haben Saudi-Arabien, Weissrussland, Bulgarien, Burundi, Kroatien, Jordanien und Vietnam Stellung bezogen. Vietnam und Weissrussland haben die Position 1 vertreten. Damit ergibt sich ein Total von 11 Proponenten der Position 1. 1. Begründung der Position 1 a) Zur Subthese 1: Prinzip der territorialen Integrität Die Proponenten gehen nochmals in ausführlicher Weise auf die Begründung ihrer Subthese 1 ein: Serbien, Argentinien, Aserbaidschan, Brasilien, China und Vietnam betonen, dass die Prinzipien der territorialen Souveränität und Integrität „the very cornerstone of international law“ 274 seien.275 Die Proponenten stützen sich wieder auf zahlreiche Dokumente276 und die IGH-Rechtsprechung.277 Serbien verweist explizit auf spezifische internationale und regionale Dokumente zu Minderheiten und indigenen Völkern; die in den Dokumenten enthaltenen Schutzklauseln würden sicherstellen, dass die Rechte nicht so verstanden würden, dass sie Handlungen autorisieren, die gegen die souveräne Gleichheit, terri273
Vgl. zur mündlichen Stellungnahme von Kroatien oben § 7 II. Serbien (Shaw), m. St., 64. 275 Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 42 m. H. auf Argentinien, s. St., Rz. 69 ff.; Aserbaidschan, s. St., 19; Bolivien, s. St., 1; China, s. St., 2 f.; Zypern, s. St., Rz. 81 f.; Ägypten, s. St., Rz. 26 ff.; Spanien, s. St., Rz. 25 ff.; Iran, s. St., Rz. 2.1.; Serbien, s. St., 28 ff.; Slowakei, s. St., Rz. 3; Rumänien, s. St., Rz. 97; Grossbritannien, s. St., Rz. 5.8 ff.; Russland, s. St., Rz. 76 ff.; Brasilien (Medeiros), m. St., 15; China (Xue), m. St., 33 m. H. auf VN-Charta, die FRD und die Schlussakte von Helsinki; Vietnam (Nguyen Anh), m. St., 17. 276 Serbien (Shaw), m. St., 64 m. H. auf Art. 2 VN-Charta; VN-Erklärung über die Dekolonialisierung; FRD; A/RES/34/3314 (Definition von Aggression); VN-Milleniumserklärung; VN-Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005, Ziff. 5; Schlussakte von Helsinki; GUS-Charta; OAS-Charta und Serbien, s. St., Rz. 440 ff.; Vietnam (Nguyen Anh), m. St., 17 f. m. Zitat aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und Hinweis auf FRD; VNErklärung über die Dekolonialisierung, Ziff. 6; VN-Milleniumserklärung, Ziff. 4; VNErgebnisdokument des Weltgipfels 2005, Ziff. 5; Schlussakte von Helsinki, Prinzip IV; GUS-Charta, Art. 3; OIC-Charta, Art. II; ASEAN-Charta, Präambel, Art. 2.2 lit. a und k; Gründungsakte der AU, Art. 3 lit. b; OAS-Charta, Präambel, Art. 1 und Art. 3 lit. b. Vgl. auch Bolivien (Calzadilla Sarmiento), m. St., 8 m. Zitaten aus S/RES/1160 (1998), 1; 1199 (1998), 2; 1203 (1998) und 1239 (1999), 2; 1244 (1999), Art. 10 und Annex 2, Ziff. 5; China, s. St., Rz. 2 (b); Argentinien, Replik, Rz. 51. 277 Serbien (Shaw), m. St., 64 m. Zitat aus IGH, Sovereignty over Pedra Branca/Pulau Batu Puteh, Middle Rocks and South Ledge, Rz. 122; Vietnam (Nguyen Anh), m. St., 18 f. m. Zitaten aus IGH, Corfu Channel Case, 35; Nicaragua, Rz. 213; Territorial Dispute (Libya v. Chad), 23; Sovereignty over Pedra Branca/Pulau Batu Puteh, Middle Rocks and South Ledge, Rz. 122. 274
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
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toriale Integrität oder politische Unabhängigkeit von Staaten gerichtet seien.278 Aserbaidschan stellt die Verbindung zwischen den Prinzipien und dem Völkerrechtsverständnis her.279 Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts dürfe die territoriale Integrität nicht infrage stellen.280 Die Proponenten verweisen auf andere Akteure, die die Wichtigkeit des Prinzips anerkannt haben.281 Argentinien stellt aber fest, dass für einige Staaten die Bedeutung nicht über ein Lippenbekenntnis hinausgehe. Sie würden behaupten, dass das Prinzip nur in zwischenstaatlichen Beziehungen anwendbar sei.282 Bezüglich des umstrittenen Punkts der Anwendbarkeit ratione personae wiederholen die Proponenten folgende Gründe, die sie schon in das Verfahren eingebracht haben: Serbien, dass das Prinzip der territorialen Integrität die Beständigkeit des Territoriums nicht garantiere, weil einvernehmliche Änderungen jederzeit möglich seien.283 Auch die Gründe, dass sich der Bereich der „international relations“ vergrössert habe284 und dass das Völkerrecht zunehmend nicht staatliche Akteure anspreche,285 werden wieder eingebracht. Daher sei die Behaup278 Serbien (Shaw), m. St., 67 m. H. auf VN-Erklärung über die Rechte von Minderheiten; Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, Art. 5; Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten, Art. 21; VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, Art. 46 Ziff. 1. 279 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 20 (m. Zitat aus IGH, Corfu Channel Case, 35): „Unlike many other norms of international law, they can only be amended as a result of a conceptual shift in the classical and contemporary understanding of international law.“ 280 Vietnam (Nguyen Anh), m. St., 20 m. Zitat aus CERD-Ausschuss, Allgmeine Empfehlung Nr. 21, Ziff. 6. Vgl. auch Serbien (Shaw), m. St., 67 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 4.37 f. 281 Serbien (Shaw), m. St., 65 m. Zitat aus Grossbritannien, s. St., Rz. 5.11 und Replik, Rz. 4.5. 282 Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 42 m. H. auf USA, s. St., 69; Grossbritannien, s. St., 86 und Kosovo (Müller), m. St. Vgl. auch Serbien (Shaw), m. St., 65 m. H. auf Grossbritannien, s. St., Rz. 5.9; Schweiz, s. St., Rz. 55 f.; Kosovo, s. St., Rz. 8.06, 8.19 und 9.02 und Replik, Rz. 4.06. 283 Serbien (Shaw), m. St., 65 m. H. auf Grossbritannien, s. St., Rz. 5.9; Frankreich, s. St., Rz. 2.6 ff.; USA, s. St., 69 und Kosovo, s. St., Rz. 4.06. 284 Serbien (Shaw), m. St., 66 m. H. auf Serbien, Replik, Rz. 254; Serbien (Shaw), m. St., 66 m. H. auf S/RES/1822 (2008) und Serbien, Replik, Rz. 257, Fn. 292 zum Terrorismus und S/RES/1540 (2004) und Serbien, Replik, Rz. 259 f., Fn. 295 zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. 285 Serbien (Shaw), m. St., 66 m. Zitat aus S/RES/787 (1992), Ziff. 3 und Hinweis auf Serbien, s. St., Rz. 442 ff. und Serbien (Shaw), m. St., 66 f. m. H. auf S/RES/1756 (2007), 1771 (2007), 1766 (2007), 1772 (2007), 1846 (2008) und 1784 (2007) sowie 1770 (2007) und 1830 (2008) zum Irak und Serbien, s. St., Rz. 459 ff. und 475 ff.; Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 43 m. H. auf S/RES/876 (1993), 896 (1994), 906 (1994) zu Georgien; 882 (1993), 853 (1993), 874 (1993), 884 (1993) zu Aserbaidschan; den Vertrag von Addis Abeba vom 13. Dezember 1997 (in: Documents d’actualité international, Vol. 4, 1998, Paris, 143) zu den Komoren und S/RES/1160 (1998), 1199 (1998), 1203 (1998) und 1244 (1999) zum Kosovo.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
tung, dass das Völkerrecht auf nicht staatliche Akteure keine direkte Anwendung finde, schlicht falsch: „Practice makes it very clear that such norm is now recognized as applying to non-consensual situations of internal conflict and secessionist attempts.“ 286 Neu fügt Serbien Folgendes an: „The classical structure of international law has changed and no State or other entity may seek now to cling to it in the face of established evolution. The clock may not be turned back.“ 287 Argentinien und Venezuela betonen nochmals, dass es sich bei den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung um Organe der PISG handle.288 Auch für Rumänien sind die Verfasser die PISG, es mache aber keinen Unterschied, wer der Verfasser sei. Alle müssten die gleichen anwendbaren völkerrechtlichen Regeln beachten. Zugleich würde die Frage nach der Trägerschaft des Selbstbestimmungsrechts nicht von derjenigen nach den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung abhängen.289 Bolivien weist auf die möglichen Konsequenzen des Falles hin: Es sei sehr wahrscheinlich, dass die Unabhängigkeit des Kosovo als integraler Bestandteil von Serbien in anderen Fällen zitiert und angewendet werde.290 b) Zur Subthese 2: Selbstbestimmungsrecht der Völker Auch hier bringen die Proponenten nochmals Gründe ein, die schon in den vorhergehenden Runden formuliert worden sind. Hier wird die schon bekannte Begründung am Beispiel Weissrusslands dargestellt: Weissrussland weist zunächst auf die relevanten Dokumente291 und die IGH-Rechtsprechung292 hin. Danach hält es fest, dass es gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht „highly commited“ sei und sehe es als „key principle of contemporary international law“ an.293 Zwei Konzepte seien etabliert, dasjenige der externen und dasjenige der internen Ausübung. Dazu schreibt Aserbaidschan: Letzteres fände in unterschiedlichen Kontexten Anwendung und anerkenne das Recht von Gemeinschaften und 286 Serbien (Shaw), m. St., 67 m. H. auf Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG-CEIIG), Report, Vol. 1, September 2009, 136 f. (http://www.ceiig.ch/Report.html). 287 Serbien (Shaw), m. St., 66. 288 Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 43; Venezuela (Fleming), m. St., 10. 289 Rumänien (Aurescu), m. St., 30. 290 Bolivien (Calzadilla Sarmiento), m. St., 7. Vgl. auch Rumänien (Aurescu), m. St., 20. 291 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 27 m. H. auf Art. 1 Ziff. 2 VN-Charta; FRD, Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung, Absatz 1; Schlussakte von Helsinki, Prinzip 8, Absatz 1 und die Art. 1 der VN-Menschentrechtspakte I und II. 292 IGH, Namibia, Western Sahara, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali) und East Timor. Vgl. auch Serbien (Kohen), m. St., 77 m. H. auf IGH, Namibia, Rz. 52; Western Sahara, Rz. 55 f.; East Timor, Rz. 29 und Wall, Rz. 88 und 156. 293 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 28.
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Personen auf Teilnahme am politischen Prozess innerhalb eines unabhängigen Staates.294 Der externe Aspekt beinhalte das Recht, den politischen Status des ganzen Territoriums frei zu bestimmen. Es sei auf kolonialisierte und unter fremder Besatzung lebende Völker anwendbar,295 aber nicht auf alle Völker in einem politisch-soziologischen Sinn: „The term ,people‘ entitled to the right to self-determination under international law obviously means the whole people, the demos, which is to benefit from self-determination, not the separate ethnoses or other groups, which at the same time together form the demos.“ 296
Diese Unterscheidung zeige sich auch im VN-Menschenrechtspakt II, der zwischen Völkern und Minderheiten unterscheide.297 Demnach käme Minderheiten kein Recht zur Sezession zu.298 Für Weissrussland hat sich das Recht zur internen Selbstbestimmung durch die VN-Menschenrechtspakte I und II und die FRD entwickelt. Es werde innerhalb der Staatsgrenzen implementiert und umfasse das Recht von Minderheiten zur Selbstbestimmung, u. a. „national-cultural autonomy, territorial autonomy, federation, active participation in the single State’s governance, etc.“ 299 Das Recht der externen Selbstbestimmung umfasse das Recht „to demand the secession of the said territory and to form a new independent state.“ 300 Das zeitgenössische Völkerrecht gestehe dieses Recht nur ehemaligen Kolonien, besetzten Völkern oder bestimmten Gruppen zu, denen eine sinnvolle Regierungsbeteiligung zwecks Verfolgung ihrer politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung verunmöglicht werde.301 Im Kontext der Dekolonialisierung biete die VN294 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 22 m. H. auf CERD-Ausschuss, Allgemeine Empfehlung Nr. 21, Ziff. 4 und VN-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 12, Ziff. 4. 295 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 22 m. Zitat aus Cassese, Self-determination, 101 und Rosalyn Higgins, Postmodern Tribalism and the Right to Secession, in: Rosalyn Higgins (Hrsg.), Themes and Theories, Oxford 2009, 131. 296 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 23. 297 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 23 m. H. auf VN-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 23, Ziff. 3.1. f. und den Kommentar zur VN-Erklärung über die Rechte von Minderheiten, in: E/CN.4/Sub.2/AC.5/2001/2, Ziff. 15. 298 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 23 m. H. auf die Agenda for Peace, Rz. 17. 299 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 29. Vgl. auch Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 45 m. Zitat aus Crawford, Creation, 417 und Serbien (Kohen), m. St., 79 m. H. auf VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, Art. 3 und 46; CERD-Ausschuss, Allgemeine Empfehlung Nr. 21, Ziff. 9 und Quebec-Gutachten, Rz. 126 und Zitat aus Crawford, Creation, 415. 300 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 29. 301 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 29 m. H. auf Quebec-Gutachten. Vgl. auch Bolivien (Calzadilla Sarmiento), m. St., 11 m. H. auf Bolivien, Replik, Rz. 7; IGH, Namibia, 16; Western Sahara, 12 und Wall, 136 und m. Zitat aus der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung sowie Hinweis auf die FRD; Rumänien (Aurescu), m. St., 30 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 122, 126; Crawford, Creation, 126 und Independent In-
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Erklärung über die Dekolonialisierung die solide rechtliche Grundlage zur Anwendung des Selbstbestimmungsrechts. Der Kosovo sei aber ein ganz anderer Fall und „[a] general norm allowing unilateral secession beyond a decolonization context does not exist in international law.“ 302 Eine Grundlage zur Ausweitung des Anwendungsbereichs könne allenfalls in der Schutzklausel der FRD gesehen werden. Diese könne so ausgelegt werden, dass sie ein externes Recht postuliere, falls das interne nicht gewährt werde. „This reasoning“ sei jedoch nicht universell anerkannt und konstituiere nicht „a broad norm of international law.“ 303 Falls die zentralen Autoritäten das Selbstbestimmungsrecht diskriminierungsfrei respektieren würden, seien jegliche Sezessionsansprüche eine Verletzung der Prinzipien der Selbstbestimmung, der territorialen Integrität und der Unantastbarkeit der Grenzen. Selbst wenn eine Diskriminierung bestehe, führe dies nicht zu einem externen Recht. Die FRD halte fest, dass „jeder Versuch, die nationale Einheit und territoriale Unversehrtheit eines Staates oder Landes teilweise oder gänzlich zu zerstören oder seine politische Unabhängigkeit zu beeinträchtigen, mit den Zielen und Grundsätzen der Charta unvereinbar ist.“ 304
Daher müsse eine Analyse des Kosovo-Falls ergeben, dass es keine überzeugenden rechtlichen Argumente gebe, die für die Sezession des Kosovo von Serbien sprechen. Über diese bekannte Begründungsstruktur geht insbesondere Serbien hinaus: Serbien und Bolivien bemerken, dass sich die Befürworter der kosovarischen Sezession nur vorsichtig auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker stützen. Serbien hält fest, dass es in der Unabhängigkeitserklärung nicht erwähnt werde.305 Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und andere würden sogar vom Gerichtshof verlangen, dass er sich nicht zum Selbstbestimmungsrecht äussere.306 Dies ist für die beiden Proponenten ein Indiz dafür, dass diese Akteure von ihren eigenen Argumenten nicht überzeugt sind.307 Sei es nun die These des remedia-
ternational Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG-CEIIG), Report, Vol. 1, September 2009, 141 (http://www.ceiig.ch/Report.html); Venezuela (Fleming), m. St., 11 f. m. Zitat aus FRD, Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, Absätze 6 und 7 (Schutzklausel); Venezuela (Fleming), m. St., 13 m. Zitaten aus Quebec-Gutachten; Serbien (Kohen), m. St., 77 ff. 302 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 30. 303 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 30. 304 Weissrussland (Gritsenko), m. St., 30 m. Zitat aus FRD, Präambel, Absatz 15. 305 Serbien (Kohen), m. St., 77 u. a. m. H. auf Pierre D’Argent, Kosovo: être ou ne pas être, in: Journal des tribunaux, Nr. 6307, Brüssel 2008, 262 und Bing Bing, 31 f. 306 Serbien (Kohen), m. St., 77 m. H. auf Albanien, Replik, Rz. 61; Kosovo, s. St., Rz. 8.38; USA, Replik, 21; Norwegen, Replik, Rz. 8; Grossbritannien, s. St., Rz. 5.33 und 6.65. 307 Bolivien (Calzadilla Sarmiento), m. St., 12 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.38.
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len Rechts zur Sezession,308 des Verweises auf den Volkswillen in den Rambouillet-Abkommen309 oder – wenn auch selten – der direkten Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts.310 Serbien geht vertieft auf die These der prozeduralen Anerkennung des kosovarischen Volkes ein: Keine Resolution des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung und keine regionale Organisation habe die albanische oder die ganze Bevölkerung des Kosovo je als Träger des Selbstbestimmungsrechts anerkannt.311 Dies sei auch die Position der Schweizer Regierung, die in einer Antwort auf eine Interpellation folgendes festgehalten habe: „Kosovo hat nie den Status eines Volkes mit Selbstbestimmungsrecht erhalten.“ 312 Die VN hätten immer explizit gesagt, wenn sie von der Anwendbarkeit des Prinzips ausgegangen seien. So im Kontext der Kolonialherrschaft, der Rassendiskriminierung und der fremden Besatzung;313 aber nie zugunsten einer nationalen, sprachlichen oder religiösen Minderheit innerhalb eines Staates. Dies gelte auch für den Kosovo – obwohl es genug Möglichkeiten dazu gegeben hätte. Weder die Londoner Friedenskonferenz noch die Badinter-Schiedskommission hätten dem Kosovo ein Recht zur Unabhängigkeit zugestanden.314 Die Albaner im Kosovo seien wie andere Minderheiten behandelt worden. Die BadinterSchiedskommission habe das Selbstbestimmungsrecht der serbischen Bevölkerung in Kroatien und Bosnien und Herzegowina nicht anerkannt und es gebe kei-
308 Serbien (Kohen), m. St., 78 m. H. auf Finnland, s. St., Rz. 9 f.; Irland, s. St., Rz. 27 ff.; Polen, s. St., Rz. 6.10; Grossbritannien, s. St., 92 (alle dafür) und Serbien, s. St., Rz. 589 ff., Replik, Rz. 339 ff.; Argentinien, s. St., Rz. 85 f.; Zypern, s. St., Rz. 140 ff.; Spanien, Replik, Rz. 8; Iran, s. St., Rz. 4.1; Rumänien, s. St., Rz. 147 und 156; Russland, s. St., Rz. 97 ff. und die Slowakei, s. St., Rz. 28 (alle dagegen). 309 Serbien (Kohen), m. St., 78 m. H. auf Deutschland, s. St., 38; Kosovo, Replik, Rz. 4.40; USA, s. St., 64 f.; Niederlande, s. St., Rz. 3.3; Grossbritannien, s. St., 69 (alle dafür) und Serbien, s. St., Rz. 340; Argentinien, s. St., Rz. 99 und Replik, Rz. 60 (alle dagegen). 310 Serbien (Kohen), m. St., 78 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 74; Kosovo, Replik, Rz. 4.42 ff.; Niederlande, Replik, 5; Slowenien, s. St., 2 f.; Schweiz, s. St., Rz. 77 (alle dafür) und Seriben, s. St., Rz. 570 ff.; Argentinien, s. St., Rz. 95, Replik, Rz. 59 ff.; Bolivien, Replik, Rz. 17 f.; Zypern, s. St., Rz. 123; Rumänien, s. St., Rz. 131 (alle dagegen). 311 So auch Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 44 m. H. auf Gutachten 8 und Argentinien, s. St., Rz. 98 f. 312 Serbien (Kohen), m. St., 78 m. Zitat aus Interpellation Graber Jean-Pierre. Problematische Anerkennung von Kosovo, Interpellation 08.3010 vom 3. März 2008, Anwort des Bundesrates vom 14. Mai 2008, in: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Sommersession 2008, Beilagen – Nationalrat, 183 ff. Serbien zitiert den französischsprachigen Text: „Le Kosovo n’a jamais obtenu le statut de peuple ayant droit à l’autodétermination.“ 313 Serbien (Kohen), m. St., 78 m.w. H. 314 Serbien (Kohen), m. St., 79 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 239 f., 261 ff. und 651 f.
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nen rechtlichen Grund, die albanische Bevölkerung in Serbien anders zu behandeln.315 Serbien habe während den Verhandlungen die grösstmögliche Flexibilität gezeigt und den grösstmöglichen Grad an Autonomie angeboten.316 Der kosovarische Sonderbeauftragte und einige Mächte hätten aber von Anfang an die Idee verfolgt, den Kosovo von Serbien abzuspalten.317 Eine Retrospektive zeige, dass die Kosovaren unter der SFRJ-Verfassung von 1974 über das interne Selbstbestimmungsrecht verfügten und dass selbst 1999 die internationale Gemeinschaft den Kosovaren nicht ein Recht zur Sezession zugestehen wollte. Dies ergebe sich aus Ziff. 11 lit. e der S/RES/1244 (1999). Serbien habe unter dieser Resolution voll kooperiert und die Implementierung des Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Resolution zugelassen. c) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Proponenten der Position 1 folgen für die Begründung der eigenen Position den bewährten Schritten der ersten beiden Runden. Die beiden neuen Proponenten Vietnam und Weissrussland fügen sich problemlos in diese Begründungsstruktur ein. Die systemische Darstellung des Prinzips bringt keine neuen Erkenntnisse. Die Proponenten reagieren aber auf Einwände, die die Anwendung des Prinzips auf nicht staatliche Akteure betreffen. Serbien geht am ausführlichsten darauf ein: Als Erstes wiederholt es seine Begründung, dass eine einvernehmliche Veränderung des Territoriums jederzeit möglich sei. Danach verweist Serbien auf die zunehmende Ausweitung der „international relations“ hin. Diesmal wird diese Entwicklung mit einer Rhetorik abgerundet, die eher an die Position 2 oder 3 erinnert: Die Völkerrechtsstruktur habe sich verändert und die Uhr könne nicht zurückgedreht werden. Eine Begründung, die bisher gegen Serbien eingebracht wurde. Serbien kann sich aber auf eine Entwicklung stützen, die eine Beschränkung der Völkerrechtssubjekte auf Staaten und IOs als zunehmend veraltet ansieht – epistemische Theorie, die ihre praxisorientierende Wirkung verliert – und neue nicht staatliche Gruppierungen neben multinationalen Unternehmen und Individuen als neue Subjekte identifiziert – anfänglich thetische Theorie, die zunehmend doxastisch und epistemisch wird. 315
Serbien (Kohen), m. St., 79 m. H. auf Gutachten 2. Serbien (Kohen), m. St., 80 m. H. auf eine Rede von Boris Tadic´ vom 27. November 2007 (vgl. den Hinweis in Fn. 146 der Stellungnahme). 317 Serbien (Kohen), m. St., 80 m. H. auf Serbien, Replik, Rz. 101 ff. 316
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Danach wird die unbestrittene These vertreten, dass nicht staatliche Akteure in einigen Fällen direkt adressiert worden seien, und es wird auf die Schutzklausel von neueren Dokumenten verwiesen. Die Schutzklauseln halten jeweils fest, dass sie keine Tätigkeiten gestatten würden, die u. a. im Widerspruch zur territorialen Integrität stünden.318 Dies stärkt die Position 1 gegenüber der Position 3 nicht, weil diese davon ausgeht, dass es keiner Genehmigung bedarf, weil es kein Verbot gibt. Argentinien und Venezuela identifizieren die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung als Organ der PISG. Dieses sei klarerweise an den Rechtsrahmen gebunden, der die PISG konstituiert habe. Sie gehen aber nicht näher darauf ein, warum es ein PISG-Organ und warum die von der Position 3 formulierte These bezüglich der Identität der Verfasser falsch sei. Venezuela und Bolivien weisen insbesondere noch auf die destabilisierende und gefährliche Wirkung des Kosovo-Falls für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit hin. Bezüglich des Selbstbestimmungsrechts vertreten die meisten Proponenten die gleiche Begründungsstruktur wie in den vorhergehenden zwei Runden. Serbien geht vertieft auf die These der prozeduralen Anerkennung des Kosovo ein. Diese Vertiefung wird sogleich in der intervenierenden Beurteilung behandelt. Alle anderen Akteure bestätigen den epistemischen Status der Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Ausübung sowie die thetischere Beschränkung der letzteren auf kolonialisierte, fremd beherrschte oder besetzte Gebiete. Alle Proponenten anerkennen die Möglichkeit der internen Ausübung in unabhängigen und souveränen Staaten – auch Weissrussland. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Auf subjektiver Seite bieten die Proponenten der Position 1 nach wie vor die gleichen Orientierungspunke an wie in der ersten Runde. Es fällt aber auf, dass Serbien nun den Wandel des Völkerrechtssystems viel stärker hervorhebt und positiv konnotiert. Der Wandel habe dazu geführt, dass nun auch nicht staatliche Akteure in innerstaatlichen Konflikten und bei Sezessionsversuchen direkt an ein völkerrechtliches Verbot gebunden seien. Die Perspektive bleibt territorial und staatenorientiert, ist aber nicht mehr konservativ. Die Motive für den Perspekti-
318 So Art. 8 Ziff. 4 VN-Erklärung über die Rechte von Minderheiten. In Art. 5 der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen und Art. 21 der Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten steht „[. . .] als gewährten sie das Recht [. . .]“. Und Art. 46 der VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker: „[. . .] als begründe sie für einen Staat, ein Volk, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht [. . .]“ (Hervorhebungen jeweils hinzugefügt.)
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
venwechsel sind schwer zu eruieren.319 Es könnte sich aber um eine Reaktion auf den von Österreich und Grossbritannien erhobenen Einwand handeln, der an der Völkerrechtssubjektivität anknüpft. In der Tat passt die These der Völkerrechtssubjektivität nicht staatlicher Akteure nicht so richtig in das staatenzentrierte Bild des Völkerrechtssystems, das von den Proponenten der Position 1 teilweise reaktualisiert wird. Deshalb könnte hier die progressive These des Wandels vertreten worden sein. Dies macht die Position aber für den schon erhobenen Einwand anfällig, wonach den Akteuren die Subjektivität nur zugestanden werde, um ihnen den Weg zur wichtigsten Form der Subjektivität, derjenigen der Staatlichkeit, zu verwehren. cc) Intervenierende Beurteilung Serbien geht auf die These der prozeduralen Anerkennung des Kosovo als Träger des Selbstbestimmungsrechts ein. Es vertritt die These, dass weder der Sicherheitsrat, noch die Generalversammlung oder eine regionale Organisation die Kosovaren als Träger anerkannt hätten. Damit bestätigt Serbien den Weg der prozeduralen Anerkennung, den es schon in der ersten Runde vertreten hatte. Um die These zu stützen, zitiert Serbien die Schweizer Regierung, die folgendes festgehalten haben soll: „Kosovo hat nie den Status eines Volkes mit Selbstbestimmungsrecht erhalten.“ 320 Dieser Verweis erstaunt. Die Schweiz hat im Verfahren während zwei Runden die These vertreten, dass ein Volk über dessen Eigenschaften identifiziert wird und dass die Kosovaren über diese Eigenschaften verfügen.321 Der Widerspruch löst sich auf, wenn man dem Zitat folgt. Der zitierte Satz findet sich in einer Antwort des Bundesrates auf eine Interpellation zur Anerkennung des Kosovo als Staat. In der Antwort des Bundesrates ist er der Titel des entsprechenden Abschnitts, den der Bundesrat von der Interpellation übernommen hat. Unter diesem Titel führt der Bundesrat aus, dass sich ein Volk auf das Selbstbestimmungsrecht berufen könne, „ohne dass dazu vorweg die Anerkennung eines bestimmten Status durch die Uno oder eine andere internationale Organisation erforderlich wäre.“ Der Bundesrat hat den Titel der Ziff. 2 der Antwort von der Interpellation übernommen, in der sich Jean-Pierre Graber auf Marcelo G. Kohen beruft: „Zweitens hat Kosovo laut Professor Marcelo Kohen nie den Status eines Volkes mit Selbstbestimmungsrecht erhalten.“ Diese
319 Vgl. für das Verhältnis zwischen Motiv und Argument oben § 4 IV.2 und § 5 III.5.a). 320 Serbien (Kohen), m. St., 78 m. Zitat aus Interpellation Graber Jean-Pierre. Problematische Anerkennung von Kosovo, Interpellation 08.3010 vom 3. März 2008, Antwort des Bundesrates vom 14. Mai 2008, in: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Sommersession 2008, Beilagen – Nationalrat, 183 ff. 321 Vgl. unten § 10 I.1.b) und § 9 II.1.a)aa).
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
229
These übernimmt der Bundesrat als Titel, um ihr die oben zitierte Gegenthese entgegenzustellen. Interessanterweise zitiert Marcelo G. Kohen als Vertreter von Serbien vor dem IGH nun bloss den Titel der Antwort des Bundesrates – also seine eigene, von Jean-Pierre Graber formulierte und vom Bundesrat abgelehnte These. Die Antwort des Bundesrates stützt die These nicht, sie stellt sogar die These der prozeduralen Anerkennung infrage. Serbien weist darüber hinaus darauf hin, dass die Kosovaren weder an der Londoner Friedenskonferenz noch von der Badinter-Schiedskommission als Träger des Selbstbestimmungsrechts behandelt worden sind. Diese Verweise stützen die These.322 Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass von der Gegenseite von Anfang an die Idee verfolgt worden sei, den Kosovo abzuspalten. Hier zeigt sich das „moral hazard“-Problem auch bei der zweiten Voraussetzung der Ausübung des remedialen Rechts zur Sezession, der Sezession als ultimum remedium: Die anderen Mittel können nur dadurch ausgeschöpft werden, dass die Verhandlungen scheitern. Das „moral hazard“-Problem des remedialen Rechts zur Sezession wird bei der zweiten Sezession, der Willensäusserung des Volkes, behandelt.323 2. Der Proponent der Position 4 als Opponent der Position 1 a) Einwände zum Prinzip der territorialen Integrität Finnland ist der einzige Proponent der Position 4.324 Es geht vertieft auf den „locus classicus of the law on self-determination“, den Aaland-Fall, ein.325 Demnach werde das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker relevant, wenn: „the State is not yet fully formed because it is undergoing transformation or dissolution, the situation is obscure or uncertain from the legal point of view, and will not become clear until the period of development is completed and a definite new situation, which is normal in respect to territorial sovereingty, has been established.“ 326
In gewissen Fällen könne die Situation gelöst werden, indem die Minderheiten geschützt und mit ausreichender Autonomie ausgestattet würden; in gewissen Fällen sei dies jedoch nicht ausreichend. Dann könne als „exceptional solution, a last resort when the State lacks either the will or the power to enact and apply just and effect guarantees“ die Lösung in der Eigenstaatlichkeit gesehen werden.327
322
Vgl. oben § 8 I.1.b)dd)(1). Vgl. unten § 9 II.3.d)bb). 324 Vgl. unten § 11. 325 Finnland (Kaukoranta), m. St., 55 ff. 326 Aaland-Fall (Zuständigkeit), 6. 327 Finnland (Kaukoranta), m. St., 56 m. Zitat aus Aaland-Fall, 28 und Hinweis auf Quebec-Gutachten. 323
230
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Die an den Gerichtshof gestellte Frage suggiere, dass es genaue Regeln über das Annehmen von Unabhängigkeitserklärungen gebe, aber das Recht, das die Entstehung der Staatlichkeit regle, sei beschränkt und offen („limited and openended“).328 Eine Unabhängigkeitserklärung sei – wie das Territorium, die Bevölkerung oder die Regierung – ein Fakt. In Fisheries Case habe der Gerichtshof in einer Situation, in der es keine detaillierten Regeln über die Grenzen des Küstenmeers gab, entschieden, dass er beim Fehlen von technischen Regeln eine Frage in Anwendung gewisser Prinzipien beurteilen könne.329 Er habe die Fakten des Falls im Lichte von „equitable principles“ beurteilt.330 Es sei also möglich, zu beurteilen, was für Wirkungen die Unabhängigkeitserklärung zeitigen sollte: „Such judgment must only be based on a balanced assessment of the relevant facts, including – as the Court then stated – the needs of the communities as can be detected from their histories.“ 331 Serbien und andere würden behaupten, dass der Unabhängigkeitsprozess durch die Regel der territorialen Integrität und das Einverständnis des betroffenen Staates geregelt würden. Dies sei sowohl historisch und konzeptionell falsch. Seien die USA aus einem Rechtsprozess entstanden, der im Einverständnis Grossbritanniens kulminierte? Und Russland, Deutschland, Venezuela, Algerien, Bangladesch oder Serbien? Natürlich nicht. Alle etwa 200 Staaten hätten etwa 200 Staatsentstehungsgeschichten und alle würden zugleich durch die MontevideoKriterien beurteilt werden können. Diese könnten aber nicht mechanisch angewendet werden: China habe 1,3 Millionen, Tuvalu 12.500 Einwohner. Es werde behauptet, dass dies Recht durch Politik ersetzen würde. Dies habe der Gerichtshof schon mehrmals gehört und es habe ihm beispielsweise Gelegenheit gegeben, zwischen einer Entscheidung ex aequo et bono und einer „equity infra legem“ zu unterscheiden.332 So würden die Montevideo-Kriterien, territoriale Integrität und Selbstbestimmung operieren: „[T]hey lay out broad criteria to appreciate the facts on the ground, what is and what is not relevant. [. . .] [O]nly this is needed here: neither mechanical rule application, nor recourse to an exception, or indeed to politics, but to the application of the relevant legal principles [. . .] in a way [. . .] that is equitable in the circumstances.“ 333
Das Prinzip der territorialen Integrität sei wohl etabliert. Es fände aber nur zwischen Staaten Anwendung.334 Das Völkerrecht kenne nur im Bereich der 328
Finnland (Koskenniemi), m. St., 57. Finnland (Koskenniemi), m. St., 58 m. Zitat aus IGH, Fisheries Case, 132. 330 Finnland (Koskenniemi), m. St., 58 m. Zitat aus IGH, Fisheries Case, 133. 331 Finnland (Koskenniemi), m. St., 58. 332 Finnland (Koskenniemi), m. St., 58 f. m. H. auf IGH, North Sea Continental Shelf Cases, Rz. 88. 333 Finnland (Koskenniemi), m. St., 59. 334 Finnland (Koskenniemi), m. St., 59 m. H. auf die FRD und die Schlussakte von Helsinki. 329
§ 8 Die Sezession als Abspaltung des Territoriums
231
Menschenrechte, der wirtschaftlichen Beziehungen und der Umwelt Regeln, die Individuen direkt beträfen. Als generelles Prinzip verkörpere die territoriale Integrität den Wert der unverletzten Staatlichkeit, die das Völkerrecht zu schützen gedenke. Dieser Wert müsse aber gegen andere – u. a. das Recht unterdrückter Völker, die Unabhängigkeit anzustreben – abgewogen werden: „Again, it is the factual context that should decide which value should weigh heaviest.“ 335 Wer brauche in casu also Schutz? Die Fakten von Prosecutor v. Milutinovic´ et al. würden darauf hinweisen, dass es nicht der Staat sei.336 Danach geht Finnland vertieft auf die Fakten und die Tatsache ein, dass die Kontaktgruppe in ihrer Stellungnahme von 2006 die Kosovaren als Volk anerkannt habe.337 b) Einwände zum Selbstbestimmungsrecht der Völker Finnland formuliert auch Einwände zur These, dass das Selbstbestimmungsrecht in casu nicht anwendbar sei. Die Proponenten dieser These würden eine bekannte Unterscheidung zwischen der Unabhängigkeit von Kolonialherrschaft oder fremder Besatzung und derjenigen des Kosovo einführen. Daher stellt Finnland die Frage: „What good reason of practice or principle might there be to limit the right to secession do decolonization?“ 338 Der Aaland-Fall, der im Falle der Dekolonialisierung operativ geworden sei, mache keine solche Unterscheidung, sondern spreche von Staaten, die eine Transformation oder Dissolution durchmachen würden und die nötigen Schutzgarantien nicht geben könnten oder wollten. Diese traditionelle Sicht sei auch im Quebec-Gutachten operativ geworden.339 Ein solch qualifiziertes Recht zur Sezession werde auch von einem grossen Teil der Lehre anerkannt.340 In casu solle man also nicht eine neue Regel erfinden, sondern sich auf das traditionelle Selbstbestimmungsrecht berufen, das immer gegen die territoriale Integrität abgewogen worden sei und stets die Möglichkeit der externen Ausübung vorgesehen habe. c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Finnland bringt die eigene Begründung nun explizit gegen die Subthese 1 der Position 1 in Stellung. Dabei stützt es sich auf die Singularität des Staatsentstehungsprozesses und das sich daraus ergebende Verhältnis zwischen den Fakten der Staatsentstehung und ihrer rechtlichen Würdigung. Zusätzlich vertritt Finn335
Finnland (Koskenniemi), m. St., 60. Finnland (Koskenniemi), m. St., 60 m. Zitaten aus ICTY, Prosecutor v. Milutinovic´ et al., Rz. 1156. 337 Finnland (Koskenniemi), m. St., 61 f. 338 Finnland (Koskenniemi), m. St., 62. 339 Finnland (Koskenniemi), m. St., 62 m. H. auf Quebec-Fall, Rz. 134. 340 Finnland (Koskenniemi), m. St., 62 m. H. auf Raic ˇ , 313 bis 323. 336
232
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
land noch den typischen Einwand, der bisher von den Proponenten der Positionen 2 und 3 eingebracht worden ist, nämlich, dass das Prinzip der territorialen Integrität nur zwischenstaatliche Anwendung fände. Gegen die Subthese 2 der Position 1, die die Anwendung des externen Selbstbestimmungsrechts auf den Fall der epistemischen Kategorien der Dekolonialisierung beschränken will, führt Finnland den Aaland-Fall ins Feld. Mit diesem kann es wie schon in der ersten Runde einen Rahmenwechsel von einer Unterscheidung zwischen Dekolonialisierung und Nicht-Dekolonialisierung zu einer Unterscheidung zwischen normalen und abnormalen Situationen einführen. Dieser Wechsel wird mit Hinweis auf das Quebec-Gutachten (Rz. 134) und David Raicˇ gestützt. Das Gutachten spricht die Möglichkeit der Anerkennung eines remedialen Rechts zur Sezession an, lässt die Frage aber offen, weil sie im Falle von Quebec aufgrund des weitreichenden Autonomiestatus desselben keiner Beantwortung bedurfte. Im angegebenen Kapitel setzt sich David Raicˇ mit der Frage nach der Anerkennung eines Rechts zur Sezession auseinander. Er kommt nach einer Analyse der relevanten Dokumente, des Schrifttums und der Urteile und Gutachten zu folgendem Schluss: „There is considerable support for both the position that the right of self-determination is limited by the right of territorial integrity of States and for the position that the right of self-determination encompasses a qualified right of secession.“ 341 Unter der zweiten Position formuliert Raicˇ die im Verfahren unbestrittenen Voraussetzungen des remedialen Rechts zur Sezession.342 3. Erhebung des Argumentationsstandes Die Position 1 hat zwei neue Proponenten erhalten, die sich in die bekannte Begründungsstruktur einfügen. Serbien vertritt eine neue Begründung des völkerrechtlichen Wandels – diese kann sich auf zunehmend epistemische Theorie stützen. Die zitierten Schutzklauseln der neueren Dokumente wirken aus der Perspektive der Position 1 stabilisierend, können aber nicht der Position 3 entgegen gehalten werden. Ansonsten verlassen sich die Proponenten weitgehend auf den bekannten Begründungsweg. Damit ist es ihnen nicht gelungen, die in der zweiten Runde erhobenen Einwände zu den entscheidenden Thesen der Subthese 1 zu entkräften: der These des absoluten Vorrangs des Prinzips der territorialen Integrität und dessen Anwendbarkeit auf nicht staatliche Akteure. Darüber hinaus sind die fragilen Übergänge auch durch neue Einwände der Position 4 destabilisiert worden. 341
Raicˇ, 332. Die carence de souveraineté kann gemäss Raicˇ sowohl durch eine schwerwiegende Verunmöglichung der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts als auch durch schwerwiegende und weitverbreitete Verletzungen der Menschenrechte von Personen eines bestimmten Volkes gegeben sein. 342
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Bezüglich des Selbstbestimmungsrechts wird keine neue Begründungsstruktur vertreten. Umstritten ist die Frage, ob die Kosovaren Träger des Rechts sind. Serbien vertritt die Theorie der prozeduralen Anerkennung. Die Proponenten können gültig begründen, dass sich eine solche nicht durch die Londoner Friedenskonferenz oder die Badinter-Schiedsgutachten ergeben habe. Auch der These, dass in den Rambouillet-Abkommen eine Anerkennung gesehen werden kann, können die Proponenten mit Gegeneinwänden entgegentreten. Grundsätzlicher ist der finnische Einwand, der die Unterscheidung zwischen Anwendungen innerhalb und ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts bezweifelt. Es ersetzt diese Grenzziehung durch diejenige zwischen normalen und abnormalen Situationen.343 Dieser Einwand zielt auf eine völlig neue Rahmung des Selbstbestimmungsrechts. Hier bleibt er so stehen, weil er erst in der dritten Runde eingebracht wurde und die Proponenten in ihrer Position nicht auf ihn reagieren können.
343
Vgl. dazu unten § 11.
§ 9 Die Sezession als Willensäusserung des Volkes I. Schriftliche Stellungnahmen 1. Hauptthese der Position 2: „Die vorstehenden Absätze sind nicht so auszulegen, als . . .“ Anlässlich des fünfundzwanzigsten Jahrestags der VN hat die Generalversammlung am 24. Oktober 1970 die „Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen“ – kurz: die FRD – angenommen. Diese beinhaltet unter anderem den Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker. Dieser gesteht allen Völkern das Recht zu, frei und ohne Einmischung von aussen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten. Als Möglichkeiten der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts wird unter anderem die Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates genannt. Es ist der einzige der sieben Grundsätze, der sich nicht an Staaten, sondern an Völker richtet. Er enthält den folgenden Absatz, der gemeinhin als Schutzklausel bezeichnet wird: „Die vorstehenden Absätze sind nicht so auszulegen, als ermächtigten oder ermunterten sie zu Maßnahmen, welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger Staaten, die sich gemäß dem oben beschriebenen Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhalten und die daher eine Regierung besitzen, welche die gesamte Bevölkerung des Gebiets ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt, ganz oder teilweise auflösen oder beeinträchtigen würden.“ (Hervorhebung hinzugefügt.)
Die bedingte Verneinung lässt die Möglichkeit einer ausnahmsweisen Bejahung offen. Dies ist die Hauptthese, die von den Proponenten der Position 2 in das Verfahren eingebracht worden ist: In Ausnahmefällen kann eine Sezession ausserhalb der Dekolonialisierung als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker völkerrechtskonform sein. Folgende Staaten haben diese Antwort in das Verfahren eingebracht: Albanien, Deutschland, Estland, Irland, Lettland, die Niederlande, Polen, Russland, die Schweiz und Slowenien. Deutschland vertritt eine Argumentation, die hier durch die Positionen 2 und 3 dargestellt wird. In einem ersten Schritt vertritt Deutschland die Hauptthese, dass Sezessionen grundsätzlich nicht völkerrechtlich geregelt sind, in einem zweiten die hier dargestellte Hauptthese.1 Auch Irland erhebt zunächst die These, dass Un1
Deutschland, s. St., 27 ff. und 32 ff.
§ 9 Die Sezession als Willensäusserung des Volkes
235
abhängigkeitserklärungen und Sezessionen nicht völkerrechtlich geregelt sind.2 Als alternative These („further or alternatively“) erhebt und begründet Irland danach die hier dargestellte Hauptthese.3 Der erste Teil der deutschen und irischen Begründungsstruktur wird somit bei der Position 3 dargestellt. Ähnliches gilt für die Schweiz: Sie weist kurz darauf hin, dass das Prinzip der territorialen Integrität nur in zwischenstaatlichen Beziehungen anwendbar sei, um dann auf die Frage einzugehen, wie Unabhängigkeitserklärungen normiert wären, wenn dem nicht so wäre.4 a) Systematische Stellung des Selbstbestimmungsrechts und Verhältnis zum Prinzip der territorialen Integrität Deutschland, Estland und Russland stellen die territorialen Integrität der Staaten und das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die gleiche Stufe: Deutschland hält fest, dass die Prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität „important, but not the only important principles of international law“ seien; ein weiteres Prinzip „of equal force“ sei das Selbstbestimmungsrecht.5 Letzteres sei etabliert, Teil der Charta und fester Bestandteil des Gewohnheitsrechts.6 Es ergebe sich aus der FRD und der Schlussakte von Helsinki, dass die genannten Prinzipien nicht in einem Subordinationsverhältnis, sondern auf gleicher Stufe stünden.7 Für Estland sind die „principles of sovereignty and territorial integrity [. . .] very important“ 8, aber „international law also recognises the principle of self-determination.“ 9 Es ergebe sich aus dem ersten Absatz des Abschnitts über den Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker der FRD, dass die Prinzipien auf gleicher Stufe stünden. Für Russland werden die Bereiche der Rechtsgüter durch die einschlägigen Prinzipien und Regeln der VN-Charta (Art. 1 Ziff. 2, Art. 2 Ziff. 1, 4 und 7), der VN-Menschenrechtspakte I und II, der FRD und der Schlussakte von Helsinki geregelt.10 Sie seien kürzlich im VN-Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005 be2
Irland, s. St., Rz. 18 ff. Irland, s. St., Rz. 27 ff. Vgl. auch Rz. 35. 4 Schweiz, s. St., Rz. 55 f. Die Schweiz weist jedoch explizit darauf hin, dass eine Unabhängigkeitserklärung in keinem Fall gegen eine ius cogens-Norm verstossen dürfe: vgl. s. St., Rz. 25 ff. 5 Deutschland, s. St., 32. 6 Deutschland, s. St., 32 m. H. auf Art. 1 Ziff. 2 und Art. 55 VN-Charta. 7 Deutschland, s. St., 32 f. m. H. auf den ersten Absatz des Abschnitts über den Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker der FRD und das Kapitel VIII der Schlussakte von Helsinki. 8 Estland, s. St., 4 m. H. auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und die FRD. 9 Estland, s. St., 4 m. H. auf Art. 1 und 55 VN-Charta, die gemeinsamen Art. 1 der beiden VN-Menschenrechtspakte und die FRD. 10 Russland, s. St., Rz. 19 f. m. H. auf VN-Charta, die VN-Menschenrechtspakte I und II, die FRD und die Schlussakte von Helsinki. 3
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
stätigt worden, bildeten „the basis of the current international system“, seien „interrelated“, und jedes Prinzip müsse im Lichte des anderen ausgelegt werden.11 Trotz dieser anfänglichen Gleichstellung stellt Russland das Verhältnis der beiden Rechtsgüter danach als Regel-Ausnahme-Verhältnis dar. Das gleiche Verhältnis postulieren auch die Niederlande, Polen und die Schweiz: Der Schutz der territorialen Integrität ist die Regel, die durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausnahmsweise relativiert wird. Die Unabhängigkeitserklärung hat für Russland zum Ziel gehabt, auf dem Gebiet von Serbien einen Staat zu errichten; damit verstosse sie prima facie gegen die Pflicht, die territoriale Integrität von Serbien zu bewahren.12 Die territoriale Integrität sei ein unveräusserliches Attribut der staatlichen Souveränität.13 Mit Zitaten von Alain Pellet und Marcelo G. Kohen hält Russland fest, dass das grosse Friedensprinzip der territorialen Integrität, das für die internationale Stabilität unentbehrlich sei, heutzutage eine universelle und zwingende Bestimmung sei, die u. a. eine Garantie gegen die Aufteilung des staatlichen Territoriums beinhalte.14 Bezüglich des Selbstbestimmungsrechts der Völker streift Russland kurz die Entwicklung von der VN-Charta über die VN-Menschenrechtspakte I und II, die FRD, die Schlussakte von Helsinki bis zur Charta von Paris.15 Entscheidend sei, dass es vom IGH als „one of the essential principles of contemporary international law“ anerkannt worden sei.16 Die Niederlande verweisen auf das Wall-Gutachten des IGH und halten fest, dass das Selbstbestimmungsrecht in der VN-Charta, der FRD und den Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte I und II enthalten sei. Im Gutachten habe der Gerichtshof erstmals das Selbstbestimmungsrecht ausserhalb des kolonialen Kontexts anerkannt.17 Die Pflichten, das Selbstbestimmungsrecht zu respektieren und zu fördern sowie von jeglichen Zwangsmassnahmen abzusehen, die die Ausübung dieses Rechts verunmöglichen, ergäben sich aus einer zwingenden völkerrechtlichen Bestimmung („peremptory norm“).18 Das Selbstbestimmungsrecht müsse aber 11
Russland, s. St., Rz. 22 m. Zitat aus der FRD, Ziff. 2, Abs. 1. Russland, s. St., Rz. 76. 13 Russland, s. St., Rz. 77 m. Zitat aus Kohen, Introduction, 6 und der FRD sowie Hinweisen auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und die Schlussakte von Helsinki. 14 Russland, s. St., Rz. 78 m. Zitat aus Pellet, Badinter, 181 und Kohen, Introduction, 6. 15 Russland, s. St., Rz. 79 m. H. auf Cassese, Self-determination; Crawford, Creation, 108 ff.; Summers, Peoples (1. Aufl., Leiden/Boston 2007), 141 ff. und Hannum, Autonomy, 27 ff. 16 Russland, s. St., Rz. 79 m. Zitat aus IGH, East Timor, Rz. 29. 17 Niederlande, s. St., Rz. 3.1 m. H. auf IGH, Wall, Gesonderte Stellungnahme der Richterin Higgins, Rz. 30. 18 Niederlande, s. St., Rz. 3.2 m. H. auf die Wiener Eklärung, die von einem „inalienable right“ spricht, die Allgemeine Bemerkung Nr. 12 des VN-Menschenrechtsaus12
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völkerrechtskonform ausgeübt werden.19 Das Völkerrecht beinhalte auch das Prinzip der territorialen Integrität. Es sei daher entscheidend, ob die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eine Änderung von bestehenden internationalen Grenzen mit sich bringe (externe Ausübung) oder nicht (interne Ausübung). Die Niederlande weisen darauf hin, dass die Emergenz eines externen Ausübungsrechts nicht unumstritten gewesen sei: „On the one hand, the exercise of this right results in a reconfiguration of the international community and may affect the essential requirement of stability referred to by the Court in the Case Concerning the Frontier Dispute. On the other hand, as a result of past events, it may be that stabiliy can only be achieved through change. The law, in particular the law of self-determination, should provide guidance in this process of change.“ 20
Die Entwicklung zeige sich in einem Vergleich des Gutachtens 2 der BadinterSchiedskommission und des Quebec-Gutachtens des Obersten Gerichtshofs von Kanada: Während das erstere von 1992 festhalte, dass „international law as it currently stands does not spell out all the implications of the right of self-determination“, besage das zweite von 1998, dass „when a people is blocked from the meaningful exercise of its right to self-determination internally, it is entitled, as a last resort, to exercise it by secession“, obwohl „it remains unclear whether this [. . .] proposition actually reflects an established international law standard“.21 Die Kontroverse zeige sich auch in den Vorbehalten, die einzelne Staaten zu den VN-Menschenrechtskonventionen eingereicht hätten und die das Selbstbestimmungsrecht auf bestimmte Kategorien von Völkern, vornehmlich diejenige unter fremder Besatzung, beschränken wollten. Die Niederlande haben gegen solche Vorbehalte Einspruch erhoben.22 Darüber hinaus zeige sich die gleiche Kontroverse in der Reaktion der Staaten auf die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, auf die auch in der A/RES/63/3 hingewiesen werde. Die Staatendesintegrationen der 1990er-Jahre hätten neue Informationen zur Staatenpraxis hervorgebracht. Für den Fall, dass der Gerichtshof nicht fähig sei, zum Schluss zu kommen, dass sich ein gewohnheitsrechtliches Recht zur externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ausserhalb des Kontexts von nicht selbstverwalteten schusses, die IGH-Fälle East Timor und Wall, die beide den erga omnes-Charakter hervorheben, den Kommentar zu Art. 40 ARSIWA, der festhält, dass der zwingende Charakter „generally accepted“ sei, sowie den Nicaragua-Fall des IGH, der die Existenz von zwingenden Normen anerkannt habe. 19 Niederlande, s. St., Rz. 3.5. 20 Niederlande, s. St., Rz. 3.16. 21 Niederlande, s. St., Rz. 3.17 m. Zitat aus Gutachten 2 und Quebec-Gutachten, Rz. 133 ff. 22 Niederlande, s. St., Rz. 3.18. Neben den Niederlanden haben auch Frankreich und Deutschland gegen solche Vorbehalte Einspruch erhoben: vgl. dazu auch Schweiz, s. St., Rz. 69.
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Gebieten, fremder Besatzung und konsensualer Übereinstimmung gebildet habe, halten die Niederlande fest, dass das Völkerrecht die externe Ausübung in sui generis-Fällen nicht verbiete.23 Für Polen ist die Unterordnung des Selbstbestimmungsrechts der Völker unter das Prinzip der territorialen Integrität keinesfalls absolut.24 Man könne argumentieren, dass sich der betroffene Staat in Fällen von Verletzungen von Menschenrechten und des humanitären Völkerrechts nicht auf das Prinzip der territorialen Integrität berufen könne, um sich vor der Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechts zu schützen. Es stehe ausser Zweifel, dass gewisse völkerrechtliche Normen, die grundlegende Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht betreffen, „special legal value and meaning“ hätten. Oft würden sie zum zwingenden Völkerrecht gezählt.25 Schliesslich dürfe das Völkerrecht nicht als statisches, sondern müsse als dynamisches System angesehen werden.26 Dieses verändere sich ständig durch die fortwährende Staatenpraxis. Daher seien seine Normen und Prinzipien, selbst die der territorialen Integrität und der Selbstbestimmung, ständigen Modifikationen und Anpassungen unterworfen. Als Beispiel verweist Polen auf die durch den polnischen Frühling von 1980 provozierten tiefgreifenden Veränderungen des internationalen Systems, inklusive der Unabhängigkeit vieler neuer Staaten, der Wiedervereinigung Deutschlands, des Untergangs der UdSSR sowie der Dissolution der SFRJ. Für die Schweiz ist das Prinzip der territorialen Integrität „an integral component of the principle of sovereignty recognised under international law“, das „the stability of the international order“ garantiere.27 Jedoch sei das Prinzip gemäss Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta nur von Mitgliedstaaten in ihren zwischenstaatlichen Beziehungen zu beachten. Es sei nicht innerstaatlich anwendbar; selbst wenn dem so wäre, könne es keine absolute Geltung beanspruchen. Eine mögliche Einschränkung würde sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ergeben; auch dieses sei „firmly anchored in international law“.28 Beide Prinzipien würden durch die VN-Charta, die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris anerkannt. Der tatsächliche Umfang des Selbstbestimmungsrechts sei aber umstritten. Für die Schweiz hat es sich in den letzten Dekaden von ein einer „political aspiration“ zu einer „direct applicabile norm of international law“ entwi23
Niederlande, s. St., Rz. 3.20 und 3.22. Polen, s. St., Rz. 6.9. 25 Polen, s. St., Rz. 6.13 m. H. auf Cassese, International Law, 64 ff.; die Draft Articles on the Law of Treaties, with commentaries, YILC, 1966, Vol, II. 248; ARSIWA, mit Kommentaren, 110 ff. sowie IGH, East Timor, Rz. 29, Wall, Rz. 155, Reservations to the Genocide-Convention, 23 und Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Rz. 161. 26 Polen, s. St., Rz. 6.16. 27 Schweiz, s. St., Rz. 54. 28 Schweiz, s. St., Rz. 56. 24
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ckelt, die nun eine „provision of customary international law and an obligation erga omnes“ sei.29 Die Ausübung des Rechts sei aber bedingt. Die FRD berühre das Verhältnis zwischen nationaler Souveränität, territorialer Integrität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.30 Mit Hinweis auf die Schutzklausel hält die Schweiz fest, dass das Völkerrecht die territoriale Integrität eines Staates schütze, wenn die Regierung die gesamte Bevölkerung diskriminierungsfrei repräsentiere, dass aber dieser Schutz nicht unbegrenzt sei: Wenn die Regierung nicht die ganze Bevölkerung vertrete, gewisse Gruppen willkürlich diskriminiere und daher deren Selbstbestimmungsrecht klarerweise verletze, könne eine Unabhängigkeitserklärung eines grösseren Bevölkerungsteils in Konformität mit dem Völkerrecht und dem Prinzip der territorialen Integrität sein. Ein ähnlicher Schluss habe der Oberste Gerichtshof von Kanada im Quebec-Gutachten gezogen, als er zwischen einem internen und einem externen Selbstbestimmungsrecht unterschieden habe.31 Auch die überwiegende Doktrin anerkenne ein externes Selbstbestimmungsrecht im Falle einer schwerwiegenden und systematischen Verletzung des internen Selbstbestimmungsrechts.32 Ohne diese Möglichkeit würde das Selbstbestimmungsrecht der Völker seine intrinsische Funktion verlieren.33 Das Prinzip der territorialen Integrität sei unzweifelhaft ein wichtiges völkerrechtliches Prinzip, aber nicht von anderen grundlegenden Prinzipien isoliert.34 Es könne daher nicht unter allen Umständen ein Recht zur Sezession ausschliessen. Unter aussergewöhnlichen Umständen könne es als ultimum remedium ein solches Recht geben.35 Eine Unabhängigkeitserklärung könne als letztes Mittel zur Ermöglichung der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, der Menschen- und Minderheitenrechte zulässig sein.36 Daher kommt die Schweiz zum Schluss, dass selbst wenn das Prinzip der territorialen Integrität auch innerhalb der Staaten anwendbar sei, die Unabhängigkeitserklärung als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts rechtfertigbar sei. 29 Schweiz, s. St., Rz. 58 f. m. H. auf IGH, East Timor, Rz. 29, Namibia, Rz. 52 f. und Western Sahara, Rz. 54 ff. und Art. 1 Ziff. 2 VN-Charta („programmatic norm“), Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte I und II („outline of a legal definition“) und die FRD („most authoritative and comprehensive formulation so far“). 30 Schweiz, s. St., Rz. 60. 31 Schweiz, s. St., Rz. 64 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 126 und 135. 32 Schweiz, s. St., Rz. 66 m. H. auf Doehring, 58. 33 Schweiz, s. St., Rz. 66 u. a. m. H. auf Crawford, Creation, 119; Cassese, Self-determination, 109 ff.; Thürer, 15 f.; Doehring, 57 f.; Tomuschat, General Course, 253 f. und Murswiek, Sezession, 313 f. 34 Schweiz, s. St., Rz. 67. 35 Schweiz, s. St., Rz. 67 u. a. m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 134; Crawford, Creation, 119; Doehring, 58; Murswiek, Sezession, 313 f. 36 Schweiz, s. St., Rz. 67 m. H. auf Art. 1 und 27 des VN-Menschenrechtspakts II und den Aaland-Fall, 24.
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Slowenien stellt das Verhältnis als einziges Land so dar, dass das Selbstbestimmungsrecht im Konfliktfall vorgehe: „When the ,right of the state‘ to protect its territorial integrity and the ,right of the people‘ to decide upon their own destiny are in conflict, the right of the people prevails, alongside the peaceful settlement of disputes, in particular through negotiations. In recent decades, the right to self-determination as a human right has been given precedence over the principle of respect for the territorial integrity of states.“ 37
Für Irland steht nur der Anwendungsbereich zur Debatte, weil der IGH festgehalten habe, dass dem Selbstbestimmungsrecht der Völker eine erga omnes-Wirkung zukomme.38 Auch Albanien hält fest, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein unveräusserliches Gruppenrecht ist, dem ein erga omnes-Charakter zukommt.39 b) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts Estland, die Niederlande, Polen, Russland und die Schweiz gehen explizit auf die Frage nach der Anwendbarkeit ein. Ohne näher auf den Begriff des Volkes einzugehen, halten die Niederlande fest, dass die Annahme der Unabhängigkeitserklärung durch die kosovarische Versammlung „on behalf of the ,people‘“ erfolgt sei.40 Schon im Rambouillet-Abkommen werde bezüglich der Festlegung des endgültigen Status des Kosovo auf den Willen des Volkes verwiesen; dies sei aufgrund der Verweise in Annex 1 und 2 der S/RES/1244 hier relevant. Darüber hinaus spreche auch die Unabhängigkeitserklärung an verschiedenen Stellen vom Willen des Volkes. Gemäss Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte kommt für die Schweiz allen Völkern ein Selbstbestimmungsrecht zu.41 Jedoch sei der Rechtsbegriff des Volkes ungenau; die Schweiz zitiert Aureliu Cristescu: „[. . .] whenever in the course of history a people has become aware of being a people, all definitions have proved superfluous.“ 42 Gleichwohl reicht die Schweiz drei Präzisierungen nach: Erstens sei das Selbstbestimmungsrecht eng mit dem Prinzip der Gleichberechtigung verknüpft. Daraus folge, dass es allen Völkern nach den gleichen Kriterien zustehe. Zweitens sei es auf ein Kollektiv anwendbar, das mehr sei als eine blosse 37
Slowenien, s. St., 2 m. H. auf Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte. Irland, s. St., Rz. 27 m. H. auf IGH, East Timor, Rz. 28. 39 Albanien, s. St., Rz. 75 ff. m. H. auf Art. 1 Ziff. 2 VN-Charta, Art. 1 der beiden VN-Menschenrechtspakte, die Schlussakte von Helsinki, die ACMVR und IGH, East Timor, Rz. 29, Wall, Rz. 88, VN-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 12; 40 Niederlande, s. St., Rz. 3.3. 41 Schweiz, s. St., Rz. 69. 42 Schweiz, s. St., Rz. 70 m. Zitat von Aureliu Cristescu, Special Rapporteur of the Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, Le droit à l’autodétermination, New York 1981, E/CN.4/Sub.2/404/Rev.1, Rz. 274. 38
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Gruppe von Individuen. Ein Volk binde ein gemeinsames Bewusstsein oder ein gemeinsamer politischer Wille. Dies ergebe sich daraus, dass das Selbstbestimmungsrecht ein „fundamental standard of the democratic state“ sei. Jede Bemühung, den Begriff des Volkes in einer abschliessenden, objektiven und wissenschaftlichen Art und Weise zu definieren, sei intrinsisch widersprüchlich. Drittens müsse das Volk über ein gemeinsames Territorium verfügen.43 Hier vollzieht die Schweiz den Wechsel zum Anwendungsbereich ratione materiae. Mit James Crawford hält sie fest, dass das Selbstbestimmungsrecht u. a. auf nicht selbstverwaltete Gebiete anwendbar sei. Es sei somit auch auf den Teil der Bevölkerung anwendbar, der in willkürlicher Art und Weise von der Verwaltung der Region oder des Staates ausgeschlossen werde und der sich deshalb de facto nicht selbst regiere.44 Die Schweiz kommt zum Schluss, dass der Kosovo „in fact a non-self governing territory as defined by Crawford“ und deshalb Träger des Selbstbestimmungsrechts sei.45 Polen leitet aus der FRD vier Fälle ab, in denen das Selbstbestimmungsrecht zur Anwendung komme: Erstens, falls ein Volk kolonialisiert sei oder unter einer anderen Form der Beherrschung stehe. Zweitens, falls ein Volk unter fremder Besatzung stehe. Drittens, falls ein Volk einen Staat bewohne, der das Recht auf Selbstbestimmung beeinträchtige. Viertens, falls ein Volk einen Staat bewohne, der das Selbstbestimmungsrecht respektiere und daher über eine Regierung verfüge, die das Volk adäquat repräsentiere.46 Im letzten Fall dürfe das Volk das Selbstbestimmungsrecht nicht extern ausüben, ausser dies sei verfassungsrechtlich vorgesehen. Im dritten Fall könne das Volk das Selbstbestimmungsrecht nicht innerhalb des Staates ausüben und sei daher unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt, es durch Sezession auszuüben. Das Selbstbestimmungsrecht kann auch für Estland intern und extern ausgeübt werden.47 Obwohl es im Hinblick auf den Dekolonialisierungsprozess in die VNCharta aufgenommen worden sei, könnten sich auch Minderheiten eines bestimmten Staates und die Bevölkerung eines besetzten Staates auf das Selbstbestimmungsrecht berufen.48
43 Schweiz, s. St., Rz. 72 m. Zitat aus Rosalyn Higgins, The Development of International Law through the Political Organs of the UNO, London 1963, 104 („[. . .] It is necessary to start with stable boundaries and to permit political change within them.“) und Crawford, Creation, 126. 44 Schweiz, s. St., Rz. 74 ff. m. Zitat aus Crawford, Creation, 126 f. und Quebec-Gutachten, Rz. 124. 45 Schweiz, s. St., Rz. 77. 46 Polen, s. St., Rz. 6.1. 47 Estland, s. St., 5 m. H. auf das Kapitel VIII der Schlussakte von Helsinki. 48 Estland, s. St., 5 m. H. auf Doehring, 55 und die VN-Erklärung zum 50. Jahrestag.
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Für Russland ist es, obwohl ursprünglich für Völker unter kolonialer oder fremder Besatzung konzipiert, nun auf alle Völker anwendbar. Es scheine unter den Staaten und den wissenschaftlichen Autoren bezüglich folgender Punkte ein Konsens zu bestehen: Das Selbstbestimmungsrecht müsse durch das betroffene Volk frei ohne äussere Einmischung ausgeübt werden. Es könne durch die Errichtung eines unabhängigen Staates oder durch Erreichung eines bestimmten politischen Status innerhalb eines Staates ausgeübt werden. Das Recht beinhalte die Möglichkeit, die ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung eines Volkes frei zu bestimmen. Darüber hinaus sei es weitherum akzeptiert, dass die Völker von Treuhand- und Mandatsgebieten, von nicht selbstverwalteten Gebieten oder von unabhängigen Staaten als Ganzes genommen Träger des Selbstbestimmungsrechts seien. Hingegen sei Gegenstand ausführlicher Debatten, unter welchen Voraussetzungen sich auch ethnische oder andere Gruppen innerhalb bestehender Staaten als Träger qualifizierten.49 c) Externe oder remediale Ausübung des Selbstbestimmungsrechts aa) Die externe Ausübung als Rechtsbehelf Für Albanien hat die Bevölkerung des Kosovo durch die Unabhängigkeitserklärung ihr Selbstbestimmungsrecht ausgeübt.50 Albanien begründet die Existenz eines solchen Rechts zur Sezession einerseits durch Hinweis auf autoritative Texte wie beispielsweise die Schutzklausel der FRD. Dieser Abschnitt sei „formulated in a way which excludes the argument that in a case of suppression a people could not unilaterally secede from the oppressing State.“ 51 Die Schutzklausel anerkenne klarerweise das Recht zur Sezession, falls eine Regierung die Bevölkerung nicht diskriminierungsfrei repräsentiere.52 Andererseits stützt sich Albanien auf Präzedenzfälle: „Throughout history [declarations of independence] have been justified by suppression by the State from which secession takes place.“ 53 Die Liste der Präzedenzfälle reiche von der Unabhängigkeitserklärung der Niederlande von 1581, die durch Hinweise auf die tyrannische Herrschaftsausübung der spanischen Könige gerechtfertigt worden sei, über die Erklärung des katholischen Veltlins gegenüber Graubünden etwa 40 49
Russland, s. St., Rz. 80 f. m. H. auf Chernichenko/Kotlyar, 77 ff. Albanien, s. St., Rz. 74. Die Unabhängigkeitserklärung wird explizit als „act of secession“ bezeichnet (Rz. 72). Vgl. auch Lettland, s. St., Rz. 1 und 8. 51 Albanien, s. St., Rz. 81. 52 Albanien, s. St., Rz. 81 m. H. auf Doehring, 57; Crawford, Creation, 118 ff.; Tomuschat, Self-determination, 1, 8 ff. sowie die ähnlich lautende Schutzklausel der Wiener Erklärung (Abschnitt I, Ziff. 2, Absatz 3) und das Quebec-Gutachten, Rz. 138. 53 Albanien, s. St., Rz. 86 m. H. auf den einleitenden Wortlaut der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „[W]henever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or abolish it, and to institute new Government [. . .].“ 50
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Jahre später, die auch durch Hinweis auf tyrannische Unterdrückung gerechtfertigt worden sei, bis zur Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776.54 Albanien bezieht sich hier auf den Notenwechsel zwischen Frankreich und Grossbritannien und stellt eine „interesting mixture“ der „French arguments“ fest. Diese würden sowohl auf die Effektivität der neuen Unabhängigkeit als auch auf die unrechtmässige Unterdrückung durch den englischen König hinweisen.55 Von diesen drei Präzedenzfällen geht Albanien en détail auf die Unterdrückungspolitik Serbiens während der 1980er- und 90er-Jahre über, um eine klare Verweigerung des internen Selbstbestimmungsrechts der Kosovaren durch die serbische Regierung festzustellen.56 Das Selbstbestimmungsrecht kann gemäss Deutschland intern und extern ausgeübt werden.57 Die erste Variante bedeute, dass man innerhalb einer grösseren Entität eine gewisse Autonomie beanspruchen könne. Die zweite, dass eine bestimmte Gruppe das Recht habe, den eigenen politischen und verfassungsmässigen Status auf internationaler Ebene selbst zu bestimmen. Während sich die meisten wissenschaftlichen Autoren darüber einig seien, dass die erste Variante zum Konzept des Selbstbestimmungsrechts gehöre, bestünde bezüglich der zweiten Uneinigkeit. Gemäss einigen Autoren gebe es ausserhalb des kolonialen Kontexts kein Recht zur Sezession. Diese Auffassung würde gemäss Deutschland aber dazu führen, dass in der Praxis auch die interne Variante bedeutungslos würde. Eine unterdrückte Gruppe hätte keinen Rechtsbehelf, um sich gegen eine Verunmöglichung der internen Ausübung durch eine Mehrheit zu wehren.58 Anderseits komme nicht jeder Gruppe, der es gelinge, sich von der Mehrheit zu unterscheiden, ein Recht zur Sezession zu.59 Ein solch breit verfügbares Recht würde klarerweise den internationalen Frieden gefährden: „While fear of secession is principally politically motivated, avoidance of the dangers created by a liberal right of secession is also a legitimate objective of international law.“ 60 Aus dieser Juxtaposition folgert Deutschland, dass das Völkerrecht ein Recht zur Sezession weder völlig ausschliesse noch es jeder Gruppe zugestehe. Im Nor54
Albanien, s. St., Rz. 86 m. H. auf Frowein, Self-determination, 211 ff. Albanien, s. St., Rz. 86 m. H. auf Frowein, Self-determination, 211 ff. 56 Albanien, s. St., Rz. 87 ff. m. H. auf zahlreiche Dokumente internationaler Akteure. 57 Deutschland, s. St., Rz. 33. 58 Deutschland, s. St., 33 f.: „This, however, would also render the internal right of self-determination meaningless in practice. There would be no remedy for a group which is not granted the self-determination that may be due to it under international law. The majority in the State could easily and with impunity oppress the minority, without any recourse being open to that minority.“ 59 Deutschland, s. St., 34. 60 Deutschland, s. St., 34. 55
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
malfall solle das Selbstbestimmungsrecht innerhalb bestehender Staaten ausgeübt werden; nur in aussergewöhnlichen Fällen, in denen nachgewiesen werden könne, dass sie ein Rechtsbehelf gegen eine lang anhaltende und schwerwiegende Verweigerung der internen Ausübung sei, könne eine Sezession legitimiert werden. Ein solches remediales Recht zur Sezession würde die internationale Stabilität nicht gefährden, weil es nur zum Zug käme, wenn sich die Situation in einem Staat derart verschlechtert habe, dass diese selbst als Gefährdung des internationalen Friedens und der Stabilität angesehen werden könne. Ein so konzipiertes Recht würde dem Prinzip der Selbstbestimmung Bedeutung geben. Deutschland sieht das remediale Recht zur Sezession als Teil einer völkerrechtlichen Entwicklung, die seit dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt habe und gewisse Einschränkungen der Souveränität mit sich bringe. Als Beispiele verweist Deutschland auf die Entwicklung der Menschenrechte, der responsibility to protect und des Völkerstrafrechts, das sogar die völkerrechtsstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen vorsehe, die hohe Ämter bekleiden.61 Estland hält fest, dass es keine geschriebene Regel zur (also weder ein geschriebenes Recht zur noch ein Verbot der) Sezession gebe. Nichtsdestotrotz ergebe sich aus der Staatenpraxis ein bestimmter Rahmen, in dem gewisse Sezessionen zulässig sein könnten. Wie Deutschland beruft sich auch Estland auf die Stabilität des internationalen Staatensystems, um darzulegen, dass eine Sezession grundsätzlich nicht zugelassen und das Selbstbestimmungsrecht intern ausgeübt werden sollte, dass aber in gewissen aussergewöhnlichen Fällen eine Sezession als einziger Rechtsbehelf gegen eine lang anhaltende und schwerwiegende Verweigerung der internen Ausübung zulässig sein sollte, um den internationalen Frieden, die Sicherheit und die Stabilität wiederherzustellen.62 Irland ist der Ansicht, dass das Selbstbestimmungsrecht ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts nicht zu einem unilateralen Recht zur Sezession führen könne, wenn die Regierung die Bevölkerung diskriminierungsfrei repräsentiere.63 Es sei jedoch schon seit Anbeginn der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts, nämlich im Aaland-Fall, auf ein Recht zur Sezession in Ausnahmefällen hingewiesen worden. Dieser Fall unterstütze das völkerrechtliche Prinzip der carence de souveraineté. Demnach gebe es ein Recht zur Sezession, wenn ein Territorium vom Staat derart schlecht verwaltet werde, dass er seine souveränen Ansprüche verwirkt habe.64 Zusammenfassend ist Irland der Ansicht, dass: 61
Deutschland, s. St., 34. Estland, s. St., 5 f. m. H. auf Doehring, 58 und die Schutzklausel der FRD. 63 Irland, s. St., Rz. 28 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 122; Higgins, Problems and Process, 198 und Ved P. Nanda, Self-determination under International Law: Validity of Claims to Secede, in: Case Western Reserve Journal of International Law, Vol. 13, 1981, 257 ff., 269 f. sowie Hinweis auf die FRD. 64 Irland, s. St., Rz. 29 m. H. auf Borgen; Aaland-Fall und Zitat aus Filipa Vrdoljak, Self-determination and Cultural Rights, in: Francesco Francioni/Martin Scheinin 62
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„this right may arise, as a last resort, only in the case of gross and fundamental human rights abuses and further, where an element of discrimination is involved (that is, where the central authorities exclude a defined group from the meaningful exercise of internal self-determination).“ 65
Polen unterscheidet zwischen einem primären und einem remedialen Recht zur Sezession.66 Das remediale Recht stütze sich auf die Prämisse, dass ein Staat internationale Menschenrechtsstandards und das humanitäre Völkerrecht verletzt und diese Verletzungen gegen ein Volk gerichtet sind, das den Staat bewohnt.67 Das remediale Recht komme daher als „last resort“ zum Tragen, um die Bevölkerung eines Territoriums vor widerrechtlichen Handlungen des Staats zu schützen.68 Die Basis der Beziehung zwischen dem Prinzip der territorialen Integrität und dem Selbstbestimmungsrecht ist für Russland die Schutzklausel, die zunächst in die FRD und dann in die Wiener Erklärung aufgenommen worden sei. Diese suggeriere, dass ein Staat, der die Rechte seiner Bewohner respektiere, durch das Prinzip der territorialen Integrität vor der Implementierung des Selbstbestimmungsrechts in Form der Sezession („externe Selbstbestimmung“)69 geschützt werde. Viele Autoren würden darauf hinweisen, dass das postkoloniale System kein Recht zur Sezession kenne oder zumindest eine starke Präferenz für die territoriale Integrität habe.70 Diese „interne Selbstbestimmung“ werde in der postkolonialen Welt bevorzugt.71
(Hrsg.), Cultural Human Rights, 2008, 41 ff., 46. Vgl. zur carence de souveraineté auch Crawford, Creation, 126. 65 Irland, s. St., Rz. 32 m.H auf Quebec-Gutachten, Rz. 122, 126 und 134; Tomuschat, Self-determination, 26; Hannum, Secession, 16; Crawford, Creation, 126 und Cassese, Self-determination, 119 f. 66 Polen, s. St., Rz. 6.4 m. H. auf Buchanan, Self-Determination, 271 ff. und Crawford, Creation, 119 ff. 67 Polen, s. St., Rz. 6.5. f. m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 126 ff. 68 Polen, s. St., Rz. 6.7 f. m.H auf Michael C. van Walt/Onno Seroo (Hrsg.), The Implementation of the Right to Self-determination as a Contribution to Conflict Prevention, Report of the International UNESCO Conference of Experts held in Barcelona, 21–27 November 1998, 22 ff. sowie Zitat der Schutzklausel der FRD und Hinweis auf die Wiener Erklärung. 69 Russland, s. St., Rz. 84 m. H. auf Cassese, Self-determination, 118 f. und Crawford, Creation, 112 und Zitat aus dem Quebec-Gutachten, Rz. 127: „the [. . .] principle of self-determination has evolved within a framework of respect for the territorial integrity of existing states.“ 70 Russland, s. St., Rz. 84 m. Zitat aus Crawford, Creation, 415; Rosalyn Higgins, Self-determination and Secession, in: Julie Dahlitz, Secession and International Law. Conflict Avoidance – Legal Appraisals, Den Haag/New York/Genf 2003, 21 ff., 36; Cassese, Self-determination, 112 und Tomuschat, Self-determination, 11. 71 Russland, s. St., Rz. 85 m. H. auf CERD-Ausschuss, Allgemeine Empfehlung Nr. 21 und Zitaten aus Quebec-Gutachten, Rz. 130 und Tomuschat, Self-determination, 16 f., der von einem „,federal‘ right to self-determination“ schreibt.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Nun sei fraglich, ob es eine Möglichkeit zur Sezession gebe, falls der betroffene Staat sich nicht gemäss dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhalte, sprich, nicht über eine Regierung verfüge, welche die gesamte Bevölkerung des Gebiets diskriminierungsfrei vertrete.72 Eine so bezeichnete remediale Sezession könne gemäss den Autoren, die ein solches Recht postulieren, nur unter „exteme conditions“ vollzogen werden, namentlich, „where violent acts of discrimination are continuously commited against the people in question and all the possibilities for a resolution of the problem within the existing state have been exhausted.“ 73 Die Sezession sei ein letztes Mittel, falls die eigentliche Existenz eines Volkes oder seiner charakteristischen Merkmale in Gefahr seien.74 Insofern sei Russland der Ansicht, dass der primäre Zweck der Schutzklausel der Schutz der territorialen Integrität der Staaten sei. Es sei wahr, dass die Klausel unter Umständen so ausgelegt werden könne, dass sie zur Sezession berechtige, aber dies sei auf extreme Umstände zu beschränken. Russland nennt als Beispiel einen „outright armed attack by the parent State“, der die eigentliche Existenz des Volkes gefährde. Ansonsten sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um die Spannungen zwischen dem Staat und der ethnischen Gemeinschaft innerhalb des bestehenden Staates beizulegen.75 Diese hohe Hürde sieht Russland im Falle der Sezession des Kosovo nicht als gegeben an; deshalb sei die Sezession völkerrechtswidrig.76 Das Selbstbestimmungsrecht beinhaltet für die Niederlande das Recht eines Volkes, seinen internen und externen politischen Status ohne externe Einmischung frei zu bestimmen.77 Sich für unabhängig zu erklären sei eine von verschiedenen Möglichkeiten, dieses Recht auszuüben. Die Unabhängigkeitserklärung führe zu einer Veränderung bestehender Grenzen und müsse daher als Fall der externen Ausübung angesehen werden.78 Ausserhalb der Kontexte von nicht
72
Russland, s. St., Rz. 86 m. Zitat der Schutzklausel der FRD. Russland, s. St., Rz. 87. 74 Russland, s. St., Rz. 87 m. Zitaten aus Tomuschat, Secession, 41 und Self-determination, 11; Cassese, Self-determination, 119; Oscar Schachter, Micronationalism and Secession, in: Ulrich Beyerlin/Michael Bothe/Rainer Hofmann/Ernst-Ulrich Petersmann, Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für Rudolf Bernhardt, Berlin et al. 1995, 179 ff., 185; Murswiek, Secession, 26 f.; Quebec-Gutachten, Rz. 126 und Hinweise auf Gerd Seidel, A New Dimension of the Right to Self-determination in Kosovo?, in: Christian Tomuschat (Hrsg.), Kosovo and the International Community, Den Haag 2002, 203 ff. sowie EGMR, Loizidou v. Turkey, Gesonderte Stellungnahme von Richter Wildhaber, unterstützt durch Richter Ryssdal. 75 Russland, s. St., Rz. 88. 76 Russland, s. St., Rz. 89 ff. 77 Niederlande, s. St., Rz. 3.4 m. Zitat aus den Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte, der FRD, der Wiener Erklärung und dem Kapitel VIII der Schlussakte von Helsinki. 78 Niederlande, s. St., Rz. 3.5. 73
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selbstverwalteten Gebieten, Besatzungen und konsensualer Übereinstimmung müsse ein Volk „in principle“ versuchen, das Selbstbestimmungsrecht in Berücksichtigung des Prinzips der territorialen Integrität und daher innerhalb bestehender Grenzen auszuüben.79 Als Ausnahme dieser Regel sei aber in „unique cases or cases sui generis“ davon auszugehen, dass sich das Recht zur politischen Selbstbestimmung als ultimum remedium in ein Recht zur externen Selbstbestimmung entwickeln könne. Diese Rechtsansicht könne sich e contrario aus der Schutzklausel der FRD ergeben.80 Aus der Schutzklausel ergebe sich, dass sich das Prinzip der territorialen Integrität nicht unter allen Umständen durchsetzen könne, falls sich ein Staat nicht in Konformität mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker verhalte. Danach gehen die Niederlande auf das Gutachten 2 der Badinter-Schiedskommission ein, wonach „the right to self-determination must not involve changes to existing frontiers at the time of independence (uti possidetis iuris) except where the States concerned agree otherwise.“ Gemäss den Niederlanden bezieht sich dieser Satz auf eine Regel zur Festlegung der Grenzen nach einer Unabhängigkeitserklärung und betrifft nicht das Recht, sich für unabhängig zu erklären. Die jetzigen Grenzen des Kosovo würden vorbestehende internationale und innerstaatliche Grenzen respektieren und seien daher mit dem Gutachten 2 vereinbar. Das Verhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem uti possidetis iuris-Prinzip müsse aber im Kontext des aktuellen Falls tiefergehend analysiert werden.81 Von hier gehen die Niederlande auf die Voraussetzungen der Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechts ein. bb) Die Voraussetzungen der externen Ausübung Die Proponenten der Position 2 identifizieren zwei Voraussetzungen des remedialen Rechts zur Sezession, die kumulativ gegeben sein müssen: Erstens eine aussergewöhnlich schwere und lang anhaltende Verweigerung des internen Selbstbestimmungsrechts einer Gruppe durch den Staat, in dem die Gruppe lebt (gemäss den Niederlanden ist dies die materielle Voraussetzung). Zweitens die Ausschöpfung aller anderen Optionen zur Beendigung des Konflikts (externe Ausübung als ultima ratio; gemäss den Niederlanden die prozedurale Voraussetzung).
79
Niederlande, s. St., Rz. 3.6. Niederlande, s. St., Rz. 3.7. 81 Niederlande, s. St., Rz. 3.8. m. Zitat aus IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), Rz. 25. 80
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
(1) Lang anhaltende und schwere Verunmöglichung der Ausübung des internen Selbstbestimmungsrechts Die erste Voraussetzung ist für Deutschland erfüllt, wenn: „the authorities of a state in which a certain, distinct group is living consistently and over a considerable period of time deny to this group any right to have a say in matters directly concerning it, by denying it any decisional autonomy as well as any meaningful participation in the deliberations on the central level.“ 82
Deutschland unterscheidet diesen Zustand von Menschenrechtsverletzungen, obwohl letztere wohl auch an der Tagesordnung seien: „While this will usually – as in the case of Kosovo – go hand in hand with severe human rights violations, [. . .] it is really the denial of internal self-determination which counts for this argument.“ 83 Estland formuliert die erste Voraussetzung mit Zitat aus dem Quebec-Gutachten: „[. . .] the underlying proposition is that, when a people is blocked from the meaningful exercise of its right to self-determination internally, it is entitled, as a last resort, to exercice it by secession.“ 84 Diese sei im Fall des Kosovo gegeben.85 Die Niederlande verweisen auf die ARSIWA. Eine Verletzung einer zwingenden völkerrechtlichen Bestimmung sei schwerwiegend, wenn sie eine schwere oder systematische Nichterfüllung der infrage stehenden Pflicht darstelle.86 Eine systematische Verletzung liege vor, wenn sie organisiert und absichtlich durchgeführt werde, eine schwere, wenn sie flagrant sei, „amounting to a direct and outright assault on the values protected by the rule“.87 Eine Verletzung der Pflicht, das Selbstbestimmungsrecht zu respektieren und zu fördern, liege vor, wenn grundlegende Menschenrechte verweigert würden oder eine Regierung bestehe, die nicht die ganze Bevölkerung eines Territoriums repräsentiere.88 Letzteres könne auch als Verweigerung des internen Selbstbestimmungsrechts bezeichnet werden. Im Falle des Kosovo sei diese Voraussetzung gegeben.89
82
Deutschland, s. St., Rz. 35. Deutschland, s. St., 35 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 134. 84 Quebec-Gutachten, Rz. 134. 85 Estland, s. St., 6 ff. m. H. auf zahlreiche internationale Dokumente zur Situation im Kosovo von 1992 bis 1999. 86 Niederlande, s. St., Rz. 3.9 m. H. auf Art. 40 Ziff. 2 ARSIWA. 87 Niederlande, s. St., Rz. 3.9 m. Zitat aus ARSIWA, mit Kommentaren, Art. 40. 88 Niederlande, s. St., Rz. 3.10 m. H. auf die und Zitat aus der FRD. 89 Niederlande, s. St., Rz. 3.12 m.w. H. 83
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(2) Die Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechts als ultimum remedium Die Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechts darf gemäss Albanien nur als ultimum remedium erfolgen.90 Albanien sieht diese Voraussetzung im Falle des Kosovo erfüllt, weil die langen Verhandlungen keine Lösung gebracht hätten.91 Martti Ahtissaari habe in seinem Abschlussbericht festgehalten, dass die Unabhängigkeit des Kosovo die einzig realistische Lösung sei. Selbst die nach dem Bericht durchgeführten Troika-Verhandlungen konnten keine Annäherung der Streitparteien bewirken. In dieser Situation sei die Annahme der Unabhängigkeitserklärung die einzige Möglichkeit gewesen, eine mit dem Selbstbestimmungsrecht des kosovarischen Volkes vereinbare Lösung herbeizuführen.92 Die zweite Voraussetzung ist für Deutschland gegeben, wenn alle anderen „possible ways of remedying the situation“ ausgeschöpft worden sind.93 Solche anderen Möglichkeiten seien beispielsweise Verhandlungen oder der Rückgriff auf die Hilfe internationaler Organisationen. Im Fall des Kosovo seien beide Voraussetzungen erfüllt. Auch für Estland ist entscheidend, dass alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssten, bevor das Selbstbestimmungsrecht extern ausgeübt werden könne. Dies sei im Fall von Kosovo erfüllt.94 Die Pflicht zur Ausschöpfung aller anderen zur Verfügung stehenden Mittel bezeichnen die Niederlande als prozedurale Voraussetzung.95 Alle verfügbaren Prozeduren zur Sicherstellung der Respektierung und Förderung des Selbstbestimmungsrechts müssten ausgeschöpft worden sein. Dazu gehörten bilaterale Verhandlungen, der Beizug von Drittparteien und, falls zugänglich, der Gang vor innerstaatliche und/oder internationale (Schieds-)Gerichte. Auch diese Voraussetzung sei im Falle des Kosovo erfüllt.96 (3) Weitere Voraussetzungen: Referendumspflicht? Einhaltung von Menschen- und Minderheitenschutzstandards? Für Albanien muss eine endgültige Lösung zum Status des Kosovo selbstverständlich das Selbstbestimmungsrecht der Kosovaren berücksichtigen. Dies sei 90
Lettland, s. St., Rz. 7. Albanien, s. St., Rz. 96. 92 Albanien, s. St., Rz. 105. 93 Deutschland, s. St., 35. 94 Estland, s. St., 9 ff. u. a. m. H. auf S/RES/1244, den Ahtisaari-Bericht (Ziff. 1, 3 und 5) und die Verhandlungen der Kosovo-Troika (vgl. u. a. S/2007/723). 95 Niederlande, s. St., Rz. 3.11. 96 Niederlande, s. St., Rz. 3.14. 91
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nur gegeben, wenn das Volk über ein Referendum oder durch Wahl von Vertretern seine Zustimmung gegeben habe.97 Die Annahme der Unabhängigkeitserklärung durch die kosovarische Volksversammlung, den Staatspräsidenten und den Premierminister erfülle diese Voraussetzung.98 Darüber hinaus respektiere und garantiere die neue kosovarische Rechtsordnung die Menschen- und Minderheitenrechte und strebe freundschaftliche nachbarschaftliche Beziehungen an.99 Auch für die Schweiz ergibt sich aus der engen Verbindung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und den grundlegenen Rechten in einer demokratischen Gesellschaft, dass ersteres nur dann ausgeübt werden könne, wenn dies dem Willen einer Mehrheit in dem bestimmten Territorium entspreche. Dies sei im Falle des Kosovo gegeben.100 (4) Verwirkung des Rechts zur Sezession? Das remediale Recht besteht für Deutschland nicht unbegrenzt. Wenn sich die Situation, die eine Sezession rechtfertige, ändere, müsse unter Berücksichtigung des Einzelfalls und insbesondere der Schwere der vorbestehenden Situation entschieden werden, ob ein solches Recht noch bestehe.101 Zwei Gesichtspunkte seien entscheidend: Erstens könne ein solches Recht nur verwirkt werden, wenn sich die Situation derart geändert habe, dass es sich aus den Umständen ergebe, dass der Wechsel dauerhaft und sicher („permanent and reliable“) sei. Im Falle des Kosovo sei dies nicht gegeben.102 Der zweite Gesichtspunkt sei, dass die Zeit, die für eine Ausschöpfung der anderen Möglichkeiten genutzt worden sei, den Sezessionisten nicht entegegengehalten werden dürfe.103 Estland hält fest, dass das Recht nicht mehr bestehe, wenn die beiden Voraussetzungen nicht mehr gegeben seien: „It can be argued that since for several years 97 Albanien, s. St., Rz. 93 m. H. auf Jochen A. Frowein, The Protection of Human Rights in Europe and the Right to Self-determination, in: Academia Scientiarum et Artium Kosoviensis, Studime 10, 2004, 9 ff., 16 f. 98 Albanien, s. St., Rz. 104. 99 Albanine, s. St., Rz. 106 ff. m.w. H. 100 Schweiz, s. St., Rz. 78 f. m. H. auf S/2007/768, Ziff. 3 und die Unabhängigkeitserklärung, Ziff. 2. 101 Deutschland, s. St., 36. 102 Deutschland (s. St., 36) verweist auf die Schlussfolgerung von Martti Ahtisaari, wonach Belgrad die Kontrolle über den Kosovo nicht ohne gewälttätigen Widerstand wiederherstellen könne, auf die Änderung der serbischen Verfassung von 2006 und darauf, dass der in der Verfassung garantierte Autonomiegrad gänzlich von der serbischen Nationalversammlung bestimmt werden könne. 103 Deutschland, s. St., 37: „[. . .] the fact that over several years [. . .] the Kosovars attempted to arrive at a consensual solution cannot now serve as a basis for the argument that during this time the Kosovars have lost their right of exernal self-determination by this very lapse of time.“
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in Kosovo there was no violence from the side of the Serbian government, in 2008 the time had lapsed to make use of the right to secession.“ 104 Estland formuliert gegen diese Begründung den Einwand, dass der Kosovo das Selbstbestimmungsrecht während der Verhandlungen mit Serbien nicht hätte ausüben können und dass die territoriale Integrität von Serbien während dieser Zeit geschützt gewesen sei. Erst nachdem die Verhandlungen zu keiner Lösung geführt hätten, konnte der Kosovo von diesem Recht Gebrauch machen. d) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Sezession kann ausnahmsweise als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts rechtmässig sein. Um diese Hauptthese zu sützen, gehen die Proponenten folgenden Weg: Erstens formulieren sie die systemische Beziehung zwischen den Rechtsgütern der territorialen Integrität der Staaten und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Von hier gehen sie auf die Frage nach den Trägern des Selbstbestimmungsrechts und der inhaltlichen Tragweite ihres Rechts ein. Dann formulieren sie die Voraussetzungen der Ausübung des remedialen Rechts zur Sezession. Ein erster Ausgangspunkt der systemischen Einordnung der Sezession ist die Gleichstellung der betroffenen Rechtsgüter aufgrund der FRD und der Schlussakte von Helsinki. Ein zweiter formuliert eine Regel-Ausnahme-Beziehung. Für beide Ausganspunkte hat das Völkerrecht als dynamisches System einen Wandel durchgemacht, der zur Anerkennung eines remedialen Rechts zur Sezession geführt hat. Der Wandel wird vor allem anhand der Annahme von zentralen völkerrechtlichen Dokumenten und der IGH-Rechtsprechug dargestellt. Die Niederlande bringen den Wandel durch einen Vergleich zwischen dem Gutachten 2 der Badinter-Schiedskommission und dem Quebec-Gutachten zum Ausdruck. Die Sezession ist demzufolge nach wie vor eine Verletzung der territorialen Integrität des betroffenen Staats, im Gegensatz zur Position 1 kann sie jedoch als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker gerechtfertigt werden. Während die Stellung und die erga omnes-Wirkung des Selbstbestimmungsrechts epistemischen Charakter haben, stützt sich die Hauptthese des remedialen Rechts zur Sezession auf thetische Theorie. Die Proponenten verweisen selbst auf die Uneinigkeit im völkerrechtlichen Schrifttum und auf die spärliche rechtsgenerative Praxis. Der thetische Charakter der These zeigt sich exemplarisch an der Stellungnahme der Niederlande, die den Gerichtshof geradezu auffordern, autoritativ festzustellen, dass das Recht existiere. 104
Estland, s. St., 11.
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Die Niederlande wählen für den Übergang zur Trägerschaft den prozeduralen Weg. Das kosovarische Volk sei insbesondere in den Rambouillet-Abkommen anerkannt worden. Damit vertreten die Niederlande die Gegenthese zu Serbien und Argentinien, die auch von einer prozeduralen Anerkennung ausgehen, eine Anerkennung durch die Abkommen aber explizit ausschliessen. Die Schweiz geht als erster Staat auf die Eigenschaften des Volkes ratione personae ein. Sie verweist auf die notwendige Vagheit des Begriffs und verknüpft ihn mit dem Prinzip der Gleichberechtigung und der Demokratie. Die Schweiz definiert den Begriff, indem sie ihn von demjenigen der Gruppe abgrenzt: Im Gegensatz zur Gruppe verfüge das Volk über eine gemeinsames Bewusstsein und einen politischen Willen. Die Schweiz stützt sich hier auf ein demokratisch verstandenes Selbstbestimmungsrecht, das am subjektiven Willen anknüpft.105 Sie findet dann über die Voraussetzung des gemeinsamen Territoriums zum zentralen orientierenden Konzept der Territorialität zurück. Über diese letzte Voraussetzung vollzieht die Schweiz den Übergang zu den epistemischen Kategorien ratione materiae. Alle Proponenten der Position 2 anerkennen die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts auf die epistemischen Kategorien der kolonialisierten oder anderswertig beherrschten Völker und auf besetzte Gebiete. Im Gegensatz zur Position 1 formulieren sie aber Kategorien, die auch auf unabhängige und souveräne Staaten Anwendung finden und sich nicht mit der gesamten Staatsbevölkerung decken: Die Schweiz reiht den Kosovo in die Kategorie der nicht selbstregierten Gebiete ein. Polen formuliert die Kategorie eines Volkes, das einen Staat bewohne, der die interne Ausübung des Selbstbestimmungsrechts nicht zulasse. Estland gesteht Minderheiten und Russland bestimmten Gruppen innerhalb eines Staates ein remediales Recht zur Sezession zu. Hier wählen die Proponenten der Position 2 somit unterschiedliche Wege: Während die Niederlande den Weg einer prozeduralen Anerkennung gehen, subsumiert die Schweiz den Kosovo unter die Kategorie der nicht selbstregierten Gebiete und Estland und Russland gestehen Gruppen innerhalb unabhängiger Staaten das thetische remediale Recht zur Sezession zu. Die wichtigste Rechtsgrundlage für den Übergang zur These, dass es ein remediales Recht gebe, ist die Schutzklausel der FRD. Polen verbindet die Unterscheidung zwischen einem primären und einem remedialen Recht zur Sezession mit 105 Vgl. Thürer, 15 ff. und 40 f. Im Gegensatz dazu stützt sich der Kosovo auf ein nationales Selbstbestimmungsrecht: Vgl. unten § 10 I.2.b). In der neueren Literatur wird diese vom Territorium losgelöste Identifizierung der Träger über den politischen Willen unter dem Schlagwort der Deterritorialisierung besprochen: vgl. Catherine Brölmann, Deterritorialization in International Law: Moving Away from the Divide Between National and International Law, in: Janne E. Nijman/André Nollkaemper, New Perspectives on the Divide Between National and International Law, Oxford 2007, 85 ff.; Ingrid Barnsley/Roland Bleiker, Self-determination: from decolonization to deterritorialization, in: Global Change, Peace & Security (ehemals Pacifica Review: Peace, Security & Global Change), Vol. 20, Nr. 2, 2008, 121 ff.
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der Rz. 126 des Quebec-Gutachtens, das mit der FRD zwischen einer internen und einer externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts unterscheidet. Auch Russland stützt sich auf die FRD, deren Schutzklausel grundsätzlich die territoriale Integrität schütze, in extremen Ausnahmefällen aber eine Sezession zulasse. Und auch die Niederlande stützen sich auf die Schutzklausel. Sie halten darüber hinaus fest, dass eine Sezession nicht durch das uti possidetis iuris-Prinzip verboten werde, weil dieses sich auf die Festlegung der Grenzen nach einer Unabhängigkeitserklärung beziehe. Albanien verweist neben der FRD als zweite Begründungsstruktur auf die Präzedenzfälle der Niederlande (1581), des Veltlins (1620)106 und der USA (1776). Dieser Übergang zeigt die lange Tradition wohl begründeter Aufstände auf, fügt sich jedoch nicht in die systemische Begründungsstruktur der Position 2 ein, die die Hauptthese auf einen Wandel des völkerrechtlichen Systems stützt, der nach dem zweiten Weltkrieg eingesetzt hat. Deutschland geht von einer folgenorientierten Juxtaposition aus und setzt das remediale Recht zur Sezession in die Entwicklung der Humanisierung des Völkerrechts.107 In einem ersten Schritt begründet es die Existenz einer externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch ihre Verbindung mit der epistemischen internen Ausübung. Der Übergang erfolgt mit Deutschland dadurch, dass die epistemische interne Ausübung ohne Möglichkeit der externen Variante bedeutungslos würde. Diese Verbindung stellt auch die Schweiz her.108 Sie stützt den Übergang durch mehrere Verweise auf das Schrifttum: Crawford äussert sich an der angegebenen Stelle unter anderem zur Schutzklausel und zum QuebecGutachten und hält als Fazit fest, dass eine Ausweitung des Begriffs des Volkes i. S. des Selbstbestimmungsrechts „still tentative (de lege ferenda)“ sei.109 Daniel Thürer räumt ein remediales Recht zur Sezession als Ausnahme ein, wenn: „sich ein Regime einer gezielt gegen ein Volk gerichteten, deren Existenz oder kulturelle Identität bedrohenden, schwerwiegenden Verletzung von Menschenrechten schuldig“ macht. Die Sezession ist dann als ultima ratio ein Recht „zur Sicherstellung eines Grundstandards von Menschenrechten.“ 110 106 Albanien spricht hier wohl den sogenannten Veltliner Mord („sacro macello“) an. Während eines Pogroms gegen die reformierte Bevölkerung im Veltin wurden 1620 mehrere hundert Personen ermordet. 107 Vgl. dazu IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme von Richter Cançado Trindade, Rz. 170 sowie z. B. Theodor Meron, The Humanization of International Law, The Hague Academy of International Law Monographs, Vol. 3, Leiden/Boston 2006 und Anne Peters, Humanity as the A and W of Sovereignty, in: EJIL, Vol. 20, Nr. 3, 2009, 513 ff. 108 Schweiz, s. St., Rz. 66 u. a. m. H. auf Crawford, Creation, 119; Cassese, Self-determination, 109 ff.; Thürer, 15 f.; Doehring, 57 f.; Tomuschat, General Course, 253 f. und Murswiek, Sezession, 313 f. 109 Crawford, Creation, 121. 110 Daniel Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Anerkennung von Staaten, in: Hanspeter Neuhold/Bruno Simma (Hrsg.), Neues europäisches Völkerrecht nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes?, Baden-Baden 1996, 43 ff., 50.
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Karl Doehring schreibt: „[. . .] one could argue that the right to self-determination laid down in Art. 1 of the Convenants includes the right to resist such violations as a form of self-defence, and that secession, even through the use of force, might offer the only possible defensive reaction to brutal oppression.“ 111 Diese Autoren stellen eine Verbindung zwischen der Sezession und dem Menschenrechtsschutz her, der auch als Teil der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts angesehen werden kann. Am deutlichsten wird die Verbindung zwischen interner und externer Ausübung von Cassese und Murswiek hervorgehoben. Antonio Cassese kommt in seiner Untersuchung zur Schutzklausel der FRD zu folgendem Schluss: „[T]he contention could be made that the [FRD] links external self-determination to internal self-determination in exceptional circumstances. A racial or religious group may attempt secession, a form of external self-determination, when it is apparent that internal self-determination is absolutely beyond reach.“ 112
Dietrich Murswiek weist darauf hin, dass sich eine Sezession aufgrund einer diskriminierenden Politik auf die FRD stützen könne, dass die FRD aber die Problematik nicht vollständig erfasse. Beispielsweise werde die Problematik nicht erfasst, dass eine schematische Gleichbehandlung die Diskriminierung eines Minderheitenvolks nach sich ziehen könne. Murswiek führt das Beispiel an, dass ein Staat die Sprache der Mehrheit zur alleinigen Amts- und Schulsprache erklärt. Dies könne dazu führen, dass keine Diskriminierung im Sinne der FRD vorliegt, weil die Regierung die gesamte Bevölkerung ohne Unterschied von Rasse, Glauben und Hautfarbe repräsentiert, dass aber ein Minderheitenvolk trotzdem diskriminiert wird. Für Murswiek gibt es daher ein über die FRD hinausgehendes Sezessionsrecht, das sich auf die Literaturmeinung und nicht eine VN-Resolution abstützen lässt: „Dass die unzumutbare, nicht anders abwendbare Diskriminierung eines Volkes ein Sezessionsrecht begründet, ergibt sich nämlich daraus, dass anders das Selbstbestimmungsrecht im Kern funktionslos würde.“ 113 Die zitierten Autoren stellen eine Verbindung zwischen der internen und der externen Ausübung her. Deutschland und die Schweiz reaktualisieren diese Abschnitte und bringen sie in das Verfahren ein. In der Verbindung zwischen der internen und der externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts kann der Versuch gesehen werden, die thetische Hauptthese durch epistemische Theorie zu stützen. Die Begründung knüpft bei der mittlerweile unumstrittenen internen Dimension an, die auch von allen Proponenten der Position 1 anerkannt wird, und versucht, die thetische Hauptthese darauf zu stützen. Gegen eine solche Verbindung zwischen der internen und externen Ausübung spricht sich Peter Hilpold aus.114 Für ihn könne man 111 112 113 114
Doehring, 58. Cassese, Self-determination, 120. Murswiek, Sezession, 314. Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten, 72.
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eine territoriale Abspaltung als ultima ratio mit grösster Vorsicht zwar in Betracht ziehen, sie aber nicht zu einem „normalen Instrument politisch-diplomatischer Überlegungen und Dispositionen“ erheben.115 Deutschland schränkt das Recht zur Sezession nun wieder mit dem Hinweis darauf ein, dass ein zu breit verfügbares Recht zur Sezession den internationalen Frieden gefährden würde. Im Schrifftum kann man dieser Auffassung in Form der Selbstmörderclub-These begegnen.116 Für Peter Hilpold würden die Staaten erstens keine Norm befürworten, die ihre Existenz gefährde. Zweitens könne eine solche Norm gemäss Schätzungen zur Emergenz von 1.500 bis 3.000 Staaten führen. Dies würde die Normsetzung auf internationaler Ebene, das gesamte System der IOs und der kollektiven Sicherheit sowie das Gewaltanwendungsverbot obsolet machen. Estland stützt sich auf die Stabilität des internationalen Staatensystems, um ein absolutes Sezessionsverbot abzulehnen. Es richtet die Sezession als Rechtsbehelf funktional auf die Erhaltung der internationalen Sicherheit, des Friedens und der Stabilität aus und wählt damit ähnliche Übergänge wie die Niederlande und Deutschland. Irland stützt die These des remedialen Rechts auf den Aaland-Fall und das Konzept der carence de souveraineté ab. Es nähert sich damit der Begründungsstruktur der Position 4. Alle Proponenten der Position 2 gehen in einem ersten Schritt vom Idealfall der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts in einem bestehenden Staat aus. Hier deckt sich die Position 2 mit der Position 1. Sie unterscheiden sich, sobald diese interne Ausübung nicht mehr möglich ist: Die Position 2 stellt in diesem Fall das Selbstbestimmungsrecht über die territoriale Integrität, die Position 1 nicht. Notabene begründen beide Positionen ihre Übergänge mit Hinweis auf die Stabilität des internationalen Systems. Die Voraussetzungen der Ausübungen des remedialen Rechts zur Sezession sind unumstritten.117 Alle Proponenten der Position 1 und 2 formulieren die gleichen Voraussetzungen. Die Frage nach der Verwirkung des Rechts kann als Einwand gegen die Begründung von Argentinien und Rumänien gelesen werden. Diese haben festgehalten, dass die Voraussetzungen vielleicht im Jahre 1999, aber sicher nicht im Jahr 2008 gegeben waren. Deutschland und Estland setzen diese beiden Zeitpunkte nicht in einen Gegensatz zueinander, sondern in Kontinuität: Die Zeit sei für Ver-
115
Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten, 72. Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten, 55. Vgl. auch Agenda for Peace, Ziff. 17. 117 Vgl. zur Referendumspflicht: Arp, 858 ff. 116
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
handlungen genutzt worden. Wenn man die Ausschöpfung aller Möglichkeiten zu den Voraussetzungen der Ausübung des remedialen Rechts zählt (so wie es auch Rumänien macht), ist es tatsächlich widersprüchlich, diese Zeit der Ausübung entgegenzuhalten. Insofern fügt sich hier der Weg, den Deutschland und Estland gewählt haben, besser in die Voraussetzungen des remedialen Rechts ein als derjenige von Argentinien und Rumänien. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Die Proponenten orientieren sich am Konzept des Territoriums, setzen diesem aber in bestimmten Fällen dasjenige der Selbstbestimmung der Völker entgegen. Das Territorium ist grundsätzlich in seiner Integrität geschützt. Unabhängige Staaten können sich jedoch nur auf diesen Schutz berufen, solange alle Bewohner des Staatsterritoriums ihr Selbstbestimmungsrecht intern ausüben können. Die territoriale Integrität ist hier somit nicht mehr Selbstzweck, sondern funktional auf die Möglichkeit der Selbstbestimmung der Bewohner des Territoriums ausgerichtet. Der Schutz des Territoriums kann mit der Verunmöglichung dieser Ausübung wegfallen. In diesem qualifizierten Fall ist die Sezession als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts rechtmässig. Hier ergibt sich im Vergleich zur Position 1 ein Rahmenwechsel: Die Sezession ist nicht mehr ein Verlust eines Teils des Territoriums, sondern eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechts. Mit dem Rahmenwechsel verschiebt sich der Fokus auf den vorliegenden Fall von Serbien zum Kosovo und vom Territorium zum Volk. Was nach wie vor nicht in den Blick kommt, ist die Bevölkerung des betroffenen Staates und der Bevölkerungsteil des neuen Staates, der nicht dem Volkswillen zugerechnet werden kann, sich also gar nicht oder gegen eine Sezession ausgesprochen hat. Insgesamt gehen die Proponenten von einem Wandel zu einem humanisierten Völkerrecht aus. Als neue Orientierung bieten sie die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession an. 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 2 Die Proponenten der Position 1 haben sich schon in der ersten Runde zur hypothetischen These des remedialen Rechts zur Sezession geäussert. Diese Äusserungen werden hier als Einwände zur Position 2 dargestellt. a) Allgemeine Einwände zur Theorie der remedialen Sezession Für Argentinien ist die „so-called theory of „remedial secession“ [. . .] nothing more than an argument made in doctrine, and which has not received any legal
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consecration.“ 118 Minderheiten seien in keinem Fall Träger des Selbstbestimmungsrechts. Das Kriterium, ob sie Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen geworden seien oder nicht, führe zu keiner Differenzierung. Selbst in der schlimmsten Phase des Kosovo-Konflikts 1998 und 1999 habe der Sicherheitsrat in allen Resolutionen den Schutz der territorialen Integrität der FRJ betont. Das ist gemäss Argentinien gleichbedeutend mit der Aberkennung jeglichen remedialen Rechts zur Sezession.119 Auch Rumänien geht auf das remediale Recht zur Sezession ein.120 Dies sei die Ausnahme zur Regel, dass die territoriale Integrität geschützt werde: „The exception may tentatively be justified by the language found in the [safeguard clause of the FRD].“ 121 Mit Hilfe dieses Texts könne allenfalls argumentiert werden, dass in Staaten, in denen das Selbstbestimmungsrecht nicht respektiert werde, die davon betroffenen Gruppen ein eigenes Selbstbestimmungsrecht im Sinne eines Rechts zur Sezession hätten. Diese Theorie sei vom Obersten Gerichtshof von Kanada im Quebec-Gutachten und von der Association of the Bar of the City of New York analysiert worden.122 Beide seien zum Schluss gekommen, dass in den untersuchten Fällen – Quebec und Transnistrien – die Voraussetzungen für die Ausübung eines solchen Rechts nicht gegeben waren. Obwohl die Theorie des Rechts zur remedialen Sezession insbesondere wegen fehlender Staatenpraxis noch nicht vollständig etabliert sei, könne es interessant sein, sie auf den vorliegenden Fall anzuwenden, um herauszufinden, ob sich die Kosovaren im Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung auf ein solches Recht stützen konnten. Dazu seien zwei Voraussetzungen entscheidend: erstens, ob die Kosovaren zu diesem Zeitpunkt Opfer einer „gross violation of human rights or other forms of opression capable to deny it any meaningful exercise of its right to selfdetermination internally“ waren. Zweitens, ob in diesem Fall den Kosovaren keine anderen Mittel zur Verfügung standen, um ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben („last resort“). Bezüglich der ersten Voraussetzung hält Rumänien fest, dass sie 1999 erfüllt gewesen sei. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt sei ein remediales Recht zur Sezes-
118
Argentinien, s. St., Rz. 85 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 134 f. Argentinien, s. St., Rz. 86 m. H. auf S/RES/1199(1998), 1203 (1998), 1244 (1999). 120 Rumänien, s. St., Rz. 132: „From the general rule according to which the primary units to which the rights to self-determination applies are the existing states, the doctrine formulated a possible exception [. . .].“ 121 Rumänien, s. St., Rz. 133. 122 Rumänien, s. St., Rz. 135 f. m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 126 und 134 sowie den hauptsächlich von Christopher J. Borgen geschriebenen Bericht der Association of the Bar of the City of New York zu Transnistrien (http://www.nycbar.org/pdf/report/ NYCity%20BarTransnistriaReport. pdf). 119
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sion von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt worden.123 Entscheidend sei aber die Situation, wie sie sich fast zehn Jahre später präsentiere. Kosovo sei zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung nicht unter der de factoHerrschaft von Serbien gestanden. Selbst wenn dem so gewesen wäre, wäre die erste Voraussetzung nicht mehr erfüllt gewesen. Die serbische Verfassung beinhalte demokratische und menschenrechtliche Garantien, die von der Regierung grundsätzlich auch respektiert worden seien.124 Daher sei die „obvious conclusion“, dass Serbien im Moment der Unabhängigkeitserklärung die universellen und europäischen Menschenrechtsstandards respektierte und die erste Voraussetzung daher nicht gegeben war.125 Mit einem Zitat aus einer Rede der damaligen schweizerischen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey hält Serbien fest, dass einige Staaten die Anerkennug des Kosovo auf ein remediales Recht zur Sezession gestützt hätten.126 Die Annahme eines solchen Rechts sei höchst kontrovers und von den VN nie unterstützt worden. Sezession sei keine Rechtsfolge. Wenn ein Staat das Selbstbestimmungsrecht und internationale Menschenrechtsstandards missachte, sei die erste Rechtsfolge, dass der Staat diese Missachtung beenden und sich völkerrechtkonform verhalten müsse. Dies gelte für alle unrechtmässigen Handlungen. Die zweite Rechtsfolge könne sich im Sinne einer Reparationspflicht ergeben. Ein Recht zur remedialen Sezession ginge aber weit darüber hinaus. Ein solches Recht würde als Sanktion klarerweise nicht in das Rechtsgebiet der internationalen Verantwortung für unrechtmässige Handlungen passen. Ein Verlust des Territoriums sei dem Völkerrecht als Sanktion völlig unbekannt.127 Ein weiterer Einwand ergebe sich aus einer anderen Perspektive: Die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession impliziere nämlich, dass eine Minderheit durch eine grobe Diskriminierung zu einem Volk werden würde, dem ein exter123 Rumänien, s. St., Rz. 145 ff. m. H. auf S/RES/1244 und CERD-Ausschuss, Report of the Committee on the Elimination of Racial Discrimination, Fifty-fourth session (1–19 March 1999) and Fifty-fifth session (2–27 August 1999), Ziff. 4 der Decision 1 (55), in: A/54/18 vom 29. September 1999. 124 Rumänien, s. St., Rz. 151 ff. m. H. auf Art. 2 und Teil II und III der Serbischen Verfassung von 2006, Venedig-Kommission, Opinion on the Constitution of Serbia vom 19. März 2007, Opinion No. 405/2006, CDL-AD(2007)004 und den 2008 Human Rights Report of the State Department on Serbia vom 25. Februar 2009 (http://www. state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2008/eur/119103.htm). 125 Rumänien, s. St., Rz. 156. 126 Serbien, s. St., Rz. 626 m. H. auf Les priorités de la politique étrangère de la Suisse, Discours de Madame Micheline Calmy-Rey, 10e anniversaire du „Forum Suisse de politique internationale“, Genève, 7 March 2008: „[. . .] En revanche, [la garantie de l’intégrité territoriale et la souveraineté par le droit international] échoit si l’Etat en question ne protège plus ses citoyens, viole le droit des peuples à l’autodétermination de façon systématique et flagrante, comme l’a fait la Serbie à l’égard de la très grande majorité des habitants du Kosovo.“ 127 Serbien, s. St., Rz. 628 m. H. auf Art. 41 ARSIWA.
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nes Selbstbestimmungsrecht zukäme. Dies sei eine neue Kategorie von „Volk“, die weder in einem internationalen Dokument noch in der Praxis vorkomme. Hier sei eben die etablierte Unterscheidung zwischen Minderheiten und Völkern entscheidend. Minderheiten seien klarerweise nicht Träger eines externen Selbstbestimmungsrechts. Der geeignete Weg, schweren Menschenrechtsverletzungen zu begegnen, sei über die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands und Reparationen für den entstandenen Schaden. Solche Verletzungen seien auf die diskriminierende Politik einzelner Regierungen zurückzuführen und somit per definitionem vorübergehende Situationen, die nur so lange anhielten, wie die Regierung an der Macht sei. Eine radikale Lösung wie die Sezession sei aber dauerhaft, weil Staaten mit der Absicht eines dauerhaften Bestehens etabliert würden: „There is no reason to respond to a temporary situation with a permanent disruption.“ 128 Unterschiedliche Autonomie- und Selbstverwaltungslösungen seien die viel geeignetere Variante. Ein weiterer von Serbien erhobener Einwand ist, dass weder staatliche Gerichte noch Menschenrechtsausschüsse und -gerichte die Doktrin des remedialen Rechts zur Sezession je unterstützt hätten.129 Der Oberste Gerichtshof von Kanada habe im Quebec-Gutachten festgehalten, dass „it remains unclear whether [the remedial right to secession] actually reflects an established international law standard.“ 130 Der Oberste Gerichtshof Russlands habe in Bezug auf die Sezessionsbestrebungen von Tatarstan festgehalten, dass sich diese nicht auf völkerrechtliche Menschenrechts- und Selbstbestimmungsstandards stützen könnten.131 Auch die Afrikanische und die Interamerikanische Menschenrechtkommission hätten festgehalten, dass das Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten nicht zu einem Recht zur Sezession führen könne.132 b) Einwände zur e contrario-Auslegung der Schutzklausel der FRD Es stellt sich die Frage, ob sich die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession auf die Schutzklausel der FRD stützen kann. Mit einer e contrario-Ausle128
Serbien, s. St., Rz. 630. Serbien, s. St., Rz. 634 ff. 130 Serbien, s. St., Rz. 635 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 134 f. 131 Serbien, s. St., Rz. 636 u. a. m. H. auf Russian Supreme Court, Re the Constitutionality of the Declaration of State Sovereignty of the Tatar Soviet Socialist Republic of August 30, 1990, No. 3-P vom 13. März 1992. 132 Serbien, s. St., Rz. 637 ff. m. H. auf Afrikanische Menschenrechtskommission, Advisory Opinion of the African Commission on Human and People’s Rights on the United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, adopted at its 41st Ordinary Session, Mai 2007, Rz. 23 f. und Interamerikanische Menschenrechtskommission, The Miskito Case, Case 7964 (Nicaragua), Report on the Situation of a Segment of the Nicaraguan Population of Miskito Origin, OEA/Ser.L./V.II.62, doc. 10 rev. 3 vom 29. November 1983, Part Two (B), § 9 und 15. 129
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gung der sogenannten Schutzklausel könnte man behaupten, dass gegen Staaten, die nicht über eine Regierung verfügen, welche nicht die gesamte Bevölkerung ohne Unterscheidung bezüglich der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt, Massnahmen, welche die territoriale Integrität verletzen, zulässig seien. Gegen eine solche These haben verschiedene Akteure dieser Gruppe Einwände erhoben. Argentinien hat folgende Einwände formuliert: Noch nie habe ein dafür zuständiges Gremium die Schutzklausel so ausgelegt. Weder die Materialien noch die nachfolgende Praxis liessen eine solche Auslegung zu.133 Bezüglich der nachfolgenden Praxis verweist Argentinien auf die Schlussakte von Helsinki (Prinzip IV, I und III), die Allgemeine Empfehlung Nr. 21 des CERD-Ausschusses sowie die Allgemeine Bemerkung Nr. 12 (zu Art. 1) des VN-Menschenrechtsausschusses. Schliesslich schliesse nur schon die Tatsache, dass sich die albanische Bevölkerung seit den 1990er-Jahren nicht an der Arbeit der jugoslawischen (später serbischen) Staatsorgane beteiligt habe, die Berufung auf ein remediales Recht zur Sezession aus.134 Auch der Iran geht auf die e contrario-Auslegung der Schutzklausel der FRD ein: „Some might argue that the [safeguard clause] authorizes a minority which is subject to large-scale violation of human rights and humanitarian law to exercise the right to self-determination and secede.“ 135 Der Iran glaubt, dass selbst in diesen Fällen das Prinzip der territorialen Integrität respektiert werden müsse und dass dies auch in „all similar occasions“ der Fall gewesen sei. Der Iran verweist auf folgende Fälle, in denen in innerstaatlichen Konflikten die Schwere der Menschenrechtsverletzungen und der Verletzungen des humanitären Völkerrechts gravierend gewesen seien und die internationale Gemeinschaft diese verurteilt, aber nie das Prinzip der territorialen Integrität aufgegeben habe: Tschetschenien,136 Darfur137 und Kosovo.138 Das Selbstbestimmungsrecht sei ein internes, das einer
133 Argentinien, s. St., Rz. 97 m. H. auf folgende Materialien: Report of the Special Committee on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Cooperation among States, Official Records of the General Assembly, Twenty-Fourth Session, Supplement No. 19, UN Doc. A/7619, 67, Rz. 187; Statement by Mr. ArangioRuiz on behalf of Italy, UNGA, 1970 Special Committee on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation among States: Summary Records of the One Hundred and Tent to One Hundred and Fourteenth Meeting held at the Palais des Nations, Geneva, from 31 March to 1 May 1970, UN Doc. A/AC. 125/SR. 110–114, 110, Rz. 221. 134 Argentinien, s. St., Rz. 97. 135 Iran, s. St., Rz. 4.1. 136 Iran, s. St., Rz. 4.2. m. H. auf die „state practice with respect to the Chechnya declaration of independence on 2 November 1991.“ 137 Iran, s. St., Rz. 4.2. m. H. auf S/RES/1841 (2008), 1828 (2008), 1779 (2007), 1769 (2007), 1713 (2006), 1672 (2006), 1665 (2006), 1651 (2005), 1591 (2005), 1574 (2004), 1564 (2004), 1556 (2004), 1547 (2004).
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Minderheit einen Anspruch auf Demokratie und Menschenrechte, aber kein Recht zur Sezession gebe: „This means that the right of self-determination is not a principle of exclusion or separation but a principle of inclusion.“ 139 Serbien geht ausführlich auf die e contrario-Auslegung der Schutzklausel und die Theorie der remedialen Sezession ein und erhebt vier Einwände:140 Der erste besagt, dass die Schutzklausel Teil einer gut etablierten Praxis zur Gewährleistung der politischen Einheit und territorialen Integrität eines Staates sei.141 Die VN hätten dem Schutz der territorialen Integrität stets eine grosse Bedeutung beigemessen; selbst im Prozess der Dekolonialisierung, der vom Vorgang der Sezession zu unterscheiden sei. Die Materialien zeigten, dass in der Ausarbeitung der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung ein Vorschlag von Guatemala, der festgehalten hätte, dass das Selbstbestimmungsrecht keine Auswirkungen auf die territoriale Integrität haben dürfe, abgelehnt wurde, weil dies schon in Ziff. 6 enthalten sei.142 Danach vergleicht Serbien den Text der Schutzklausel mit anderen vorgeschlagenen Texten, um festhalten zu können, dass der angenommene Text „reflected the desire of many States [. . .] to make express reference to respect for the territorial integrity of States in relation to the principle of equal rights and self-determination of peoples.“ 143 Neben diesen beiden Dokumenten zur Dekolonialisierung und zu den grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts seien sowohl das Engangement der VN anfangs der 1960er-Jahre im Kongo gegen die katangesischen Separationsbestrebungen als auch die Reaktion der OAU auf den Sezessionsversuch von Biafra singifikante Beispiele dieser Praxis.144 All diese Beispiele zeigten, dass die FRD in einem „legal environment“ 138 Iran, s. St., Rz. 4.2 m. H. S/RES/1203 (1998), 1239 (1999), 1244 (1999), 1160 (1998) und 1199 (1998). 139 Iran, s. St., Rz. 4.1. 140 Serbien, s. St., Rz. 589 ff. 141 Serbien, s. St., Rz. 590 ff. 142 Serbien, s. St., Rz. 591 m. H. auf A/PV.947 vom 14. Dezember 1960. Guatemala hatte folgenden Satz vorgeschlagen: „The principle of self–determination of peoples may in no case impair the territorial integrity of any State or its right to the recovery of territory.“ (vgl. dazu Summers, Peoples, 205 ff., 207). Ziff. 6 der VN-Erklärung besagt: „Jeder Versuch, die nationale Einheit und die territoriale Integrität eines Landes ganz oder teilweise zu zerstören, ist mit den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar.“ 143 Serbien, s. St., Rz. 593 m. H. auf die Vorschläge von Grossbritannien (A/AC.125/ L.44 vom 19. Juli 1967) und Algerien, Burma (Myanmar), Kamerun, Dahomey (Benin), Ghana, Indien, Kenia, Libanon, Madagaskar, Nigeria, Syrien, die Vereinigte Arabische Republik (Ägypten) und Jugoslawien: „Every State shall refrain from any action aimed at the partial or total disruption of the national unity and territorial integrity of any other State.“ Und der Vorschlag von der Tschechoslowakei, Polen, Rumänien und der UdSSR (A/AC.125/L.74): „The integrity of the national territory shall be respected.“ 144 Serbien, s. St., Rz. 596 ff. u. a. m. H. auf S/RES/145 (1960), 146 (1960), A/RES/ 1474 (ES-IV) zum Kongo (Katanga), OAU, OAU Resolution on Situation in Nigeria,
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
angenommen worden sei, in dem die Praxis zum Schutz der politischen Einheit und der territorialen Integrität der Staaten gut etabliert gewesen sei. Der zweite Einwand besagt, dass die e contrario-Auslegung von keinem rechtlichen Auslegungsmittel unterstützt werde.145 Erstens spreche der Kontext gegen eine solche Auslegung. Das Selbstbestimmungsrecht, dessen inhaltliche Tragweite, die Möglichkeiten seiner Ausübung, die Pflicht zur Beendigung jedwelcher dem Recht konträrer Situation und der unterschiedliche Status von kolonialisierten Gebieten – das alles werde in den ersten sechs Absätzen umschrieben. Der siebte Absatz (die Schutzklausel) halte lediglich fest, dass nichts in den vorgehenden sechs Paragraphen so verstanden werden könne, dass Handlungen, die zur Infragestellung der territorialen Integrität führen könnten, gerechtfertigt seien. Ein e contrario-Verständnis würde dem siebten Absatz jeglichen Effekt nehmen. Dieser halte ja gerade fest, dass jede Handlung, die zur Infragestellung der territorialen Integrität führe, nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es in der vorgehenden sechs Absätzen umschrieben wurde, vereinbar sei.146 Die Schutzklausel sei positiv formuliert („Staaten, die über eine Regierung verfügen, die alle Völker repräsentiert . . .“) und nicht negativ („Staaten, die über keine Regierung verfügen . . .“). Eine solche Auslegung würde den Paragraphen rückwärts lesen und eine Bedeutung implizieren, die so nicht im Text präsent sei.147 Die e contrario-Auslegung müsse nicht zwingend zum richtigen Ergebnis führen. Die Schutzklausel enthalte eine Aussage (Staaten, die eine Regierung besitzen . . .) und eine Folge (. . . können sich auf den Schutz ihrer Einheit und Integrität stützen). Die e contrario-Auslegung gehe von der gegenteiligen Aussage aus (Staaten, die nicht eine Regierung besitzen . . .) und ziehe die gegenteilige Folge daraus (. . . können sich nicht auf den Schutz berufen). Dies sei jedoch weder die einzig denkbare noch die vernünftige und logische Folge eines e contrario-Schlusses.148 Schliesslich gehe nur schon aus der Bezeichnung als Schutzklausel hervor, dass dieser Absatz den Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts nicht ausweite. Darauf weise auch die Einleitung hin: „Die vorstehenden Absätze sind nicht . . .“. Der dritte Einwand besagt, dass die Materialien gegen eine solche Auslegung sprechen.149 Für Serbien weisen die Materialien klar darauf hin, dass der Zweck der Schutzklausel der Schutz der territorialen Integrität und der politischen Einheit der Staaten sei. Serbien geht auf die Vorarbeiten der Schutzklausel ein, die OAU Doc. AHG/Res.51 (IV) vom 11.–14. September 1967 (in: 6 I.L.M. 1243 [1971]) zu Nigeria (Biafra) sowie Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 36. 145 Serbien, s. St., Rz. 601 ff. 146 Serbien, s. St., Rz. 603. 147 Serbien, s. St., Rz. 604. 148 Serbien, s. St., Rz. 605. 149 Serbien, s. St., Rz. 607 ff.
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von Italien formuliert und einem Vorschlag Grossbritanniens vorgezogen worden waren.150 Die „logic behind the Italian proposal“ wird mit einem Zitat von Prof. Gaetano Arangio-Ruiz, dem damaligen Vertreter Italiens, dargestellt.151 Demnach sei die Schutzklausel genau zum Zwecke des Schutzes des Staates in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingeführt worden. Der zweite Teil der Schutzklausel gehe auf einen Streit zwischen verschiedenen Staatengruppen bezüglich der internen Dimension des Selbstbestimmungsrechts zurück.152 Er könne daher nicht auf die externe Dimension und noch weniger auf ein Recht zur Sezession bezogen werden. Als vierter Einwand wird angeführt, dass die spätere Praxis gegen die e contrario-Auslegung spreche.153 Es gebe keinen einzigen Fall, in dem eine Sezession auf ein remediales Recht zur Sezession abgestützt worden sei. Manchmal würden die Fälle von Bangladesch und Eritrea angeführt. In beiden Fällen hätten aber die ehemaligen Staaten, Pakistan und Äthiopien, die Sezession akzeptiert. Verschiedenste Dokumente, die nach der Schutzklausel enstanden seien, unterstrichen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht zu einem Recht auf Sezession führen könne.154 Die Schutzklausel sei in mehreren Dokumenten reproduziert worden, darunter in der Wiener Deklaration und der VN-Erklärung zum 50. Jahrestag. Schliesslich geht Serbien noch kurz auf die Lehre ein: Kein Autor, der eine e contrario-Auslegung vertrete, könne seine These auf positive, anwendbare Rechtsregeln abstützen.155 Zusammenfassend hält Serbien fest, dass „the purpose [of the safeguard clause] is to make clear that the right of self-determination does not authorise or encourage any action against the territorial integrity or political unity of States.“ 156 Und schliesslich weist Serbien noch darauf hin, dass selbst wenn es ein remediales Recht zur Sezession gebe, die Voraussetzungen nach der Schutzklausel im vorliegenden Fall nicht erfüllt wären.157
150 Serbien, s. St., Rz. 608 m. H. auf A/AC.125/L.44, Teil IV sowie die Reports of the Special Committee on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States A/6799 vom 19. Juli 1967, Ziff. 176 und A/7619 vom Oktober 1969, Ziff. 187. 151 Serbien, s. St., Rz. 609. 152 Serbien, s. St., Rz. 611 m. H. auf Cassese, Self-determination, 109 f. und 121. 153 Serbien, s. St., Rz. 612 ff. 154 Serbien, s. St., Rz. 614 ff. m. H. auf die Schlussakte von Helsinki, die Allgemeine Empfehlung Nr. 21 des CERD-Ausschusses, die Allgemeine Bemerkung Nr. 12 des VN-Menschenrechtsausschusses und zahlreiche öffentliche Stellungnahmen von britischen und französischen Regierungsvertretern und Parlamentariern. 155 Serbien, s. St., Rz. 631 m. H. auf Buchanan, Self-Determination, 357 ff., Buchheit, 223, Franck, Postmodern Tribalism, 13 f. und Musgrave, 188 ff. 156 Serbien, s. St., Rz. 625. 157 Serbien, s. St., Rz. 639 ff.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
c) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Einige Proponenten der Position 1 formulieren Einwände gegen die zu diesem Zeitpunkt im Verfahren hypothetisch vorgebrachte These, dass sich die Rechtmässigkeit der Sezession aus der Theorie des remedialen Rechts zur Sezession ergeben könnte. Insgesamt lassen sich fünf Einwände zur Theorie und vier zur e contrario-Auslegung der Schutzklausel unterscheiden. Ein erster Einwand besagt, dass sich die Theorie nicht auf rechtsgenerative Praxis stützen könne; dieser Übergang stützt sich auf epistemische Theorie zur Genese völkerrechtlicher Normen. Serbien stützt sich auf die Theorie zur Staatenverantwortlichkeit, um den zweiten Einwand zu formulieren: Demnach sei die Sezession keine anerkannte Rechtsfolge eines rechtswidrigen Zustands. Der dritte Einwand betrachtet das Verhältnis zwischen Rechtsverletzung und Rechtsfolge aus temporaler Sicht: Die Sezession führe zu einer auf Dauer angelegten Etablierung eines Staates; dies sei nicht geeignet, um auf Menschenrechtsverletzungen zu reagieren, die temporärer Natur seien. Ein vierter Einwand nähert sich der These wieder über den Anwendungsbereich: Die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession würde die Unterscheidung zwischen Völkern und Minderheiten verwischen, weil sie aus einer Minderheit einen Träger des Selbstbestimmungsrechts mache. Dies widerspreche den epistemischen Kategorien des Selbstbestimmungsrechts. Ein fünfter Einwand geht nicht auf das Bestehen eines remedialen Rechts zur Sezession ein, sondern auf das Gegebensein der Voraussetzungen im Falle des Kosovo. Argentinien erhebt den Einwand, dass der Sicherheitsrat selbst 1999 kein remediales Recht zur Sezession anerkannt habe. Rumänien hält fest, dass die Voraussetzungen zu diesem Zeitpunkt erfüllt gewesen, aber nicht anerkannt worden seien. Mit dem Vergleich zwischen den beiden Situationen kommen sie zum Schluss, dass die Situation im Jahr 2008 sicher keine Sezession rechtfertigen könne.158 Der Übergang erfolgt durch einen a fortiori-Schluss. Zur e contrario-Auslegung der Schutzklausel der FRD wurden folgende Einwände erhoben: Auch hier fehle die rechtsgenerative Praxis. Der Iran weist die Auslegung mit einem undifferenzierten Hinweis auf die Staatenpraxis zu Tschetschenien und die Sicherheitsratspraxis zu Darfur und zum Kosovo ab. Für Argentinien kann sich der Kosovo vorliegend nicht auf diese Auslegung stützen, weil sich die albanische Bevölkerung nicht an der Arbeit der Staatsorgane beteiligt habe. Damit spricht Argentinien die in der Theorie zum remedialen Recht zur Sezession implizit enthaltene Voraussetzung an, dass sich die Bevölkerung, die sich auf dieses Recht beruft, zumindest den Versuch unternommen
158
So auch Oeter, Sezession, 94 f.
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haben muss, sich an den Staatsorganen zu beteiligen. Dieser Einwand wird später von Serbien aufgegriffen und vertieft.159 Serbien und Argentinien berufen sich auf die Materialien, um zum Einwand überzugehen, dass die Schutzklausel die territoriale Integrität gewährleisten soll.160 Auch hier lässt sich die Behauptung, dass die territoriale Integrität gegenüber Drittstaaten geschützt ist, auf epistemische Theorie stützen. Ob damit aber auch nicht staatliche Akteure dazu verpflichtet sind, bleibt fraglich und der Anspruch damit thetisch. Serbien verweist daher auch noch auf die Sicherheitsratspraxis zu Katanga und Biafra, die Praxis der OAU und das berühmte Zitat von Generalsekretär U Thant, um das rechtliche Umfeld darzustellen, das zur Zeit der Annahme der FRD herrschte. Ein Verweis, der die thetische Natur des Geltungsanspruchs unterstreicht. Die weiteren Einwände von Serbien stützen sich auf die rechtlichen Auslegungsmittel, die als solche epistemische Übergänge ermöglichen. Dabei würden insbesondere die systematische Stellung, die Bezeichnung, die Einleitung, die Materialien und die spätere Praxis zeigen, dass die Schutzklausel den Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts nicht ausweite. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Die Akteure weisen der rechtsgenerativen Praxis einen zentralen Platz zu. Sie fügen die Theorie der remedialen Sezession in ihre territoriale und konservative Perspektive ein, wonach sie in keinem Fall zu einer Relativierung der territorialen Integrität führen könne. Die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession und die vorgebrachten Einwände führen zu einer neuen Rahmung der Sezession, diejenige des Rechtsbehelfs. Die Sezession ist nicht mehr die Abspaltung eines Territoriums, sondern ein Rechtsbehelf, um sich gegen einen rechtswidrigen Zustand zu wehren. Dieser Rahmen ermöglicht den Übergang von der Sezession zum Recht der Staatenverantwortlichkeit. Auf diese Weise kann Serbien den Einwand formulieren, dass ein solcher Rechtsbehelf dem Recht der Staatenverantwortlichkeit fremd sei. cc) Intervenierende Beurteilung Interessanterweise formulieren die Akteure die Voraussetzungen eines remedialen Rechts zur Sezession und prüfen sie an den Fakten des vorliegenden Falls. Die Akteure anerkennen, dass die Situation von 1999 eine Rechtfertigung der Sezession darstellen könnte, legen den entscheidenden Zeitpunkt für die recht159 160
Vgl. unten § 9 II.3.c)cc) und d). So auch Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten, 62.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
liche Beurteilung jedoch auf das Jahr 2008. Dies bringt eine bestimmte Perspektive auf Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts zum Ausdruck, die sich auch in einem Einwand von Serbien zeigt: Sie werden als temporäre Ereignisse angesehen. Als sei für die Rechtsverletzung, die beispielsweise das Verschwindenlassen darstellt, bloss der Zeitpunkt des Akts relevant. Serbien bringt diese Sicht durch den Einwand zum Ausdruck, dass solche Verletzungen temporären hätten, die Etablierung eines Staates hingegen dauernden Charakter habe. 3. Der Proponent der Position 5 als Opponent der Position 2 a) Zur Theorie der remedialen Sezession Auch Zypern formuliert als einziger Proponent der Position 5161 bereits in der ersten Runde Einwände gegen die Position 2. Die Theorie der remedialen Sezession würde aus der „,victim‘ part of the population“ ein Volk machen. Erstens könne sich ein solch grosser Schritt nicht aus einer e contrario-Auslegung, sondern nur aus einer positiven völkerrechtlichen Norm ergeben.162 Zweitens hätten die meisten Staaten, die an der Ausformulierung der FRD teilgenommen hätten, nicht einem Recht auf Sezession zugestimmt.163 Drittens beziehe sich die FRD primär auf koloniale Situationen und sicher nicht auf Minderheiten innerhalb eines Staates. Und selbst wenn die FRD ein Recht zur Sezession nicht ausschliessen würde, so gäbe es mehrere andere völkerrechtliche Prinzipien, die dies würden. Darüber hinaus könne sich eine solche Auslegung, obwohl von einigen Autoren geteilt, nicht auf die Staatenpraxis stützen.164 Gerade die Praxis zu Südossetien und Abchasien zeige, dass die internationale Gemeinschaft ein Recht zur Sezession nicht akzeptiert habe. Auch der Fall von Bangladesch könne nicht herangezogen werden, weil dieser erst nach Einwilligung des ehemaligen Souveräns gelöst worden sei. Und selbst bei gegenteiliger Annahme könne aus einem einzigen Fall nicht eine Regel der remedialen Sezession hergeleitet werden. Schliesslich könnte sich der Kosovo selbst dann nicht auf ein remediales Recht zur Sezession stützen, wenn es ein solches gäbe, weil die Menschrechtsverletzungen ab 1999 aufgehört hätten. Darüber hinaus sei die Sezession nicht das letzte Mittel gewesen. Eine Autonomielösung sei nach wie vor möglich gewesen.165
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Vgl. unten § 12. Zypern, s. St., Rz. 142. 163 Zypern, s. St., Rz. 142 m. H. auf Cassese, Self-determination, 112. 164 Zypern, s. St., Rz. 143 m. H. auf Hilpold, Sezession, 117 ff. und Zitat aus Crawford, Creation, 415 ff. sowie Quebec-Gutachten, Rz. 130. 165 Zypern, s. St., Rz. 146 f. 162
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b) Zu einem generellen Recht zur Sezession Gemäss Zypern werde teilweise behauptet, dass sich die Autoritäten einer bestimmten Region innerhalb eines Staates auf ein Recht zur Sezession, das sich nicht aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebe, stützen könnten.166 Einen solchen Anspruch würden die Autoritäten von Somaliland gegenüber Somalien und diejenigen von Nagorno-Karabach gegenüber Aserbaidschan erheben.167 Jedoch gebe es kein solches Recht. Diese Ansprüche seien sowohl vom betroffenen Staat als auch von anderen Staaten abgelehnt worden.168 Sezessionsansprüche würden sich oft auf die Geschichte berufen. Aber diese Ansprüche fänden keine völkerrechtliche Unterstützung, wenn der betroffene Staat dem Anspruch entgegentreten könne. Als Beispiele verweist Zypern auf Tschetschenien, Tibet, Aceh und Papua. Diese Position sei auch in der Rz. 111 des Quebec-Gutachtens festgehalten worden. Zypern würde jeglicher Modifikation entschieden entgegentreten, weil dies für die Stabilität der Staaten und ihrer Beziehungen essentiell sei. Solche Probleme müssten durch Verhandlung gelöst werden, die allenfalls zu einem Wechsel des Hoheitstitels und einem neuen Staat führen könnten. Der mangelnden Praxis bezüglich eines Rechts zur Sezession könne eine wohl abgestützte Praxis zu anderen völkerrechtlichen Regeln gegenübergestellt werden: Die Praxis zur territorialen Integrität und zum uti possidetis iuris-Prinzip zur Beibehaltung kolonialer Grenzen in postkolonialen afrikanischen Staaten und die Praxis zu verfassungsrechtlichen Autonomie- und Devolutionslösungen für Minderheiten und andere Gruppen.169 Da es klar sei, dass Serbien der Sezession des Kosovo nicht zugestimmt habe, gebe es kein Recht für die kosovarische Bevölkerung, sich von Serbien abzuspalten. Es gebe somit keine völkerrechtliche Regel, die erkläre, wie die Souveränität von Serbien einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung beendet und durch einen neuen Staat hätte ersetzt werden können.170 c) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Zypern erhebt mehrere Einwände gegen die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession. Die folgenden wurden schon erhoben und besprochen: Dass sie die Grenze zwischen Minderheiten und Völkern verwische, dass sie sich nicht auf 166
Zypern, s. St., Rz. 149. Zypern, s. St., Rz. 149 m. H. auf www.somalilandgov.com und www.nkr.am/eng/ constitution. 168 Zypern, s. St., Rz. 149 f. m. Zitaten aus Crawford, Secession, 86 f., 114 und 116. 169 Zypern, s. St., Rz. 156. 170 Zypern, s. St., Rz. 158. 167
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
rechtsgenerative Praxis stützen könne und sich nicht aus den Materialien ergebe und dass sich die Kosovaren 2008 nicht darauf hätten stützen können, selbst wenn es ein solches Recht gegeben hätte. Neu ist der Einwand, dass die zweite Voraussetzung des ultimum remedium nicht gegeben war, weil eine Autonomielösung nach wie vor möglich gewesen sei. Zypern formuliert auch Einwände zu einem generellen Recht zur Sezession. Ein solches wird auch von den Proponenten der Position 2 abgelehnt. Dies zeigt sich insbesondere an der vorne besprochenen Juxtaposition von Deutschland.171 4. Erhebung des Argumentationsstandes Der mit der Hauptthese erhobene Geltungsanspruch wird durch eine durchgehende Begründungsstruktur eingelöst, die sich aus folgenden Schritten zusammensetzt: Die systemische Stellung des Selbstbestimmungsrechts wird durch zwei unterschiedliche Wege dargestellt, eine Gleichstellung mit dem Prinzip der territorialen Integrität oder ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen den beiden. Die Träger werden von den Niederlanden über den prozeduralen Weg identifiziert, also in den Rambouillet-Abkommen. Die Schweiz nimmt den Weg über ein demokratisches Selbstbestimmungsrechtsverständnis. Alle Proponenten anerkennen die epistemischen Trägerkategorien der Dekolonialisierung, wählen für die thetische Ausweitung derselben aber unterschiedliche Wege. Diese thetischen Kategorien verfügen über ein ausnahmsweise externes Recht. Die wichtigste Stütze für diesen Übergang ist die Schutzklausel der FRD. Eine weitere ist die Verbindung der epistemischen internen mit der thetischen externen Dimension des Selbstbestimmungsrechts. Und auch das Konzept der carence de souveraineté wird reaktualisiert. Die Position 2 ist die einzige, gegen die schon in der ersten Runde Einwände erhoben worden sind. Die Proponenten der Position 1 erheben fünf Einwände gegen die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession und vier gegen die e contrario-Auslegung der FRD. Zypern bringt zusätzlich noch einen Einwand zur zweiten Voraussetzung ein.
II. Repliken 15 Akteure haben eine Replik zu den schriftlichen Stellungnahmen verfasst. 4 davon haben die Position 2 vertreten: Albanien, die Niederlande, die Schweiz und Slowenien. Deutschland wurde in der ersten Runde als Vertreter der Position 2 und 3 aufgeführt. In der Replik hat es nur noch die Position 3 vertreten und wird daher dieser Position zugerechnet. Die Schweiz vertritt in der Replik wie in der schriftlichen Stellungnahme beide Positionen – sie wird zur Position 2 ge171
Vgl. oben § 9 I.1.d)aa).
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rechnet, weil sie sich nach wie vor mehr mit dieser auseinandersetzt. Die Proponenten der Position 1 und 3 haben Einwände gegen die Position 2 erhoben. 1. Begründung der Position 2 a) Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker aa) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts Da die Frage nach den Trägern des Selbstbestimmungsrechts im Verfahren umstritten sei, gehen die Niederlande vertieft darauf ein: Die Niederlande teilen die Auffassung der Schweiz, wonach das Konzept des „Volkes“ vage sei.172 Dies werde durch die travaux préparatoires der VN-Menschenrechtspakte I und II bestätigt. Das Fehlen einer Definition und die Gründe dafür seien wiederholt besprochen worden.173 Es scheine, dass der Begriff bewusst nicht definiert worden sei und dass daher keine über den gewöhnlichen Wortlaut hinausgehenden rechtlichen Voraussetzungen bestünden. Dies spreche gegen eine Einschränkung, wie sie die hier angefochtetenen Thesen befürworten würden. Es sei auf die gewöhnliche Bedeutung des Worts einzugehen: Nach dem Oxford Dictionary meine Volk „[a] body of persons composing a community, tribe, race, or nation“, nach dem Webster’s Dictionary „a body of persons that are united by a common culture, and that often constitute a politically organized group“ und nach dem Petit Robert ein „[e]nsemble d’êtres humains vivant en société, habitant un territoire défini et ayant en commun un certain nombre de coutumes, d’institutions“.174 Demnach seien anthropologische und soziale Kriterien entscheidend. Die anthropologischen liessen sich in objektive („ethnic origin, traditions, culture, language, religion, homeland“) und subjekive („the will of a group of persons to constitute a people“) einteilen. Diese könnten aufgrund der Heterogenität der verschiedenen Völker und ihrem Wandel in der Zeit nur nach dem Einzelfall bestimmt werden. Daraus ergäben sich drei Folgen: Erstens könnten die Bürger eines Staates zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Volk sein oder nicht. Zweitens könne ein Volk über mehrere Staaten verteilt leben; es könne in einem Staat eine Minderheit und in einem anderen eine Mehrheit sein. Drittens könne eine numerische Minderheit in einem Staat ein Volk sein oder aber auch nicht. Die kosovarische Bevölkerung verfüge sowohl über die objektiven als auch über die subjektiven Kriterien. 172
Vgl. Schweiz, s. St., Rz. 70 und oben § 9 I.2.b) und d). Niederlande, Replik, Rz. 3.5 m. H. auf Marc J. Bossuyt, Guide to the ,Travaux Préparatoires‘ of the International Convenant on Civil and Political Rights, Hingham/ Lancaster/Dordrecht 1987. 174 Niederlande, Replik, Rz. 3.6 m. Zitaten aus The Oxford English Dictionary, 2. Aufl., 1989; Webster’s Ninth New Collegiate Dictionary, 1983 und Dictionaire Le Nouveau Petit Robert, 2000. 173
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Eine Voraussetzung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts sei gemäss dem Western Sahara-Gutachten des IGH „the free and genuine expression of the will of the peoples concerned“ und das Selbstbestimmungsrecht bedeute „the need to pay regard to the freely expressed will of peoples“.175 Diese Voraussetzung sei durch die kosovarische Unabhängigkeitserklärung erfüllt. Eine weitere Voraussetzung sei eine gemeinsame territoriale Basis. Diese sei die ehemalige autonome Provinz Kosovo der ehemaligen SFRJ. Damit werde das uti possidetis iuris-Prinzip beachtet.176 Die Kompetenz zur Unabhängigkeitserklärung leite sich nicht, wie teilweise behauptet, aus der S/RES/1244 (1999), sondern aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ab. Die Kosovo-Versammlung habe als demokratisch gewählte Vertreterschaft den Willen des kosovarischen Volkes zum Ausdruck gebracht. bb) Das remediale Recht zur Sezession und die zweite Voraussetzung der externen Ausübung als ultimum remedium Die zweite Voraussetzung besagt für die Schweiz, dass ein Volk über keine andere Möglichkeit der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verfügen dürfe als die der Sezession. Der Prozess der Ausschöpfung der anderen, insbesondere internen Möglichkeiten, brauche Zeit. Im Fall des Kosovo seien alle diese Möglichkeiten klar ausgeschöpft worden. Die Behauptung, dass das kosovarische Volk nicht mehr zur externen Ausübung berechtigt gewesen sei, weil die internationale Präsenz zur Beendigung der Menschenrechtsverletzungen geführt hätte, würde die ultima ratio-Voraussetzung bedeutungslos machen. Die Zeit seit 1999 sei im Gegenteil dazu genutzt worden, diese Voraussetzung zu erfüllen.177 b) Die Sezession des Kosovo als Teil der Dissolution der SFRJ Slowenien geht vertieft auf die These ein, dass die Sezession des Kosovo als Teil der Dissolution der SFRJ gesehen werden müsse. Einige Stellungnahmen würden bezüglich des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Veränderung bestehender Grenzen auf das Gutachten 2 der Badinter-Schiedskommission hinweisen.178 Es sei jedoch wichtig festzuhalten, dass sich die Kommission im Gutachten 3 auf das uti possidetis iuris-Prinzip gestützt habe. Sie habe festgehalten, dass dieses Prinzip, das anfänglich zur Regelung der Fragen der Dekolonialisierung in Afrika und Amerika angewendet worden sei, heutzutage als generelles 175
Niederlande, Replik, Rz. 3.7 m. Zitaten aus IGH, Western Sahara, Rz. 55 und 59. Niederlande, Replik, Rz. 3.8 m. H. auf Niederlande, s. St., Rz. 3.8. 177 Schweiz, Replik, Rz. 7 f. 178 Slowenien, Replik, Rz. 4 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 564; Niederlande, s. St., 8; Finnland, s. St., Rz. 5; Spanien, s. St., Rz. 24; Iran, s. St., Rz. 3.6. 176
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Prinzip Anerkennung gefunden habe.179 Die Kommission habe festgehalten, dass die vormaligen internen durch die Unabhängigkeit internationale und vom Völkerrecht geschützte Grenzen geworden seien. Slowenien weist jedoch darauf hin, dass in der SFRJ die internen Grenzen weniger durch die Republiken als mehr durch die Gemeinden definiert worden seien und dass es keine formellen Meeresgrenzen gegeben habe.180 Die Badinter-Schiedskommission habe Fragen der Sukzession nicht angesprochen. Diese seien 2001 in einem Sukzessionsabkommen geregelt worden. Kosovo sei als damaliger Teil der FRJ auch davon betroffen. Die Frage der kosovarischen Unabhängigkeit könne daher nicht – wie teils behauptet – völlig losgelöst von der Dissolution der SFRJ behandelt werden.181 c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die erste Runde hat die Niederlande dazu bewegt, vertieft auf den Begriff des Volkes einzugehen.182 Der Begriff sei in den beiden VN-Menschenrechtspakten bewusst nicht definiert worden. Daher teilen die Niederlande die These der Vagheit, die von der Schweiz in der ersten Runde vertreten wurde. Die Niederlande greifen auf drei Wörterbücher zurück, um den Begriff in eine anthropologische und eine soziale Komponente aufzufächern. Die Kosovaren würden beide Komponenten erfüllen. Die Niederlande wählen hier somit den Weg über die Anwendbarkeit ratione personae. Die Niederlande wiederholen, dass die Unabhängigkeitserklärung als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts anzusehen sei und dass sie das uti possidetis iuris-Prinzip beachte. Darüber hinaus weisen sie explizit darauf hin, dass die Kosovo-Versammlung als Verteter des kosovarischen Volkes, nicht als Organ der PISG gehandelt habe. Damit bekommt diese Begründungsstruktur weitere Unterstützung. Die Schweiz stützt die Begründundsstruktur von Deutschland und Estland zur Verwirkung des remedialen Rechts zur Sezession.183 Slowenien geht als direkt betroffener Staat vertieft auf die Dissolutions-These ein. Es stellt die bisherige zeitliche Gleichsetzung der Dissolution mit der Badinter-Schiedskommission infrage und weitet die Dissolution bis auf den Abschluss 179
Slowenien, Replik, Rz. 4 m. H. auf IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali),
565. 180 Der letzte Punkt wird von Slowenien wohl im Hinblick auf den Grenzstreit mit Kroatien erhoben. 181 Slowenien, Replik, Rz. 5 m. H. auf Russland, s. St., Rz. 43 ff. und Zypern, s. St., Rz. 115 ff. 182 In der schriftlichen Stellungnahme hatten die Niederlande schlicht festgehalten, dass die Unabhängigkeitserklärung im Namen des Volkes angenommen worden sei: Vgl. oben § 9 I.1.b). 183 Vorne § 9 I.1.c)bb)(4).
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
des Sukzessionsvertrags im Jahre 2001 aus. Da der Kosovo auch von diesem Vertrag betroffen sei, könne die kosovarische Unabhängigkeitserklärung nicht völlig losgelöst von der Dissolution der SFRJ beurteilt werden. Das kann als Einwand gegen die These gelesen werden, dass die Dissolution durch die BadinterSchiedskommission zu einem Ende gekommen sei. 2. Gegeneinwand zum Einwand, dass die Sezession eine dem Recht der Staatenverantwortlichkeit fremde Sanktion sei a) Zusammenfassende Reformulierung Die Niederlande gehen auf die These ein, wonach die Sezession als Rechtsbehelf eine dem Rechtsgebiet der Staatenverantwortlichkeit fremde Sanktion sei.184 Die Niederlande hätten festgehalten, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine zwingende völkerrechtliche Norm sei.185 Eine schwere Verletzung einer solchen Norm habe gemäss Art. 41 ARSIWA besondere Folgen („particular consequences“). Diese Artikel, zumindest diejenigen über die Durchsetzung, würden zwischenstaatliche Beziehungen regeln und nicht solche zwischen Staaten und Völkern. Das Verhältnis zwischen Staaten und nicht staatlichen Völkerrechtssubjekten werde durch sekundäre völkerrechtliche Normen geregelt, die nach der Ansicht der Niederlande nicht ungleich der Normen der ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit seien. Die Folgen der ILC-Artikel hätten keinen ausschliesslichen Charakter, wie die „savings clause“ in Art. 41 Ziff. 3 zeige. Demnach würden die Folgen nach den ILC-Artikeln weitere Folgen, die eine schwere Verletzung einer zwingenden völkerrechtlichen Norm nach sich ziehen könnten, nicht ausschliessen. Die externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts sei eine solche über die ILC-Artikel hinausgehende Rechtsfolge. Eine Rechtsfolge sollte nicht zur Verletzung einer weiteren zwingenden völkerrechtlichen Norm führen.186 Die territoriale Integrität, die durch die externe Ausübung betroffen sei, werde aber nicht durch eine solche Norm geschützt, weil das Prinzip der territorialen Integrität keinen zwingenden Charakter habe. Die WVK umschreibe in Art. 53 zwingende Normen als solche, die von der internationalen Gemeinschaft der Staaten in ihrem ganzen Umfang als Norm, von der keine Abweichung zulässig sei, akzeptiert und anerkannt seien. Staaten könnten aber Teile ihres Territoriums durch Vertrag oder Zession abtreten. Daher erlaube das Völkerrecht eine Abweichung vom Prinzip der territorialen Integrität und es könne nicht gesagt werden, dass die Erhaltung der terriorialen Integrität eines Staates im Interesse aller Staaten liege und dass alle Staaten ein rechtliches Interesse daran hätten. 184 185 186
Niederlande, Replik, Rz. 3.10. Niederlande, Replik, Rz. 3.10 m. H. auf Niederlande, s. St., Rz. 3.2. Niederlande, Replik, Rz. 3.11.
§ 9 Die Sezession als Willensäusserung des Volkes
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b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die Niederlande gehen auf die These ein, dass die Sezession als Rechtsbehelf eine dem Staatenverantwortlichkeitsrecht fremde Sanktion sei.187 Sie halten zunächst fest, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine ius cogens-Norm sei, womit ihre Verletzung unter Art. 40 Ziff. 1 fallen würde. In der schriftlichen Stellungnahme haben die Niederlande diesen Übergang zu begründen versucht. Sie stützen sich dabei auf die Rechtsprechung des IGH und die Wiener Erklärung, die von einem „inalienable right“ spricht. Der IGH habe den erga omnesCharakter des Selbstbestimmungsrechts und die Existenz von ius cogens-Normen anerkannt.188 Diese beiden Übergänge können sich auf epistemische Theorie stützen. Ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker aber Teil des ius cogens? Hurst Hannum weist 1990 auf die Breite der Debatte im Schrifttum hin: Während Ian Brownlie und Gros Espiell vom ius cogens-Charakter des Selbstbestimmungsrechts ausgehen,189 gesteht ihm Ian W.H. Verzijl nicht mal den Status einer „rule of law“ zu.190 Diese Breite wird durch die Rechtsprechung des IGH zugunsten von Brownlie und Espiell verengt. Raic schreibt 2002: „Although the International Court of Justice did not explicitly use the term jus cogens, it did stress the fundamental and special character of the norm in East Timor.“ 191 Er kommt zum vorsichtig formulierten Schluss: „[. . .], it is concluded that, at least, the prohibition of the denial of the right of (external) self-determination for colonial territories and peoples, or put differently, the prohibition of of the maintenance or establishment of colonial domination, is a rule of customary international law having a character jus cogens, and must consequently be respected erga omnes.“ 192
Ulf Linderfalk hält 2009 mit Hinweis auf die ILC-Kommentare zu den ARSIWA fest: „Certainly, most international lawyers would probably agree to categorize as peremptory the principle on the non-use of force, the law of genocide, the prohibition of racial discrimination, the right of self-determination, and the rules prohibiting crimes against humanity, torture, piracy and trades in slaves.“ 193
187
Vgl. dazu auch H. P. Aust, 186 ff. Niederlande, s. St., Rz. 3.2 m. H. auf IGH, East Timor, Rz. 29 und Armed Activities on the Territory of the Congo (New Application: 2002), Jurisdiction and Admissability, Rz. 64. 189 So auch Circovic, 907 m.w. H. 190 Hannum, Autonomy, 44 f. 191 Raic ˇ , 218. 192 Raic ˇ , 219. 193 Ulf Linderfalk, Normative Conflict and the Fuzziness of the International ius cogens Regime, in: ZaöRV, Vol. 69, 2009, 961 ff., 963. Er hält jedoch fest, dass eine darüber hinausgehende Liste der ius cogens-Normen sehr schnell beliebig wird. 188
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James Crawford schreibt 2013 im Standardwerk zur Staatenverantwortlichkeit: „Other rules that have this special status [as peremptory norms] include the principle of self-determination, at least in its application to colonial countries and peoples or peoples under alien domination.“ 194 Auch die Niederlande stützen sich auf den ILC-Kommentar zu den ARSIWA. Dort steht geschrieben, dass der zwingende Charakter der Pflicht, das Selbstbestimmungsrecht zu respektieren, „generally accepted“ sei.195 Auch die ILC hat sich vorsichtiger ausgedrückt als die Niederlande: „Although not specifically listed in the Commission’s commentary to article 53 of the 1969 Vienna Convention, the peremptory character of certain other norms seems also to be generally accepted. This applies to the prohibition against torture [. . .]. [. . .] it would also seem justified to treat [the basic rules of international humanitarian law] as peremptory. Finally, the obligation to respect the right of self-determination deserves to be mentioned. As the Court noted in the East Timor case, ,[t]he principle of self-determination [. . .] is one of the essential principles of contemporary international law‘, which gives rise to an obligation to the international community as a whole to permit and respect its exercise.“ 196
Der Absatz liest sich wie eine Kaskade der Anerkennung als ius cogens-Norm vom epistemischen Folterverbot bis zum thetischen Selbstbestimmungsrecht. Nach dem letzten Satz verweist die ILC neben dem East Timor-Fall auf das Prinzip 5 der FRD. Während den Beratungen zur FRD hatten sich die USA und ausgerechnet die Niederlande gegen den Vorschlag des Iraks ausgesprochen, die FRD-Prinzipien als ius cogens anzuerkennen.197 Der Übergang der Niederlande stützt sich somit auf eine epistemische ius cogens-Theorie und eine ehemals sehr thetische und mittlerweile epistemischere These, dass das Selbstbestimmungsrecht Teil des ius cogens sei. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich die Grenze zwischen Anwendung im Kontext der Dekolonialisierung und ausserhalb auch hier manifestiert. Gerade der Teil, der für die niederländische Begründung wichtig ist – ausserhalb der Dekolonialisierung – ist thetisch. Art. 41 ARSIWA listet die speziellen Rechtsfolgen der Verletzung einer ius cogens-Norm auf: Ziff. 1 statuiert für Staaten die positive Pflicht zur Zusammenarbeit, um die Verletzungen nach Art. 40 zu beenden. Ziff. 2 enthält die Pflicht der Nichtanerkennung von Situationen, die durch eine solche Verletzung herbei194 195
Crawford, State Responsibility, 380. Niederlande, s. St., Rz. 3.2 m. Zitat aus ARSIWA, mit Kommentaren, Art. 40,
Rz. 5. 196
ARSIWA, mit Kommentaren, Art. 40, Rz. 5 (Hervorhebungen hinzugefügt). Matthew Saul, The Normative Status of Self-Determination in International Law: A Formula for Uncertainty in the Scope and Content of the Right?, in: Human Rights Law Review, Vol. 11, Nr. 4, 2011, 609 ff., 642 m. H. auf Official Records of the General Assembly, 25th session, Sixth Committee, Summary Records of the meetings, 1180th meeting (Stellungnahme des Irak) and 1183th meeting (Stellungnahme der Niederlande). 197
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geführt wurden, und das Verbot, das Bestehenbleiben der Situation zu unterstützen. Ziff. 3 hält schliesslich fest, dass weitere völkerrechtlich anerkannte Rechtsfolgen nicht durch Art. 41 ausgeschlossen werden.198 Die ILC hat in den Kommentaren folgendes dazu festgehalten: „Paragraph 3 accordingly allows that international law may recognize additional legal consequences flowing from the commission of a serious breach in the sense of article 40. [. . .] In addition, paragraph 3 reflects the conviction that the legal regime of serious breaches is itself in a state of development. By setting out certain basic legal consequences of serious breaches in the sense of article 40, article 41 does not intend to preclude the future development of a more elaborate regime of consequences entailed by such breaches.“ 199
Dieser Absatz stützt den Einwand der Niederlande, wenn das remediale Recht zur Sezession ein Teil der Entwicklung des Rechtsregimes zur Regelung der Rechtsfolgen schwerer Völkerrechtsverstösse ist. Helmut Philipp Aust geht tiefer auf diesen Punkt ein.200 Er geht der Frage nach, ob die Sezession im Sinne eines über den tatsächlichen Schaden hinausgehenden Schadenersatzes („punitive damage“) angesehen werden könne. Dies sei problematisch, weil das Staatenverantwortlichkeitsrecht kein solches vorsehe. Alternativ käme die Rahmung als Gegenmassnahme („countermeasure“) in Betracht (vgl. Art. 49 Ziff. 3 ARSIWA und Art. 72 Ziff. 2 WVK). Dies sei problematisch, weil die Sezession zu einem neuen irreversiblen Zustand, Gegenmassnahmen aber in der Regel zur Wiederaufnahme des alten rechtskonformen Zustands führen sollten. Hier nähern wir uns dem Einwand von Kohen, dass die Staatsentstehung eine permanente Lösung für ein vorübergehendes Problem sei. Drittens sei auch die Anwendung der ARSIWA auf nicht staatliche Akteure von Unsicherheiten geprägt. Und schliesslich spreche der Widerspruch zwischen der mechanischen und legalistischen Anwendung des Staatenverantwortlichkeitsrechts und dem hochpolitischen Vorgang der Staatsentstehung gegen eine solche Gleichsetzung. Aust zitiert Tomuschat, der festgehalten hat, dass „historical disasters cannot be settled in the way accountants settle a claim.“ 201 Dieser Punkt wird auch von Finnland in der mündlichen Stellungnahme aufgenommen und vertieft. Insgesamt schätzt Helmut Philipp Aust den niederländischen Gegeneinwand so ein, dass er nicht zu einer Weiterentwicklung des Staatenverantwortlichkeitsrechts führen werde. Eine Rechtsfolge sollte nicht zur Verletzung einer anderen ius cogens-Norm führen. Da die Niederlande davon ausgehen, dass sich die Sezession auf die ter198 Art. 41 Ziff. 3 ARSIWA: This article is without prejudice to the other consequences referred to in this part and to such further consequences that a breach to which this chapter applies may entail under international law. 199 ARSIWA, mit Kommentaren, Art. 41, Rz. 14. 200 Vgl. dazu H. P. Aust, 189 m.w. H. 201 H. P. Aust, 193 m. Zitat von Christian Tomuschat, in: Yearbook ILC, Vol. I, 1995, 94, Rz. 46.
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ritoriale Integrität eines bestehenden Staates auswirkt, müssen sie auf die Frage eingehen, ob das Prinzip der territorialen Integrität eine ius cogens-Norm sei. Dazu vollziehen sie zwei Übergänge: Erstens wird mit Art. 53 WVK eine ius cogens-Norm als solche definiert, von der anerkanntermassen nicht abgewichen werden darf. Diese Definition ist epistemisch. Danach schliessen die Niederlande den ius cogens-Charakter dadurch aus, dass ein Staat durch sein Einverständnis auf einen Teil seines Territoriums verzichten kann. Ist das wirklich eine Ausnahme vom Prinzip der territorialen Integrität? Es scheint eher ein Bestandteil des Prinzips zu sein, das als Teil des Konzepts der Souveränität ja gerade festhält, dass der Staat die Souveränität über sein Territorium ausübt und daher auch über dasselbe verfügen kann. Der letzte Übergang könnte sicher noch eine stabilere Stützung vertragen. Zusammenfassend entkräftet der Einwand der Niederlande die angegriffene These unter der thetischen Voraussetzung, dass die Verletzung der Pflicht der Respektierung des Selbstbestimmungsrechts ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts eine Verletzung nach Art. 40 ARSIWA darstellt und den Annahmen, dass die Sezession als Rechtsbehelf Teil des sich entwickelnden „legal regimes of serious breaches“ und das Prinzip der territorialen Integrität keine ius cogensNorm ist. 3. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 2 a) Einwände zur systematischen Stellung des Selbstbestimmungsrechts der Position 2 Spanien geht nur kurz auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein. Dieses müsse im Einklang mit anderen Prinzipien – allen voran der Souveränität und der territorialen Integrität – verstanden werden.202 Die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts setze ein zur Selbstbestimmung berechtigtes Volk als Träger voraus. Das Recht könne unterschiedlich ausgeübt werden, von verschiedenen Formen der Selbstverwaltung innerhalb eines Staates bis zur Schaffung eines neuen unabhängigen Staates. Das Völkerrecht bevorzuge keine bestimmte Form; daher könne nicht behauptet werden, dass eine Tendenz zur Gleichsetzung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts mit der Erlangung der Unabhängigkeit bestehe. Serbien geht nochmals auf das Verhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem Prinzip der territorialen Integrität ein. Die meisten der schriftlichen Stellungnahmen hätten die Wichtigkeit des Prinzips der territorialen Integrität anerkannt; diejenigen, die die Theorie des remedialen Rechts zur Se-
202
Spanien, Replik, Rz. 6.
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zession vertreten haben, dadurch, dass diese nur ein letztes Mittel sein könne.203 Nur Slowenien habe die These vertreten, dass das Selbstbestimmungsrecht aufgrund dessen „demokratischer Natur“ vorgehe. Für Serbien handle es sich jedoch nicht um einen Normkonflikt, sondern um die Anwendung beider Prinzipien. Die Tatsache, dass in einem Fall wie im Kosovo weder ein Träger des Selbstbestimmungsrechts noch ein zu externer Ausübung berechtigter vorhanden sei, mache die Frage nach dem Vorrang obsolet. b) Einwände zu den Trägern des Selbstbestimmungsrechts Für Bolivien ist das Selbstbestimmungsrecht in der Form der Sezession nur auf nicht selbstverwaltete oder kolonialisierte Gebiete anwendbar. Innerhalb souveräner und unabhängiger Staaten werde es durch demokratische Beteiligung an staatlichen Institutionen und, wo angebracht, durch verschiedene Autonomielösungen ausgeübt. Es gebe kein allgemeines Recht zur Sezession. Ein solches hätte potentiell katastrophale Folgen für die Wahrung der Menschenrechte, des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit.204 Bolivien weist auf die Rechtsprechung des IGH hin, der in Namibia, Western Sahara und Wall festgehalten habe, dass das externe Selbstbestimmungsrecht nur auf Völker unter kolonialer und fremder Besatzung anwendbar sei.205 Dies sei mit der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung und der FRD vereinbar. Im Falle kolonialisierter und nicht selbstverwalteter Gebiete sei die Sezession nicht völkerrechtswidrig, weil diese über einen gesonderten völkerrechtlichen Status verfügten.206 Auf die gravierenden Konsequenzen eines Missbrauchs des Rechts zur Sezession ausserhalb dieses Kontexts werde in der FRD hingewiesen.207 Kosovo sei weder ein kolonialisiertes noch ein nicht selbstverwaltetes oder besetztes Gebiet und verfüge daher nicht über ein Recht zur Sezession. Serbien formuliert mehrere Einwände zur These, dass die Kosovaren Träger des Selbstbestimmungsrechts seien.208 Einige Staaten würden ihre These damit begründen, dass sich „the will of the people“ in den Rambouillet-Abkommen 203 Serbien, Replik, Rz. 314 m. H. auf Estland, s. St., 9 f.; Finnland, s. St., Rz. 7; Deutschland, s. St., 34; Irland, s. St., Rz. 30; Niederlande, s. St., Rz. 3.7; Polen, s. St., Rz. 6.9; Schweiz, s. St., Rz. 67. 204 Bolivien, Replik, Rz. 7. 205 Bolivien, Replik, Rz. 8 m. H. auf IGH, Namibia, 16; Western Sahara, 12 und Wall, 136. 206 Bolivien, Replik, Rz. 10 m. Zitat aus der FRD und Hinweis auf die Schutzklausel der FRD. 207 Bolivien, Replik, Rz. 11 m. Zitat aus der FRD, Grundsätze der Gleichbehandlung und Selbstbestimmung der Völker, Letzter Absatz. 208 Serbien, s. St., Rz. 318 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 584; Argentinien, Replik, Rz. 85; Zypern, s. St., Rz. 136; Rumänien, s. St., Rz. 131; Russland, s. St., Rz. 91 und 97 und Slowakei, s. St., Rz. 15 f.
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finde.209 Das Volk werde jedoch in den ganzen Abkommen nur einmal angesprochen, sonst werde die Bevölkerung angesprochen. Die einzige Stelle, die das Volk anspreche, verweise auch auf die Meinung der relevanten Autoritäten, die Bemühungen der Parteien zur Implementierung der Abkommen und die Schlussakte von Helsinki, welche wiederum die Prinzipien der territorialen Integrität und der Unantastbarkeit der Grenzen als Grundprinzipien beinhalte. Der Volkswillen sei somit nur ein Element unter vielen. Albanien gehe sogar noch weiter: Es schliesse aus der Präambel des Interimsverfassungsrahmens, dass das VN-System den Kosovo klar als Volk anerkannt habe.210 Erstens sei auch hier der Volkswillen, auf den hingewiesen werde, nur ein Element von vielen. In der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts wäre der Volkswillen aber das einzige Element, das „the fate of the territory“ bestimmen würde.211 Zweitens könne das Interimsverwaltungsregime nicht der S/RES/ 1244 (1999) vorgehen, diese sei also massgebend. Und drittens könne von der Präambel nicht auf das VN-System geschlossen werden. Der Gerichtshof gehöre auch zu diesem System und er habe in der Frage sicher noch keine Entscheidung getroffen. Der Kosovo sei vorsichtiger gewesen. Er habe nur geschrieben, dass nach Rambouillet alle Optionen offen waren und dass der Volkswillen eine grundlegende Prämisse der Statusverhandlungen gewesen sei.212 Dies erkläre nicht, wie und ob diese Prämisse je generell akzeptiert worden sei. In Rz. 4.17 würde er auf die Sicherheitsratsresolution 1244 (1999) und die darin enthaltene Bezeichnung „the people of Kosovo“ verweisen. Dies sei aber keine Anerkennung eines Volkes: Im Annex II würden die austauschbaren Bezeichnungen „people of Kosovo“, „all people in Kosovo“ und „all inhabitants in Kosovo“ gebraucht. Die Schweiz stütze sich auf James Crawford, um behaupten zu können, dass der Kosovo ein nicht selbstverwaltetes Gebiet sei.213 Die VN hätten den Kosovo jedoch nie in die Liste der nicht selbstverwalteten Gebiete aufgenommen. Es sei offensichtlich, dass weder Kapitel XI der Charta noch die dazugehörenden gewohnheitsrechtlichen Regeln auf den Kosovo anwendbar seien. Die Methode, mit der Albanien und der Kosovo vorgingen, um nachzuweisen, dass die Kosovaren ein Volk seien, sei „a cause for serious concern.“ 214 Albanien
209 Serbien, Replik, Rz. 320 m.H auf Niederlande, s. St., Rz. 3.3; Frankreich, s. St., Rz. 2.18. 210 Serbien, Replik, Rz. 323 m. H. auf Albanien, Rz. 84. 211 Serbien, Replik, Rz. 324. 212 Serbien, Replik, Rz. 325 m. Zitat aus Kosovo, s. St., Rz. 4.03. 213 Serbien, Replik, Rz. 327 m. Zitaten aus Schweiz, s. St., Rz. 75 und 77. 214 Serbien, Replik, Rz. 328 m. Zitaten aus Albanien, s. St., Rz. 75, 79 und 84 sowie Kosovo, s. St., Rz. 8.40.
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suggeriere, dass nicht alle Bewohner des Kosovo, sondern nur die ethnischen Kosovo-Albaner zum Volk gehörten. Im Widerspruch dazu stütze Albanien die These auch noch auf einen Kommentar des SRSG, der nicht auf Kosovo-Albaner beschränkt sei. Eine ähnlich problematische Definition von Volk werde in der schriftlichen Stellungnahme des Kosovo formuliert. Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung würden behaupten, dass sie das kosovarische Volk vertreten würden, das zu 90 Prozent aus Kosovo-Albanern bestehe, die eine gemeinsame Sprache und Religion teilen würden. Es scheine, als sei das Volk von Kosovo durch albanische Merkmale definiert. Das sei nicht die Methode, mit der die VN Träger des Selbstbestimmungsrechts identifizieren würden, sondern eher der Versuch, eine ethnische/sprachliche/religiöse Minderheit eines Staates in eine Mehrheit des eigenen Staates und damit andere Bevölkerungsteile in Minderheiten zu verwandeln. Dies werde auch durch die diskriminierende Haltung der kosovo-albanischen Führung unterstrichen. Die inakzeptable Situation von serbischen und anderen nicht albanischen Bewohnern des Kosovo reflektiere das Verständnis, das diese Regierung vom Selbstbestimmungsrecht habe. c) Einwände zur Theorie der remedialen Sezession aa) Einwände zum Bestehen eines remedialen Rechts zur Sezession Serbien geht zunächst auf die schriftlichen Stellungnahmen der anderen Akteure ein und identifiziert drei Thesen, die vertreten worden sind: Japan, China, Rumänien und die Slowakei hätten behauptet, dass es ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts kein externes Selbstbestimmungsrecht gebe.215 Andere Staaten hätten die These vertreten, dass das Völkerrecht gegenüber Sezessionen ausserhalb des kolonialen Kontexts neutral sei.216 Diese Position sei inkohärent; entweder liefere das Selbstbestimmungsrecht einen Rechtsgrund oder nicht. Es könne nicht neutral sein, weil es entweder anwendbar sei oder nicht. Wiederum andere hätten ein externes Selbstbestimmungsrecht ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts akzeptiert. Russland habe dies beispielsweise behauptet, aber die Kosovaren nicht als Träger dieses Rechts identifiziert.217 Den Promotoren der kosovarischen Sezession sei es nicht gelungen zu begründen, dass der Kosovo in den Anwendungsbereich des „normalen“, d. h. nicht remedialen, Selbstbestimmungsrechts falle. Daher hätten sie zwei sich widersprechende Argumente vertreten müssen: Dass das Selbstbestimmungsrecht nicht anwendbar sei und dass es in der Form der Theorie des remedialen Rechts zur 215 Serbien, Replik, Rz. 335 m. H. auf Japan, s. St., 4; Rumänien, s. St., Rz. 123; Slowakei, s. St., Rz. 6; China, s. St., Rz. III (a) und Zitat aus China, s. St., Rz. III (b). 216 Serbien, Replik, Rz. 336 m. Zitat aus Lettland, s. St., 1. 217 Serbien, Replik, Rz. 337 m. H. auf Russland, s. St., Rz. 91.
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Sezession anwendbar sei.218 Der Kosovo habe beide Argumente vertreten, ohne sich um den Widerspruch zu sorgen. Die Tatsache, dass er den Gerichtshof dazu angerufen habe, nicht auf das Selbstbestimmungsrecht einzugehen, zeige, dass nicht einmal er selbst von den Argumenten überzeugt sei.219 Kein vorgebrachtes Argument stelle einen gültigen Einwand zur serbischen These dar, dass es kein remediales Recht zur Sezession gebe.220 Dasselbe gelte in Bezug auf das Vorliegen der Voraussetzungen zur Ausübung dieses Rechts.221 In der Tat, „no serious legal analysis is really put forward that would rebut Serbia’s arguments on any of these points.“ 222 Nur wenige Staaten hätten die These vertreten, dass es ein solches Recht gebe.223 Sie würden ihre Thesen auf unterschiedliche rechtliche Grundlagen stützen. Serbien habe schon in der schriftlichen Stellungnahme ihren „lack of legal substance“ aufgezeigt.224 Einige Staaten würden sich auf eine e contrario-Auslegung der Schutzklausel stützen.225 Andere Staaten stimmten mit Serbien darüber ein, dass dies abwegig sei.226 Die Niederlande hätten eine prozedurale Voraussetzung hinzugefügt, die besage, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, bevor das Recht ausgeübt werden kann.227 Das Gutachterverfahren an sich zeige, dass diese Voraussetzung nicht gegeben sei. Im Allgemeinen könnten sich die von den Staaten formulierten Voraussetzungen weder auf die Staatenpraxis noch auf eine opinio iuris stützen.228 Zusammengenommen würden die Staaten unterschiedliche Voraussetzungen formulieren und sie könnten weder aufzeigen, dass diese Doktrin Teil des positiven Völkerrechts sei, noch wo die Voraussetzungen im Völkerrecht verankert seien.229 218 Serbien, Replik, Rz. 338 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 81; Estland, s. St., 4 ff.; Finnland, s. St., Rz. 7; Deutschland, s. St., 35; Irland, s. St., Rz. 30; Niederlande, s. St., Rz. 3.6 f.; Polen, s. St., Rz. 6.5; Slowenien, s. St., 2; Schweiz, s. St., Rz. 62 f. und Kosovo, s. St., Rz. 8.38. 219 Serbien, Replik, Rz. 338 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.38 ff. 220 Serbien, Replik, Rz. 339 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 589 ff. 221 Serbien, Replik, Rz. 339 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 639 ff. 222 Serbien, Replik, Rz. 339. 223 Serbien, Replik, Rz. 340 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 81; Estland, s. St., 4 ff.; Finnland, s. St., Rz. 7; Deutschland, s. St., 34; Irland, s. St., Rz. 30; Niederlande, s. St., Rz. 3.7; Polen, s. St., Rz. 6.12 und die Schweiz, s. St., Rz. 67. 224 Serbien, Replik, Rz. 341. 225 Serbien, Replik, Rz. 342 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 81; Schweiz, s. St., Rz. 63 und Grossbritannien, s. St., Rz. 5.30. 226 Serbien, Replik, Rz. 343 m. H. auf Zypern, s. St., Rz. 142; Iran, s. St., Rz. 4.1; Russland, s. St., Rz. 88 und Spanien, s. St., Rz. 24. 227 Serbien, Replik, Rz. 344 m. H. auf Niederlande, s. St., Rz. 3.10. 228 Serbien, Replik, Rz. 346 m. Zitat aus Zypern, s. St., Rz. 143. 229 Serbien, Replik, Rz. 349.
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Darüber hinaus sei der relevante Zeitpunkt der rechtlichen Analyse der 17. Februar 2008 und es sei unbestritten, dass die behaupteten Voraussetzungen des remedialen Rechts zur Sezession zu diesem Zeitpunkt nicht erfüllt gewesen seien.230 Der vorgebrachte Grund des serbischen Verfassungsänderungsprozesses von 2006 könne mit Hinweis auf jahrzehntelange Boykotte von jugoslawischen und serbischen Wahlen entkräftet werden. Darüber hinaus hätten alle Wahlberechtigten die Möglichkeit der Wahl gehabt.231 bb) Einwände zur Rahmung der Sezession als Rechtsbehelf Für Spanien ist der Rechtsbehelf in Reaktion auf die massiven und systematischen Menschenrechts- und Minderheitenrechtsverletzungen sowie die durch Serbien diktierte Aufhebung des Autonomiestatus 1989 in der Errichtung der internationalen Interimsverwaltung von 1999 zu sehen. Diese habe einen politischen Prozess zur Festlegung des kosovarischen Status eingeleitet und dies sei nun der rechtsgültige Weg für die endgültige Ausübung des Selbstbestimmungsrechts. Daher gebe es keinen anderen Rechtsbehelf, der rechtlich begründbar sei. Insbesondere keine „secession-as-sanction“ oder „secession-as-remedy formulas“, die über keine völkerrechtliche Grundlage verfügten.232 Auch Bolivien identifiziert den Rechtsbehelf gegen eine diskriminierende Politik eines Staates gegen eine ethnische Gruppe nicht in einem Recht zur Sezession, sondern in den internationalen Menschen- und Minderheitenrechten.233 cc) Einwände zur ersten Voraussetzung der Verunmöglichung der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Serbien hält fest, dass viele Staaten die interne Dimension des Selbstbestimmungsrechts anerkannt hätten.234 Dieses beinhalte die interne Ausübung der politischen Selbstbestimmung, einen gewissen Autonomiegrad, die Möglichkeit, die Regierungsform mitzubestimmen und den Zugang zu verfassungsmässigen Rechten.235 Einige hätten nun die These vertreten, dass die interne Ausübung aufgrund ihres Entzugs im Jahr 1989 und den begangenen Menschenrechtsverlet230 Serbien, Replik, Rz. 351 ff. m. Zitaten aus Zypern, s. St., Rz. 146; Russland, s. St., Rz. 92 und 102 sowie Rumänien, s. St., Rz. 156. 231 Serbien, Replik, Rz. 358. 232 Spanien, Replik, Rz. 8. 233 Bolivien, Replik, Rz. 12 m. Zitaten aus der Allgemeinen Empfehlung Nr. 21 des CERD-Ausschusses und dem Quebec-Gutachten. 234 Serbien, Replik, Rz. 330 m. H. auf Ägypten, s. St., Rz. 73; Albanien, s. St., Rz. 75; Dänemark, s. St., 12; Estland, s. St., 4 ff.; Deutschland, s. St., 33; Irland, s. St., Rz. 30 und die Niederlande, s. St., Rz. 3.6. 235 Serbien, Replik, Rz. 331 m. Zitaten aus Deutschland, s. St., 33 und Zypern, s. St., Rz. 135.
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zungen zwischen 1989 und 1999 keine Option mehr sei.236 Es sei jedoch unbestritten, dass der Kosovo durch die PISG über interne Selbstbestimmung verfüge. Ohne die Menschenrechtsverletzungen, die unter dem Miloševic´-Regime begangen worden seien, verleugnen zu wollen, müsse „for the sake of having a complete picture“ darauf hingewiesen werden, dass während der 1990er-Jahre von jugoslawischen und serbischen Autoritäten tolerierte Parallelinstitutionen in Funktion gewesen seien. Es seien auch Verträge zwischen der kosovo-albanischen Führung und den zentralen Behörden zur Lösung praktischer Probleme abgeschlossen worden.237 Entscheidend sei, dass sich die Kosovo-Albaner selbst aus dem politischen Prozess in der FRJ bzw. Serbien ausgeschlossen hätten und dass es zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung keine Menschenrechtsverletzungen gegen die Kosovaren als Gruppe gegeben habe. Falls also ein Volk bestehe (quod non), habe es zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung das Selbstbestimmungsrecht intern ausgeübt. dd) Einwände zur zweiten Voraussetzung der externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts als ultimum remedium Argentinien formuliert einen Einwand zur These, dass die Verhandlungen zwischen Kosovo und Serbien zu einem Ende gekommen seien. Dies wurde von den Proponenten der Position 2 behauptet, um in der Unabhängigkeitserklärung ein ultimum remedium im Sinne der Theorie des remedialen Rechts zur Sezession zu sehen. Auch Grossbritannien ist vom Ende der Verhandlungen ausgegangen. Für Argentinien kann diese Behauptung keine Rechtfertigung für eine Unabhängigkeitserklärung sein, selbst wenn sie korrekt wäre (quod non). Falls die Verhandlungen zu Ende wären, müsse der Sicherheitsrat über die weiteren Schritte entscheiden: „A deadlock in negotiations in no way authorises one party to impose its position on the other, nor the termination of the obligation to settle the dispute through peaceful means.“ 238 Die Behauptung Grossbritanniens, dass nach erfolglosen Verhandlungen keine Pflicht zur Weiterverhandlung bestehe, sei falsch. Die Parteien seien nach wie vor an die Pflicht gebunden, Konflikte friedlich zu lösen.239 Sie könnten nur durch eine tatsächliche Beilegung des Konflikts oder durch einen Beschluss des Sicherheitsrats davon befreit werden. Im Kosovo-
236
Serbien, Replik, Rz. 332 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.40. Serbien, Replik, Rz. 333 m. H. auf die St. Egidio-Bildungsvereinbarung vom 1. September 1996 zwischen dem serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic´ und Ibrahim Rugova, in: Krieger, 11; Weller, Crisis, 93 und Serbien, s. St., Annex 79. 238 Argentinien, Replik, Rz. 52. 239 Argentinien, Replik, Rz. 54 f. m. Zitat aus der VN-Manila-Erklärung über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten, A/RES/37/10 vom 15. November 1982. 237
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Fall sei darüber hinaus eine unilaterale Lösung klar durch die Leitprinzipien der Kontaktgruppe in Ziff. 6 ausgeschlossen worden. d) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Proponenten der Position 1 erheben mehrere Einwände gegen die Position 2. Von Gewicht sind diejenigen gegen die These, dass das kosovarische Volk Träger des Selbstbestimmungsrechts sei. Hier fokussieren die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 2 auf die These der prozeduralen Anerkennung durch die VN. Nicht die Möglichkeit einer solchen Identifizierung wird infrage gestellt, sondern die Tatsache, dass die Kosovaren von den VN anerkannt worden seien. Serbien verhält sich damit kohärent zu seiner schriftlichen Stellungnahme, in der es auch den Weg der prozeduralen Anerkennung durch die VN vertreten hatte. Umstritten ist vor allem eine mögliche Anerkennung durch die Rambouillet-Abkommen. Serbien geht auch auf die Anwendbarkeit ratione materiae ein. Hier insbesondere auf die These der Schweiz, dass der Kosovo ein nicht selbstverwaltetes Gebiet sei. Der zweite Bereich der Begründungsstruktur der Position 2, die zu Einwänden durch die Proponenten der Position 1 geführt hat, betrifft das remediale Recht zur Sezession. Dies überrascht kaum, hatten sie doch schon in den schriftlichen Stellungnahmen Einwände gegen eine solche These formuliert. Hier werden die Einwände der fehlenden Verankerung im positiven Völkerrecht und das Nichtgegebensein der beiden Voraussetzungen der Ausübung wiederholt. Nicht wiederholt werden die Einwände, dass die Theorie aus einer Minderheit ein Volk mache und dass sie sich nicht auf die e contrario-Auslegung der Schutzklausel der FRD stützen lasse. Die gewichtigsten Einwände werden in der intervenierenden Beurteilung analysiert. bb) Intervenierende Beurteilung Serbien geht auf die These der Schweiz ein, dass der Kosovo als nicht selbstverwaltetes Gebiet Träger des Selbstbestimmungsrechts sei. Die Schweiz stützt sich auf James Crawford, der folgendes festgehalten hat: „However, there is a further category of self-determination units, that is, entities part of a metropolitan State but that have been governed in such a way as to make them in effect non-self governing territories – in other terms, territories subject to carence de souveraineté. Possible examples are Bangladesh, Kosovo and perhaps Eritrea.“ 240
Hier findet sich das Konzept der carance de souveraineté wieder, das Irland in der schriftlichen Stellungnahme mit Hinweis auf den Aaland-Fall reaktualisiert 240
Crawford, Creation, 126.
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hat.241 Serbien formuliert die Einwände, dass der Kosovo nicht in die Liste der nicht selbstverwalteten Gebiete aufgenommen worden sei und dass das Kapitel XI VN-Charta nicht anwendbar sei. Dieser Einwand scheint an der Begründung der Schweiz vorbeizugehen. Crawford hat diese Kategorie neben den epistemischen Kategorien der „mandated, trust and non-self governing territories“ aufgestellt.242 Er hält fest, dass „the fact that a territory is not reported [. . .] not decisive“ 243 sei und er schlägt vor, sich für die Identifizierung solcher Territorien an der A/RES/15/1541 zu orientieren. Die von Crawford vorgeschlagene Kategorie betrifft Territorien, die aufgrund der Politik des Staates, dem sie angehören, de facto als nicht selbstverwaltete Gebiete angesehen werden können. Das ist nicht die gleiche Kategorie wie die „territories treated as non-self-governing under Chapter XI of the Charter“.244 In die letztere Kategorie wurden im Zuge der Dekolonialisierung von den VN nur kolonialisierte Gebiete aufgenommen – auch die von Crawford angesprochenen Territorien der heutigen Staaten Bangladesch und Eritrea sind nicht in die Liste aufgenommen worden.245 Das Kapitel XI wurde von Anfang an von der Frage begleitet, ob der Begriff der „nicht selbstverwalteten Gebiete“ nur kolonialisierte Gebiete umfassen oder darüber hinausgehen soll.246 Die VN-Praxis hat ihn nur für kolonialisierte Gebiete verwendet (sog. Salzwassertheorie).247 Nachdem die Mehrzahl der kolonialisierten Gebiete ihr Selbstbestimmungsrecht ausgeübt hat, stellt sich die Frage, ob die Mechanismen des Kapitels XI auch anderen nicht selbstverwalteten Gebieten zur Verfügung gestellt werden sollten. Für eine Ausweitung auf den Fall Kosovo hat sich Thomas D. Grant schon 1999 ausgesprochen.248 Bis jetzt wurde die Frage von der VN-Praxis verneint.
241
Vgl. oben § 9 I.1.c)aa) und d). Vgl. Crawford, Creation, 126 f. 243 Crawford, Creation, 127. 244 Crawford, Creation, 127. 245 Zur Zeit befinden sich 16 Territorien auf der Liste, das grösste ist die Westsahara: http://www.un.org/en/events/nonselfgoverning/nonselfgoverning.shtml#3. Eine Übersicht über alle Territorien, die in die Liste eingetragen worden sind, findet sich in: Crawford, Creation, 746 ff. 246 Für die zweite Auffassung sprach sich z. B. Belgien 1952 aus (sog. BelgienThese). Vgl. Majorie M. Whiteman, Digest of International Law, Vol. 13, Washington 1963–73, 697 f. 247 Diese setzt eine geographische Trennung – in der Regel durch das Meer – voraus: Crawford, Creation, 602 ff. und 606 f.; Grant, 7; Raicˇ, 206 f.; Saxer, Steuerung, 280. Michla Pomerance und Allen Buchanan verweisen zusätzlich noch auf einen sog. „pigmentational or racial test“ (Buchanan, Right to Secede, 349 und Michla Pomerance, Self-Determination Today: Metamorphosis of an Ideal, in: Israel Law Review, Vol. 19, 1984, 310 ff., 321). 248 Grant. Vgl. auch Weller, Statehood, 19 f. 242
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Schliesslich weist Serbien noch auf die höchst problematischen Begründungsstrukturen von Albanien und Kosovo hin, die das Volk über ethnische, linguistische und religiöse Eigenschaften identifizieren. Gegen die Proponenten der Theorie des remedialen Rechts zur Sezession erhebt Serbien den Einwand des Widerspruchs: Man könne nicht gleichzeitig behaupten, dass das Selbstbestimmungsrecht in casu nicht relevant sei und dass es gleichzeitig ein darauf gestütztes remediales Recht zur Sezession gebe. Der Einwand fokussiert auf sich widersprechenden Hauptthesen, die von den Positionen 2 und 3 vertreten werden. Es ist jedoch nicht unüblich, dass Akteure in einem Rechtsverfahren alternative und auch sich widersprechende Thesen vertreten. Der Einwand weist auf den Widerspruch hin, berührt aber die Begründungsstrukturen der einzelnen Hauptthesen nicht. Gegen die Niederlande erhebt Serbien den Einwand, dass das Gutachterverfahren selbst zeige, dass die prozedurale Voraussetzung nicht erfüllt sei. Das Gutachterverfahren befasst sich jedoch mit der Unabhängigkeitserklärung, die nach der niederländischen Rahmung die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ist. Insofern ist die Möglichkeit dieses Verfahrens erst durch die Ausübung entstanden und kann damit der Ausübung nicht entgegengehalten werden. Ein weiterer Einwand ist der der fehlenden Verankerung des Rechts und der Voraussetzungen der Ausübungen im positiven Völkerrecht. Es fehle insbesondere die Staatenpraxis und die opinio iuris. Natürlich schaffen die Staaten durch das Vertreten der Position 2 Staatenpraxis und bringen ihre opinio iuris zum Ausdruck. Als positivrechtliche Grundlage stützen sich die Staaten mehrheitlich auf die Schutzklausel der FRD. Diese Grundlage bestreitet Serbien mit dem Hinweis darauf, dass sich mehrere Staaten gegen eine solche Auslegung der FRD ausgesprochen hätten. Insofern bestätigt der Einwand das Vorliegen der hier behandelten Quaestio. Gäbe es zum Vorgang der Sezession eine etablierte und theoretisch reflektierte Praxis, die positivrechtlich verankert wäre, würde sich die Quaestio nicht stellen. Zur ersten Voraussetzung der Ausübung des Rechts formuliert Serbien drei Einwände: Erstens verfüge das kosovarische Volk durch die PISG über die Möglichkeit der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts. Zweitens hätten sich die Kosovaren auch selbst aus den politischen Prozessen in der FRJ und in Serbien verabschiedet. Und drittens wiederholt Serbien die These, dass der Zeitpunkt der Analyse auf den 17. Februar 2008 gelegt werden müsse. Zu diesem Zeitpunkt habe das kosovarische Volk das Selbstbestimmungsrecht intern ausgeübt. Der erste und der dritte Einwand gehen auf die Zeit ab 1999 und somit nicht auf die Zeit ein, auf die sich die Proponenten der Position 2 als Rechtfertigung für die Ausübung des remedialen Rechts zur Sezession stützen. Der zweite Einwand geht hingegen auf die relevante Zeit ein und weist darauf hin, dass sich die Kosovaren selbst nicht am Staat beteiligen und ihr internes
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Selbstbestimmungsrecht durch ihn ausüben wollten. Diesen Einwand möchte ich hier zum Anlass nehmen, um auf das einzugehen, was Nino Kemoklidze als das „moral hazard“-Problem der Sezession bezeichnet.249 Den Begriff „moral hazard“ übernimmt Kemoklidze aus den Wirtschaftswissenschaften, wo er Folgendes umschreibt: „[T]he phenomenon in which the provision of protection against risk (often by insurance) unintentionally promotes irresponsible or fraudulent risk-taking, and thereby perversely increases the likelihood of the undesired outcome.“ 250
Die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession rahmt die Sezession als Rechtsbehelf, der unter gewissen Voraussetzungen zur Verfügung steht. Sind diese Voraussetzungen formuliert, können sich sezessionistische Bewegungen daran orientieren. Wenn die Voraussetzungen nun die Unmöglichkeit der internen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts und das Erleiden von schweren Menschenrechtsverletzungen sind, kann das diejenigen Personen einer Sezessionsbewegung stärken, die eine konfrontative Politik verfolgen. So hält Kemoklidze mit Zitat von James D. Fearon fest: „The problem, as Fearon comments, is that making the implicit criterion for international recognition of secession ,some level of violence and chaos gives the leaders of nationalist insurgencies an incentive to reach for this level.‘ And [. . .] it also creates an incentive for important regional and international players to manipulate many of the world’s ,unsettled conflicts‘, and to use the different inter- and intra-ethnic disputes in strategic regions to their advantage. The events that unfolded in Georgia in August 2008 are a good example of this.“ 251
Alan J. Kuperman hat sich insbesondere mit der Politik der KLA vor und während des Kosovo-Kriegs beschäftigt: „Based on extensive fieldwork and information gained from interviews with the top ranking commanders of the Kosovo Liberation Army (KLA), Kuperman has long identified and raised awareness of the moral hazard of humanitarian intervention in the case of Kosovo and elsewhere. He asserts that the KLA deliberately sought the escalation of violence in 1998, provoking Milosevic’s regime to ethnic cleansing of Kosovar Albanians. This resulted in growing media attention which in return boosted support of the international community towards the Kosovars, ultimately ending with NATO’s military intervention in Serbia on their behalf. Of course, the KLA could not have been certain about the prospect of international intervention; but its expectations derived mainly from the events of the earlier years of the 1990s, in particular the case of Bosnia. As many analysts have pointed out, there is significant circumstantial evidence to suggest that the settlement on Bosnia reached at the 1995 Dayton Accords further intensified Kosovo’s drive for indepen249 Kemoklidze schliesst an die Literatur an, die sich mit dem moral hazard-Problem der humanitären Intervention befasst: Kemoklidze, 121, Fn. 18 m.w. H. 250 Kuperman, 50. 251 Kemoklidze, m. Zitat aus James D. Fearon, Separatist Wars, Partition, and World Order, in: Security Studies, Vol. 13, 2004, 394 ff.
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dence. Moreover, the lesson of that agreement for the Kosovars seemed to be that civilian suffering, killing and displacement were more likely to attract Western support and attention than non-violent means of resistance.“ 252
Serbien weist mit dem Einwand auf ein Problem hin, das in der theoretischen Reflexion der Theorie der remedialen Sezession bereits bearbeitet wurde. Man muss nicht auf die Schuldfrage des Kosovo-Konflikts der 1990er-Jahre eingehen, um festzustellen, dass die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession dadurch ein moral hazard-Problem hat, dass sie zu einer Stärkung der konfrontativen Kräfte einer Sezessionsbewegung führen kann. Der Einwand von Serbien kann also auf zwei Arten berücksichtigt werden: Einerseits als Einwand gegen die These, dass die erste Voraussetzung des remedialen Rechts zur Sezession im Fall des Kosovo erfüllt war und andererseits als folgenorientierer Einwand gegen die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession. 4. Die Proponenten der Position 3 als Opponenten und Proponenten der Position 2 a) Einwände zur Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker für den Vorgang der Sezession Die Proponenten der Position 3 bestreiten insbesondere die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker für die Beurteilung des Vorgangs der Sezession. Grossbritannien hält fest, dass viele Staaten auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingegangen seien und das Konzept des remedialen Rechts zur Sezession vertreten hätten, zu dem sich auch Grossbritannien geäussert habe.253 Für Grossbritannien sei es aber nicht erforderlich, dieses Konzept auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Der Gerichtshof könne die Frage mit Bezug auf „wellestablished rules of general international law and in light of Resolution 1244 (1999)“ beantworten.254 Norwegen teilt „the extremely restrictive view“, die von einigen Staaten bezüglich der Existenz eines Rechts zur Sezession geäussert wurde.255 Aber durch die Gutachtenanfrage seien weder diese Fragen noch Fragen der Anerkennung aufgeworfen worden.256 252
Kemoklidze, 127 u. a. m. H. auf Kuperman, 61. Grossbritannien, Replik, Rz. 10 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 75 ff.; Dänemark, s. St., 12 f.; Estland, s. St., 4 ff.; Frankreich, s. St., 32 ff.; Finnland, s. St., Rz. 5 ff.; Irland, s. St., Rz. 27 ff.; Lettland, s. St., 1 f.; Niederlande, s. St., Rz. 3.1 ff.; Polen, s. St., Rz. 6.1 ff.; Slowenien, s. St., 1 f.; Schweiz, s. St., Rz. 57 ff. und Grossbritannien, s. St., Rz. 5.30 ff. 254 Grossbritannien, Replik, Rz. 10. 255 Norwegen, Replik, Rz. 5 m. H. auf Russland, s. St., Rz. 87 f. 256 Norwegen, Replik, Rz. 7. 253
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Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker halten die USA fest, dass es sich bei den Fragen nach den Trägern des Rechts und der Existenz eines remedialen Rechts zur Sezession um hochkomplexe Themen handle, die weit über die vom Gerichtshof zu behandelnde Frage hinausgingen.257 Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo müsse nicht eine externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts sein, um völkerrechtskonform zu sein, weil die Sezession ja nicht verboten sei.258 Es genüge daher, wenn der Gerichtshof festhalte, dass das Völkerrecht Unabhängigkeitserklärungen nicht verbiete. Auch für den Kosovo muss nicht auf die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker eingegangen werden, weil es für die Beantwortung der Gutachtenanfrage genüge, festzustellen, ob das Völkerrecht die Annahme von Unabhängigkeitserklärungen verbiete.259 Der Kosovo und die USA gehen nach diesem Einwand trotzdem auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein, weil die Frage von vielen Staaten behandelt worden sei. b) Begründungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker im Falle der Bejahung seiner Relevanz Falls der Gerichtshof trotzdem durch die Linse des Selbstbestimmungsrechts auf die Unabhängigkeitserklärung schaue, so müsse er für die USA Folgendes berücksichtigen: Die Schwere der Situation sei durch mehrere Kapitel VII-Resolutionen anerkannt worden. Es sei eine internationale Interimsverwaltung installiert worden, um die Bevölkerung zu schützen. Die S/RES/1244 (1999) beziehe sich auf „the people of Kosovo“ und auch der Verfassungsrahmen anerkenne dies. Das Milutinovic et al.-Urteil des ICTY und andere würden bestätigen, dass der Kosovo „was stripped of its substantial autonomy, culminating in large-scale atrocities against the population of Kosovo.“ 260 Die Vertreter des Kosovo hätten in gutem Glauben an den internationalen Status-Verhandlungen teilgenommen. Demokratisch gewählte Vertreter hätten mit Unterstützung der Bevölkerung friedlich die Unabhängigkeit erklärt und sich zu den Sicherheitsratsresolutionen und zum internationalen Rechtsschutz für seine Bewohner bekannt. Weder der Sicherheitsrat noch seine autorisierten Vertreter hätten von ihren Kompetenzen Gebrauch gemacht, um den Schritt in die Unabhängigkeit zu unterbinden.261 Die USA äussern sich in einer Fussnote noch zur Referenz „the will of the people“ der Rambouillet-Abkommen.262 Dieser Teilsatz entstamme zumindest teilweise der US-amerikanischen Geschichte. Thomas Jefferson habe 1801 den 257 258 259 260 261 262
USA, Replik, 21. USA, Replik, 21 f. m. Zitat aus Higgins, Problems and Process, 125. Kosovo, Replik, Rz. 4.31 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.38 ff. USA, Replik, 22. USA, Replik, 22 f. USA, Replik, 29, Fn. 89.
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berühmten Satz geschrieben: „the will of the people . . . (sic!) is the only legitimate foundation of any government, and to protect its free expression should be our first object.“ 263 Wenn Serbien also behaupte, dass mit diesem Satz nicht das kosovarische Volk gemeint sei, dann sei das falsch. Serbien stütze sich darauf, dass in den Rambouillet-Abkommen verschiedene Begriffe verwendet würden (z. B. „population of Kosovo“). Diese stünden aber in völlig anderen Zusammenhängen. Mit diesen zwei Gründen kommen die USA zum Schluss, dass „the people of Kosovo are indeed the very people that the Rambouillet Accords are about.“ 264 Für den Kosovo ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker gut etabliert und nicht nur auf den kolonialen Kontext anwendbar.265 Dem Kosovo sei bewusst, dass die Ausübung des Rechts innerhalb eines souveränen Staates normalerweise nicht zur Schaffung eines neuen Staates führe. Serbien und andere würden darzulegen versuchen, dass in diesem Fall das Prinzip der Souveränität und territorialen Integrität dem Willen des Volkes notwendigerweise vorgehe und dass die Wahlfreiheit insofern eingeschränkt werde, dass die Option der Eigenstaatlichkeit nicht zur Verfügung stehe. Dies übersehe, dass die Prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität nur zwischenstaatliche Anwendung fänden. Selbst wenn dem nicht so wäre, gäbe es für einen absoluten Vorgang dieser Prinzipien gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht keine Grundlage im Recht oder in der Praxis. Serbien anerkenne nicht, dass es im zeitgemässen Völkerrecht keine Hierarchie zwischen diesen Prinzipien gebe. Dies habe der IGH in Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali) mit Bezug auf das Verhältnis zwischen dem uti possidetis iuris-Prinzip und dem Selbstbestimmungsrecht festgehalten.266 Die Notwendigkeit der Einzelfallabwägung ergebe sich auch aus der Schutzklausel der FRD. Diese weise darauf hin, dass sich ein Staat unter bestimmten Umständen nicht mehr auf die Schutzklausel und das Prinzip der Souveränität gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen könne. Das heisse, dass eine Gruppe in bestimmten Fällen – Tomuschat spreche von „struktureller Diskriminierung“, das Quebec-Gutachten von der „Verweigerung der Regierungsbeteiligung zwecks Verfolgung der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ – eine Sezession anstreben dürfe.267
263 USA, Replik, 29, Fn. 89 m. Zitat aus Andrew A. Lipscomb/Albert Ellery Bergh (Hrsg.), The Writings of Thomas Jefferson, Memorial Edition, Vol. 10, Washinton, D.C. 1904, 236. 264 USA, Replik, 29, Fn. 89. Vgl. auch oben § 9 II.1.a). 265 Kosovo, Replik, Rz. 4.34 m. H. auf die VN-Charta; IGH, East Timor, Rz. 29; Wall, Rz. 118 und Gesonderte Stellungnahme von Richterin Higgins, Rz. 29; Art. 1 VNMenschenrechtspakte I und II; Wiener Erklärung, Art. 1.2. 266 Kosovo, Replik, Rz. 4.37 m. Zitat aus IGH, Frontier Dispute, Rz. 25. 267 Kosovo, Replik, Rz. 4.39 f. m. Zitaten aus Tomuschat, Secession, 41 und Quebec-Gutachten, Rz. 138 sowie Hinweisen auf Malcom N. Shaw, International Law, 6. Aufl., Cambridge 2008, 523 und Finnland, s. St., Rz. 8 f.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Serbien behaupte, dass ein solches Recht den betroffenen Staat „bestrafe“ und dass eine solche Sanktion im Recht der Staatenverantwortlichkeit nicht vorgesehen sei.268 Es sei jedoch nicht im Interesse der internationalen Gemeinschaft, bloss mit Schadenersatz und sich wiederholenden Ermahnungen gegenüber der Regierung gegen schwere Menschenrechtsverletzungen und Verweigerung der internen Selbstbestimmung reagieren zu können. Das Völkerrecht stelle bedeutsame und schützende Mittel für ein solches Volk zur Verfügung, „not only corrective instruments after the evil is done.“ 269 Und das moderne Völkerrecht sei auch das Recht der Völker – ein droit de gens –, das Völker und Menschen beschütze, insbesondere wenn Staaten dies unterlassen würden. Unter diesen Umständen müsse ein Staat die Konsequenzen seiner Handlungen selbst tragen, nicht als Strafe, sondern als notwendige Begleitmassnahme zum Schutz grundlegender Menschenrechte. Das kosovarische Volk sei Träger des Selbstbestimmungsrechts. Das Recht gehöre nicht, wie von Serbien geschrieben, einem Territorium, sondern den Menschen, die dieses bewohnten.270 Ein wichtiger Unterschied, den Serbien in den 1990er-Jahren und auch heute noch ignoriere: „[. . .] Serbia’s policy towards Kosovo has been to regard it simply as land (its territory) without regard to the rights and interests of its inhabitants.“ 271 Die Existenz des kosovarischen Volkes habe in der internationalen Gemeinschaft breite Anerkennung gefunden.272 Es sei mehr als eine blosse Minderheit innerhalb der FRJ oder Serbiens, sondern als nicht selbstverwaltetes Gebiet i. S. v. Crawford ein Träger des Selbstbestimmungsrechts.273 Die Kosovaren seien eine unterschiedene und homogene Gruppe, von denen 90 Prozent Kosovo-Albaner seien, die albanisch sprechen und eine muslimische religiöse Identität teilen würden. Der Verfassungsrahmen, die S/ RES/1244 (1999), frühere Stellungnahmen des Sicherheitsratspräsidenten und die Rambouillet-Abkommen würden sich auf das kosovarische Volk oder den Willen des kosovarischen Volkes beziehen.274 Auch die Voraussetzungen der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seien gegeben: Die systematische Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und die schweren Verletzungen fundamentaler Menschenrechte seien wohl dokumen268 Kosovo, Replik, Rz. 4.41 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 627 f. und Slowakei, s. St., Rz. 28. 269 Kosovo, Replik, Rz. 4.41. 270 Kosovo, Replik, Rz. 4.42 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 570. 271 Kosovo, Replik, Rz. 4.42. 272 Kosovo, Replik, Rz. 4.44 m. H. auf Crawford, Creation, 129 und Irland, s. St., Rz. 29. 273 Kosovo, Replik, Rz. 4.45 m. H. auf Crawford, Creation, 126. 274 Kosovo, Replik, Rz. 4.45 m. H. auf den Interimsverfassungsrahmen, Art. 1.1; S/ RES/1244 (1999); S/PRST/1998/25 vom 24. August 1998; die Rambouillet-Abkommen; Tomuschat, Secession, 34 und Albanien, s. St., Rz. 84.
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tiert.275 Die Verbesserung seit 1999 könne nicht gegen die Ausübung des Rechts angeführt werden. Die serbische Einstellung gegenüber dem Kosovo habe sich nicht merklich verbessert. Die Verfassung von 2006, die in der Präambel Kosovo und Metochien als integralen Bestandteil Serbiens bezeichnet würden, sei dem kosovarischen Volk nicht einmal zur Genehmigung vorgelegt worden. Auch die Venedig-Kommission habe das Fehlen jeglicher verfassungsrechtlicher Garantien für den kosovarischen Autonomiestatus scharf kritisiert.276 Unter diesen Umständen hätten die Kosovaren keine Garantie der Selbstbestimmung unter der serbischen Verfassung von 2006 gehabt. Deshalb könne die Unabhängigkeitserklärung als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gerechtfertigt werden. Auch wenn dies für die Beantwortung der Frage nicht nötig sei. c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Gegen die Position 2 wiederholen die Proponenten der Position 3 den Einwand, dass der Vorgang der Sezession keiner Genehmigung bedürfe und sich daher nicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker abstützen müsse. Norwegen bringt seine Sympathie für ein sehr restriktiv verfügbares Recht zur remedialen Sezession zum Ausdruck. Kosovo und die USA übernehmen die von Irland, Deutschland und der Schweiz vorgebrachte Argumentation und gehen im Sinne einer alternativen Begründungsstruktur auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein. Hier vertreten sie die gleiche Begründungsstruktur wie die Proponenten der Position 2 in der ersten Runde. Der Kosovo verteidigt die Sezession als notwendigen Rechtsbehelf und hebt die Stellung des Volkes im Völkerrecht hervor. Er kritisiert die serbische Fokussierung auf das Territorium, setzt stattdessen beim Volk an und identifiziert das kosovarische Volk wie die Schweiz als nicht selbstverwaltetes Gebiet i. S. v. Crawford. Zusätzlich verweist er noch auf die sprachliche und religiöse Identität des kosovarischen Volkes. Bei der Voraussetzung der Verunmöglichung des internen Selbstbestimmungsrechts verweist er auf den Verfassungsänderungsprozess von 2006 und die dazugehörige Stellungnahme der Venedig-Kommission, die folgendes festgehalten hat: „With respect to substantial autonomy, an examination of the Constitution, and more specifically of Part VII, makes it clear that this substantial autonomy of Kosovo is not at all guaranteed at the constitutional level, as the Constitution delegates almost every important aspect of this autonomy to the legislature. In Part I on Constitutional Principles, Article 12 deals with provincial autonomy and local self-government. It 275
Kosovo, Replik, Rz. 4.47 m.w. H. Kosovo, Replik, Rz. 4.51 m. H. auf Europarat, European Commission for Democracy through Law (Venedig-Kommission), Opinion on the Constitution of Serbia, 17.– 18. März 2007, Ziff. 7 f. 276
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does so in a rather ambiguous way: on the one hand, in the first paragraph it provides that state power is limited by the right of citizens to provincial autonomy and local self-government, yet on the other hand it states that the right of citizens to provincial autonomy and local self-government shall be subject to supervision of constitutionality and legality. Hence it is clear that ordinary law can restrict the autonomy of the Provinces.“ 277
5. Erhebung des Argumentationsstandes Die Proponenten versuchen, ihre Begründung zu stabilisieren. Folgende Übergänge werden ausgebaut: Die Niederlande versuchen, die These zu den Trägern über den Ausbau der Theorie des Volksbegriffs zu stabilisieren. Die Schweiz unterstützt die These Deutschlands, dass die Zeit zwischen 1999 und 2008 gemäss der zweiten Voraussetzung der Ausschöpfung der anderen Möglichkeiten angerechnet werden muss und den Kosovaren nicht entgegengehalten werden kann. Slowenien kann als direkt betroffener Staat die These aufstellen, dass das Ende der Dissolution der SFRJ nicht mit dem Gutachten 8 der Badinter-Schiedskommission zusammenfällt. Und die Niederlande können aufzeigen, dass eine zumindest thetische Entkräftung des serbischen Einwands zum Staatenverantwortlichkeitsrecht möglich ist. Serbien weist zu Recht darauf hin, dass die Position 2 die Wichtigkeit des Prinzips dadurch anerkenne, dass es nur ausnahmsweise nicht dem Selbstbestimmungsrecht entgegengehalten werden könne. Zu den Trägern erhebt Bolivien Einwände, die sich auf die epistemischen Trägerkategorien stützen. Serbien erhebt gut begründete Einwände zur Anerkennung in den Rambouillet-Abkommen und im Interimsverfassungsrahmen. Der gegen die Schweiz erhobene Einwand wurde in der intervenierenden Beurteilung entkräftet. Und Serbien lehnt die Identifizierung der Träger über ethnische Merkmale klar ab. Bezüglich des Bestehens des remedialen Rechts kann der Einwand der Widersprüchlichkeit mit Hinweis auf das taktische Verhalten vor Gericht entkräftet werden. Die Einwände der fehlenden rechtsgenerativen Praxis und des Zeitpunkts, der auf das Jahr 2008 gelegt werden müsse, werden wiederholt. 277 Europarat, European Commission for Democracy through Law (Venedig-Kommission), Opinion on the Constitution of Serbia, 17.–18. März 2007, Ziff. 7 f. Die Kommission hat sich auch zur Ausarbeitung der Verfassung geäussert (Ziff. 4): „The finally adopted text was however prepared very quickly. A small group of party leaders and experts negotiated during a period of about two weeks to achieve a compromise text, acceptable to all political parties including the Serbian Radical Party. This compromise text was finalised late on Friday 29 September and voted by the National Assembly at a special sitting on Saturday 30 September. On 29 September the Rules of Procedure of the National Assembly were amended to make such a procedure possible. On 30 September all 242 members of the National Assembly present voted in favour of the adoption of the new Constitution.“
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293
Bezüglich der Voraussetzungen weist Serbien durch einen Einwand auf das „moral hazard“-Problem der Theorie hin. Die Proponenten der Position 3 halten die Ausführungen der Position 2 für nicht relevant, weil es aufgrund eines fehlenden Verbots der Sezession keiner Genehmigung bedürfe. Darüber hinaus stützen sie die Begründungsstruktur. Insgesamt gelingt es den Proponenten der Positionen 2 und 3, die Begründungsstruktur durch Formulierung neuer Gründe und Entkräftung erhobener Einwände zu stabilisieren. Das grundsätzliche Problem der Position ist ihre fehlende positivrechtliche Verankerung, insbesondere die fehlende Staatenpraxis. Darüber hinaus wird sie durch die Position 3 konkurrenziert.
III. Mündliche Stellungnahmen Von den 29 Akteuren der dritten Runde vertreten nur gerade drei die Position 2. Es fällt auf, dass die Position 2 im Laufe des Verfahrens am meisten Proponenten verloren hat.278 Deutschland hat bereits in der zweiten Runde den Schwerpunkt auf die Position 3 gelegt. Albanien hatte in der ersten Runde noch klar die Position 2 vertreten und sich in der zweiten Runde der Position 3 angenähert. Nun vertritt es die Position 3. Estland, Irland, Lettland, Polen, die Schweiz und Slowenien bringen sich nicht in die dritte Runde ein – dafür kommt Jordanien neu dazu, das über weite Strecken die Position 2 und gegen Ende die Position 3 vertritt. Wenn man bedenkt, dass Russland zwar die Position 2 vertritt, die Anwendung des remedialen Rechts zur Sezession auf den Kosovo aber ablehnt, dann gibt es nur noch zwei Akteure, die behaupten, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo als remediale Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gerechtfertigt werden soll. Von diesen beiden vertritt Jordanien auch noch die Position 3. Damit vertreten nur noch die Niederlande eine Begründung, die sich ausschliesslich am remedialen Recht zur Sezession orientiert. 1. Begründung der Position 2 a) Systematische Stellung des Selbstbestimmungsrechts und Verhältnis zum Prinzip der territorialen Integrität Jordanien erhebt Einwände zur These, dass das Prinzip der territorialen Integrität dem Selbstbestimmungsrecht vorgehe.279 Erstens regle Art. 2 Ziff. 4 VN-
278 Von zehn Proponenten in der ersten Runde über vier in der zweiten zu drei in der dritten. 279 Jordanien (Al Hussein), m. St., 34 ff.
294
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Charta nur zwischenstaatliche Beziehungen und betreffe die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo daher nicht. Falls man um des Arguments willen vom Gegenteil ausgehe, müsse man das Selbstbestimmungsrecht, das nach Art. 1 Ziff. 2 VNCharta unbedingt und vom Gerichtshof als ius cogens anerkannt sei, in Betracht ziehen. Es gebe keine völkerrechtliche Grundlage für einen absoluten Anspruch der territorialen Integrität. Das moderne Völkerrecht habe es verschiedentlich eingeschränkt, u. a. durch das Kapitel VII VN-Charta und Normen des ius cogens, beispielsweise das Genozidverbot. Die Schutzklausel der FRD halte fest, dass sich ein Staat nicht auf den Schutz der territorialen Integrität berufen könne, wenn er das Selbstbestimmungsrecht missachte. Dies habe Belgrad 1989 klar getan. Die Missachtung blieb bis 1999 bestehen. Auch heute seien die serbischen Bekenntnisse zur kosovarischen Selbstbestimmung mehr als fragwürdig, wie die Verfassung von 2006 zeige. Diese Einschränkungen des Prinzips der territorialen Integrität seien auch durch die Wiener Erklärung und den Obersten Gerichtshof von Kanada bestätigt worden.280 Selbst die vom kanadischen Gerichtshof gesetzten strengen Voraussetzungen zur Ausübung des externen Selbstbestimmungsrechts seien im Falle des Kosovo erfüllt gewesen. Jeglicher Schritt zurück vor die Annahme der Unabhängigkeitserklärung würde das Selbstbestimmungsrecht des Kosovo verletzen. b) Die Träger des Selbstbestimmungsrechts aa) Bejahung der kosovarischen Trägerschaft: Jordanien Jordanien geht zunächst auf die Frage ein, ob die Kosovaren ein Volk sind.281 Serbien habe behauptet, dass die Kosovaren kein Volk seien. Diese Behauptung unterminiere die Glaubwürdigkeit Serbiens, das seinen Souveränitätsanspruch mit dem Hinweis auf Autonomiegarantien für die Kosovaren durchsetzen wolle: „If the Kosovo people do not qualify as ,People‘, how can Serbia offer them internal self-determination?“ 282 Die Geschichte habe gezeigt, dass die Kosovaren ein Volk mit kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen Verbindungen zum Territorium seien. Danach geht Jordanien auf die Geschichte seit dem 15. Jahrhundert ein und kommt zum Schluss, dass den Kosovaren über Jahrhunderte der Status eines „Volkes“ zugekommen sei. Dies werde auch durch die jüngere Geschichte bestätigt, während der dieser Status durch die internationale Gemeinschaft anerkannt worden sei.283
280
Jordanien (Al Hussein), m. St., 36 f. m. H. auf Quebec-Gutachten. Jordanien (Al Hussein), m. St., 31 ff. 282 Jordanien (Al Hussein), m. St., 31. 283 Jordanien (Al Hussein), m. St., 32 m. H. auf die Rambouillet-Abkommen, die S/ RES/1244 (1999) und den Interimsverfassungsrahmen. 281
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bb) Verneinung der kosovarischen Trägerschaft: Russland Für Russland sind ausserhalb des kolonialen Kontexts Sezessionen nur als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts unter aussergewöhnlichen Umständen zulässig. Daher müsse das kosovarische Volk Träger des Selbstbestimmungsrechts sein. Es sei bereits aufgezeigt worden, dass es unter keine traditionelle Trägerkategorie falle.284 Deshalb hätten einige Staaten einigen Aufwand betrieben, um zu behaupten, dass ihm aufgrund der föderalen Struktur der SFRJ ein solches Recht zukomme. Insbesondere die Kompetenzen des Kosovo und die Tatsache, dass der Kosovo auf föderaler Ebene direkt vertreten gewesen sei, seien hervorgehoben worden.285 Dies sei jedoch nicht relevant. Es komme auf die rechtliche Qualifikation einer bestimmten Bevölkerung als Volk an. Und dies fehle in allen nachfolgenden Verfassungen der SFRJ. Diese These werde durch zahlreiche internationale Dokumente belegt. Weder die Badinter-Schiedskommission noch die Sicherheitsratsresolutionen oder andere relevante Dokumente hätten je von einem Selbstbestimmungsrecht für das kosovarische Volk gesprochen.286 Die Badinter-Schiedskommission habe die Dissolution der SFRJ für beendet erklärt, ohne die Unabhängigkeit des Kosovo je in Betracht gezogen zu haben.287 Einige Staaten hätten auf die Rambouillet-Abkommen und die in Absatz 3, Art. 1 enthaltene Stelle „the will of the people“ hingewiesen.288 Diese Stelle weise nicht wie behauptet die Anerkennung eines kosovarischen Volkes nach, sondern zeige, in welcher Ferne eine solche Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft gelegen habe. Erstens sei das Ziel des Abkommens die Errichtung von demokratischen Selbstverwaltungsinstitutionen unter Respektierung der territorialen Integrität und der Souveränität der FRJ gewesen.289 Der Text vermeide den Begriff des Volkes durchgehend und verwende „national communities“, „all persons in Kosovo“, „all citizens in Kosovo“ usw.290 Wenn sich die 284 Russland (Gevorgian), m. St., 42 m. H. auf Serbien (Kohen), m. St., 78 und Weissrussland (Gritsenko), m. St., 31. 285 Russland (Gevorgian), m. St., 42 m. H. auf Kosovo (Wood), 17 und Kroatien (Metelko-Zgomic´), m. St., 53 ff. 286 Russland (Gevorgian), m. St., 42 m. H. auf Gutachten 1–10 und S/RES/1160 (1998), 1199 (1998), 1203 (1998), 1239 (1998) und 1244 (1999). 287 Russland (Gevorgian), m. St., 42 m. H. auf Gutachten 8. 288 Russland (Gevorgian), m. St., 42 m. H. auf Kosovo (Hyseni), m. St., 12 und (Murphy), 47 und 52 ff. sowie Österreich (Tichy), m. St., 13. 289 Russland (Gevorgian), m. St., 43 m. H. auf Rambouillet-Abkommen, Kapitel 1, Präambel, Absatz 4. 290 Russland (Gevorgian), m. St., 43 m. H. auf Rambouillet-Abkommen, Präambel; Framework, Art. I, Ziff. 1 und 2, Art. II, Ziff. 3 und 6; Kapitel 1, Präambel, Art. I, Ziff. 2 und 7, Art. VII und IX.
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Rambouillet-Abkommen zur Selbstbestimmung geäussert hätten, dann negativ.291 Die Worte „the will of the people“ müssten sich nicht zwingend auf die kosovarische Bevölkerung, sondern könnten sich auf die gesamte Bevölkerung des Staates oder den generellen Begriff des Volkswillens als demokratisches Prinzip beziehen. Darüber hinaus seien die Abkommen nie bindend gewesen. Kurz: In den Abkommen könne nicht eine Anerkennung eines kosovarischen Volkes durch die internationale Gemeinschaft gesehen werden. c) Externe oder remediale Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Die Niederlande weisen darauf hin, dass es sie ehre, den Gerichtshof am Menschenrechtstag adressieren zu dürfen. Sie hofften, dass der Gerichtshof dies zum Anlass nehme, festzustellen, dass es wirksame Rechtsbehelfe gegen Menschenrechtsverletzungen gebe.292 Die Niederlande gehen zunächst auf die bekannte Begründungsstruktur der Position 2 ein, wonach der Gerichtshof in Wall die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts ausserhalb des kolonialen Kontexts anerkannt habe und es eine interne und externe Form der Ausübung gebe. Letztere sei nur in Ausnahmefällen möglich. Die Niederlande bringen die bereits dargestellten materiellen und prozeduralen Voraussetzungen der Ausübung in den mündlichen Teil des Verfahrens ein. Danach reagieren sie auf die von ihnen identifizierten Einwände. Es sei behauptet worden, dass es den Staaten, die ein postkoloniales externes Selbstbestimmungsrecht vertreten hätten, nicht gelungen sei, den Nachweis seiner Existenz zu erbringen. Es gebe reichlich Literatur zum Selbstbestimmungsrecht; diese sei informativ, aber nicht autoritativ. Die Meinungsverschiedenheiten würden ihren Beizug als Rechtsquelle i. S. v. Art. 38 IGH-Statut ausschliessen. Der Gerichtshof müsse auf die entsprechenden vertraglichen Grundlagen und die Staatenpraxis zum Selbstbestimmungsrecht zurückgreifen. Die schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen sowie die Repliken würden dem Gerichtshof erlauben, genau das zu tun. Es sei nicht erstaunlich, dass es nicht viele Fälle der postkolonialen externen Ausübung gebe.293 Erstens sei diese erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Zweitens müssten die dazugehörigen Voraussetzungen erfüllt sein. In diesem Verfahren sei auf viele Fälle hingewiesen worden, in denen diese Voraussetzungen nicht gegeben waren. Es gäbe aber auch Fälle, in denen die internationale Gemeinschaft die Ausübung des Rechts akzeptiert habe. Die Niederlande verweisen auf Bangladesch und Kroatien. Fälle, in denen sich Staaten auf291 Russland (Gevorgian), m. St., 43 m. H. auf S/RES/1244 (1999), Ziff. 11 lit. a und f sowie Annexe I und II. 292 Niederlande (Lijnzaad), m. St., 8. 293 Niederlande (Lijnzaad), m. St., 10.
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gelöst hätten, seien anders gelagert als der vorliegende, aber trotzdem nicht irrelevant. Für gewisse Völker sei es aufgrund vergangener Verletzungen des Selbstbestimmungsrechts unmöglich gewesen, mit den anderen in einem Staat zu verbleiben. Die Niederlande verweisen auf Eritrea und Slowenien. Danach gehen die Niederlande auf das Vorliegen der Voraussetzungen im Falle des Kosovo ein und kommen zum Schluss, dass sowohl die materiellen als auch die prozeduralen Voraussetzungen gegeben seien.294 Zum Schluss wiederholen die Niederlande ihr Diktum, wonach Stabilität manchmal nur durch Wandel gewährleistet werden könne und dass dieser Wandel anhand des Selbstbestimmungsrechts vollzogen werden sollte.295 Russland, das auch von der Existenz eines remedialen Rechts zur Sezession ausgeht, sieht die Voraussetzungen der Ausübung im Falle des Kosovo als nicht erfüllt an.296 Falls die Kriterien einer solchen Ausübung je erfüllt gewesen seien, dann im Jahr 1999. Aber selbst dann habe die internationale Gemeinschaft die territoriale Integrität der FRJ bestätigt. Um sich im Jahr 2008 darauf berufen zu können, müsste der Kosovo nachweisen, dass die Situation schlimmer sei als 1999. Dies sei offensichtlich nicht der Fall. d) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die Proponenten der Position sind deutlich weniger geworden. Der neue Proponent Jordanien fügt sich gut in die bisher vertretene Begründungsstruktur ein. Es weist zunächst auf Entwicklungen hin, die die These eines absoluten Vorrangs des Prinzips der territorialen Integrität relativieren. Bezüglich der Frage nach der kosovarischen Trägerschaft des Selbstbestimmungsrechts stellt Jordanien die rhetorische Frage, wie Serbien den Kosovaren das interne Recht auf Selbstbestimmung zugestehen könne, wenn es sie nicht als Volk anerkenne. Serbien geht in den Einwänden zur Position aber auf die Frage ein, ob ein kosovarisches Volk als Träger des externen Selbstbestimmungsrechts anerkannt worden ist. Die Möglichkeit der internen Ausübung wurde von Serbien während dem Verfahren nicht infrage gestellt. Jordanien nutzt hier den Begriff des Volkes, um auf einen vermeintlichen Widerspruch in der serbischen Begründung hinzuweisen. Als zweiten Begründungsstrang vertritt Jordanien eine Mischung aus einer historischen Identifizierung des kosovarischen Volkes, das sich durch bestimmte Merkmale identifizieren lässt, und einer prozeduralen Identifizierung, die sich auf das Rambouillet-Abkommen und den Interimsverfassungsrahmen abstützt. 294 295 296
Niederlande (Lijnzaad), m. St., 10 ff. m.w. H. Niederlande (Lijnzaad), m. St., 15. Russland (Gevorgian), m. St., 43 f.
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Diese Verbindung wird insbesondere durch den Art. 1.1 des Interimsverfassungsrahmens gestützt.297 Russland ist der einzige Proponent der Position 2, der die kosovarische Trägerschaft verneint. Russland hält zunächst fest, dass der Kosovo in keine epistemische Kategorie fällt. Danach wird eine verfassungsrechtliche Anerkennung ausgeschlossen. Dieser Ausschluss stützt sich auf die formalrechtliche Tatsache, dass die Kosovaren in keiner SFRJ-Verfassung den Status einer Republik innehatten und dass das verfassungsmässige Recht zur Sezession nur Republiken zukam. Gemäss der Verfassung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien von 1946 bestand die Föderation aus den sechs Republiken Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Montenegro; die Republik Serbien umfasste auch die autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo-Metochien.298 Die Verfassung von 1953 sah den gleichen Status vor.299 Die Verfassung der SFRJ von 1963 gab den Republiken das Recht, in Übereinstimmung mit den betroffenen Bevölkerungen autonome Provinzen zu schaffen; diese wurden als sozio-politische Gemeinschaften bezeichnet. Kosovo-Metochien war eine der beiden anerkannten autonomen Provinzen der Republik Serbien.300 Ein wesentlicher Ausbau der Autonomierechte erfolgte durch die Verfassung von 1974. Die beiden autonomen Provinzen wurden in Art. 1 der Verfassung zusammen mit den Republiken als konstituierend für den jugoslawischen Staat genannt. Die Provinzen wurden bezüglich der Teilnahme an der Föderation den Republiken gleichgestellt: Sie waren im föderalen Präsidium und den föderalen Organen vertreten und konnten erstmals eigene Verfassungen (nicht mehr Statute) erlassen. Die Provinzen hatten souveräne Rechte, eine eigene Nationalbank und Kompetenzen in den Aussenbeziehungen.301 Obwohl der Kosovo in dieser Zeit den Republiken de facto praktisch gleichgestellt war, blieb das Recht zur Sezession aus formellrechtlicher Perspektive den Republiken vorbehalten. Insofern lässt sich die Begründung von Russland durch einen formalistischen Blick auf die Verfassungsgeschichte der SFRJ stützen.302 Die dritte Begründungsstruktur setzt sich mit einer prozeduralen Anerkennung des Kosovo durch internationale Organe auseinander: Hier wiederholt Russland 297 Art. 1.1 Interimsverfassungsrahmen: Kosovo is an entity under interim international administration which, with its people, has unique historical, legal, cultural and linguistic attributes. 298 Art. 2 der jugoslawischen Verfassung von 1946, in: Weller, Crisis, 51 f. 299 Art. 113 f. der jugoslawischen Verfassung von 1953, in: Weller, Crisis, 52. 300 Art. 111 f. der jugoslawischen Verfassung von 1963, in: Weller, Crisis, 53. 301 Art. 2, 4, 245 ff., 262, 271, 284, 313, 321 der jugoslawischen Verfassung von 1974, in: Weller, Crisis, 54 ff.; siehe auch Weller, Statehood, 35. 302 Tim Judah bezeichnet dies als „constitutional sophistry“ (Tim Judah, Kosovo: War and Revenge, New Haven/London 2000, 37). Vgl. auch Tierney, 267 ff.; Guliyeva, 290 f. und Allen/Guntrip, 320.
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die Thesen, dass der Kosovo weder von der Badinter-Schiedskommission noch in den Rambouillet-Abkommen als Entität behandelt worden sei, die sich für unabhängig erklären dürfe. Bezüglich der Rambouillet-Abkommen verweist Russland auf das Ziel der Abkommen, Selbstverwaltungsinstitutionen unter Berücksichtigung der serbischen territorialen Integrität zu etablieren. Es verweist auf die Verwendung verschiedener Bezeichnungen für die Menschen im Kosovo und schliesslich darauf, dass die Abkommen nie in Kraft getreten sind. Überraschend, dass dieser letzte Einwand erst jetzt vorgebracht wird. Bezüglich der Möglichkeit der externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gehen die neuen Begründungen nicht über die bereits eingebrachten hinaus. Die Begründung der Niederlande lässt ein zweites Mal darauf schliessen, dass sie im Kosovo-Fall die Möglichkeit sehen, dass der Gerichtshof die Existenz des Rechts anerkenne. Nachdem sie den Gerichtshof bereits einmal explizit zur Anerkennung des Rechts aufgerufen haben, verweisen sie diesmal auf die eingereichten Stellungnahmen, auf die sich der Gerichtshof in der Anerkennung des Rechts stützen könne. Russland lehnt das Gegebensein der Voraussetzung im Fall des Kosovo durch den Vergleich zwischen den Situationen von 1999 und 2008 ab. Ein Einwand, der auch von den Proponenten der Position 1 erhoben wird. 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 2 a) Einwände zu den Trägern des Selbstbestimmungsrechts der Völker Argentinien wiederholt gegen die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession den Einwand, dass sich die Doktrin nicht mal auf die Ziele stützen könne, die sie zu verfolgen behaupte. Es zitiert Marcelo G. Kohen, wonach temporäre, von der Regierung zu verantwortende Minderheitenrechtsverletzungen nicht dadurch beendet werden sollten, dass eine Minderheit in ein Volk mit eigenem Staat verwandelt wird. Wie man wisse, würden Staaten mit der Absicht der Beständigkeit geschaffen.303 Serbien und Rumänien erheben verschiedene Einwände zur These, dass das kosovarische Volk in den Rambouillet-Abkommen anerkannt worden sei.304 Für beide ist der Volkswillen erstens nur einer von vielen Parametern. Wenn dies eine Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts wäre, dann wäre es der einzige entscheidende Parameter. Als zweiten Einwand geht Serbien auf die USA ein, die den Satz in den Rambouillet-Abkommen in ihrer Replik mit einem Zitat von Thomas Jefferson ver303
Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 45 m. H. auf Kohen, Création d’Etats, 596. Serbien (Kohen), m. St., 83 ff. und Rumänien (Aurescu), m. St., 32 m. Zitat aus Norwegen (Fife), m. St., 51. 304
300
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bunden haben.305 Dieses Zitat hilft laut Serbien nicht, weil es sich nicht auf ein Recht zur Sezession, sondern auf ein Recht der demokratischen Teilnahme beziehe. Die USA hätten auch den berühmten Satz von Abraham Lincoln zitieren können: „government of the people, by the people, for the people“.306 Diese Referenz wäre jedoch eher peinlich gewesen, habe er diesen Satz doch einige Monate nach der entscheidenden Schlacht gegen den sezessionistischen Süden geäussert; ein Sezessionsversuch, der für den Präsidenten Lincoln verfassungs- und völkerrechtswidrig gewesen sei.307 Der Verweis in den Rambouillet-Abkommen sehe nicht ein Unabhängigkeitsreferendum vor, sondern diene dazu, die Meinung des kosovarischen Volkes im Statusprozess zu berücksichtigen.308 Er könne daher nicht als Rechtfertigung für die Unabhängigkeitserklärung herangezogen werden. Rumänien bringt den dritten Einwand ein, dass die kosovarischen Vertreter während den Verhandlungen einen expliziten Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht vorgeschlagen hätten, dies sei jedoch abgelehnt worden.309 Daher könne der Hinweis auf „the will of the people“ nicht mit der Anerkennung eines kosovarischen Volkes als Träger des Selbstbestimmungsrechts gleichgesetzt werden. b) Einwände zur These des remedialen Rechts zur Sezession Aserbaidschan, China, Serbien und Spanien wiederholen den Einwand der fehlenden positivrechtlichen Verankerung; die Theorie lasse sich weder auf die Schutzklausel der FRD, noch die travaux préparatoires dazu oder die Staatenpraxis stützen.310 Und auch wenn es eine völkerrechtliche Regel wäre, würde der Kosovo die notwendigen Voraussetzungen nicht erfüllen.311 Spanien und Rumä305
Vgl. oben § 9 II.4.b). Serbien (Kohen), m. St., 84 m. Zitat aus Abraham Lincoln, Address at Gettysburg, Pennsylvania, 19. November 1863, in: Abraham Lincoln, Selected Speeches and Writings, New York 1992, 405. 307 Serbien (Kohen), m. St., 84 m. H. auf Abraham Lincoln, First Inaugural Address, 4. März 1861, in: Abraham Lincoln, Selected Speeches and Writings, New York 1992, 288 ff. 308 Serbien (Kohen), m. St., 84 f. m. Zitaten vom damaligen französischen Aussenminister Hubert Védrine (vgl. die Nachweise in Serbien, m. St., 85, Fn. 166 f.). 309 Rumänien (Aurescu), m. St., 32 m. H. auf Kosova Delegation Statement on New Proposal for a Settlement, 18 February 1999, in: Weller, Crisis, 444 f. 310 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 25; Serbien (Kohen), m. St., 80 m. H. auf Serbien, s. St., 214 ff. und Olivier Corten, Déclarationes unilatérales d’indépendance et recoinnaissance prématurées: du Kosovo à l’Ossétie du sud et à l’Abkhazie, RGDIP, 2008, 721 ff., 726; Spanien (Escobar Hernández), m. St., 19 m. Zitat aus CERD-Ausschuss, Allgemeine Empfehlung Nr. 21, Ziff. 1 und 6. 311 Serbien (Kohen), m. St., 80 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 589 ff., Replik, Rz. 339 ff.; Argentinien, s. St., Rz. 85 f.; Zypern, s. St., Rz. 140 ff.; Spanien, Replik, Rz. 8; Iran, s. St., Rz. 4.1; Rumänien, s. St., Rz. 147 und 156; Russland, s. St., Rz. 97 ff. und Slowakei, s. St., Rz. 28. 306
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nien verweisen auf die von der EU eingesetzte Unabhängige Internationale Untersuchungskommission zum Konflikt in Georgien, die zum Schluss gekommen sei, dass sich die unilaterale Staatsentstehung ausserhalb von Kolonialherrschaft und Apartheid nicht auf das Selbstbestimmungsrecht stützen lasse.312 Serbien und Aserbaidschan weisen auf das „moral hazard“-Problem hin: Die Proponenten der Theorie würden gemäss Serbien einige wesentliche Daten des Kosovo-Falls vergessen. Es seien die Separatisten gewesen, die sich durch die Unabhängigkeitserklärung von 1991, die Etablierung von separaten Strukturen, den Boykott von Wahlen und die Ablehnung jeglicher Kontakte zu den oppositionellen Kräften des Miloševic´-Regimes aus dem politischen Prozess verabschiedet hätten.313 Die albanischen Parteien seien für alle Wahlen registriert gewesen und die albanische Beteiligung hätte die Machtergreifung und -erhaltung von Miloševic´ verhindern können.314 Und es sei die UÇK gewesen, die den internen bewaffneten Konflikt ausgelöst habe.315 Während dieser Einwand auf die erste Voraussetzung der Theorie zielt (Verunmöglichung der internen Ausübung), geht Aserbaidschan auf die zweite ein (die Sezession als ultimum remedium): Für die Schlüsselakteure sei von Anfang an klar gewesen, dass die Unabhängigkeit das Ergebnis des Prozesses sein müsse. Dies habe eine unilaterale Haltung begünstigt und die Bereitschaft, in Treu und Glauben zu verhandeln, massgeblich beeinflusst.316 Ein weiterer Einwand zielt auf die Teleologie der Theorie: Die Lebensverhältnisse der Minderheiten seien in Serbien, inklusive der Vojvodina, besser als im Kosovo. Während sich die Situation in Serbien kontinuierlich verbessere, blieben die Lebensverhältnisse für nicht albanische Volksgruppen im Kosovo extrem schwierig.317 Dies sollte das Gewissen der internationalen Gemeinschaft genauso schockieren wie andere Übergriffe im Balkan. Die Sezession sei kein Rechtsbehelf für den Kosovo – im Gegenteil: Die Unabhängigkeitserklärung habe die interethnischen Spannungen verschärft.318
312 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 19 m. Zitat aus Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG-CEIIG), Report, Vol. 1, September 2009, 17, Rz. 11 (http://www.ceiig.ch/Report.html); Rumänien (Aurescu), m. St., 33 m. Zitaten aus Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG-CEIIG), Report, Vol. 1, September 2009, 136, 138 und 141 (http://www.ceiig.ch/Report.html). 313 Serbien (Kohen), m. St., 81 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 102 ff. und 236 f., 258 ff. und 642 f. 314 Serbien (Kohen), m. St., 81 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 273 ff. 315 Serbien (Kohen), m. St., 81 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 290 ff. 316 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 17. 317 Serbien (Kohen), m. St., 81 f. m.w. H. 318 Serbien (Kohen), m. St., 83 m. H. auf Ombudsman Institution in Kosovo, Eight Annual Report 2007–2008, 37 (www.ombudspersonkosovo.org).
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Serbien verweist auf eine Aussage des französischen Aussenministers, wonach die Unabhängigkeitserklärung 1999 keine Option gewesen sei.319 Und es fragt: Falls das remediale Recht zur Sezession tatsächlich eine Option ist, warum wurde sie 1999 nicht gewählt? Auch Spanien geht auf die Frage des Zeitpunkts ein: Spanien anerkennt zunächst die zentrale Rolle, die dem Schutz des Individuums im zeitgenössischen Völkerrecht zukommen müsse.320 Daher müsse die Respektierung der Menschenrechte in jegliche Auslegung von völkerrechtlichen Normen oder Prinzipien miteinbezogen werden, auch im Bereich der Friedenssicherung und der internationalen Sicherheit. Dieses Element sei aber schon bei der Annahme der S/RES/1244 (1999), der Einrichtung des internationalen Interimsregimes und beim Interimsverfassungsrahmen berücksichtigt worden. Man müsse daher nicht darauf zurückkommen. Die Fragen der schweren Menschenrechtsverletzungen seien schon 1999 geregelt worden. Danach habe es keine Verletzungen gegeben, die die Annahme der Unabhängigkeitserklärung als Ausübung eines remedialen Rechts zur Sezession rechtfertigen könnten. Selbst unter der Hypothese, dass es ein solches Recht gebe, wäre dieses nicht auf den Fall Kosovo anwendbar. Auch Rumänien hält fest, dass die erste Voraussetzung zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung nicht erfüllt war.321 Einige Staaten würden sich auf Fakten stützen, die sich mehr als zehn Jahre vor der Annahme der Unabhängigkeitserklärung unter völlig anderen Umständen zugetragen hätten; dies sei eine völlig artifizielle Konstruktion, die nicht akzeptiert werden könne.322 Sie widerspreche dem generellen Rechtsprinzip tempus regit actum. Der entscheidende Zeitpunkt für die Analyse der Rechtmässigkeit sei der 17. Februar 2008.323 Venezuela erhebt einen Einwand gegen die Niederlande, die den Gerichtshof aufgefordert haben, die Nachricht auszusenden, dass es effektive Rechtsbehelfe gegen Menschenrechtsverletzungen gebe. Die Nachricht sei aber, dass man Staaten mit der Amputation ihres Territoriums bestrafen könne, auch wenn diese ihr Verhalten drastisch geändert hätten, die Menschen- und Minderheitenrechte respektieren, mit den VN zusammenarbeiten, eine internationale Verwaltung tolerieren und mit den Minderheiten über eine Lösung verhandeln würden. Die Nachricht wäre, dass all dies keinen Unterschied machen würde und dass sie ihre Politik daher nicht ändern müssten.324
319 Serbien (Kohen), m. St., 81 m. Zitat von Hubert Védrine, damaliger Aussenminister im Kabinet Jospin (vgl. den Nachweis in Serbien, m. St., 81, Fn. 155). 320 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 18. 321 Rumänien (Aurescu), m. St., 34 ff. 322 Rumänien (Aurescu), m. St., 28. 323 Rumänien (Aurescu), m. St., 28 m. H. auf Dänemark (Winkler), m. St., 68. 324 Venezuela (Fleming), m. St., 15.
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c) Einwände zu einem verfassungsmässigen Recht zur Sezession Viele Staaten hätten sich auf den verfassungsrechtlichen Status, den der Kosovo unter der SFRJ-Verfassung von 1974 innegehabt habe und dessen Aufhebung im Jahre 1989 gestützt.325 Rumänien äussere sich nicht dazu und beanspruche nicht, dies besser zu können als ehemalige Republiken der SFRJ. Aber Rumänien möchte die These abweisen, nach der sich aus diesem verfassungsrechtlichen Status ein Recht zur Sezession herleiten lasse. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung sei der Kosovo nicht mehr Teil der SFRJ gewesen.326 Die Unabhängigkeit des Kosovo – und auch diejenige von Montenegro – seien nicht die letzten Schritte der Dissolution der SFRJ. Diese sei 1992 zu Ende gewesen und die Ereignisse im Jahr 2008 hätten unter anderen Umständen stattgefunden. Der Kosovo sei zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung Teil Serbiens gewesen, das Rechtsnachfolger der FRJ, aber nicht der SFRJ sei. Der spezielle Status unter der SFRJ könne daher weder auf den neuen Staat übertragen noch als Rechtfertigung für die Sezession herangezogen werden. Die von Jordanien gemachte Behauptung, dass der Kosovo nach der Dissolution der SFRJ de iure nicht Teil der FRJ gewesen sei, ist für Rumänien zumindest seltsam.327 d) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Frage nach den Trägern des Selbstbestimmungsrechts, die in der ersten Runde sehr breit diskutiert wurde, hat sich praktisch auf die Frage verengt, ob das kosovarische Volk in den Rambouillet-Abkommen anerkannt wurde oder nicht. Damit hat sich der prozedurale Weg der Identifizierung der Träger des Selbstbestimmungsrechts vorläufig durchgesetzt. Als Einwand wird wieder der teleologische Widerspruch eingebracht, der zwischen temporären Menschenrechtsverletzungen und der Lösung der Staatlichkeit bestehe, die mit der Absicht der Beständigkeit implementiert werde. Serbien nutzt die US-amerikanische Referenz an Thomas Jefferson, um mit einem argumentum ad hominem darauf hinzuweisen, dass ihr Präsident Abraham Lincoln die Sezession des Südens als völkerrechtswidrig angesehen habe. Und Rumänien bringt als neuen Einwand vor, dass die Anerkennung eines kosovarischen Selbstbestimmungsrechts in den Rambouillet-Abkommen explizit abgelehnt worden sei. Dies stärkt die These, dass in den Abkommen nicht eine solche Anerkennung gesehen werden kann.
325
Rumänien (Aurescu), m. St., 28 m. H. auf Kroatien (Metelko-Zgombic´), m. St.,
59 ff. 326
Rumänien (Aurescu), m. St., 29 m. H. auf Badinter-Schiedskommission, Gutach-
ten 8. 327
Rumänien (Aurescu), m. St., 29 m. H. auf Jordanien (Al Hussein), m. St., 34, 41.
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Bezüglich der Theorie des remedialen Rechts zur Sezession ist interessant, dass Serbien, Spanien und Rumänien auf ein neues Dokument verweisen, um ihre These zu stützen, dass das Selbstbestimmungsrecht ausserhalb des Dekolonialisierungsprozesses nicht extern ausgeübt werden könne: den Bericht der unabhängigen internationalen Erkundungsmission zum Konflikt von Georgien.328 Der Bericht ist im September 2009, also zwischen der Abgabe der Repliken am 17. Juli 2009 und den mündlichen Stellungnahmen Anfangs Dezember, erschienen. Damit verfügen die Opponenten der Position 2 über ein neues autoritatives Dokument zur Stützung ihrer Einwände. Serbien und Aserbaidschan bauen den Einwand des „moral hazard“-Problems aus. Drei Punkte werden angesprochen: Die Kosovo-Albaner hätten sich vom demokratischen Prozess verabschiedet. Die UÇK habe den bewaffneten Konflikt begonnen. Und die Verhandlungen seien von Anfang an nicht in Treu und Glauben geführt worden. Diese Einwände betreffen beide Voraussetzungen des remedialen Rechts zur Sezession. Als neuen Einwand präsentiert Serbien einen Vergleich zwischen der Menschen- und Minderheitenrechtssituation in Serbien und im Kosovo. In Serbien werde die Situation immer besser, im Kosovo bleibe sie für nicht albanische Gruppen sehr schwierig. Dieser Einwand zielt auf die Teleologie der Theorie, die die Sezession als Rechtsbehelf gegen Menschen- und Minderheitenrechtsverletzungen rahmt. Serbien fokussiert auf die nicht albanischen Minderheiten im Kosovo, während die Sezession als Rechtsbehelf für die kosovo-albanischen Bewohner – die ehemalige Minderheit und neue Mehrheit im Kosovo – gedacht war. Der Einwand verschiebt den Fokus somit auf Personen, die bisher in der Debatte um die Theorie an den Rand gedrängt wurden. Es stellt sich die Frage: Soll der Rechtsbehelf zu einer besseren Situation für die ehemals diskriminierte Minderheit oder zu einer besseren Situation für alle Menschen und Minderheiten eines bestimmten Territoriums führen? Auch Venezuela stellt die teleologische Stossrichtung der Theorie, die von den Niederlanden mit dem Hinweis auf den Menschenrechtstag hervorgehoben wird, infrage. Es liest die von den Niederlanden geforderte Nachricht anders: Die Sezession sei kein Rechtsbehelf, sondern ein Zeichen dafür, dass das Verhalten des betroffenen Staates keine Auswirkungen auf den Ausgang des Versöhnungsprozesses habe. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Bezüglich der Theorie des remedialen Rechts zur Sezession kann bei den Einwänden eine Verschiebung von der fehlenden positivrechtlichen Verankerung der 328 Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG-CEIIG), Report, Vol. 1, September 2009, 17, Rz. 11 (http://www.ceiig.ch/ Report.html).
§ 9 Die Sezession als Willensäusserung des Volkes
305
Theorie zur Infragestellung ihrer Rahmung festgestellt werden. Die Proponenten der Position 1 erheben zunehmend Einwände, die das „moral hazard“-Problem akzentuieren oder ihre Eignung als Rechtsbehelf anzweifeln. cc) Intervenierende Beurteilung Serbien, Spanien und Rumänien erheben Einwände, die sich auf einen Vergleich zwischen 1999 und 2008 stützen. Ein Einwand besagt, dass das remediale Recht 1999 hätte zugestanden werden müssen. Ein weiterer, dass der entscheidende Zeitpunkt für die rechtliche Beurteilung der 18. Februar 2008 sei – tempus regit actum. Die Folge aus diesen beiden Einwänden ist, dass zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung sicher kein remediales Recht zur Sezession zur Verfügung stand. Diese Einwände gehen an der Begründungsstruktur der Position 2 vorbei, solange sie sich nicht auf die zweite Voraussetzung der remedialen Rechtsausübung beziehen. Für die Proponenten der Position 2 wurde die Zeit zwischen 1999 bis 2008 zur Ausschöpfung aller anderen Mittel genutzt. Dies lässt sich mit der Entwicklung des Statusprozesses gut begründen. Solange die Einwände, die sich auf den Vergleich zwischen den beiden Zeitpunkten stützen, nicht diesen Teil der Begründungsstruktur in Bearbeitung nehmen, können sie diese nicht entkräften. 3. Die Proponenten der Position 3 als Proponenten der Position 2 a) Zusammenfassende Reformulierung Kosovo vertritt die These, dass dem kosovarischen Volk das Selbstbestimmungsrecht zukomme und dass es dieses unter den gegebenen Umständen in der Form der Unabhängigkeit habe ausüben dürfen.329 Zwei Voraussetzungen seien gegeben: Erstens sei die kosovarische Bevölkerung ein Volk und Träger des Selbstbestimmungsrechts (intern und, falls nötig, extern). Kosovo verweist auf den Art. 1.1 des Interimsverfassungsrahmens: „Kosovo is an entity under international administration which, with its people, has unique historical, legal, cultural and linguistic attributes.“ Für den Kosovo habe die S/RES1244 (1999), weil sie der kosovarischen Bevölkerung eine substantielle Autonomie gewähre, nicht bloss eine separate Gruppe, sondern auch ein Selbstbestimmungsrecht implizit anerkannt – auch wenn sie es nicht explizit zum Ausdruck bringe.330 329 Kosovo (Müller), m. St., 45 m. H. auf Kosovo, Replik, Rz. 4.32 ff.; Schweiz, s. St., Rz. 57 ff., Replik, Rz. 6 ff.; Albanien, s. St., Rz. 75 ff., Replik, Rz. 55 ff.; Deutschland, s. St., 32 ff.; Finnland, s. St., Rz. 7 ff.; Polen, s. St., Rz. 6.1 ff.; Estland, s. St., 4 ff.; Niederlande, s. St., Rz. 3.1 ff.; Slowenien, s. St., 2; Lettland, s. St., 1; Irland, s. St., Rz. 27 ff. und Dänemark, s. St., 12 f. 330 Kosovo (Müller), m. St., 46 m. H. auf Tomuschat, Secession, 34 und Philippe Weckel, Pladoyer pour le processus d’indépendance du Kosovo: réponse à Olivier Corten, in: RGDIP, Vol. 113, Nr. 2, 2009, 257 ff., 264.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Zweitens hätten die begangenen Greueltaten gegen sie und das serbische Verhalten seit 1999 bis heute der kosovarischen Bevölkerung keine Wahl gelassen, als sich für unabhängig zu erklären: „Dans ce cas, le droit international, le droit des gens, doit reconnaître un droit à la sécession, non pas pour punir l’Etat responsable, mais pour sauver les êtres humains que souffrent de son fair.“ 331
Albanien geht auf das Selbstbestimmungsrecht und das remediale Recht zur Sezession ein, macht vorher jedoch klar, dass die Legalität der Unabhängigkeitserklärung keineswegs von einem aus dem Selbstbestimmungsrecht hergeleiteten Anspruch abhänge: „Consequently the arguments relating to the right of remedial secession are purely additional to those relating to the absence of any illegality of secession under international law.“ 332
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker sei sowohl eine vertragliche als auch eine gewohnheitsrechtliche Regel, deren erga omnes- und ius cogens-Charakter breite Anerkennung gefunden hätten. Es habe zwei unterschiedliche, aber eng verbundene Dimensionen, eine externe und eine interne. Erstere gebe einem Volk unter kolonialer oder fremder Besatzung das Recht auf Unabhängigkeit oder das Recht, einen anderen politischen Status durch Assoziation oder Integration frei zu bestimmen. Die FRD lege darüber hinaus fest, dass sie potentiell relevant sein könne, wenn einem Volk eine sinnvolle Regierungs- und Verwaltungsbeteiligung aufgrund einer systematischen Diskriminierung und Verweigerung fundamentaler Rechte verunmöglicht werde und die Staatsregierung daher nicht die ganze Bevölkerung vertrete. Die interne Dimension bestehe in der sinnvollen Regierungs- und Verwaltungsbeteiligung auf der Grundlage der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung. Die Träger des Selbstbestimmungsrechts seien Völker. Die Frage danach, was ein Volk konstituiere, könne je nach Kontext unterschiedlich beantwortet werden. Es sei jedoch unzweifelhaft, dass die Kosovaren ein Volk seien. Dies sei in den Rambouillet-Abkommen, dem Interimsverfassungsrahmen, von den Ministern der Kontaktgruppe und dem SRSG im Namen der VN anerkannt worden.333 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker formuliere grundsätzlich weder ein Recht zur noch ein Verbot der Sezession. Falls die Sezession eines Volkes von einem bestehenden Staat verboten wäre, so stünde das unmissverständlich in der FRD. Ein solches Verbot fände sich aber nur in Bezug auf andere Staaten im
331 Kosovo (Müller), m. St., 46 m. H. auf Tomuschat, Secession, 41; Malcom N. Shaw, International Law, 6. Aufl., Cambridge 2008, 523 und Pellet, Le droit international, 58. 332 Albanien (Gill), m. St., 18. 333 Albanien (Gill), m. St., 19 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 61 ff.
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letzten Absatz zum Grundsatz der Gleichbehandlung und Selbstbestimmung der Völker. Dies habe Prof. Frowein schon aufgezeigt. Der normale Modus der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts in einem unabhängigen Staat sei durch die Ausübung der bürgerlichen und politischen Rechte im Einklang mit den prozeduralen Regeln des Staates und auf der Grundlage der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung. In solchen Staaten führe das Selbstbestimmungsrecht zweifellos nicht zu einem generellen Recht zur Sezession. In Fällen, in denen diese Bedingungen schwerwiegend und systematisch verletzt würden und einem Volk die volle Beteiligung am politischen Leben und an der Staatsverwaltung untersagt würde, gebe es kein Verbot der Sezession. Dies ergebe sich aus der Schutzklausel der FRD.334 Dies sei keinesfalls „a passport to secession“, aber es könne nicht ein bedingungsloses Recht auf Bewahrung der territorialen Integrität zum Preis der Diskriminierung und der Ausschliessung geben. Diese Ansicht werde in der Lehre und vom Obersten Gerichtshof von Kanada im Quebec-Gutachten geteilt. Der Gerichtshof habe festgehalten, dass die Bevölkerung von Quebec kein unilaterales Recht zur Sezession gehabt habe, weil Kanada als demokratischer Staat die volle Partizipation gewährleistet habe. Aus diesem Schluss folge: „[. . .] where a State practises policies based on exclusion of a part of the population, it cannot rely on the law pertaining to self-determination to preserve territorial integrity.“ 335 Entscheidend sei, dass das Selbstbestimmungsrecht die territoriale Integrität eines Staates gegenüber einem Teil der eigenen Bevölkerung nicht bedingungslos garantiere: „In fact, it does not preclude secession under circumstances of systematic discrimination and denial of equal treatment of law.“ 336 Im Falle des Kosovo habe es einen solchen diskriminierenden Ausschluss des kosovarischen Volkes klarerweise gegeben. In diesem Zustand sei die S/RES/1244 (1999) angenommen worden. Es sei behauptet worden, dass die Politik der 1990er-Jahre nun nicht eine Wiederherstellung der serbischen Souveränität behindern solle. Dies sei jedoch „an absurd and totally misconstrued reading of the right of self-determination.“ 337 Erstens sei dies keine Option für die Kosovaren, weil diese das Vertrauen in serbische Beteuerungen verloren hätten. Zweitens sorge das Selbstbestimmungsrecht nicht dafür, dass ein Staat die Souveränität über ein Territorium und ein Volk wieder erhalte, wenn das Volk aufgrund eines jahrzehntelangen systematischen und gewaltsamen Ausschlusses aus dem politischen Leben entschieden habe, seinen Weg als unabhängiger Staat alleine zu gehen. Es gebe vielmehr ein remediales Recht zur Sezession und falls die Voraussetzungen dieses Rechts je gegeben 334 335 336 337
Albanien (Gill), m. St., 20 m. Zitat der Schutzklausel der FRD. Albanien (Gill), m. St., 21. Albanien (Gill), m. St., 21. Albanien (Gill), m. St., 22.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
gewesen seien, dann im Fall von Kosovo. „[T]he law is an instrument to promote and provide for a just and acceptable, as well as workable and durable solution to a problem such as this. On all these counts, there should be no question of what is both just and workable in this situation.“ 338 Obwohl das Selbstbestimmungsrecht für Deutschland im Interesse der Stabilität des internationalen Systems grundsätzlich im Rahmen bestehender Staaten ausgeübt werden sollte, könne eine Sezession als Ausnahme legitim sein, falls es der einzige Rechtsbehelf gegen eine lang anhaltende, rigorose und unterdrückende Verweigerung des internen Selbstbestimmungsrechts sei. Das sei genau die Situation der Kosovaren gewesen. Es sei behauptet worden, dass ein remediales Recht zur Sezession ein Risiko für Stabilität, Frieden und Sicherheit darstellen könne. Diese Argumente hätten jedoch eine ex ante-Perspektive. In diesem Fall gehe es um eine ex post-Perspektive: Der Staat Kosovo existiere und das Volk habe das Recht schon ausgeübt. Die Aberkennung des Rechts würde die Stabilität gefährden und die Ausübung habe gezeigt, dass es zu mehr Stabilität geführt habe.339 Der Fall Kosovo sei – wie schon in der schriftlichen Stellungnahme ausgeführt – kein Präjudiz. Die diesbezüglich geäusserten Bedenken seien ungerechtfertigt.340 Falls der Gerichtshof den Fall durch die Linse des Selbstbestimmungsrechts beurteile, müsse er die einzigartigen rechtlichen und faktischen Umstände dieses Falles berücksichtigen. Diese seien: die grosse Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats, die weitreichenden Gräueltaten, die zum Rambouillet- und zum 1244-Prozess geführt hätten, die Sorge der VN für den Willen des kosovarischen Volkes, dessen ungeteiltes Territorium und einzigartige historische, rechtliche, kulturelle und sprachliche Attribute, die lange Geschichte der kosovarischen Autonomie, die Teilnahme der kosovarischen Vertreter am international geleiteten politischen Prozess, das Bekenntnis des kosovarischen Volkes in der Unabhängigkeitserklärung, die Sicherheitsratsresolutionen und das Völkerrecht zu respektieren, und die Entscheidung der VN, den Schritt in die Unabhängigkeit nicht zu stören.341 Zum Schluss geht Grossbritannien noch auf die These des remedialen Rechts zur Sezession ein.342 Die Frage der Selbstbestimmung müsse vom Gerichtshof nur behandelt werden, wenn es darum gehe, eine Genehmigung für die Unabhängigkeitserklärung zu finden. Wie gezeigt, sei dies nicht nötig, um die vorliegende Frage zu beantworten. Die Stellungnahmen vieler Staaten zeigten, dass es „considerable support“ für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts ausserhalb des 338 339 340 341 342
Albanien (Gill), m. St., 23. Deutschland (Wasum-Rainer), m. St., 31. Deutschland (Wasum-Rainer), m. St., 31. USA (Hongju Koh), m. St., 38 m. H. auf USA, Replik, 21 ff. Grossbritannien (Crawford), m. St., 54.
§ 9 Die Sezession als Willensäusserung des Volkes
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kolonialen Kontexts gebe. Diese Position werde vorsichtig auch im Buch vertreten, das soeben zitiert worden sei.343 Die Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte I und II würden die Selbstbestimmung nicht auf koloniale Fälle beschränken, sondern als generelles Recht artikulieren; dies müsse einen gewissen Gehalt haben, „especially in extremis.“ 344 Aufgrund der „advanced position“ von Quebec in Kanada habe der Oberste Gerichtshof diese Frage nicht behandeln müssen. Der Gerichtshof müsste sie aber behandeln, falls er auf die an ihn gestellte Frage eine für den Kosovo negative Antwort geben wolle. Und der Status von Quebec sei nie infrage gestellt und verfassungsrechtlich verwehrt worden, so wie nie zwei Drittel seiner Bewohner gewaltsam aus ihren Häusern und von ihren Grundstücken vertrieben worden seien.345 b) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension In der ersten Runde haben sich von der Position 3 Dänemark und der Kosovo zum Selbstbestimmungsrecht geäussert. Dänemark, um die Legitimität der Sezession zu stärken, Kosovo im Sinne einer alternativen Begründung. Irland und Deutschland haben beide Positionen ausführlich vertreten. Die Schweiz ist nur sehr kurz auf die Position 3 eingegangen. In der zweiten Runde haben die USA und der Kosovo die alternative Begründungsstruktur vertreten. In der dritten Runde sind nun Albanien und Grossbritannien dazugestossen. Und Deutschland äussert sich auch wieder kurz dazu. Die Proponenten der Position 3 vertreten alle die Begründungsstruktur der prozeduralen Anerkennung der kosovarischen Trägerschaft des Selbstbestimmungsrechts. Als Stütze dienen ihnen die schon eingebrachten Referenzen an den Interimsverfassungsrahmen (insbesondere Art. 1.1), die Sicherheitsratsresolution 1244 (1999), die Stellungnahme der Kontaktgruppe und die Berichte des SRSG.346 Die Identifizierung der Träger über die Anwendbarkeit ratione personae und materiae wird nicht mehr vertreten – bloss indirekt über Art. 1.1 des Interimsverfassungsrahmens. Albanien vertritt die These, dass das Selbstbestimmungsrecht klar ius cogensCharakter habe. Wie bereits dargestellt, kann diese These im hier relevanten Bereich einen bloss thetischen Anspruch erheben. Bezüglich der Existenz des remedialen Rechts zur Sezession ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts stützt sich Albanien auf die FRD und das Quebec-Gutachten. 343 344 345 346
Gemeint ist: Crawford, Creation. Grossbritannien (Crawford), m. St., 54. Grossbritannien (Crawford), m. St., 54. Vgl. Albanien, s. St., Rz. 61 ff.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Albanien reagiert auf den a fortiori-Einwand, der sich auf einen Vergleich zwischen 1999 und 2008 stützt. Albanien formuliert zwei Gegeneinwände: Erstens hätten die Kosovaren das Vertrauen in Serbien verloren. Und zweitens könne sich eine Rückführung der Souveränität auf den alten Souverän nicht auf das Selbstbestimmungsrecht stützen. Deutschland geht auf die folgenorientierten Einwände gegen die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession ein. Es versucht diese zu entkräften, indem es zwischen einer ex ante- und ex post-Perspektive unterscheidet. Hier sei die ex post-Perspektive entscheidend. Dadurch kann Deutschland die Konsolidierung der kosovarischen Staatlichkeit gegen die erhobenen Einwände vorbringen. Die Einwände, die aus einer ex ante-Perspektive bestehen bleiben, versucht Deutschland dadurch zu entkräften, dass es dem Kosovo-Fall jegliche präjudizielle Wirkung abspricht. Grossbritannien weist darauf hin, dass das Selbstbestimmungsrecht aufgrund der Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte nicht auf den Dekolonialisierungskontext beschränkt ist. Dies müsse besonders in extremen Situationen einen Gehalt haben. Schliesslich nutzt Grossbritannien den Punkt, um den Gerichtshof auf die weitreichenden Folgen einer Abweichung von der Position 3 hinzuweisen: Wolle der Gerichtshof die an ihn gestellte Frage verneinen, so müsse er auf die Fragen eingehen, ob es ein remediales Recht zur Sezession gebe und ob sich die Sezession des Kosovo darauf stützen könne. Dieser Hinweis zeigt auf, dass die Position 3 im Vergleich zu den Positionen 1 und 2 eine sehr schlanke Begründungsstruktur zur Verfügung stellt. Dies kann vor dem IGH sicher als Vorteil angesehen werden. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Daniel Müller bringt den Perspektivenwechsel von der Position 1 zur Position 2 durch Hervorhebung des Volkes im Begriff Völkerrecht („droit des gens“). Die Sezession sei eben nicht eine Sanktion, die gegen einen Staat verhängt werde, sondern ein Rechtsbehelf „pour sauver les êtres humains qui souffrent de son fair.“ Dies bringt den subjektiven Unterschied zwischen den beiden Positionen prägnant zum Ausdruck. 4. Der Proponent der Position 5 als Opponent der Position 2 a) Zusammenfassende Reformulierung Zypern formuliert Einwände zur These, dass die Unabhängigkeitserklärung als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gerechtfertigt sei.347 Das Selbstbestimmungsrecht komme allen Völkern, aber nicht Minderheiten und anderen 347
Zypern (Polyviou), m. St., 47.
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innerstaatlichen Gruppen zu. Minderheiten hätten verschiedene Rechte, aber „no entitlement to dismembering existing States.“ 348 Dies gelte auch, wenn gesagt werde, dass die Menschenrechte einer Minderheit verletzt worden seien. Es gäbe Mechanismen für die Verteidigung der Menschenrechte: innerstaatliche, regionale (u. a. der EGMR) und internationale (u. a. der VN-Menschenrechtsrat). Jeder Mechanismus verfüge über eigene Rechtsbehelfe; keiner habe die Macht, einen Staat zu zerlegen oder zu amputieren. Der Rechtsbehelf gegen Menschenrechtsverletzungen liege darin, den Staat zur Einhaltung der Menschenrechte zu verpflichten. Das kosovarische Volk sei nicht Träger des Selbstbestimmungsrechts. Ihm kämen die Minderheiten- und Menschenrechte zu. Eine Verletzung dieser Rechte würde dem kosovarischen Volk nicht ein Recht zur Sezession geben.349 b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Hier vertritt Zypern die gleiche Begründung wie die Proponenten der Position 1. Die Kosovaren werden als Minderheit, nicht als Volk gerahmt. Als Minderheit kommen ihnen die Minderheitenrechte zu. Zusätzlich formuliert Zypern den Rechtsbehelfs-Einwand, der von den Niederlanden schon teilweise entkräftet wurde. 5. Erhebung des Argumentationsstandes Die Frage nach der kosovarischen Trägerschaft ist nach wie vor umstritten. Mit Jordanien gewinnt die These der prozeduralen Anerkennung einen neuen Proponenten, der sie aber durch historische Merkmale anreichert. Russland bestreitet die Trägerschaft hingegen. Es kann insbesondere ein verfassungsrechtliches Recht zur Sezession mit einer formalrechtlichen Begründung verneinen. Durch Vertretung der prozeduralen These verneint Russland eine Anerkennung durch die Badinter-Schiedskommission und die Rambouillet-Abkommen. Die Proponenten der Position 3 wählen den gleichen Weg und bejahen die Trägerschaft. Damit hat sich in Bezug auf die Frage nach den Trägern die These der prozeduralen Identifizierung durchgesetzt. Die gewichtigsten Einwände der dritten Runde sind die Ablehnung der prozeduralen Anerkennung der kosovarischen Trägerschaft im Rambouillet-Abkommen und der Ausbau des „moral hazard“-Problems. Die Einwände, die sich daraus ergeben, können durch die von Deutschland getroffene Unterscheidung zwischen einer ex ante- und einer ex post-Perspektive nicht entkräftet werden.
348 349
Zypern (Polyviou), m. St., 47. Zypern (Polyviou), m. St., 47.
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung I. Schriftliche Stellungnahmen 1. Hauptthese der Position 3: „Secession, if successful in the streets . . .“ Der kanadische Governor in Council (kanadische Bundesregierung) hat dem Obersten Gerichtshof von Kanada 1996 die Fragen unterbreitet, ob sich eine Sezession von Quebec auf das kanadische Verfassungsrecht stützen könne oder ob das Völkerrecht ein solches Recht zur Sezession vorsehe und welche Rechtsordnung im Konfliktfall vorgehe.1 Der Gerichtshof ist nach einem aufwändigen Verfahren, an dem sich sieben profilierte Völkerrechtler als Experten massgeblich beteiligt haben,2 zum Schluss gekommen, dass das Völkerrecht weder ein Recht zur noch ein Verbot der Sezession vorsehe. Die völkerrechtliche Ablehnung der Sezession zeige sich aber u. a. darin, dass die Sezession nur unter aussergewöhnlichen Umständen als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker genehmigt („permitted“) werde.3 Ausserhalb dieser speziellen Umstände sei das Effektivitätsprinzip relevant: „No one doubts that legal consequences may flow from political facts, and that „sovereignty is a political fact for which no purely legal authority can be constituted . . .“ [. . .]. Secession of a province from Canada, if successful in the streets, might well lead to the creation of a new State.“ 4
Dies ist die Hauptthese der Position 3: Die Sezession ist ein faktisches Ereignis, das vom Völkerrecht grundsätzlich nicht geregelt wird. Die Zulässigkeit derselben kann sich jedoch in bestimmten Fällen aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Illegalität aus einer Verbindung mit anderen Völkerrechtsverletzungen ergeben. Folgende Staaten haben diese Antwort in das Verfahren eingebracht: Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Kosovo, Luxemburg, Norwegen, Österreich, Tschechien und die USA.
1
Quebec-Gutachten, 217 f. Die völkerrechtlichen Gutachten finden sich u. a. in: Bayefki. 3 Quebec-Gutachten, Rz. 112. 4 Quebec-Gutachten, Rz. 142 m. Zitat aus H.W.R. Wade, The Basis of Legal Sovereignty, in: The Cambridge Law Journal, Vol. 13, Nr. 2, 1955, 172 ff., 196. 2
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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a) Subthese 1: Die Unabhängigkeitserklärung und die Sezession als faktische Ereignisse Die Subthese 1 der Position 3 besagt, dass Unabhängigkeitserklärungen und Sezessionen faktische Ereignisse seien.5 Dänemark, Deutschland, Frankreich, Kosovo, Norwegen und die USA vertreten sie. Dänemark, Frankreich und die USA verweisen auf das Gutachten 1 der Badinter-Schiedskommission, das festgehalten habe, dass das Bestehen und Verschwinden eines Staates eine „question of fact“ sei.6 Für Dänemark führt die Tatsache, dass die SFRJ zu diesem Zeitpunkt ihre Rechtspersönlichkeit behalten habe, nicht zur Völkerrechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Mazedonien. Sie seien anerkannt worden, obwohl sie gegen den Willen der SFRJ angenommen worden seien. Auch die USA verweisen auf die Dissolution der SFRJ:7 Bevor die vier Republiken sich für unabhängig erklärt hätten, sei ein solcher Schritt von einigen in der internationalen Gemeinschaft und von der Bundesregierung der SFRJ abgelehnt worden. Nichtdestotrotz habe ihn die internationale Gemeinschaft nicht als völkerrechtswidrig eingestuft, nachdem die Unabhängigkeitserklärungen zu Fakten geworden seien. Die Bundesregierung behauptete in Stellungnahmen, dass die Unabhängigkeitserklärungen ihre völkerrechtliche territoriale Integrität und ihre Souveränität verletzen würden. Aber niemand habe diese Auffasung geteilt. Die Tatsache, dass die Schiedskommission die Unabhängigkeitserklärungen nicht als illegal angesehen habe, könne nicht darauf zurückgeführt werden, dass sich die SFRJ schon aufgelöst habe. Dugard und Raicˇ würden darauf hinweisen, dass die Kommission davon ausgegangen sei, dass die SFRJ zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärungen noch existierte.8 5 Dänemark, s. St., 4: „As a matter of international law, the issuance of a declaration on independence is primarly a factual event, which together with other factual elements, such as defined territory and a permanent population, may be deemed to result, immediately or over time, in the creation of a new state.“ Deutschland, s. St., 27 ff. (u. a. m. Zitat aus Christian Schaller, Die Sezession des Kosovo und der völkerrechtliche Status der internationalen Präsenz, in: Archiv des Völkerrechts, Vol. 46, Nr. 2, 2008, 131 ff., 134; Hilpold, Sezession ZÖR, 123 f.; und die verschiedenen Expertenmeinungen zum Quebec-Gutachten: Crawford, Bayefsky, 36 und 160 f. Abi-Saab, Bayefski, 72 und 74, Franck, Bayefski, 83, Shaw, 136, Pellet, Bayefski, 106 und Franck/Higgins/Pellt/Shaw/ Tomuschat, 284): „There is considerable authority for the proposition that a declaration of independence leading to a secession and secession itself are of entirely factual nature and that international law in general is silent as to their legality.“ USA, s. St., 50 m. Zitaten aus Christakis, Effectiveness, 145; Lauterpacht, Recognition, 8; Thürer/Burri, 2; Tancredi, Normative „Due Process“, 189; Tomuschat, Secession, 43 und Fn. 81; Kohen, Introduction, 20; Dugard/Raicˇ, 102 und 51 m. Zitat aus Kohen, Introduction, 4 und Abi-Saab, Conclusion, 470. 6 Dänemark, s. St., 5 ff.; Frankreich, s. St., Rz. 2.4; USA, s. St., 54. 7 USA, s. St., 51 ff. m.w. H. 8 USA, s. St., 55 m. Zitat aus Dugard/Raic ˇ , 129 und Hinweis auf Cassese, Self-determination, 270.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Für die USA ist die These nicht überraschend, da das Völkerrecht primär die Beziehungen zwischen Staaten regle und nicht innerhalb der Staaten.9 Die Ausnahmen dieser Regel, die sich u. a. im humanitären Völkerrecht fänden, kämen in casu nicht zur Anwendung. Die mögliche innerstaatliche Rechtswidrigkeit wirke sich nicht auf die völkerrechtliche aus. Auch für den Kosovo ist die Unabhängigkeitserklärung ein faktisches Ereignis.10 Das Völkerrecht identifiziere faktische Eigenschaften („factual predicates“), die bei Erfüllung zur Anerkennung der Staatlichkeit führen würden. Es würde jedoch keine Pflichten begründen, bevor die Staatlichkeit nicht verwirklicht worden sei. Die faktischen Eigenschaften der Personen und Entitäten vor Erreichung dieses Status seien „pre-international law“.11 Die faktischen Eigenschaften der Staatlichkeit seien ein definiertes Territorium, eine ständige Bevölkerung, eine effektive Regierung und die Fähigkeit, internationale Beziehungen zu pflegen.12 Darüber hinaus sei der Wille, als Staat anerkannt zu werden, wichtig. Dieser äussere sich in der Regel in einer Unabhängigkeitserklärung. Die Anerkennungen der anderen Staaten seien wichtige Schritte des Staatswerdungsprozesses. In letzter Zeit sei als weiterer wichtiger politischer Parameter ein Bekenntnis zu Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit angesehen worden. Es sei klar, dass der Kosovo diese Voraussetzungen heute erfülle; dies sei aber nicht Gegenstand der an den Gerichtshof gestellten Frage. Norwegen geht zunächst auf das Verhältnis zwischen dem Prinzip der territorialen Integrität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ein.13 Es hält mit Zitat aus dem Quebec-Gutachten fest, dass in Extremfällen, inklusive solchen, wo einem Volk jegliche bedeutsame Regierungsbeteiligung zur Bestimmung seiner politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklung untersagt worden sei, ein positives Recht zur Sezession bestehen könne.14 Danach geht Norwegen zur These der Faktizität der Sezession über: Traditionellerweise habe das Völkerrecht eine Sezession nach faktischen Ereignissen anerkannt, statt Voraussetzungen der Legalität der Sezession aufzustellen. Entscheidend sei, dass die faktischen Voraussetzungen der Staatlichkeit gegeben seien. Es sei daher auch schon behauptet worden, dass das Völkerrecht eine Sezession weder erlaube noch verbiete.15
9
USA, s. St., 51 m. H. auf Jennings/Watts, Band 1, § 6, 7 und 148. Kosovo, s. St., Rz. 8.08 ff. 11 Kosovo, s. St., Rz. 8.09 m. H. auf Badinter-Schiedskommission, Gutachten 1 und Abi-Saab, Conclusion, 471. 12 Kosovo, s. St., Rz. 8.09 m. H. auf die Montevideo-Konvention. 13 Norwegen, s. St., Rz. 4 ff. 14 Norwegen, s. St., Rz. 5. m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 154 und Hinweis auf Crawford, Creation, 119 f. 15 Norwegen, s. St., Rz. 6 m. H. auf Haverland, 355. 10
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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Obwohl die Emergenz eines Staates oft in einer Unabhängigkeitserklärung manifest geworden sei, sei die Frage nach dem Bestehen der Staatlichkeit eine „question of fact relying on an assessment of constitutive elements including a defined territory, permanent population, effective government and legal capacity to enter into relations with the other states.“ 16 Diese Fragen und auch die Frage nach der Anerkennung seien aber von der Generalversammlung im vorliegenden Fall nicht gestellt worden. Auch für Deutschland führt die These der Faktizität der Sezession nicht dazu, dass das Völkerrecht irrelevant ist. Es setze beispielsweise gewisse Konditionen, die erfüllt sein müssten, bevor ein neuer Staat anerkannt werden dürfe. Dies seien die drei Voraussetzungen der Staatlichkeit: Volk, Territorium und eine funktionsfähige Regierung.17 Hier komme das Völkerrecht im Rahmen der Anerkennung ins Spiel; dies werde durch die Fälle von Abchasien und Südossetien perfekt veranschaulicht. Als Staaten und IOs auf diese Fälle reagiert hätten, sei es der Akt der Anerkennung durch Russland gewesen, der als illegal angesehen worden sei, nicht der Akt der Unabhängigkeitserklärung.18 Zum Schluss noch eine Analogie von Frankreich: „International law records that „primary act“ (in the same way as national law records an individual birth), [. . .] it records its existence and draws the consequences [. . .].“ 19 b) Subthese 2: Die Neutralität des Völkerrechts aa) Grundsatz: Keine völkerrechtliche Regelung der Sezession Die zweite Subthese besagt, dass das Völkerrecht gegenüber dem Vorgang der Sezession neutral sei, ihn also weder verbiete noch genehmige.20 Die Proponen16
Norwegen, s. St., Rz. 7 m. H. auf Jennings/Watts, Band 1, 1190. Deutschland, s. St., 31. 18 Deutschland, s. St., 31 m. Zitat aus einer Stellungnahme der Französischen Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union vom 26. August 2008, einer Stellungnahme des Amtierenden Vorsitzenden der OSZE vom 26. August 2008, einer Stellungnahme des Präsidenten der USA vom 26. August 2008 und einer gemeinsamen Stellungnahme der Aussenminister von Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, den USA und Grossbritannien zu Georgien vom 27. August 2008 (alle in: Deutschland, s. St., Annexe 7–10). 19 Frankreich, s. St., Rz. 2.4. Vgl. zu dieser Anthropomorphisierung des Staatsentstehungsprozesses: Jean D’Aspremont, The International Law of Statehood: Craftmanship for the Elucidation and Regulation of Births and Deaths in the International Society, in: Conneticut Journal of International Law, Vol. 29, 2014, 201 ff., 212 f. 20 Deutschland, s. St., 27 ff. und 32: „What follows from international practice is that international law neither expressly allows nor condems a declaration of independence, but is silent on the question of its legality.“ Frankreich, s. St., Rz. 2.2: „[. . .] international law contains no rule that either prohibits or permits a State’s accession to independence as a result of its secession from a pre-existing State (1), at least provided its 17
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
ten stützen die Subthese, indem sie in den Begründungen aufzeigen, dass es kein Verbot gibt und dass es keiner Genehmigung bedarf. Einige Proponenten begründen diesen Ansatz mit dem Lotus-Prinzip: Der Kosovo hält beispielsweise in der schriftlichen Stellungnahme fest, dass eine Handlung völkerrechtlich zulässig ist, sofern sie nicht durch eine völkerrechtliche Norm verboten wird.21 Dies gelte zwar primär für Staaten, müsse jedoch umso mehr für nicht staatliche Akteure gelten, da das Völkerrecht ein System sei, das primär staatliche Handlungen regle. Das Völkerrecht regle die meisten Akte von Individuen, Unternehmen, INGOs, IOs und anderen schlicht nicht.22 Auch für Österreich kann die Annahme einer Unabhängigkeitserklärung nicht völkerrechtswidrig sein, weil das Völkerrecht einen weiten Ermessensspielraum lasse, der nur in Einzelfällen durch prohibitorische Regeln eingeschränkt werde.23 Für Tschechien kann sich die Völkerrechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärung nur aus der Verletzung eines völkerrechtlichen Verbots, nicht aus dem Nichtvorhandensein einer positiven Ermächtigung ergeben.24 Die wichtigste Begründungsstruktur für die Stützung der Subthese führt über die Nichtanwendbarkeit des Prinzips der territorialen Integrität. Diese geht auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta, auf die Staatenpraxis, das Konzept der Völkerrechtssubjektivität und die ILC-Artikel zu den Rechten und Pflichten der Staaten ein.
independence is not the result of a violation of the ban on the use of armed force in international relations pursuant to the United Nations Charter (2).“ Und Rz. 2.4 f. (m. Zitaten aus Pellet, Le droit international, 55 und 59; Vladimir-Djuro Degan, Création et disparition de l’Etat. A la lumière du démembrement de trois federations multiethniques en Europe, RdC, Vol. 279, Den Haag 1999, 227 sowie Jennings/Watts, Band 1, 677; Lauterpacht, Recognition, 8; Crawford, Creation, 390): „[. . .] international law neither encourages nor forbids secession: it takes note of it.“ Irland, s. St., Rz. 18 f. (U. a. m. Zitat aus Lauterpacht, Recognition, 6 und 409; Higgins, Problems and Process, 125; Jennings/Watts, Band 1, 161 f.; Hannum, Self-determination, 776; Borgen, Introductory Note, 461 und Quebec-Gutachten, Rz. 112.): „Ireland is of the view that general international law contains neither a general right nor a general prohibition on unilateral declarations of independence (secession). [. . .] international law is generally silent or neutral on the legality of secession.“ 21 Kosovo, s. St., Rz. 8.03 m. H. auf StIGH, Lotus, 18 und Zitaten aus IGH, Certain Expenses, Rz. 168; Nicaragua, Rz. 269 und Nuclear Weapons, Rz. 52, die schriftliche Stellungnahme von Russland im Nuclear Weapons-Verfahren, 5 und Hans Kelsen, Principles of International Law, 2. Aufl., New York/Toronto 1966, 438 f. 22 Kosovo, s. St., Rz. 8.06 m. Zitat aus IGH, Barcelona Traction, Rz. 52. 23 Österreich, s. St., Rz. 22 m. Zitat aus StIGH, Lotus, 18 f. und Hinweis auf IGH, Nuclear Weapons, Rz. 21. So auch Luxemburg, s. St., Rz. 16: „However, it is established that international law does not govern declarations of independence. These can therefore not be contrary to international law.“ Dänemark, s. St., 3 (m. Zitaten aus StIGH, Lotus, 18 f.; IGH, Nicaragua, Rz. 269; Nuclear Weapons, Rz. 52): „Basically, an act is permitted under international law unless it can be shown that it is prohibited in either treaty law or customary international law.“ 24 Tschechien, s. St., 6 f.
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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Zu Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta äussern sich Frankreich, Grossbritannien und der Kosovo. Für Frankreich ist bis auf den Fall eines kolonialisierten Gebiets klar, dass eine Sezession Auswirkungen auf die territoriale Einflusssphäre des vorbestehenden Staates hat. Das Prinzip der territorialen Integrität fände jedoch nur auf zwischenstaatliche Beziehungen Anwendung, nicht auf solche zwischen einem Staat und seiner Bevölkerung. Dies ergebe sich aus der Formulierung des Art. 2 Ziff. 2 (sic!) VN-Charta.25 Frankreich verweist mit Zitat von Crawford auf Art. 11 der ILC-Artikel zu den Rechten und Pflichten der Staaten, die eine klare Unterscheidung zwischen Sezession und Annexion treffen würden.26 Die VN-Charta schliesse also eine externe Einmischung aus, regle aber nicht eine Sezession per se.27 Aus dem Selbstbestimmungsrecht ergebe sich aber ausserhalb des kolonialen Kontexts kein Recht zur Sezession, so wie das Prinzip der territorialen Integrität die Sezession nicht verbiete.28 Die Annahme der Gegenthese würde dazu führen, dass die Unabhängigkeit vieler bestehender Staaten, die auch VN-Mitglieder seien, illegal wäre. Dies gelte z. B. für die Nachfolgestaaten von Gross-Kolumbien, die Teilung von Indien und Pakistan, Eritrea, Senegal, Syrien, Singapur sowie die Nachfolgestaaten der UdSSR und der SFRJ. Für Grossbritannien ist das Prinzip der territorialen Integrität als völkerrechtliches Prinzip relevant.29 Wie es in Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta festgeschrieben sei, sei es ein zwischenstaatlicher Schutz, der nicht eine Garantie für die Beständigkeit eines Staates beinhalte. Es sei auch nicht auf Sezessionsbewegungen innerhalb eines Staates anwendbar. Das Völkerrecht verbiete nicht die Separation eines Teils des Territoriums, die auf interne Prozesse zurückzuführen ist. In Einzelfällen könne eine solche Garantie für die Beständigkeit des Territoriums durch Vertrag festgelegt werden.30 Damit sei nicht gesagt, dass das Völkerrecht die Auflösung von Staaten begünstige. Es schütze die territoriale Integrität im Interesse der Stabilität und der friedlichen Streitbeilegung, auch innerhalb der Staaten. Sezessionisten könnten sich ausserhalb des kolonialen Selbstbestimmungsrechts nicht auf ein Recht zur Sezession stützen. Der völkerrechtliche Schutz gehe aber 25 Frankreich (s. St., Rz. 2.6) zitiert den Artikel wie folgt: „All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of any State . . .“ 26 Frankreich, s. St., 2.6 m. H. auf Crawford, Creation, 390. 27 Frankreich, s. St., Rz. 2.6 schreibt „United States Charter“, meint aber wohl die VN-Charta. 28 Frankreich, s. St., Rz. 2.7 m. H. auf Franck/Higgins/Pellet/Shaw/Tomuschat, 428 ff. 29 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.8 ff. 30 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.9 m. H. auf Zypern, Treaty of Guarantee, London, 16. August 1960, in: 382 UNTS 3.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
nicht so weit, dass es in keinem Fall zu einer Staatsauflösung kommen könne.31 Für den Kosovo lässt sich ein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen neben der fehlenden Staatenpraxis auch nicht aus dem Vertragsrecht ableiten.32 Weder die VN-Charta noch die Gründungsakte der EU, der AU, der OAU oder der Arabischen Liga würden solche Verbote enthalten. Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta richte sich weder nach dem Wortlaut noch nach dem Kontext an eine nicht staatliche Entität, die eine Unabhängigkeitserklärung annehme. Auch nicht bindende Instrumente wie die Schlussakte von Helsinki würden die Legalität einer Unabhängigkeitserklärung nicht negativ berühren; diese enthalte vielmehr verschiedene, in Konkurrenz stehende Konzepte. Auf die Staatenpraxis gehen Grossbritannien und der Kosovo ausführlich ein:33 Für Grossbritannien ist die Sezession eine unilaterale, nicht einvernehmliche Separation eines Teils des Staatsterritoriums zwecks Gründung eines neuen Staates.34 Diese Forderung werde in der Regel von den Führern der sezedierenden Entität in Form einer Erklärung erhoben. Als Modus der Staatsentstehung sei die Sezession zweifelsohne bis zum ersten Weltkrieg die wichtigste gewesen; und sie habe seit 1989 wieder an Relevanz gewonnen. Es sei nicht erstaunlich, dass bestehende Staaten eine Sprache verwenden würden, die die Illegalität der Sezession suggeriere. Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 war unter britischem Recht Hochverrat, doch aus völkerrechtlicher Perspektive nicht per se verboten. Nach dieser allgemeinen Einführung geht Grossbritannien auf Sezessionen vor 1945 ein: Nach 1776 hätten die Dissolutionen der spanischen und portugiesischen Imperien, die Separationen von Belgien und Griechenland zu Staatsentstehungen durch Unabhängigkeitskriege geführt, die die Anerkennung durch Drittstaaten besonders wichtig gemacht hätten.35 Die Rechtsexperten des AalandFalls hätten klargemacht, dass die so entstandenen Entitäten nicht über ein Recht zur Staatlichkeit verfügt hätten, sondern es aufgrund der Souveränität im Ermessen des Staates liege, ob es ein solches Recht vergeben wolle oder nicht.36 Es müsse jedoch zwischen der Behauptung, dass es ein Recht zur Sezession gebe, und der, dass die Sezession völkerrechtswidrig sei, unterschieden werden: Das Völkerrecht habe diesen Entitäten nicht ein Recht gegeben, sei aber genug flexibel gewesen, neue Realitäten anzuerkennen, sobald diese so effektiv und stabil gewesen seien, dass eine Rückkehr des alten Souveräns ausgeschlossen werden konnte. 31
Grossbritannien, s. St., Rz. 5.11. Kosovo, s. St., Rz. 8.19. 33 Luxemburg (s. St., Rz. 17) verweist darauf, dass die Unabhängigkeitserklärungen der ehemaligen Republiken der SFRJ im Rahmen der Dissolution der SFRJ von der internationalen Gemeinschaft nicht als völkerrechtswidrig angesehen worden seien. 34 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.13. 35 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.14 ff. 36 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.15 m. Zitat aus Aaland-Fall (Zuständigkeit), 5 f. 32
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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Nach diesem historischen Rückblick geht Grossbritannien auf die Ära der VNCharta ein.37 Hier wird die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker behandelt. Dieses finde sich in Art. 1 Ziff. 2, 55 und 80 der VN-Charta. Als Recht aller kolonialisierten Staaten und Völker wurde es durch die VN-Erklärung über die Dekolonialisierung anerkannt. Als mögliche Resultate der Ausübung dieses Rechts habe das Prinzip VI der A/RES/15/1541 vom 15. Dezember 1960 die Etablierung eines souveränen Staates, die freie Assoziation mit oder die Integration in einen/m bestehenden Staat vorgesehen. Die FRD habe ähnlich von „any political status“ gesprochen. Die Dekolonialisierung habe zur Entstehung von über 100 neuen Staaten geführt. Grossbritannien zeichnet die Entwicklung mit Verweis auf die VN-Praxis zu Kapitel XI VN-Charta sowie den IGH-Entscheidungen Namibia (Rz. 53), Western Sahara (Rz. 59), East Timor (Rz. 29) und Wall (Rz. 155 f.) nach. Dieser Dekolonialisierungsprozess habe jedoch die Etablierung neuer Staaten durch Sezession ausserhalb desselben offen gelassen: Über 20 Staaten seien seit 1945 ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts entstanden.38 Aus der Verurteilung einzelner Sezessionen könne kein allgemeines Verbot der Sezession abgeleitet werden. Die Resolutionen zu Katanga und Südrhodesien würden nicht ein generelles Verbot formulieren, sondern seien auf spezifische Eigenheiten des jeweiligen Falles zurückzuführen.39 Darüber hinaus führe die Behauptung, dass sich eine sezedierende Entität völkerrechtswidrig verhalte, dazu, dass ihr eine völkerrechtliche Subjektivität zugesprochen werde; also genau das, was die Behauptung zu verhindern versuche. Danach geht Grossbritannien auf das remediale Recht zur Sezession ein und zitiert die in der FRD und der Wiener Erklärung enthaltenen Schutzklauseln sowie die Rz. 134 f. des Quebec-Gutachtens kommentarlos.40 Anschliessend kommt es zu folgendem Schluss: „To summarise, international law favours the territorial integrity of States. Outside the context of self-determination, normally limited to situations of colonial type or those involving foreign occupation, it does not confer any ,right to secede‘. But neither, in general, does it prohibit secession or separation, or guarantee the unity of predecessor States against internal movements leading to separation or independence with the support of the peoples concerned.“ 41
Auch der Kosovo stützt sich auf die langjährige Staatenpraxis.42 Die Unabhängigkeitserklärung der 13 amerikanischen Kolonien sei 1776 nicht als „violation 37
Grossbritannien, s. St., Rz. 5.18 ff. Grossbritannien, s. St., Rz. 5.26. 39 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.27 m. Zitaten aus S/RES/169 (1961), Ziff. 8; S/RES/ 216 (1965), Ziff. 2 und S/RES/217 (1965), Ziff. 3. 40 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.30 ff. 41 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.33. 42 Kosovo, s. St., Rz. 8.11 ff. 38
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
of the law of nations“ angesehen worden, nicht einmal von Grossbritannien. Vielmehr sei die faktische Entwicklung dafür verantwortlich gewesen, dass die USA als Staat anerkannt und mit staatlichen Rechten und Pflichten belegt worden seien.43 Weitere Unabhängigkeitserklärungen des 19. Jahrhunderts seien auch nicht als völkerrechtswidrig angesehen worden: so diejenigen von Mexiko (1810), von Brasilien (1822), Neuseeland (1835) und Liberia (1847).44 Gleiches gelte für die Staatenpraxis des 20. Jahrhunderts. Kosovo verweist auf die Unabhängigkeitserklärung der ersten Tschechoslowakischen Republik (1918), die Mali-Föderation (1959) und die darauffolgende Unabhängigkeitserklärung von Senegal (1960) sowie die Erklärung von Bangladesch (1971). Jüngst sei die Unabhängigkeitserklärung der Slowakei (1992) auch nicht als völkerrechtswidrig angesehen worden. In keinem dieser Fälle sei die Annahme der Unabhängigkeitserklärung als solche von anderen Staaten und von IOs als völkerrechtswidrig angesehen worden. Einige dieser Akte hätten im Rahmen einer sogenannten „Sezession“ stattgefunden.45 Obwohl die im Rahmen von Sezessionen erhobenen Staatlichkeitsansprüche in der Regel umstritten seien, bleibe es eine Tatsache, dass der durch eine Unabhängigkeitserklärung erhobene Anspruch und der damit verbundene Sezessionsversuch nicht völkerrechtlich geregelt seien.46 Nur in Einzelfällen würden der Sicherheitsrat oder die Generalversammlung Sezessionsversuche verurteilen, beispielsweise im Fall von Apartheid oder Rassendiskriminierung.47 Diese Fälle seien jedoch nicht mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zu vergleichen. Auch die Praxis zur Dissolution der SFRJ bestätige die hier vertretene These.48 Zunächst hält der Kosovo fest, dass seine Unabhängigkeit der letzte Schritt der Dissolution der SFRJ gewesen sei. Danach, dass keine der Unabhängigkeitserklärungen, die aus der Dissolution hervorgegangen seien, von anderen Staaten und vom IGH als völkerrechtswidrig angesehen worden seien. Die serbisch-dominierte SFRJ habe zwar geltend gemacht, dass die Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien die territoriale Integrität und die Souveränität der SFRJ verletzen würden und dass sie sezessionistische Akte seien, die die
43
Kosovo, s. St., Rz. 8.12 m.w. H. Kosovo, s. St., Rz. 8.13 m.w. H. 45 Kosovo, s. St., Rz. 8.17. 46 Kosovo, s. St., Rz. 8.17 m. Zitaten aus Lauterpacht, Recognition, 8; Crawford, Creation, 390; Abi-Saab, Conclusion, 474; Franck, Bayefski, 78 f. und Quebec-Gutachten, Rz. 112. 47 Kosovo, s. St., Rz. 8.18 m. H. auf A/RES/20/2024 und S/RES/216 (1965) zu Südrhodesien sowie A/RES/31/6A und S/RES/402 (1976) zu den Bantustans. 48 Kosovo, s. St., Rz. 8.22 ff. 44
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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SFRJ als völkerrechtlich geschützte territoriale Einheit gefährden würden. Andere Staaten hätten diese Behauptung aber nicht gestützt.49 Dasselbe könne im Hinblick auf die Unabhängigkeitserklärungen von Mazedonien und Bosnien und Herzegowina gesagt werden. Die FRJ habe in Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro) vor dem IGH zwar behauptet, dass Bosnien und Herzegowina nicht Vertragspartei der Genozid-Konvention werden könne, weil es die Unabhängigkeit nicht in Konformität mit einer „imperative rule of international law“, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, erlangt habe.50 Der Gerichtshof habe aber geantwortet, dass „the circumstances of its assertion to independence are of little consequence“, insbesondere weil Bosnien und Herzegowina bereits Mitglied der VN war. Entscheidend sei somit nicht die Legalität, sondern die erfolgreiche Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft.51 Die anderen Staaten hätten sich nicht auf die Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärungen der alten SFRJ-Republiken, sondern auf die Voraussetzungen ihrer Anerkennung als neue Staaten konzentriert.52 Auch diese Praxis bestätige somit die These, dass Unabhängigkeitserklärungen per se nicht völkerrechtlich geregelt seien. Für Tschechien ist die Unabhängigkeitserklärung eine Willenserklärung eines Volkes oder einer Gruppe und als solche ein politischer Akt.53 Dieser Akt allein könne nicht völkerrechtswidrig sein. Das Völkerrecht würde Sezessionen weder verbieten noch begünstigen, es akzeptiere aber die durch eine erfolgreiche Sezession geschaffenen Realitäten und passe sich an. Insofern regle es die Konsequenzen.54 Tschechien formuliert die These der Nichtanwendbarkeit des Prinzips der territorialen Integrität als Einwand zur These Serbiens, dass die Unabhängigkeitserklärung die territoriale Integrität von Serbien verletze.55 Das Prinzip der territorialen Integrität sei zwar ein essentielles Element der staatlichen Souveränität, aber es sei keine absolute Regel und es sollte im Lichte der jüngsten völkerrecht49
Kosovo, s. St., Rz. 8.27 m.w. H. Kosovo, s. St., Rz. 8.29 m. Zitaten aus IGH, Application of the Genocide-Konvention, Preliminary Objections of the Federal Republic of Yugoslavia (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), 4 und 111. 51 Kosovo, s. St., Rz. 8.43 m. Zitat aus IGH, Application of the Genocide-Convention, Preliminary Objections (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), Rz. 19 und Quebec-Gutachten, Rz. 141. 52 Kosovo, s. St., Rz. 8.30 ff. m. H. auf die Anerkennungsrichtlinien der EG und den Anerkennungsprozess bis zu den Gutachten der Badinter-Schiedskommission. 53 Tschechien, s. St., 6. 54 Tschechien, s. St., 7 m. Zitat aus Crawford, Creation, 390 und Hinweis auf Haverland, 354 ff. und das Quebec-Gutachten. 55 Tschechien, s. St., 7 m. H. auf einen Brief des Ständigen Vertreters von Serbien vor den VN an den Generalsekretär der VN vom 17. Februar 2008, in: A/62/703-S/ 2008/111. 50
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
lichen Entwicklungen verstanden werden. Tschechien verweist auf die Rz. 138 f. des VN-Ergebnisdokuments des Weltgipfels 2005, mit denen die responsibility to protect implemetiert worden sei.56 Das Prinzip schütze das Gebiet und die internationalen Grenzen von unabhängigen Staaten, insbesondere gegen die Androhung und Anwendung von Gewalt und Einmischungen von Drittstaaten.57 Aber im Fall der Sezession fänden die Ereignisse primär innerhalb des betroffenen Staates statt: „Unless there is a use of force against or an intervention by another State into the affairs of the original State, secession cannot be a breach of the latter’s territorial integrity.“ 58 Österreich begründet die Nichtanwendbarkeit des Prinzips der territorialen Integrität mit der fehlenden Völkerrechtssubjektivität der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung. Für Österreich hat die Unabhängigkeitserklärung zum Ziel, den internationalen Rechtsstatus des Kosovo festzulegen.59 Die Verfasser hätten nicht als das PISG-Organ der Kosovo-Versammlung, sondern als Vertreter des kosovarischen Volkes gehandelt. Darauf weise die Unabhängigkeitserklärung selbst hin („We, the democratically-elected leaders of our people“). Obwohl die Unabhängigkeitserklärung von den Mitgliedern der Kosovo-Versammlung angenommen worden sei, seien die Unterschriften das entscheidende Merkmal; durch diese werde der Willen des kosovarischen Volkes zum Ausdruck gebracht. In dieser Funktion seien die Unterzeichner nicht an die Sicherheitsratsresolution 1244 (1999) gebunden gewesen. Sie seien nicht eine durch die Resolution geschaffene Institution und würden nicht durch diese übertragene Kompetenzen ausüben. Ebensowenig sei das Verhalten der Unterzeichner mangels völkerrechtlicher Subjektivität vom Völkerrecht geregelt. Aber selbst wenn die Unterzeichner an die Sicherheitsratsresolution und das Völkerrecht gebunden gewesen seien, würde sich daraus nicht eine Widerrechtlichkeit der Unabhängigkeitserklärung ergeben.60 Es sei behauptet worden, dass sich ein solches Verbot aus der Pflicht der Respektierung der territorialen Integrität der FRJ ergebe.61 Es müsse jedoch aner56 Tschechien, s. St., 7 m. H. auf das VN-Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005, Rz. 138 f. und den dazugehörigen Bericht des Generalsekretärs zur Umsetzung der Schutzverantwortung, in: A/63/677 vom 12. Januar 2009. 57 Tschechien, s. St., 7 m. H. auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta, die FRD, A/RES/34/3314 (Definition von Aggression), A/RES/20/2131 und A/RES/36/103 (Unzulässigkeit der Einmischung in innere Angelegenheiten) sowie die Schlussakte von Helsinki. 58 Tschechien, s. St., 8. 59 Österreich, s. St., Rz. 15 m. H. auf Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, Rz. 15. 60 Österreich, s. St., Rz. 17 ff. 61 Österreich, s. St., Rz. 41 m. H. auf die ausserordentliche Sicherheitsratsdebatte zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo und die darin geäusserten Voten des serbischen Präsidenten Tadic´ (S/PV.5839 vom 18. Februar 2008, 5) und der russischen und chinesischen Vertreter Churkin (6) und Wang Guangya (8) sowie Orakhelashvili, Statehood, 17.
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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kannt werden, dass eine Unabhängigkeitserklärung per se nicht vom Völkerrecht adressiert werde, weil sie nicht einem völkerrechtlichen Subjekt zugerechnet werden könne, das fähig sei, international zu handeln. Das Völkerrecht sei in Bezug auf Unabhängigkeitserklärungen still. Dies werde durch die Präjudizien der Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien bestätigt. Beide seien gegen den Willen der SFRJ angenommen worden und „no argument was made that these declarations could be seen as violating international law.“ 62 Die Unabhängigkeitserklärung führe per se nicht zu einem neuen Staat. Deshalb könne die Legalität der Unabhängigkeitserklärung auch nicht mit den Regeln beurteilt werden, die Staatsentstehungen und Gebietsveränderungen regeln würden.63 Auch der Inhalt der Unabhängigkeitserklärung widerspreche dem Völkerrecht nicht.64 Es verbiete keinem Teil der Bevölkerung, sich für unabhängig zu erklären. Die Pflicht zur Respektierung der territorialen Integrität richte sich nicht an Bevölkerungsteile. Dies ergebe sich aus den Kommentaren zu den ILC-Artikeln zu den Rechten und Pflichten der Staaten: Man habe sich entschieden, dass bloss die Annexion, nicht auch die Sezession zu einem Zustand führe, der keine Anerkennung finden sollte.65 Die Staatenpraxis zeige, dass die entscheidende Frage nicht sei, ob eine Unabhängigkeitserklärung völkerrechtskonform sei oder nicht, sondern ob eine Sezessionsbewegung erfolgreich sei oder nicht. Die Sezession als solche sei „neither legal nor illegal in international law, but a legally neutral act the consequences of which are regulated internationally.“ 66 Im Fall von Südrhodesien sei nicht die Illegalität der Sezession an sich zur Debatte gestanden. Eine solche würde den Sezessionisten einen völkerrechtlichen Status zugestehen.67
62 Österreich, s. St., Rz. 24 m. H. auf die Positionen der SFRJ-Präsidentschaft in Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärungen, in: Trifunovska, Documents, 353 und Marc Weller, The International Response to the Dissolution of the SFRY, in: AJIL, Vol. 86, 1992, 569 ff. 63 Österreich, s. St., 25 f. m. Zitat aus Island of Palmas, 839 und Hinweise auf Art. 1 der Montevideo-Konvention sowie Gerard Kreijen, Transformation of Sovereignty and African Independence: No Shortcuts to Statehood, in: Gerard Kreijen (Hrsg.), State, Sovereignty and International Governance, Oxford 2002, 45 ff., 53 (Österreich schreibt zwar vom Titel „State, Sovereignty and International Law“, meint wohl aber den hier angegebenen). 64 Österreich, s. St., Rz. 37 ff. 65 Österreich, s. St., Rz. 37 m. H. auf ILC-Artikel zu den Rechten und Pflichten der Staaten, YILC, 1949, Vol. 1, 113. 66 Österreich, s. St., Rz. 38 m. H. auf Crawford, Creation, 389 und Zitat aus Lauterpacht, Recognition, 8. 67 Österreich, s. St., Rz. 38 m. H. auf Crawford, Creation, 389.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
bb) Ausnahme: ius cogens-Verletzungen und kollektive Nichtanerkennung Die Proponenten der Position 3 formulieren als Ausnahme zur Subthese der generellen Neutralität des Völkerrechts, dass sich die Illegalität von Unabhängigkeitserklärungen und Sezessionen aus ihrer Verbindung mit schwerwiegenden Völkerrechtsverletzungen ergeben kann. Die Begründung der Ausnahme stützt sich auf die Sicherheitsratspraxis zu Katanga, Südrhodesien, den Bantustans (Transkei, Bophutatswana, Venda und Ciskei), der Türkischen Republik Nordzypern, Namibia und Kuwait. Für Dänemark wird die Subthese der völkerrechtlichen Neutralität dadurch gestützt, dass die Generalversammlung oder der Sicherheitsrat sich bloss in Einzelfällen negativ zu Unabhängigkeitserklärungen geäussert hätten. Es zeige sich, dass die negativen Reaktionen aus einem Zusammenhang zwischen den Unabhängigkeitserklärungen und der Verletzung von „fundamental norms of international law“ resultiere.68 Als Beispiele verweist Dänemark auf den Sezessionsversuch Katangas, der laut Sicherheitsrat gegen die „Loi fondamentale and Security Council Resolutions“ verstossen habe, weil er nicht zuletzt in Zusammenhang mit einer äusseren Intervention stand.69 Die Unabhängigkeitserklärung von Südrhodesien sei sowohl von der Generalversammlung als auch vom Sicherheitsrat verurteilt worden.70 Darüber hinaus seien die Unabhängigkeitserklärungen der Bantustans und der Türkischen Republik Nordzypern von der internationalen Gemeinschaft abgelehnt worden.71 Aus diesen Fällen folgert Dänemark, dass „in certain instances, declarations of independence occuring in the context of a manifest breach of fundamental norms of international law have been met with universal condemnation.“ 72 Diese Unabhängigkeitserklärungen seien jedoch die Weiterführung eines fundamentalen Normbruchs gewesen und die Illegalität ergebe sich daraus, nicht aus dem Akt an sich. Damit würden sie sich in fundamentaler Art und Weise von der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo unterscheiden; letztere enthalte ein klares Bekenntnis zu einer multi-ethnischen und demokratischen kosovarischen Zukunft sowie zum Schutz der Rechte aller im Kosovo lebender Gemeinschaften. Auch für Deutschland sind in der internationalen Praxis Unabhängigkeitserklärungen nur in Zusammenhang mit einer anderen Völkerrechtsverletzung als völkerrechtswidrig angesehen worden. Zum Beispiel, wenn die Unabhängigkeitser68
Dänemark, s. St., 4. Dänemark, s. St., 4 m. Zitat aus S/RES/169 (1961). 70 Dänemark, s. St., 4 m. H. auf A/RES/20/2024 und S/RES/216 (1965). 71 Dänemark, s. St., 4 f. m. H. auf A/RES/30/3411D, S/RES/264 (1969) (Bantustans) und S/RES/541 (1983) (Nordzypern). 72 Dänemark, s. St., 5. 69
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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klärung durch eine illegale Anwendung von Gewalt durch einen Drittstaat oder in Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrags erfolgt sei.73 Das Völkerrecht unterscheide klar zwischen einer Sezession und einer Annexion, in der die territoriale Veränderung durch eine illegale Gewaltanwendung eines Drittstaats herbeigeführt werde, und sieht weitere als völkerrechtswidrig an. Das Völkerrecht verbiete anderen Staaten, eine solche Gebietsveränderung anzuerkennen.74 Die ILC habe diskutiert, ob ein solches Verbot auch für Sezessionen gelten solle, sei aber zum Schluss gekommen, diese anders zu behandeln.75 Im Fall von Katanga habe der Sicherheitsrat die Sezession verurteilt, weil diese mit Hilfe eines Drittstaats und durch fremde Söldner ausgeführt worden sei. Interessanterweise weise die Resolution darauf hin, dass die Sezession gegen die kongolesische Loi fondamentale und die Sicherheitsresolutionen verstosse, nicht gegen das Völkerrecht.76 Im Fall von Südrhodesien habe sich die Illegalität aus der damit verbundenen Rassendiskriminierung ergeben.77 Die S/RES/216 (1965) verweise auf eine „racist minority“ und ein „illegal racist minority regime“, die S/RES/217 (1965) auf eine „racist settler minority“ in Südrhodesien. Für Frankreich bestehen neben der generellen Nichtregelung der Unabhängigkeitserklärung prohibitive völkerrechtliche Regeln, deren Verletzung zu einer Völkerrechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärung führen kann.78 Als Beispiele führt Frankreich die Unabhängigkeitserklärung der Bantustans und der Türkischen Republik Nordzypern an, die gegen solch fundamentale Normen wie das Verbot der Apartheid und der Gewaltanwendung verstossen hätten und deshalb auf eine feindselige Haltung der internationalen Gemeinschaft gestossen seien.79 In casu sei es offensichtlich, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht in Zusammenhang mit einer solch schwerwiegenden Völkerrechtsverletzung, insbesondere einer illegalen bewaffneten ausländischen Einmischung, stünde; nicht einmal Serbien habe dies behauptet.80 Daher ist für Frankreich die Behauptung der Völkerrechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärung nicht auf rechtlicher Grundlage rechtfertigbar. 73 Deutschland, s. St., 29 f. m. H. auf S/RES/541 (1983) zur Türkischen Republik Nordzypern. 74 Deutschland, s. St., 30 m. H. auf Art. 18 der ILC-Artikel zu den Rechten und Pflichten der Staaten. 75 Deutschland, s. St., 30 m. H. auf ILC-Artikel zu den Rechten und Pflichten der Staaten, YILC, 1949, Vol. 1, 112. 76 Deutschland, s. St., 30 m. Zitat aus S/RES/169 (1961), Ziff. 1 und 8. 77 Deutschland, s. St., m. H. auf S/RES/216 (1965) und S/RES/217 (1965). 78 Frankreich, s. St., Rz. 2.11 ff. 79 Frankreich, s. St., Rz. 2.13 m. H. auf A/RES/31/6A, S/RES/417 (1977) und S/ RES/541 (1983) sowie allgemein zur Pflicht, widerrechtliche Situationen nicht anzuerkennen: IGH, Wall, Rz. 159 und Namibia, Rz. Rz. 115 und 119. 80 Frankreich, s. St., Rz. 2.14 m. H. auf S/PV.6025, 4 f.; S/PV.5917, 4; S/PV.5850, 2; S/PV.5839, 4 f.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Für Grossbritannien verbietet das Völkerrecht Sezessionen „in general“ nicht. Diese generelle Formulierung weise darauf hin, dass Sezessionen in einzelnen Fällen illegal sein könnten.81 In der Charta-Ära sei die Antwort auf solche Fälle eine kollektive Nichtanerkennung, teils durch den Sicherheitsrat unter den Kapiteln VI und VII vorgeschrieben. Die kollektive Nichtanerkennung sei ein Mittel, um Situationen zu verhindern, die völkerrechtswidrig seien. Die Praxis der Generalversammlung und des Sicherheitsrats zeige, dass dieser Schritt in Fällen fundamentaler Rechtsverstösse vollzogen werde, nicht weil die Sezession per se illegal sei: „[. . .] the unlawfulness [. . .] flowed from an assessment of the gravity of the particular circumstances and the thread they presented to international peace and security, in the light of applicable fundamental principles.“ 82
Grossbritannien begründet diese These mit Hinweis auf die Praxis zu Katanga, Südrhodesien, den Bantustans, Namibia, der Türkischen Republik Nordzypern und Kuwait.83 Die Praxis der kollektiven Nichtanerkennung komme nur selten bei evidenten Gründen und in Fällen, in denen grundlegende völkerrechtliche Normen oder Werte auf dem Spiel stünden, zur Anwendung.84 Ansonsten sei es jedem Staat selbst überlassen, welche Position er gegenüber der neuen Situation einnehmen wolle. Offene Fragen bezüglich Eigentum, Sukzession usw. würden eine Anerkennung nicht ausschliessen. Entscheidend sei vielmehr der Zeitpunkt, ab dem klar sei, dass die Unabhängigkeit des neuen Staates „the only way forward“ sei.85
81
Grossbritannien, s. St., Rz. 5.34 ff. Grossbritannien, s. St., Rz. 5.35. 83 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.36 ff. Zum Fall Katanga m. Zitaten aus und Hinweisen auf IGH, Certain Expenses, 175 ff.; S/RES/169 (1961) Präambel und Ziff. 8. Zu Südrhodesien: S/RES/232 (1966), Ziff. 4; S/RES/318 (1972), Ziff. 1; S/RES/328 (1973), Ziff. 3; S/RES/411 (1977), Präambel; S/RES/424 (1978), Präambel; S/RES/ 216 (1965), Ziff. 2; S/RES/217 (1965), Ziff. 6; S/RES/221 (1966), S/RES/232 (1966); S/RES/253 (1968), Ziff. 5 und 10; S/RES/277 (1970), Ziff. 2, 3 und 9; S/RES/318, Ziff. 5; S/RES/233, Ziff. 3 und 4; S/RES/423 (1978), Ziff. 2; S/RES/445 (1979), Ziff. 6; S/RES/448 (1979) sowie mehrere Resolutionen der Generalversammlung. Zu den Bantustans (Transkei, Bophutatswana, Venda und Ciskei): S/RES/473 (1980), Ziff. 4; S/RES/554 (1984), Ziff. 4; S/RES/556 (1984), Ziff. 4 und 6; S/RES/402 (1976), Ziff. 1; S/RES/417 (1977), Ziff. 2(f); S/RES/556 (1984), Ziff. 4 und 6 sowie einzelne Resolutionen der Generalversammlung. Zu Namibia: S/RES/264 (1969), Ziff. 1; S/RES/276 (1970), Präambel; S/RES/283 (1970), Präambel; S/RES/264 (1969), Ziff. 2; S/RES/269 (1969), Ziff. 7; S/RES/276 (1970); S/RES/276 (1970), Ziff. 2; S/ RES/283 (1970) sowie IGH, Namibia, Rz. 113 ff., 122 ff. und 133. Zur Türkischen Republik Nordzypern: S/RES/541 (1983), Ziff. 7 und S/RES/550 (1984), Ziff. 3. Zu Kuwait: S/RES/541 (1983), Ziff. 7; S/RES/550 (1984), Ziff. 3; S/RES/661 (1990), Ziff. 9(b); S/RES/662 (1990), Ziff. 2 und S/RES/664 (1990), Ziff. 3. 84 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.51 ff. 85 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.52. 82
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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Die Anerkennung der Nachfolgestaaten der SFRJ sei ein gutes Beispiel: Sobald klar wurde, dass sich die SFRJ im Zustand der Dissolution befand, hätten vielen Staaten die neuen Staaten anerkannt. Sie seien zum Schluss gekommen, dass die Dissolution ein Fakt sei und hätten dementsprechend gehandelt. Diese Charakterisierung habe schliesslich, obwohl von Belgrad nicht akzeptiert, die Behandlung der Situation beeinflusst. Schliesslich weist Grossbritannien noch darauf hin, dass die Mitgliedschaft in den VN keine Voraussetzung, sondern ein Indiz der Staatlichkeit sei.86 Insofern sei die Antwort auf die dem IGH gestellte Frage simpel: Da es kein generelles Verbot gebe, sei die Unabhängigkeitserklärung auch nicht völkerrechtswidrig.87 Die dargestellten Ausnahmen dieser Regeln seien im Fall des Kosovo nicht anwendbar: Weder würde die S/RES/1244 (1999) eine Unabhängigkeit des Kosovo ausschliessen88 noch hätten die relevanten VN-Organe nach Annahme der Unabhängigkeitserklärung eine Illegalität derselben angenommen.89 Darüber hinaus seien jegliche Möglichkeiten der bilateralen Streitbeilegung ausgeschöpft worden.90 Irland sieht es als wohl etabliert an, dass sich die Illegalität aus der Verletzung einer zwingenden völkerrechtlichen Bestimmung ergeben könne.91 Die FRD weise zu Recht darauf hin, dass keine territoriale Aneignung als legal anerkannt werden sollte, die das Ergebnis einer Androhung oder Anwendung von Gewalt eines Staates gegenüber einem anderen Staat sei.92 Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ergebe sich offensichtlich nicht aus einer Verletzung von ius cogens. Darüber hinaus könne der Sicherheitsrat einen bestimmten Sezessionsversuch „in the circumstances of the individual case“ für illegal erklären.93 Dies sei beispielsweise der Fall, wenn der Sezessionsversuch selbst gegen das Selbstbestimmungsrecht verstosse (Südrhodesien, Transkei und ähnliche Fälle).94 Die Illegalität der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung ergebe sich nicht aus der Sicher-
86 Grossbritannien, s. St., Rz. 5.55 u. a. m. Zitaten aus Art. 4 VN-Charta und IGH, Admission, 62. 87 Grossbritannien, s. St., Rz. 6.2. 88 Grossbritannien, s. St., Rz. 6.6 ff. 89 Grossbritannien, s. St., Rz. 6.16 ff. und 6.43 ff. 90 Grossbritannien, s. St., Rz. 6.35 ff. 91 Irland, s. St., Rz. 22 m. H. auf Ti-Chiang Chen, The International Law of Recognition, New York 1951, 429. 92 Irland, s. St., Rz. 22 m. H. auf IGH, Nicaragua, Rz. 190 (zur Belegung des zwingenden Charakters des zwischenstaatlichen Gewaltanwendungsverbots), die FRD und Crawford, Creation, 148. 93 Irland, s. St., Rz. 23. 94 Irland, s. St., Rz. 23 m. H. auf Jennings/Watts, Band 1, 162; Crawford, Creation, 130 und S/RES/215 (1956) sowie 217 (1965).
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
heitsresolution 1244 (1999); diese lege den Ausgang der Status-Verhandlungen nicht abschliessend fest. Zusammenfassend hält Irland fest, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht völkerrechtswidrig sei, da das Völkerrecht kein generelles Verbot kenne und die Ausnahmen zu dieser generellen Regel in casu nicht einschlägig seien.95 Nach dieser Schlussthese leitet Irland zur alternativen Argumentation über, wonach die Unabhängigkeitserklärung als externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gerechtfertigt werden könne.96 Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo kann für Österreich darüber hinaus nicht mit denjenigen verglichen werden, die vom Sicherheitsrat als illegal bezeichnet wurden.97 Letztere seien im Rahmen des Dekolonialisierungsprozesses erfolgt, was eine Analogie ausschliesse. Und schliesslich habe der Sicherheitsrat im Fall des Kosovo keine solche Resolution angenommen. Kein VN-Akteur habe im Anschluss an die Unabhängigkeitserklärung einen Einspruch oder dergleichen erhoben.98 Auch für die USA können Unabhängigkeitserklärungen in Einzelfällen zusammen mit anderen Akten als schwerwiegende Völkerrechtsverletzungen charakterisiert werden.99 Das sei eine wichtige Unterscheidung. Als Beispiele weisen die USA auf die Errichtung eines Apartheid-Regimes hin. Im Fall von Südrhodesien habe der Sicherheitsrat die Unabhängigkeitserklärung als „legally invalid“ bezeichnet ohne explizit zu sagen, dass sie per se völkerrechtswidrig sei.100 Dies weist gemäss den USA darauf hin, dass sich die Verurteilung auf die rechtlichen Folgen des Akts und nicht den Akt an sich bezogen hat. Im Falle des Kosovo stehe die Unabhängigkeitserklärung aber nicht in Verbindung mit solch einer Völkerrechtsverletzung.101 Schliesslich bringen die USA noch einen folgenorientierten Grund ein: Würde die Unabhängigkeitserklärung als völkerrechtswidrig charakterisiert, so könnte sich die internationale Gemeinschaft in Bezug auf den Kosovo nicht auf die in der Unabhängigkeitserklärung einseitig eingegangenen Verpflichtungen des Kosovo beziehen.102 Dies betreffe im Speziellen die in der Unabhängigkeitserklärung enthaltenen Garantien für die im Kosovo lebenden Minderheiten.
95
Irland, s. St., Rz. 26. Vgl. dazu oben § 8 II.2. 97 Österreich, s. St., Rz. 40 m. H. auf S/RES/215 (1965) und 216 (1965) zu Südrhodesien und S/RES/169 (1961) zu Katanga. 98 Österreich, s. St., Rz. 41 ff. m.w. H. 99 USA, s. St., 56. 100 USA, s. St., 56 u. a. m. H. auf S/RES/217 (1965). 101 USA, s. St., 56 ff. 102 USA, s. St., 60. 96
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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c) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Position 3 rückt drei Begriffe ins Zentrum ihrer Begründung: Faktizität, Neutralität und Effektivität. Die Begründungsschritte führen von der Unabhängigkeitserklärung und der Sezession als faktischen Ereignissen103 über die generelle völkerrechtliche Neutralität gegenüber diesen Vorgängen und der ausnahmsweisen Illegalität bei bestehender Verbindung zu schwerwiegenden Völkerrechtsverletzungen zur Hauptthese, dass die Sezession des Kosovo nicht völkerrechtswidrig war. Der erste inferentielle Übergang stützt sich vorwiegend auf das Schrifttum. Daneben werden das Gutachten 1 der Badinter-Schiedskommission und die Praxis zur Dissolution der SFRJ reaktualisiert. Die Praxis zur Dissolution der SFRJ kann hier nur als Stütze dienen, wenn die SFRJ zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärungen der Republiken ihre Rechtspersönlichkeit noch nicht eingebüsst hat. Die Schiedskommission ist am 29. November 1992 zum Schluss gekommen, dass die SFRJ „in the process of dissolution“ sei.104 Am 4. Juli 1992 hat sie festgehalten, dass „the process of dissolution of the SFRY referred to in Opinion No. 1 of 29 November 1991 is now complete and that the SFRY no longer exists.“ 105 Für John Dugard und David Raicˇ lassen diese Gutachten keine Zweifel an der Tatsache, dass die SFRJ zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärungen von Kroatien und Slowenien am 8. Oktober 1991 noch existierte.106 Hier zeigt sich die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Sezession und Dissolution. Dissolutionen können durch Sezessionen eingeleitet werden und unterscheiden sich aus der ex post-Perspektive nur dadurch von Sezessionen, dass der ursprüngliche Staat aufhört zu existieren.107 Weil sich der Kontinuitätsanspruch, den die FRJ gegenüber der SFRJ erhoben hat, nicht durchsetzen konnte, wird von der Dissolution der SFRJ gesprochen. Um den hier vollzogenen Übergang stützen zu können, muss diese ex post-Perspektive aber verlassen und auf die Ereignisse davor fokussiert werden, die Sezessionen der ersten vier Republiken. 103 Österreich unterscheidet als einziger Staat kategorisch zwischen Unabhängigkeitserklärung und Sezession. Die anderen Staaten sehen die Unabhängigkeitserklärung als Teil der Sezession. Dank der Unterscheidung kann Österreich die Begründung formulieren, dass Unabhängigkeitserklärungen nicht mit den Regeln der Staatsentstehung und von Gebietsänderungen beurteilt werden können. 104 Badinter-Schiedskommission, Gutachten 1. 105 Badinter-Schiedskommission, Gutachten 8. 106 Dugard/Raic ˇ , 129. 107 Crawford, Creation, 390; Raic ˇ , 356 ff.; Dugard/Raicˇ, 129: „Accordingly, the proclamations of independence of these two republics [. . .] must be seen as acts of secession which, in combination with other factors, led to the dissolution of the SFRY.“
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Der Kosovo reaktualisiert eine Begründung, die die FRJ im IGH-Verfahren zur Verletzung der Genozid-Konvention eingebracht hatte. Damals hatte die FRJ die These vertreten, dass der Staat Bosnien und Herzegowina völkerrechtswidrig etabliert worden sei.108 Der Gerichtshof hat festgehalten, dass Bosnien und Herzegowina durch Entscheid vom 22. Mai 1992 als Mitglied in die VN aufgenommen worden sei und dass die Umstände der Staatsentstehung bloss vernachlässigbare Konsequenzen zeitigen würden.109 Ausschlaggebend war somit nicht der Vorgang der Staatsentstehung, sondern die Reaktion der internationalen Akteure, in casu des Sicherheitsrats, der Generalversammlung und des IGH. Die Subthese 1 der Faktizität der Staatsentstehung evoziert die Frage, welche Fakten ausschlaggebend sind.110 Hier identifizieren die Proponenten die drei bis vier klassischen Voraussetzungen der Staatlichkeit, die meist durch Reaktualisierung der Montevideo-Konvention begründet werden. Der Kosovo weist darauf hin, dass auch Legitimätskriterien (Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit) für die Beurteilung der faktischen Vorgänge zunehmend relevant werden. Damit weist der Kosovo – interessanterweise als einziger Staat – auf die Diskussion hin, ob neben der Effektivität auch Legitimitätsstandards eine Rolle in der Anerkennung neuer Staaten spielen sollten.111 Der Übergang zur zweiten Subthese wird durch Reaktualisierung des LotusPrinzips vollzogen. Die Proponenten stützen sich auf eine systemische Völkerrechtstheorie, die auf das 19. Jahrhundert zurückgeht und im StIGH-Urteil aus dem Jahr 1927 exemplarisch zum Ausdruck gebracht wird.112 Demnach geht die Freiheit der Staaten dem Völkerrecht vor. Dieses kann der Präsumtion der Freiheit nur entgegengehalten werden, wenn gestützt auf den Willen der Staaten eine explizite Regel formuliert werden kann.113 Diese Theorie wirkt nach wie vor orientierend, auch wenn ihr epistemischer Charakter zunehmend infrage gestellt wird.114
108 IGH, Application of the Genocide-Convention, Preliminary Objections of the Federal Republic of Yugoslavia (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), 103 ff. 109 IGH, Application of the Genocide-Convention, Preliminary (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), Rz. 19 f. 110 So führt die These der Faktizität wieder zum Recht: Vgl. Koskenniemi, Apology, 224 ff., 282 und 576 ff. 111 Vgl. dazu u. a. Jure Vidmar, Democratic Statehood in International Law, Oxford 2013. 112 Peters, Kosovogutachten, Rz. 7. 113 StIGH, Lotus, 18: „International law governs relation between States. The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States can therefore not be presumed.“ (Hervorhebung hinzugefügt.) 114 IGH, Kosovo, Erklärung von Richter Simma; Peters, Kosovogutachten, Rz. 7; Christakis, Kosovo, 78 ff.
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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Hier ist ihre Reaktualisierung deshalb bemerkenswert, weil sie gegen den bestehenden Staat (Serbien) ins Feld geführt wird. Ihre Reaktualisierung ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil mit ihr die an den Gerichtshof gestellte Frage nach der Völkerrechtskonformität von Unabhängigkeitserklärungen in die Frage nach einem völkerrechtlichen Verbot von Unabhängigkeitserklärungen umformuliert werden kann. Für die Proponenten der Position 3 steht somit der Nachweis des Nichtbestehens eines solchen Verbots im Zentrum der Begründung. Der wichtigste Übergang erfolgt zur These, dass das Prinzip der territorialen Integrität den Vorgang der Sezession nicht verbietet. Hier überschneiden sich die Begründungsstrukturen der Positionen 1 und 3. Für die Proponenten der Position 3 findet das Prinzip der territorialen Integrität nur auf zwischenstaatliche Beziehungen Anwendung. Diese These fügt sich in das Lotus-Bild ein, das im Völkerrecht ein System der Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen sieht.115 Die Sezession ist ohne Drittstaatenintervention damit ein innerstaatlicher Vorgang, der nicht in den völkerrechtlichen Regelungsbereich fällt. Um die These zu stützen, greifen die Proponenten auf drei Begründungsstrukturen zurück. Die erste Struktur führt zu Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta. Für die Proponenten wird die These durch die Formulierung des Artikels gestützt; dieser adressiere nur VN-Mitglieder.116 Dies ergebe sich auch aus Art. 11 der ILC-Artikel über die Rechte und Pflichten der Staaten. Dieser hält Folgendes fest: Every State has the duty to refrain from recognizing any territorial acquisition by another State in violation of article 9.117 Die ILC hat in der Besprechung des Artikels darüber diskutiert, ob das Prinzip der Nichtanerkennung nur im Falle von territorialen Aneignungen durch Drittstaaten (Annexionen) oder auch im Falle von Sezessionen zur Anwendung kommen soll.118 Die Mehrheit sprach sich für die Beibehaltung der Unterscheidung zwischen Annexion und Sezession und die Anwendung des Prinzips auf den Fall der Annexion aus. Um die Unterscheidung sichtbar zu machen wurde
115
StIGH, Lotus, 18: „International law governs relation between States. [. . .]“ Vgl. Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta: Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt. (Hervorhebung hinzugefügt.) 117 Artikel 9: Every State has the duty to refrain from resorting to war as an instrument of national policy, and to refrain from the threat or use of force against the territorial integrity or political independence of another State, or in any other manner inconsistent with international law and order. 118 YILC, 1949, Vol. 1, 112: „The CHAIRMAN wondered whether the principle of non-recognition would apply in the case of a State which had come into being through secession on the territory of the original State.“ 116
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
der Zusatz „by another State“ eingefügt.119 Auch dies stützt somit den Übergang der Position 3. Grossbritannien weist zur Stabilisierung noch auf die Möglichkeit der vertraglichen Garantie der territorialen Integrität gegenüber Sezessionisten hin; eine solche hat somit eine konstitutive, nicht bloss deklaratorische Wirkung. Der völkerrechtliche Schutz der territorialen Integrität gegen innen besteht für Grossbritannien darin, dass ein Recht zur Sezession auf koloniale Situationen beschränkt sei. Die Staatenpraxis wird von den Proponenten reaktualisiert, um verschiedene Unterscheidungen einzuführen: Erstens gebe es einen Unterschied zwischen einem Recht zur Sezession und ihrer Völkerrechtswidrigkeit. Im Gegensatz zu den Proponenten der Positionen 1 und 2 formulieren sie einen Zwischenbereich, in dem die Sezession als vom Völkerrecht nicht regulierter Vorgang zu einem Zustand führen kann, der völkerrechtliche Akzeptanz findet. Für Grossbritannien ist entscheidend, dass die Rückkehr des alten Souveräns ausgeschlossen werden kann. Zweitens weist Grossbritannien auf die in der Charta-Ära vollzogene Unterscheidung zwischen Sezessionen innerhalb und ausserhalb der Dekolonialisierung hin. Während erstere als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts anerkannt und unterstützt worden seien, würden letztere im Bereich der völkerrechtlichen Neutralität stattfinden. Grossbritannien und Österreich formulieren eine weitere Begründung, die sich auf die Reaktualisierung des Konzepts der Völkerrechtssubjektivität stützt. Grossbritannien weist darauf hin, dass den Sezessionisten diese Subjektivität bloss zugesprochen werde, um ihnen die angestrebte Subjektivität als Staat vorzuenthalten. Grossbritannien wirft den Proponenten der Position 1 einen teleologischen Widerspruch vor. Für Österreich kann eine Unabhängigkeitserklärung nicht völkerrechtswidrig sein, weil sie keinem Völkerrechtssubjekt zugerechnet werden kann. Österreich verweist auf die Praxis zur Dissolution der SFRJ und James Crawford.120 Die Völkerrechtswidrigkeit einer Handlung setzt damit die Zurechenbarkeit der Handlung zu einem Völkerrechtssubjekt voraus. Dieses Subjekt gebe es im Staatentstehungsprozess noch nicht. Insofern passt diese Begründung zum Satz des Kosovo, wonach Unabhängigkeitserklärungen und Sezessionen „pre-international law“ seien. 119 YILC, 1949, Vol. 1, 113: „The addition of the words ,by another State‘ eliminated the case of secession.“ 120 Crawford, Creation, 389: „But this language does not imply the existence of an international law rule prohibiting secession, for the following reasons. First, if the seceding entity is acting illegally under international law, it follows that the entity is a subject of international law, although the main object of the resolution cited [S/RES/169 zu Katanga und S/RES/216 zu Südrhodesien] was to deny to the entities in question any international status. Second, in the debates on the resolutions there is no reliance on international law rules prohibiting secession [. . .].“
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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Wie passt die VN-Praxis zu Unabhängigkeitserklärungen und Sezessionsversuchen zur Subthese 2? Die Proponenten der Position 3 fügen diese in die Begründungsstruktur ein, indem sie Ausnahmen zur grundsätzlichen Regel der Neutralität formulieren.121 Erstens hätten die Generalversammlung und der Sicherheitsrat nur in Einzelfällen reagiert; und zweitens sei die Reaktion immer aufgrund der Verletzung einer grundlegenden völkerrechtlichen Norm erfolgt. Aus der Praxis leiten die Proponenten das Verbot der Drittstaatenintervention (Katanga, Nordzypern) und der Rassendiskriminierung bzw. Apartheid (Südrhodesien, Bantustans) her.122 Drittens weisen sie darauf hin, dass die VN im Falle des Kosovo keine solche Resolution angenommen habe. Die Position 3 bietet als Orientierungspunkte die Fakten vor Ort an. Als Staatsentstehungsprozess wird die Sezession anhand der Kriterien der Staatlichkeit beurteilt. Entscheidend ist die Etablierung effektiver Herrschaftsgewalt. Sie unterscheidet sich von den ersten beiden Positionen insofern, als dass sie versucht, gegenüber der Sezession keine normative Haltung einzunehmen. Die Position der Neutralität favorisiert den bereits bestehenden Staat. Er darf im Rahmen menschenrechtlicher Verpflichtungen und des humanitären Völkerrechts gegen die Sezessionisten vorgehen. Im Gegensatz zu ihnen darf er internationale Unterstützung und insbesondere auch die militärische Hilfe von Drittstaaten annehmen. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Die Proponenten orientieren sich an der Faktizität und der Effektivität von Staatsentstehungsprozessen. Die Sezession wird als Vorgang der Staatsentstehung gerahmt. Im Zentrum der Begründung steht nicht die Sezession als Abspaltung eines Teils des Territoriums oder als Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes, sondern als Entstehung eines neuen Völkerrechtssubjekts. Frankreich bringt diesen Rahmen mit der Analogie der Geburt im innerstaatlichen Recht plastisch zum Ausdruck. Das Lotus-Prinzip fügt sich in diese Perspektive ein: Der Vorgang der Staatsentstehung ist „pre-international law“ und das Völkerrecht wird als System der Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen gesehen, das seine Existenz aus dem Willen der Staaten ableitet. Die Staatlichkeit wird als originär und das Völkerrecht als derivativ dargestellt. Auch da, wo das Völkerrecht normativ eingreift – die Begünstigung der Staatsentstehung im Dekolonialisierungskontext und die Illegalisierung bei fundamentalen Völkerrechtsverletzungen –, beschränkt sich die
121
Auch hier überschneiden sich die Begründungsstrukturen der Positionen 1 und 3. Irland rahmt die Rassendiskriminierung als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. 122
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
völkerrechtliche Wirkung auf die Rechtskonsequenzen (Nichtanerkennung als Rechtskonsequenz).123 2. Annäherung an die Position 2 a) Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker Dänemark und der Kosovo gehen noch kurz auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein. Für Dänemark stärkt dieses die Legitimation der kosovarischen Sezession. Für den Kosovo ist es eine alternative Begründung, falls der Gerichtshof entgegen der Empfehlung des Kosovo doch auf das Selbstbestimmungsrecht eingehen wollte. Die Legitimität der Unabhängigkeitserklärung ergibt sich für Dänemark auch aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker: „While there are implications of the right of self-determination not yet fully developed in international practice, the Danish Government sees no reason why denial of meaningful internal self-determination [. . .] should be deemed irrelevant in relation to an otherwise legitimate claim of independence.“ 124
Für Dänemark hat der IGH in Frontier Dispute, Rz. 25 festgehalten, dass ein Konflikt zwischen dem uti possidetis iuris-Prinzip und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker bestehe und dass in der Regel ersteres vorgehe. Nichtsdestoweniger habe der Gerichtshof nicht geschrieben, dass letzteres gegenüber den Prinzipien der territorialen Integrität automatisch nachgehe. Die Badinter-Schiedskommission habe in Fällen, die nicht zwingender als der vorliegende gewesen seien, die Verwandlung von innerstaatlichen in internationale Grenzen befürwortet.125 Für den Kosovo muss der Gerichtshof nicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker eingehen, weil eine Unabhängigkeitserklärung keiner völkerrechtlichen Autorisation bedürfe.126 Das Selbstbestimmungsrecht finde sich in vielen VN-Resolutionen und Menschenrechtsverträgen. Der IGH habe es in seiner Rechtsprechung anerkannt, auch in nicht kolonialen Situationen. Andere internationale Organe hätten das Recht in „appropriate circumstances“ anerkannt. Keines der internationalen Dokumente sehe in einer Unabhängigkeitserklärung per se eine völkerrechtswidrige Handlung.127 123 Auf diesen Punkt wird Burundi in der mündlichen Stellungnahme vertieft eingehen. Vgl. dazu unten § 10 III.1.c). 124 Dänemark, s. St., 12. 125 Dänemark, s. St., 12 f. m. H. auf Badinter-Schiedskommission, Gutachten 3. 126 Kosovo, s. St., Rz. 8.38 ff. 127 Kosovo, s. St., Rz. 8.39 m. H. auf die FRD, die Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte der VN, IGH, Namibia, 31; Western Sahara, 31 ff.; East Timor, Rz. 29; Wall, Rz. 118 und Gesonderte Stellungnahme von Richterin Higgins, Rz. 29 sowie ACHPR, Katangese Peoples’ Congress v. Zaire, Ziff. 26; Oberster Gerichtshof von Kanada, Quebec-Gutachten, Rz. 122, 126, 133, 134 und 138.
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Bezüglich der Ausübung des Rechts liessen sich zwei Schlüsselelemente identifizieren: Erstens der Begriff des Volkes und zweitens die Unmöglichkeit desselben, in einem Staat beschützt zu werden, „given prior abuses and oppression by the State’s government.“ 128 Die Kosovaren seien ein unterschiedenes Volk, das mehrheitlich albanisch spreche und eine muslimische religiöse Identität teile. Darüber hinaus seien die von den serbischen Autoritäten gegen das kosovarische Volk verübten schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gut dokumentiert. Die Verweigerung Serbiens, die Kosovaren an der Verwaltung des Territoriums teilhaben zu lassen, zeige sich letztmals daran, dass die kosovarischen Vertreter nicht an die Vorarbeiten zur Verfassung von 2006 eingeladen worden seien und die Kosovaren keine Möglichkeit zur Willensäusserung gehabt hätten. Unter diesen Umständen bestünde kein Zweifel daran, dass die Kosovaren über ein Selbstbestimmungsrecht verfügten. Dies sei jedoch für die Beantwortung der an den Gerichtshof gestellten Frage nicht relelvant.129 b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die Position 3 zeichnet sich dadurch aus, dass es keiner Ermächtigung zur Sezession bedarf. Daher muss sie sich im Gegensatz zur Position 2 nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auseinandersetzen. Dänemark und Kosovo tun es trotzdem. Für Dänemark stärkt die Verunmöglichung der internen Ausübung die Legitimität des Unabhängigkeitsanspruchs; der Kosovo geht im Sinne einer alternativen Begründung darauf ein. Der Kosovo identifiziert sich selbst über persönliche Eigenschaften der unterschiedlichen Sprache und Religion als Träger des Selbstbestimmungsrechts.130 Die interne Ausübung sei für die Kosovaren nicht möglich; dies sei letztmals anlässlich des serbischen Verfassungsreferendums von 2006 manifest geworden. 3. Erhebung des Argumentationsstandes Der von der Hauptthese erhobene Geltungsanspruch wird durch zwei Subthesen eingelöst. Zusätzlich findet eine Annäherung an die Position 2 statt. Die Subthese 1 wird durch das Schrifttum, die Praxis zur Dissolution der SFRJ und die Rechtsprechung begründet (Gutachten 1 und Quebec-Gutachten). Die zweite Subthese wird durch mehrere Schritte begründet: durch Reaktualisierung des Lotus-Ansatzes, durch die grundsätzliche Nichtanwendbarkeit des Prinzips 128
Kosovo, s. St., Rz. 8.40. Kosovo, s. St., Rz. 8.41. 130 Der Kosovo stützt sich hier auf ein nationales Selbstbestimmungsrecht, das bei objektiven Eigenschaften des Volkes anknüpft: Vgl. Thürer, 19 ff. und 41 f. 129
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der territorialen Integrität auf innerstaatliche Konflikte, Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und Art. 11 der ILC-Artikel über die Rechte und Pflichten der Staaten. Die grundsätzliche Neutralität wird durch die ausnahmsweise Illegalität komplettiert. Hier stützen sich die Übergänge vor allem auf das Schrifttum und die Sicherheitsratspraxis.
II. Repliken Von den 15 Akteuren der zweiten Runde haben sechs die Position 3 vertreten (Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Kosovo, Norwegen und die USA). Deutschland hat den Schwerpunkt von der Position 2 zur Position 3 verschoben. Damit hatte diese Position die meisten Proponenten in der zweiten Runde. Die Proponenten der Position 3 haben sich zu beiden Subthesen geäussert. Einwände wurden von den Proponenten der Position 1 und dem Proponenten der Position 5 erhoben. 1. Begründungen der Position 3 a) Zur Subthese 1: die Faktizität der Sezession Deutschland bekräftigt noch einmal, dass eine Unabhängigkeitserklärung ein „factual event“ sei, zu dem das Völkerrecht keine Meinung habe.131 Im Gegensatz zur irreführenden Formulierung in der Gutachtenanfrage seien nicht die PISG, sondern die Vertreter des kosovarischen Volkes die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung. Diese hätten nicht als pouvoir constitué, sondern als pouvoir constituant gehandelt: „The photographic reproduction of the hand-written original of Declaration of Independence included in Kosovo’s written contribution bears ample testimony to the extraordinary character of the act performed, an act „unlike anything that might have been issued by the PISG.” 132
Daher gehe das Argument, dass die Kosovo-Versammlung ultra vires gehandelt habe, ins Leere. In Anwendung der These der Faktizität der Sezession verweist Grossbritannien auf die fortgeschrittene Konsolidierung der kosovarischen Staatlichkeit. Die Unabhängigkeit des Kosovo sei sowohl bezüglich der Anerkennungen durch andere Staaten als auch der innerstaatlichen Konsolidation eine Realität.133 62 Staaten hätten den Kosovo formell, weitere Staaten implizit durch deren Verhalten, anerkannt. Der Kosovo sei Mitglied des IMF und der Weltbank und die OIK habe 131
Deutschland, Replik, 6 f. Deutschland, Replik, 7 m. H. auf und Zitat aus Kosovo, s. St., Annex 1 und Rz. 115. 133 Grossbritannien, Replik, Rz. 6. 132
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eine Zusammenarbeit aufgenommen. Die interne Konsolidierung zeige sich in der Durchführung von Wahlen, der Ausgabe von Identitätskarten, Führerscheinen und weiteren Dokumenten, der Mitarbeit von kosovo-serbischen Polizeimitarbeitern, der Kosovo Security Force und der Wahl der Mitglieder des kosovarischen Verfassungsgerichts. Dies sei mit der Reduktion des UNMIK-Personals und des Budgets einhergegangen. b) Zur Subthese 2: die Neutralität des Völkerrechts Für Frankreich ist klar, dass der Gerichtshof – falls er wirklich ein Gutachten abgeben wolle – zum Schluss kommen müsse, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht völkerrechtswidrig sei. Nur zehn von 192 zur Einreichung einer Stellungnahme berechtigten VN-Mitglieder hätten die gegenteilige These vertreten; und es sei ihnen nicht gelungen, diese zu begründen.134 Die Sicherheitsresolution 1244 (1999) würde eine kosovarische Unabhängigkeit nicht ausschliessen.135 Damit sei sie im Einklang mit dem generellen Völkerrecht, das weder die Sezession als solche noch den Akt der Unabhängigkeitserklärung verbiete. Selbst Serbien anerkenne dies, indem es die Debatte mit den Begriffen einer „gradual reduction of that neutrality in contemporary international law“ rahme.136 Das Völkerrecht beschränke die Pflicht zur Nichtanerkennung aber nach wie vor auf Fälle, die nicht die Sezession als solche miteinschliessen würden und es gebe auch keine Anstrengungen, diese Fälle miteinzubeziehen. 137 Mehrere schriftliche Stellungnahmen würden auf die richtigen Präjudizien (u. a. Slowenien, Kroatien und Mazedonien) hinweisen und zeigen, dass die Unabhängigkeitserklärungen als solche nie als völkerrechtswidrig angesehen worden seien; selbst wenn sie gegen den Willen der noch bestehenden SFRJ angenommen worden seien.138 Auch Serbien anerkenne, dass die Konsequenzen des Prinzips der territorialen Integrität in den Prinzipien der Nichtanwendung von Gewalt und der Nichtintervention zu sehen seien, nicht bezüglich des Vorgangs der Sezession.139 Das Völkerrecht reguliere Unabhängigkeitserklärungen bis auf wenige Ausnahmen wie Aggression und Apartheid nicht.140 134
Frankreich, Replik, Rz. 24. Frankreich, Replik, Rz. 24 ff. m.w. H. 136 Frankreich, Replik, Rz. 28 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 1019 und Argentinien, s. St., Rz. 129. 137 Frankreich, Replik, Rz. 28 m. H. auf ARSIWA, mit Kommentaren, Art. 41, Rz. 6–10. 138 Frankreich, Replik, Rz. 29 m. H. auf USA, s. St., Rz. 52 ff.; Kosovo, s. St., Rz. 8.28 f. und 8.35 f.; Österreich, s. St., Rz. 24 und zur völkerrechtlichen Neutralität gegenüber Sezessionen: Deutschland, s. St., 27 ff.; Kosovo, s. St., Rz. 8.07 ff. sowie den in Kosovo, s. St., Rz. 8.43 zitierten Fall des IGH, Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Rz. 19. 139 Frankreich, Replik, Rz. 29 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 492 ff. 135
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Staaten, die die These vertreten, dass die Unabhängigkeitserklärung völkerrechtswidrig sei, hätten die Frage so wiedergegeben, als würde sie die Folgen der Unabhängigkeitserklärung betreffen. Sie gingen deshalb auf die Voraussetzungen der Staatsentstehung ein. Wie schon gezeigt, würden diese Aspekete aber nicht von der Frage abgedeckt. Bezüglich der aufgeworfenen Frage sei es diesen Staaten nicht gelungen, Nachweise für ein völkerrechtliches Verbot von Unabhängigkeitserklärungen zu liefern. Dänemark habe zu Recht festgehalten, dass es an diesen Staaten sei, die Existenz eines solchen Verbots nachzuweisen.141 Grossbritannien hebt folgende Punkte hervor: Staaten hätten für lange Zeit auf der Grundlage gehandelt, dass Unabhängigkeitserklärungen nicht durch das Völkerrecht geregelt seien. Auch die VN und die Badinter-Schiedskommission hätten nie Unabhängigkeitserklärungen per se als völkerrechtswidrig behandelt. Es gäbe Fälle, in denen Unabhängigkeitserklärungen als völkerrechtswidrig taxiert worden seien, wenn „wider issues have been in play“ (u. a. Katanga und Südrhodesien). Ob Unabhängigkeitserklärungen ihr Ziel der unabhängigen Staatlichkeit erreichten sei eine andere Frage; dies hänge nicht von der Äusserung des Anspruchs, sondern von der Antwort der internationalen Gemeinschaft ab, primär durch Anerkennung und Teilnahme an zwischenstaatlichen Beziehungen inklusive IOs.142 c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die Proponenten der Position 3 gehen nur vereinzelt auf ihre eigene Begründungsstruktur ein. Bezüglich ihrer Subthese 1 ist festzuhalten, dass Deutschland die These von Österreich übernommen hat, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung als Volksvertreter, nicht als PISG-Organ gehandelt haben. Als Stütze verweisen sie auf den aussergewöhnlichen Charakter des Akts, der sich unter anderem darin zeige, dass er von Hand geschrieben sei. Tatsächlich erinnert das Dokument an das performative Vorbild der Unabhängigkeitserklärung der USA. Insbesondere die Unterschriften à la John Hancock können als Referenz interpretiert werden.143 Grossbritannien verweist auf die fortgeschrittene 140 Grossbritannien, Replik, Rz. 33 m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 41 ff.; Österreich, s. St., Rz. 23 ff.; Tschechien, s. St., 6 f.; Dänemark, s. St., 3 ff.; Estland, s. St., 4; Deutschland, s. St., 8 und 27 ff.; Frankreich, s. St., Rz. 2.2 ff.; Irland, s. St., Rz. 17 ff.; Japan, s. St., 2 f.; Kosovo, s. St., Rz. 8.02 ff.; Luxemburg, s. St., Rz. 15 ff.; Niederlande, s. St., Rz. 3.22; Norwegen, s. St., Rz. 10; Polen, s. St., Rz. 2.2 ff.; Schweiz, s. St., Rz. 25 ff.; USA, s. St., 50 ff. und Grossbritannien, s. St., Rz. 6.4. 141 Grossbritannien, Replik, Rz. 35 m. Zitat aus Dänemark, s. St., Rz. 2.2 und Hinweis auf Estland, s. St., 4 und Deutschland, s. St., 8. 142 Grossbritannien, Replik, Rz. 36 u. a. m. Zitat aus Aaland-Fall (Zuständigkeit), 5 f. 143 John Hancock war in seiner Funktion als Präsident des Kontinentalkongresses der Erstunterzeichner der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Er setzte die grösste Unterschrift unter die Erklärung, was dazu führte, dass sein Name im US-ameri-
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Konsolidierung der kosovarischen Staatlichkeit. Die Proponenten gehen somit nicht mehr auf eine völkerrechtliche Begründung der These der Faktizität ein. Auch die Subthese 2 wird nicht substantiell neu begründet. Die Proponenten wollen vielmehr aufzeigen, dass ihre These zumindest implizit auch durch die anderen Akteure und insbesondere Serbien anerkannt worden sei. 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 3 Serbien und Argentinien formulieren verschiedene Einwände zur These, dass die Staatsentstehung ein Fakt und das Völkerrecht gegenüber Unabhängigkeitserklärungen neutral sei.144 Sie gehen dazu auf verschiedene Subthesen dieser Hauptthese ein. a) Einwände zur Subthese 1: Die Unabhängigkeitserklärung und die Sezession als faktische Ereignisse Es sei behauptet worden, dass die Unabhängigkeitserklärung als Teil eines grösseren Prozesses, der zu einem neuen Staat führen könne, keine rechtlichen Konsequenzen habe. Argentinien sieht folgenden Widerspruch: Staaten, die diese Behauptung vertreten hätten, würden zugleich behaupten, dass die sogenannte „Republik Kosovo“ an die in der Unabhängigkeitserklärung formulierten Bekenntnisse gebunden sei. Norwegen habe sich in folgender Argumentation verwickelt: Die Unabhängigkeitserklärung der PISG sei nicht ein völkerrechtlicher bindender Akt gewesen, aber sie habe einen Staat hevorgebracht, dessen Autoritäten sich auf die Unabhängigkeitserklärung bezogen hätten und dies könne als einseitig bindende Erklärung angesehen werden.145 Albanien „produced the extravagant argument“ 146, wonach die Unabhängigkeitserklärung zwar internationale Folgen zeitige und Konsequenzen habe, aber selbst nicht völkerrechtlich geregelt sei. Die Geburt eines Staates sei massgeblich eine innere Angelegenheit i. S. v. Art. 2 Ziff. 7 VN-Charta. Wenn man dieser Argumentation folgen würde, so wären die Sicherheitsratsresolutionen zu den Unabhängigkeitserklärungen in Katanga, Südrhodesien und Nordzypern falsch kanischen Sprachgebrauch ein Synonym für Unterschrift geworden ist. Marko Milanovic hat folgende Erklärung für die aufwändig inszenierte kosovarische Unabhängigkeitserklärung (Milanovic): „We tend to do kitsch very well in the Balkans.“ 144 Argentinien, Replik, Rz. 28 ff. und Serbien, Replik, Rz. 171 ff. m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 43; Österreich, s. St., Rz. 24; Tschechien, s. St., 7; Estland, s. St., 4; Dänemark, s. St., 3 f.; Frankreich, s. St., Rz. 2.8; Deutschland, s. St., 29 f.; Irland, s. St., Rz. 18 f.; Japan, s. St., 2 f.; Luxemburg, s. St., Rz. 16; Norwegen, s. St., Rz. 10; Polen, s. St., Rz. 2.2; Grossbritannien, s. St., Rz. 5.13; USA, s. St., 50 und Kosovo, s. St., Rz. 8.08–8.10. 145 Argentinien, Replik, Rz. 30 m. Zitat aus Norwegen, s. St., Annex I. 146 Argentinien, Replik, Rz. 31 m. Zitat aus Albanien, s. St., Rz. 47.
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und eine Verletzung des innerstaatlichen Zuständigkeitsbereichs. Dasselbe gelte für die Positionsbezüge der OAU gegenüber Biafra, Anjouan und Somaliland. Als erstes geht Serbien auf die Subthese ein, dass die Unabhängigkeitserklärung bloss eine Willensäusserung sei, die keine Rechtswirkungen entfalte und nicht Teil der Sezession sei.147 Die Unabhängigkeitserklärung sei ein Akt, der die Absicht habe, Rechtswirkungen zu produzieren, u. a. einen neuen Staat hervorzubringen. Eine Staatsentstehung bewirke eine Änderung der Souveränität und der Verantwortlichkeiten für die internationalen Beziehungen eines Territoriums.148 Dass die Unabhängigkeitserklärung ein solcher Akt sei, zeige sich auch in den einseitigen Bindungserklärungen der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung. Die Verfasser hätten also die Absicht gehabt, sich zu binden (quod non, weil die Erklärung völkerrechtswidrig sei). Direkt im Anschluss an die Annahme der Unabhängigkeitserklärung habe der Präsident der Kosovo-Versammlung proklamiert, dass der Kosovo ein unabhängiger und souveräner Staat sei und der Präsident und der Premierminister hätten Briefe an alle Regierungen der Welt verschickt und um Anerkennung gebeten. Diese Briefe hätten sie als Vertreter der „Republik Kosovo“ unterzeichnet. Für die Verfasser hatte dieser Akt „the effect of marking the creation of a new State (quod non).“ 149 Auch die Staaten, die den Kosovo anerkannt haben, seien davon ausgegangen, dass die Unabhängigkeitserklärung Rechtswirkungen zeitige. Die meisten Staaten, die nun behaupten würden, dass die Unabhängigkeitserklärung keine Rechtswirkungen zeitige, hätten sich am Tag nach ihrer Annahme explizit darauf bezogen und den Kosovo formell anerkannt.150 Im Gegensatz dazu habe Slowenien kein Problem damit, zu sagen, dass der Staat Kosovo mit der Unabhängigkeitserklärung gegründet wurde.151 Die Unabhängigkeitserklärung sei ein unilateraler Akt, der die Absicht seiner Autoren zum Ausdruck bringe, die serbische Souveränität und die VN-Verwaltung auf dem Territorium zu beenden, gewisse Verpflichtungen für den neuen „Staat“ einzugehen und eine neue Grundlage für die internationale Präsenz im Kosovo zu liefern, das „Einverständnis“ des neuen „Staates“. Als solche sei sie ein widerrechtlicher Akt von Institutionen gewesen, die durch die VN geschaffen worden seien und ihre Kompetenzen nur im Einklang mit dem Recht der VN ausüben könnten.152 147
Serbien, Replik, Rz. 179 ff. Serbien, Replik, Rz. 182 m. Zitat aus Russland, s. St., Rz. 10. 149 Serbien, Replik, Rz. 187. 150 Serbien, Replik, Rz. 188 ff. m. Zitaten aus und Hinweisen auf Anerkennungsbriefe folgender Staaten: USA, Frankreich, Albanien, Dänemark, Estland, Norwegen, Schweiz und Grossbritannien. 151 Serbien, Replik, Rz. 188 m. H. auf Slowenien, s. St., 1. 152 Serbien, Replik, Rz. 193. 148
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Serbien bringt den folgenden Einwand zur These vor, dass die Staatsentstehung eine „matter of fact“ und die Unabhängigkeitserklärung daher nicht vom Völkerrecht geregelt sei.153 Dies sei eine eklatante Missachtung des Prinzips ex iniuria ius non oritur und ein falsches und verstörendes Signal für andere Situationen illegaler Sezessionsbestrebungen. Für Frankreich sei es egal, durch welche Völkerrechtsverletzungen ein Staat entstanden sei, wichtig sei die Frage, ob er sich erfolgreich etabliert habe. Dies stehe in eklatantem Widerspruch zur VNPraxis (obwohl es zutreffe, dass sich Frankreich als einziges Land enthalten habe, als alle anderen Mitglieder des Sicherheitsrats der Sicherheitsratsresolution zugestimmt haben, die die Unabhängigkeitserklärung des rassistischen Staates Südrhodesien verurteilte).154 Serbien stimme zu, dass die Staatsentstehung teilweise ein faktischer Vorgang sei. Es könne keinen Staat ohne die faktischen Voraussetzungen geben. Das Recht könne keine Staaten hervorbringen; das Beispiel von Namibia sei illustrativ. Das heisse aber nicht, dass es eine „pure matter of fact“ sei: „There can be no State without the existence of some factual elements, but an entity created in breach of international law, even if it has all the factual attributes of a State, is not a State. [. . .] The creation of States in the contemporary world is both a matter of fact and law.“ 155
b) Einwände zur Subthese 2: Die Neutralität des Völkerrechts Serbien formuliert einen Einwand zur These, dass die Unabhängigkeitserklärung vom innerstaatlichen, aber nicht vom Völkerrecht geregelt sei.156 Das innerstaatliche Recht könne ein Recht zur Sezession vorsehen, so wie es die SFRJVerfassung für die sechs konstituierenden Republiken – also nicht für die autonome Provinz Kosovo – vorgesehen habe. Das Völkerrecht sei aber keinesfalls neutral, wenn es um Akte gehe, die das innerstaatliche Recht respektierten oder verletzten. Ein Beispiel, das zeige, dass sich das Völkerrecht auf das innerstaatliche Recht beziehe, sei die S/RES/169 (1961) zu Katanga, in der der Sicherheitsrat festgehalten habe, dass alle sezessionistischen Aktivitäten gegen die Loi fondamentale des Kongo verstossen würden.157 Serbien bringt einen Einwand zur These vor, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht vom Völkerrecht geregelt sei, weil sie keinem Völkerrechtssubjekt zugerechnet werden könne.158 Das Völkerrecht adressiere unterschiedliche nicht
153 154 155 156 157 158
Serbien, Replik, Rz. Serbien, Replik, Rz. Serbien, Replik, Rz. Serbien, Replik, Rz. Serbien, Replik, Rz. Serbien, Replik, Rz.
215 f. m. H. auf Frankreich, s. St., Rz. 2.4. 215 m. H. auf S/RES/216 (1965). 216. 200 m. H. auf Deutschland, s. St., 29. 202 m. Zitat aus S/RES/169 (1961), Ziff. 8. 212 m. H. auf Österreich, s. St., Rz. 24.
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staatliche Akteure, insbesondere um auf den Schutz der territorialen Integrität in sezessionistischen und anderen innerstaatlichen Konflikten hinzuweisen. Darüber hinaus sei klar, dass die PISG als Organ des VN-Verwaltungsrahmens an das Regime der S/RES/1244 (1999) gebunden sei. Ein weiterer serbischer Einwand richtet sich gegen die These des Kosovo, wonach das Völkerrecht keine Regel enthalte, die es Personen oder Entitäten verbieten würde, die Unabhängigkeit anzustreben oder eine Unabhängigkeitserklärung anzunehmen.159 Das seien zwar unterschiedliche Fragen. Das Völkerrecht verbiete es Personen und Entitäten nicht nur nicht, Unabhängigkeit anzustreben, es beschütze sie sogar durch die einschlägigen bürgerlichen und politischen Rechte. Etwas ganz anderes sei aber die Annahme einer Unabhängigkeitserklärung. Diese sei eben nicht nur ein Akt, der eine Absicht zum Ausdruck bringe, sondern ein Akt, der den Zweck verfolge, auf dem Territorium eines souveränen Staates, das unter VN-Verwaltung stehe, einen neuen Staat zu gründen. Der Gerichtshof müsse also nicht die Frage beantworten, ob die Kosovo-Albaner die Unabhängigkeit anstreben und dies öffentlich erklären hätten dürfen. Ein weiterer serbischer Einwand zur Neutralitäts-These besagt, dass Staaten, die diese These vertreten würden, Mühe hätten, eine kohärente Position zu entwickeln.160 Wenn man alle Ausnahmen zur These aufzählen würde, käme man zu einer beeindruckenden Liste von Fällen, in denen die Sezession doch geregelt sei: Falls sie eine Gewaltanwendung mit sich bringe,161 einen völkerrechtlichen Vertrag verletze,162 mit externer Hilfe vollzogen werde,163 in Zusammenhang mit rassistischer Diskriminierung164, einer Verletzung einer zwingenden völkerrechtlichen Norm165 oder dem Selbstbestimmungsrecht der Völker stehe.166 c) Einwände zum Lotus-Ansatz Ein weiterer Einwand von Serbien richtet sich gegen die These, dass nur die Frage nach einem Verbot von Unabhängigkeitserklärungen aufgeworfen sei.167 159
Serbien, Replik, Rz. 213 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.08. Serbien, Replik, Rz. 217 m. H. auf Deuschland, Estland, Finnland und die Schweiz, die zum Schluss kommen würden, dass das Völkerrecht die Sezession regle und Irland und Frankreich, Deutschland und Finnland, die Beispiele von illegalen Sezessionen angeben würden. 161 Serbien, Replik, Rz. 222 m. H. auf Deutschland, s. St., 29; Frankreich, s. St., Rz. 1.5 und 1.15 und Irland, s. St., Rz. 22. 162 Serbien, Replik, Rz. 222 m. H. auf Deutschland, s. St., 29. 163 Serbien, Replik, Rz. 222 m. H. auf Deutschland, s. St., 30. 164 Serbien, Replik, Rz. 222 m. H. auf Deutschland, s. St., 30. 165 Serbien, Replik, Rz. 222 m. H. auf Irland, s. St., Rz. 22. 166 Serbien, Replik, Rz. 222 m. H. auf Irland, s. St., Rz. 23. 167 Serbien, Replik, Rz. 196 ff. und 204 ff. m. H. auf Albanien, s. St., Rz. 43; Estland, s. St., 4; Frankreich, s. St., Rz. 2.3 ff.; Deutschland, s. St., 27 ff.; Irland, s. St., Rz. 18 ff.; 160
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Dies sei ein eigenartiges Verständnis der Anwendung des Völkerrechts auf Handlungen, Fakten und Situationen. Es gebe nicht für jedes Verhalten eine spezifische Regel. Das Fehlen einer solchen Regel führe nicht dazu, dass ein Verhalten nicht aus rechtlicher Perspektive analysiert werden könne. Die Vertreter der These würden sich auf das Lotus-Prinzip berufen. Der Gerichtshof verfahre aber anders: Er suche zuerst nach einer lex specialis und greife dann auf generelles Völkerrecht zurück. Als der Gerichtshof auf die auf das Lotus-Prinzip gestützten Argumente im Nuclear Weapons-Verfahren reagierte, habe er schlicht Folgendes festgehalten: „[. . .] the Court must decide, after consideration of the great corpus of international law norms available to it, what might be the relevant applicable law.“ 168 Es sei klar, dass es nicht eine spezifische Norm gebe, die die Annahme von Unabhängigkeitserklärungen verbiete. Die von der Generalversammlung an den Gerichtshof gestellte Aufgabe sei die Untersuchung der Unabhängigkeitserklärung im Lichte der anwendbaren völkerrechtlichen Regeln, d. h. des generellen Völkerrechts und der S/RES/1244 (1999). Die Staaten, welche die hier in Zweifel gezogene These vertreten, würden dies tun, um eine rechtliche Analyse zu umgehen. Diese Analyse sei nicht auf blosse Illegalität reduziert, sondern auf Konformität bezogen. Nicht konform könne „illegal“, aber auch „ohne völkerrechtlichen Grund“ heissen. Der Gerichtshof könne also auch untersuchen, ob sich die Unabhängigkeitserklärung auf das Selbstbestimmungsrecht eines sogenannten kosovarischen Volkes (quod non) oder auf das Vorliegen der Voraussetzungen der Staatlichkeit stützen könne (quod non). Nach den Unabhängigkeitserklärungen von Guinea-Bissau und der Kapverden habe die Generalversammlung festgehalten, dass diese völkerrechtskonform seien.169 Es sei also möglich zu analysieren, ob ein Rechtsgrund für die Unabhängigkeitserklärung bestehe. Ebenso sei es möglich, eine Unabhängigkeitserklärung als illegal zu bezeichnen.170 Sogar noch, bevor sie angenommen worden sei.171 d) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die Proponenten der Position 1 erheben Einwände gegen beide Subthesen der Position 3. Bezüglich der Subthese 1 zur Faktizität der Unabhängigkeitserklärung Polen, s. St., Rz. 2.2; Luxemburg, s. St., Rz. 16 f.; Grossbritannien, s. St., Rz. 5.12 f.; USA, s. St., 50 ff. und Kosovo, s. St., Rz. 8.03. 168 Serbien, Replik, Rz. 197 m. Zitat aus IGH, Nuclear Weapons, Rz. 23 und Hinweis auf Wall, Rz. 86. 169 Serbien, Replik, Rz. 206 m. Zitat aus A/RES/28/3061 vom 2. November 1973. 170 Serbien, Replik, Rz. 208 ff. m. H. auf S/RES/169 (1961) zu Katanga, 216 (1965) zu Südrhodesien und 541 (1983) zur Türkischen Republik Nordzypern und A/RES/31/ 6A, 32/105N und 34/93G zu den Bantustans. 171 Serbien, Replik Rz. 210 m. Zitat aus S/RES/787 (1992) zu Bosnien und Herzegowina.
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und der Sezession fokussieren sie auf die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, die als Akt völkerrechtlich geregelt sei. Die Position 3 unterscheidet mit dem Effektivitätsprinzip zwischen Akt und Rechtsfolgen. Der Akt der Unabhängigkeitserklärung wird als Fakt gerahmt, der völkerrechtsunabhängig ist. Entscheidend seien die Rechtsfolgen, die er zeitige – insbesondere die Reaktion der internationalen Gemeinschaft. Die gleiche Rahmung vertritt die Position 3 bei illegalen Unabhängigkeitserklärungen: Die Folge der Illegalität ist nicht, dass die Unabhängigkeitserklärung als Fakt nicht existiert, sondern dass sie die Rechtsfolge der kollektiven Nichtanerkennung nach sich zieht. Das bedeutet nicht, dass es den Fakt nicht gibt, sondern, dass seine Rechtsfolgen nicht anerkannt werden. Diese Unterscheidung scheint nicht durch Einwände entkräftet worden zu sein. Vielmehr wurde die Gegenthese formuliert, dass aufgrund der Rechtsfolge auch der Akt vom Völkerrecht geregelt sei. Bezüglich der Subthese 2 wird dem Effektivitätsprinzip das der Legalität entgegengesetzt und der Lotus-Ansatz kritisiert. Serbien bezieht sich auf das Beispiel der S/RES/169 (1961), um festzuhalten, dass das Völkerrecht gegenüber Akten, die das innerstaatliche Recht verletzen, nicht neutral sei.172 Des Weiteren weist Serbien darauf hin, dass das Prinzip ex factis ius oritur durch die vielen Ausnahmen des Prinzips ex iniuria ius non oritur seine Kohärenz verliere. Zusätzlich kritisieren die Proponenten der Position 1 die Einschränkung der Frage nach der Völkerrechtskonformität auf die Frage nach dem Bestehen eines Verbots durch die Anwendung des Lotus-Prinzips. Hier versuchen die Proponenten, den Begriff der Konformität wieder zu öffnen. Die Übergänge werden mit Hinweisen auf die Gutachten Wall und Nuclear Weapons stabilisiert. Serbien räumt ein, dass es keine spezifische Norm gebe, die die Annahme von Unabhängigkeitserklärungen verbiete. Die Frage nach der Konformität könne aber auch so verstanden werden, dass nach einem Grund für die Unabhängigkeitserklärung gefragt werde. Dieser Übergang wird mit Verweis auf die Generalversammlung vollzogen, die in A/RES/28/3061 die Unabhängigkeitserklärung von Guinea-Bissau als völkerrechtskonform anerkannt hat. Es ist interessant, dass die Proponenten auf diesen Fall hinweisen, war diese Resolution der Generalversammlung am 2. November 1973 doch angenommen worden, bevor Portugal die Staatlichkeit der ehemaligen Kolonie durch Vertrag vom 26. August 1974 anerkannte.173
172 Das gleiche Beispiel wird von den Proponenten der Positionen 2 und 3 verwendet, um darzulegen, dass Unabhängigkeitserklärungen per se nicht gegen das Völkerrecht, sondern nur gegen das innerstaatliche Recht verstossen. 173 Agreement Granting Independence between Portugal and Guinea-Bissau, in: ILM, Vol. 18, 1979, 1244 ff. Vgl. dazu Raicˇ, 98 f.
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3. Der Proponent der Position 5 als Opponent der Position 3 a) Einwände zur Subthese 1 der Faktizität der Sezession Zypern formuliert folgende Einwände zur These, dass der Vorgang der Staatsentstehung rein faktischer Natur sei.174 Diese stimme nicht, denn das Völkerrecht sei gegenüber der Art und Weise, wie Fakten geschaffen würden, nicht indifferent. Würde die Staatlichkeit durch Intervention eines Drittstaates geschaffen, so würde dies nicht zu einem rechtskonformen Wechsel des Hoheitstitels führen. Dies hätten sogar die Staaten vertreten, die behaupteten, dass das Völkerrecht indifferent sei. Ein weiteres Beispiel sei die Verletzung von zwingenden völkerrechtlichen Normen.175 Die Illegalität dieser Unabhängigkeitserklärungen leite sich aus der Verletzung von völkerrechtlichen Normen und Prinzipien (Prinzipien der territorialen Integrität, der Nichtanwendung von Gewalt und der Nichtintervention) und nicht aus der Sicherheitsratsresolution ab. Der betroffene Staat habe ein Recht auf die Schadloshaltung seines Hoheitstitels, unabhängig von den Handlungen des Sicherheitsrats. Es sei eine Rechtsfrage und damit eine angemessene Frage für den Gerichtshof. b) Einwände zur Subthese 2 der Neutralität des Völkerrechts aa) Zur Anwendbarkeit ratione personae des Prinzips der territorialen Integrität Zypern formuliert einen Einwand gegen die These, dass das Völkerrecht nicht auf Sezessionen anwendbar oder ihnen gegenüber neutral sei.176 Diese These sei „fundamentally incorrect“, weil sie im Widerspruch zum Prinzip der territorialen Integrität und anderen Instrumenten wie z. B. Sicherheitsratsresolutionen stehe. Das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten sei das erste Prinzip der Charta und territoriale Integrität sei ein Teil davon. Die Verbote der Intervention, der Androhung oder Anwendung von Gewalt und der Versuch der teilweisen oder vollständigen Spaltung der nationalen Einheit und territorialen Integrität eines Staates seien Teil des Prinzips der territorialen Integrität.177 Die Schutzklausel der FRD bestärke diese Regeln. Zypern zitiert die Schutzklausel der FRD ziemlich eigenwillig: „Nothing in the foregoing paragraphs shall be construed as authorizing or encouraging any action which would dismember or impair, totally or in part, the territorial integrity or political unity of . . . States . . . (sic!).“ 178 Das 174 175 176 177 178
Zypern, Replik, Rz. 41. Zypern, Replik, Rz. 43 m. Zitat aus S/RES/217 (1965) zu Südrhodesien. Zypern, Replik, Rz. 13 ff. Zypern, Replik, Rz. 14 m. H. auf Art. 2 Ziff. 1 und Ziff. 4 VN-Charta und die FRD. Zypern, Replik, Rz. 15.
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Wort „ermächtigen“ sei entscheidend. Es bringe zum Ausdruck, dass eine Handlung ohne eine solche Ermächtigung verboten sei. Die Schutzklausel weise auf eine generelle völkerrechtliche Regel hin, nach der jede Handlung, die zu einer Schädigung oder Dismembration der territorialen Integrität eines Staates führe, verboten sei. Es komme nicht darauf an, ob die Handlung innerhalb oder ausserhalb des Staates vollzogen werde.179 Gerade weil dieses Prinzip bestehe, hätten die Staaten und die VN darauf bestanden, dass alle Ausnahmen davon rechtlich geregelt würden. Die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts im kolonialen Kontext sei ein Beispiel einer solchen expliziten Ausnahme.180 Die FRD mache die Ausnahme, indem sie festhalte, dass das kolonialisierte Territorium einen separaten Status innehabe. Das Völkerrecht regle somit die Frage der Dismembration von Staaten: „[T]here is no room for an argument that international law says nothing against secession and must therefore be presumed to permit it.“ 181 Dass diese Regeln auch auf sezedierende Entitäten anwendbar seien, ergebe sich aus der VN- und Staatenpraxis. Die Geschichte des Selbstbestimmungskampfs weise darauf hin, dass das Völkerrecht auch Befreiungsbewegungen und nicht selbstregierten Gebieten Rechte und Pflichten auferlege.182 Im vorliegenden Fall stütze insbesondere die andauernde Anwendung der S/RES/1244 (1999) auf die Kompetenzen der PISG diese These.183 Weitere Beispiele seien die Republika Srpska und die Türkische Republik Nordzypern. Der Versuch der ersteren, ein Referendum über ihren Rechtsstatus abzuhalten, sei vom Hohen Stellvertreter von Bosnien und Herzegowina mit Hinweis auf das Dayton-Abkommen als rechtswidrig abgetan worden.184 Bezüglich Nordzypern würde die S/RES/541 (1983), die von vielen Staaten in den schriftlichen Stellungnahmen zitiert worden sei, direkt eine nicht staatliche Entität an-
179 Zypern, Replik, Rz. 15 f. m. H. auf die VN-Milleniumsdeklaration, das VN-Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005, die Schlussakte von Helsinki und die Charta von Paris. 180 Zypern, Replik, Rz. 17 m. H. auf Zypern, s. St., Rz. 124 ff. und Quebec-Gutachten, Rz. 112. 181 Zypern, Replik, Rz. 17. 182 Zypern, Replik, Rz. 18 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 113 und Hinweis auf die Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen und S/RES/460 (1970), Ziff. 6, 463 (1980), Ziff. 2 und 455 (1979), Ziff. 1 zu Südrhodesien; S/RES/942 (1994), Ziff. 3 und 787 (1992), Ziff. 3 zur ehemaligen SFRJ; S/RES/1199 (1998), Ziff. 6 und 1203 (1998), Ziff. 4 und 10 zum Kosovo; S/RES/1814 (2008), Ziff. 16 zu Somalia; S/PRST/2008/15 zum Sudan; S/RES/1233 (1999), Ziff. 11 und 1216 (1998), Ziff. 5 zu Guinea-Bissau. 183 Zypern, Replik, Rz. 18 m. H. auf Zypern, s. St., Rz. 91 und den Bericht des Generalsekretärs vom 10. Juni 2009, in: S/2009/300, Ziff. 1, 6 und 40. 184 Zypern, Replik, Rz. 19 m. H. auf eine Presseerklärung vom 22. Februar 2008 (http://www.ohr.int/ohr-dept/presso/pressr/default.asp?content_id=413442).
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sprechen. Die Unabhängigkeitserklärung von Nordzypern habe gegen das Prinzip der territorialen Integrität und den Garantievertrag von 1960 verstossen.185 Viele Staaten, die die These verteten würde, dass die Sezession nicht völkerrechtlich geregelt sei, würden aus der Staatenpraxis zitieren, um ihre These zu begründen. Ein Grossteil dieser zitierten Staatenpraxis falle vor die Entwicklung moderner völkerrechtlicher Prinzipien zurück, so beispielsweise die Unabhängigkeitserklärung der USA. Darüber hinaus würde die Praxis, die auf eine völkerrechtliche Normierung der Sezession hinweise, unberücksichtigt bleiben.186 Dies habe auch der Oberste Gerichtshof von Kanada im Quebec-Gutachten festgehalten. Wie bereits festgehalten, sei der Kosovo kein Fall der Selbstbestimmung, und wenige Staaten hätten in den schriftlichen Stellungnahmen behauptet, dass dem so sei. Zypern anerkenne, dass es Fälle gebe, in denen die internationale Gemeinschaft nicht auf einen Sezessionsanspruch zu reagieren habe. Der betroffene Staat dürfe unter Berücksichtigung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts auch Gewalt anwenden, um auf den Anspruch zu reagieren. Im Falle des Kosovo sei Serbien diese Möglichkeit jedoch mit der S/RES/1244 (1999) und den Verträgen zwischen Serbien und den VN genommen worden. Serbien habe trotzdem zum Ausdruck gebracht, dass es alle zur Verfügung stehenden Mittel gebrauchen werde, um dem Anspruch entgegenzutreten. Aus einer allfälligen Stille der internationalen Gemeinschaft könne aber nicht auf eine Nichtregelung der Sezession geschlossen werden. Darüber hinaus führe auch nicht das Versagen des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung, auf widerrechtliche Unabhängigkeitserklärungen zu reagieren, dazu, dass diese rechtskonform seien.187 bb) Zur These, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung keine Völkerrechtssubjekte seien Zypern formuliert einen Einwand zur These, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung keinen völkerrechtlichen Status hätten und dass damit die Unabhängigkeitserklärung nicht vom Völkerrecht geregelt sei.188 Die Unabhängigkeitserklärung sei ein Akt der Kosovo-Versammlung als Organ der PISG. Selbst wenn dem nicht so wäre, führe das nicht zu einer Immunität gegenüber dem Völ185 Zypern, Replik, Rz. 20 m. H. auf den Treaty of Guarantee, London, 16. August 1960, in: 382 UNTS 3. 186 Zypern, Replik, m.w. H. 187 Zypern, Replik, 12 m. H. auf den Fall Biafra und Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 36. 188 Zypern, Replik, Rz. 10 ff.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
kerrecht und der S/RES/1244 (1999). Als sich die Versammlung im Jahr 2003 für unabhängig erklären habe wollen, habe ein Brief des Stellvertreters des SRSG darauf hingewiesen, dass ein solcher Akt gegen die Resolution 1244 (1999), den Interimsverfassungsrahmen und die Verfahrensregeln der Versammlung verstossen würde.189 Darüber hinaus sei die Unabhängigkeitserklärung selbst ein Dokument, das völkerrechtliche Folgen nach sich ziehen wolle. Sie wolle den Staatlichkeitsanspruch zum Ausdruck bringen und Verpflichtungen für diesen putativen Staat eingehen. Sie halte ausdrücklich fest, dass sich die anderen Staaten auf sie berufen könnten. Und sie wolle Serbien einen Teil seines Territoriums entziehen. Diese Akte würden notwendigerweise im völkerrechtlichen Bereich operieren.190 c) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Zypern bestätigt seine Position, dass die Sezession eine Frage des legalen Übergangs des Hoheitstitels sei. Der erste Teil der Begründungsstruktur der Replik deckt sich mit derjenigen der schriftlichen Stellungnahme. Über diese Struktur hinaus weist Zypern auf einen interessanten Punkt hin: Dass es Serbien aufgrund der S/RES/1244 nicht möglich sei, mit rechtskonformer Ausübung von Gewalt auf den kosovarischen Sezessionsanspruch zu reagieren. Eine Folge dieser Unmöglichkeit und der aus ihr von Zypern angesprochenen Verunmöglichung des Entgegentretens gegen den Sezessionsanspruch könnte sein, dass die Skepsis von Staaten gegenüber der Einrichtung von internationalen Verwaltungsmissionen auf ihrem Territorium grösser geworden ist. Zypern geht auf die These ein, dass den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung keine Völkerrechtssubjektivität zukomme. Folgende drei Einwände werden formuliert: Der erste Einwand besagt, dass die Verfasser ein Organ der PISG seien. Dies ist die von den Proponenten der Position 1 vertretene Gegenthese zur österreichischen These, die in den Verfassern Volksvertreter sieht, die ausserhalb des Interimsverfassungsrahmen gehandelt hätten. Die österreichische These wurde in der zweiten Runde von Deutschland und vom Kosovo selbst übernommen. Zypern geht nicht weiter darauf ein, sondern hält fest, dass die Verfasser selbst nach der österreichischen These an das Völkerrecht und die S/RES/1244 (1999) gebunden sind. Um diesen Übergang zu stützen, verweist Zypern auf zwei Briefe,
189 Zypern, Replik, Rz. 11 m. Zitat aus Letter from the Principal Deputy Special Representative of the Secretary-General to the President of the Assembly of Kosovo vom 7. Februar 2003, in: VN-Dossier Nr. 189 und Letter from the Special Representative of the Secretary-General vom 6. November 2002, in: VN-Dossier Nr. 185. 190 Zypern, Replik, Rz. 12.
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die vor und nach der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung vom 3. Februar 2003 vom SRSG und dem Stellvertreter des SRSG verfasst wurden.191 Zypern zitiert folgende Stelle des Briefs des Stellvertreters des SRSG vom 7. Februar 2003: „[. . .] consideration of this matter by the Assembly would be contrary to United Nations Security Council Resolution 1244 (1999), the Constitutional Framework for Provisional Self-Government in Kosovo and to the Provisional Rules of Procedure of the Assembly.“ 192
Diese Stützung wird in der intervenierenden Beurteilung analysiert. bb) Intervenierende Beurteilung Der zitierte Brief geht wie folgt weiter: „As you will also have noted, the United Nations Security Council met on 6 February to consider Secretary General’s Annan most recent report on implementation of resolution 1244. The principle of ,standards before status‘ received continued support, afferming that moves to address the issue of final status for Kosovo are not supported at this time by the international community.“ 193
Der Verweis auf die „standards before status“-Politik erlaubt, den Brief in den Kontext zu stellen, in dem er angenommen wurde. Die entsprechende Politik wurde im Dezember des Jahres 2003 implementiert. Demnach sollte der Kosovo acht von der UNMIK und den PISG aufgestellte Kriterien194 der good governance erfüllen, bevor sein Status thematisiert werden würde.195 Ein Aufsichtsmechanismus sollte die Erreichung der Ziele dokumentieren; dieses Implementierungsmittel wurde auf Initiative der Kontaktgruppe am 5. November in Belgrad und Pristina präsentiert.196 Der Stabilisierungs- und Normalisierungsprozess wurde im März 2004 durch den Ausbruch interethnischer Gewalt erschwert; 19 Personen starben, knapp 1.000 wurden verletzt. Die Gewalt richtete sich auch gegen Personen und Einrichtungen der internationalen Organisationen.197
191
Der Text der Unabhängigkeitserklärung findet sich in: Dossier, Nr. 188. Letter from the Principal Deputy Special Representative of the Secretary-General to the President of the Assembly of Kosovo vom 7. Februar 2003, in: VN-Dossier Nr. 189. 193 Letter from the Principal Deputy Special Representative of the Secretary-General to the President of the Assembly of Kosovo vom 7. Februar 2003, in: VN-Dossier Nr. 189. 194 S/2003/113, Annex. 195 S/PRST/2003/26; vgl. auch die Pressemitteilung des SRSG Michael Steiner vom 6. Februar 2003, UNMIK/PR/919. 196 S/PRST/2003/26. 197 S/2004/348. 192
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Im Oktober 2005 setzte der Generalsekretär Kai Eide (damals ständiger Vertreter Norwegens bei der NATO) als Sondergesandten ein, um die Implementierung der Standards im Kosovo einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen. Aufgrund dieser Untersuchung sollte entschieden werden, ob die Voraussetzungen für einen politischen Prozess über den künftigen Status des Kosovo erfüllt sind. In einem ausführlichen Bericht kam der Sondergesandte zum Schluss, dass die Umsetzung der Standards nicht immer gleich gut gelungen, die Zeit für einen Status-Prozess aber gekommen war.198 Am 24. Oktober entschied der Sicherheitsrat, dass Verhandlungen über den Status des Kosovo aufgenommen werden sollen; dazu sollte der Generalsekretär der VN einen Sondergesandten ernennen und die Kontaktgruppe sowie weitere regionale und internationale Organisationen den Prozess begleiten.199 Im November 2005 schlug der Generalsekretär Martti Ahtisaari als seinen Sondergesandten und Albert Rohan als dessen Stellvertreter vor; der Sicherheitsrat begrüsste diesen Entscheid.200 Die Kontaktgruppe legte die Prinzipien für den künftigen Statusprozess dar. Demnach sollte die angestrebte Lösung eine europäische Perspektive und effektive Selbstverwaltungsstrukturen für den Kosovo vorsehen, eine Rückkehr zu den Verhältnissen vor März 1999 wurde ausgeschlossen;201 die definitive Entscheidung über den Status des Kosovo sollte aber der Sicherheitsrat fällen.202 Zwischen dem 20. Februar und dem 8. September 2006 fanden mehrere Verhandlungsrunden statt. Folgende Themen wurden besprochen: Dezentralisation der Verwaltungsstrukturen, Kulturerbe und religiöse Stätten, wirtschaftliche Angelegenheiten und Gemeinderechte.203 Eine Annäherung der konträren Positionen misslang in den meisten Fällen.204 Am 2. Februar legte Martti Ahtisaari den Entwurf eines umfassenden Vorschlags für die Regelung des Status des Kosovo vor.205 Am 10. März fand in Wien die letzte Verhandlungsrunde zur Diskussion des Entwurfes statt; die Dele-
198 S/2005/635; vgl. zur Umsetzung der Standards auch schon S/2005/335 sowie den ersten Eide-Report S/2004/932. 199 S/PRST/2005/51. Die Kontaktgruppe stellt zehn Verhandlungsprinzipien auf: Kontaktgruppe, Ten Guideline Principles vom 7. Oktober 2005, verfügbar auf: http:// www.unosek.org/unosek/en/docref. html. 200 Brief des Präsidenten des Sicherheitsrates an den Generalsekretär der VN vom 10. November, S/2005/709. 201 Ebenda, Annex, Ziff. 2, 4 und 6. 202 Ebenda, Annex, Abs. 8. 203 Berichte des Generalsekretärs der VN zur UNMIK vom 5. Juni, 1. September und 20. November 2006, S/2006/361, S/2006/707 und S/2006/906. 204 S/2006/707, Ziff. 3; S/2006/906, Ziff. 2. 205 Vgl. den Hinweis in S/2007/134, Ziff. 2.
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gationen konnten jedoch keine Fortschritte erzielen.206 Am 26. März 2007 kam der Sondergesandte des Generalsekretärs nach über einem Jahr direkter Gespräche, bilateraler Verhandlungen und Beratung durch Experten zum Schluss, dass zwischen den beteiligten Parteien keine Einigung über den künftigen Status des Kosovo erzielt werden könne.207 Deshalb schlug er folgendes vor: „The time has come to resolve Kosovo’s status. Upon careful consideration of Kosovo’s recent history, the realities of Kosovo today and taking into account the negotiations with the parties, I have come to the conclusion that the only viable option for Kosovo is independence, to be supervised for an initial period by the international community.“ 208
Er legte den „Vorschlag für die Regelung des Status des Kosovo“, den sogenannten Ahtisaari-Plan, vor.209 Dieser sah die Einrichtung einer Verfassungskommission vor, die den Entwurf einer kosovarischen Verfassung erarbeiten sollte.210 Der Prozess sollte von der ISG, in der die „key international stakeholder“ 211 vertreten sind und die vor Ort durch einen International Civilian Representative vertreten wird, überwacht werden.212 120 Tage nach Inkrafttreten des Vorschlags sollten die exekutiven und legislativen Kompetenzen der UNMIK auf die kosovarischen Institutionen übertragen werden.213 Der Generalsekretär unterstützte sowohl die Empfehlungen als auch den Vorschlag seines Sondergesandten.214 Auf Vorschlag von Russland entschied der Sicherheitsrat, vom 25. bis zum 28. April eine Mission vor Ort durchzuführen, um sich selber ein Bild von den Fortschritten seit der Resolution 1244 zu machen, sich mit der serbischen Führung, den PISG und Repräsentanten der ethnischen Minderheiten im Kosovo auszutauschen und Informationen von internationalen Akteuren in Brüssel und im Kosovo einzuholen.215 Die serbischen und die kosovarischen Positionen zum Ahtisaari-Plan waren nach wie vor unvereinbar, die eine lehnte eine kosovarische Unabhängikeit kategorisch ab und bestand auf weiteren Verhandlungen, die andere setzte grosse Hoffnungen in eine rasche Umsetzung des Plans durch den Sicherheitsrat und sah keinen Platz für weitere Verhandlungen.216 Relativ un206
Vgl. S/2007/395, Ziff.2. Bericht des Sondergesandten des Generalsekretärs der VN zum künftigen Status des Kosovo, S/2007/168, Ziff. 1 und 3. 208 Ebenda, Ziff. 5 (Hervorhebung durch den Verfasser). 209 S/2007/168/Add.1. 210 Ebenda, Art. 10.1. 211 Ebenda, Art. 12.1. 212 Ebenda, Art. 12.1 und Annex IX. 213 Ebenda, Art. 15.1. 214 S/2007/168, 1. 215 Vgl. den Bericht zur Sicherheitsratsmission zum Kosovo vom 4. Mai 2007, S/ 2007/256, Ziff. 1 und 3. 216 Ebenda, Ziff. 59. 207
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
bestritten war die europäische Perspektive, die der Region geboten werden müsse.217 Der Sicherheitsrat diskutierte im Juli 2007 mehrere Sicherheitsresolutionsentwürfe zum endgültigen Status des Kosovo. Nachdem sich der Rat nicht einigen konnte, veröffentlichten die Staaten Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Grossbritannien und die USA eine Stellungnahme, in der sie sich für den Ahtisaari-Plan als Grundlage für die künftigen Entwicklungen aussprachen.218 Zwischen dem 7. August und dem 9. Dezember 2007 fanden unter der Ägide der Kosovo-Troika219 weitere Verhandlungen statt. Am 4. Dezember kam die Troika zum Schluss, dass zwischen Serbien und dem Kosovo keine Einigung über den Status des Kosovo erzielt werden könne.220 Daraufhin entschied der Rat der Europäischen Union, am 4. Februar 2008 im Rahmen einer Gemeinsamen Aktion die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo (EULEX Kosovo) zu errichten.221 Ursprünglich war vorgesehen, dass die EULEX die Tätigkeiten der UNMIK übernehmen würde; daher war ein Kommandowechsel am Tag der Inkraftsetzung der kosovarischen Verfassung geplant. Dieser Plan konnte wegen des serbischen und russischen Widerstands nicht eingehalten werden. Erst als die EULEX-Mission in die UNMIK integriert wurde und sich zur Status-Neutralität bekannte statt zur Umsetzung des Ahtisaari-Plans, konnte sie am 9. Dezember 2008 offiziell ihre Tätigkeit aufnehmen.222 Schliesslich nahm am 17. Februar 2008 im Parlament die Kosovo-Versammlung mit 109 von 120 Stimmen, inklusive der Stimme des Premierministers und des Präsidenten des Kosovo (die nicht Mitglied der Versammlung sind), die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo an. Die zehn Vertreter der serbischen Gemeinschaft und ein Vertreter der Gorani nahmen nicht an der Abstimmung teil. Die Erklärung wurde nicht an den SRSG weitergeleitet und auch nicht im Amtsblatt der PISG veröffentlicht.223 Sowohl die serbische Regierung als auch das serbische Parlament erklärten die Unabhängigkeitserklärung für null und nich-
217
Ebenda, Ziff. 60. Statement issued on 20 July 2007 by Belgium, France, Germany, Italy, United Kingdom and the United States of America, co-sponsors of the draft resolution on Kosovo presented to the UNSC on 17 July, verfügbar auf: http://www.unosek.org/unosek/ en/docref.html. 219 Die Troika setzte sich aus der EU, Russland und den USA zusammen. 220 Bericht der EU/USA/Russische Föderation-Troika zum Kosovo, 4. Dezember 2007, S/2007/723. 221 Gemeinsame Aktion 2008/124/GASP des Rates vom 4. Februar 2008, ABl 2008 L 42, 92 ff. 222 Vgl. Kerstin Odendahl, Die Beteiligung der EU an Missionen im Kosovo: UNMIK, EUPT Kosovo und EULEX KOSOVO, in: SZIER 2009/3, 356 ff., 367 ff. 223 IGH, Kosovo, Ziff. 76. 218
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tig.224 Der Sicherheitsrat führte auf Ersuchen Serbiens und Russlands eine öffentliche Sondersitzung durch; der serbische Präsident Boris Tadic´ nahm ohne Stimmberechtigung daran teil und verurteilte den unilateralen Akt. Folgende Staaten nahmen dieselbe oder moderatere, in der Stossrichtung aber ähnliche Positionen ein: China, Indonesien, Vietnam, Libyen, Burkina Faso und Südafrika. Folgende Staaten sprachen sich für eine Anerkennung des Kosovo aus: Belgien, Italien, Grossbritannien, Kroatien, Costa Rica, die USA und Frankreich.225 Der Generalsekretär und der SRSG nahmen jedoch keine Erklärung an und fomulierten keinen Brief, die den Akt der Unabhängigkeitserklärung in den gleichen Worten verurteilen würde wie der Brief vom 7. Februar 2003. 4. Erhebung des Argumentationsstandes Die Proponenten bauen ihre eigene Begründung nicht substanziell aus. Sie verfolgen vielmehr die Taktik, dass sie an den Argumentationen der anderen Akteure aufzeigen wollen, dass diese ihre Position zumindest implizit auch vertreten haben. Die österreichische These zu den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung gewinnt an Anhängerschaft. Die Proponenten der Positionen 1 und 5 erheben Einwände: Aus den Rechtsfolgen müsse auf den Akt geschlossen werden, dem Lotus-Ansatz wird der Topos ex iniuria ius non oritur entgegengesetzt und der Begriff der Konformität wird wieder geöffnet. Zur These der mangelnden Völkerrechtssubjektivität der Verfasser erhebt Zypern die Gegenthese, dass die Verfasser die PISG seien. Der Einwand, dass die Verfasser gleich gebunden wären, wenn sie nicht die PISG seien, wurde auf zwei Briefe gestützt. Die intervenierende Beurteilung hat gezeigt, dass die Briefe nicht dazu führen, dass von der Unabhängigkeitserklärung von 2003 auf diejenige von 2008 geschlossen werden kann.
III. Mündliche Stellungnahmen Von den 29 Akteuren der dritten Runde haben zwölf die Position 3 vertreten (Albanien, Bulgarien, Burundi, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Kosovo, Norwegen, Österreich, Saudi-Arabien und die USA). Neu sind Burundi und Saudi-Arabien sowie Jordanien, das sich gegen Ende der Stellungnahme zur Position 3 äussert, dazugestossen. Nachdem Deutschland in der zweiten Runde von der Position 2 zur Position 3 gewechselt hat, vollzieht nun auch Albanien diesen Wechsel. Die Position 3 wird damit vor der Position 1 mit elf Proponenten von den meisten Akteuren vertreten. 224 Vgl. die Stellungnahme des serbischen Präsidenten vor dem Sicherheitsrat, S/ PV.5839, 5. 225 S/PV.5839.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
1. Begründung der Position 3 a) Zur Subthese 1: die Faktizität der Sezession Die Proponenten vertreten die These der Faktizität der Unabhängigkeitserklärung,226 die als faktisches Element des Sezessionsprozesses zur Emergenz eines neuen Staates beitragen könne.227 Kosovo betont, dass das Völkerrecht, auch wenn es Professor Kohen missfalle, nicht sein primäres Subjekt erschaffe, sondern bloss die staatliche Existenz konstatiere und die Konsequenzen daraus ziehe.228 Das Völkerrecht könne also nicht anders, als die Existenz des Kosovo festzustellen. Die Staatsentstehung sei aus völkerrechtlicher Sicht ein simpler Fakt. Daran ändere auch das „halbe Jahrhundert der völkerrechtlichen Entwicklung“ nichts, auf das sich Serbien beziehe.229 Die Praxis der 1990er-Jahre bestätige die hier vertretene These. Die Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 sei die letzte der föderalen Einheiten der SFRJ und Teil des Dissolutionsprozesses. Die Völkerrechtskonformität dieser Unabhängigkeitserklärungen sei nie in Zweifel gezogen worden. Das Völkerrecht habe in der Identifizierung der neuen Staaten durch Anwendung der völkerrechtlichen Staatlichkeitskriterien eine Rolle gespielt. Dies sei aber alles: „[. . .] le droit s’est borné à constater l’existence de ces nouveaux Etats – ni plus, ni moins.“ 230 Auch wenn die Unabhängigkeitserklärung das Ziel hatte, einen Staat zu schaffen, sei dies nicht durch sie realisiert worden.231 Es sei daher falsch, wenn man davon ausginge, dass sie völkerrechtliche Wirkungen gezeitigt habe und dass sie deshalb vom Völkerrecht geregelt sei. Für Norwegen ist die Unabhängigkeitserklärung „a statement of democratically elected leaders, on a par with that of members of a constituent assembly, 226 Kosovo (Müller), m. St., 39 ff. m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.07 ff., Replik, Rz. 4.03; Tschechien, s. St., 7; Frankreich, s. St., Rz. 2.2 ff.; Österreich, s. St., Rz. 24; Deutschland, s. St., 27 ff., Replik, 6 f.; Luxemburg, s. St., Rz. 16 f.; USA, s. St., 50 f.; Estland, s. St., 4; Finnland, s. St., Rz. 7 und 10; Japan, s. St., 2 und Grossbritannien, s. St., Rz. 33; Bulgarien (Dimitroff), m. St., 23; Dänemark (Winkler), m. St., 68; Österreich (Tichy), m. St., 7 m. H. auf Art. 1 Montevideo-Konvention und 9 m. H. auf Österreich, s. St., Rz. 22 ff.; Deutschland (Wasum-Rainer), m. St., 26; USA (Hongju Koh), m. St., 22 und 29 m. H. auf Shaw, Bayefski, 136; Dugard/Raicˇ, 102; Thürer/Burri, 2; USA, s. St., 50 ff. und Replik, 13 f. und Frankreich (Belliard), m. St., 15 m. H. auf Frankreich, s. St., Rz. 2.2 ff. 227 Kosovo (Müller), m. St., 39 m. H. auf Abi-Saab, Cours général, 68 f. und Conclusion, 470; Patrick Daillier/Mathias Forteau/Alain Pellet/Nguyen Quoc Dinh, Droit International Public, 8. Aufl., Paris 2009, 574. 228 Kosovo (Müller), m. St., 39 m. H. auf Badinter-Schiedskommission, Gutachten 1 und 8. 229 Kosovo (Müller), m. St., 42 m. H. auf Serbien, Replik, 95. 230 Kosovo (Müller), m. St., 42. 231 Kosovo (Müller), m. St., 39 m. H. auf Christakis, Effectiveness, 145; Österreich, s. St., Rz. 25; Japan, s. St., 2 f. und Grossbritannien, Replik, Rz. 36.
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whose explicit aim is to express the will of the people.“ 232 Als solches sei sie nicht ein „object of regulation by public international law.“ 233 Norwegen sage dies nicht bloss, weil es am 7. Juni 1905 selbst durch eine Unabhängigkeitserklärung aus der Dissolution der Union zwischen Schweden und Norwegen hervorgegangen sei, sondern weil Unabhängigkeitserklärungen Staaten nicht konstituieren würden. Weder gehörten sie zu den Voraussetzungen der Staatlichkeit noch würden sie eine Rechtsgrundlage für Staatlichkeit oder die Anerkennung derselben liefern. Und es heisse auch nicht, dass der Sicherheitsrat in Fällen offensichtlicher illegaler Gewaltanwendung nicht einschreiten und beispielsweise zu einer Nichtanerkennung verpflichten könne.234 Dies sei im Fall des Kosovo nicht gegeben. Norwegen betont die Unterscheidung zwischen Unabhängigkeitserklärungen und Fragen der Staatlichkeit und Anerkennung.235 Auch der IGH habe in Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro) zwischen Unabhängigkeitserklärungen, de facto Unabhängigkeit inklusive de facto Kontrolle über ein substantielles Territorium und der internationalen Anerkennung als Staat unterschieden.236 Die Gültigkeit einiger Unabhängigkeitserklärungen sei bestritten und von der Badinter-Schiedskommission beurteilt worden. Diese sei jedoch nicht auf die Legalität oder Illegalität der Erklärungen eingegangen. Einen ähnlichen Ansatz habe der Sicherheitsrat in S/ RES/787 (1992) verfolgt, als er festhielt, dass unilateral proklamierte Entitäten nicht anerkannt werden würden.237 Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sei nur schwer als unilateral anzusehen. Sie verweise auf einen langen Verhandlungsprozess, akzeptiere alle Vorschläge des SRSG und des Generalsekretärs und bekenne sich zum Völkerrecht, zum Menschenrechts- und Minderheitenschutz. Diese Bekenntnisse seien bindend geworden, als sich die Vertreter des Kosovo darauf bezogen hätten, ähnlich der Ihlen-Erklärung von 1919.238 Grossbritannien vertritt die These, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht durch die PISG angenommen worden ist. Sie sei „a unique constitutional mo-
232 Norwegen (Fife), m. St., 45 m. H. auf Norwegen, s. St., Rz. 14 f. und Replik, Rz. 11 f. 233 Norwegen (Fife), m. St., 46 m. H. auf Norwegen, s. St., Rz. 9 f. 234 Norwegen (Fife), m. St., 46 m. H. auf S/RES/541 (1983) zu Zypern und 662 (1990) zu Kuwait. 235 Norwegen (Fife), m. St., 47 m. H. auf Jennings/Watts, Band 1, 127. 236 Norwegen (Fife), m. St., 47 m. H. auf IGH, Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Rz. 233 f. und BadinterSchiedskommission, Gutachten 1. 237 Norwegen (Fife), m. St., 47 m. H. auf S/RES/787 (1992), Ziff. 3. 238 Norwegen (Fife), m. St., 50 m. H. auf Norwegen, s. St., Rz. 34 und Annex 2.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
ment in the history of Kosovo in which those elected by the people of Kosovo expressed the will of those they represented.“ 239 Die Schlüsselfragen seien daher: „[. . .] [W]hether those issuing a declaration of independence represented those for whom they purported to speak and whether, in doing so, their voice was effective. Those declaring Kosovo’s independence met both criteria.“ 240
Für Grossbritannien ist eine Unabhängigkeitserklärung nicht mehr als „words writ in water; [. . .] the sound of one hand clapping.“ 241 Entscheidend seien vielmehr die nachfolgenden Ereignisse, insbesondere die Reaktion der internationalen Gemeinschaft. Diese Reaktion könne dauern, sei aber grundsätzlich klar: Weder der Sicherheitsrat noch die Generalversammlung hätten die kosovarische Unabhängigkeitserklärung verurteilt und eine substantielle Anzahl von Staaten hätten den neuen Staat anerkannt. Dies stehe in scharfem Kontrast zu Fällen, in denen die Umstände der Staatsentstehung mit grundlegenden Völkerrechtsverletzungen in Zusammenhang gestanden hätten – den Bantustans, Südrhodesien, Mandschukuo und Nordzypern. In diesen Fällen könnten die Anerkennungen an einer Hand abgezählt werden, „whether or not it is clapping.“ 242 Das Völkerrecht verfüge über ein Institut, mit dem Staatlichkeitsansprüche beurteilt werden könnten: die Anerkennung durch andere Staaten. Eine substantielle Anerkennung sei ein Indiz für Staatlichkeit, so wie das Ausbleiben von Anerkennung in die gegenteilige Richtung zeige. Allgemeine Anerkennung könne daher durchaus eine heilende Wirkung auf mangelhafte Staatsentstehungen ausüben. b) Zur Subthese 2: die Neutralität des Völkerrechts aa) Der Grundsatz der Neutralität Die meisten der von den Proponenten vorgebrachten Gründe sollen ihre These der Neutralität stützen.243 Dabei konzentrieren sie sich auf die bereits vorgebrachten Gründe und bringen keinen neue Begründungsstruktur in das Verfahren ein. Sie stützen die These auf die Staaten- und Sicherheitsratspraxis, die Nichtanwendbarkeit des Prinzips der territorialen Integrität, die nachfolgende Entwicklung und das Verhältnis der kosovarischen Sezession zur Dissolution der SFRJ. Die mündliche Stellungnahme von James Crawford im Namen von Grossbritan239 Grossbritannien (Bethlehem), m. St., 42 m. Zitat aus Grossbritannien, s. St., Rz. 1.12. 240 Grossbritannien (Bethlehem), m. St., 42. 241 Grossbritannien (Crawford), m. St., 47. 242 Grossbritannien (Crawford), m. St., 48. 243 Vgl. Kosovo (Müller), m. St., 39 f. m. H. auf die a. M. von Serbien, Replik, Rz. 201; Österreich (Tichy), m. St., 11 m. Zitat aus Franck, Bayefski, 335 und Hinweis auf Österreich, s. St., Rz. 37 ff.; USA (Hongju Koh), m. St., 29 m. H. auf USA, s. St., 50 ff. und Replik, 13 ff. und Frankreich (Belliard), m. St., 15 m. H. auf Serbien, Replik, Rz. 215 ff.
§ 10 Die Sezession als faktische Staatsentstehung
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nien fasst die gesamte Begründungsstruktur eloquent zusammen. Sie wird daher als Beispiel verwendet.244 Historisch gesehen sei die Annahme einer Unabhängigkeitserklärung die häufigste Staatsentstehungsmethode gewesen. Wann genau sei die Methode verboten („outlawed“) worden? Grossbritannien geht dieser Frage anhand der klassischen Rechtsquellen des Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut nach. Niemand habe behauptet, dass die Unabhängigkeitserklärung durch einen Vertrag ausgeschlossen werde – wie beispielsweise im Fall von Zypern. Daher komme diese Quelle nicht infrage. Ein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen könne sicher nicht in der generellen Praxis vor 1919 gefunden werden. Diese Position habe sich nach 1919 nicht geändert. Im Aaland-Fall sei zwar festgehalten worden, dass keine nationale Gruppe das Recht habe „to separate themselves from the State of which they form part by the simple expression of a wish.“ 245 Es fände sich aber kein Hinweis darauf, dass dieser Ausdruck eines Wunsches durch das Völkerrecht in eine völkerrechtswidrige Handlung verwandelt werde. Diese Position habe sich auch nicht unter der VN-Charta geändert. Um die territoriale Integrität von Staaten zu schützen, sei die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität verboten worden, aber nur zwischen Staaten.246 Auch die Staatenpraxis seit 1945 stütze diese Position. Die Unabhängigkeitserklärungen der frühen 1990er-Jahre in Jugoslawien seien überprüft worden, aber weder die VN noch die EU und die Badinter-Schiedskommission hätten sie per se als völkerrechtswidrig eingestuft.247 Sie seien vielleicht befangen gewesen, dies stehe hier aber nicht zur Diskussion. Auch für Bulgarien und den Kosovo bestätigt die Praxis der frühen 1990erJahre die Neutralitätsthese.248 Der Hinweis auf die 1990er-Jahre genüge, um nachzuweisen, dass das Völkerrecht „ne qualifie ni de valide ni d’invalide des déclarations d’indépendence en tant que telle.“ 249 Als Beispiel verweist Kosovo auf die slowakische Erklärung vom 17. Juli 1992,250 die slowenische und kroatische vom 25. Juni 1991, das mazedonische Referendum vom September 1991 244 245
Grossbritannien (Crawford), m. St., 48 ff. Grossbritannien (Crawford), m. St., 49 m. Zitat aus Aaland-Fall (Zuständigkeit),
5 f. 246
So auch Frankreich (Belliard), m. St., 16 m. H. auf Frankreich, s. St., Rz. 2.6. Grossbritannien (Crawford), m. St., 49 m. H. auf USA (Hongju Koh), m. St., 24; Finnland (Kaukoranta), m. St., 55 und Badinter-Schiedskommission, Gutachten 5 und 7 sowie USA (Hongju Koh), m. St., 29; Finnland (Kaukoranta), m. St., 55; Österreich (Tichy), m. St., 10 f.; Kroatien (Metleko-Zgombic), m. St., 60 f. 248 Bulgarien (Dimitroff), m. St., 25. 249 Kosovo (Müller), m. St., 40. 250 Kosovo (Müller), m. St., 40 m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.15. 247
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und die Resolution des bosnisch-herzegowinischen Parlaments vom 14. Oktober 1991. Obwohl diese von der SFRJ als verfassungswidrig und als Infragestellung der territorialen Integrität und der bestehenden Grenzen angesehen worden seien, hätten die europäischen Staaten einen politischen Prozess zur Anerkennung der Staaten eingeleitet. 251 Niemand sei von einer Völkerrechtswidrigkeit ausgegangen. Die Badinter-Schiedskommission habe die Frage gar nicht aufgeworfen.252 Im Falle von Bosnien und Herzegowina habe sie an der Voraussetzung des Volkswillens gezweifelt, aber weder die Legalität der Unabhängigkeit noch die Durchführung des Referendums infrage gestellt.253 Der IGH habe sich wie folgt dazu geäussert: „Peu importent alors les circonstances dans lequelles elle a accédé à l’indépendance.“ 254 Dänemark bezieht sich auf die neuere Sicherheitsratspraxis: Es sei mit Hinweis auf die S/RES/1246 (1999) zu Timor-Leste behauptet worden, dass Unabhängigkeitserklärungen nur zulässig seien, wenn sie ausdrücklich autorisiert worden seien. Dies, weil die Resolution ein Unabhängigkeitsreferendum vorsehe.255 Mit Hinweis auf die S/RES/787 (1992) zu Bosnien und Herzegowina sei behauptet worden, dass Unabhängigkeitserklärungen nur verboten seien, wenn eine spezifische Bestimmung dies vorsehe.256 Dies, weil der Sicherheitsrat durch die Resolution zum Ausdruck gebracht habe, dass er keine unilaterale Unabhängigkeitserklärung akzeptieren werde. Dänemark favorisiere die zweite „line of argument“. Für Dänemark sollte aber nur schon der Widerspruch zwischen beiden Thesen aufzeigen, dass es keine allgemein gültigen Regeln zu Unabhängigkeitserklärungen gebe.257 Es sei an denen, die behaupten würden, dass die Unabhängigkeitserklärung völkerrechtswidrig sei, ein völkerrechtliches Verbot nachzuweisen. Verbote könnten nicht vermutet werden.258 Grossbritannien orientiert sich weiter an Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut: Es gebe keinen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts, der auf ein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen hinweisen würde (lit. c). Es seien also noch die Rechtsprechung und die Lehre zu berücksichtigen (lit. d). Fragen der Staatlichkeit seien nur selten vor dem Gerichtshof ausgetragen worden. Aber in Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro) habe der Gerichtshof nicht nahegelegt, dass Unabhän251
Kosovo (Müller), m. St., 40 f. m. H. auf Kosovo, s. St., Rz. 8.27 und 8.29. Kosovo (Müller), m. St., 41 m. H. auf Gutachten 4–7. 253 Kosovo (Müller), m. St., 41 m. H. auf Gutachten 4. 254 Kosovo (Müller), m. St., 41 m. Zitat aus IGH, Application of the Genocide-Convention, Preliminary Objections (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), Rz. 19. 255 Dänemark (Winkler), m. St., 69 m. H. auf Serbien (Zimmermann), m. St., 51. 256 Dänemark (Winkler), m. St., 69 m. H. auf Kosovo (Murphy), m. St., 48. 257 Dänemark (Winkler), m. St., 69. 258 Dänemark (Winkler), m. St., 69 m. H. auf Dänemark, s. St., 3. 252
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gigkeitserklärungen völkerrechtswidrig seien, sondern er habe diese einfach als Fakten zitiert.259 Es existiere aber ein Präjudiz: das Quebec-Gutachten. Es gebe jedoch einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Präjudiz und dem hier verhandelten Fall. Die zweite Frage im Quebec-Gutachten sei gewesen, ob Quebec das Recht habe, sich unilateral von Kanada abzuspalten. Hier sei die Frage, ob die kosovarische Unabhängigkeitserklärung völkerrechtswidrig sei: „But one cannot have a right to do that what it is unlawful to do, and the Supreme Court proceedings and opinion are thus relevant here.“ 260 Sieben Völkerrechtsexperten hätten sich vor dem Obersten Gerichtshof von Kanada geäussert; keiner habe behauptet, es gebe eine solche Regel.261 Dies habe auch der Gerichtshof vertreten, obwohl er auf die Frage geantwortet habe, ob es ein Recht zur Sezession gebe.262 Der Gerichtshof habe festgehalten, dass es weder ein Recht zur noch ein Verbot der Sezession gebe. Er habe das Prinzip der territorialen Integrität hervorgehoben, jedoch gesagt, dass das Völkerrecht die Sezession missbillige, aber nicht verbiete. Er sei sich auch der Möglichkeit der Anerkennung von Quebec bewusst gewesen, falls dieses sich auch ohne Recht für unabhängig erklären sollte.263 Zur Lehre hält Grossbritannien fest, dass keines der völkerrechtlichen Standardwerke die These enthalte, dass Unabhängigkeitserklärungen völkerrechtswidrig seien und nicht rechtsgültig anerkannt werden könnten.264 Daher kommt es zum Schluss: „To conclude, there is no basis for asserting a new rule of international law prohibiting declarations of independence as such.“ 265 Danach geht Grossbritannien noch auf die Frage ein, warum das Völkerrecht kein solches Verbot kenne.266 Es gibt dafür drei Gründe an. Erstens versuche das Völkerrecht nicht, innerstaatliche Konflikte wie in der Weise von Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta zu regeln. Wie der Gerichtshof nur zu genau wisse, sei es schon schwer genug zwischenstaatliche zu regeln. 259 Grossbritannien (Crawford), m. St., 49 f. m. H. auf IGH, Application of the Genocide-Convention, Preliminary Objections (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), Rz. 14. 260 Grossbritannien (Crawford), m. St., 50. 261 Grossbritannien (Crawford), m. St., 50 m. Zitaten aus Abi-Saab, Bayefski, 72 f.; Franck, Bayefski, 79 und Crawford, Bayefski, 159 und 160 f. 262 Grossbritannien (Crawford), m. St., 51 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 112. 263 Grossbritannien (Crawford), m. St., 51 m. H. auf Quebec-Gutachten, Rz. 142. In dieser hält der Gerichtshof u. a. folgendes fest: „Secession of a province from Canada, if successful in the streets, might well lead to the creation of a new state.“ 264 Grossbritannien (Crawford), m. St., 51 m. H. auf Malcom N. Shaw, International Law, 6. Aufl., Cambridge 2008; Crawford, Principles und Zitaten aus Patrick Daillier/ Mathias Forteau/Nguyen Quoc Dinh/Alain Pellet, Droit international public, 8. Aufl., Paris 2009, 585; Zitat aus Jennings/Watts, Band 1, 717 und Malcom N. Shaw, International Law, 6. Aufl., Cambridge 2008, 218. 265 Grossbritannien (Crawford), m. St., 52. 266 Grossbritannien (Crawford), m. St., 52 f.
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Der zweite Grund sei ein formeller. Professor Shaw habe seine These, dass das Völkerrecht Unabhängigkeitserklärungen verbiete, auf die generelle Kategorie der Völkerrechtssubjekte zu stützen versucht: „Waving in the direction of international human rights law, he implied we are all subjects now.“ 267 Wie der Gerichtshof in Reparation for Injuries festgehalten habe, sage dies noch nichts über den Inhalt der Rechte und Pflichten aus.268 Es wäre sonderbar, wenn Menschengruppen der Status als Völkerrechtssubjekt gegeben würde, um ihnen zu verunmöglichen, wirklich effektive Subjekte, nämlich Staaten, zu werden. Diese Ironie reproduziere sich im Falle des Kosovo: „When Serbia actually controlled Kosovo, it eliminated its constitutional status, it went close to expelling its population: after lawfully losing control, in the aftermath of resolution 1244, it now seeks to elevate Kosovo into a subject of international law – but only in order to regain the sovereignty it so signally abused.“ 269
Der dritte Grund sei das Prinzip der territorialen Integrität. Dies sei keine Karte, die das ganze andere etablierte Völkerrecht übertrumpfe. Es sei im Rahmen solcher Dokumente wie der FRD zwischen Staaten anwendbar. Seine primäre Funktion sei, Staaten vor externen Intervention zu schützen; es bestimme weder wie der Staat konfiguriert sein sollte noch sei es eine Garantie gegen Veränderungen. Es stimme, dass bei der Annahme neuer völkerrechtlicher Rechte mit grosser Vorsicht darauf hingewiesen werde, dass damit kein Recht zur Sezession eingeführt werde.270 Die hier behandelte Frage ziele aber nicht auf eine Genehmigung. Albanien, Deutschland, Frankreich, Österreich, Norwegen, der Kosovo und die USA gehen tiefer auf diesen Punkt ein: Jochen A. Frowein äussert sich im Namen von Albanien zum Verhältnis zwischen Unabhängigkeitserklärungen und dem Prinzip der territorialen Integrität. Es werde behauptet, dass das Prinzip auch eine Garantie für die Beständigkeit des Staatsterritoriums gegenüber internen verfassungsmässigen Entwicklungen sei. Dies sei „a complete misunderstanding of the rule.“ 271 Die Staatsentstehung habe nichts mit der Missachtung der territorialen Integrität zu tun. Dies zeige die Staatenpraxis, die das Argument, dass eine Unabhängigkeitserklärung eine Verletzung der territorialen Integrität sei, nicht vertreten habe. Bloss im Falle einer Intervention eines Drittstaats könne eine Verletzung des Prinzips angenommen werden. Es sei bezeichnend, wie Serbien in der Replik mit dem Thema umgehe:
267
Grossbritannien (Crawford), m. St., 52 m. H. auf Serbien (Shaw), m. St., 66. Grossbritannien (Crawford), m. St., 52 m. H. auf IGH, Reparation for Injuries, 178 ff. 269 Grossbritannien (Crawford), m. St., 52 f. 270 Grossbritannien (Crawford), m. St., 53 m. H. auf die VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker und Serbien (Shaw), m. St., 67. 271 Albanien (Frowein), m. St., 13. 268
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„It kindly quotes a statement made by myself about the resolutions reaffirming the sovereingty and territorial integrity of Iraq. It deletes, however, the one sentence which explains the formula as being contained in Article 2, paragraph 4, prohibiting the use of force against the territorial integrity of any State. [. . .] By deleting that sentence the impression is created that the notion of territorial integrity applies also to secessionist movements. However, this is clearly not the case and I have not said so.“ 272
Auch die von Serbien zitierte S/RES/169 (1961) zum Kongo sei ein Fall von fremder Intervention.273 Dasselbe gelte auch für die A/RES/787 (1992) zu Bosnien und Herzegowina. Es sei ironisch, dass Serbien diese Resolution in der eigenen Argumentation zitiere. Die Regel der territorialen Integrität schütze gegen fremde Intervention, sei jedoch nicht auf innere verfassungsmässige Entwicklungen anwendbar. Sezessionen seien per se nicht geregelt, dies zeige die Staatenpraxis und die Lehre. Das habe Albanien mit vielen Zitaten nachgewiesen. All die von Serbien zitierten Resolutionen zur Desintegration der SFRJ zeigten, dass der Sicherheitsrat unter Kapitel VII gegen eine Gefährdung von Frieden und Sicherheit vorgehen könne, nicht dass die Sezession per se völkerrechtswidrig sei. Serbien habe natürlich Recht mit der Behauptung, dass der Sicherheitsrat in vielen Resolutionen auch nicht staatliche Akteure angesprochen habe. Dies belege aber nicht, dass Sezessionsbewegungen ohne eine solche Kapitel VII-Resolution an das Prinzip der territorialen Integration gebunden seien. Der Sicherheitsrat habe in Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärung keine solche Resolution angenommen. Dann noch ein letzter Punkt: Die Schutzklausel der FRD verweise auf die territoriale Integrität. Dies müsse aber im Kontext der ganzen Erklärung gesehen werden. Sie sei auf Handlungen von Drittstaaten gerichtet und kläre, unter welchen Umständen ein sogenanntes remediales Recht zur Sezession zur Anwendung kommen könne. Der Gebrauch des Begriffs der territorialen Integrität in der Schutzklausel weite nicht den Anwendungsbereich des Prinzips der territorialen Integrität auf Sezessionen im Generellen aus. Eine Resolution der Generalversammlung könne, wie alle wüssten, so oder so nicht eine solche Wirkung haben. Auch für Deutschland ist das Prinzip der territorialen Integrität jedes Staates wohl etabliert. In der VN-Charta sei dieses Prinzip mit demjenigen des Verbots der Androhung und Anwendung von Gewalt verwoben. Die Adressaten dieser Regel seien aber die Staaten. Das Völkerrecht begründe in diesem Bezug weder Pflichten für Individuen noch für Völker, die Träger des Selbstbestimmungs-
272 273
Albanien (Frowein), m. St., 14 m. H. auf Serbien, Replik, Fn. 489. Albanien (Frowein), m. St., 14 m. Zitaten aus S/RES/169 (1961), Ziff. 1.
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rechts seien. Deutschland verweist auf die Schutzklausel der FRD, die die Beziehungen zwischen Staaten regle: „When the [FRD] underlines the importance of the right of self-determination it reminds States of their duty to respect this right. And when the Declaration clarifies that this shall not be understood as allowing to the impairment of the territorial integrity of States, it also addresses States – and not individuals, groups of individuals, an entity within a State or peoples.“ 274
Diese These werde nicht durch den Fakt, dass in bestimmten Konfliktsituationen Sicherheitsratsresolutionen direkt nicht staatliche Akteure und zur Beachtung der territorialen Integrität verpflichten würde, infrage gestellt. Im Gegenteil, es werde gerade eine Pflicht statuiert, die andernfalls nicht bestehen würde. Es sei natürlich möglich, dass Staaten anlässlich einer Unabhängigkeitserklärung die territoriale Integrität anderer Staaten verletzen würden, beispielsweise durch Intervention. Dies sei hier jedoch nicht der Fall. Von hier geht Deutschland auf die Frage ein, ob die Unabhängigkeitserklärung gegen die S/RES/1244 (1999) verstossen habe und kommt zum Schluss, dass dem nicht so sei. Mit Verweis auf den Lotus-Fall hält Deutschland daher fest: „Since the Declaration of Independence is not forbidden by international law, it is in accordance with international law.“ 275 Für Frankreich kann aus der Tatsache, dass der Sicherheitsrat in einigen Fällen Unabhängigkeitserklärungen für unzulässig erklärt habe, nicht eine Änderung der gewohnheitsrechtlichen Regel angenommen werden, wonach das Prinzip der territorialen Integrität nur zwischen Staaten Anwendung fände. Dass Rechtsakte nicht zwingend das Gewohnheitsrecht ändern würden und dass es sogar umgekehrt sein könne, habe der Gerichtshof festgehalten.276 Eine Pflicht von nicht staatlichen Akteuren, die territoriale Integrität zu beachten, könne auch nicht daraus hergeleitet werden, dass in hier nicht relevanten Rechtsbereichen nicht staatlichen Akteuren Rechtspflichten auferlegt würden. Daraus ergebe sich nicht, dass das ganze Völkerrecht verbindlich werde. Und es gelte sicher nicht für das Prinzip der territorialen Integrität.277 Auch Österreich geht auf die These ein, dass Unabhängigkeitserklärungen gegen das Prinzip der territorialen Integrität verstossen würden. Drei Einwände würden dagegen sprechen: Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta verpflichte nur die Mitglied-
274
Deutschland (Wasum-Rainer), m. St., 27. Deutschland (Wasum-Rainer), m. St., 29 m. H. auf Lotus. 276 Frankreich (Forteau), m. St., 20 m. Zitat aus IGH, Case Concerning Ahmadou Sadio Diallo (Republic of Guinea v. Democratic Republic of the Congo), Preliminary Objections, Judgment of 24 May 2007, ICJ Reports 2007, 582, Rz. 90. 277 Frankreich (Forteau), m. St., 20 m. H. auf IGH, Corfu Channel Case, Rz. 35 und Bolivien, Replik, Rz. 26; Frankreich, s. St., Rz. 2.3 ff., Replik, Rz. 29 sowie Österreich (Tichy), m. St., 10 f. 275
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staaten der VN. Es sei behauptet worden, dass es eine erga omnes-Pflicht sei.278 Nichtsdestotrotz könne die Pflicht nur Völkerrechtssubjekte binden. Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung hätten als Volksvertreter gehandelt und daher zum Zeitpunkt der Annahme nicht ein Völkerrechtssubjekt vertreten. Viele Dokumente würden diese These stützen. Selbst in der Präambel der S/RES/1244 (1999) werde die territoriale Integrität der FRJ nur gegenüber den Staaten angeführt.279 Darüber hinaus habe das Prinzip keinen absoluten Charakter; es werde mit Hinweis auf die Schlusskate von Helsinki angeführt. Diese beinhalte jedoch mehrere, gleichberechtigte Rechte und Pflichten, u. a. den Respekt für Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Sicherheitsresolution 1272 (1999) zu Timor-Leste zeige, dass der Sicherheitsrat keinen Widerspruch zwischen der territorialen Integrität und einem Prozess, der zur Unabhängigkeit führe, sehe. Zweitens hätten auch andere Prinzipien, u. a. das Prinzip der Nichtintervention, auf die Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo angewendet werden müssen, wenn das Prinzip der territorialen Integrität Anwendung gefunden hätte. Alles andere sei selektiv und daher unzulässig. Drittens würden zahlreiche Präjudizien zeigen, dass Unabhängigkeitserklärungen per se die Pflicht zur Respektierung der territorialen Integrität nicht verletzen würden: Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina. Diese seien nur von der FRJ als völkerrechtswidrig charakterisiert worden. Die Entitäten seien einstimmig in die VN aufgenommen worden, was nicht der Fall gewesen wäre, wenn die Unabhängigkeitserklärungen illegal gewesen wären. Und die FRJ habe dies auch akzeptiert, als sie im Jahr 2001 Partei des Sukzessionsvertrags geworden sei. Norwegen hegt Zweifel an der These, dass Sicherheitsratsresolutionen nicht staatlichen Akteuren völkerrechtliche Pflichten auferlegen können.280 Staaten verfügten über eine völkerrechtliche Persönlichkeit und die Pflichten nach Art. 25 und 103 VN-Charta. Individuen könnten für Verletzungen des humanitären Völkerrechts, des Völkerstrafrechts und einigen anderen Regeln zur Verantwortung gezogen werden. Für nicht staatliche Akteure seien solche Pflichten und Verantwortlichkeiten beschränkt und klar umschrieben. Sie könnten jedenfalls nicht ohne explizite Rechtsgrundlage angenommen werden. Professor Shaw habe in der mündlichen Stellungnahme festgehalten, dass die internationale Praxis nicht staatliche Akteure klar als Völkerrechtssubjekte ansehe und dass sich die klassische völkerrechtliche Struktur verändert habe.281 278 Österreich (Tichy), m. St., 9 m. H. auf Rumänien, s. St., Rz. 80, 108; Serbien, s. St., Rz. 440 ff. und 501; Iran, s. St., Rz. 3.1 ff. 279 Österreich (Tichy), m. St., 10 m. Zitat aus S/RES/1244 (1999), Präambel. 280 Norwegen (Fife), m. St., 48 m. H. auf Norwegen, Replik, Rz. 13. 281 Norwegen (Fife), m. St., 48 m. H. auf Serbien (Shaw), m. St., Rz. 8 ff.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Die Grundlage dieser Thesen seien Resolutionen des Sicherheitsrats gewesen. In den Präambeln werde jeweils dem Bekenntnis zum Prinzip der territorialen Integrität Ausdruck verliehen. Die Abschnitte, die sich direkt an die nicht staatlichen Akteure richteten, würden entweder die Rolle der Staaten bestätigen, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die humanitäres Völkerrecht oder Völkerstrafrecht verletzen würden, oder sie würden alle Parteien eines Konflikts oder von Friedensverhandlungen dazu aufrufen, bestimmte Verträge einzuhalten.282 Die S/RES/787 (1992) würde auch von allen Parteien den Respekt der territorialen Integrität von Bosnien und Herzegowina einfordern. Dieser Hinweis sei aber deshalb aufgenommen worden, weil die Gefahr für die territoriale Integrität in diesem Fall von ausserhalb des Staates kam.283 Dies zeige auf, dass das Prinzip nach wie vor eine primär zwischenstaatliche Dimension habe. Aus all diesen Resolutionen könne daher nicht eine Änderung der völkerrechtlichen Struktur hergeleitet werden. Für den Kosovo ergibt es sich aus der Formulierung von Art. 2 Ziff. 4 VNCharta, dass sie nur Staaten Pflichten auferlegt.284 Sie sei damit nicht auf Unabhängigkeitserklärungen, die von nicht staatlichen Akteuren angenommen werden würden, anwendbar.285 Gleiches gelte für das Prinzip der Beständigkeit der Grenzen. Dieses fände nur im Falle von erzwungenen Grenzänderungen durch Drittstaaten Anwendung und könne nicht von einem Staat gegen die eigene Bevölkerung vorgebracht werden.286 Der Kosovo schreibt zu diesem Rechtsbereich: „Dans ce domaine, Monsieur le président, il apparaît que le droit des gens port bien mal son nom – si on ignore l’origine latine du terme – et ne s’impose qu’aux Etats. Il ne protège ici l’entité souveraine que contre ses pairs, l’Etat contre l’Etat.“ 287
Die von Serbien und anderen vorgebrachten Resolutionen der Generalversammlung würden den Anwendungsbereich ratione personae nicht über denjenigen von Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta ausweiten.288 Im Gegenteil, sie würden ihn be-
282 Norwegen (Fife), m. St., 49 m. H. auf die Präambeln der S/RES/1756 (2007), Abs. 2; 1771 (2007), Abs. 2; 1766 (2007), Abs. 3; 1784 (2007), Abs. 3; 1830 (2008), Abs. 2; 1846 (2008), Abs. 3 und S/RES/1846 (2008), Ziff. 14 f. sowie 1784 (2007), Ziff. 3. 283 Norwegen (Fife), m. St., 49 m. H. auf S/RES/752 (1992), Ziff. 3 und 787 (1992), Ziff. 3–5 und IGH, Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Rz. 241. 284 Kosovo (Müller), m. St., 43 m. H. auf IGH, Nicaragua, Rz. 188 ff. 285 Kosovo (Müller), m. St., 43 m. H. auf Kosovo, Replik, Rz. 4.06 ff.; Albanien, Replik, Rz. 49 ff.; Schweiz, Replik, Rz. 3 und Grossbritannien, Replik, Rz. 39 ff. 286 Kosovo (Müller), m. St., 43 m. H. auf Kosovo, Replik, Rz. 4.12. 287 Kosovo (Müller), m. St., 43. 288 Kosovo (Müller), m. St., 43 m. H. auf VN-Erklärung über die Dekolonialisierung, FRD, S/RES/1244 (1999) und Kosovo, Replik, Rz. 4.10 f.
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stätigen. Dies zeige beispielsweise die Schutzklausel der VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker.289 Diese würde weder ein Recht auf Unabhängigkeit anerkennen noch zur Unabhängigkeit ermutigen. Sie auferlege aber entgegen der falschen Behauptung von Serbien nicht staatlichen Akteuren keine Pflicht, sich solcher Handlungen zu enthalten. Sie enthalte schlichtweg kein Verbot.290 Damit bestätige sie zusammen mit anderen Resolutionen und Erklärungen der Generalversammlung die These, dass das Völkerrecht die Sezession weder genehmige noch verbiete. Es nehme von einer erfolgreichen Sezession bloss Kenntnis: „Le droit s’incline devant le fait étatique.“ 291 Die Unabhängigkeitserklärung sei wie die Sezession ein „legally neutral act“.292 Es gäbe keine generelle völkerrechtliche Regel, die die Annahme der Unabhängigkeitserklärung verbieten würde. Auch für die USA hat die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo das Prinzip der territorialen Integrität nicht verletzt. Dieses regle die zwischenstaatlichen Beziehungen, nicht das Verhalten innerstaatlicher Gruppen.293 Die von Serbien zitierten Sicherheitsratsresolutionen würden die erhobene These, dass es auch nicht staatliche Akteure binde, nicht stützen.294 Die USA würden nicht bestreiten, dass das Völkerrecht gewisse Unabhängigkeitserklärungen regle, falls diese im Zusammenhang mit illegaler Gewaltanwendung oder anderen Verletzungen zwingender völkerrechtlicher Normen, wie z. B. des Verbots der Apartheid, stünden. Aber dies sei hier nicht der Fall. Im Gegenteil, gerade weil das kosovarische Volk solch ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen erlebt habe, bekenne sich die kosovarische Unabhängigkeitserklärung mit Nachdruck zu den Menschenrechten. Zum Schluss der mündlichen Stellungnahme von Grossbritannien geht James Crawford noch auf den mannigfaltigen Gebrauch seines Standardwerks295 im Verfahren ein: Einige Regierungen hätten während dem Verfahren sein Werk zitiert, um sich widersprechende Thesen zu begründen. Deshalb zitiere er als Vertreter Grossbritanniens die folgende, für ihn relevante Stelle des Werks: „It is true that the hostility by all governments to secession in respect of their own territory has sometimes led to language implying that secession might be contrary to international law [. . .]. But this language does not imply the existence of an international law rule prohibiting secession [. . .].The position is that secession is neither 289 Kosovo (Müller), m. St., 44 m. Zitat aus VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, Art. 46. 290 Kosovo (Müller), m. St., 44 m. H. auf Albanien, Replik, Rz. 58. 291 Kosovo (Müller), m. St., 44 m. Zitat aus Pellet, Le droit international, 59 sowie Hinweis auf Finnland, s. St., Rz. 6 und Japan, s. St., 3. 292 Kosovo (Müller), m. St., 44 m. Zitat aus Crawford, Creation, 390. 293 USA (Hongju Koh), m. St., 30 m. H. auf Abi-Saab, Conclusion, 474; Shaw, Bayefski, 136 und USA, Replik, 15 ff. 294 USA (Hongju Koh), m. St., 30 m. H. auf USA, Replik, 18 ff. 295 Crawford, Creation.
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legal nor illegal in international law, but a legally neutral act the consequences of which are regulated internationally.“ 296
Und dann wieder Crawford als Vertreter Grossbritanniens: „The text goes on to emphasize that this position of legal neutrality is accompanied by deference to the territorial sovereignty and a reluctance to accept secession unless there is no other alternative.“ 297
Es sei an den Staaten durch ihre Anerkennungspraxis und an den IOs durch ihre Aufnahmepraxis, jeden Fall im Lichte seiner Umstände zu beurteilen.298 Serbien würde gerne all diese Beurteilungen ausschliessen, den Zeitpunkt der Beurteilung auf den 17. Februar beschränken und vorgeben, dass das Völkerrecht zu diesem Zeitpunkt über den Status des Kosovo entschieden habe. Dem sei nicht so. Zusätzlich zu dieser Begründungsstruktur, die von mehreren Proponenten getragen wird, bringen einzelne Proponenten noch folgende Gründe vor: Deutschland hält fest, dass mit der Begründung der These, dass es kein Verbot gebe, die Stellungnahme noch nicht zu Ende sei: „[. . .] I could end my presentation here. Allow me, nevertheless, to continue my argument and to draw your attention to one further important aspect. [. . .] We have found that international law does not contain rules prohibiting the Declaration of Independence in question. Let us now go one step further and examine whether international law positively justifies the Declaration.“ 299
Hier greift Deutschland auf das Prinzip der Effektivität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zurück. Erstens bestehe ein Staat Kosovo bereits. Die Unabhängigkeitserklärung sei ein entscheidender Schritt der Konstitution gewesen. Falls das Völkerrecht einen Staat Kosovo akzeptiere, müsse es auch die Unabhängigkeitserklärung akzeptieren. Alle drei von der traditionellen Doktrin der Staatlichkeit geforderten Voraussetzungen seien gegeben: Staatsbevölkerung, -gebiet und -regierung. Die kosovarischen Regierungsstrukturen hätten sich unabhängig von den internationalen etabliert, der Staat sei durch 63 Staaten anerkannt und Mitglied des IWF und der Weltbank. Obwohl weder Fragen der Staatlichkeit und der Anerkennung vor Gericht stünden, müsse die faktische Situation aufgrund des Prinzips der Effektivität anerkannt werden. Darüber hinaus würde auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker die Formierung eines kosovarischen Staates positiv rechtfertigen. Auch Österreich weist nach der Darlegung der „legal arguments“ noch auf die nachfolgende Entwicklung im Kosovo hin. Diese würde die These der Legalität 296 297 298 299
Grossbritannien (Crawford), m. St., 53 m. Zitat aus Crawford, Creation, 389 f. Grossbritannien (Crawford), m. St., 53. So auch Bulgarien (Dimitroff), m. St., 24 und USA (Hongju Koh), m. St., 22 ff. Deutschland (Wasum-Rainer), m. St., 29.
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der Unabhängigkeitserklärung stützen.300 Die Tatsache, dass kein VN-Organ die Unabhängigkeitserklärung verurteilt habe, sei ein Indiz ihrer Legalität.301 Weiter verweist es auf den faktischen Machtübergang von der UNMIK auf die kosovarische Regierung, die Annahme der Verfassung, die Anerkennung durch 63 Staaten, die IWF- und Weltbank-Mitgliedschaft sowie den Grenzvertrag mit Mazedonien. Und auch Saudi-Arabien weist auf den grösseren Zusammenhang der kosovarischen Sezession hin: „My Government urges the Court, in its consideration of the specific legal question before it, no to lose sight of the broader context, including political, human and economic sides.“ 302 Im Gegensatz dazu weist Dänemark den Gerichtshof darauf hin, dass der relevante Zeitpunkt der 17. Februar 2008 sei und nachfolgende Entwicklungen nicht zu berücksichtigen seien.303 Der Kosovo und Bulgarien betonen noch einmal, dass die innerstaatliche Rechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärung keine Folge für ihre völkerrechtliche Beurteilung habe.304 Für die USA muss man nicht weiter schauen als bis auf Jugoslawien, um dies zu sehen. Die Deklarationen von Slowenien und Kroatien seien von Belgrad zu Unrecht als Verletzungen des innerstaatlichen und des internationalen Rechts deklariert worden. Heute vertrete Belgrad diese Thesen nicht mehr. Es behaupte, diese seien rechtmässig gewesen, weil sie innerstaatlichem Recht entsprochen hätten – dies, obwohl Belgrad damals genau die gegenteilige Position eingenommen habe.305 Belgrad erkläre nicht, wie das Völkerrecht in dieser Frage vom innerstaatlichen Recht abhängen könne, das die internationale Gemeinschaft gar nicht sachkundig beurteilen könne. Die zweite von Serbien vorgeschlagene Ausnahme, die Einwilligung des betroffenen Staates, stehe mit der eigenen Argumentation im Widerspruch: dass die Illegalität der Unabhängigkeitserklärung nicht durch nachträgliche Entwicklungen geheilt werden könne. Albanien formuliert einen Einwand zur serbischen These, dass Veränderungen von Staatsterritorien nur mit Einverständnis der betroffenen Staaten möglich
300
Österreich (Tichy), m. St., 15 f. Österreich (Tichy), m. St., 14 m.w. H. Vgl. auch Frankreich (Belliard), m. St., 16 m. H. auf S/PRST/2008/44 vom 26. November 2008. 302 Saudi-Arabien (Alshaghrood), m. St., 34. 303 Dänemark (Winkler), m. St., 68. 304 Bulgarien (Dimitroff), m. St., 24; Kosovo (Müller), m. St., 40 m. H. auf IGH, Case Concerning Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) (United States of America v. Italy), Judgment of 20 July 1989, ICJ Reports 1989, 15, Rz. 73; StIGH, Polish Upper Silesia, 19; Art. 3 ARSIWA; Grossbritannien, s. St., Rz. 5.2 ff. und USA, s. St., 51. 305 USA (Hongju Koh), m. St., 29 f. m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 201 und Stands and Conclusions of the S.F.R.Y. Presidency Concerning the Situation in Yugoslavia, 27 June 1991, in: Trifunovska, Documents, 305. 301
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seien.306 Mit dieser Einschränkung versuche Serbien, die völkerrechtlichen Uhren zurückzudrehen: Das Zeitalter, als die Zustimmung der bestehenden Staaten die einzige Möglichkeit der Staatsentstehung war, sei abgelaufen und die dazugehörige Regel etwa 1820 aufgehoben worden. Österreich geht auf die These ein, wonach das Gutachten 9 der BadinterSchiedskommission weitere Sezessionen auf dem Territorium der ehemaligen SFRJ ausschliesse.307 Das Gutachten 9 konnte jedoch nicht die künftigen Entwicklungen voraussehen. Daher habe sie keine Bedeutung für die vorliegende Frage. Die Kommission habe sich selbst der Entwicklung angepasst: 1991 sei sie vom Bestehen und 1992 von der Dissolution der SFRJ ausgegangen. Sie habe ihre Gutachten sehr vorsichtig formuliert; das Ende der Dissolution sei nur hinsichtlich des Prozesses angenommen worden, der im Gutachten 1 angesprochen worden sei; dies schliesse nicht weitere Dissolutionen oder Sezessionen mit ein. So konnte die Kommission beispielsweise nicht die Entstehung des Staates Montenegro vorhersehen, die von keinem Staat abgelehnt wurde: „Therefore, the opinions of the Badinter Commission cannot be used as an argument that the Declaration of Independence of Kosovo was illegal.“ 308 bb) Die Ausnahme der Illegalität Wie in den ersten beiden Runden vertreten die Proponenten die These, dass die Regel der Neutralität duch die Ausnahme der Illegalität relativiert werde. Die Verurteilung einzelner Unabhängigkeitserklärungen durch den Sicherheitsrat und die internationale Gemeinschaft ergebe sich aus dem Prinzip, dass keine Situation rechtliche Anerkennung finden sollte, die durch eine schwere Verletzung einer zwingenden völkerrechtlichen Norm geschaffen worden sei.309 Die Proponenten identifizieren folgende Kategorien der Illegalität: Kosovo verweist auf Drittstaateninterventionen, Apartheid oder Rassendiskriminierung. Albanien auf die Beispiele von Südrhodesien, den Banstustans und Nordzypern, das nur vom intervenierenden Staat anerkannt worden sei. Für Bulgarien ergibt sich die Illegalität der Unabhängigkeitserklärungen, die die internationale Gemeinschaft als völkerrechtswidrig angesehen hat, entweder aus einer Drittstaatenintervention oder einer Verletzung von internationalen Menschenrechten, z. B. dem Verbot der Apartheid und der Rassendiskriminierung.310 Für Dänemark ha306 Albanien (Frowein), m. St., 15 m. H. auf Serbien, Replik, Rz. 254. Vgl. auch Bulgarien (Dimitroff), m. St., 24. 307 Österreich (Tichy), m. St., 12 m. H. auf Rumänien, s. St., Rz. 69, 127 ff. und Serbien, s. St., Rz. 265. 308 Österreich (Tichy), m. St., 12. 309 Kosovo (Müller), m. St., 41 f. m. H. auf Art. 41 Ziff. 2 ARSIWA und Kosovo, s. St., Rz. 8.18. Vgl. auch Albanien (Frowein), m. St., 12. 310 Bulgarien (Dimitroff), m. St., 24.
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ben sich der Sicherheitsrat oder die Generalversammlung negativ über Unabhängigkeitserklärungen geäussert, wenn diese Teil eines umfassenden Plans zur Verletzung grundlegender völkerrechtlicher Normen gewesen seien, so z. B. in Katanga, Südrhodesien und Nordzypern.311 Für Österreich sind Unabhängigkeitserklärungen nur völkerrechtswidrig, wenn sie in Zusammenhang mit anderen Völkerrechtsverletzungen stehen, z. B. der illegalen Anwendung von Gewalt, der Verletzung einer vertraglichen Verpflichtung (Zypern) oder rassistischer Diskriminierung (Südrhodesien).312 c) Stützung der Hauptthese durch eine neue Begründungsstruktur: Burundi Burundi geht zunächst auf die Gutachtenanfrage ein und hält fest, dass nach der Konformität der Unabhängigkeitserklärung gefragt werde.313 Es werde daher nach der Legalität gefragt, nicht danach, ob der Kosovo zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung oder der Gutachtenanfrage ein Staat war.314 Die Frage beschränke sich auf die Legalität der Unabhängigkeitserklärung, nicht des Staatsentstehungsprozesses und der Anerkennungen. Die Frage nach der völkerrechtlichen Legalität könne auf zwei Arten verstanden werden: Erstens nach der Gültigkeit eines Akts. Also, ob ein juristischer Akt in Konformität mit den Regeln der rechtlichen Ordnung angenommen wurde, in der er Rechtswirkungen zu entfalten gedenke. Zweitens nach der Verantwortlichkeit. Also nach Feststellung der Rechtswirkungen, die das Verhalten eines Rechtssubjekts, das das Völkerrecht verletzt, mit sich bringen. Burundi stellt die These auf, dass ausschliesslich nach der Verantwortlichkeit, nicht der Gültigkeit gefragt werde.315 Die Frage nach der Gültigkeit stelle sich nicht, weil die Unabhängigkeitserklärung aus völkerrechtlicher Sicht ein Fakt sei.316 Die Unabhängigkeitserklärung könne nur nach innerstaatlichem Recht ein Rechtsakt sein. Diese Frage stelle sich vor dem Gerichtshof aber nicht. Er könne bloss feststellen, dass die Unabhängigkeitserklärung nach Völkerrecht kein Rechtsakt sei. Die Idee, dass ein innerstaatlicher Rechtsakt auf völkerrechtlicher Ebene bloss ein Fakt sei, sei keine doktrinale Idee, sonden vom StIGH in Polish Upper Silesia und vom ISGH in 311
Dänemark (Winkler), m. St., 68 m. H. auf Dänemark, s. St., 4 f. Österreich (Tichy), m. St., 9 m. H. auf S/RES/541 (1983), 216 (1965), 217 (1965). 313 Burundi (D’Aspremont), m. St., 29. 314 Burundi (D’Aspremont), m. St., 30 m. H. auf Deutschland, s. St., 6 und Niederlande, s. St., Rz. 2.1. 315 Burundi (D’Aspremont), m. St., 30. 316 Burundi (D’Aspremont), m. St., 31 m. H. auf Deutschland, s. St., 27. 312
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Saiga vertreten worden.317 Für Burundi ergebe es sich klar aus der internationalen Rechtsprechung, der Staatenpraxis und der Lehre, dass die Unabhängigkeitserklärung wie ein Gesetz, ein Urteil oder ein Verwaltungsakt ein Fakt und nicht ein internationaler Rechtsakt sei. Daher sei die Frage nach der Konformität des Akts der Unabhängigkeitserklärung keine Frage nach ihrer Gültigkeit. Sie könne auf internationaler Ebene nicht gültig oder ungültig sein. Die Frage, ob sie als innerstaatlicher Rechtsakt nach innerstaatlichem Recht gültig oder ungültig sei, stelle sich nicht. Die Unabhängigkeitserklärung leite ihre Existenz in der internationalen Rechtsordnung nicht aus ihrer Gültigkeit nach den Regeln dieser Rechtsordnung ab. Obwohl sich die an den Gerichtshof gestellte Frage auf die Unabhängigkeitserklärung per se beschränke, anerkenne Burundi, dass diese Teil eines grösseren Sezessionsprozesses sei, der möglicherweise zu einem neuen Staat habe führen können. Burundi wolle daher unterstreichen, dass sich die Frage der Gültigkeit nicht bloss bei der Unabhängigkeitserklärung, sondern auch beim „processus de création de l’entité kosovare“ nicht stelle.318 Die Schaffung eines Rechtssubjekts sei auch eine rein faktische, die sich, wenn nicht jeglichem Wert-, so doch jeglichem Gültigkeitsurteil entziehe: „[. . .] la création d’un Etat en droit international n’est jamais valide ou invalide.“ 319 In dieser Frage eine Logik der Gültigkeit anzuwenden, heisse aus völkerrechtstheoretischer Perspektive, einen „kelsianischen“ Ansatz zu verfolgen. Dieser würde voraussetzen, dass dass Völkerrecht die Schaffung von völkerrechtlichen Rechtssubjekten validieren würde.320 Gemäss Burundi würde eine solche Konzeption nicht dem positiven Völkerrecht entsprechen. Das Völkerrecht regle die Schaffung eines Staates in Bezug auf die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts nicht;321 letzteres habe keine Auswirkungen auf die Gültigkeit, sondern nur auf die Verantwortlichkeit, beispielsweise bezüglich der Pflicht der Nichtanerkennung. Dies werde durch die Praxis bestätigt, wie der Fall von Südrhodesien zeige.322 Weil die Staatsentstehung nicht einer Validation unterliege, werde der Vorgang der Sezession in der Lehre als
317 Burundi (D’Aspremont), m. St., 31 m. H. auf StIGH, Polish Upper Silesia, 19 und ISGH, The M/V „Saiga“ (No. 2) Case (Saint Vincent and the Grenadines v. Guinea), Merits, Judgment of 1 July 1999, Rz. 120, in: 38 ILM 1323 (1999). 318 Burundi (D’Aspremont), m. St., 32. 319 Burundi (D’Aspremont), m. St., 32 (Hervohebungen entfernt). 320 Burundi (D’Aspremont), m. St., 32 m. H. auf Hans Kelsen, La naissance de l’Etat et la formation de sa nationalité: les principes; leur application au cas de la Tchécoslovaquie, in: Revue de droit international, Vol. 3, Nr. 4, 1929, 613 ff. und in: Charles Leben (Hrsg.), Hans Kelsen. Ecrits français de droit international, Paris 2001, 27 ff. 321 Burundi (D’Aspremont), m. St., 33 m. H. auf Jean D’Aspremont, Regulating Statehood und Giorgio Gaja, Dualism – A Review, in: Janne Nijman/André Nollkamper, New Perspectives on the Divide between National and International Law, Oxford 2007, 52 ff., 57. 322 Burundi (D’Aspremont), m. St., 33 m. H. auf S/RES/215 (1965) und 216 (1965).
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„comme de pures questions de fait“ behandelt, die sich jedem völkerrechtlichen Gültigkeitsurteil entziehen würden.323 Der Gerichtshof habe sich daher nicht über die Gültigkeit des kosovarischen Staatsentstehungsprozesses zu äussern. Die Idee, dass eine Unabhängigkeitserklärung oder die Schaffung einer Entität nicht für ungültig erklärt werden könne, werde durch den Fakt gestützt, dass eine Ungültigerklärung der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung oder der Schaffung der kosovarischen Entität keine praktischen Konsequenzen nach sich ziehen würde.324 Die Entität würde weiterhin „dans les faits“ bestehen und die Ungültigerklärung hätte keine Auswirkungen auf die interne und externe Effektivität, auf die sie sich unter Umständen stütze.325 Die Frage nach der Konformität als Frage nach der Gültigkeit aufzufassen, würde daher die Gefahr bergen, dass das Gutachten des Gerichtshofs keinerlei praktische Folgen nach sich ziehen würde. Dies könnte sich wiederum negativ auf seine gutachterliche Tätigkeit auswirken. Die Frage nach der Konformität sei damit eine Frage nach der Verantwortlichkeit. Der Gerichtshof habe sich im Streitverfahren auch schon mit der Frage befasst, ob die Annahme eines innerstaatlichen Rechtsakts durch ein Subjekt ein völkerrechtswidriger Fakt sei, der zu einer Verantwortlichkeit führe.326 In casu gehe es um die Verantwortlichkeit der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung. Der Fakt der Unabhängigkeitserklärung könne nur den PISG angerechnet werden. Es sei nicht relevant, dass der Akt durch einen demokratischen Prozess angenommen worden sei.327 Relevant sei einzig, dass er durch ein Organ der PISG angenommen worden sei. Die Unabhängigkeitserklärung sei damit ein Fakt der PISG. Gemäss Art. 4 ARSIWA könne der Akt keiner anderen Entität zugerechnet werden. Er könne nicht Drittstaaten angerechnet werden, weil sie nicht über eine ausreichende effektive Kontrolle verfügten.328 Ebensowenig sei eine Anrech-
323 Burundi (D’Aspremont), m. St., 33 m. H. auf Crawford, Creation, 390; Lauterpacht, Recognition, 8; Christakis, Effectiveness, 145; Abi-Saab, Conclusions, 474; Grossbritannien, s. St., Rz. 6.4 und USA, s. St., 50 ff. 324 Burundi (D’Aspremont), m. St., 33 m. H. auf Frankreich, s. St., Rz. 10 ff. 325 Burundi (D’Aspremont), m. St., 33 m. H. auf D’Aspremont, Regulating Statehood, 649 ff. zur Unterscheidung zwischen interner und externen Effektivität. 326 Burundi (D’Aspremont), m. St., 34 m. H. auf IGH, Questions Relating to the Obligation to Prosecute or Extradite (Belgium v. Senegal), Judgment of 20 July 2012, ICJ Reports 2012, 422; Case Concerning Pulp Mills on the River Uruguay (Argentina v. Uruguay), Judgment of 20 April 2010, ICJ Reports 2010, 14; Certain Criminal Proceedings in France (Republic of the Congo v. France), Order of 16 November 2010; Case Concerning Avena and other Mexican Nationals (Mexico v. United States of America), Judgment of 31 March 2004, ICJ Reports 2004, 12; Arrest Warrant Case. 327 Burundi (D’Aspremont), m. St., 34 f. m. H. auf Österreich, s. St., Rz. 16 ff. und Deutschland, s. St., 6. 328 Burundi (D’Aspremont), m. St., 35 m. H. auf IGH, Application of the GenocideConvention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Rz. 396 ff.
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nung über den Akt der Anerkennung möglich.329 Akte von Drittstaaten, die vor oder nach der Annahme der Unabhängigkeitserklärung vollzogen worden seien, stünden nicht zur Debatte; insbesondere stelle sich die Frage zur Pflicht der Nichtanerkennung nach Art. 41 ILC-Artikel zur Staatenverantwortlichkeit nicht.330 Die Frage nach der Verantwortlichkeit der Verfasser sei eine atypische und besonders schwere. Da der Kosovo zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung sicher kein Staat gewesen, hätten die Verfasser nicht als Staatsorgane gehandelt. Es stelle sich somit nicht eine Frage der Staatenverantwortlichkeit. Es kämen die inviduelle völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit oder diejenige als nicht staatliche Gruppe („groupement non étatique“) in Frage. Burundi schliesse die erste Möglichkeit aus und fokussiere auf die zweite.331 Der Gerichtshof sei noch nie mit der Frage nach der Verantwortlichkeit der Verfasser einer Unabhängigkeitserklärung konfrontiert gewesen. Es stelle sich die Vorfrage, ob nicht staatliche Akteure an das Völkerrecht gebunden seien.332 Eine positive Antwort würde eine völkerrechtliche Subjektivität implizieren. Für Burundi wäre eine solche These nicht eine grundlegende Neuheit, da allgemein angenommen würde, dass Staaten und IOs nicht die einzigen Völkerrechtssubjekte seien.333 Es handle sich nicht um abstrakte, sondern um alltägliche Fragen. Gerade auf dem afrikanischen Kontinent: „Selon le Burundi, le rôle des acteurs non étatiques est devenu trop important à l’époque contemporaine pour qu’on puisse se permettre de passer sous silence la question de leurs obligations internationales et celle de leur responsabilité.“ 334
Die Tatsache, dass sich die Verfasser am Gutachterverfahren beteiligen durften, sollte den Gerichtshof auch dazu bewegen, sich mit ihrer Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen.335 Danach weist Burundi den Gerichtshof auf die speziellen Umstände und insbesondere den europäischen Charakter des Falls hin. Die Glaubwürdigkeit der internationalen Gerichtsbarkeit ergebe sich aus der Fähigkeit des internationalen Richters, zwischen nicht identischen Situationen zu unterscheiden. Die Frage gehe nichtsdestoweniger über den europäischen Rahmen hinaus und betreffe das völkerrechtliche System als Ganzes. Es stelle sich die Frage, ob sich 329
Burundi (D’Aspremont), m. St., 35 m. H. auf Art. 11 ARSIWA. Burundi (D’Aspremont), m. St., 35 m. H. auf D’Aspremont, Regulating Statehood, 649 ff. und IGH, Namibia, Rz. 126. 331 Burundi (D’Aspremont), m. St., 36 m. H. auf Jean D’Aspremont, State Responsibility and Rebellion, in: International and Comparative Law Quarterly, Vol. 58, 2009, 427 ff. 332 Burundi (D’Aspremont), m. St., 37 m. H. auf Schweiz, s. St., Rz. 29. 333 Burundi (D’Aspremont), m. St., 37 m.w. H. 334 Burundi (D’Aspremont), m. St., 37. 335 Burundi (D’Aspremont), m. St., 37. 330
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aus der S/RES/1244 (1999) ein Verbot ergebe, das die Verfasser binde.336 Oder ob sich ein solches aus dem Prinzip der territorialen Integrität ergebe.337 Burundi äussere sich nicht dazu, dies hätten andere Staaten schon zur Genüge getan. Burundi möchte nur hervorheben, dass diese Fragen aus der Perspektive der Verantwortlichkeit und nicht der Gültigkeit zu behandeln seien. Zusätzlich möchte Burundi noch auf die Schwierigkeiten hinweisen, die sich aus dem ergeben würden, das einige nicht ohne semantische Ambiguität das „Recht zur Sezession“ genannt hätten. Burundi lädt den Gerichtshof ein, ein für alle Mal festzuhalten, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker in seiner externen Dimension strikte auf die Dekolonialisierung und einige ähnliche Situationen limitiert sei. Das Völkerrecht kenne kein Recht der Eigenstaatlichkeit für eine innerstaatliche Gruppe.338 Diese These werde auch durch afrikanische Staaten und die Mehrheit der Staaten der internationalen Gemeinschaft vertreten.339 Die e contrario-Auslegung der FRD entspreche nicht der Mehrheitsmeinung der Staaten.340 Nach Burundi sei es an der Zeit, den Rechtsunsicherheiten ein Ende zu bereiten. Diese würde von vielen innerstaatlichen Gruppen weltweit und insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, wo sie der Ursprung von schweren Unruhen seien, ge- und missbraucht. Die Tatsache, dass es kein solches Recht gebe, präjudiziere aber nicht die Existenz oder Inexistenz eines kosovarischen Staates. Die Absenz des Rechts habe keine Folgen für die Existenz der Entität, die sich auf dieses Recht berufe. Die gegenteilige Behauptung wäre ein Rückschritt zur Logik der Gültigkeit. Welche Rechtsfolgen könnte die Völkerrechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärung zeitigen? Der Gerichtshof könne sich auch im Gutachterverfahren zu dieser Frage äussern.341 Eine erste Folge könnte eine Reparationspflicht und die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands sein; dies könnte die Annullierung des innerstaatlichen Rechtsakts zur Folge haben.342 Dieser Fall unterscheide 336 Burundi (D’Aspremont), m. St., 38 m. H. auf Schweiz, s. St., Rz. 42 ff.; Deutschland, s. St., 37 ff.; Grossbritannien, s. St., Rz. 6.6 ff. und Österreich, s. St., Rz. 17 ff. 337 Burundi (D’Aspremont), m. St., 38 m. H. auf USA, s. St., 16 ff. 338 Burundi (D’Aspremont), m. St., 39 m. H. auf D’Aspremont, Regulating Statehood, 649 ff. 339 Burundi (D’Aspremont), m. St., 39 m. H. auf Art. 3 lit. b Gründungsakte der AU; Art. 20 ACMVR; Fatsah Ouguergouz/Djacoba Liva Tehindrazanarivelo, The question of secession in Afrika, in: Marcelo G. Kohen, Secession. An International Law Perspective, Cambridge 2006, 257 ff., 282. 340 Burundi (D’Aspremont), m. St., 39 m. H. auf Jean D’Aspremont, L’Etat non démocratique en droit international. Etude critique du droit international positif et de la pratique contemporaine, Paris 2008, 109 ff.; Kohen, Création d’Etats, 546 ff.; Franck, Democratic Governance, 59 und Gregory H. Fox, International Law and the Eintitlement to Democracy After War, in: Global Governance, Vol. 9, Nr. 2, 2003, 179 ff., 188. 341 Burundi (D’Aspremont), m. St., 40 m. H. auf IGH, Wall, Rz. 148 ff. 342 Burundi (D’Aspremont), m. St., 40 m. H. auf Art. 31 ARSIWA, der per analogiam angewendet werden könne; StIGH, Factory at Chorzów, 47; IGH, Arrest Warrant Case, Rz. 46.
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sich aber vom Arrest Warrant Case: Im Gegensatz zum Haftbefehl habe die Unabhängigkeitserklärung zum Zeitpunkt ihrer Annahme alle ihre Wirkungen gezeitigt. Der Haftbefehl habe annulliert werden müssen, weil er nach wie vor Wirkung gehabt habe. Die Unabhängigkeitserklärung habe jetzt aber keine Wirkungen mehr. Eine allfällige Verantwortlichkeit führe daher nicht zwingend zu einer Pflicht, die Unabhängigkeitserklärung zu annullieren. d) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die meisten Proponenten versuchen, den schon dargelegten Begründungsweg zu stützen. Zur Subthese 1: Norwegen reagiert auf den Einwand, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht gleichzeitig keine völkerrechtlichen Folgen zeitigen und die Vertreter des neuen Staates binden könne. Es vergleicht die Unabhängigkeitserklärung mit der berühmten und folgenschweren Ihlen-Erklärung. Der damalige norwegische Aussenminister hatte dem dänischen Vetreter 1919 versichert, dass Norwegen bei der geplanten Ausweitung der dänischen Souveränität über Grönland keine Schwierigkeiten machen werde.343 Für den StIGH musste sich Norwegen auf diese Worte behaften lassen und der Pflicht nachkommen, die dänische Souveränität über ganz Grönland nicht zu bestreiten.344 Mit diesem Vergleich versucht Norwegen, die bindende Wirkung der Unabhängigkeitserklärung dadurch zu erklären, dass sich die kosovarischen Staatsvertreter auf dieselbe berufen haben. So kann die Unabhängigkeitserklärung als passives Dokument dargestellt werden, das für sich selbst genommen keine völkerrechtlichen Folgen nach sich zieht. Diese Passivität bringt Grossbritannien durch den Vergleich mit in Wasser geschriebenen Worten oder einem einhändigen Applaus zum Ausdruck. Grossbritannien vertritt nun explizit die These, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung nicht die PISG, sondern Volksvertreter waren. Die österreichische These der ersten Runde gewinnt daher mit jeder Runde an Proponenten. Zur Subthese 2: Auch hier werden nochmals die eingebrachten Gründe vertreten. Crawford bringt sie im Namen von Grossbritannien in die epistemische Reihenfolge des Art. 38 Ziff. 1 IGH-Statut. Damit wird die Subthese 2 durch eine positivrechtliche Begründungsstruktur gestützt. Bezüglich der Staatenpraxis dienen die Ereignisse nach Ende des Kalten Krieges als Hauptanhaltspunkte. Unter dem Punkt der Rechtsprechung wird als einziges Präjudiz der Quebec-Fall angegeben. Entscheidend ist, dass der Oberste Gerichtshof von Kanada in diesem Fall die Türe für die Anerkennung einer erfolgreichen Sezession offen gelassen hat.345 Nach Verweis auf vier völkerrechtliche Standardwerke sind alle vom 343 344 345
StIGH, Eastern Greenland, 75. StIGH, Eastern Greenland, 105. Quebec-Gutachten, Rz. 142.
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IGH-Statut anerkannten Rechtsquellen abgehandelt und Grossbritannien kommt zum Schluss, dass es keine völkerrechtliche Regel gebe, die eine Unabhängigkeitserklärung per se verbieten würde. Grossbritannien fügt noch eine zweite Begründungsstruktur an, die sich an der Frage orientiert, warum es kein solches Verbot gebe. Es geht auf drei Gründe ein: Erstens versuche das Völkerrecht nicht, innerstaatliche Konflikte wie zwischenstaatliche zu regeln. Der Gerichtshof wisse, dass es nur schon schwer genug sei, letztere zu lösen. Dieser Grund öffnet den Blick für die rechtssoziologischen Motive der Position 3. Diese schränkt die völkerrechtlichen Regelungsansprüche im Vergleich zu den Positionen 2 und 3 ein. Hier scheint sie diese Einschränkung auf die beschränkten Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen der völkerrechtlichen Akteure zu stützen. Der zweite Grund reaktualisiert den schon in das Verfahren eingebrachten Einwand der Völkerrechtssubjektivität und den damit verbundenen teleologischen Widerspruch der Position 1. Der dritte Grund führt zum Prinzip der territorialen Integrität. Hierzu äussern sich acht Proponenten der Position 3. Neben der bekannten Begründungsstruktur fällt hier die Möglichkeit auf, die der mündliche Teil des Verfahrens eröffnet: Die Autoren des im Fall zitierten Schrifttums treten vor Gericht auf. Beide Autoren, Jochen A. Frowein und James Crawford, treten für die Position 3 ein. Jochen A. Frowein kann so ein Zitat richtigstellen, das Serbien in die zweite Runde eingebracht hat.346 Serbien hatte einen Satz aus dem Zitat entfernt und so den Eindruck erweckt, dass Jochen A. Frowein die These vertreten habe, dass das Prinzip der territorialen Integrität auch auf sezessionistische Bewegungen anwendbar sei. Im zitierten Abschnitt ging es um die Frage, ob sich die USA 1998 noch auf die S/RES/678 (1990) stützen konnten oder nicht. Frowein hält fest, dass die Resolution die Pflicht der Mitgliedstaaten, die territoriale Integrität des Irak zu respektieren, nochmals bestätige. Der von Serbien ausgelassene Satz liest sich wie folgt: „The Security Council, when utilising this formula [gemeint ist der terminus technicus der territorialen Integrität], cannot be unaware of the fact that Article 2 para. 4 of the Charter prohibits the use of force against the ,territorial integrity‘ of any state.“ 347 Damit stellt er die Verbindung zum Gewaltanwendungsverbot nach Art. 2 Ziff. 4 her, das zwischenstaatliche Anwendung findet. James Crawford kann sein eigenes Werk zitieren, um klarzustellen, dass er darin die Position der grundsätzlichen Neutralität vertrete, die sich aus dem Respekt der territorialen Integrität und einer ablehnenden Haltung gegenüber der Sezession auszeichne, die Möglichkeit der Sezession aber nicht ausschliesse.
346 Vgl. Serbien, Replik, Rz. 413, Fn. 489; Albanien, m. St., 14 und Frowein, Unilateral Interpretation, 108. 347 Frowein, Unilateral Interpretation, 108.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Die Position 3 wird durch die mündliche Stellungnahme von Jean D’Aspremont im Namen von Burundi erheblich ausgebaut. Es ist die einzige Stellungnahme, die sich bloss auf ein Thema beschränkt und dieses dafür ausführlich behandelt. Damit kann die Erzeugung weiterer Redundanz vermieden und ein bestimmtes Thema der Begründungsstruktur stabilisiert werden. Gerade in einem dreistufigen Verfahren mit 44 Akteuren ist dies eine überzeugende Taktik. Die Stellungnahme geht auf die für die Position 3 höchst relevante Unterscheidung zwischen Gültigkeit und Verantwortlichkeit ein. Damit wird die an den Gerichtshof gestellte Frage nach der Völkerrechtskonformität neu gerahmt: Bisher drehte sich der argumentative Dialog um die Frage, ob damit nach einem Verbot oder einer Genehmigung gefragt werde. Burundi stellt nun die Frage, ob damit die Gültigkeit des Akts oder die Verantwortlichkeit seiner Verfasser als Rechtsfolge angesprochen wird. In einem ersten Schritt stabilisiert Burundi die Begründung der These, dass die Unabhängigkeitserklärung ein blosser Fakt sei. Es vergleicht sie mit anderen innerstaatlichen Rechtsakten. Danach weitet Burundi die These auf den ganzen Prozess der Staatsentstehung aus. Die „kelsianische“ Perspektive wird mit Hinweis auf das positive Völkerrecht abgelehnt. Letzteres regle bloss die Rechtsfolgen. Die angegebene Sicherheitsratsresolution zu Südrhodesien 216 (1965) stützt die These: Sie verurteilt die Unabhängigkeitserklärung und verpflichtet die Staaten, diese nicht anzuerkennen – sie regelt also die Rechtsfolgen der Unabhängigkeitserklärung. Die S/RES/217 (1965) verurteilt die Usurpation der Macht durch die rassistischen Kolonialisten und „regards the declaration of independence by it as having no legal validity [. . .].“ 348 Diese Resolution rahmt die völkerrechtliche Reaktion auf die Unabhängigkeitserklärung entgegen der These als Frage der Gültigkeit. Als drittes stützt sich Burundi auf das Schrifttum, das die Position 3 schon seit der ersten Runde stabilisiert. Burundi stützt sich weiter auf eine Begründung, die Frankreich in der ersten Runde eingebracht hat, um den Gerichtshof davon zu überzeugen, von seinem Ermessen Gebrauch zu machen und die Gutachtenanfrage nicht zu beantworten. Demnach würde die Ungültigerklärung der Unabhängigkeitserklärung keine praktischen Folgen haben, weil die Entität faktisch bestehen bleibe. Dies ist eine hypothetische Einschätzung, die mich nicht überzeugt. Es kann sehr wohl davon ausgegangen werden, dass sich ein negatives Gutachten des Gerichtshofs auf die interne und externe Effektivität der Entität ausgewirkt hätte. Interessanterweise rechnet Burundi die Annahme der Unabhängigkeitserklärung den PISG zu. Es begründet dies mit der Anrechnung von Handlungen an Organe nach Art. 4 ARSIWA. Da die Verfasser nicht als Staatsorgane handelten, 348 S/RES/217 (1965), Ziff. 3. Wobei darauf hinzuweisen ist, dass Burundi nicht auf die S/RES/217, sondern auf die S/RES/215 (1965) verweist.
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komme nur die Anrechnung als Organ einer nicht staatlichen Gruppe infrage. Hier wird das Interesse, das Burundi am Gutachterverfahren haben könnte, evident: Fragen der völkerrechtlichen Pflichten und Verantwortlichkeiten nicht staatlicher Akteure zu regeln. Burundi sieht die Anerkennung ihrer Subjektivität für nicht aussergewöhnlich an und verweist darauf, dass die Verfasser ja auch am Verfahren teilnehmen durften. Die von den anderen Akteuren behandelten Fragen nach dem Prinzip der territorialen Integrität lässt Burundi beiseite. Es weist darauf hin, dass die Frage aber aus der Perspektive der Verantwortlichkeit behandelt werden müsse. Schliesslich fügt es noch an, dass die externe Dimension des Selbstbestimmungsrechts auf die Dekolonialisierung beschränkt sei und die e contrario-Auslegung der Schutzklausel der FRD nicht von der Mehrheit der Staaten getragen werde. Burundi weist auf die schwerwiegenden Folgen der entsprechenden Rechtsunsicherheiten für den afrikanischen Kontinent hin und fügt diese Einwände gegen die Position 2 in seine Perspektive der Verantwortlichkeit ein. 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 3 a) Einwände zur These der Faktizität Aserbaidschan geht auf die Thesen ein, dass das Völkerrecht Unabhängigkeitserklärungen per se nicht regle und die Staatsentstehung ein faktueller Vorgang sei. Unabhängigkeitserklärungen seien die ausdrückliche Absicht, einen Staat durch unilaterale Beendigung des existierenden Rechtsregimes und nicht konsensuale Sezession von einem souveränen Staat zu schaffen: „Should the Court find it justified addressing the [Declaration of Independence] not as an isolated act but in a comprehensive manner, then we would expect thorough examination of its various aspects and their legality.“ 349 b) Einwände zur Neutralitäts-These Die meisten Proponenten gehen auf die von der Position 3 vertretene Neutralitäts-These ein.350 Auch hier werden Gründe vertreten, die schon in das Verfahren eingebracht worden sind: Erstens, dass Serbien wegen der Interimsverwaltung des Kosovo nicht die Möglichkeit habe, sich durch rechtmässige Mittel gegen die Sezession zu wehren.351 Zweitens vertritt Spanien wieder die These, dass der Akt der Sezession aufgrund der Konsequenzen, die er zeitige, vom Völkerrecht geregelt sei: Für Spa349 350 351
Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 18. Serbien (Kohen), m. St., 85 ff. Serbien (Kohen), m. St., 86 m. H. auf Grossbritannien, Replik, Rz. 44.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
nien ist das Völkerrecht ein System, das sich nicht nur aus Normen, sondern auch aus Prinzipien zusammensetzt.352 Diese müssten in systematischer und kontextueller Weise angewendet werden. Daher könne aus einer rechtlichen Perspektive nicht akzeptiert werden, dass das Völkerrecht gegenüber einem Akt neutral bleibe, der auf der internationalen Ebene schwerwiegende Konsequenzen zeitige. Die Unabhängigkeitserklärung sei nicht in einem Vakuum, sondern im Kontext eines durch den Sicherheitsrat etablierten internationalen Regimes angenommen worden.353 Die Unabhängigkeitserklärung widerspreche der Souveränität und der territorialen Integrität Serbiens. Zum Schluss: „Bref, face à la politique des faits nous appelons la raison du droit.“ 354 Drittens bestätigt Aserbaidschan durch seine Begründung den epistemischen Status folgender Thesen: Das Völkerrecht sei gegenüber Sezessionen nicht neutral, wenn Sezessionen mit Verletzungen von zwingendem Völkerrecht einhergingen, z. B. den Verboten der Androhung oder Anwendung von Gewalt, rassistischen Diskriminierungen oder Apartheid. Auch wenn es eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts sei oder wenn die Sezession von aussen kontrolliert werde oder durch ausländische Hilfe zustande komme, greife das Völkerrecht ein. Darüber hinausgehend vertritt Aserbaidschan die Position 1, die im Widerspruch zur Position 3 steht: Es sei auch gegenüber nicht konsensualen Sezessionsversuchen nicht neutral, die das innterstaatliche Recht verletzen würden, weil die territoriale Integrität durch das Völkerrecht garantiert werde und die Regierung das Recht habe, jeglichem Versuch mit legitimen Mitteln entgegenzutreten.355 Für Aserbaidschan ist die Frage der Staatsentstehung eine der Legitimität. Eine Entität, die sich durch Verletzung des innerstaatlichen und internationalen Rechts etabliert habe, sei kein Staat. Unter Einbezug des Prinzips der Effektivität sei behauptet worden, dass de facto-Situationen zu de iure-Situationen führen würden. Dem sei jedoch nicht so: „International law, if it is to mean anything, means that faits accomplis do not have to be simly accepted. Might is not right. [. . .] Law is more important than force.“ 356 Dies zeige die internationale Praxis.357 Serbien geht auf die Staatsentstehungen seit 1945 ein: Die Neutralitäts-These würde der heutigen Realität nicht mehr gerecht werden.358 Das Völkerrecht sei 352
Spanien (Escobar Hernández), m. St., 21 f. Spanien (Escobar Hernández), m. St., 22. 354 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 22. 355 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 18 f. Vgl. auch China (Xue), m. St., 34. 356 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 19. 357 Aserbaidschan (Mehdiyev), m. St., 19 m. Zitaten aus: Generalsekretär U Thant, Pressekonferenz vom 4. Januar 1970, in: UN Monthly Chronicle, Vol. VII, Nr. 2, New York 1970, 36 und Crawford, Creation, 390. 358 Serbien (Kohen), m. St., 86 m. H. auf Independent International Fact-Finding Mission on the Conflict in Georgia (IIFFMCG-CEIIG), Report, Vol. 1, September 2009, 136 f. (http://www.ceiig.ch/Report.html). 353
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gegenüber Staatsentstehungen im Dekolonialisierungsprozess nicht neutral gewesen, es habe ihnen ein Recht dazu gegeben: „Tout les nouveaux Etats créés après 1945 sont nés de manière conforme au droit international, soit par le processus de décolonisation, soit par des résolutions de l’Assemblée générale, soit par la dissolution de l’Etat prédécesseur, soit – en cas de séparation – par le consentement de l’Etat parent.“ 359
Das Völkerrecht sei auch gegenüber Entitäten, die die Voraussetzungen der Staatlichkeit erfüllt hätten, nicht neutral geblieben, wenn sie diese auf völkerrechtswidrige Art erlangt hätten.360 Demgegenüber seien die Unabhängigkeitserklärungen von Guinea-Bissau und der Kapverden als zulässig angesehen worden.361 Der Lotus-Ansatz habe hier keinen Platz:362 „Certes, le droit sans les faits ne peut pas créer les Etats, mais les faits sans le droit non plus.“ 363 Rumänien hält fest, dass sich die innerstaatliche Illegalität auf die völkerrechtliche auswirke: Es verweist bezüglich der Neutralitäts-These auf die schriftliche Stellungnahme von Grossbritannien.364 Rumänien hält mit Zitat aus dem Quebec-Gutachten fest, dass das Völkerrecht den Entscheid des Verfassungsgebers, die Sezession für illegal zu erklären, akzeptiere und diese daher nur dann dem Völkerrecht entspreche, wenn sie eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker sei.365 Es bestehe daher nicht eine Vermutung der völkerrechtlichen Zulässigkeit, sondern eine der Unzulässigkeit. Diese könne nur umgestossen werden, wenn die Sezession aufgrund des innerstaatlichen Rechts oder des Selbstbestimmungsrechts zulässig sei. c) Einwand zur These der Konsolidierung der Staatlichkeit Mit Serbien, Argentinien, Weissrussland, China und Spanien gehen fünf Proponenten auf die These Grossbritanniens ein, dass die nachfolgenden Ereignisse die allfällige Illegalität der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung geheilt hätten.366 359 Serbien (Kohen), m. St., 86. Vgl. auch Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 49 m. H. auf Grossbritannien, s. St., Rz. 0.15. 360 Serbien (Kohen), m. St., 86 f. m. H. auf Katanga, Südrhodesien, Nordzypern und die Bantustans. 361 Serbien (Kohen), m. St., 87 m. H. auf Serbien, Replik, Rz. 206 ff. 362 Serbien (Kohen), m. St., 87 m. H. auf Serbien, s. St., Rz. 1017 ff. 363 Serbien (Kohen), m. St., 87. 364 Rumänien (Aurescu), m. St., 26 m. H. auf Grossbritannien, s. St., Rz. 5.12 ff. 365 Rumänien (Aurescu), m. St., 27 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 112. 366 Serbien (Shaw), m. St., 73 ff. m. H. auf Grossbritannien, s. St., Rz. 0.15 („[. . .] that developments since 17 February 2008 have crystallized Kosovo independence and cured any deficiency that might initially have existed.“) und Replik, Rz. 46 lit. c („[. . .] developments since that point have crystallized Kosovo’s independence, resolving any doubts as to the position and curing any deficiency that may have existed.“).
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Serbien erhebt den Einwand, dass das kritische Datum für die Analyse der rechtlichen Konformität der 17. Februar 2008 sei: „That date therefore constitutes a critical date upon which the rights and obligations of the relevant parties crystallized.“ 367 Die nachfolgenden Ereignisse könnten nichts an der Legalität und daher an der Frage danach ändern. Zweitens stützt sich Serbien auf den Topos ex iniuria ius non oritur.368 Handlungen von Drittparteien könnten nicht zur Legalität des Illegalen beitragen. Die Anerkennungen, die bloss von einem Drittel aller Staaten ausgesprochen worden seien, könnten sich daher nicht auf die Legalität der Sezession auswirken: „The creation of a new State is a mix of effectiveness and legality.“ Die Anerkennungen hätten keine solche Wirkung und die an den Gerichtshof gestellte Frage schliesse die Berücksichtigung der Anerkennungen aus. Drittens könne eine illegale Staatsentstehung nicht zur Staatlichkeit führen. Serbien vertritt die These, dass selbst bei Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung (quod non) der Kosovo die Voraussetzungen der Staatlichkeit nicht erfüllen würde. Erstens würde die etablierte Präsenz von IOs, die viele Regierungsaufgaben übernehmen würden, dazu führen, dass die Voraussetzung der effektiven Herrschaftsausübung nicht erfüllt sei.369 Zweitens würden es die Rollen des SRSG und der UNMIK dem Kosovo verunmöglichen, die Voraussetzung der Fähigkeit, internationale Beziehungen zu pflegen, zu erfüllen.370 Drittens verunmögliche die illegale Emergenz des Kosovo, ihn als völkerrechtlich anerkannten Staat anzusehen.371 Serbien weist darauf hin, dass alle internationalen Organe auch nach der Unabhängigkeitserklärung explizit im Rahmen der S/RES/ 1244 (1999) operieren würden. Schliesslich geht Serbien noch auf die These der Irreversabilität der kosovarischen Unabhängigkeit ein.372 Die Realität könne nicht mehr verändert werden, aber welche Realität? Die von den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung vorgesehene Anerkennungswelle sei ausgeblieben.373 Die erreichte Effektivität bliebe hinter anderen Fällen von illegitimer Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zurück. Die einzige legitime Autorität, die internationale, sei nach wie vor 367
Serbien (Shaw), m. St., 73 m. H. auf Serbien , s. St., Rz. 986 ff. und 1033 ff. sowie Replik, Rz. 501 ff. Ähnlich auch: Weissrussland (Gritsenko), m. St., 32 und China (Xue), m. St., 36. 368 Serbien (Shaw), m. St., 73 m. H. auf IGH, Wall, Gesonderte Stellungnahme von Richter Elaraby, Rz. 3.1 und Case Concerning the Gabcˇícovo-Nagymaros Project (Hungary v. Slovakia), Judgment of 25 September 1997, ICJ Reports 1997, 7, Rz. 133 und Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 142 und 155. 369 Serbien (Shaw), m. St., 74 m.w. H. 370 Serbien (Shaw), m. St., 75 m.w. H. 371 Serbien (Shaw), m. St., 75. 372 Serbien (Kohen), m. St., 87 ff. 373 Serbien (Kohen), m. St., 87 m.w. H.
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auf dem Territorium: „Les moyens pour rétablir pleinement la légalité sont simples et à portée de main.“ 374 Das Argument sei ein offensichtlicher Versuch, „d’imposer un fait accompli.“ 375 Aber als illegaler Akt könne die Unabhängigkeitserklärung keine Wirkungen zeitigen.376 Auch für Argentinien widerspricht die These des „fait accompli“ anderen Situationen, in denen territoriale Zustände länger angehalten hätten und nachträgliche verändert worden seien, so in Namibia, in Hongkong und in Timor-Leste; darüber hinaus stärke es eine Machtpolitik, die keine rechtliche Grundlage habe und die es verdienen würde, von dem Völkerrecht verurteilt zu werden, das sie in Anspruch nehme.377 Für Argentinien widerspricht die Unabhängigkeitserklärung dem sich aus der friedlichen Streitbeilegung ergebenden Verbot der unilateralen Massnahmen und der Pflicht der Weiterverhandlung.378 Auch die Entwicklungen seit der Unabhängigkeitserklärung würden daran nichts ändern, da weder Serbien die Unabhängigkeit anerkannt noch der Sicherheitsrat die Resolution 1244 (1999) angepasst habe. Spanien geht insbesondere auf das Schweigen der VN-Organe nach der Annahme der Unabhängigkeitserklärung ein.379 Dieses könne nicht als Annahme derselben verstanden werden.380 Eine solche Duldung (Acquiescence) könne nur innerhalb konkreter Rechtsbeziehungen zwischen Parteien, deren Interessen kontradiktorisch seien, angenommen werden. Dies sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. Das Schweigen könne sich nicht auf die Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung auswirken. Es bringe bloss zum Ausdruck, dass zwischen den Sicherheitsratsmitgliedern kein Konsens bestehe. Es würde auch den Verfahrensregeln widersprechen, die die Annahme von Entscheidungen im Sicherheitsrat regelten. Eine Nicht-Entscheidung könne nicht mit einer Entscheidung gleichgesetzt werden. Insbesondere nicht, weil nur eine neue Entscheidung eine vorher getroffene modifizieren könne.381 Der Sicherheitsrat habe den Ahtisaari-Plan nicht angenommen; dies sei auch vom Generalsekretär bestätigt worden.382 Es müsse also von der Pflicht zur Weiterverhandlung ausgegangen werden. Auch das Schweigen des Generalsekretärs, des SRSG und der UNMIK sowie die Veränderungen, die sich in den Aktivitäten der VN vor Ort ergeben haben, könnten nicht als Duldung verstanden werden. Die Unabhängigkeitserklärung sei weder 374
Serbien (Kohen), m. St., 87. Serbien (Kohen), m. St., 87. 376 Serbien (Kohen), m. St., 87 f. m. Zitat aus Lauterpacht, Recognition, 421. 377 Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 49. 378 Argentinien (Ruiz Cerutti), m. St., 46 ff. 379 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 19 ff. 380 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 19 m. H. auf Spanien, s. St., Rz. 9 ff. 381 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 20 m. Zitaten aus IGH, Namibia, Rz. 69 und Abweichende Stellungnahme von Richter Fitzmaurice, Rz. 29. 382 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 20 m. H. auf S/2008/354, Ziff. 3. 375
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
als nichtig noch als gültig deklariert worden. Auch sei nicht gesagt worden, dass der Statusprozess zu Ende sei. Dies werde durch den Generalsekretär bestätigt, der wiederholt auf die Tatsache hingewiesen habe, dass die S/RES/1244 (1999) in Kraft bleibe bis der Sicherheitsrat etwas anderes entschieden habe und wiederholt auf die Neutralität der VN-Präsenz im Kosovo hingewiesen habe.383 d) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Proponenten gehen vor allem auf die These der Neutralität ein. Hierzu erheben sie vier Einwände: Serbien übernimmt den von Zypern in die zweite Runde eingebrachten Einwand, dass es Serbien nicht möglich sei, sich mit rechtmässigen Mitteln gegen die Sezession zu wehren. Wie bereits dargelegt, weist dieser Einwand auf mögliche negative Auswirkungen für die Einrichtung von ITA hin. Spanien wiederholt den Einwand, dass sich eine völkerrechtliche Beurteilung aus der Verbindung zwischen Akt und Folgen ergebe. Bis jetzt haben die anderen Akteure nicht darauf reagiert. Die Positionen 1 und 3 decken sich bei den Fragen der Illegalität in bestimmten qualifizierten Fällen. Aserbaidschan versucht, auch den Fall der innerstaatlichen Rechtswidrigkeit darunter zu subsumieren. Es stützt sich auf die Tatsache, dass das Völkerrecht die territoriale Integrität schütze und dass der Staat alle rechtmässigen Mittel ergreifen dürfe, um dem Anspruch entgegenzutreten. Diese beiden Stützen werden von der Position 3 nicht infrage gestellt. Es ist aber nicht ersichtlich, warum sie eine These stützen sollen, die über sie hinausgeht. Ein wichtiger Topos der Einwände ist die Gegenüberstellung von Macht und Recht (law/force, might/right, de facto/de iure). Dieser wird dem Effektivitätsprinzip entgegengehalten, das als rechtliches Prinzip festhält, dass die Effektivität Rechtsfolgen zeitigen kann. Dieser Einwand führt zur entscheidenden Frage, die sich zwischen den Positionen 1 und 3 stellt: Kann und soll das Völkerrecht den Vorgang der Staatsentstehung generell validieren oder soll es sich darauf beschränken, aus Fakten Rechtsfolgen abzuleiten und nur ausnahmsweise dadurch einzugreifen, dass es gewissen Fakten keine Rechtsfolgen zuspricht? Interessanterweise hat die These Grossbritanniens, dass sich die Legalität aus den nachfolgenden Entwicklungen ergeben könne, viel Widerspruch ausgelöst. Insgesamt wurden sechs Einwände formuliert. Serbien weist wieder darauf hin, dass sich die rechtliche Analyse auf den 17. Februar 2008 beschränken müsse. Zweitens wird der klassische Einwand gegen Effektivitätsthesen erhoben, der Topos ex iniuria ius non oritur. Drittens geht Serbien den Weg über die Kriterien der 383 Spanien (Escobar Hernández), m. St., 21 m. H. auf Grossbritannien, s. St., Rz. 83 f.
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Staatlichkeit: Es weist damit auf nachfolgende Entwicklungen hin, die gegen eine Konsolidierung sprechen. Somit wird nicht mehr die Begründungsstruktur an sich angegriffen, sondern sie wird übernommen, um durch Hervorhebung anderer Fakten zum gegenteiligen Schluss zu kommen. So verfährt auch Argentinien, das auf die ausgebliebene Anerkennung durch Serbien und die ausgebliebene Modifikation der S/RES/1244 (1999) durch den Sicherheitsrat hinweist. Gleiches gilt für die These der Irreversibilität; auch hier wird auf Fakten verwiesen, die für eine Reversibilität sprechen. Spanien geht erstmals auf die Frage ein, ob das Verhalten der VN-Organe als Duldung (acquiescence) angesehen werden könne.384 Das Rechtsinstitut der Duldung erlaubt, aus einem Ausbleiben einer zu erwartenden Reaktion auf ein Einverständnis zu schliessen. Spanien bringt gegen einen solchen Schluss drei Einwände ein: Das Rechtsinstitut beschränke sich auf kontradiktorische und konkrete Rechtsbeziehungen, es widerspreche den Verfahrensregeln des Sicherheitsrats und eine Resolution könne nur durch eine neue Resolution modifiziert werden. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Indem Serbien auf die Staatsentstehungen seit 1945 eingeht und festhält, dass die Neutralitäts-These der heutigen Realität nicht mehr gerecht werde, reaktualisiert es die Perspektive des Wandels und konnotiert ihn wieder positiv. Damit knüpft es an die Perspektive an, die es in der ganzen dritten Runde eingenommen hat. cc) Intervenierende Beurteilung Rumänien stützt sich auf das Quebec-Gutachten, um festzustellen, dass sich ein völkerrechtliches Verbot der Sezession aus einem innerstaatlichen herleiten lasse. Der Gerichtshof hat in Rz. 112 Folgendes festgehalten: „Where, as here, unilateral secession would be incompatible with the domestic Constitution, international law is likely to accept that conclusion subject to the right of peoples to self-determination [. . .].“ Stützt dieser Auszug die rumänische These? Er könnte auch so verstanden werden, dass das Völkerrecht die Entscheidung des innerstaatlichen Rechts nur umstosse, wenn sich dies aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ergebe. Sonst akzeptiere es sie. Das heisst aber nicht, dass es sie übernimmt. Der Absatz behandelt eher die Frage nach den Auswirkungen des Völkerrechts auf den innerstaatlichen Entscheid, nicht umgekehrt.385
384 In diese Richtung: Österreich, s. St., Rz. 41 f. und m. St., 14 f. Vgl. auch Hafner/ Kalb, 263. 385 Vgl. auch Grossbritannien, s. St., Rz. 5.2: „As a general matter, the domestic legality or illegality of an act does not determine whether it is in accordance with international law or is capable of producing effects under international law. International law is a
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
3. Die Proponenten der Position 2 als Proponenten der Position 3 a) Zusammenfassende Reformulierung Die Unabhängigkeitserklärung sei „a political pronouncement that is not regulated in international law.“ 386 Die Voraussetzungen der Staatlichkeit müssten erfüllt werden, bevor sie das Völkerrecht beurteilen würde. Die Unabhängigkeitserklärung sei daher eine politische Erklärung, die das Völkerrecht nicht regle. Diejenigen, die ihre Völkerrechtswidrigkeit behaupteten, müssten nachweisen können, dass die Vertreter des kosovarischen Volkes Völkerrechtssubjekte seien, die dieses Recht verletzen könnten. Dies würde aber ihre Anerkennung als Vertreter des kosovarischen Staates implizieren. Das Völkerrecht sehe die Staatsentstehung als Fakt an und lege bloss die Voraussetzungen der Staatlichkeit fest. Falls diese erfüllt seien, würde die Entität als Staat angesehen. Ein solcher Vorgang sei nur illegal, wenn er ius cogens verletze, insbesondere durch die Anwendung von Gewalt oder der Verletzung der Verbote der Apartheid und der Rassendiskriminierung. Auch wenn die Unabhängigkeitserklärung als Sezessionsakt angesehen werde, ändere dies nichts, weil auch die Sezession ein faktischer Vorgang sei, dem das Völkerrecht neutral gegenübertrete. Das Völkerrecht würde vor der Sezession regeln, ob ein Volk auf einem Staatsterritorium das Selbstbestimmungsrecht extern ausübern dürfe. Falls es aber einmal zur Sezession gekommen sei, würde das Völkerrecht bloss die Voraussetzungen der Staatlichkeit überprüfen. Obwohl diese Frage nicht vor Gericht sei, hält Jordanien zum Schluss fest, dass der Kosovo diese Voraussetzungen erfülle und ein Staat sei.387 Russland weist darauf hin, dass einige Staaten die These vertreten hätten, dass das Völkerrecht Unabhängigkeitserklärungen nicht regle oder nicht verbiete,388 andere Staaten hingegen die These, dass Unabhängigkeitserklärungen für völkerrechtswidrig erklärt werden könnten.389 Eine Fallanalyse lasse keinen anderen Schluss zu: Eine Unabhängigkeitserklärung sei als widerrechtlich eingestuft worden, wenn der zugrunde liegende Anspruch auf Staatlichkeit widerrechtlich gedistinct legal order with its own criteria of legality and validity and its own autonomous standards for determining the legal effects of conduct of public authorities.“ 386 Jordanien (Al Hussein), m. St., 38. 387 Jordanien (Al Hussein), m. St., 39. 388 Russland (Gevorgian), m. St., 41 m. H. auf Kosovo (Müller), m. St., 38; Albanien (Frowein), m. St., 12; Deutschland (Wasum-Rainer), m. St., 27 ff.; Österreich (Tichy), m. St., 9; Bulgarien (Dimitroff), m. St., 23 f. und Kroatien (Metelko-Zgombic´), m. St., 65. 389 Russland (Gevorgian), m. St., 41 m. H. auf Dänemark (Winkler), m. St., 68; Albanien (Frowein), m. St., 12 f.; Österreich (Tichy), m. St., 9 und Bulgarien (Dimitroff), m. St., 24 und S/RES/541 (1983) zu Zypern, 216 (1965) und 217 (1965) zu Südrhodesien.
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wesen sei. So z. B. in Nordzypern und Südrhodesien. Wo die Schaffung eines Staates völkerrechtskonform gewesen sei, galt dies auch für die dazugehörige Unabhängigkeitserklärung. So beispielsweise im Falle der ehemaligen Republiken der UdSSR und der SFRJ. b) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Jordanien fügt seiner Begründung der Position 2 noch die der Position 3 an. Damit verfolgt es die gleiche Strategie wie Deutschland, Irland und die Schweiz, die sich stets auf beide Begründungsstrukturen gestützt haben. Russland lehnt die Position 3 mit den gleichen Einwänden ab wie die Proponenten der Position 1. 4. Erhebung des Argumentationsstandes Den Proponenten der Position 3 gelingt in der dritten Runde zweierlei: Die Anzahl der Proponenten zu erhöhen und die Begründungsstruktur substantiell auszubauen. Die Subthese 1 wird durch Norwegen und die Reaktualisierung der Ihlen-Erklärung ausgebaut. Die österreichische These zu den Verfassern wird von mehreren Proponenten übernommen. Die Subthese 2 wird durch eine lehrbuchmässige positivrechtliche Abhandlung gestützt. Diese wird durch die Frage ausgebaut, warum es kein Verbot der Sezession gebe. Darüber hinaus hat die Position 3 Autoren von höchst relevanten Standardwerken zum Thema in ihren Reihen.390 Und schliesslich erhält die Position durch die mündliche Stellungnahme von Jean D’Aspremont im Namen von Burundi einen substantiellen Ausbau bezüglich der für sie zentralen Unterscheidung zwischen völkerrechtlicher Gültigkeit und Verantwortlichkeit. Aber es werden auch neue Einwände eingebracht: Serbien könne sich aufgrund der ITA nicht mit rechtmässigen Mitteln gegen die Sezession wehren und die Position 3 führe zu einer Schwächung des Rechts gegenüber nackter Machtausübung. Mehrere Einwände hat die These Grossbritanniens zur Konsolidierung der kosovarischen Staatlichkeit erhoben. Hier ist insbesondere der spanische Einwand hervorzuheben, der besagt, dass aus dem Schweigen der VN-Organe nicht auf eine Duldung geschlossen werden könne. Der rumänische Einwand, der durch Stützung auf das Quebec-Gutachten die völkerrechtliche Illegalität aus der innerstaatlichen herleiten hat wollen, wird in der intervenierenden Beurteilung entkräftet. Insgesamt geht die Position 3 aus der dritten Runde gestärkt hervor. Sie hat Proponenten und substantielle neue Gründe erhalten, die die Hauptthese stützen. Die Einwände betreffen nicht derart zentrale Übergänge der Begründungsstruktur wie beispielsweise bei der Position 1. 390 Dies haben zwar auch die anderen Positionen, hier können sie aber gleich in zwei Fällen fehlerhafte Zitierungen richtigstellen.
§ 11 Die Sezession als abnormale Situation I. Schriftliche Stellungnahme 1. Hauptthese der Position 4: „the essential basis of these rules, that is to say, territorial integrity, is lacking“ Åland ist der Name einer mit weitgehender Autonomie ausgestatteten Inselgruppe Finnlands in der nördlichen Ostsee.Die Inseln wurden 1809 von Schweden zusammen mit Finnland an Russland abgetreten. Aufgrund ihrer strategisch wichtigen Lage wurden sie von Russland militärisch aufgerüstet. Im Krimkrieg (1853 bis 1856) wurden sie von französischen und britischen Truppen eingenommen und im darauffolgenden Friedensvertrag (Pariser Friedensvertrag von 1856) wurde ihre Demilitarisierung beschlossen. Nach der bolschewistischen Revolution von 1917 erklärte sich Finnland auf der Grundlage des von den bolschewistischen Führern zugestandenen Selbstbestimmungsrechts der Völker für unabhängig. Die mehrheitlich schwedischen Bewohner der baltischen Inseln (ca. 90%) wollten daraufhin das gleiche Recht für sich selbst in Anspruch nehmen. Aufgrund der strategischen Bedeutung und der klaren Mehrheit der schwedischen Minderheit war die Lage sehr angespannt. Grossbritannien hatte den Fall deshalb an den damals neu gegründeten Völkerbund überwiesen. Es stellten sich die Fragen, ob der Völkerbund nach Art. 15 Abs. 8 der Völkerbundsatzung kompetent sei, sich mit der Frage zu befassen und ob die Bewohner der Åland-Inseln über ihren Verbleib im soeben gegründeten finnischen Staat oder die Inkorporation in das schwedische Königreich abstimmen durften oder nicht.1 Der Völkerbund setzte deshalb eine Juristenkommission, bestehend aus den Professoren Larnaude, Struycken und Huber, ein. Diese hielt u. a. fest, dass transitorische Situationen der Staatlichkeit nicht mit den üblichen positiven völkerrechtlichen Normen beurteilt werden könnten, weil „the essential basis of these rules, that is to say, territorial sovereignty, is lacking [. . .].“ 2 Hier setzt die Position 4 an: Die Sezession ist eine abnormale Situation, die sich durch das Wegfallen der Anhaltspunkte auszeichnet, die in einer normalen Situation Orientierung bieten. Daher kann sich eine rechtliche Beurteilung nicht 1 Aaland-Fall (Zuständigkeit), 3. Art. 15 Abs. 8 der Völkerbundsatzung: Macht eine Partei geltend und erkennt der Rat an, dass sich der Streit auf eine Frage bezieht, die nach internationalem Recht zur ausschliesslichen Zuständigkeit dieser Partei gehört, so hat der Rat dies in einem Bericht festzustellen, ohne eine Lösung vorzuschlagen. 2 Aaland-Fall (Zuständigkeit), 6.
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an den Anhaltspunkten der normalen Situation orientieren, sondern muss auf den Einzelfall eingehen und die unterschiedlichen erhobenen Hoheitsansprüche gegeneinander abwägen. Die Position wird von einem einzigen Proponenten in das Verfahren eingebracht: Finnland. 2. Begründung der Hauptthese Mit einer Unabhängigkeitserklärung wird für Finnland der Anspruch der Souveränitätsausübung auf einem bestimmten Gebiet erhoben. Souveränität bedeute im zwischenstaatlichen Verhältnis Unabhängigkeit, und diese bedeute in Bezug auf einen Teil der Erde die Funktionen eines Staates unter Ausschluss aller anderen Staaten ausüben zu können.3 Souveränität (und damit auch Staatlichkeit) setze einerseits einen „animus“ und einen „corpus“ voraus, also die Absicht und den Willen, als Souverän zu handeln, und andererseits die Ausübung oder Zurschaustellung dieser Absicht.4 Das Vorhandensein eines „animus“ und eines „corpus“ sei eine „question of fact“.5 Die Unabhängigkeitserklärung müsse demnach in den „factual circumstances“ untersucht werden, in der sie angenommen wurde. Die entscheidende Frage sei: „Does the Assembly of Kosovo validly express the will to exercise sovereignty and does it represent the people of the territory?“ 6 Das wichtigste Rechtsprinzip, das seit 1945 in Zusammenhang mit Staatsentstehungen angeführt worden sei, sei das Selbstbestimmungsrecht der Völker.7 Der IGH habe in East Timor in Rz. 29 festgehalten, dass es eine erga omnesWirkung habe, sich also an alle Staaten richte. Das Selbstbestimmungsrecht könne unterschiedlich ausgeübt werden, u. a. durch Etablierung von unabhängiger Staatlichkeit (externe Ausübung). Der übliche und weit praktizierte Ausübungsmodus sei die Etablierung eines Minderheiten- oder Autonomieregimes innerhalb eines Staates. Dass das Selbstbestimmungsrecht die territoriale Integrität nicht berühren sollte, sei durch die Schutzklausel der FRD festgehalten und durch das Gutachten 2 der Badinter-Schiedskommission bestätigt worden. Obwohl dieser Nexus zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der territorialen Integrität bestehender Staaten stark sei, „it is not and has never been absolute.“ 8 Namibia und Timor-Leste seien Fälle, in denen eine Unabhängigkeit aufgrund fortwährender Unterdrückung und Verunmöglichung der internen Ausübung die
3 4 5 6 7 8
Finnland, s. St., Rz. Finnland, s. St., Rz. Finnland, s. St., Rz. Finnland, s. St., Rz. Finnland, s. St., Rz. Finnland, s. St., Rz.
3 m. Zitat aus Island of Palmas-Fall, UNRIAA, Vol. II, 838. 4 m. Zitat aus StIGH, Eastern Greenland, 46. 4 m. Zitat aus Badinter-Schiedskommission, Gutachten 1. 4. 5 m. H. auf Art. 1 Ziff. 2, 55, 73 76 lit. b VN-Charta. 6.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
einzige mögliche Form der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gewesen seien. Dass die territoriale Integrität unter aussergewöhnlichen Umständen ausser Kraft gesetzt werden könne, sei schon durch den frühen locus classicus, den Aaland-Fall, bestätigt worden. Falls in Situationen von Krieg oder Revolutionen die etablierten Grenzen bestehender Staaten infrage gestellt würden, könne das Selbstbestimmungsrecht als Kriterium der Festlegung künftiger Grenzen relevant werden.9 Es werde behauptet, dass die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts im Dekolonialisierungsprozess ein Spezialfall war und dass nach Abschluss dieses Prozesses die Möglichkeit der Staatsentstehung durch Ausübung des Selbstbestimmungsrechts nicht mehr bestehe. Eine solche Behauptung sei falsch, weil sie eine willkürliche Grenze zwischen den Entitäten, die eine Selbstbestimmung anstreben, und den faktischen Umständen ziehen würde und weil sie „the rationale of the principle itself“ missverstehe. Letzteres zeige sich im Aaland-Fall, in der Schutzklausel der FRD und im Quebec-Gutachten, das festhalte, dass ein Volk ein Recht zur Sezession besitzen könne, falls jegliche substantielle Ausübung des Selbstbestimmungsrechts innerhalb des Staates verunmöglicht werde.10 All diese Fälle würden auf eine Unterscheidung zwischen normalen und abnormalen Situationen („rupture, situations of revolution, war, alien subjogation or the absence of meaningful prospect for a functioning internal self-determination regime“) hinführen.11 Diese Abnormalität ergebe sich im Aaland-Fall durch den ersten Weltkrieg und Revolutionen, in den 1950er- und 1960er-Jahren durch den „Kolonialismus“ und in Jugoslawien durch den Krieg der 1990er-Jahre. Würde man sich in solchen Situationen auf das Prinzip der Stabilität und Finalität der Grenzen oder das uti possidetis iuris-Prinzip stützen, würde man das Pferd beim Schwanz aufzäumen, weil es keine oder wenig Stabilität zu beschützen gebe: „Instead, the very question „who possesses“ or „which boundary“ has become part of the controversy and cannot therefore be used as a criterion for resolving it.“ 12 In einer solch abnormalen Situation habe sich der Kosovo in der Dissolution der SFRJ befunden. Fünf Aspekte des faktuellen Hintergrunds der Unabhängigkeitserklärung würden die Charakterisierung als abnormal rechtfertigen: der gewaltsame Zusammenbruch der SFRJ, die unilateralen Veränderungen des verfassungsrechtlichen Status des Kosovo, die Verfolgung der Kosovo-Albaner von 1989 bis 1999, die internationale Anerkennung der speziellen Situation und das Versagen der serbischen Autoritäten, einen glaubwürdigen Rahmen für eine
9
Finnland, s. St., Rz. 7 m. Zitat aus Aaland-Fall (Zuständigkeit), 6. Finnland, s. St., Rz. 8 m. Zitat aus Quebec-Gutachten, Rz. 154. 11 Finnland, s. St., Rz. 9. 12 Finnland, s. St., Rz. 9. 10
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interne Selbstbestimmung bereitzustellen.13 Vor diesem speziellen Hintergrund müssten die Rechtswirkungen der Unabhängigkeitserklärung bestimmt werden. Die Kosovaren hätten sich genau in der im Aaland-Fall umschriebenen Situation befunden, wonach der Staat unwillens oder unfähig sei, die nötigen Garantien für die Minderheit bereitzustellen; in dieser Situation könne es ein Recht zur Sezession geben.14 Um die Rechtswirkung der Etablierung eines unabhängigen Staates entfalten zu können, muss nachgewiesen werden, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung den Willen des Volkes des Territoriums vertreten und eine gewisse Kontrolle über das Territorium ausüben.15 Das Gewohnheitsrecht sage nicht viel zu diesem Aspekt, halte aber fest, dass die Staatsgründung ein Territorium, eine Bevölkerung und eine effektive Regierung voraussetze.16 Ob diese breiten Voraussetzungen gegeben seien, sei in territorialen Konflikten oft umstritten. Entscheidend sei somit die Einzelfallabwägung. Finnland hält daher das folgende Diktum des Island of Palmas-Falls nach wie vor für anwendbar: „In a situation where both sides are able to make some prima facie plausible claim, the decision, as observed by Max Huber ,would have to be found on the relative strength of the titles invoked by each party.‘“ 17
Die Herrschaftsausübung der internationalen Verwaltung könne sich der alte Souverän, die FRJ, nicht anrechnen lassen, um die Herrschaft wieder zurückzugewinnen, weil die internationale Verwaltung errichtet werden musste, um die Bevölkerung vor der Herrschaftsausübung der FRJ zu schützen. Dies ergebe sich aus dem Grundsatz ex iniuria ius non oritur. Für den Kosovo-Fall kommt Finnland zum Schluss, dass die Kosovo-Versammlung klar den stärksten Anspruch bezüglich demokratischer Vertretung des kosovarischen Volkes erheben könne.18 Deshalb sei sie völkerrechtskonform. Schliesslich fügt Finnland noch eine generellere Bemerkung an: „Bearing in mind what has been said above about the abnormal nature of the situation, and the rationale of the self-determination principle, there seems little doubt that if IL were to ignore or bypass the DoI, it would not serve one of the principal functions it has – to provide for stable and lasting solutions for territorial disputes that are based on respect for fundamental human rights and freedoms.“ 19
13 14 15 16 17 18 19
Finnland, s. St., Rz. 10. Finnland, s. St., Rz. 11 f. m. Zitat aus Aaland-Fall, 28. Finnland, s. St., Rz. 13. Finnland, s. St., Rz. 13 m. Zitat aus Island of Palmas-Fall, UNRIAA, Vol. II, 839. Finnland, s. St., Rz. 14 m. Zitat aus Island of Palmas-Fall, UNRIAA, Vol. II, 869. Finnland, s. St., Rz. 18. Finnland, s. St., Rz. 18.
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3. Analytischer Kommentar a) Vertiefung der sachlichen Dimension Die Position 4 setzt beim Begriff der Souveränität und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker an. Wie die Position 2 geht sie von der grundsätzlichen internen und ausnahmsweisen externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts aus. Im Gegensatz zu den anderen Positionen wird aber nicht zwischen einer Ausübung innerhalb und ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts, sondern zwischen normalen und abnormalen Situationen unterschieden. Für den Fall der Ausübung in einer abnormalen Situation bedarf es einer Einzelfallabwägung zwischen den verschiedenen Ansprüchen. Hier ist das Selbstbestimmungsrecht insofern ausschlaggebend, als dass sich die Stärke des Anspruchs nach seiner demokratischen Legitimation bemisst. Die Position setzt mit einer Mischung aus Effektivität und Selbstbestimmungsrecht ein: Der Begriff der Souveränität wird in einen „animus“ und einen „corpus“ aufgefächert. Die Übergänge werden durch Reaktualisierung zweier grundlegender Fälle der Zwischenkriegszeit vollzogen: Erstens der Island of PalmasFall, in dem der einzige Schiedsrichter Max Huber die Frage zu entscheiden hatte, ob die kleine Insel im Pazifik zum Territorium der USA (Philippinen) oder der Niederlande (Ost-Indien) gehöre. Bevor Max Huber auf die Argumente der beiden Streitparteien eingeging, hatte er „some general remarks on sovereignty in its relation to territory“ 20 formuliert: „Sovereignty in relation to territory is in the present award called ,territorial sovereignty‘. Sovereignty in the relations between States signifies independence. Independence in regard to a portion of the globe is the right to exercise therein, to the exclusion of any other State, the functions of a State. The development of the national organisation of States during the last few centuries and, as a corollary, the development of international law, have established this principle of the exclusive competence of the State in regard to its own territory in such a way as to make it the point of departure in settling most questions that concern international relations.“ 21
Die Auffächerung findet sich im StIGH-Urteil Eastern Greenland: „[. . .] it may be well to state that a claim to sovereignty based not upon some particular act or title such as a treaty of cession but merely upon continued display of authority, involves two elements each of which must be shown to exist: the intention and will to act as sovereign, and some actual exercise or display of such authority. Another circumstance which must be taken into account by any tribunal which has to adjudicate upon a claim to sovereignty over a particular territory, is the extent to which the sovereignty is also claimed by some other Power.“ 22
20 21 22
Island of Palmas-Fall, UNRIAA, Vol. II, 838. Island of Palmas-Fall, UNRIAA, Vol. II, 838. StIGH, Eastern Greenland, 46 (Hervorhebung hinzugefügt).
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Wie die Proponenten der Position 3 weist Finnland darauf hin, dass das Vorliegen des Willens und der Ausübung eine „question of fact“ sei. Der Übergang wird durch Verweis auf das Gutachten 1 gestützt. Diese Begründungsstruktur entlang der faktischen und effektiven Herrschaftsausübung ergänzt die Position 4 durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das als wichtigstes Rechtsprinzip zur Beurteilung von Staatsentstehungsprozessen nach 1945 angesehen wird. Dies wird durch Hinweis auf die VN-Charta und East Timor gestützt. Die Position 4 formuliert die Möglichkeit einer internen und einer externen Ausübung. Die FRD und das Gutachten 2 werden herangezogen, um festzuhalten, dass die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts die territoriale Integrität grundsätzlich unangetastet lassen sollte. Wie die Proponenten der Position 2 postuliert die Position 4 die Möglichkeit der externen Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, falls die interne verunmöglicht werde. Der Übergang wird durch Hinweise auf Namibia, Timor-Leste, das Quebec-Gutachten, insbesondere aber durch den Aaland-Fall, vollzogen. In der Reaktualisierung des Aaland-Falls und seiner zentralen Stellung in der Begründung liegt der entscheidende Unterschied zu den Begründungsstrukturen der Positionen 2 und 3: Die Position 4 sieht das Prinzip der territorialen Integrität nicht als Regel, die durch die Ausnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker ausser Kraft gesetzt werde und auch nicht als irrelevant, weil es ratione personae nicht anwendbar sei, sondern, weil es keine Grenzen mehr zu schützen gebe. Daher rührt die untergeordnete Bedeutung des Prinzips der territorialen Integrität und die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Durch Reaktualisierung des Kriteriums der „abnormalen Situation“ kann die Position 4 den Dualismus zwischen Dekolonialisierungskontext und Nicht-Dekolonialisierungskontext aufheben und durch abnormale bzw. normale Situationen ersetzen. Die Kolonialisierung wird nicht mehr als Spezialfall theoretisiert, auf den die Staatsentstehung durch Ausübung des Selbstbestimmungsrechts beschränkt werden kann, sondern als eine abnormale Situation unter anderen. Dies ermöglicht die externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts über die epistemische Kategorie der Dekolonialisierung hinausgehend in allen abnormalen Situationen. Die Unterscheidung zwischen normalen und abnormalen Situationen führt die Position 4 durch eine Reaktualisierung des Aaland-Falls in das Verfahren ein. Die Kommission hält zunächst folgendes fest: „Positive International Law does not recognise the right of national groups, as such, to separate themeselves from the State of which they form a part by the simple expression of a wish [. . .]. A dispute between two States concerning such a question, under normal conditions therefore, bears upon a question which International Law leaves entirely to the domestic jurisdiction of one of the States concerned.“ 23 23 Aaland-Fall (Zuständigkeit), 5 (Hervorhebung hinzugefügt). Man beachte, dass die Kommission folgenden Fall explizit von der Begutachtung ausschliesst: „The Commis-
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Diese Feststellung wird jedoch auf normale Situationen beschränkt: „From the point of view of both domestic and international law, the formation, transformation and dismemberment of States as a result of revolutions and wars create situations of fact which, to a large extent, cannot be met by the application of the normal rules of positive law.“ 24
Das positive Recht könne keine Anwendung finden, weil „the essential basis of these rules, that is to say, territorial sovereignty, is lacking [. . .].“ 25 Oliver Diggelmann beschreibt den von der Kommission gewählten Ansatz wie folgt: „The Commission did not indulge in a long positivist search for a rule limiting the domain of ,domestic jurisdiction‘ and ,sovereignty rights‘ of Finland, but analysed instead the social reality to which these terms refer. It concluded that the differences between situations of definitively constituted states and states in transformation or dissolution cannot be ignored by international law. [. . .] It thereby contributed to a diminuition of the deviations of the legal order and its social basis.“ 26
Die Abnormalität des Kosovo-Falls ergibt sich für Finnland aus den Umständen, welche die Proponenten der Positionen 2 und 3 teils angeführt haben, um den sui generis-Charakter zu begründen.27 Von hier geht Finnland zurück zur entscheidenden Frage nach dem „animus“ und dessen demokratischer Legitimation. In Beantwortung der Frage, ob sich der „animus“ als effektive Herrschaftsausübung manifestiert, weist Finnland wieder darauf hin, dass dies in territorialen Konflikten genau umstritten sei. Das Gegebensein der Voraussetzungen der Staatlichkeit ist genau in den Momenten fraglich, in denen sich die Frage nach ihnen stellt. Diese tautologische Feststellung führt Finnland zur These, dass eine Einzelfallabwägung zwischen den erhobenen Ansprüchen entscheiend sei. Diesen Übergang sichert es durch die Reaktualisierung des Island of Palmas-Falls: „If a dispute arises as to the sovereignty over a portion of territory, it is customary to examine which of the States claiming sovereignty possesses a title – cession con-
sion [. . .] does not give an opinion concerning the question as to whether a manifest and continued abuse of sovereign power, to the detriment of a section of the population of a State, would [. . .] give to an international dispute, arising therefrom, such a character that its object should be considered as one which is not confined to the domestic jurisdiction of the State concerned [. . .].“ 24 Aaland-Fall (Zuständigkeit), 6. 25 Aaland-Fall (Zuständigkeit), 6. 26 Diggelmann, 139. Vgl. auch Oliver Diggelmann, Anfänge der Völkerrechtssoziologie. Die Völkerrechtskonzeptionen von Max Huber und Georges Scelle im Vergleich, Zürich 2000, 144 ff. 27 Finnland rückt den Begriff der abnormalen Situation auch in die Nähe der sui generis-These. Vgl. z. B. s. St., Rz. 17: „As pointed out above, the special – indeed abnormal – character of the Kosovo situation [. . .].“
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quest, occupation, etc. – superior to that which the other State might possibly bring forward against it.“ 28
Falls es nicht möglich sei, das Vorliegen eines gültigen Hoheitstitels festzustellen, so käme es auf die relative Stärke der erhobenen Ansprüche an: „In this case no Party would have established its claims to sovereignty over the Island and the decision of the Arbitrator would have to be founded on the relative strength of the titles invoked by each Party.“ 29
Es kommt also darauf an, wer den stärksten Anspruch erheben kann. Die Stärke des Anspruchs bemisst Finnland in Einklang mit dem Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach der demokratischen Legitimität. Durch Reaktualisierung des juristischen Topos ex iniuria ius non oritur schliesst Finnland die Anrechnung der internationalen Verwaltung an die effektive Herrschaftsausübung durch Serbien aus. Mit diesen beiden Gründen kann die Position 4 zum Schluss kommen, dass der Anspruch der Kosovo-Versammlung allen anderen vorgehe. Zum Schluss begründet Finnland die gewählte Begründungsstruktur mit Hinweis auf eine zentrale Funktion des Völkerrechts: Dafür zu sorgen, dass territoriale Konflikte durch stabile Lösungen gelöst werden, die auf dem Respekt der grundlegenden Menschenrechte und -freiheiten gründen. Diese funktionale Ausrichtung der vorgeschlagenen Lösung auf den internationalen Frieden und die Stabilität erinnert auch wieder an den Aaland-Fall und die Völkerrechtstheorie von Max Huber.30 Die Position 4 bietet drei Fälle aus der Zwischenkriegszeit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Orientierungspunkte an. Die drei Fälle werden herangezogen, um die Thesen der abnormalen Situation und der Abwägung zwischen verschiedenen Souveränitätsansprüchen zu begründen. Die abnormale Situation zeichnet sich dadurch aus, dass die territoriale Integrität und bestehende Grenzen infrage gestellt sind und daher ihre orientierende Funktion eingebüsst haben. Da diese Orientierungspunkte im Konflikt nicht mehr bestehen, kann sich auch eine rechtliche Beurteilung nicht auf diese berufen. Hier wiederspricht die Position 4 den Positionen 1 und 2. Sie plädiert für eine Berücksichtigung des Einzelfalls, des Prinzips der Effektivität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, um eine Lösung zu finden, die eine stabile Orientierung an der territorialen Souveränität wieder ermöglicht. 28
Island of Palmas-Fall, UNRIAA, Vol. 2, 839. Island of Palmas-Fall, UNRIAA, Vol. 2, 869. 30 Aaland-Fall (Zuständigkeit), 6: „Under such circumstances, a solution in the nature of a compromise, based on an extensive grant of liberty to minorities, may appear necessary according to international legal conception and may even be dictated by the interest of peace.“ Und Diggelmann, 143: „In both the report and in Huber’s theory, the legal quality of a rule seems to depend on its relevance for international stability.“ 29
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
b) Vertiefung der subjektiven Dimension Die Position 4 orientiert sich stark an zwei Schiedsgerichtsentscheiden, an denen Max Huber massgeblich beteiligt war.31 Diese werden nicht bloss aus Gewohnheit zitiert,32 sondern sie stützen die entscheidenden Übergänge der Begründungsstruktur. Dies wirkt sich auf die rechtliche Behandlung der Sezession aus: Die Sezession ist eine Situation, in der die territoriale Souveränität vor Ort infrage gestellt ist. Daher stützt sich die Begründung auch nicht auf das Prinzip der territorialen Integrität, das ein Bestandteil der territorialen Souveränität ist. In der eingenommenen Perspektive rückt der konfliktuelle Aspekt der Sezession in den Fokus. Das Bestehen der territorialen Souveränität wird nicht mehr einfach positiv angenommen, sondern in den Bereich der normalen Situation verlegt. Die Sezession zeichnet sich als abnormale Situation durch das Nichtbestehen klarer territorialer Souveränitätsverhältnisse aus. Dies wird nun erstmals auch in der rechtlichen Beurteilung der Sezession berücksichtigt. Diese zeichnet sich nicht weniger durch die Abwägung verschiedener Rechtsgüter, sondern vielmehr durch die Berücksichtigung des Einzelfalls aus. Den Umständen des Einzelfalls kommt so grösseres Gewicht zu. Die Position kann als Mahnung verstanden werden, sich in der rechtlichen Beurteilung nicht an Orientierungspunkten zu orientieren, die ihre orientierende Funktion im Sezessionskonflikt schon eingebüsst haben.
II. Replik Die vierte Position ist nicht Gegenstand der zweiten Runde. Der Proponent Finnland hat sich nicht eingebracht und die anderen Akteure haben sich nicht dazu geäussert.
III. Mündliche Stellungnahme Finnland hat sich in den mündlichen Teil des Verfahrens eingebracht, die eigene Position begründet und Einwände gegen die Position 1 erhoben. Von den Proponenten der Position 1 hat sich insbesondere Venezuela mit der finnischen Begründungsstruktur auseinandergesetzt.
31 Vgl. für den Einfluss von Max Huber auf den Aaland-Fall: Diggelmann, 138 ff. Und für den Island of Palmas-Fall: Daniel-Erasmus Khan, Max Huber as Arbitrator: The Palmas (Miangas) Case and Other Arbitrations, in: EJIL, Vol. 18, Nr. 1, 145 ff., 158 ff. Huber hat als Präsident des StIGH auch den Lotus-Fall durch Stichentscheid entschieden (StIGH, Lotus, 32). Vgl. dazu: Ole Spiermann, Judge Huber at the Permanent Court of International Justice, in: EJIL, Vol. 18, Nr. 1, 2007, 115 ff., 129 ff. 32 Vgl. dazu Kahn, 161, Fn. 79.
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1. Begründung der Position 4 a) Berücksichtigung des historischen Kontexts der Unabhängigkeitserklärung Für Finnland ist die Unabhängigkeitserklärung „a political act with a certain history.“ 33 Nichtsdestotrotz sei das Entstehen der Staatlichkeit „a question of fact.“ 34 Das Recht müsse die Geschichte, die zur Schaffung eines neuen Staates geführt habe, anerkennen. Die Ereignisse von der Aufhebung der kosovarischen Autonomie 1989 zum inoffiziellen Unabhängigkeitsreferendum von 1991 bis zu den ethnischen Säuberungen von 1999 könnten nicht anders gelesen werden als eine völlige Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft der jugoslawischen Regierung, den Kosovo-Albanern die völkerrechtlich garantierte interne Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen. Viele Staaten hätten den Gerichtshof daran erinnert, dass das Recht dem Prinzip der territorialen Integrität grösste Wichtigkeit beimesse. Für diesen Fall sei es aber nicht determinierend. In Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali) habe der Gerichtshof festgehalten, dass das uti possidetis iuris-Prinzip dazu diene, Bruderkriege („fratricidal struggles“) zu verhindern.35 In Jugoslawien seien diese bereits in den Jahren 1991 bis 1992 ausgebrochen; sie hätten den Kosovo in den Jahren 1998 bis 1999 erreicht. Die begangenen Verbrechen seien vom ICTY in Prosecutor v. Milutinovic´ festgehalten worden.36 Die territoriale Ordnung sei im Kosovo aufgrund der Handlungen der FRJ und von Serbien zusammengebrochen. Unter diesen Umständen sei es nötig gewesen, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die Gemeinschaften im Kosovo in Frieden und Gerechtigkeit leben konnten. Die Kriege in Jugoslawien waren auch die Jahre des Falls der Berliner Mauer und der Emergenz eines neuen Konsensus in Europa und der Welt bezüglich des Schutzes der Menschenrechte und der Gewährung grundlegender Freiheiten. Vor diesem Hintergrund könnten die Fakten, die zur Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 geführt hätten, nur als eines gelesen werden: die Entstehung des Staates Kosovo.37 b) Zur Faktizität der Staatsentstehung Es sei ein gut etabliertes Staats- und völkerrechtliches Prinzip des 20. Jahrhunderts, dass sich Staatlichkeit aus Fakten ergebe. Daher hätten Anerkennungen 33
Finnland (Kaukoranta), m. St., 52. Finnland (Kaukoranta), m. St., 52 m. Zitat aus Badinter-Schiedskommission, Gutachten 1. 35 Finnland (Kaukoranta), m. St., 52 m. H. auf IGH, Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), Rz. 20. 36 Finnland (Kaukoranta), m. St., 52 m. H. auf ICTY, Prosecutor v. Milutinovic ´ et al., Rz. 1172. 37 Finnland (Kaukoranta), m. St., 53. 34
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
rein deklaratorische Wirkungen.38 Es gebe auch keinen Unterschied zwischen dem Mutterstaat und anderen: „Statehood is not a gift that is mercifully given by others; it emerges from the new entity itself, its will and power to exist as a State.“ 39 Das Gegenteil würde die Geburt eines Staates zur Ermessensfrage für andere Staaten machen. Jedoch würde kein Staat akzeptieren, dass seine Staatlichkeit ein Geschenk der anderen sei, aufgrund der Einhaltung bestimmter Regeln gegeben. Für jeden Staat sei die eigene Staatlichkeit sui generis. c) Notwendigkeit der Berücksichtigung des Einzelfalls Die erste These Finnlands ist, dass es keine mechanisch anwendbaren Regeln zur Erlangung der Staatlichkeit gebe.40 Die Opponenten würden behaupten, dass das Recht in konsistenter und umfassender Weise angewendet werden müsse und dass die Berücksichtigung der Eigenheiten des Kosovo-Falls zu einer Verschiebung von Recht zu Politik führe; dies sei willkürlich und bringe Frieden und Stabilität in Gefahr. Obwohl dieser Einwand oberflächlich betrachtet attraktiv scheint, stütze er sich auf das, was er zu verneinen versuche: „The argument about the special nature of Kosovo’s process to independence does not at all deny the need of consistency or stability but is based on those concerns.“ 41 Eine nachhaltige Lösung müsse die Geschichte der balkanischen Völker berücksichtigen. Serbien und andere hätten versucht, eine Untersuchung dieser Geschichte zu verhindern, indem sie das Bild vermittelt hätten, dass es eine mechanisch anwendbare Regel gebe, die den Fall löse – das Prinzip der territorialen Integrität. Die Montevideo-Konvention und die Prinzipien der territorialen Integrität und der Selbstbestimmung hätten aber einen generellen Charakter: „They cannot be mechanically applied but must be weighed against each other for their relevance to the facts of this case.“ 42 Es gebe Fakten, die durch die mechanische Anwendung gewisser Regeln bewertet werden könnten und Fakten, bei denen das nicht möglich sei: Es gebe einen Unterschied zwischen dem Verteilen von Parkbussen und der Würdigung einer Unabhängigkeitserklärung. Im ersten Fall würden die Eigenheiten keine Rolle spielen, es gehe um „everyday cases that repeat themselves in the millions.“ Bei Unabhängigkeiten gebe es keine Routine. Ein Geschichtsbuch komme 38 Finnland (Kaukoranta), m. St., 54 m. H. auf Badinter-Schiedskommission, Gutachten 1. 39 Finnland (Kaukoranta), m. St., 54 m. Zitat aus Raymond Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de l’Etat spécialement d’après des données fournies par le droit constitutionnel français, 2 Bände, Paris 1920–1922, Band II, 490. 40 Finnland (Kaukoranta), m. St., 53. 41 Finnland (Kaukoranta), m. St., 53. 42 Finnland (Kaukoranta), m. St., 54 m. Zitat aus Serbien, Replik, Rz. 44.
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auf etwas mehr als hundert Fälle, die alle geschichtlich, politisch und faktisch unterschiedlich seien.43 Hier seien die Eigenheiten nicht irrelevant, sie stünden im Zentrum der Staatlichkeit. „A State is a State because it is special, not because it has come about by some procedural routine or some mechanical criterion.“ 44 Die Opponenten würden die Entscheidung bezüglich der Staatlichkeit wie das Verteilen von Parkbussen beurteilen. Dies zeige sich beispielsweise an der Frage nach den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung: Für die Opponenten sei das die PISG. Erstens wurde sie von den Vertretern des kosovarischen Volkes als pouvoir constituant angenommen. Zweitens würde die Sicht der Opponenten implizieren, dass es eine Regel gebe, die festlege, welche Institutionen sich für unabhängig erklären dürften und welche nicht. Die Unabhängigkeit von Finnland sei im Dezember 1917 von einem Parlament angenommen worden, das ein Organ eines autonomen Teils des russischen Reichs war. Aus russischer Sicht war das klar ultra vires. Dies stand der Unabhängigkeit aber nicht im Weg, wie die darauffolgenden Anerkennungen zeigten. Das gleiche gelte für Slowenien und Kroatien. Unabhängigkeitserklärungen seien innerstaatlich meist rechtswidrig; für das Völkerrecht seien es politische Fakten: „[. . .] international law does intervene later, to assess the fact by reference to overriding concerns of peace and stability, on the principles of territorial integrity, human rights and self-determination.“ 45 d) Analytischer Kommentar aa) Vertiefung der sachlichen Dimension Finnland vertritt die gleiche Begründungsstruktur wie in der ersten Runde, legt die Schwerpunkte aber anders. Die Rechtsprechung der 1920er- und 30er-Jahre rückt in den Hintergrund. Dafür werden folgende drei Themen ausführlicher besprochen: Der historische Kontext der 1990er-Jahre, die Faktizität der Staatsentstehung und das Verhältnis zwischen den Fakten und dem Völkerrecht in der rechtlichen Beurteilung der Sezession. Finnland vertieft in sachlicher Hinsicht die Begründung zum uti possidetis iuris-Prinzip. Die Vertiefung bezieht sich auf die Rz. 20 des Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali), die folgendes festgehalten hat: „[. . .] it should be noted that the principle of uti possidetis seems to have been first invoked and applied in Spanish America, inasmuch as this was the continent which first witnessed the phenomenon of decolonization involving the formation of a number of sovereign States on territory formerly belonging to a single metropolitan State.
43 44 45
Finnland (Kaukoranta), m. St., 55 m. H. auf Armitage, 20. Finnland (Kaukoranta), m. St., 55. Finnland (Kaukoranta), m. St., 55.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Nevertheless the principle is not a special rule which pertains solely to one specific system of international law. It is a general principle, which is logically connected with the phenomenon of the obtaining of independence, wherever it occurs. Its obvious purpose is to prevent the independence and stability of new States being endangered by fratricidal struggles provoked by challenging of frontiers following the withdrawal of the administering power.“
Diese Randziffer stützt einerseits die These der Anwendung des Prinzips auf alle Staatsentstehungsprozesse und andererseits die von Finnland in das Verfahren eingebrachte Teleologie desselben. Der Sinn und Zweck des Prinzips – die Verhinderung von Bruderkriegen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit46 – kann eine Begründung dafür sein, dass es von der Badinter-Schiedskommission gegen die Unabhängigkeiten der Republika Srpska und der serbischen Krajina zum Zeitpunkt der Unabhängigkeiten von Bosnien und Herzegowina und Kroatien angeführt wurde und nun nicht gegen die Unabhängigkeit des Kosovo. Finnland betont nochmals die Faktizität der Staatsentstehung. Es versucht, diese These mit der deklaratorischen Theorie der Anerkennung zu stützen. Im Gegensatz zu allen anderen Akteuren betont Finnland auch die Singularität des Vorgangs der Staatsentstehung. Gerade diese Singularität habe Konsequenzen für die Rechtsanwendung in diesem Bereich. Es öffnet den Prozess der Rechtsanwendung auf die Fakten für die Berücksichtigung der Geschichte des Konflikts. Entscheidend ist, dass Staatsentstehungen selten sowie geschichtlich, politisch und faktisch unterschiedlich seien. Die These wird dem Beispiel der Parkbussen gegenübergestellt, die millionenfach ausgestellt werden. Das Beispiel zeichne sich durch eine Routine aus, die bei der Beurteilung von Staatsentstehungsprozessen fehle. Man könne die Regeln also nicht in Missachtung der Eigenheiten mechanisch anwenden, sondern müsse im Gegenteil die Eigenheiten ins Zentrum der Anwendung stellen. Von hier geht Finnland auf das Beispiel der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung über. Der These, dass die Verfasser die PISG seien, stellt Finnland die These gegenüber, dass es sich um ein pouvoir constituant gehandelt habe.47 Die Kompetenz, sich für unabhängig zu erklären, ergibt sich für Finnland eben nicht aus einer Regel – dies wird mit Hinweis auf die eigene Geschichte belegt. Das Völkerrecht würde den Fakt der Unabhängigkeitserklärung erst nachträglich beurteilen. bb) Vertiefung der subjektiven Dimension Finnland vertritt eine Perspektive auf die 1990er-Jahre, die sich aus zwei parallel verlaufenden Strängen zusammensetzt: die Unfähigkeit der Regierung der 46 47
So auch: Allen/Guntrip, 315. Die Frage nach den Verfassern von Unabhängigkeitserklärungen.
§ 11 Die Sezession als abnormale Situation
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FRJ, den Kosovo-Albanern die interne Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zu ermöglichen und die Entstehung eines europäischen und globalen Konsenses betreffend den Menschenrechtsschutz und der Gewährung grundlegender Freiheiten. Der erste Strang kann als epistemisch angesehen werden. Dies wird durch den Verweis auf Prosecutor v. Milutinovic et al. sowie dadurch bestätigt, dass er von allen Akteuren im Verfahren vertreten wurde – auch von Serbien, das sich klar von der Politik unter Miloševic´ distanziert. Einzig die Schuldfrage wird durch die „moral hazard“-Einwände von Serbien und Argentinien relativiert. Der zweite Strang kann auch als epistemisch angesehen werden. Durch Zusammenführung der beiden Stränge bringt Finnland eine neue Begründung für eine alte These in das Verfahren. 2. Die Proponenten der Position 1 als Opponenten der Position 4 a) Zusammenfassende Reformulierung Venezuela geht vertieft auf die Argumentation Finnlands ein: „Monsieur le président et Membres de la Cour, avant de conclure, je voudrais faire référence à certaines considérations avancées ces derniers jours. Le cas des îles Aaland, par exemple. Le comité des juristes qui a traité cette affaire est arrivé à la conclusion exactement opposée que la Finlande lui a attribuée.“ 48
Erstens habe die Kommission festgehalten, dass Staatsentstehungen sehr wohl von der internationalen Gemeinschaft begleitet würden. Die Neutralitäts-These müsse daher klar abgelehnt werden. Der Aaland-Fall sei auch als locus classicus des Selbstbestimmungsrechts bezeichnet worden. Dies könne bezweifelt werden, wenn man bedenke, dass man in den Berichten der Juristen und der Berichterstatter lese, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht zu den positiven Regeln des Völkerrechts gehöre. Und der Fall halte fest, dass es kein Recht gebe, sich aufgrund der Äusserung eines Wunsches von einem bestehenden Staat abzuspalten. Finnland sei von der Sowjetunion anerkannt worden; nichts dergleichen sei im Falle des Kosovo geschehen. Und der Aaland-Fall weise klar darauf hin, dass es ein Unrecht wäre, wenn eine Minderheit sich von einem Staat trennen dürfte, der ihren religiösen, ethnischen und sozialen Charakter garantiere. Nichts anderes wolle Serbien gegenüber dem Kosovo machen. Der Aaland-Fall stütze genau die Position Venezuelas: „Il s’agit d’une population suédoise habitant un territoire finlandais, malgré la demande faite de faire sécession.“ 49 Der Kosovo-Fall sei nicht der einzige auf der Welt, in dem das Territorium zu einem Staat gehöre und die Bevölkerung die gleichen Eigenschaften hätte wie diejenige des benachbarten Staates. Das von 48 49
Venezuela (Fleming), m. St., 13. Venezuela (Fleming), m. St., 14.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Finnland vorgebrachte Beispiel zeige genau das Gegenteil des von Finnland behaupteten auf: „Hier contraire à la sécession des îles Aaland, lesquelles bénéficient d’un régime d’autonomie à l’intérieur de la Finlande, aujourd’hui en faveur de la sécession de la minorité albanaise en Serbie.“ 50
b) Analytischer Kommentar: Intervenierende Beurteilung Venezuela ist der erste Akteur, der explizite Einwände zur Position 4 artikuliert. Es erhebt mehrere Einwände, die im Vergleich zur finnischen Argumentation höchst interessant sind, weil sie sich auch auf den Aaland-Fall beziehen, diesen aber aus einer völlig anderen Perspektive lesen. Finnland stützt sich auf den Fall, um darauf hinzuweisen, dass es abnormale Situationen gibt, in denen die territoriale Integrität von Staaten und die Beständigkeit ihrer Grenzen infrage gestellt sind. In diesen Situationen könne das Selbstbestimmungsrecht relevant werden. Venezuela bezieht sich hingegen auf die Einleitung des Berichts. Dort halten die Berichterstatter die Rechtslage in normalen Situationen fest, die sich dadurch auszeichnet, dass das Selbstbestimmungsrecht zwar einen „important part in modern political thought“ spiele, aber nicht eine „positive rule of the Law of Nations“ 51 sei. In dieser normalen Situation gebe es kein positives Recht, sich durch eine „simple expression of a wish“ 52 von einem Staat abzuspalten. Als zweiter Punkt ist der Teil des Falls hervorzuheben, auf den sich sowohl Finnland als auch Venezuela stützen. Der Aaland-Fall hat die Schutzklausel formuliert, die sich in ähnlichen Worten in der FRD und im Quebec-Gutachten wiederfindet und die besagt, dass der Schutz der territorialen Integrität bedingt ist.53 Die Bedingung ist der Wille und die Fähigkeit des Staates, seine Minderheiten zu schützen. Finnland stützt sich darauf, um festzuhalten, dass Serbien genau das gegenüber dem Kosovo nicht gemacht habe. Venezuela stützt sich hingegen darauf, um festzuhalten, dass Serbien genau das gegenüber dem Kosovo machen werde. Finnland stützt sich auf den Teil des Berichts, der sich mit abnormalen Situationen auseinandersetzt und stützt sich in einer rückblickenden Betrachtung des Kosovo-Konflikts darauf. Venezuela stützt sich hingegen auf den Teil, der sich mit normalen Situationen auseinandersetzt und stützt sich in einer vorausblickenden Einschätzung des künftigen Verhaltens Serbiens gegenüber dem Kosovo da50 51 52 53
Venezuela (Fleming), m. St., 15. Aaland-Fall (Zuständigkeit), 5. Aaland-Fall (Zuständigkeit), 5. Aaland-Fall, 28; FRD, Schutzklausel; Quebec-Gutachten, Rz. 134 f.
§ 11 Die Sezession als abnormale Situation
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rauf. Im Gegensatz zu Venezuela gelingt es Finnland besser, die rechtssoziologische Herangehensweise des Aaland-Falls zu reaktualisieren.54 Venezuela scheint den Fall aus der Perspektive der Position 1 zu lesen. Dadurch gehen die Einwände an der finnischen Begründungsstruktur vorbei. 3. Erhebung des Argumentationsstandes Die Position 4 zeichnet sich durch zwei Stärken aus: Bezüglich der Sezession stützt sie sich nicht auf eine territoriale Integrität, die vor Ort nicht mehr gegeben ist. Und bezüglich des Selbstbestimmungsrechts der Völker hebt sie den Dekolonialisierungsrahmen auf und ersetzt ihn durch denjenigen der (ab)normalen Situation. Dies eröffnet die Möglichkeit der kontinuierlichen Anwendung des Rechts in allen abnormalen Situationen von der finnischen Unabhängigkeit 1917 über die Dekolonialisierung bis zum Kosovo. Die Position 1 muss dies ablehnen, weil sie die externe Ausübung auf einen aus der vorherrschenden völkerrechtlichen Sicht abgeschlossenen Prozess, die Dekolonialisierung, beschränken will. Für die Position 2, die nach wie vor unterschiedliche Begründungswege zur Ausweitung der externen Anwendung über diesen Prozess hinaus vertreten hat, stellt die Position 4 einen Rahmen zur Verfügung, der eine kohärente Theoretisierung der Anwendung ermöglicht. In der dritten Runde werden von Venezuela Einwände gegen die Position 4 vorgebracht. Diese können in der intervenierenden Beurteilung entkräftet werden. Damit kann die Position als einwandfrei und als gültig eingelöst bezeichnet werden.55 Die in diesem Verfahren erreichte Einwandfreiheit ist aber wohl weniger ein Beleg dafür, dass niemand Einwände erheben kann, sondern vielmehr dafür, dass die Position von den meisten als nicht relevant angesehen wird.
54 Vgl. Aaland-Fall (Zuständigkeit), 6: „[. . .] the formation, transformation and dismemberment of States as a result of revolutions and wars create situations of fact which, to a large extent, cannot be met by the application of the normal rules of positive law.“ Vgl. auch Diggelmann, 139: „The Commission did not indulge in a long positivist search for a rule limiting the domain of ,domestic jurisdiction‘ and ,sovereignty rights‘ of Finland, but analysed instead the social reality to which these terms refer.“ 55 Vgl. oben § 5 IV.
§ 12 Die Sezession als Übergang des Hoheitstitels I. Schriftliche Stellungnahme 1. Hauptthese der Position 5: „nothing has occured to cast doubt on Serbia’s uncontested title to Kosovo“ Zyperns Begründung hat eine ähnliche Begründungsstruktur wie die Position 1, knüpft aber stärker am Konzept des Hoheitstitels an. Die Staatsentstehung ist ein rechtlich geregelter Vorgang und die Rechtmässigkeit ergibt sich aus einem „formellen Rechtstitel als Grundlage der Herrschaftsausübung“ 1 Damit reaktualisiert Zypern ein Konzept, das vor allem zur Zeit des Europäischen Konzerts der Grossmächte und des durch sie geprägten ius publicum europaeum relevant war.2 Für Zypern ist die Sezession daher ein Wechsel des territorialen Hoheitstitels: „It is the unequivocal position of the Republic of Cyprus that nothing has occured to cast doubt on Serbia’s uncontested title to Kosovo, and that the claim to the contrary made in the unilateral declaration is incompatible with international law.“ 3 Zypern formuliert zunächst die zentrale völkerrechtliche Stellung der Prinzipien der Souveränität und der territorialen Integrität [a)]. Danach untersucht Zypern drei „[c]laims that Serbia has lost its title over Kosovo by the operation of a rule of law“ 4 [b)]. Und schliesslich stellt Zypern die These auf, dass der Status der Staatlichkeit nicht in völkerrechtswidriger Weise erlangt werden kann [c)]. Hinzu kommen mehrere Einwände zu einem Recht zur Sezession; diese wurden bei der Position 2 dargestellt (vorne § 9.I.3.) a) Souveränität und territoriale Integrität als grundlegende völkerrechtliche Prinzipien Der Ausgangspunkt müsse für den Gerichtshof die Souveränität und territoriale Integrität Serbiens sein.5 Jede Abweichung davon müsse völkerrechtskonform sein. Die grundlegende Bedeutung der territorialen Souveränität für die Stabilität der internationalen Ordnung sei universell anerkannt.6 1 2 3 4 5
Saxer, Steuerung, 42. Vgl. dazu Saxer, Steuerung, 39 ff. Zypern, s. St., Rz. 89. Zypern, s. St., 29. Zypern, s. St., Rz. 82.
§ 12 Die Sezession als Übergang des Hoheitstitels
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Die „stability of title to territory“ sei immer ein kennzeichnendes völkerrechtliches Merkmal gewesen, das durch moderne Entwicklungen bestärkt worden sei. So sei in den durch das Selbstbestimmungsrecht begünstigten Staatsentstehungen das Territorium stets aufgrund des uti possidetis iuris-Prinzips festgelegt worden, wonach die vorbestehenden internationalen oder innerstaatlichen Grenzen die neuen Staatsgrenzen werden sollten. Eine Grenzänderung habe nur in Ausnahmefällen mit Einverständnis der betroffenen Staaten stattgefunden.7 Die Integrität aller Grenzen sei auch durch die Entwicklung der Regel bestärkt worden, dass Grenzänderungen nicht durch Gewaltanwendung herbeigeführt werden dürfen.8 Staaten seien verpflichtet, solche Grenzänderungen nicht anzuerkennen.9 Dieser Aspekt des Gewaltanwendungsverbots sei als ius cogens-Norm eine der Grundlagen der VN-Charta. All diese Entwicklungen würden zu einem „entrenched legal status“ etablierter Hoheitstitel führen. b) Subthese 1: Es gab keinen legalen Übergang des Hoheitstitels von Serbien auf den Kosovo Für Zypern war das von der Unabhängigkeitserklärung beanspruchte Territorium am Tag vor der Unabhängigkeitserklärung Teil von Serbien. Es sei nun an denen, die von der Völkerrechtskonformität der Unabhängigkeitserklärung ausgehen, nachzuweisen, auf welcher Rechtsgrundlage die territorialen Rechte von Serbien entzogen worden seien und woraus sich der Übergang des Hoheitstitels auf den neuen Staat „Kosovo“ ergebe.10 Von hier geht Zypern der Frage nach, ob Serbien seinen territorialen Hoheitstitel über den Kosovo verloren habe. Ein solcher Verlust ergebe sich nicht aus der Sicherheitsratsresolution 1244 (1999), da 6 Zypern, s. St., Rz. 83 m. H. auf Ian Brownlie, Principles of International Law, 7. Aufl., Cambridge 2008, 289; Malcom N. Shaw, International Law, 6. Aufl., Cambridge 2008, 488 und Zitaten aus IGH, Corfu Channel Case, 35; Nicaragua, Rz. 263; Badinter-Schiedskommission, Gutachten 3; die Schlussakte von Helsinki, Prinzipien I und IV und der Wiener Erklärung. 7 Zypern, s. St., Rz. 86 m. H. auf Malcom N. Shaw, International Law, 6. Aufl., Cambridge 2008, 523 f. 8 Zypern, s. St., Rz. 87 m. H. auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta; FRD, Grundsatz, dass die Staaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt unterlassen; AU, Non-Aggression and Common Defence Pact 2005, Art. 4; Badinter-Schiedskommission, Gutachten 3. 9 Zypern, s. St., Rz. 87 m. H. auf Art. 41 Ziff. 2 ARSIWA und S/RES/541 (1983), Ziff. 7; S/RES/550 (1984), Ziff. 2 und 3; S/RES/662 (1990), Ziff. 2. 10 Zypern, s. St., Rz. 88 m. Zitat aus IGH, Sovereignty over Pedra Branca/Pulau Batu Puteh, Middle Rocks and South Ledge, Rz. 122. Moorag Goodwin wählt auch den Ansatz, dass danach gefragt wird, ob Serbien die Soveränität verloren habe, komplettiert ihn aber durch die zweite Frage, ob Kosovo seine Souveränität gewonnen habe (Goodwin, 89 ff.).
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
die FRJ und Serbien stets die de iure-Souveränität über den Kosovo behalten hätten.11 Zypern geht auf drei weitere Thesen ein, die für einen Verlust des Hoheitstitels sprechen würden: Erstens, dass die Unabhängigkeitserklärung der letzte Akt der Dissolution der SFRJ gewesen sei. Zweitens, dass sich ein Wechsel des Titels aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ergebe. Und drittens, dass er sich aus einem „Recht zur Sezession“ ergebe.12 Die zyprische Argumentation zur dritten These wird hier als Einwand zu den Thesen des remedialen und des generellen Rechts zur Sezession dargestellt. Die erste Behauptung sei falsch, weil der Dissolutionsprozess schon lange abgeschlossen und der Kosovo in diesem Prozess stets als Teil von Serbien angesehen worden sei.13 Die kosovarische Bevölkerung könne daher aus der Dissolution der SFRJ nicht einen Anspruch auf Staatlichkeit herleiten. Das Selbstbestimmungsrecht sei wohl etabliert.14 Es habe sich erstens im Kontext der Dekolonialisierung und zweitens im Kontext der Etablierung internationaler Menschenrechtsstandards entwickelt. Aus der FRD ergebe sich, dass Völker unter „alien subjogation, domination and exploitation“ über ein externes Selbstbestimmungsrecht verfügten. Dies sei im Fall von Namibia und Palästina anerkannt worden. Es sei insbesondere anwendbar, wenn ein Staat eine Bevölkerung auf einem fremden Territorium gegen ihren Willen beherrsche.15 Während der Dekolonialisierung sei es daher auf nicht selbstregierte, Mandats- und Treuhandgebiete angewendet worden. Minderheiten innerhalb eines Staates seien in der VN-Erklärung über die Dekolonialisierung und anderen Resolutionen der Generalversammlung nicht angesprochen worden. Auch gemäss dem menschenrechtlichen Entwicklungsstrang würden Minderheiten anders behandelt;16 diese würden nicht von den Art. 1 der VN-Menschenrechtspakte, sondern von Art. 27 des Pakts II angesprochen.17 Der Art. 1 richte sich an alle Menschen, die in einem Staat lebten und garantiere ihnen das Recht auf politische Beteiligung und wirtschaftliche und kulturelle Rechte, also ein internes Selbstbestimmungsrecht. Auch spätere Dokumente wie die Schlussakte von Helsinki würden sich nicht auf koloniale Situationen beschränken. Auch sie würden aber bloss ein internes Selbstbestimmungsrecht garantieren.
11
Zypern, s. St., Rz. 96. Zypern, s. St., Rz. 114. 13 Zypern, s. St., Rz. 115 ff. m.w. H., insb. auf Badinter-Schiedskommission, Gutachten 8, das festhält, dass der Dissolutionsprozess abgeschlossen sei. 14 Zypern, s. St., Rz. 124 m. H. auf IGH, East Timor, Rz. 29; Namibia, 16; Western Sahara, 37. 15 Zypern, s. St., Rz. 128 m. H. auf Cassese, Self-determination, 90 ff. 16 Zypern, s. St., Rz. 130 ff. 17 Zypern, s. St., Rz. 131 u. a. m. H. auf Higgins, Problems and Process, 124. 12
§ 12 Die Sezession als Übergang des Hoheitstitels
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Die gegenteilige Annahme würde zu einem unbegrenzten Recht zur Sezession führen. Ein solches werde weder von den travaux préparatoires der Schlussakte von Helsinki noch vom Völkerrecht im Generellen gestützt.18 Die Formulierung der einschlägigen Texte weise eher darauf hin, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker durch die territoriale Integrität limitiert werde.19 Die Referenz an das externe Selbstbestimmungsrecht, die sich in der Schlussakte von Helsinki befände, müsse also so gelesen werden, dass sie das Volk eines Staates insgesamt meine, das sein Selbstbestimmungsrecht durch die Regierung ausübe. Es gebe aber kein Recht zur Dismembration des Staates.20 Das Selbstbestimmungsrecht müsse ausserhalb des Dekolonialisierungsprozesses innerhalb des Staates ausgeübt werden.21 Somit verfügten weder die Bevölkerung des Kosovo noch die albanische Bevölkerung in Serbien über ein externes Selbstbestimmungsrecht.22 c) Subthese 2: Die Legalität der Staatsentstehung Nachdem die Behauptungen entkräftet werden konnten, geht Zypern zur Subthese 2 über. Zypern verfolgt zwei Begründungsstrukturen: Die erste untersucht, ob der Kosovo die „basic factual elements of Statehood“, die in der MontevideoKonvention von 1933 festgehalten sind, erfüllt.23 Die zweite besagt, dass „Statehood is not a status that can be achieved in defiance of international law.“ 24 Zypern kommt zum Schluss, dass der Kosovo die Montevideo-Kriterien nicht erfülle. Für die vorliegende Untersuchung ist vor allem die zweite Begründungsstruktur interessant. Wie löst Zypern den Geltungsanspruch ein, der mit der Aussage erhoben wird, dass es keinen rechtswidrigen Weg zur Staatlichkeit gebe? Zypern verweist zunächst auf die Staatenpraxis und „the development of international law during the past half century“, um festzuhalten, dass nicht nur die Montevideo-Kriterien, sondern auch der Prozess der Staatswerdung entscheidend sei; letzterer dürfe nicht gegen „certain basic principles of international law“ verstossen.25 Zypern sieht dies als Anwendungsfall des breiteren Prinzips ex iniuria ius non oritur und der Stimson-Doktrin.26 18
Zypern, s. St., Rz. 133 m. H. auf Raicˇ, 234. Zypern, s. St., Rz. 133 m. H. auf die Charta von Paris und die Wiener Erklärung. 20 Zypern, s. St., Rz. 134 m. H. auf ACHPR, Katangese Peoples’ Congress v. Zaire und die Allgmeine Empfehlung Nr. 21 des CERD-Ausschusses. 21 Zypern, s. St., Rz. 135 m. Zitat aus Crawford, Creation, 417. 22 Zypern, s. St., Rz. 136 m. H. auf Bing Bing, 31 ff. 23 Zypern, s. St., Rz. Rz. 166 ff. 24 Zypern, s. St., Rz. 161. 25 Zypern, s. St., Rz. 184 m. H. auf Serge Sur/Jean Combacau, Droit International Public, 7. Aufl., Paris 2006; Crawford, Creation, 96 ff. 26 Zypern, s. St., Rz. 184 m. H. auf Arnold D. McNair, The Stimson Doctrine of NonRecognition, in: BYIL, Vol. 14, 1934, 65 ff. 19
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Mit dem Schulbeispiel des Fürstentums Sealand weist Zypern darauf hin, dass die Nichterfüllung der Montevideo-Kriterien dazu führe, dass sich eine Entität nicht für den Status der Staatlichkeit qualifiziere.27 Dieser Zustand müsse vom Zustand unterschieden werden, in dem eine Entität die Kriterien erfülle, aber in Verletzung fundamentaler völkerrechtlicher Normen entstanden sei.28 Zypern verwendet ein Beispiel zum völkerrechtlichen Vertrag als Analogie: Es sei zu unterscheiden zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag, der kein solcher sei, wenn er zwischen zwei privaten Unternehmen geschlossen werde und einem völkerrechtlichen Vertrag, der nichtig sei, weil er gegen ius cogens verstosse (vgl. Art. 53 WVK). Von hier geht Zypern auf die verschiedenen Formen der Völkerrechtsverletzungen ein: Der Prozess der Staatswerdung könne selbst eine Verletzung sein, z. B. im Falle der Staatsentstehung durch Anwendung von Gewalt. Oder die Entität könne so beschaffen sein, dass sie gegen fundamentale Normen verstosse. Ein Beispiel könne in den Bantustans gesehen werden, die nur errichtet worden seien, um das Apartheid-Regime aufrecht zu erhalten. Eine weitere Möglichkeit sei, dass die Erschaffung eines Staates nicht in den Kompetenzbereich derjenigen falle, die den Staat erschaffen. Ein solcher Versuch könne als „ineffective“ angesehen werden.29 Als Beispiel verweist Zypern auf „the establishment of the German Democratic Republic (,GDR‘) by the USSR“, das von den USA, Grossbritannien und Frankreich als ein Verstoss gegen das Vier-Mächte-Abkommen von 1945 angesehen wird.30 Ähnlich habe der IGH in South West Africa festgehalten, dass sich die Autorität von Südafrika auf das Mandat stütze und dass Südafrika daher nicht die Kompetenz habe, den internationalen Status des Territoriums zu ändern.31 Daraus folgert Zypern: „Thus, international law may preclude the achievement of Statehood by an entity and may do so by the operation of legal limitations upon the powers of the actor which purports to confer that international status of ,Statehood‘ upon the entity. This is the case in Kosovo.“ 32
Weder die PISG noch der Sicherheitsrat habe die Kompetenz, zu entscheiden, dass ein Teil des serbischen Territoriums ein unabhängiger und souveräner Staat 27
Zypern, s. St., Rz. 185. Zypern, s. St., Rz. 186 m. H. auf Robert Y. Jennings, Nullity and Effectiveness in International Law, in: Robert Y. Jennings et al. (Hrsg.), Cambridge Essays in International Law. Essays in Honour of Lord McNair, London 1965, 64 ff. 29 Zypern, s. St., Rz. 188. 30 Zypern, s. St., Rz. 188 m. H. auf UK House of Lords, Carl Zeiss Stiftung v. Rayner & Keeler Ltd. and others, 1 A.C., 1967, 853 ff. und 2 All E.R., 1966, 536 ff. Teilauszüge in deutscher Sprache finden sich in: JZ, Vol. 21, 1966, 746 ff. und ZaöRV, Vol. 26, 1966, 748 ff. 31 Zypern, s. St., Rz. 188 m. H. auf IGH, South West Africa, 133 und 141. 32 Zypern, s. St., Rz. 189. 28
§ 12 Die Sezession als Übergang des Hoheitstitels
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sei. Genereller ausgedrückt könne eine Unabhängigkeitserklärung, die im Widerspruch zu einer bindenden Sicherheitsratsresolution stehe, nicht rechtswirksam einen Staat hervorbringen. Daher müsse der Gerichtshof zum Schluss kommen, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht den Staat Kosovo habe hervorbringen können, weil die PISG über keine dementsprechende völkerrechtliche Kompetenz verfügten.33 2. Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Die Souveränität und territoriale Integrität von Staaten ist für die Position 5 der Ausgangspunkt der Begründung. Dies wird durch dreierlei gestützt: dass Staatsentstehungen dem uti possidetis iuris-Prinzip unterliegen, dass Grenzänderungen nur mit Einverständnis des betroffenen Staats möglich sind und dass Grenzänderungen, die durch Gewaltanwendung herbeigeführt worden sind, nicht anerkannt werden. Entscheidend ist für die Position 5 der Hoheitstitel. Die Legalität der Staatsentstehung ergibt sich aus einem völkerrechtskonformen Übergang des Hoheitstitels. Diese Subthese wird mit Hinweis auf Rz. 122 des IGH-Urteils Sovereignty over Pedra Branca/Pulau Batu Puteh, Middle Rocks and South Ledge gestützt: „Critical for the Court’s assessment of the conduct of the Parties is the central importance in international law and relations of State sovereignty over territory and of the stability and certainty of that sovereignty. Because of that, any passing of sovereignty over territory on the basis of the conduct of the Parties, as set out above, must be manifested clearly and without any doubt by that conduct and the relevant facts. That is especially so if what may be involved, in the case of one of the Parties, is in effect the abandonment of sovereignty over part of its territory.“
Für Zypern gilt dies für alle Änderungen von Hoheitstiteln: „The principle is equally applicable to all instances where one party maintains that a previously established title of another State has been changed.“ 34 Der Titel gehörte am Tag vor der Unabhängigkeitserklärung Serbien. Entscheidend sind also die Fragen, ob und wie der Titel in einem Tag auf einen neuen Staat „Kosovo“ übergegangen ist. Hier vollzieht Zypern vier Übergänge: Der erste führt zur These, dass sich aus der Sicherheitsratsresolution 1244 (1999) kein Verlust des Hoheitstitels ergebe. Zypern reaktualisiert hier die epistemische Unterscheidung zwischen Hoheitstitel und effektiver Hoheitsausübung, um festzuhalten, dass sich die Nichtausübung der serbischen Souveränität über den Kosovo seit 1999 nicht auf den Hoheitstitel auswirkt. Der zweite, dass die Sezession des Kosovo der letzte Schritt der Dissolution der SFRJ sei. Hier formuliert Zypern
33 34
Zypern, s. St., Rz. 191. Zypern, s. St., Rz. 88.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
die Einwände, dass der Kosovo in diesem Prozess immer als Teil Serbiens angesehen worden sei und dass das Ende des Prozesses im Gutachten 8 festgestellt worden sei. Der dritte führt zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. Hier formuliert Zypern die gleiche Begründungsstruktur wie die Position 1. Und der vierte zu einem generellen Recht zur Sezession, das sich beispielsweise auf historische Gründe stützt. Dies wird mit folgendem Zitat aus dem Quebec-Gutachten abgewiesen: „It is clear that international law does not specifically grant component parts of sovereign states the legal right to secede unilaterally from their ,parent‘ state. [. . .] Given the lack of specific authorization for unilateral secession, proponents of the existence of such a right at international law are therefore left to attempt to found their argument (i) on the proposition that unilateral secession is not specifically prohibited and that what is not specifically prohibited is inferentially permitted; or (ii) on the implied duty of states to recognize the legitimacy of secession brought about by the exercise of the well-established international law right of ,a people‘ to selfdetermination.“ 35
Zypern stützt sich vor allem auf den ersten Satz, um aufzuzeigen, dass ein generelles Recht zur Sezession nicht angenommen werden kann. Gegen die im Zitat aufgezeigte zweite Argumentation hat Zypern bereits explizit Einwände formuliert. Auf die erste Argumentation, die der hier dargestellten Position 3 entspricht, hält Zypern entgegen, dass der Vorgang der Staatsentstehung nicht nur dem Effektivitätsprinzip (ex factis ius oritur), sondern auch dem Prinzip der Legalität (ex iniuria ius non oritur) untersteht. Zypern löst den Geltungsanspruch der Subthese 2 durch eine Unterscheidung zwischen Rechtsstatus und Rechtsfolgen.36
II. Replik Zypern hat in der Replik Einwände gegen die Position 3 erhoben. Diese werden vorne dargestellt (§ 10.II.3.).
III. Mündliche Stellungnahme Die mündliche Stellungnahme von Zypern geht wieder auf die eigene Begründung ein. Zusätzlich erhebt sie Einwände gegen die Position 2 (vgl. vorne § 9.III.4.). Jordanien hat als Proponent der Position 2 Einwände gegen die Position 5 erhoben.
35
Quebec-Gutachten, Rz. 111. Eine Unterscheidung, die im mündlichen Teil des Verfahrens von Burundi en détail dargelegt wird. 36
§ 12 Die Sezession als Übergang des Hoheitstitels
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1. Begründung der Position 5 a) Die Staatsentstehung und der Übergang von Hoheitstiteln Zypern hebt als Erstes den Unterschied zwischen Kosovo und Zypern hervor: In Zypern habe es schwere Verletzungen des Gewaltanwendungsverbots gegeben. Aber keine der beiden Situationen stehe ausserhalb des völkerrechtlichen Anwendungsbereichs.37 Zypern vertritt die These, dass Sezessionen und Unabhängigkeitserklärungen durch das Völkerrecht normiert seien.38 Die internationale Ordnung gründe auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Mitgliedsstaaten der VN (Art. 2 VNCharta). Die Bedeutung dieses Prinzips sei in der FRD dargelegt worden. Souveräne Gleichheit beinhalte die Prinzipien, dass jeder Staat über alle der Souveränität inhärenten Rechte verfüge und dass seine territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit unantastbar seien. Daher verlange das Völkerrecht, dass Wechsel von Hoheitstiteln nach den „established modes of acquisition of title under international law“ erfolgten.39 Es gebe eine völkerrechtliche Vermutung zugunsten der Stabilität und Beibehaltung territorialer Grenzen und gegen die Fragmentierung von Staaten.40 Eine Entität, die entgegen diesen Vermutungen handle, müsse eine Berechtigung für ihre Handlungen nachweisen können. Deshalb brauche es ein explizites Selbstbestimmungsrecht für kolonialisierte Völker. Die Unabhängigkeitserklärung ist für Zypern: „an assertion, an implicit instruction, that in relation to matters in Kosovo third States should no longer deal with the authorities in Belgrade, no longer deal with UNMIK, but should deal with the people in Priština instead.“ 41
b) Zur Legalität von Staatsentstehungen Kosovo wolle wie ein Staat behandelt werden, IOs beitreten, diplomatische Beziehungen eingehen und die Privilegien und Immunitäten von Staaten für sich und seine Vertreter beanspruchen. Es sei irreführend, wenn man nun behaupte, dass diese implizite Anweisung ein rechtlich neutraler Fakt sei und die Staaten frei entscheiden könnten, ob sie den Kosovo anerkennen wollten oder nicht. Ebenso irreführend sei die Behauptung, dass eine solche Anerkennung gegenüber der faktischen Situation nur deklaratorischer Natur sei. Bevor der neue Staat
37 38 39 40 41
Zypern (Droushiotis), m. St., 38. Zypern (Lowe), m. St., 39. Zypern (Lowe), m. St., 39 m. H. auf IGH, Cameroon v. Nigeria, Rz. 65. Zypern (Lowe), m. St., 39 m. H. auf die Schlussakte von Helsinki. Zypern (Lowe), m. St., 39 f.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
anerkannt werden könne, müsse er die Voraussetzungen der Staatlichkeit erfüllen. Vor diesem Zeitpunkt könne die Anerkennung eine Verletzung der Rechte des betroffenen Staates sein, auf dessen Territorium sich ein neuer Staat bilden wolle. Diese Voraussetzungen seien wohlbekannt: Territorium, Bevölkerung, effektive Regierung, die Fähigkeit, mit anderen Staaten in Beziehung zu treten und – wie einige Stellungnahmen hervorgehoben hätten – Legalität. Das letzte Kriterium bedeute, dass die Entität nicht durch einen Prozess oder in einer Form etabliert werden dürfe, die völkerrechtswidrig sei. Es sei also falsch zu sagen, dass die Sezession ein rein faktischer Vorgang und das Völkerrecht neutral seien. Es gebe eine Frage, die sich „as a matter of logic and as a matter of law“ vor der Anerkennung stelle: „[. . .] is the entity entitled to recognition as a State? Is its claim that it is a State a claim that is in accordance with international law?“ 42 Es sei ein kleiner Schritt von der Behauptung, dass Sezessionen und Unabhängigkeitserklärungen neutrale Fakten seien, zur Behauptung, dass sich ein de facto unabhängiger Teil eines Staates für unabhängig erklären dürfe und dass andere Staaten diesen Teil anerkennen dürften: „It is hard to think of a legal proposition that could do more to encourage instability and violence in international affairs, especially at the present time.“ 43 Der Gerichtshof solle deshalb festhalten, dass das Völkerrecht die Frage der Sezession normiere. Dies gelte a fortiori, wenn die Sezession in Verbindung mit einer illegalen Gewaltanwendung stehe, wie z. B. im Fall der selbsternannten „Türkischen Republik Nordzypern“. Es bestehe gemäss Art. 41 Ziff. 2 ARSIWA eine Rechtspflicht zur Nichtanerkennung. c) Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Zypern vertritt die Position 5, wonach eine Sezession ein Wechsel von Hoheitstiteln ist. Der Neutralitäts-These der Position 3 stellt Zypern eine LegalitätsThese entgegen, die einen legalen Prozess der Staatswerdung als Staatlichkeitsvoraussetzung setzt. Zypern weist in einer folgenorientierten Begründung darauf hin, dass die Neutralitäts-These zu mehr Instabilität und Gewalt in den internationalen Beziehungen führen werde. Zypern hebt den Fall der illegalen Gewaltanwendung besonders hervor und stützt sich für die Postulierung der Pflicht der Nichtanerkennung auf Art. 41 Ziff. 2 ARSIWA. Wie bereits gesehen, stellt kein Akteur die Illegalität der Sezession bei gleichzeitiger Drittstaatenintervention infrage.
42 43
Zypern (Lowe), m. St., 40. Zypern (Lowe), m. St., 41.
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2. Die Proponenten der Position 2 als Opponenten der Position 5 a) Zusammenfassende Reformulierung Jordanien befasst sich mit der Frage, ob die Kosovaren die Selbstbestimmung durch eine Unabhängigkeitserklärung ausüben durften.44 Jordanien wählt in Beantwortung der Frage einen Begründungsweg, der sich wie die Position 5 am Konzept des Hoheitstitels orientiert. Weil Jordanien die These vertritt, dass Serbien gar nie die Souveränität über den Kosovo ausgeübt habe, wird sie hier als Einwand zur zyprischen Position dargestellt. Die Geschichte zeigt für Jordanien, dass der Kosovo bezüglich des Rechts auf Unabhängigkeit gleich wie die Republiken der SFRJ hätte behandelt werden sollen. Der Autonomieentzug von 1989 sei eine Verletzung des völkerrechtlichen ius cogens gewesen, weil den Kosovaren ihr Selbstbestimmungsrecht entzogen worden sei. Dies hätte gemäss den Prinzipien der Staatenverantwortlichkeit keine Anerkennung finden dürfen. Folglich hätte der Kosovo Anfangs der 1990er-Jahre wie eine föderale Entität behandelt werden müssen, die sich im Zuge der Dissolution für unabhängig erklärt. Serbien habe daraufhin einen diskriminierenden Prozess eingeleitet, der zu systematischen und weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen und zur Verweigerung der Gruppenrechte führte. Die de facto-Kontrolle sei Serbien durch die S/RES/1244 (1999) entzogen worden. Seit der Unabhängigkeitserklärung habe die kosovarische Regierung als Vertreterin des kosovarischen Volkes sowohl die de facto- als auch die de iureKontrolle inne. Die Unmöglichkeit, als Nachfolger der SFRJ de iure-Souveränitätsansprüche über eine föderale Einheit der SFRF zu erheben, zeige sich auch darin, dass sich der serbische Anspruch, Nachfolger der SFRJ zu sein, nie durchgesetzt habe. Serbien habe dies im Jahr 2000 durch Beantragung der VN-Mitgliedschaft anerkannt: „To base its argument regarding sovereignty over Kosovo before this Court – a United Nations organ – on Kosovo’s status under the SFRY Constitution contradicts the FRY application and admission to the United Nations as a new State.“ 45
Seit dem Tag der Aufnahme in die VN bis heute habe Serbien keine effektive Kontrolle über den Kosovo ausgeübt. Sogar Montenegro habe als ehemaliger Teil der FRJ den Kosovo anerkannt, was den serbischen Souveränitätsanspruch, der sich aus der Kontinuität der SFRJ herleitet, in Zweifel ziehe. Zusammenfassend könne Serbien nicht als Souverän über den Kosovo aufgrund eines kontinuierlichen Herrschaftstitels angesehen werden.
44 45
Jordanien (Al Hussein), m. St., 33 f. Jordanien (Al Hussein), m. St., 34.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
b) Analytischer Kommentar aa) Intervenierende Beurteilung Jordanien bringt eine völlig neue Begründung in das Verfahren ein. Diese soll die neue These stützen, dass sich die serbische Souveränität über den Kosovo nicht auf einen kontinuierlichen Hoheitstitel stützen könne. Jordanien vertritt zunächst die These, dass dem Kosovo in der SFRJ wie den Republiken ein Recht zur Sezession hätte zukommen müssen. Wie schon angesprochen, lässt sich eine solche These auf die de facto-Stellung stützen, die der Kosovo von 1974 bis 1989 innehatte – die formellrechtliche Verfassungslage spricht jedoch klar dagegen. Danach bringt Jordanien eine Begründung ein, die an die der Niederlande erinnert. Es sieht im Entzug der Autonomierechte von 1989 eine ius cogens-Verletzung, die keine Anerkennung hätte finden dürfen.46 Die weitgehenden Autonomierechte wurden 1989/1990 durch Änderungen der serbischen Verfassung und Erlass neuer serbischer Gesetze stark eingeschränkt. Das Mitbestimmungsrecht der Provinzen bei Verfassungsänderungen der serbischen Verfassung wurde durch ein Konsultationsrecht ersetzt.47 Das „Programm für die Realisierung von Frieden, Gleichheit, Demokratie und Wachstum in der serbischen autonomen Provinz Kosovo“ sah vor, dass das serbische Parlament Entscheidungen des kosovarischen Parlaments für null und nichtig erklären und serbische Ämter Aufgaben der kosovarischen Verwaltung, Strafverfolgungsbehörden und Gerichte übernehmen konnten.48 Gemäss serbischer Verfassung vom 28. September 1990 war der höchste Erlass der Provinzen das Statut (nicht mehr die Verfassung), und die originären Souveränitätsrechte der Provinzen wurden abgeschafft und durch eine territoriale Autonomie ersetzt.49 Als Reaktion auf die Einschränkung der Autonomierechte erklärte das kosovarische Parlament im Namen der Bevölkerungsmehrheit den Kosovo als gleichberechtigte konstitutive Einheit der jugoslawischen Föderation.50 Am 7. September 1990 nahm die Versammlung eine neue Verfassung an, die den Kosovo als souveränen und unabhängigen Staat bezeichnete.51 Am 22. September 1991 nahm die Versammlung eine Unabhängigkeitserklärung an, die den Kosovo als souveränen und unabhängigen Staat mit dem Recht, konstitutive und gleichberechtigte Republik von Jugosla46
Vgl. oben § 9 I.1.c)bb)(1), II.2.a) und b) sowie Art. 41 ARSIWA. Änderung XLVII der serbischen Verfassung, in: Weller, Crisis, 59. 48 Vgl. Weller, Crisis, 60. Das Programm wurde am 26. Juni 1990 per Gesetz implementiert: Law on the Action of Republic Agencies under Special Circumstances vom 26. Juni 1990, in: Weller, Crisis, 60 f. 49 Art. 6 und 110 der serbischen Verfassung von 1990, in: Krieger, 9. 50 Kosovarische Versammlung, Verfassungsmässige Erklärung vom 2. Juli 1990, in: Weller, Crisis, 64 f. 51 Art. 2 der kosovarischen Verfassung von 1990; Weller, Crisis, 66. 47
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wien zu sein, bezeichnete.52 Im nachfolgenden Badinter-Prozess und der Londoner Konferenz wurde der Unabhängigkeitsanspruch der Kosovaren jedoch nicht anerkannt. Dies zeigt zweierlei: Erstens, dass die serbische Politik und die Rechtsänderungen zu dieser Zeit durchaus als Entzug des internen Selbstbestimmungsrechts angesehen werden können. Und zweitens, dass diese Politik aber nicht dazu führte, dass der Kosovo wie eine Republik der SFRJ behandelt wurde. Auch die Aufnahme der FRJ in die VN im November 200053 spricht nicht für die These, dass Serbien zu diesem Zeitpunkt keine de iure-Souveränität über den Kosovo ausgeübt hat; nur schon die S/RES/1244 spricht dagegen.54 Und auch der letzte Grund von Jordanien, dass die Anerkennung des Kosovo durch Montenegro den serbischen Souveränitätsanspruch aus der Kontinuität der SFRJ in Zweifel ziehe, stützt die Begründung nicht. 3. Erhebung des Argumentationsstands Die Position 5 ist nahe an der Position 1, verwendet aber im Gegensatz dazu das Konzept des Hoheitstitels. Die Position ist aus zwei Gründen interessant: Erstens vertritt sie die Theorie der Legalität der Staatsentstehung am konsequentesten. Und zweitens anerkennt sie die Sezession nicht als Modus der Staatsentstehung an. Die Sezession kann nur zur Staatlichkeit führen, wenn gezeigt werden kann, dass der Hoheitstitel nach einem anderen Modus übergegangen ist. Der Position 5 ist im Verfahren, wie der Position 4, eine bloss marginale Rolle zugekommen.
52 Resolution der Versammlung der Republik Kosovo vom 22. September 1991, in: Weller, Crisis, 72. In einer von den serbischen Bewohnern boykottierten Volksabstimmung wird die Erklärung am 7. Oktober 1991 bei einer Stimmbeteiligung von 87 Prozent von 99,8 Prozent der Stimmenden angenommen; Weller, Crisis, 72. 53 A/RES/55/12. 54 Vgl. Prämbel, Absatz 10, Ziff. 11 lit. a und e sowie Annex 1, Lemma 6 und Annex 2, Ziff. 8 der S/RES/1244 (1999).
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof I. Das Gutachten: Der Gerichtshof als Proponent der Position 3 Nach Abschluss der drei Runden hat sich der Gerichtshof zurückgezogen und seine Positionen erarbeitet. Er hat ein Gutachten und mehrere Stellungnahmen veröffentlicht. Richter Keith vertritt in seiner gesonderten Stellungnahme die These, dass der Gerichtshof nach Art. 65 Ziff. 1 IGH-Statut auf die Veröffentlichung eines Gutachtens hätte verzichten müssen. Als Hauptgrund gibt er an, dass die Anfrage vom Sicherheitsrat, nicht von der Generalversammlung hätte kommen müssen. Die Stellungnahme geht nicht auf die hier behandelte Quaestio ein und wird deshalb nicht berücksichtigt. Alle anderen Dokumente äussern sich zur Quaestio. 1. Weichenstellungen für die Begründung und Abweisung der Position 5 (Rz. 51 und 56) Bevor der Gerichtshof die Unabhängigkeitserklärung im Lichte des generellen Völkerrechts beurteilt, stellt er die entscheidenden Weichen für seine Begründungsstruktur. In der Rz. 51 hält er fest, dass sich bloss die Frage nach der Völkerrechtskonformität von Unabhängigkeitserklärungen stelle und nicht nach ihren Rechtsfolgen. Es werde besonders nicht danach gefragt, ob der Kosovo ein Staat sei und ob die Anerkennungen des Kosovo gültig seien oder welche Rechtsfolgen sie zeitigten. Diese Einschränkung wird dadurch begründet, dass in anderen Gutachtenanfragen explizit nach den Rechtsfolgen gefragt wurde.1 In der Rz. 55 geht er auf den Unterschied zwischen diesem Fall und dem Quebec-Gutachten ein. Während da nach einem Recht zur Sezession gefragt wurde, sei hier die Frage nach der Konformität zu beantworten: „The answer to that question turns on whether or not the applicable international law prohibited the declaration of independence.“ In Rz. 56 hält der Gerichtshof fest, dass er untersuchen müsse, ob die Unabhängigkeitserklärung das Völkerrecht verletzt habe; nicht, ob sich die Kosovaren auf ein völkerrechtliches Recht zur Sezession stützen können oder ob es generell für Entitäten in Staaten ein Recht gebe, sich von diesen abzuspalten. Es sei „entirely possible for a particular act [. . .] not to be in 1
IGH, Kosovo, Rz. 51 m. H. auf Namibia, Rz. 16 und Wall, 136.
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof
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violation of international law without necessarily constituting the exercise of a right conferred by it.“ 2. Abweisung der Position 1 (Rz. 79–81) Der Gerichtshof stützt sich zunächst auf die Praxis: Die Unabhängigkeitserklärungen des 18. und langen 19. Jahrhunderts seien Teils auf heftigen Widerstand des betroffenen Staates gestossen und hätten teilweise zur Emergenz neuer Staaten geführt. Aber die Praxis weise nicht darauf hin, dass Unabhängigkeitserklärungen an sich als völkerrechtswidrig angesehen worden seien. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker so entwickelt, dass es nicht selbstverwalteten Gebieten und unterworfenen, fremdbeherrschten oder ausgebeuteten Völkern ein Recht zur Unabhängigkeit gebe.2 Die Unabhängigkeitserklärungen ausserhalb dieses Kontextes würden nicht auf die Emergenz eines Verbots derselben hinweisen. Danach geht der Gerichtshof auf die von „several participants“ 3 erhobene These ein, dass sich ein Verbot aus dem Prinzip der territorialen Integrität ergebe. Der Gerichtshof zitiert Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und den ersten Grundsatz der FRD, der besagt, dass „die Staaten in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt unterlassen.“ 4
Er zitiert ebenso den Art. IV der Schlussakte von Helsinki, der die Staaten dazu auffordert, die territoriale Integrität der anderen Staaten zu respektieren. Nach dieser kleinen tour d’horizon weist er den entscheidenden Übergang der Position 1 mit folgendem Satz ab: „Thus, the scope of the principle of territorial integrity is confined to the sphere of relations between States.“ 5 Die zweite und wichtigere Begründungsstruktur, die sich auf die Sicherheitsratspraxis stützt, wird vom Gerichtshof auch aufgenommen.6 Der Gerichtshof verweist auf die S/RES/216 und 217 (1965) zu Südrhodesien, 541 (1983) zu Nordzypern und 787 (1992) zur Republika Srpska. Hier fasst er die These der 2 IGH, Kosovo, Rz. 79 m. H. auf Namibia, Rz. 52 f.; East Timor, Rz. 29 und Wall, Rz. 88. 3 IGH, Kosovo, Rz. 80. 4 Der Gerichtshof weist mit Nicaragua, Rz. 191 ff. darauf hin, dass die FRD gewohnheitsrechtlichen Charakter habe. 5 IGH, Kosovo, Rz. 80. Kritisch: Christakis, Kosovo, 84 ff. und Gazzini, 2 f. Zustimmend: Oellers-Frahm, 809 f. Sie weist darauf hin, dass das Verbot der vorzeitigen Anerkennung seit den 1960er-Jahren praktisch keine Rolle mehr spiele und dass die Anerkennung daher durchaus konstitutive Wirkungen habe. 6 IGH, Kosovo, Rz. 81.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Position 3 zur ausnahmsweisen Illegalität von Unabhängigkeitserklärungen eloquent zusammen: Der Sicherheitsrat habe sich auf die konkrete, zu dem Zeitpunkt bestehende Situation bezogen. Die Illegalität habe sich nicht aus dem unilateralen Charatker der Erklärungen ergeben, sondern „from the fact that they were, or would have been, connected with the unlawful use of force or other egregious violations of norms of general international law, in particular those of a peremptory character (jus cogens).“ 7 Im Falle des Kosovo habe der Sicherheitsrat nie diese Position vertreten. Und: „The exceptional character of the resolutions enumerated above appears to the Court to confirm that no general prohibition against unilateral declarations of independence may be inferred from the practice of the Security Council.“ 8 3. Hinweis auf die Position 2 (Rz. 82–83) Einige Akteure hätten – meist bloss als „secondary argument“ – die These aufgestellt, dass sich die Kosovaren auf ein remediales Recht zur Sezession stützen könnten.9 Hier bestätigt der Gerichtshof bloss das Vorliegen der Quaestio. Dreierlei sei umstritten: ob es ausserhalb der in Rz. 79 angesprochenen Anwendungsfälle des Selbstbestimmungsrechts für einen Bevölkerungsteil ein Recht geben könne, sich von diesem abzuspalten; ob das Völkerrecht ein remediales Recht zur Sezession begründe und, falls ja, unter welchen Voraussetzungen; und ob diese Voraussetzungen im Fall des Kosovo gegeben waren. Diese Fragen müsse der Gerichtshof aber nicht beantworten. 4. Umsetzung der Position 3 am Beispiel der Frage nach den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung Der Gerichtshof übernimmt die von Österreich eingebrachte und von anderen Akteuren unterstützte These, dass die Verfasser nicht als Organe der PISG gehandelt hätten, sondern als „persons who acted togheter in their capacity as representatives of the people of Kosovo outside the framework of the interim administration.“ 10 Er begründet die These wie folgt: Erstens müsse der grössere Kontext der Annahme berücksichtigt werden. Sie sei angenommen worden, nachdem der Statusprozess gescheitert war; der Gerichtshof verweist auf die Unabhängigkeitserklärung, die wiederum auf das Scheitern der Verhandlungen verweist. Die Sprache der Unabhängigkeitserklärung würde darauf hinweisen, dass die Verfasser nicht innerhalb des Interimsverfassungsrahmens handelten, sondern einen un7
IGH, Kosovo, Rz. 81. IGH, Kosovo, Rz. 81. Zustimmend: Oellers-Frahm, 809. 9 IGH, Kosovo, Rz. 82 f. 10 IGH, Kosovo, Rz. 109. Vgl. zur Frage, ob der Gerichtshof von der Gutachtenanfrage, die klar die PISG als Verfasser angibt, abweichen durfte: Oellers-Frahm, 805 ff. 8
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof
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abhängigen und souveränen Staat errichten wollten. Dies zeige sich darin, dass die Erklärung den Kosovo international verpflichten wolle. Im Gegensatz dazu würden diese Kompetenzen im Verfassungsrahmen dem SRSG zukommen. Weiter würden nur die französische und englische Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung, nicht das in albanischer Sprache verfasste Original, einen Hinweis auf die Kosovo-Versammlung enthalten. Die Unabhängigkeitserklärung würde mit „We, the democratically-elected leaders of our people“ anfangen, während die Akte der Kosovo-Versammlung in der dritten Person Singular beginnen würden. Und es gebe auch prozedurale Unterschiede: Sie sei auch vom Präsidenten des Kosovo unterzeichnet worden, der nicht Mitglied der Kosovo-Versammlung sei. Und sie sei dem SRSG nicht zur Publikation im Amtsblatt weitergeleitet worden. Im Gegensatz zu Akten zwischen den Jahren 2003 und 2005, die der SRSG für ungültig erklärt habe, weil sie ultra vires waren, habe der SRSG auf die Unabhängigkeitserklärung von 2008 nicht reagiert. Dies zeige, dass er sie nicht als einen Akt der PISG angesehen habe, der Rechtswirkungen im Interimsverfassungsrahmen entfalten wolle.11 5. Erhebung des Arugmentationsstandes Der Gerichtshof hat der Position 3 zum Durchbruch verholfen. Er hat in einem ersten Schritt die Unterscheidung zwischen Akt und Rechtsfolgen vertreten und damit seine Begründung auf die Unabhängigkeitserklärung als Akt beschränkt. Er stützt die These durch Verweis auf andere Gutachtenanfragen. Damit gibt der Gerichtshof der Position 3 recht, die auch zwischen dem Akt und den Folgen unterschieden hat. Die spanische These, die aus den Folgen der Unabhängigkeitserklärung auf ihre völkerrechtliche Normierung schliessen wollte, konnte sich hingegen nicht durchsetzen.12 In einem zweiten Schritt hat er durch Verweis auf das Quebec-Gutachten zwischen der Frage nach einem Recht zur und einem Verbot der Sezession unterschieden und festgehalten, dass das Nichtbestehen eines Rechts nicht zur Illegalität des Akts führe. Mit diesen Weichenstellungen weist der Gerichtshof die Position 5 ab, die den rechtskonformen Übergang eines Hoheitstitels als einzige Möglichkeit der rechtskonformen Erklärung der Unabhängigkeit anerkannt hat. Der Gerichtshof hat die wunden Punkte der Position 1 identifiziert und diese mit Einwänden, die von den Proponenten der Position 3 in das Verfahren eingebracht wurden, zu Fall gebracht. Seine Begründung ist jedoch weniger breit als diejenige der Position 1. Der Gerichtshof stützt sich bloss auf die Texte der VNCharta, der FRD und der Schlussakte von Helsinki. Er geht daher nicht auf die 11 H. P. Aust (194 ff.) teilt gestützt auf eine an die DARIO angelehnte Argumentation die These des Gerichtshofs, dass der Akt nicht den PISG angerechnet werden könne. 12 Vgl. oben § 8 II.1.b)aa).
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ganze Begründungsstruktur der Position 1 ein. Auch die zweite Begründungsstruktur, die sich auf Sicherheitsratsresolutionen stützt, wird nur mit drei Beispielen belegt. Der Gerichtshof übernimmt die zwei Einwände der Positionen 2 und 3 gegenüber der Position 1, dass der Sicherheitsrat im Falle des Kosovo keine Resolution angenommen habe, die die Annahme verbieten würde, und dass die ausnahmsweise Annahme solcher Resolutionen auf das Nichtbestehen eines generellen Verbots verweisen würde. Der Gerichtshof hat die Position 1 also in aller Deutlichkeit abgewiesen. Da China diese Position im Verfahren mit Nachdruck vertreten hat, kann der Rücktritt des chinesischen Richters Shi Jiuyong möglicherweise auf diesen Widerspruch zurückgeführt werden. Interessanterweise wurde mit Xue Hanqin die Vertreterin von China im mündlichen Teil des Verfahrens als Nachfolgerin gewählt. Argumentationstheoretisch ausgedrückt: Der Gerichtshof hat nicht die Position 1, dafür aber ihre Proponentin aufgenommen.13 Nachdem er die Position 1 abgewiesen hat, geht der Gerichtshof auf die Positionen 2 und 3 ein. Hier bestätigt er bloss das Vorliegen der Quaestio. Im Schrifttum wird darauf hingewiesen, dass die in das Verfahren eingebrachte Staatenpraxis und die geäusserte opinio iuris nicht ausgereicht hätten, damit sich der Gerichtshof habe darauf stützen können, um ein remediales Recht der Sezession anzuerkennen.14 Damit hat der Gerichtshof insbesondere die von den Niederlanden in das Verfahren gehegten Hoffnungen enttäuscht. Im Abschnitt zur Frage nach den Verfassern der Unabhängigkeitserklärung vertritt der Gerichtshof die von Österreich eingebrachte und von anderen Akteuren sukzessiv übernommene These, dass es sich dabei nicht um die PISG handle. Dieser Abschnitt des Gutachtens hat am meisten Verwunderung und Kritik ausgelöst. Insgesamt hat der Gerichtsof den Akt der Unabhängigkeitserklärung von den Rechtsfolgen (Rz. 51) und über die Identität der Verfasser auch vom Interimsverfassungsrahmen und der S/RES/1244 (1999) abgeschnitten. Was dadurch für die Kritiker des Gutachtens von der Unabhängigkeitserklärung übrig bleibt, ist „a piece of paper“ 15, „foam on the tide of time“ 16, „ink on a parchment: a sheet of paper, signed by a group of people, and about which international law could not care less.“ 17 13 Mittlerweile sind zwei weitere Staatenvertreter des mündlichen Verfahrens dazugestossen: Joan E. Donoghue (USA) und James Crawford (für Grossbritannien im Verfahren, für Australien am Gerichtshof). 14 Oellers-Frahm, 811 f.; Yee, 778. 15 So Milanovic, 7. 16 IGH, Kosovo, Abweichende Meinung von Richter Bennouna, Rz. 69. Vgl. auch Koroma. 17 Kohen/Del Mar, 109. Vgl. auch Talmon/Weller, 5 (Talmon) und für eine ähnliche Kritik an einer Trennung zwischen der Sezession und der Unabhängigkeitserklärung bzw. zwischen „,declaring‘ und ,effecting‘ independence“: Burri, 885 ff., Muharremi,
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Es erstaunt nicht, dass der Gerichtshof diese These vertreten hat, sie fügt sich in die von ihm vertretene Begründungsstruktur ein. Vielmehr erstaunt, mit welcher Rigorosität sich der Gerichtshof an der Position 3 und der Faktizität und Effektivität der Staatsentstehung orientiert. Er bleibt ganz nah an der Annahme der Unabhängigkeitserklärung und orientiert sich an handfesten Zeichen, die die Richtigkeit seiner These markieren:18 Die verwendete Sprache, der erste Satz, der an die ersten Sätze der US-amerikanischen Verfassung und der VN-Charta erinnert, die Unterzeichner, die Nicht-Publikation im Amtsblatt usw. Er hätte die These auch anders, beispielsweise mit Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen pouvouir constituant und constitué oder auf die „mystische“ Einsetzung des Rechts begründen können.19 Der Gerichtshof begibt sich aber nicht in staatstheoretische Höhen, sondern hält sich an der Faktizität des Akts fest. Waters parodiert diese Methode wie folgt: „[. . .] the Court arrived at the extraordinary – and obvious – conclusion that no international rule, general or specific, prevented this particular group of private persons from writing words that look like a declaration of independence on a piece of papyrus and signing it.“ 20 Wir werden nach der Darstellung der Stellungnahmen der einzelnen Richter darauf zurückkommen.
II. Die Spuren der anderen Sezessionen: Erklärungen, abweichende und gesonderte Stellungnahmen 1. Die Richter als Opponenten des Gutachtens a) Einwände zu den Weichenstellungen Richter Yusuf widerspricht der engen Reformulierung der Gutachtenanfrage durch den Gerichtshof in der Rz. 56 des Gutachtens.21 Für ihn ist die Unabhängigkeitserklärung der Ausdruck eines Staatlichkeitsanspruchs und Teil eines Staatsentstehungsprozesses. Die Frage betreffe daher die Völkerrechtskonformität der entsprechenden Handlungen bzw. des entsprechenden Prozesses. Die Beschränkung der Frage auf die Unabhängigkeitserklärung mache sie inhaltsleer.22 874; Oellers-Frahm, 814 und Gattini, 212. Cerone (335) spitzt die Kritik noch zu: „If my mother were to stand in her living room and declare it to be an independent state, she would have violated no rule of international law.“ 18 Vgl. dazu oben § 5 II.2.a). 19 Derrida, Gesetzeskraft, 27 f., 48. Anne Peters verweist auf Jean-Jacques Rousseu, Carl Schmitt und das Prinzip der normativen Diskontinuität und den Ausnahmezustand sowie Giorgio Agamben. Sie hält den so skizzierten Begründungsweg jedoch für zu riskant und begrüsst es, dass sich der Gerichtshof nicht auf ihn begeben hat (Peters, Kosovogutachten, Rz. 12). 20 Waters, 314. 21 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 2. 22 Dies scheint das Ziel der Einschränkung gewesen zu sein: Vgl. Hafner/Kalb, 259.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
Es ginge nicht um die Unabhängigkeitserklärung per se, sondern um das, was sie impliziere: den Staatlichkeitsanspruch. Wenn der Staatlichkeitsanspruch rechtskonform sei, könne er – wie im Falle der Dekolonialisierung – unterstützt werden, wenn er rechtswidrig sei – wie im Falle von Südrhodesien und Katanga – könne ihm entgegengetreten werden. Staatlichkeitsansprüche könnten zu Konflikten führen, die die regionale Stabilität und die internationale Sicherheit und den Weltfrieden gefährdeten.23 Die Beschränkung des Gutachtens auf die Unabhängigkeitserklärung und der Ausschluss des implizierten Anspruchs auf externe Ausübung des Selbstbestimmungsrechts könnten missverstanden werden und zu einer Legitimisierung von Unabhängigkeitserklärungen führen. Der Gerichtshof würde nicht darauf eingehen, ob die unilaterale Festlegung des kosovarischen Status völkerrechtskonform sei. Richter Simma geht auf die Rz. 56 des Gutachtens ein. Erstens verstosse der gewählte Ansatz gegen die Gutachtenanfrage, die nach der Konformität frage und zweitens werde jegliche Erörterung zur wichtigen Frage ausgeschlossen, ob „international law may specifically permit or even foresee an entitlement to declare independence when certain conditions are me.“ 24 Die Methode des Gerichtshofs erinnere an den alten und abgegriffenen LotusAnsatz.25 Indem der Gerichtshof darauf zurückkomme, beantworte er die Frage „in a manner redolent of nineteenth-century positivism, with its excessively deferential approach to State consent.“ 26 Simma plädiert für ein Konzept der Toleranz, das unterschiedlichere Färbungen der Legalität zulasse als das binäre LotusRechtsverständnis. „Toleriert“ könnte beispielsweise „nicht illegal“ heissen, was wiederum nicht „legal“ heissen würde. Bezüglich der „great shades of nuances that permeate international law“ 27 zeige der vom Gerichtshof gewählte Ansatz Schwächen. Dem Lotus-Vökerrechtsbild stellt Richter Simma eine zeitgemässe Rechtsordnung gegenüber, die stark von öffentlich-rechtlichen Ideen geprägt sei. Die Anfrage sei weiter gefasst als es die Antwort des Gerichtshofs vermuten lasse, Konformität sei breiter als blosse Nicht-Verletzung. Es stimme zwar, dass nicht wie im Quebec-Gutachten nach einem Recht zur Sezession gefragt werde, dies rechtfertige aber nicht die vom Gerichtshof vorgenommene Selbstbeschränkung.28 Skotnikov unterscheidet zwischen der These, dass das Völkerrecht kein anwendbares Verbot von Unabhängigkeitserklärungen kenne, und der These, dass 23
IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 6. IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 1. 25 IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 2 m. H. auf Lotus, 18 ff. 26 IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 8. So auch Tricot/Sander, 328 ff. 27 IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 9. Kritisch dazu: Frowein, Kosovo and Lotus, 924 ff. 28 IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 4 f. 24
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die Gutachtenanfrage schlicht nicht aus der Perspektive des generellen Völkerrechts beantwortet werden könne, weil das einzig anwendbare Recht das durch die S/RES/1244 (1999) geschaffene Rechtsregime sei.29 Daher werde der Abschluss des Statusprozesses immer noch nach Ziff. 11 lit. e der Resolution 1244 durch den Sicherheitsrat bestimmt. b) Einwände zur Identifizierung der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung Richter Tomka kritisiert die vom Gerichtshof vertretene österreichische These zur Identität der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung scharf. Sie könne sich nicht auf Fakten stützen und sei nichts weiter als ein „post hoc intellectual construct.“ 30 Der serbische Aussenminister, die Mitglieder der Generalversammlung, der Ständige Vertreter Grossbritanniens, die Vertreter der USA und Frankreichs, die Generalversammlung selbst im zweiten Absatz der Präambel der A/RES/63/3, der Generalsekretär und der Premierminister des Kosovo seien davon ausgegangen, dass die Kosovo-Versammlung als Teil der PISG die Verfasserin der Unabhängigkeitserklärung sei.31 Alle Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung hätten in ihrer Funktion als Mitglieder der Kosovo-Versammlung unterschrieben. Daher sei die Begründung des Gutachtens, dass sich im albanischsprachigen Original der Unabhängigkeitserklärung keine Referenz an die Kosovo-Versammlung finde, falsch.32 Auch Richter Koroma kritisiert die These zur Identität der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung scharf.33 Er kritisiert den „intent-oriented approach“ 34 des Gerichtshofs, der sich auf die Absicht bzw. das Selbstbild der Verfasser stütze. Dies führe zu absurden Resultaten: Jede Gruppe könnte die Anwendung völkerrechtlicher Regeln umgehen, indem sie behaupten würden, dass sie sich unter neuem Namen reorganisiert habe. Richter Koroma verweist wie Richter Tomka darauf, dass der SRSG im Jahr 2003 eine Unabhängigkeitserklärung als einen Akt ultra vires verurteilt habe. Daraufhin hätten die Verfasser 2008 einfach behauptet, dass sie die neue Unabhängigkeitserklärung ausserhalb des Interimsverfassungsrahmens angenommen hätten. Da das Völkerrecht aber nicht von nicht staatlichen Gruppen, sondern mit dem Einverständnis der Staaten gemacht werde, hätte sich der Gerichtshof nicht auf die Absicht der Verfasser, sondern auf die Absichten der Staaten und des Sicherheitsrats stützen müssen, der in der
29 30 31 32 33 34
IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Skotnikov, Rz. 17. IGH, Kosovo, Erklärung Tomka, Rz. 12. IGH, Kosovo, Erklärung Tomka, Rz. 12 ff. m.w. H. IGH, Kosovo, Erklärung Tomka, Rz. 20. IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Koroma, Rz. 4 ff. IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Koroma, Rz. 5.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
S/RES/1244 (1999) festgehalten habe, dass die territoriale Integrität der FRJ geschützt sei.35 Auch Richter Sepúlveda-Amor kritisiert die Identifizierung der Verfasser durch den Gerichtshof.36 Es möge zutreffen, dass die Unabhängigkeitserklärung einige Eigenheiten aufweise, die sie von anderen Akten unterscheide, aber entscheidend sei die Frage, ob sie der S/RES/1244 (1999) und dem dadurch geschaffenen Rechtsrahmen entspreche. Es sei fraglich, ob sich die vom Gerichtshof vorgebrachten Fakten auf die rechtliche Beurteilung auswirken würden: „[. . .] one wonders how the declaration’s failure to expressely refer to the Assembly of Kosovo as the organ of adoption could possibly alter the fact that it was indeed the Assembly which adopted it [. . .].“ 37 Es sei klar, dass die Verfasser einen Staat gründen wollten – daher sie die Frage, ob diese Massnahme dem Rechtsrahmen im Kosovo entsprochen habe. Für Richter Bennouna hätte der Gerichtshof kein Gutachten abgeben sollen.38 Auch für ihn sind die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung klarerweise die PISG. Richter Bennouna weist darauf hin, dass der Gerichtshof zuerst die lex specialis, das Rechtsregime der S/RES/1244 (1999), und erst danach das generelle Völkerrecht hätte untersuchen sollen.39 Er wirft dem Gerichtshof bezüglich des generellen Teils Sophismus vor, weil er das generelle Völkerrecht ohne Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um ein von den VN verwaltetes Territorium handle, abhandle. Wenn die Verfasser nicht im Interimsverfassungsrahmen und innerhalb der aussenpolitischen Kompetenzen des SRSG gehandelt haben, so sei dies ultra vires und völkerrechtswidrig. Nachdem Richter Bennouna auf die Begründung des Gerichtshofs zur These der Verfasser eingegangen ist, kommt er zum Schluss: „If such reasoning is followed to its end, it would be enough to become an outlaw, as it were, in order to escape having to comply with the law.“ 40 Auch Richter Skotnikov kritisiert scharf, dass die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung den Interimsverfassungsrahmen allein gestützt auf die Behauptung umgehen konnten, dass sie ausserhalb des Interimsverfassungsrahmens agieren würden: „The majority, unfortunately, does not explain the difference between acting outside the legal order and violating it.“ 41
35
IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Koroma, Rz. 8 ff. IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Sepúlveda-Amor, Rz. 23 ff. 37 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Sepúlveda-Amor, Rz. 29. Vgl. auch Rz. 31 zur Begründung, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht wie die anderen Akte der PISG in der ersten Person Singular beginne. 38 IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Bennouna, Rz. 1 ff. 39 IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Bennouna, Rz. 38. 40 IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Bennouna, Rz. 46. 41 IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Skotnikov, Rz. 15. 36
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof
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Richter Tomka stellt klar, dass im Schweigen des Sicherheitsrats keine Duldung der Unabhängigkeitserklärung im rechtlichen Sinne (acquiescence) gesehen werden könne. Als Begründung führt er die sich widersprechenden öffentlichen und im Kosovo-Verfahren abgegebenen Stellungnahmen der Sicherheitsratsmitglieder an.42 Für Richter Bennouna kann eine Unabhängigkeitserklärung im Rechtsrahmen der S/RES/1244 (1999) nur Rechtswirkungen entfalten, wenn sie vom Sicherheitsrat gutgeheissen wird. Dies sei nicht geschehen und das Schweigen des Rates könne nicht als Duldung im Rechtssinne verstanden werden.43 c) Grundsätzlicher Einwand: Keine Orientierung durch den Gerichtshof Die Richter Koroma, Simma, Sepúlveda-Amor und Yusuf erheben den grundsätzlichen Einwand, dass es der Gerichtsfhof verpasst habe, in diesem von Desorientierung geprägten Bereich Orientierung zu schaffen.44 Während sich Richter Koroma für eine Klarstellung in Richtung Position 1 ausspricht, hätten sich die anderen Richter eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Position 2 gewünscht. Richter Koroma verweist auf das Quebec-Gutachten.45 Dieses habe klargestellt, dass das Völkerrecht kein Recht zur Sezession begründe. Der Gerichtshof hätte diesen Fall nutzen sollen, um das Bild wie folgt zu vervollständigen: Das Völkerrecht kenne auch Regeln, die Unabhängigkeitserklärungen und Sezessionen explizit verbieten würden. Richter Simma weist darauf hin, dass Akteure Argumente zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und dem remedialen Recht zur Sezession eingebracht haben.46 Der Gerichtshof hätte auf diese eingehen können. Dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker relevant sei, zeige sich an der Unabhängigkeitserklärung, die sich selbst auf den Volkswillen stütze. Darüber hinaus hätten sich die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung im Verfahren und andere zum remedialen Recht zur Sezession geäussert. Dass der Gerichtshof dies nicht berücksichtigt habe, sei nicht „judicially sound“.47 Richter Simma geht nicht an Stelle des Gerichtshofs in extenso auf die Argumente ein, aber der Gerichtshof hätte eine intelektuell befriedigendere und für die internationale Ordnung relevantere Antwort geben können: „To treat these 42 43 44 45 46 47
IGH, Kosovo, Erklärung Tomka, Rz. 4 m. H. auf S/PV.5839, passim. IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Bennouna, Rz. 53 ff. So u. a. auch Guliyeva, 301 f.; Ker-Linday, 8 f.; Pippan, 161 ff.; Hannum, Kosovo. IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Koroma, Rz. 23. IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 6. IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 6.
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
questions more extensively would have demonstrated the Court’s awareness of the present architecture of international law.“ 48 Richter Sepúlveda-Amor weist wie Richter Simma darauf hin, dass der Gerichtshof eine weitere Perspektive hätte einnehmen und eine ausführlichere Antwort hätte geben können: „A number of important legal issues should not have been ignored.“ 49 Er weist auf die verbreitete Desorientierung hin: „Many of the legal issues involved in the present case require guidance of the Court.“ 50 Für Richter Yusuf habe die Gutachtenanfrage der Generalversammlung implizit danach gefragt, ob der Kosovo sich auf ein Recht zur Sezession stützen könne.51 Für ihn hätte der Gerichtshof auf die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts ausserhalb des Dekolonialisierungskontexts eingehen können.52 Er habe dies für die Dekolonialisierung getan. Gleiches hätte hier mehr Rechtssicherheit schaffen und dem Missbrauch dieses wichtigen Rechts in bestehenden Staaten vorbeugen können. Er bringt seine Enttäuschung über die verpasste Chance wie folgt zum Ausdruck: „The Court had a unique opportunity to assess, in a specific and concrete situation, the legal conditions to be met for such a right of self-determination to materialize and give legitimacy to a claim of separation. It has unfortunately failed to seize this opportunity, which would have allowed it to clarify the scope and normative content of the right to external self-determination, in its post-colonial conception, and thus to contribute, inter alia, to the prevention of unjustified claims to independence which may lead to instability and conflict in various parts of the world.“ 53
2. Richter Koroma als Proponent der Position 1 Für Richter Koroma war die Unabhängigkeitserklärung der Beginn eines Prozesses, der die Loslösung des Kosovo vom bestehenden Staat und die Gründung
48
IGH, Kosovo, Erklärung Richter Simma, Rz. 7. IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Sepúlveda-Amor, Rz. 33 m. Zitat aus Spanien (Escobar Hernández), m. St., 11. 50 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Sepúlveda-Amor, Rz. 35. Er weist auf folgende Themen hin: „The scope of the right to self-determination, the question of ,remedial secession‘, the extent of the powers of the Security Council in relation to the principle of territorial integrity, the continuation or derogation of an international civil and military administration established under Chapter VII of the Charter, the relationship between UNMIK and the Provisional Institutions of Self-Government and the progressive diminution of UNMIK’s authority and responsibilities and, finally, the effect of the recognition or non-recognition of a State in the present case are all matters which should have been considered by the Court, providing an opinion in the exercise of its advisory functions.“ 51 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 17. 52 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 5. 53 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 17. 49
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof
425
eines neuen Staats zum Ziel hat. Dies widerspreche sowohl der S/RES/1244 (1999) als auch generellem Völkerrecht. Richter Koroma geht auch auf das generelle Völkerrecht ein:54 Es sei falsch zu behaupten, dass das Völkerrecht gegenüber Unabhängigkeitserklärungen neutral sei. Die Neutralitäts-These mache bloss für abstrakte Unabhängigkeitserklärungen Sinn. Sobald eine tatsächlich angenommen werde, müsse der faktische und rechtliche Kontext berücksichtigt werden. Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo komme einer Sezession gleich und diese sei „a matter of international law.“ 55 Hier vertritt Richter Koroma mit Hinweis auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und Zitat des 14. Absatzes der Präambel der FRD („any attempt aimed at the partial or total disruption of the national unity and territorial integrity of a State or country or at its political independence is incompatible with the purposes and principles of the Charter“) die Position 1: Das Prinzip der territorialen Integrität sei ein grundlegendes Prinzip, das den Schutz der Delineation des Staates beinhalte.56 Die Unabhängigkeitserklärung erhebe einen territorialen Anspruch über einen Teil des Territoriums der FRJ (Serbien) ohne das Einverständnis des betroffenen Staates und sei daher nicht mit diesem vereinbar (Subthese 1 der Position 1). Die FRD würde klarstellen, dass auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht zu einer Infragestellung der Subthese 1 führe (Subthese 2).57 3. Richter Cançado Trindade und Yusuf als Proponenten der Position 2 a) Die Begründung der funktionalen Ausrichtung der territorialen Integrität auf den Schutz der menschlichen Integrität: Richter Cançado Trindade Richter Cançado Trindade hat nicht unerwartet die umfangreichste Stellungnahme veröffentlicht. Sie wäre im Verfahren für die Position 2 sehr wertvoll gewesen, weil sie in einer stark naturrechtlich geprägten Argumentation die Begründung für die funktionale Ausrichtung der territorialen Integrität auf den Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte sowie die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts der Völker liefert. Für die vorliegende Quaestio sind vor allem die Kapitel XII bis XIV relevant.58 Richter Cançado Trindade weist zunächst darauf hin, dass das ältere Schrifttum zur Staatlichkeit vom Konzept des Territoriums besessen war.59 Diese Beses54
IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Koroma, Rz. 4 und 20 ff. IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Koroma, Rz. 20. 56 So auch: Alexander Orakhelashvili, Statehood, 13. 57 IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Koroma, Rz. 22. 58 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 169–217. 59 So auch: George Scelle, Obsession du Territoire, in: Frederik M. van Asbeck, Symbolae Verzijl. Présentées au professeur J. H. W. Verzijl à l’occasion de son 70e anniversaire, Den Haag 1958, 347 ff. 55
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
senheit habe zu einer Publikationsflut zum Thema, insbesondere zur Akquisition von Territorien, und zu Kolonialismus und anderen Formen der Unterdrückung geführt. Das dazugehörige zwischenstaatliche Völkerrechtsverständnis habe die Bedürfnisse der unterdrückten Völker ignoriert. In einem Prozess der Humanisierung habe sich der Schwerpunkt in der Theoretisierung der Staatlichkeit vom Territorium zur Bevölkerung bzw. zum Volk verschoben. Dies zeige sich in der Montevideo-Konvention, die eine ständige Bevölkerung als erste Voraussetzung der Staatlichkeit setze (Art. I lit. a). Auch die Entwicklung der ITA zeige, dass das Wohlergehen der verwalteten Bevölkerung ihr hauptsächliches Anliegen sei. Gleiches gelte für die Entwicklung des externen Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der Dekolonialisierung und des internen in unabhängigen Staaten. Richter Cançado Trindade stellt jedoch fest, dass es immer wieder neue Formen der Unterdrückung gebe, „hence the recurring need, and right, of people to be freed by it. The principle of selfdetermination has survived decolonization [. . .].“ 60 Es käme nicht darauf an, ob man dies nun als remediale Ausübung oder anders qualifiziere, entscheidend sei, dass das Recht auf neue Situationen anwendbar sei: „No State can invoke territorial integrity in order to commit atrocities (such as the practices of torture, and ethnic cleansing, and massive forced displacement of the population), nor perpetrate them on the assumption of State sovereignty, nor commit atrocities and then rely on a claim of territorial integrity notwithstanding the sentiments and ineluctable resentments of the ,people‘ or ,population‘ victimized. What has happened in Kosovo is that the victimized ,people‘ or ,population‘ has sought independence, in reaction against systematic and long-lasting terror and oppression, perpetrated in flagrant breach of the fundamental principle of equality and non-discrimination (cf. infra). The basic lesson is clear: no State can use territory to destroy the population. Such atrocities amount to an absurd reversal of the ends of the State, which was created and exists for human beings, and not vice-versa.“ 61
Die funktionale Ausrichtung des Prinzips der territorialen Integrität auf humane Zwecke habe sich in den letzten vier Dekaden entwickelt. Es sei die Pflicht der Staaten, ihre Bevölkerungen zu beschützen und zu stärken. Als erstes Beispiel weist der Richter auf die Schutzklausel der FRD hin. Der Gerichtshof hätte sich auch darauf beziehen müssen. Sie besage, dass eine Regierung ihre Bevölkerung nicht mehr repräsentiere, wenn sie deren Menschenrechte schwerwiegend und systematisch verletze. Dies werde noch deutlicher in der Wiener Erklärung zum Ausdruck gebracht. Sie bezieht sich nicht mehr bloss auf bestimmte Arten der Diskriminierung, sondern auf Diskriminierungen aller Art. Die schweren Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts der
60 61
IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 175. IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 176.
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof
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1990er-Jahre würden die Voraussetzungen nach der FRD und der Wiener Erklärung erfüllen und die Kosovaren hätten daher ein Selbstbestimmungsrecht, dem der Schutz der territorialen Integrität durch die Rechtsverletzer nicht mehr entgegengehalten werden könne. Danach geht Richter Cançado Trindade auf die Überwindung des völkerrechtlichen Paradigmas der Zwischenstaatlichkeit ein.62 Die Anerkennung verschiedener Prinzipien und insbesondere des Selbstbestimmungsrechts der Völker führe zur Überwindung des alten Paradigmas. Dies zeige sich auch daran, dass sich die Trennung zwischen interner und externer Ausübung auflöse und dass das Recht auch gegen die Regierung in allen Fällen der Unterdrückung der Bevölkerung Anwendung finde. Auch die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes habe dazu beigetragen. Der Richter verweist auf die VN-Weltkonferenzen der 1990er-Jahre: „Ironically, while the international community was engaged in this exercise, at the same time discriminatory practices and grave violations of human rights and international humanitarian law kept on being perpetrated in Kosovo, and the news of those practices and violations promptly echoed in the United Nations.“ 63
Richter Cançado Trindade weist auf die gleiche kontemporäre Korrelation hin wie Finnland in der mündlichen Stellungnahme.64 Im nächsten Schritt wird das grundlegende Prinzip der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung dargelegt.65 Das Prinzip sei Teil des VN-Rechts und des historischen Prozesses der Humanisierung. Es führe zu einer „people-centred vision of sovereignty“; dies zeige sich im ersten Satz der VN-Charta, im automatischen Eintritt in Menschenrechtsverträge bei einer Sukzession und bei der extraterritorialen Anwendbarkeit von Menschenrechten.66 Schliesslich wird das grundlegende „Principle of Humanity in the Framework of the Law of the United Nations“ dargelegt.67 Das zentrale Dokument dieses Abschnitts, der sich mit dem „jus gentium of our times“ auseinandersetzt, ist die AEMR. Hier folgt die menschenrechtlich begründete funktionale Ausrichtung der Staatlichkeit: „States, created by human beings gathered in their social milieu, are bound to protect, and not at all to oppress, all those who are under their respective jurisdictions. This corresponds to the minimum ethical, universally reckoned by the international 62
IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 182 ff. IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 185 und 186 ff. 64 Vgl. oben § 11 III.1.a). 65 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 189 ff. 66 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 190 ff. m.w. H. 67 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 196 ff. 63
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
community of our times. States are bound to safeguard the integrity of the human person from systematic violence, from discriminatory and arbitrary treatment.“ 68
Falls der Staat dieser Pflicht nicht nachkomme, sei es die Pflicht der VN, eine schikanierte Bevölkerung zu beschützen.69 Der Anspruch der territorialen Integrität sei nicht absolut, wie einige behauptet hätten: „If one turns to intra-State relations, territorial integrity and human integrity go together, with State authority being exercised harmoniously with the condition of the population, aiming to fulfill their needs and aspirations. Territorial integrity, in its intra-State dimension, is an entitlement of States which act truly like States, and not like machines of destruction of human beings, of their lives and of their spirit.“ 70
Das grundlegende Prinzip der Humanität sei unter anderem in der Rechtsprechung und im humanitären Völkerrecht verankert.71 Schliesslich wird darauf hingewiesen, dass das ius cogens nicht nur auf zwischenstaatliche, sondern auch auf innerstaatliche Beziehungen Anwendung finde.72 Für den Richter steht ausser Frage, dass es im Kosovo-Fall ius cogens-Verletzungen gegeben habe.73 Diese Aussage ist wichtig für den Gegeneinwand der Niederlande zum serbischen Einwand, dass die Sezession eine dem Staatenverantwortlichkeitsrecht fremde Sanktion sei.74 b) Anerkennung des remedialen Rechts zur Sezession durch Richter Yusuf Richter Yusuf erklärt sein Verständnis des postkolonialen Selbstbestimmungsrechts. Er umschreibt zunächst die interne Dimension: „In this post-colonial conception, the right of self-determination chiefly operates inside the boundaries of existing States in various forms and guises, particularly as a right of the entire population of the State to determine its own political, economic and social destiny and to choose a representative government; and, equally, as a right of a defined part of the population, which has distinctive characteristics on the basis of race or ethnicity, to participate in the political life of the State, to be represented in its government and not to be discriminated against. These rights are to be exercised within the State in which the population or the ethnic group live, and thus constitute internal rights of self-determination. They offer a variety of entitlements to the 68 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 199. Vgl. auch Rz. 206. 69 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 207. 70 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 208. 71 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 209 ff. m.w. H. 72 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 213 ff. 73 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Cançado Trindade, Rz. 214. 74 Vgl. oben § 9 II.2.b) und H. P. Aust, 188 f.
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concerned peoples within the borders of the State without threatening its sovereignty.“ 75
Die ethnische Gruppierung könne sich aber nicht auf ein externes Selbstbestimmungsrecht berufen: „The availability of such a general right in international law would reduce to naught the territorial sovereignty and integrity of States and would lead to interminable conflicts and chaos in international relations.“ 76 Im Falle einer Verunmöglichung der internen Ausübung und von Diskriminierung, Verfolgung und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts könne sich ein Staatlichkeitsanspruch auf das Selbstbestimmungsrecht stützen, „taking into account the historical context.“ 77 Dies könne auf unterschiedliche Instrumente, insbesondere aber die Schutzklausel der FRD, abgestützt werden. Der Gerichtshof hätte über genügend Material verfügt, um darüber zu befinden, ob diese aussergewöhnlichen Umstände im Falle des Kosovo gegeben waren oder nicht. Die Frage sei beispielsweise vom ACHPR im Fall Katangese Peoples’ Congress v. Zaire behandelt und negativ beantwortet worden.78 In Rz. 16 zählt Richter Yusuf die beiden im Verfahren unbestrittenen Voraussetzungen der Ausübung auf und hält insbesondere fest, dass ein Eingreifen des Sicherheitsrates ein Indiz dafür sein könne, dass die erste Voraussetzung erfüllt ist. c) Weitere Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht der Völker: Richter Bennouna und Tomka Richter Bennouna bringt einen neuen Einwand zur These vor, dass sich die Unabhängigkeitserklärung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker stützen könne: Die Mitglieder der Kosovo-Versammlung hätten im Wahlkampf ihren Wählern nicht gesagt, dass sie vorhätten, einen solchen Akt zu vollziehen. Wenn sie dies nun im Namen des Volkes machen würden, so hätten sie dies zumindest sagen müssen.79 Richter Tomka äussert sich zur Frage, ob die Parteien im Statusprozess in Treu und Glauben verhandelt hätten. Diese Ausführungen sind für das Gegebensein der zweiten Voraussetzung des remedialen Rechts zur Sezession relevant. Sie weisen wiederum auf das „moral hazard“-Problem der Theorie hin. Für Richter Tomka ergibt sich aus der S/RES/1244 (1999), dass die endgültige Entscheidung über den Kosovo nur im Einvernehmen der Streitparteien oder 75
IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 9. IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 10. 77 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 11. 78 IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 14 m. Zitat aus ACHPR, Katangese Peoples’ Congress v. Zaire, 1 und Quebec-Gutachten, Rz. 154. 79 IGH, Kosovo, Abweichende Stellungnahme Richter Bennouna, Rz. 47. 76
430
3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
durch den Sicherheitsrat gefällt werden könne.80 Richter Tomka zitiert die Ziff. 2 des Ahtisaari-Berichts, die festhält, dass die Parteien kategorisch an ihren sich diametral widersprechenden Positionen festhalten würden: Serbien an einer Autonomie-Lösung und Kosovo an der Unabhängigkeit. Richter Tomka stellt daher die Frage, ob die Verhandlungen in Treu und Glauben geführt worden sind. Dies setzt nach der Rechtsprechung des IGH voraus, dass sie nicht einfach nach formalen Prozeduren durchgeführt werden, sondern dass sie bedeutungsvoll sind – dies sei nicht gegeben, wenn die Parteien ihre Position vertreten würden ohne eine Modifikation derselben in Erwägung zu ziehen.81 Argumentationstheoretisch ausgedrückt wird von Parteien verlangt, dass sie ihre Position zur Disposition stellen und auf die Einwände der Opponenten eingehen. Angesichts dieser Umschreibung bezweifelt Richter Tomka, dass die Verhandlungen in Treu und Glauben geführt worden sind. Der Ahtisaari-Plan sei vom Sicherheitsrat nicht angenommen worden. Die Unabhängigkeitserklärung sei daher klar ultra vires und der Versuch, in Zusammenarbeit mit anderen Staaten, den abgelehnten Plan trotzdem umzusetzen.82 Für diese These von Richter Tomka spricht, dass sich am 28. Februar 2008 die im Plan vorgesehene ISG gebildet hat – für Russland und Serbien eine Verletzung der S/RES/1244 (1999).83 Die Gruppe wird nach Feststellung, dass der Plan umgesetzt worden ist, Ende 2012 aufgelöst.84 4. Analytischer Kommentar: Vertiefung der sachlichen Dimension Richter Yusuf kritisiert die Isolierung der Unabhängigkeitserklärung und stellt sie wieder in den Kontext der Staatsentstehung durch Sezession. Er stützt seine Kritik auf folgenorientierte Überlegungen, die eine Gefahr in der Trennung von Unabhängigkeitserklärung und dem damit erhobenen Staatlichkeitsanspruch sehen. Richter Simma kritisiert hingegen die zweite Weichenstellung, die er mit dem Lotus-Fall in Verbindung bringt. Er formuliert eine Kritik gegen das vom Gerichtshof vertretene Völkerrechtsverständnis und stellt diesem eines entgegen, 80
IGH, Kosovo, Erklärung Tomka, Rz. 22 ff. m.w. H. IGH, Kosovo, Erklärung Tomka, Rz. 29 m. Zitat aus IGH, North Continental Shelf Cases, Rz. 85. 82 IGH, Kosovo, Erklärung Tomka, Rz. 32 ff. m.w. H. 83 Vgl. Russia protests Kosovo steering group establishment, in: Ria Novosti (staatliche russische Nachrichtenagentur), 3. März 2008, verfügbar auf: http://en.rian.ru/ world/ 20080303/100494001.html; Serbia formally protests to UN about formation of international steering group for Kosovo, verfügbar auf: http://www.srbija.gov.rs/vesti/ vest.php?id=43779. 84 Communique der ISG, Sixteenth and final meeting of the International Steering Group for Kosovo, 10. September 2012, Pristina (http://www.ico-kos.org/index.php? id=8). 81
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das mehr von öffentlich-rechtlichen Prinzipien durchsetzt ist. Dem binären Code stellt er verschiedene Färbungen der Toleranz entgegen. Ein Beispiel für eine über das binäre Rechtsverständnis hinausgehende rechtliche Beurteilung kann vielleicht die Art und Weise liefern, wie Jure Vidmar das remediale Recht zur Sezession beschreibt: „Therefore, while remedial secession is not an entitlement, it may well be that oppression softens the claim to territorial integrity, so that foreign states may be more willing to waive its observance.“ 85 Im Schrifttum wird darüber diskutiert, ob das Kosovo-Gutachten als Reaktualisierung des Lotus-Prinzips angesehen werden kann oder nicht. Der Gerichtshof hat es unterlassen, sich explizit darauf zu stützen.86 Für Theodor Christakis spricht die Tatsache, dass aus dem Nichtbestehen des Verbots nicht auf ein Recht zur Sezession geschlossen werden kann, gegen die Gleichsetzung von Kosovo und Lotus.87 Oellers-Frahm geht hingegen von einer Gleichsetzung aus und schliesst daraus, dass der Gerichtshof die Theorie entweder auch auf Staaten in statu nascendi angewendet oder den Kosovo implizit als Staat anerkannt habe.88 Ein Bestandteil der Position 3 ist, dass im Rahmen der Neutralität eine ablehnende Haltung von Staaten gegenüber Sezessionen angenommen wird und dass ihnen die Ergreifung aller rechtmässigen Mittel zugestanden wird. Auf diesen Aspekt hat der Gerichtshof nicht hingewiesen.89 Der von der Position 3 beschriebene Zustand kann sicher nicht mit einem Recht zur Sezession gleichgesetzt werden. Da sich der Gerichtshof stark auf die Position 3 stützt, kann angenommen werden, dass er auch diesen Teil der Position bejahen würde, auch wenn er ihn nicht explizit in das Gutachten aufgenommen hat. Dies spricht gegen eine Gleichsetzung von Nicht-Verbot und Recht und somit gegen eine Gleichsetzung von Kosovo und Lotus. Die Identifizierung der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung hat eine starke innergerichtliche Kritik erfahren: Die Kritik von Richter Tomka wählt den gleichen methodischen Ansatz wie der Gerichtshof über die Identifizierung von relevanten Fakten und formuliert die Kritik dadurch, dass er Fakten aufzählt, die gegen die Identifizierung des Gerichtshofs sprechen. Die Richter Koroma, Sepúlveda-Amor, Bennouna und Skotnikov kritisieren hingegen die Methode. Sie knüpfe am subjektiven Willen der Verfasser an. Dies impliziere, dass sie selber wählen könnten, ob und an welche Rechtsrahmen sie 85
Vidmar, Kosovo, 156. Vgl. Christakis, Kosovo, 78 ff.; Peters, Kosovogutachten, Rz. 8 und Peters, Kosovo und globaler Konstitutionalismus, 240 f. 87 Christakis, Kosovo, 79 f. 88 Oellers-Frahm, 814. Vgl. auch Frowein, Kosovo and Lotus, 924 sowie Muharremi, 876, der nur die erste Möglichkeit erwähnt. 89 Dafür aber Richter Yusuf: IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 7. 86
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3. Teil: Argumentationsanalyse des Kosovo-Verfahrens
gebunden sein wollten. Richter Skotnikov weist zu Recht darauf hin, dass damit die Grenze zwischen ausserhalb des Rechtsrahmens zu handeln und den Rechtsrahmen zu verletzen aufgehoben wird. Ich möchte hier kurz auf einen Teil der Stellungnahme von Richter Yusuf eingehen, die vorne nicht wiedergegeben wurde, weil sie sich mit dem Interimsverfassungsrahmen auseinandersetzt. Sie ist hier von Belang, weil sie aufzeigt, wie der Gerichtshof die These, dass die PISG die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung waren mit der Position 3 hätte in Einklang bringen können. Richter Yusuf macht folgende Unterscheidung: „International administrations have to act in a dual capacity when exercising regulatory authority. Although they act under the authority of international institutions such as the United Nations, the regulations they adopt belong to the domestic legal order of the territory under international administration.“ 90
Der Interimsverfassungsrahmen sei als innerstaatlicher Rechtsrahmen anzusehen, der unter anderem die PISG konstituiere. Es handle sich somit um ein innerstaatliches Rechtssystem, das „on the basis of authority derived from an international legal source“ 91 errichtet worden sei. Die Rechtsakte, die sich auf den Interimsverfassungsrahmen stützen, seien also als innerstaatlich anzusehen, auch wenn sich der Rahmen auf Völkerrecht stütze. Diese Unterscheidung wird meist mit dem Beispiel der Ordnungsbusse begründet: Es könne ja nicht sein, dass jemand, der im Kosovo unter der S/RES/1244 (1999)-Verwaltung eine Ordnungsbusse für zu schnelles Fahren bekomme, eine völkerrechtswidrige Handlung begehe. Mit dieser Unterscheidung kann die Unabhängigkeitserklärung nun – wie von der Position 3 vorgeschlagen und insbesondere von Burundi begründet – als innerstaatlicher Rechtsakt angesehen werden, der aus völkerrechtlicher Perspektive ein Fakt ist. Dieser Begründungsweg hätte möglicherweise weniger Einwände provoziert. Schliesslich bringen die Richter ihre Enttäuschung über die fehlende Orientierung durch das Gutachten zum Ausdruck. Bis auf Richter Koroma, der gerne eine klare Positionierung im Sinne der Position 1 gesehen hätte, wünschten sich alle Richter eine orientierende Stellungnahme des Gerichtshofs zur Position 2. Für Peter Hilpold ist nur schon die Tatsache, dass der Gerichtshof überhaupt auf die Theorie des remedialen Rechts zur Sezession Bezug nimmt, ein Novum. Er sieht im Gutachten aber eine gewisse Skepsis des Gerichtshofs gegenüber der Theorie.92 Richter Koroma ist der einzige Richter, der die Position 1 in der vierten Runde des Verfahrens vertritt. Obwohl sie damit vom Gutachten am vehementesten ab90 91 92
IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 18. IGH, Kosovo, Gesonderte Stellungnahme Richter Yusuf, Rz. 19. Hilpold, Sezession und Kosovo-Gutachten, 73.
§ 13 Die Entscheidung durch den Gerichtshof
433
gelehnt wurde, können sich künftige Proponenten an den Anhaltspunkten orientieren, die ihnen Richter Koroma zur Verfügung stellt. Die Position 2 erfährt einen erheblichen Ausbau ihrer Begründungsstruktur durch die Stellungnahme von Richter Cançado Trindade. Er begründet insbesondere die funktionale Ausrichtung des Prinzips der territorialen Integrität auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Darüber hinaus begründet er die These, dass die Verletzung des letzteren eine ius cogens-Verletzung ist. Darauf können sich künftig insbesondere die Niederlande stützen, um die Rahmung des remedialen Rechts zur Sezession als Sanktion im Sinne des Staatenverantwortlichkeitsrechts zu stützen. Richter Yusuf vertritt die von den Proponenten im Verfahren formulierte Begründungsstruktur der Position 2. Richter Bennouna bringt einen neuen Einwand zur Position 2 vor: Die Vertreter der Kosovo-Versammlung könnten sich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht stützen, weil sie im Wahlkampf nicht gesagt hätten, dass sie dies nach der Wahl tun würden. Sonst zeigt sich insbesondere wieder die „moral hazard“-Problematik bezüglich der zweiten Voraussetzung. Richter Tomka zweifelt, ob die Verhandlungen in Treu und Glauben geführt worden seien. 5. Erhebung des Argumentationsstandes Das Gutachten, das die Position 3 vertritt, hat mehrere innergerichtliche Einwände provoziert: Die Beschränkung auf die Unabhängigkeitserklärung, die Methodik, die Identifizierung der Verfasser und die allgemeine Zurückhaltung, insbesondere bezüglich der Position 2 wurden kritisiert. Bezüglich der Methode scheint eine Gleichsetzung von Lotus und Kosovo nicht zutreffend zu sein. Und in Bezug auf die Identifizierung der Verfasser hat Richter Yusuf einen Begründungsweg aufgezeigt, der im Rahmen der Position 3 gewesen wäre und wahrscheinlich weniger Einwände provoziert hätte. Die Positionen 1 und 2 wurden von einzelnen Richtern vertreten. Hier hat insbesondere die Position 2 durch den Ausbau ihrer Begründungsstruktur eine Stärkung erfahren, die über eine blosse Reaktualisierung der Position hinausgeht.
4. Teil
Fazit: Teilorientierung im Zustand der Desorientierung Der zu Beginn der Untersuchung konstatierte Zustand der Desorientierung wurde von allen Akteuren inklusive des Gerichtshofs bestätigt. Insgesamt wurden fünf Positionen als neue Orientierung angeboten. Nach dem Ende der ersten drei Runden hat sich folgendes Bild präsentiert: Die Position 1 hatte am meisten Einwände gegen sich offen. Die Position 2 hatte am meisten Proponenten verloren, konnte aber mehrere Einwände entkräften und ihre Begründungsstruktur teilweise substantiell ausbauen. Die Position 3 hat Proponenten von der Position 2 gewonnen, konnte Einwände entkräften und ihre Begründungsstruktur ausbauen. Der Position 4 ist im ganzen Verfahren eine marginale Rolle zugekommen, sie ist aber als einzige einwandfrei begründbar – dies ist aber nicht zuletzt auf ihre Marginalität zurückzuführen. Die Position 5 hat auch eine marginale Rolle gespielt und mehrere Einwände provoziert. Sie und die Position 1 wurden als einzige vom Gerichtshof explizit abgewiesen. Insgesamt hat der Gerichtshof mit der Veröffentlichung des Gutachtens zu einer Teilorientierung beigetragen. Die Position 1 kann sich nicht auf Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta und die Sicherheitsratspraxis stützen. Wer sich künftig an der Hauptthese der Position 1 orientieren will, muss sich überlegen, wie er die vom Gerichtshof autoritativ festgehaltenen Thesen, die ja jederzeit als Einwände reaktualisiert werden können, entkräften will. Er könnte zwar auf die abweichende Stellungnahme von Richter Koroma verweisen, würde damit aber keine neuen Gründe gegen die alten Einwände vorbringen. Auf die Position 2 hat der Gerichtshof bloss hingewiesen, aber immerhin. Ihre Begründungsstruktur wurde durch Richter Cançado Trindade nochmals erheblich erweitert und Richter Yusuf hat sie als wichtiger Proponent vertreten. Die Richter Simma und Sepúlveda-Amor haben sie dadurch gestärkt, dass sie sich vom Gerichtshof mehr Orientierung zu dieser Position gewünscht hätten. Wer sich an ihrer Hauptthese orientieren möchte, kann mit dem Einwand der fehlenden positivrechtlichen Verankerung rechnen. Schwerer wiegen aber die Einwände, die sich aus dem Verfahren ergeben haben. Dieses hat einerseits zu einer Vereinheitlichung der Identifizierung der Träger geführt: Die These der prozeduralen Anerkennung wurde von immer mehr Akteuren vertreten. Andererseits konnte der „moral hazard“-Einwand aber nicht entkräftet werden: Die gleichzeitige Formulierung und sehr starke Einschränkung eines Rechts auf Sezession könnte dazu
4. Teil: Fazit: Teilorientierung im Zustand der Desorientierung
435
führen, dass sich sezessionistische Bewegungen an den extrem restriktiven Voraussetzungen orientieren. Die Formulierung der ersten Voraussetzung kann zur Stärkung der konfrontativen Kräfte einer solchen Bewegung führen. Die der zweiten hingegen dazu, dass das Interesse am Scheitern allfälliger Verhandlungen zu gross ist, weil dies der einzige Weg zum ultimum remedium der Sezession ist. Die dritte Position hat sich durchgesetzt. Sie geht als komplettestes Forschungsprojekt aus dem Verfahren hervor. Die einzigen Positionswechsel von Akteuren im Verfahren (Deutschland und Albanien) führten zur Stärkung der Position 3. Und sie konnte in der dritten Runde von substantiellen Erweiterungen ihrer Begründungsstruktur profitieren. Nachdem nun auch der Gerichtshof diese Position propagiert hat, kann man davon ausgehen, dass ihre orientierende Wirkung anhalten wird. Einzig zwei Punkte dürften vielleicht zu einer Modifizierung des Forschungsprojekts führen: die Reaktualisierung des Lotus-Ansatzes und die wenig überzeugende Identifizierung der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung. Darauf weist nicht zuletzt auch die innergerichtliche Kritik der Richter Yusuf, Simma, Skotnikov, Koroma, Sepúlveda-Amor und Bennouna hin. Die vierte und die fünfte Position spielen in den Veröffentlichungen des Gerichtshofs keine Rollen mehr. Das ist bezüglich der Position 4 bedauerlich. Sie hat sich im Verfahren dadurch ausgezeichnet, dass sie den konfliktuellen und singulären Aspekten von Sezessionen und Staatsentstehungen gegenüber am sensibelsten ist, dass sie die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts über die Dekolonialisierung hinaus in einen adäquaten Rahmen setzen kann und dass sie dem Element der Abwägung der verschiedenen Ansprüche unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker einen zentralen Platz zuweist. Leider ist nach ihrer Marginalisierung im Verfahren nicht davon auszugehen, dass sich die relevanten internationalen, nationalen und regionalen Akteure in Sezessionskonflikten an ihr orientieren werden.
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OIK-Charta: Charter of the Organisation of the Islamic Conference vom 4. März 1972, in: 914 UNTS 103 OVKS-Charta: Charter of the Collective Security Organization vom 7. Oktober 2002, in: 2235 UNTS 79 Praktische Anweisungen: ICJ Practice Directions, Version vom 20. Januar 2009, in: http://www.icj-cij.org/documents/index.php?p1=4&p2=4&p3=0 RAB (EU), Schlussfolgerung zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo: Kosovo – Schlussfolgerungen des Rates, Rat der Europäischen Union, 2851. Tagung des Rates Allgemeine Angelegenheiten und Aussenbeziehungen, Brüssel, 18. Februar 2008, in: Rat der Europäischen Union, Mitteilungen an die Presse, Dok. 6496/08 (Presse 41), 7 und S/2008/105, Annex. Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten: Europarat, Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995, SEV Nr. 157 Rambouillet-Abkommen: Rambouillet Accords: Interim Agreement for Peace and SelfGovernment in Kosovo, in: S/1999/648 vom 7. Juni 1999 RiG: Resolution zur internen Gerichtspraxis/Resolution Concerning the Internal Judicial Practice of the Court vom 12. April 1976 (vgl. Art. 19 IGH-Verfahrensregeln) Römer Statut des IStGH: Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, in: 2187 UNTS 90 und SR 0.312.1 Schlussakte von Helsinki: KSZE-Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975, in: 14 I.L.M. 1292 (1975) Serbische Verfassung von 2006: Constitution of the Republic of Serbia, 30. September 2006, publiziert im serbischen Amtsblatt unter der Nr. 83/06 (http://www.srbija. gov.rs/cinjenice_o_srbiji/ustav.php?change_lang=en) Unabhängigkeitserklärung des Kosovo: Kosova Declaration of Independence by the Assembly of Kosovo, 17. Februar 2008, in: VN-Dossier, Nr. 192 VN-Charta: Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, in: 1 UNTS XVI (nachfolgende Änderungen: 557 UNTS 143, 638 UNTS 308, 892 UNTS 119) und SR 0.120 VN-Dossier: IGH, Kosovo, Dossier submitted on behalf of the Secretary-General pursuant to article 65, paragraph 2, of the Statute (http://www.icj-cij.org/docket/index. php?p1=3&p2=4&k=21&case=141&code=kos&p3=0) VN-Ergebnisdokument des Weltgipfels 2005: 2005 World Summit Outcome, A/RES/60/ 1 vom 24. Oktober 2005 VN-Erklärung über das Recht auf Entwicklung: Declaration on the Right to Development, A/RES/41/128 vom 4. Dezember 1986 VN-Erklärung über die Dekolonialisierung: Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples, A/RES/15/1514 vom 14. Dezember 1960 VN-Erklärung über die Rechte indigener Völker: United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples, A/RES/61/295 vom 13. September 2007
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VN-Erklärung über die Rechte von Minderheiten: Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, A/RES/47/ 135 vom 18. Dezember 1992 VN-Erklärung zum 50. Jahrestag: Declaration on the Occasion of the Fiftieth Anniversary of the United Nations, A/RES/50/6 vom 24. Oktober 1995 VN-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 12: Un Human Rights Committee, CCPR General Comment Nr. 12: Article 1 (Right to Self-Determination), HRI/GEN/1/Rev. 9 (Vol. I), 183 vom 13. März 1984 VN-Menschenrechtsausschuss, Allgemeine Bemerkung Nr. 23: UN Human Rights Committee, CCPR General Comment Nr. 23: Article 27 (Rights of Minorities), CCPR/ C/21/Rev.1/Add.5 vom 26. April 1994 VN-Menschenrechtspakt I: Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966, in: 993 UNTS 3 und SR 0.103.1 VN-Menschenrechtspakt II: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966, in: 999 UNTS 172 und SR 0.103.2 VN-Milleniumserklärung: Milleniums-Erklärung der Vereinten Nationen, A/RES/55/2 vom 13. September 2000 VN-Terrorismusbekämpfungsstrategie: The United Nations Global Counter-Terrorism Strategy, A/RES/60/288 vom 20. September 2006 Wiener Erklärung: World Conference on Human Rights, Vienna Declaration and Programme of Action, A/CONF.157/23 vom 12. Juli 1993, in: 32 I.L.M. 1665 (1993) WVK: Wiener Vertragsrechtskonvention; Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, in: 1155 UNTS 331
Urteilsverzeichnis Urteile und Gutachten des StIGH (September 1922 bis April 1946) und des IGH (ab April 1946) Admission: Conditions of Admission of a State to Membership in the United Nations (Art. 4 of the Charter), Advisory Opinion of 28 May 1948, ICJ Reports 1947–1948, 57 Application for Review (Fasla Case): Application for Review of Judgement No. 158 of the United Nations Administrative Tribunal, Advisory Opinion of 12 July 1973, ICJ Reports 1973, 166 Application of the CERD, Preliminary Objections: Case Concerning Application to the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Georgia v. Russian Federation), Preliminary Objections, Judgment of 1 April 2011, ICJ Reports 2011, 70 Application of the Genocide-Convention (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro): Case Concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Judgment of 26 February 2007, ICJ Reports 2007, 43 Application of the Genocide-Convention, Preliminary Objections (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia): Case Concerning Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia), Preliminary Objection, Judgment of 11 July 1996, ICJ Reports 1996, 595 Arbitral Award by the King of Spain: Case Concerning the Arbitral Award by the King of Spain on 23 December 1996 (Honduras v. Nicaragua), Judgment of 18 November 1960, ICJ Reports 1960, 192 Arbitral Award of 31 July: Case Concerning the Arbitral Award of 31 July 1989 (Guinea-Bissau v. Senegal), Judgment of 12 November 1991, ICJ Reports 1991, 53 Armed Activities in the Territory of the Congo (New Application: 2002), Jurisdiction and Admissability: Case Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo (New Application: 2002) (Democratic Republic of the Congo v. Rwanda), Jurisdiction of the Court and Admissability of the Application, Judgment of 3 February 2006, ICJ Reports 2006, 6 Arrest Warrant Case: Case Concerning the Arrest Warrant of 11 April 2000 (Democratic Republic of the Congo v. Belgium), Judgment of 14 February 2002, ICJ Reports 2002, 3 Asylum Case: Asylum Case (Colombia v. Peru), Judgment of 20 November 1950, ICJ Reports 1950, 266
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Barcelona Traction: Case Concerning the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (New Application: 1962) (Belgium v. Spain), Second Phase, Judgment of 5 February 1970, ICJ Reports 1970, 3 Cameroon v. Nigeria: Case Concerning the Land and Maritime Boundary between Cameroon and Nigeria (Cameroon v. Nigeria; Equatorial Guinea intervening), Judgement of 10 October 2002, ICJ Reports 2002, 303 Certain Expenses: Certain Expenses of the United Nations (Article 17, Paragraph 2, of the Charter), Advisory Opinion of 20 July 1962, ICJ Reports 1962, 151 Competence of the Assembly: Competence of the General Assembly for the Admission of a State to the United Nations, Advisory Opinion of 3 March 1950, ICJ Reports 1950, 4 Consistency of Certain Danzig Legislative Decrees: Consistency of Certain Danzig Legislative Decrees with the Constitution of the Free City, Advisory Opinion of 4 December 1935, PCIJ Series A/B, No 65, 40 Constitution of the Maritime Safety Committee: Constitution of the Maritime Safety Committee of the Inter-governmental Maritime Consultative Organization, Advisory Opinion of 8 June 1960, ICJ Reports 1960, 150 Continental Shelf (Tunisia v. Libya): Case concerning the Continental Shelf (Tunisia v. Libyan Arab Jamahiriya), Judgment of 24 February 1982, ICJ Reports 1982, 18 Corfu Channel Case: The Corfu Channel Case, Merits, Judgment of 9 April 1949, ICJ Reports 1949, 4 East Timor: Case Concerning East Timor (Portugal v. Australia), Judgment of 30 June 1995, ICJ Reports 1995, 90 Eastern Carelia: Status of Eastern Carelia, Advisory Opinion of 23 July 1923, P.C.I.J., Series B, No 5, 27 Eastern Greenland: Legal Status of Eastern Greenland (Denmark v. Norway), Judgment of 5 April 1933, P.C.I.J., Series A/B, No 53 Effect of Awards of Compensation: Effect of awards of compensation made by the United Nations Administrative Tribunal, Advisory Opinion of 13 July 1954, ICJ Reports 1954, 47 Factory at Chorzów: Case Concerning the Factory at Chorzów (Claim for Indemnit), Merits, Judgment of 18 September 1928, P.C.I.J., Series A, No. 17 Frontier Dispute (Burkina Faso v. Mali): Case Concerning the Frontier Dispute (Burkina Faso v. Republic of Mali), Judgment of 22 December 1986, ICJ Reports 1986, 554 Fisheries Case: Fisheries Case (United Kingdom v. Norway), Judgment of 18 December 1951, ICJ Reports 1951, 116 Greco-Bulgarian Communities: The Greco-Bulgarian „Communities“, Advisory Opinion of 31 July 1930, P.C.I.J., Series B, No. 17 Gulf of Maine Area: Case Concerning Delimitation of the Maritime Boundary in the Gulf of Maine Area (Canada v. United States of America), Judgment of 12 October 1984, ICJ Reports 1984, 246
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Interpretation of Judgments Nos. 7 and 8: Interpretation of Judgments Nos. 7 and 8 (The Chorzów Factory), PCIJ Series A, No 13, 1 Interpretation of Peace Treaties (First Phase): Interpretation of Peace Treaties with Bulgaria, Hungary and Romania, Advisory Opinion of 30 March 1950, ICJ Reports 1950, 65 Interpretation of Peace Treaties (Second Phase): Interpretation of Peace Treaties with Bulgaria, Hungary and Romania (second phase), Advisory Opinion of 18 July 1950, ICJ Reports 1950, 221 Interpretation of the Judgment of 24 February 1982 (Tunisia v. Libya): Application for Revision and Interpretation of the Judgment of 24 February 1982 in the Case Concerning the Continental Shelf (Tunisia/Libyan Arab Jamahiriya) (Tunisia v. Libyan Arab Jamahiriya), Judgment of 10 December 1985, ICJ Reports 1985, 192 Kosovo: Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, Advisory Opinion of 22 July 2010, ICJ Reports 2010, 403 Lotus: The Case of the S.S. „Lotus“, Judgment of 7 September 1927, P.C.I.J., Series A, No. 10 Mavrommatis Palestine Concessions: Mavrommatis Palestine Concessions, Judgement of 24 August 1924, P.C.I.J., Series A, No. 2 Namibia: Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory opinion of 21 June 1971, ICJ Reports 1971, 16 North Sea Continental Shelf Cases: North Sea Continental Shelf Cases (Federal Republic of Germany v. Denmark; Federal Republic of Germany v. Netherlands), Judgment of 20 February 1969, ICJ Reports 1969, 3 Northern Cameroons: Case Concerning the Northern Cameroons (Cameroon v. United Kingdom), Preliminary Objections, Judgment of 2 December 1963, ICJ Reports 1963, 15 Nuclear Test Case (Australia v. France): Nuclear Test Case (Australia v. France), Judgment of 20 December 1974, ICJ Reports 1974, 253 Nuclear Test Case (New Zealand v. France): Nuclear Test Case (New Zealand v. France), Judgment of 20 December 1974, ICJ Reports 1974, 457 Nuclear Weapons: Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion 8 July 1996, ICJ Reports 1996, 226 Nuclear Weapons in Armed Conflicts: Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflicts, Advisory Opinion 8 July 1996, ICJ Reports 1996, 66 Phosphate Lands in Nauru: Case Concerning Certain Phosphate Lands in Nauru (Nauru v. Australia), Preliminary Objections, Judgment of 26 June 1992, ICJ Reports 1992, 240 Polish Upper Silesia: Case Concerning Certain German Interests in Polish Upper Silesia, Merits, Judgment of 25 May 1926, P.C.I.J., Series A, No. 7
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Reparation for Injuries: Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion 11 April 1949, ICJ Reports 1949, 174 Reservations to the Genocide-Convention: Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Advisory Opinion 28 May 1951, ICJ Reports 1951, 15 South West Africa (Petitioners): Admissibility of Hearings of Petitioners by the Committee on South West Africa, Advisory Opinion 1 June 1956, ICJ Reports 1956, 23 South West Africa (Status): International Status of South West Africa, Advisory Opinion 11 July 1950, ICJ Reports 1950, 128 South West Africa (Voting): Voting Procedure on Questions relating to Reports and Petitions concerning the Territory of South West Africa, Advisory Opinion 7 June 1955, ICJ Reports 1955, 67 South West Africa Cases, Preliminary Objections: South West Africa Cases (Ethiopia v. South Africa/Liberia v. South Africa), Preliminary Objections, Judgement of 21 December 1962, ICJ Reports 1962, 319 South West Africa Cases, Second Phase: South West Africa Cases (Ethiopia v. South Africa/Liberia v. South Africa), Second Phase, Judgement of 18 July 1966, ICJ Reports 1966, 6 Sovereignty over Pedra Branca/Pulau Batu Puteh, Middle Rocks and South Ledge: Case Concerning Sovereignty over Pedra Branca/Pulau Batu Puteh, Middle Rocks and South Ledge (Malaysia v. Singapore), Judgment of 23 May 2008, ICJ Reports 2008, 12 Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand): Case concerning the Temple of Preah Vihear (Cambodia v. Thailand), Merits, Judgment of 15 June 1962, ICJ Reports 1962, 6 Territorial Dispute (Libya v. Chad): Case concerning the Territorial Dispute (Libyian Arab Jamahiriya v. Chad), Judgment of 3 February 1994, ICJ Reports 1994, 6 Wall: Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion 9 July 2004, ICJ Reports 2004, 136 Western Sahara: Western Sahara, Advisory Opinion 16 October 1975, ICJ Reports 1975, 12 WHO-Egypt Agreement: Interpretation of the Agreement of 25 March 1951between the WHO and Egypt, Advisory Opinion 20 December 1980, ICJ Reports 1980, 73
Gutachten der Badinter-Schiedskommission Gutachten 1: Opinion No. 1, Conference on Yugoslavia, Arbitration Commission, 29 November 1991, in: ILR, 92, 1993, 162 ff.; ILM, 31, 1992, 1494 ff. Gutachten 2: Opinion No. 2, Conference on Yugoslavia, Arbitration Commission, 11 January 1992, in: ILR, 92, 1993, 167 ff.; ILM, 31, 1992, 1497 ff. Gutachten 3: Opinion No. 3, Conference on Yugoslavia, Arbitration Commission, 11 January 1992, in: ILR, 92, 1993, 170 ff.; ILM, 31, 1992, 1499 ff.
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Gutachten 4: Opinion No. 4, On International Recognition of The Socialist Republic of Bosnia-Herzegovina by the European Community and its Member States, Conference on Yugoslavia, Arbitration Commission, 11 January 1992, in: ILR, 92, 1993, 173 ff.; ILM, 31, 1992, 1501 ff. Gutachten 5: Opinion No. 5, On the Recognition of the Republic of Croatia by the European Community and its Member States, Conference on Yugoslavia, Arbitration Commission, 11 January 1992, in: ILR, 92, 1993, 179 ff.; ILM, 31, 1992, 1503 ff. Gutachten 6: Opinion No. 6, On the Recognition of the Republic of Macedonia by the European Community and its Member States, Conference on Yugoslavia, Arbitration Commission, 11 January 1992, in: ILR, 92, 1993, 182 ff.; ILM, 31, 1992, 1507 ff. Gutachten 7: Opinion No. 7, On the Recognition of the Republic of Slovenia by the European Community and its Member States, Conference on Yugoslavia, Arbitration Commission, 11 January 1992, in: ILR, 92, 1993, 188 ff.; ILM, 31, 1992, 1512 ff. Zwischenentscheid: Interlocutory Decision (Opinions No. 8, 9 and 10), Conference for Peace in Yugoslavia, Arbitration Commission, 4 July 1992, in: ILR, 92, 1993, 194 ff.; ILM, 31, 1992, 1518 ff. Gutachten 8: Opinion No. 8, Conference for Peace in Yugoslavia, Arbitration Commission, 4 July 1992, in: ILR, 92, 1993, 199 ff.; ILM, 31, 1992, 1521 ff. Gutachten 9: Opinion No. 9, Conference for Peace in Yugoslavia, Arbitration Commission, 4 July 1992, in: ILR, 92, 1993, 203 ff.; ILM, 31, 1992, 1523 ff. Gutachten 10: Opinion No. 10, Conference for Peace in Yugoslavia, Arbitration Commission, 4 July 1992, in: ILR, 92, 1993, 206 ff.; ILM, 31, 1992, 1525 ff. Bemerkungen: Observations on Croatian Constitutional Law (Comments on the Republic of Croatia’s Constitutional Law of 4 December 1991, as last amended on 8 May 1992), Conference for Peace in Yugoslavia, Arbitration Commission, 4 July 1992, in: ILR, 92, 1993, 209 ff. Gutachten 11: Opinion No. 11 (Dates of Succession), International Conference on the Former Yugoslavia, Arbitration Commission, 16 July 1993, in: ILM, 32, 1993, 1587 ff. Gutachten 12: Opinion No. 12 (Applicable Legal Principles), International Conference on the Former Yugoslavia, Arbitration Commission, 16 July 1993, in: ILM, 32, 1993, 1589 ff. Gutachten 13: Opinion No. 11 (Effect of War Damages on Division), International Conference on the Former Yugoslavia, Arbitration Commission, 16 July 1993, in: ILM, 32, 1993, 1591 ff. Gutachten 14: Opinion No. 14 (Assets and Liabilities to be Divided), International Conference on the Former Yugoslavia, Arbitration Commission, 13 August 1993, in: ILM, 32, 1993, 1593 ff. Gutachten 15: Opinion No. 15 (Banks), International Conference on the Former Yugoslavia, Arbitration Commission, 13 August 1993, in: ILM, 32, 1993, 1595 ff.
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Weitere Urteile, Gutachten und Schiedssprüche Aaland-Fall: Report submitted to the Council of the League of Nations by the Commission of Rapporteurs, 16. April 1921, in: League of Nations, Council Doc. B.7/21/ 68/106 [VII] (1921) Aaland-Fall (Zuständigkeit): Report of the International Committee of Jurists entrusted by the Council of the League of Nations with the task of giving an advisory opinion upon the legal aspects of the Aaland Island Question, in: LNOJ, Special Supplement No. 3, 1920 Island of Palmas-Fall: Island of Palmas Case (Netherlands v. USA), Ständiger Schiedshof, Schiedsspruch vom 4. April 1928, Schiedsrichter: Max Huber, in: UNRIAA, Vol. 2, 838; AJIL, Vol. 22, Nr. 4, 1928, 867 ff.; ZaöRV, Vol. 1, Nr. 2, 1929, 3 Katangese Peoples’ Congress v. Zaire: ACHPR, Katangese Peoples’s Congress v. Zaire, Merits, Communication No 75/92, IHRL 174 (ACHPR1995), October 1995 Loizidou v. Turkey: EGMR, Chamber, Case of Loizidou v. Turkey, Appl. No. 15318/89, Judgment (Merits), 18. Dezember 1996 Prosecutor v. Milutinovic et al.: ICTY, Prosecutor v. Milan Milutinovic et al., Judgment, Vol. 2, Case No. IT-05-87-T, 26. Februar 2009 Quebec-Gutachten: Supreme Court of Canada, Reference re Secession of Quebec, (1998) 2 S.C.R 217, in: 37 I.L.M. 1340 (1998)
Stichwortverzeichnis Aaland-Fall 229, 231, 232, 244, 255, 283, 318, 357, 386, 388, 389, 391, 393, 399, 400, 401 Agenda for Peace 103, 187, 216, 217, 219 Argument 130 Argumentationsanalyse 145 ARSIWA 248, 272, 273, 274, 275, 276, 371, 376, 410 Badinter-Schiedskommission 43, 175, 179, 187, 193, 225, 229, 237, 247, 251, 270, 271, 292, 295, 311, 313, 329, 334, 338, 355, 357, 358, 368, 387, 398 Bantustans 199, 203, 218, 324, 325, 326, 333, 356, 406 Begründen siehe Operationen im argumentativen Dialog Behaupten siehe Operationen im argumentativen Dialog Dialog 130 Dialogische Züge 138 Dissolution der SFRJ 27, 137, 201, 212, 238, 270, 271, 292, 295, 303, 313, 320, 329, 332, 335, 356, 368, 388, 404, 407 Doxastische Theorie 123 Epistemische Theorie 121 Erklären 124 Forschen 124 Forschungsprojekt 129 Friendly Relations Declaration 95, 103, 174, 177, 183, 188, 190, 192, 193, 199, 203, 207, 208, 213, 214, 219, 223, 224, 234, 235, 236, 239, 241, 242, 245, 247, 251, 252, 253, 254, 259
Geltung 141 – Epistemische Geltung 141 – Thetischer Geltungsanspruch 141 Geltungsbezogene Argumentationstheorie 110 Hoheitstitel 402, 403, 411 Katanga 103, 120, 212, 265, 319, 324, 325, 326, 333, 338, 339, 341, 369, 420 Kosovo-Verfahren des Internationalen Gerichtshofs 37 – Forschungsstand 41 – Gutachten 156, 414 – Mündliche Stellungnahmen 155, 220, 293, 353, 394, 408 – Repliken 154, 198, 268, 336, 394, 408 – Schriftliche Stellungnahmen 152, 172, 234, 312, 386, 402 Kritisieren siehe Operationen im argumentativen Dialog Lotus-Prinzip 42, 43, 316, 330, 333, 342, 353, 362, 379, 420, 430, 431 Montevideo-Konvention 103, 132, 330, 396, 405, 426 Namibia 154, 188, 277, 319, 324, 326, 341, 381, 387, 391, 404 Nordzypern 206, 324, 325, 326, 333, 339, 346, 369, 385, 410, 415 Operationen im argumentativen Dialog – Begründen 131 – Behaupten 131 – Kritisieren 134
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Stichwortverzeichnis
Orientierung 111, 115 Osttimor siehe Timor-Leste Position 129 Quaestio 124 Questio, der vorliegenden Untersuchung 162 Rahmenstruktur 134 Rambouillet-Abkommen 187, 195, 196, 207, 219, 225, 233, 240, 252, 268, 277, 283, 288, 289, 290, 292, 295, 299, 300, 303, 306, 311 Selbstbestimmungsrecht der Völker 184, 334 – als Prinzip der Inklusion 191 – remediale Ausübung 242, 256, 266, 270, 279, 288, 296, 300, 306, 308, 311, 319, 416, 423, 428, 429 – Systematische Stellung 185, 206, 222, 235, 276, 293, 387, 425 – Träger 186, 207, 231, 240, 269, 277, 294, 299, 305, 311 Sezession 27 – als abnormale Situation 386 – als Abspaltung des Territoriums 172 – als faktischer Vorgang 312, 313, 336, 339, 345, 354, 370, 377, 379, 384, 395, 405, 409 – als Übergang des Hoheitstitels 402 – als Willensäusserung des Volkes 234 – des Kosovo 25, 37, 156 – remediale Sezession siehe Selbstbestimmungsrecht der Völker, remediale Ausübung – und die Neutralität des Völkerrechts 316, 324, 337, 341, 345, 356, 368, 377, 423, 425 – und die SFRJ-Verfassung von 1974 303 – und Einzelfallbewertung 396 – und ius cogens-Verletzungen 324
– und kollektive Nichtanerkennung 324 – und Staatenverantwortlichkeit 272 Sprachliche Indetermination 64 Spur 86 Strukturelle Indetermination 62 Südrhodesien 103, 120, 188, 319, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 333, 338, 339, 341, 356, 368, 370, 376, 385, 415, 420 Territoriale Integrität 345 – Anwendbarkeit ratione personae 178, 198, 204, 212, 316, 322, 362, 415 – Inhaltliche Tragweite 175 – Systematische Stellung 173, 203, 211, 220, 229, 322, 360, 361, 402, 409, 425, 426 These 126 Thetische Dynamik 140 Thetische Konstruktion 126 Timor-Leste 103, 186, 188, 273, 274, 319, 358, 363, 381, 387, 391 Unabhängigkeitserklärung 415, 419 – als Anspruch auf Souveränitätsausübung 387 – als faktischer Vorgang 313, 336, 339, 345, 354, 369, 377, 384, 395, 424 – Verfasser von Unabhängigkeitserklärungen 347, 371, 416, 421 Völkerrechtliche Argumentation 32 – als Deduktion 50 – als Persuasion 61 – Problematisierung 49 – und semiotische Wende 96 Wall 154, 236, 277, 296, 319, 344 Westsahara 103, 153, 186, 188, 190, 208, 209, 270, 277, 319 Wissen 121 Zeichenpraxis 111