»Das Kind ist nicht abrichtfähig«: »Euthanasie« in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943 [4 ed.] 9783412523145, 9783412523114


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»Das Kind ist nicht abrichtfähig«: »Euthanasie« in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943 [4 ed.]
 9783412523145, 9783412523114

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Andreas Kinast Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943

»DAS KIND IST NICHT ABRICHTFÄHIG«

Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen

1

2 RHEINPROVINZ Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der rheinischen Provinzialverwaltung und des Landschaftsverbandes Rheinland Band 18 Herausgegeben vom LANDSCHAFTSVERBAND RHEINLAND LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum Redaktion: Wolfgang Schaffer

Einführung

Andreas Kinast „DAS KIND IST NICHT ABRICHTFÄHIG“ „Euthanasie“ in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941-1943

Überarbeitete Neuauflage

Böhlau Verlag wien Köln Weimar

3. Auflage 2014 2. Auflage 2011 und 1. Auflage 2010: sh Verlag, Köln © 4., überarbeitete Auflage 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill ­Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Gebäude der ehem. Kinderfachabteilung Waldniel, 2004, Foto: A. Kinast; Stempel aus Bundesarchiv Berlin, Provenienz Kanzlei des Führers, Akte Bouhler Einbandgestaltung  : Guido Klütsch, Köln Satz  : Walburga Fichtner, Köln Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52314-5

INHALTSVERZEICHNIS

Grusswort zur Neuauflage der Publikation von Andreas Kinast „‚Das Kind ist nicht abrichtfähig‘. ‚Euthanasie‘ in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943“

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Vorwort: Zehn Jahre danach

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Einleitung: Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen

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1. „Meldung gemäss Runderlass …“ 21 2. Vom „St. Josefsheim“ Waldniel zur „Kinderfachabteilung“ – die Veränderungen ab 1933 am Beispiel Egidius S.

43

3. Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel Die Einrichtung der Kinderfachabteilung 1941 Der erste Todesfall für Hermann Wesse als Arzt in Waldniel Die Bedeutung der Waldnieler Abteilung im Vergleich Die Einweisung der Kinder Auflösung der Waldnieler Abteilung Das weitere Schicksal der Waldnieler Reichsausschusskinder Tötungen nach Kriegsende ?

57 57 60 63 65 67 69 71

4. Die Anstaltsärzte Dr. med. Georg Renno Dr. med. Hildegard Wesse Hermann Wesse

73 73 88 104

5. Opfer und Angehörige Die „Euthanasie“ und die Haltung von Eltern und Angehörigen – vier Fallbeispiele Anneliese B. – „Ally“ Else H. – „Els’chen“

121 122 122 136 148

6. Das Pflegepersonal Die leitenden Pflegerinnen der Kinderfachabteilung Anna Wrona und Luise Müllender Alltag in der Kinderfachabteilung Ein Gegenbeispiel: Wilma P. Mord und Pflege „Tür an Tür“?

163

7. „Forschung“ und Experimente

211

8. Der „gute Tod“?

219

9. Die Vorgesetzten und ihre konkreten Verstrickungen in die Kinder-„Euthanasie“ in Waldniel, die Strafverfolgung Heinrich („Heinz“) Haake Prof. Dr. Walter Creutz Dr. med. Wilhelm Kleine Dr. med. habil. Hans Aloys Schmitz

231 231 233 244 251

10. Hermann Wesse – Tragik eines Kindermörders? „Doktor“ Hermann Wesse Die Partei und der „Sonderauftrag“ Der Strafvollzug

267 267 274 281

11. Vergraben und vergessen

303

Epilog

309

Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

315

Anhang Archivverzeichnis Literaturverzeichnis Abbildungsnachweise

326 326 326 327

163 193 201 204

7 Meiner Frau Sabine und meiner Tochter Alina, die mich bei den langen Recherchen zu diesem Buch stets unterstützt und bestärkt haben.

GRUSSWORT ZUR NEUAUFLAGE DER PUBLIKATION VON ANDREAS KINAST „‚DAS KIND IST NICHT ABRICHTFÄHIG‘. ‚EUTHANASIE‘ IN DER KINDERFACHABTEILUNG WALDNIEL 1941–1943“

I

m Jahr 2010 erschien erstmals die Veröffentlichung von Andreas Kinast über die Kindertötungen in der Kinderfachabteilung Waldniel in den Jahren 1941 bis 1943. Die Geschehnisse im „Dritten Reich“ um die systematische Erfassung und menschenverachtende „Behandlung“ von fast 100 Kindern und Jugendlichen mit gezieltem tödlichem Ausgang machen noch heute betroffen. Hier zeigt sich eine weitere grausame Facette der „Gesundheitspolitik“ eines Regimes, welches Schwache, Kranke und Behinderte marginalisierte und als „unnütze Esser“ disqualifizierte. Für Hunderttausende psychisch Kranker und Behinderter führte der Weg zwischen 1940 und 1945 reichsweit in den Tod, in zeitgenössischer Diktion beschönigend mit dem Begriff „Euthanasie“ umschrieben. Wie die vorliegende Studie in eindringlicher Weise deutlich macht, schlossen die „Euthanasie“-Maßnahmen auch Kinder und Jugendliche keineswegs aus. In Waldniel befand sich während des Krieges eine Außenstelle der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Süchteln, der heutigen LVR-Klinik Viersen. Die in dieser Außenstelle zeitweise bestehende Kinderfachabteilung ist ein Teil der systematisch organisierten Kindermorde des NS-Regimes gewesen. Während die Ermordung erwachsener Euthanasieopfer aus der Rheinprovinz grundsätzlich im Anschluss an spezielle Verlegungstransporte außerhalb dieser Provinz stattfand, war die Kinderfachabteilung Waldniel zwischen 1941 und 1943 unmittelbarer Ort konsequenter Schwächung und Tötung der Kinder und Jugendlichen durch gezielte „medizinische“ Maßnahmen. Der Landschaftsverband Rheinland fühlt sich in der Nachfolge der ehemaligen Rheinischen Provinzialverwaltung, deren Aufgaben er zu einem großen Teil 1953 übernommen hat, verpflichtet, sich auch seiner eigenen Vergangenheit zu stellen und dabei auch seine Vorgängerorganisation miteinzubeziehen. Seit dem Ende der 1980er Jahre und konsequent bis in die Gegenwart sucht er den Anspruch „Der LVR stellt sich seiner Geschichte“ durch Vorträge, Ausstellungen und Publikationen vielfältig umzusetzen. Hierzu gehört seit Jahren auch die Aufarbeitung der Geschichte seiner Einrichtungen und speziell auch der Morde an Kranken und Behinderten. Der LVR bekennt sich zu einer aktiv betriebenen Erinnerungskultur, die nicht nur ein Vergessen verhindern, sondern in einer demokratischen Gesellschaft Zustände und Geschehnisse der Vergangenheit durchaus auch mit einem didaktischen Akzent mahnend und aufklärend gegenwärtig halten will.

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Grusswort zur Neuauflage

In Waldniel ist im Jahr 2018 unter maßgeblicher Beteiligung des LVR und in Ergänzung eines intensiven bürgerschaftlichen Engagements vor Ort eine Gedenkstätte entstanden, die der Aufarbeitung und dem Erinnern an die zahlreichen kranken und behinderten Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen, die in der „Abteilung Waldniel“ verstarben, verpflichtet ist. Auch die Publikation von Andreas Kinast ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Erinnerungskultur. Die Tatsache, dass diese Studie nunmehr sogar in einer vierten Auflage erscheinen soll, erfüllt mich mit Freude, belegt sie doch das ungebrochene Interesse der Öffentlichkeit und die Sinnhaftigkeit und Erfordernis eines fortwährenden Gedenkens an die dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit. Milena Karabaic LVR-Dezernentin für Kultur und Landschaftliche Kulturpflege

ZEHN JAHRE DANACH

A

ls die erste Auflage dieses Buches im Dezember 2010 erschien, glaubte ich am Ende eines langen Weges angekommen zu sein. Fast sieben Jahre lang hatte ich nahezu jede freie Minute mit diesem Thema verbracht, unzählige Telefonate geführt, war von einem Staatsarchiv zum nächsten durch das Land gereist und hatte praktisch jeden Stein umgedreht, unter dem ich irgendwelche weiterführenden Informationen zum Thema vermutete. Meine Familie hatte mit bewundernswerter Duldsamkeit die immensen Zeitanteile akzeptiert, die ich mit diesem Thema verbrachte, sich mit der diffusen Erkenntnis begnügend, dass „der Papa das machen muss“, weil es „irgendwie wichtig“ ist. Nun war es endlich soweit. Das Buch war fertig, die Vorlage bei der Druckerei. Es gab nichts mehr zu ändern, nichts mehr zu tun und ich dachte, es würde jetzt sicher etwas Resonanz in der Regionalpresse geben. Danach wäre das Thema aber wohl bald für mich abgeschlossen. Und dann geschah das, womit niemand gerechnet hatte. Die beim sh-Verlag erschienene erste Auflage in einer für die Bände der Schriftenreihe „Rheinprovinz“ des LVR üblichen Größenordnung war nach weniger als zehn Wochen vergriffen. Eine, im April 2011 produzierte zweite Auflage war nach zwei Jahren ebenfalls vergriffen. Beim Böhlau Verlag erschien schließlich 2014 die erste, bearbeitete Neuauflage, die, trotz eines weiteren Nachdrucks im Jahr 2017, heute, während ich diese Zeilen schreibe, auch komplett ausverkauft ist. So kann ich heute feststellen, dass der Dezember 2010 nicht das Ende, sondern der Anfang eines Weges gewesen ist, den dauerhaft und mit offenem Ende weiter zu gehen, für mich mittlerweile selbstverständlich geworden ist. In diesen zehn Jahren bin ich zu zahlreichen Vortragsveranstaltungen eingeladen worden in denen ich den Menschen das Thema näher bringen und gleichzeitig umfangreiche Kontakte zu Angehörigen bzw. Nachkommen der Opfer und Täter, anderen Historikern, Autoren und Forschern knüpfen konnte, wodurch sich auch für das vorliegende Buch immer wieder Zusatzinformationen, Korrekturen und Ergänzungen ergaben, die ich bei jeder neuen Auflage sorgsam eingepflegt habe. So konnte ich z.B. den Leidensweg des Kindes Nikolaus A., durch die freundliche Unterstützung von Thomas Schnitzler aus Trier, bis zum Ende verfolgen und ihn im Gegenzug mit Details zu dessen Vorgeschichte bei seiner Forschungsarbeit unterstützen. Dass ein faires, kollegiales „Geben und Nehmen“ unter Historikern durchaus nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, zählt wiederum zu den schmerzlicheren Erkenntnissen, die ich in diesen Jahren gewonnen habe. Unvergesslich ist mir die erste Buchpräsentation in der damaligen Bücherei am Markt in Waldniel, bei der der Andrang so überwältigend war, dass trotz zusätzlicher, aus dem Rathaus geholter Sitzreihen, die Teilnehmer auf dem Boden und auf den Kinderstühl-

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Zehn Jahre danach

chen der Spielecke saßen. Die Verleihung des „Rheinlandtalers“ im Jahr 2014 hat mich mit Stolz erfüllt, ebenso zahlreiche, durchweg positive, Rezensionen aus dem In- und Ausland. Eine davon sogar aus Italien, die ich mir zunächst mal übersetzen lassen musste. Besonders gefreut haben mich die Dinge, die durch dieses Buch in Bewegung gesetzt wurden und ohne mein Zutun eine Eigendynamik entwickelt haben, die ich niemals erwartet hätte und die ich selbst nie hätte stemmen können. Hierzu zählen mehrere, inzwischen verlegte, so genannte „Stolpersteine“ für Opfer, deren Akten ich seinerzeit im verstaubten Süchtelner Aktenkeller aus den Regalen gezogen habe, die Rettung und wissenschaftliche Verfügbar-Machung dieses gesamten Aktenbestandes durch dessen Übernahme in den Aktenbestand des Archivberatungs- und Fortbildungszentrums des Landschaftsverbandes Rheinland in Pulheim-Brauweiler, die von dort geleistete Aufbereitung des Themas für Schüler und junge Menschen mit der DVD und dem dazugehörigen Arbeitsheft „Kinder müssen schlafen nachts“ und nicht zuletzt die in die Dauerausstellung der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf aufgenommenen Exponate zu „Ally“ dem ersten Opfer, dem ich durch meine Recherchen ein Gesicht geben konnte. Dass die Gedenkstätte in Waldniel auf Veranlassung des LVR im Jahr 2018 aufwändig künstlerisch neu gestaltet wurde und als Ort der Begegnung, des Gedenkens und der Information ein vollkommen neues Gesicht erhalten hat, ist zwar unmittelbar auf den Appell des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation aus dem Jahr 2012 zurückzuführen. Dieser Appell war allerdings die konkrete Folge der Begehung der Anstaltsruine in Waldniel und der dort am Vortag seines Entstehens von Peter Zöhren und mir gehaltenen Vorträge. So kann ich heute auf zehn erfolgreiche Jahre und viel Erreichtes in puncto Aufklärung und Gedenken an die Opfer der Waldnieler Kinder-„Euthanasie“ zurückblicken und darf auf die nächsten Jahre gespannt sein, denn bis heute vergeht eigentlich kein Monat, in dem mich nicht mindestens eine Anfrage von Familienangehörigen, Historikern, Pädagogen, Heimatforschern o.ä. zu diesem Thema erreicht. Ich habe mal in einem Interview mit dem WDR gesagt, dass meine Intention bei der Arbeit an diesem Buch stets war: „Wenn es hinterher auch nur einer liest, dann hat sich die Arbeit gelohnt.“ Dazu stehe ich heute noch. Ich bin ungemein froh darüber, wie viele Menschen dieses Buch gelesen haben und immer noch lesen und trotzdem: Auch wenn es nur eine Person getan hätte. Die Arbeit hat sich gelohnt! Kempen im April 2021 Andreas Kinast

Zehn Jahre danach

Gedenkstätte Waldniel Hostert, November 2020

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Abb. 1: „Diagnose“ auf einem Krankenblatt der Kinderfachabteilung Waldniel, 10.04.1943

Abb. 2: „Das Kind ist nicht dressierfähig.“ Handschriftlicher Eintrag des Arztes Hermann Wesse in einer Krankenakte der Kinderfachabteilung Waldniel, 27.01.1943

EIGENTLICH WOLLTE ICH NUR EIN BUCH LESEN

I

m Oktober 2002 wurde mir von meinem Arbeitgeber die Leitung einer Zweigstelle in Waldniel übertragen. Diese Versetzung kam für mich überraschend. Zwar hatte ich mich zuvor auf eine entsprechende Position beworben, dabei aber niemals den Ort Waldniel in meine Überlegungen einbezogen. Über Waldniel wusste ich damals lediglich, dass es irgendwo kurz vor der Grenze zu den Niederlanden liegt und über eine etwas überdimensionierte Kirche verfügt, die im Volksmund liebevoll als „Schwalmtal-Dom“ bezeichnet wird. Die Umstände des Arbeitsplatzwechsels brachten es mit sich, dass ich in den ersten Monaten regelmäßig zwischen Waldniel und meinem früheren Arbeitsplatz in Krefeld hin- und her pendelte. Dabei kam ich auf dem Weg zur Autobahn immer an „Hostert“ vorbei. Unübersehbar liegen dort am Weg die Gebäude des früheren St. Josefsheims der Franziskanerbrüder, deren düstere und marode Kulisse von Anfang an eine gewisse Faszination auf mich ausübte. Nach dem Gebäude befragt antwortete mir eine Kollegin: „Ja, das steht schon ein paar Jahre leer. Früher waren dort die Engländer“, um gleich darauf hinzuzufügen: „Das Gebäude hat aber auch noch eine dunkle Vergangenheit. Irgendetwas war da während der Nazi-Zeit“. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sicherlich nicht vor, mich einmal mit der Aufarbeitung der Waldnieler Euthanasieverbrechen zu beschäftigen. Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen. Davon, dass in Waldniel während der NS-Zeit „etwas war“, hatte ich vorher irgendwann schon einmal gehört. Den meisten Waldnielern ist dies heute, wenn überhaupt, aber eben nur gerüchteweise bekannt. Manchmal ist die Rede davon, dass es in Waldniel ein „KZ“ gegeben habe, wahrscheinlich weil dieser Begriff für viele das Synonym für NS-Verbrechen schlechthin darstellt. Besser Informierte wissen, dass es etwas mit Geisteskranken zu tun hatte, was sich in dem Gebäudekomplex – der heute so genannten „Kent-School“ – der ehemaligen Heilund Pflegeanstalt Waldniel, abgespielt hat. Dabei gehen die meisten davon aus, dass hier Vergasungen stattgefunden haben, so wie in den Anstalten Grafeneck oder Hadamar. Eine Tafel am Eingang des ehemaligen Anstaltsfriedhofs, der heute Gedenkstätte ist, enthält bereits einige Informationen. Darüber hinaus hat die Gemeinde Schwalmtal in Zusammenarbeit mit der Europaschule eine Broschüre herausgegeben, die über die Geschichte der Einrichtung berichtet und im groben Umriss auch die NS-Zeit behandelt. Nun bin ich jemand, der so etwas genau wissen will – vor allem dann, wenn es sich in meiner unmittelbaren Umgebung abgespielt hat. Und da es im Allgemeinen zu geschichtlichen Ereignissen von solcher Tragweite ein gut recherchiertes Buch gibt, in dem man alles darüber nachlesen kann, machte ich mich auf die Suche danach. Nachforschungen in Bibliotheksverzeichnissen und im Internet führten mich alsbald zu der Erkenntnis, dass es ein solches Buch nicht gab. Sollte denn wirklich niemand diese Sache einmal bis

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Einführung

Abb. 3: Luftaufnahme des Areals zu Zeiten der Nutzung als „Kent-School“ durch die Engländer, ca. 1970 ins Detail aufgearbeitet haben? Über einzelne Aufsätze im Schrifttum des Landschaftsverbandes Rheinland und die erwähnte Broschüre gelangte ich zur Dokumentationsreihe „Justiz- und NS-Verbrechen“, in der die Gerichtsurteile aus den Düsseldorfer Euthanasie-Prozessen veröffentlicht sind.1 An dieser Stelle war ich beim Thema Waldniel an den Punkt gelangt, an dem jeder Autor bisher angehalten hatte. Tiefer war niemand in den Sachverhalt eingestiegen. Die Gerichtsurteile waren zwar aufschlussreich, gingen aber kaum auf die Opfer und deren Angehörige ein. Außerdem fußten sie letztlich immer auf der subjektiven Interpretation dessen, was das urteilende Gericht zum jeweiligen 1 Zitate aus dieser Sammlung in Klee 1985; Zöhren 1988; Orth 1989. Literaturhinweise werden in den Fußnoten in Kurztiteln angegeben, die vollständigen Nachweise finden sich im Literaturverzeichnis.

Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen

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Zeitpunkt vom verhandelten Sachverhalt hielt. Zudem gelang es mir in einem nächsten Schritt, staatsanwaltliche Kommentare zu den Urteilen ausfindig zu machen, die den Sachverhalt gänzlich anders interpretierten und die gefällten Urteile zum Teil scharf kritisierten. So fand ich mich plötzlich am Anfang eines gigantischen Puzzles wieder, bei dem man erst dann weiß, wie viele Teile fehlen, wenn man es zusammengesetzt hat. Triebfeder war lediglich meine ganz persönliche Neugier. Ich wollte wissen, was damals hier passiert war. Ich wollte Namen, Daten, Fakten erfahren, irgendwie den Versuch unternehmen, die damaligen Vorgänge zu begreifen. Zwei Dinge machten dieses Unterfangen schwierig: Einerseits der Mangel an Wissen darüber, wo man denn mit der Suche beginnen sollte. Gab es überhaupt Unterlagen aus dieser Zeit, und wo befanden sie sich? Andererseits wurden Recherchen von vornherein dadurch erschwert, dass alle amtlichen Stellen immer zuerst den „Forschungszweck“ meiner Nachfragen belegt haben wollten und ein allgemeines Unverständnis darüber herrschte, dass jemand sich für dergleichen Dinge interessierte, ohne an einer Dissertation zu arbeiten oder von entsprechender Stelle damit beauftragt worden zu sein. Ich begann zunächst damit, die Quellenverweise der einschlägigen Fachliteratur zu durchforsten. In den Fußnoten fand sich eine Vielzahl von Hinweisen darauf, woher der jeweilige Autor seine Informationen hatte. So fand ich heraus, dass die Todesbescheinigungen der Ermordeten sich im Kreisarchiv in meiner Heimatstadt Kempen befanden und im alten Archiv der Rheinischen Klinik Viersen-Süchteln noch Krankenakten vorhanden waren. Gleichzeitig stolperte ich über die ersten Fehler und Widersprüche in den vorhandenen Publikationen. Waldniel sollte dort angeblich unmittelbar „bei Andernach“ liegen, einer Stadt, die in Wirklichkeit etwa 150 Kilometer von Waldniel entfernt ist. Andernorts hieß es, Waldniel läge irgendwo in Rheinland-Pfalz. Vom groß angelegten „Widerstand“ in der Rheinprovinz war die Rede, sogar von einer über die Grenzen der Rheinprovinz hinausgehenden „Abwehrfront“ gegen die Krankenmorde. Außer von einer ganz kleinen Gruppe von Mördern, zwei Ärzten, einer Ärztin und zwei Schwestern, war die „Aktion“ angeblich von allen sabotiert und verzögert worden: Zwar hatten alle in irgendeiner Form bei der Aktion mitgemacht, aber stets nur um Leben zu retten, da ja ansonsten andere in ihre Positionen nachgerückt wären, die alles noch viel schlimmer gemacht hätten. Wenn nun alle sich tatsächlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit aller Kraft gegen die Maßnahmen des NS-Regimes gestemmt hatten, wie konnte es dann geschehen, dass annähernd 2.000 Menschen aus der Rheinprovinz den Gastod gestorben sind und fast 100 Kinder hier in Waldniel in der Kinderfachabteilung starben? Hier stimmte etwas nicht, und je mehr ich darüber las, desto weniger schien zu stimmen. So wühlte ich mich über mehrere Jahre hinweg immer tiefer in den Sachverhalt hinein und begann das Puzzle zusammenzusetzen, wohl wissend, dass es niemals vollständig werden würde. Neben Skepsis und Unverständnis begegnete ich nun erstmals

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Einführung

Menschen, die meine Recherchen unterstützten. Allen voran Dr. Wolfgang Werner vom Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland beim LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum in Pulheim-Brauweiler, dessen beiläufige Anmerkung „ich bin dann schon mal sehr gespannt auf Ihr Buch …“ mich erstmals auf den Gedanken brachte, aus meinen Erkenntnissen mehr zu machen, als nur eine private Sammlung von Informationen. Prof. Dr. Tögel aus Magdeburg begab sich eigens in das Archiv der Klinik Uchtspringe, um mir dort eine Personalakte herauszusuchen und zu kopieren. Bei der Zentralstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg, wo man zunächst recht hartnäckig auf meinem persönlichen Erscheinen bestanden hatte, fand ich in Frau Wehr eine geduldige Helferin, die mir Kopien der dort verwahrten Vernehmungsprotokolle erstellte. Ferner bin ich Dr. Pöppe und seiner Sekretärin Frau Hölter, die mir den Zugang zu den Waldnieler Krankenakten eröffneten und mich bei der Recherche nach diversen Personalakten unterstützten, zu besonderem Dank verpflichtet. Weitere Unterstützung erhielt ich von Linda Orth, Rheinische Kliniken Bonn, Herrn Meissner vom Bundesarchiv Berlin, Herrn Spahr vom Stadtarchiv Düsseldorf und Herrn Lamers vom Stadtarchiv Mönchengladbach, um nur einige zu nennen. Immer dann, wenn ich gerade der Ansicht war, nun seien alle Quellen ausgeschöpft und alle Informationen gesammelt, taten sich neue Perspektiven auf. So förderte z. B. die Deutsche Dienststelle in Berlin unerwartet ergiebiges Material zu Tage, während im ehemaligen Berlin Document Center (von dem ich weitaus mehr erhofft hatte) nur einige dürftige Karteikarten vorhanden waren. Manche Stellen hatten jede Kleinigkeit akribisch archiviert und aufbewahrt, während andernorts entscheidende Unterlagen wie z. B. Personalakten bedenkenlos vernichtet worden waren. Die Suche nach noch lebenden Zeitzeugen erschien aufgrund der verstrichenen Zeit eigentlich von vornherein aussichtslos. Umso überraschter war ich, als es mir gelang eine Pflegerin ausfindig zu machen, die in Waldniel gearbeitet hatte, und ich herausfand, dass auch die ehemalige Sekretärin der Kinderfachabteilung noch lebte. Beide fanden sich bereit, mich mit ihren Erinnerungen bei dieser Arbeit zu unterstützen und beantworteten geduldig meine Fragen. Äußerst freundlich und hilfsbereit waren auch die Angehörigen der getöteten Kinder Else H. und Anneliese B., die mir Fotografien der Opfer zur Verfügung stellten und verschiedene Begebenheiten aus den Erzählungen ihrer Eltern bzw. Großeltern beisteuerten. Die Nachkommen der Täter waren verständlicherweise deutlich zurückhaltender. Die Angehörigen der Pflegerin Luise Müllender, die sofort bereit waren sich dem schwierigen Thema zu stellen und mich nach besten Kräften unterstützten, stellten hier eine positive Ausnahme dar. So wurde diese „Detektivarbeit in Sachen Geschichte“ zu einer wechselhaften Kette von Erfolgserlebnissen und Enttäuschungen. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in diesem Buch zusammengetragen und beinhalten die Resultate einer mehr als sechsjährigen Forschungstätigkeit. Die Ereignisse der Jahre

Eigentlich wollte ich nur ein Buch lesen

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1941 bis 1943 in Waldniel werden umfassend und auf möglichst breiter Basis beschrieben. Hierbei hatte ich den Anspruch, ein klares Bild der Täter und ihrer Vorgesetzten zu zeichnen und das Leid der Opfer und deren Angehöriger zu veranschaulichen. Handelte es sich bei den Tätern wirklich um skrupellose Mörder, die sofort freiwillig und mit Begeisterung die Aufgabe übernahmen, kleine Kinder umzubringen? Waren die Eltern – wie immer wieder behauptet wurde – tatsächlich insgeheim mit der Tötung ihrer Kinder einverstanden? Oder gab es welche, die den Mut hatten zu protestieren? Mussten die Schwestern und Pflegerinnen gezwungen werden diese Aufgabe zu übernehmen oder taten sie dies freiwillig? Gab es überhaupt eine Chance sich zu weigern, oder musste man tatsächlich damit rechnen im Falle einer Weigerung hart bestraft zu werden? Fragen über Fragen, die sich sicherlich mancher vor mir schon gestellt hatte, die im Zusammenhang mit der Kinderfachabteilung Waldniel jedoch bislang nie beantwortet wurden. Die Organisation des Kindermordes, ausgehend von der „Kanzlei des Führers“ in Berlin, ist in der Fachliteratur bereits ausführlich behandelt worden. Deshalb wird sie in diesem Buch nur soweit umrissen, wie zum Verständnis des Sachverhalts unbedingt erforderlich ist oder soweit sie im unmittelbaren Zusammenhang mit den Ereignissen in Waldniel steht. Gleiches gilt für die Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken, die nur am Rande Bestandteil dieser Arbeit sein kann. In Bezug auf die Waldnieler Hauptverantwortlichen wurden deren Vorgeschichte, die Karriere während der NS-Zeit und der Lebensweg nach dem Krieg möglichst detailliert recherchiert und nachgezeichnet. Hierbei wurde ebenfalls der Hauptschwerpunkt auf die Tätigkeit in Waldniel und den Zeitraum 1941 bis 1943 gelegt. Ernst Klee, Autor des Buches „Euthanasie im NSStaat“, das inzwischen berechtigterweise als Standardwerk zu diesem Themenkomplex gilt, bezeichnete Waldniel und die gesamte Rheinprovinz im Gespräch mit mir als ein „schwarzes Loch“, aus dem bisher kaum verwertbare Informationen zu Tage gefördert werden konnten. Wenn es mir gelungen ist, ein wenig Licht in dieses Dunkel zu bringen und dem Leser eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was sich in dieser Zeit hier abgespielt hat, dann habe ich mehr erreicht als ich selbst jemals erwartet hätte. Sollte dieses Buch überdies noch einen Beitrag dazu leisten können, dass mehr Menschen sich an diese Verbrechen erinnern, dann zollen wir heute den Opfern zumindest ein wenig von dem Respekt, den man damals vor dem Wert ihres Lebens nicht hatte.

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Einführung

1. „MELDUNG GEMÄSS RUNDERLASS …“

M

eldung gemäß Runderlaß des Reichsministers des Inneren vom 18.8.1939 ist erfolgt.“ Dieser wenig aussagekräftige Satz steht unter einer Vielzahl von Untersuchungsberichten der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn, die sich in den erhaltenen Akten der Kinderfachabteilung Waldniel befinden.2 Die Folgen dieser unverfänglich anmutenden Formulierung waren allerdings alles andere als harmlos. Durch diese Meldung wurden behinderte Kinder während der Zeit des NS-Regimes dem so genannten „Reichsausschuss-Verfahren“ zugeführt, einem Verfahren, nach dem behinderte Kinder, sofern man sie als unheilbar bzw. „nicht bildungsfähig“ ansah, in eigens dafür geschaffenen „Kinderfachabteilungen“ getötet wurden. Ursprung und unmittelbarer Anlass dieser „Kinder-Euthanasie“ bildete der Fall des so genannten „Knauer“–Kindes. Knauer war der Name, an den Hans Hefelmann (Leiter des Amtes IIb in der „Kanzlei des Führers“ und damit Hauptverantwortlicher für die Organisation der Kindermorde) sich zu erinnern glaubte.3 Hitlers Leibarzt Karl Brandt hatte bereits 1947 beim Nürnberger Ärzteprozess einen derartigen Fall erwähnt, allerdings keine Angaben in Bezug auf den Namen des Kindes gemacht. Verschiedene Historiker haben Nachforschungen angestellt, um den wirklichen Namen und die Herkunft dieses Kindes zu ermitteln.4 Bis 2008 galt die durch Udo Benzenhöfer im Jahr 2000 veröffent­ lichte Identifikation des Kindes als eines aus Pomßen bei Leipzig stammenden Jungen5 als allgemein anerkannt. Auch diese Darstellung musste zwischenzeitlich revidiert werden, nachdem aus dem Familienkreis des besagten Jungen bestätigt wurde, dass das Kind normal entwickelt war und seinerzeit eines natürlichen Todes gestorben ist.6 Die genaue Identität des „Knauer-Kindes“ bleibt somit bis heute unklar. Wichtig und für den weiteren Verlauf der Geschichte entscheidend waren auch vielmehr die weiteren Ereignisse, die durch den Präzedenzfall des „Knauer-Kindes“ ausgelöst wurden. Die „Kanzlei des Führers“ („KdF“ – nicht zu verwechseln mit der identisch abgekürzten NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“) war Hitlers Privatkanzlei innerhalb der NSDAP und für die persönlichen Belange des „Führers“ zuständig. Das Amt IIb, dem Hans Hefelmann vorstand, hatte die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Gnadengesuchen, die aus der Bevölkerung direkt an Hitler gerichtet wurden. Ver2 Aktenbestand LVR-Kliniken Viersen-Süchteln. 3 Aussagen Hans Hefelmann im Aktenbestand Js 148/60 GStA Frankfurt/Main, zit. nach Vormbaum 2005, S. 4f. 4 So behaupteten Friedrich Karl Kaul und der französische Journalist Philip Aziz jeweils in ihren Veröffentlichungen 1973 bzw. 1975, die wahre Identität des Knauer-Kindes ermittelt zu haben. 5 Benzenhöfer 2000, S. 8f. 6 Vgl. Benzenhöfer 2008.

1. Kapitel

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mutlich im März 1938 − der genaue Zeitpunkt ist nicht mehr zu verifizieren − ging bei Hefelmann das Gesuch eines Mannes ein, der Hitler um die Genehmigung zur Tötung seines schwer missgebildeten Sohnes bat. Dieses Gesuch wurde bislang nicht gefunden und ist sehr wahrscheinlich gegen Kriegsende mit den Akten der „Kanzlei des Führers“ vernichtet worden. Die folgende Darstellung basiert auf den Angaben von Hefelmann und Brandt.

Abb. 4: Hans Hefelmann, 1964 Nach Aussage von Hitlers Leibarzt war dieses Kind blind, ihm fehlten ein Bein und der linke Unterarm. Professor Werner Catel, Leiter der Universitätskinderklinik Leipzig, traf die Feststellung, dass das Kind zudem geistig zurückgeblieben sei und „niemals normal sein würde“. Daraufhin bat der Vater ihn um die Einschläferung seines Sohnes. Da Catel dies aufgrund der bestehenden Gesetze ablehnen musste, empfahl er dem Vater, einen Brief an Hitler zu schreiben und diesen um die Erlaubnis zur „Erlösung“ des Kindes zu bitten.7 Glaubt man der Aussage von Hefelmanns Stellvertreter Richard von Hegener, dann gingen zu dieser Zeit häufiger derartige Gesuche ein: „Schon etwa ein halbes Jahr vor Ausbruch des Krieges liefen immer öfter Gesuche von unheilbaren Kranken oder besonders schwer verletzten Menschen ein, die um Erlösung von ihren für sie unerträglichen Leiden baten. Diese Gesuche waren besonders tragisch, da auf Grund der bestehenden Gesetze ein Arzt solchen Wünschen nicht Rechnung tragen durfte. Da die Dienststelle, wie uns immer wieder vorgehalten wurde, auf Befehl Hitlers gerade solche Fälle bearbeiten sollte, die gesetzmäßig nicht zu lösen waren, fühlten sich Dr. Hefelmann und auch ich für verpflichtet, nach einiger Zeit eine Anzahl solcher Gesuche dem Leibarzt Hitlers, damals Oberarzt Dr. Brandt, vorzulegen und eine Entscheidung Hitlers einzuholen, was mit solchen 7 Aussagen von Karl Brandt, zit. in Vormbaum 2005, S. 26f.

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Gesuchen geschehen solle. Dr. Brandt teilte dann bald darauf mit, dass nach seinem Vortrag Hitler entschieden habe, derartigen Gesuchen stattzugeben, sofern von dem behandelnden Arzt des Kranken als auch einer neu zu bildenden Ärztekommission die tatsächliche Unheilbarkeit des Leidens erwiesen sei.“8 Hitler muss sich sehr für diesen Fall interessiert haben, denn er schickte daraufhin seinen Leibarzt persönlich nach Leipzig, um das Kind zu untersuchen. Nachdem Brandt ihm das Ergebnis seiner Untersuchung mitgeteilt hatte, stimmte Hitler dem „Gnadentod“ zu. Das Kind wurde daraufhin durch Catel „eingeschläfert“. Brandt wies ausdrücklich darauf hin, dass Hitler nicht wünschte, dass sich die Eltern für den Tod des Kindes verantwortlich fühlen sollten. Gerade an diesem Fall wird deutlich, wie Hitler sich selbst als Staatsoberhaupt über die bestehenden Gesetze stellte und die Rolle des „Herren über Leben und Tod“ ohne zu zögern übernahm. Mit dieser Einzelfallentscheidung wurde der Grundstein für den organisierten Massenmord gelegt, der in den folgenden fünf Jahren ein erschreckendes Ausmaß annehmen sollte. Erste Opfer dieses organisierten Mordes wurden die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft: Hilflose, geistig und körperlich behinderte Kinder.

Abb. 5: Philipp Bouhler, 1938 Abb. 6: Karl Brandt, 1948 Hitler erteilte anschließend dem Leiter seiner Kanzlei, Philipp Bouhler, und seinem Leibarzt Karl Brandt die Genehmigung, zukünftig in ähnlich gelagerten Fällen analog des Falles „Knauer“ zu verfahren. Eine gesetzliche Grundlage für diese Morde zu schaffen lehnte Hitler stets ab. Damit sie den zu erwartenden Widerständen und Fragen der betroffenen Stellen gegenüber legitimiert auftreten konnten, stellte er Bouhler und Brandt einen Erlass aus, der erhalten geblieben ist, weil der damalige Justizminister Dr. Gürtner eine Kopie davon in seinen Unterlagen aufbewahrte: 8 Aussage Richard von Hegener 1949, in: Schmidt 2006, S. 14.

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Abb. 7: Der „Gnadentoderlass“ von 1939

1. Kapitel

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„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ − Darunter die handschriftliche Notiz des Justizministers: „Von Bouhler mir übergeben am 27.8.40 – Dr. Gürtner“.

Abb. 8: Justizminister Dr. Franz Gürtner, ca. 1935 Dieser eine Satz genügte, um Justiz und Ärzteschaft zum Schweigen zu bringen und tausenden geistig behinderter Patienten zwangsweise den „Gnadentod zu gewähren“. Gürtner hätte als Justizmminister energisch gegen die Krankenmorde einschreiten müssen, denn auch nach dem 1940 geltendem Recht war die Tötung von Geisteskranken Mord.9 Nachdem er zunächst lange gezögert hatte, pochte er bei einer Besprechung mit dem Chef der Reichskanzlei, Dr. Lammers, darauf, dass Hitler ein Gesetz erlassen müsse, um die Krankentötungen juristisch zu legitimieren. Andernfalls müsste die Aktion sofort eingestellt werden: „ [… ] wie Sie mir gestern mitgeteilt haben, hat der Führer es abgelehnt, ein Gesetz zu erlassen. Daraus ergibt sich nach meiner Überzeugung die Notwendigkeit, die heimliche Tötung von Geisteskranken sofort einzustellen. Das heutige Verfahren ist nicht zuletzt durch die versuchte Tarnung rasch und weithin bekannt geworden. […] Der Standpunkt, die Reichsjustizverwaltung wisse von dem ganzen Verfahren nichts, ist den eigenen Behörden gegenüber unmöglich“.10 − Anstelle eines Gesetzes legte Bouhler ihm am 27. August 1940 die oben abgebildete „Rechtsgrundlage“ der Krankentötungen vor. Diese „Ermächtigung“, auf Hitlers privatem Briefbogen geschrieben, besaß formal niemals Gesetzeskraft. Trotzdem akzeptierte Gürtner, dass „der Wille des Führers zu erfüllen“ sei. Fortan war er bemüht Verfahrensregelungen zu finden, mit denen die Justiz den zu erwartenden Beschwerden und Anzeigen begegnen konnte. 9 § 211 StGB in der 1940 geltenden Fassung. 10 Anklageschrift gegen Prof. Werner Heyde u. a., S. 580f., zit. nach Klee 2001, S. 215.

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Während die Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken in der Fachliteratur bereits intensiv beleuchtet wurde, ist über die „Kindereuthanasie“ bisher relativ wenig bekannt. Unter der Tarnbezeichnung „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ wurde das Programm zur Auslöschung missgebildeter und geistig behinderter Kinder organisiert. Die Petition des „Knauer“Vaters war natürlich nicht die einzige, die die „Kanzlei des Führers“ von deutschen Eltern seit 1933 erhielt. Hans Hefelmann berichtete, dass jeden Tag 2.000 Bittschriften zu verschiedenen Themen die KdF erreichten. Darunter auch solche, in denen um die „Erlösung“ von kranken Angehörigen gebeten wurde.11 Nachdem die rassenhygienische Propaganda geisteskranke und behinderte Menschen als „Ballastexistenzen im deutschen Volkskörper“ gebrandmarkt hatte und deren Ausmerzung, wenn auch zunächst nur durch Ausschluss von der Fortpflanzung und damit Verhinderung weiterer Nachkommen, befürwortete, nahm die Anzahl ähnlich gearteter Gesuche weiter zu. Seit der Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde die deutsche Bevölkerung mit diffamierenden und teilweise an Geschmacklosigkeit nicht mehr zu überbietenden Bildern auf die bevorstehenden Maßnahmen eingestimmt:

Abb. 9: NS-Propagandbild, 1933 11 Schmidt 2006, S. 6.

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Es ist denkbar, dass gerade der Fall des Knauer-Kindes die Aufmerksamkeit der KdFBeamten erweckte, weil ihnen aufgrund der schweren geistigen und körperlichen Behinderung des Jungen bewusst war, dass dieser Fall sehr gut als Musterfall dienen konnte. Karl Brandt kommt in der Initiative zur „Kindereuthanasie“ eine Schlüsselrolle zu. Nach der Aussage Richard von Hegeners war es kein Mitarbeiter der KdF, sondern Brandt selbst, der die Gnadengesuche der Eltern in Form eines Vortrages an Hitler weiterleitete.

Abb. 10: Karl Brandt in SS-Uniform als „Begleitarzt des Führers“, 1937 Die Schwere des Falles wiederum ermöglichte es den Mitarbeitern der Kanzlei, der Problematik die nötige Bedeutung zukommen zu lassen und Brandt dafür zu interessieren. Der Vortrag bei Hitler muss nach den Aussagen der Beteiligten zwischen März und Mai 1939 stattgefunden haben. Damit sicherte sich Brandt eine Vormachtstellung im Bereich der „Euthanasie“ zu einem äußerst günstigen Zeitpunkt. Nach dem überraschenden Tod des Ärzteführers Gerhard Wagner Ende März 1939 war die NS-Gesundheitsführung von einem akuten Machtvakuum betroffen, in das unterschiedliche Interessengruppen vorzudringen versuchten. Dies führte zu einer Reihe von Spannungen um die

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mittel- und langfristige Vorherrschaft im Bereich der deutschen Medizinalverwaltung. Nachfolger Wagners wurde der Staatssekretär im Innenministerium, Leonardo Conti, dessen machtpolitischer Einfluss jedoch von Anfang an aufgrund seiner mangelnden Nähe zur NS-Führungsspitze beschränkt blieb.

Abb. 11: Dr. Leonardo Conti, ca. 1940 Dadurch waren die Vertreter der KdF in der Lage, eine Führungsrolle in dem zu erwartenden „Euthanasie“-Programm zu beanspruchen. Die Beseitigung behinderter Kinder und Erwachsener war bereits seit den 1920er Jahren ein fester Bestandteil der NS-Ideologie, und Hitler hatte zwischen 1933 und 1935 seinem engsten Kreis die Absicht anvertraut, im Falle eines Krieges diese Frage anzupacken.12 Bereits wenige Wochen nach dem Tod des Kindes Knauer wurde die streng vertrauliche Registrierung aller schwer behinderten Neugeborenen eingeführt. Dies begann mit dem eingangs erwähnten Runderlass des Reichsministers des Inneren vom 18.8.1939. Einleitend hieß es darin, dass zur „Klärung wissenschaftlicher Fragen auf dem Gebiete der angeborenen Missbildung und der geistigen Unterentwicklung“ eine „möglichst frühzeitige Erfassung der einschlägigen Fälle“ erforderlich sei. Es wurde angeordnet, dass Hebammen, Ärzte in Entbindungsanstalten und geburtshilflichen Abteilungen von Krankenhäusern sowie Allgemeinärzte alle Kinder an das Gesundheitsamt zu melden hatten, die mit folgenden „schweren angeborenen Leiden behaftet“ waren: 1) Idiotie und Mongolismus (besonders Fälle verbunden mit Blindheit und Taubheit) 2) Mikrocephalie 3) Hydrocephalus (sogenannter „Wasserkopf“) 12 Nach Angaben mehrerer Zeugen Äußerung Hitlers gegenüber Reichsärzteführer Gerhard Wagner im Jahr 1935, vgl. Vormbaum 2005, S. 40f.

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4) Missbildungen jeder Art, besonders das Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw. 5) Lähmungen einschl. Littlescher Erkrankung (spastische Lähmung)

Abb. 12: Auszug aus dem geheimen Runderlass von 1939 Gemeldet werden sollten Kinder bis zum dritten Lebensjahr. Diese Altersgrenze wurde später auf bis zu 16 Jahre erhöht. Eine Abschrift des Erlasses ging an die Amtsärzte. Diese sollten die Hebammen und Ärzte ihres Bezirks instruieren und ihnen einen auszugsweisen Abdruck des Erlasses sowie einen Meldebogen übergeben. In diesen Meldebögen wurde u. a. nach der „voraussichtlichen Lebensdauer“ und nach „Besserungsaussichten“ gefragt. Der Amtsarzt oder ein Vertreter sollte sich von der Richtigkeit der Meldung überzeugen. Meldebogen und Befundbericht mussten dann an den hier erstmals offiziell erwähnten Reichsausschuss geschickt werden.

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Verantwortlich für die Runderlasse zeichnete der Reichsminister des Inneren, Dr. Wilhelm Frick. Frick hat für die nationalsozialistische Staatsführung eine gewaltige Arbeitsleistung vollbracht. Es gab kaum ein Gebiet, auf dem er nicht im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft Gesetzesentwürfe ausarbeiten ließ. Frick berief im Mai 1933 einen Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassepolitik ein, der zunächst die Sterilisationsgesetze ausarbeitete und in den folgenden Jahren mehrmals zusammentrat. In diesem Beirat befanden sich führende Rasseforscher und Staatsbeamte wie Ministerialrat Dr. Linden, die später in der „Euthanasie“ wichtige Schlüsselpositionen besetzen sollten.

Abb. 13: Hitler mit Dr. Wilhelm Frick, ca. 1938/39 Was nach der erfolgten Meldung weiter mit den Kindern geschehen sollte, wurde im Runderlass von 1939 noch nicht beschrieben. Erst in einem Erlass des Innenministeriums vom 1.7.1940 heißt es, dass in Görden in Brandenburg eine „Jugend-Psychiatrische Fachabeilung“ zur „Behandlung“ der gemeldeten Kinder eingerichtet worden sei und dass die

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Errichtung weiterer Fachabteilungen zur „besseren Behandlung“ der Kinder beabsichtigt sei.13 Unterzeichnet wurden die Erlasse vom bereits erwähnten „Reichsärzteführer“ und Chef des zivilen Gesundheitswesens im Reichsministerium des Inneren, Staatssekretär Dr. Leonardo Conti. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass Hitler die „Kindereuthanasie“ seiner Privatkanzlei überlassen wollte, für die Durchführung der Erwachsenentötungen jedoch einen Auftrag an Conti und den Leiter der Reichskanzlei vergab. Daraufhin scheint sich ein regelrechter Kampf um die Zuständigkeit für den Mordauftrag abgespielt zu haben, der letztlich mit Hitlers Entscheidung endete, die gesamte „Euthanasie“Aktion in die Hände der KdF zu legen. Angeblich verlangte Lammers (möglicherweise nach der oben erwähnten Besprechung mit Gürtner) eine klare juristische Regelung auf gesetzlicher Grundlage, was Hitler veranlasste, den Auftrag in die Hände des ergebenen und mit weniger Skrupeln behafteten Bouhler zu legen. Paradoxerweise enthält die Veröffentlichung des Erlasses IV b 2140/40-1079 Mi vom 1.7.1940 den Hinweis darauf, dass der Erlass, den es hier durchzuführen galt, selbst nicht veröffentlicht wurde – ein Widerspruch in sich: „Der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden hat zur Behandlung der nach dem Ministerial-Erlaß vom 18.8.1939 – IV b 3088/39-1079 Mi (nicht veröffentlicht) von den Ärzten und Hebammen zu meldenden mißgestalteten usw. Kinder nunmehr in der Landesanstalt Görden bei Brandenburg a. H. eine jugendpsychiatrische Fachabteilung eingerichtet, die unter fachärztlicher Leitung sämtliche therapeutischen Möglichkeiten, die auf Grund letzter wissenschaftlicher Erkenntnisse vorliegen, wahrnimmt. Es ist beabsichtigt, außer dieser Abteilung noch weitere Anstalten und Fachabteilungen einzurichten. Der Reichsausschuß wird in der Folgezeit an die Amtsärzte, in deren Bezirk das jeweilige zur Einweisung in Frage kommende Kind wohnt, herantreten und ihnen mitteilen, in welcher Anstalt das Kind Aufnahme finden kann. Sache der Amtsärzte ist es, die Eltern des in Rede stehenden Kindes von der sich in der näher bezeichneten Anstalt bzw. Abteilung bietenden Behandlungsmöglichkeit in Kenntnis zu setzen und sie gleichzeitig zu einer beschleunigten Einweisung des Kindes zu veranlassen. Den Eltern wird hierbei zu eröffnen sein, daß durch die Behandlung bei einzelnen Erkrankungen eine Möglichkeit bestehen kann, auch in Fällen, die bisher als hoffnungslos gelten mußten, gewisse Heilerfolge zu erzielen.“ Den Eltern wurde vorgetäuscht, man verfüge über neuartige Behandlungsmethoden und Therapien, die sowohl die Besserung des Zustandes, als auch eventuell die vollständige 13 Runderlass des Reichsministeriums des Innern Nr. IV b 2140/40-1079 Mi vom 01.07.1940.

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Heilung des Kindes erreichen könnten. In den Anfängen der „Kindereuthanasie“ wird man die Eltern auf diese Weise vielfach erfolgreich getäuscht haben. Spätere Aussagen und Vernehmungsprotokolle zeigen aber, dass die Geheimhaltung bei der Tötung der Kinder ebenso wenig funktionierte wie bei der Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken, und die Eltern sich der Gefahr, in der ihre Kinder schwebten, vielfach bewusst waren. Hauptamtsleiter des Amtes II der „Kanzlei des Führers“ und damit Leiter sowohl der Kinder- als auch der Erwachsenen-„Euthanasie“ war Viktor Brack. Er behauptete später in Nürnberg, dass „auf den Reichsausschuß-Stationen […] jede irgendwie erdenkliche Möglichkeit über den Rahmen einer normalen ärztlichen Betreuung angewandt wurde, um ein solches Kind lebensfähig zu erhalten, wie schwerste, oft lebensgefährliche Operationen“.14 Soviel bisher über die Kinderfachabteilungen bekannt ist, hat keiner der dort beschäftigten Ärzte über eine Ausbildung in Chirurgie, geschweige denn in Neurochirurgie verfügt. Es wäre also rein handwerklich überhaupt niemand fähig gewesen, derartige Operationen durchzuführen. Bracks Angaben werden dadurch als reine Schutzbehauptung bzw. klare Lüge entlarvt.

Abb. 14: Viktor Brack, 1948 Nach Aussage von Professor Heyde, welcher selbst als Obergutachter an entscheidender Position in die „Euthanasie“ verstrickt war, war Brack ein sehr beeinflussbarer Mann, der seine Unsicherheit oft durch autokratisches Auftreten wettzumachen suchte. Er reiste oft und besichtigte die Anstalten, wobei er gerne verschwommene Reden über „persönliche Sauberkeit“, „charakterliche Anständigkeit“ und eine „innere Haltung, die der Euthanasie wert sei“ hielt. Den Widerspenstigen drohte er mit den schlimmsten Strafen; er benutzte gerne das Wort „Sabotage“ und warnte vor Schwächlichkeit. 14 Aussage Viktor Brack, in: Klee 2004, S. 302.

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Abb. 15: Viktor Brack beim Nürnberger Ärzteprozess Die in Görden entstehende „Muster-Kinderfachabteilung“ des Reichsausschusses, von Hans Hefelmann als „Reichsschulstation“ bezeichnet, wurde geleitet von Professor Hans Heinze. Heinze stieg im Dritten Reich zum führenden Kinder- und Jugendpsychiater auf. Seine Karriere begann in der Brandenburgischen Landesanstalt Potsdam, in der mehr als tausend Epileptiker, geistig behinderte Kinder und Fürsorgezöglinge untergebracht waren. Hans Heinze erhielt dort am 1.5.1934, ein Jahr nach seinem Eintritt in die NSDAP, im Alter von 38 Jahren die Leitung. Als Heinze im November 1938 die Landesanstalt Görden übernahm, waren bereits 118 Kinder und Jugendliche als „Forschungsmaterial“ für die Forschungen des Professor Hallervorden zu den „anatomischen Grundlagen der Idiotie und des Schwachsinns bei Kindern“ in Görden untergebracht. Ab Frühjahr 1939 wurde Heinze bei der Planung der „Kindereuthanasie“ hinzugezogen. Er avancierte zum Obergutachter beim Kindermord und gehörte zu den ersten Gutachtern bei den Vergasungen. In Heinzes Kinderfachabteilung wurden andere Ärzte „in die Art und die Durchführung des Verfahrens“ eingeführt; unter anderem auch der für die Kinderfachabteilung Waldniel vorgesehene Arzt Hermann Wesse.

Abb. 16: Prof. Dr. Hans Heinze, ca. 1938

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Die sowjetischen Soldaten nahmen Heinze im Oktober 1945 fest. Im März 1946 wurde er von einem Militärtribunal zu sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Laut seiner Aussage machte man ihm das Angebot, auf der Krim eine gleichartige Anstalt einzurichten, wie er sie in Görden hatte. Nachdem er dies abgelehnt habe, sei er von der NKWD verhaftet und wegen des Vorwurfs der „antisowjetischen Propaganda“ bestraft worden. Ende 1952 kam Heinze in den Westen und wurde Assistenzarzt an der Landesheilanstalt Mariental bei Münster/Westfalen. Ein Jahr später erhielt er eine Stelle als Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Niedersächsischen Landeskrankenhaus in Wunstorf. Nebenamtlich arbeitete er für die Jugendpsychiatrische Beratungsstelle des städtischen Gesundheitsamtes Hannover. Ende 1961 begann sich die Justiz für Heinze zu interessieren. Am 18.1.1962 stellte die Staatsanwaltschaft den Antrag, die Voruntersuchung zu eröffnen. Heinze entzog sich dem Zugriff, wie viele andere vor ihm, durch „Verhandlungsunfähigkeit“. Ein amtsärztliches Gutachten vom 4.9.1962 bescheinigte ihm, „seelisch schwer beeinträchtigt“ zu sein. Seine seelischen Depressionen seien die „Reaktion auf wiederholte zahlreiche polizeiliche und gerichtliche Untersuchungen der letzten Jahre“. Es folgten weitere Gutachten am 15.10.1963 und 28.4.1964, die Heinze allesamt Vernehmungs- und Verhandlungsunfähigkeit attestierten. Am 30. Dezember 1964 wurde das Ermittlungsverfahren „vorläufig“ eingestellt. Nachdem ein letztes amtsärztliches Gutachten am 30. September 1965 bescheinigt hatte, dass Heinze „psychisch ein Wrack“ und „auf Dauer als verhandlungsunfähig anzusehen“ sei, wurde das Verfahren am 4.3.1966 endgültig eingestellt.

Abb. 17: Hans Heinze, ca. 1980

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Der „primus inter pares“ unter den Kindermördern war der Justiz endgültig entkommen. Hans Heinze entwickelte in der Folge eine überraschende Zähigkeit, denn das „psychische Wrack“ lebte nach der Einstellung des Verfahrens noch weitere 17 Jahre. Als er 1983 verstarb, hatte er das stattliche Alter von 87 Jahren erreicht. Das niedersächsische Landeskrankenhaus Wunstorf veröffentlichte eine Traueranzeige mit dem Text: „Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren“. Am 25. November 1960 wurde auch Hermann Wesse, jener Arzt, der ab September 1942 die Kinderfachabteilung in Waldniel leitete und von dem in diesem Buch noch häufig die Rede sein wird, im Rahmen der Ermittlungen gegen Heinze zu seiner Zeit in Görden vernommen. Wesse, zu diesem Zeitpunkt bereits seit 13 Jahren in Haft, hatte die glimpflich verlaufenden Prozesse gegen andere „Euthanasie“-Täter mitverfolgt. Nach mehreren abgewiesenen Gnadengesuchen hoffte er 1960 gerade darauf, dass ein neues Gesuch, welches seine Cousine für ihn an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten gerichtet hatte, endlich positiv entschieden würde. Er hatte sicherlich kein Interesse daran, sich selbst mit Tötungen aus Görden zu belasten. Also sagte er zwangsläufig auch zu Gunsten von Heinze aus: „Meine Ausbildungszeit in Görden betrug nur 1 bis 2 Monate. [tatsächlich waren es genau 2 Monate – vom 2. Januar bis 4. März 1942 – A.d.V.] Zu dieser Zeit sind die Fragen des Reichsausschußverfahrens, d. h. also die Fragen der „Kindereuthanasie“ in Besprechungen mit dem Beschuldigten niemals angeschnitten worden. Ich habe auch während meiner damaligen Ausbildungszeit nicht in Erfahrung bringen können, ob es sich bei der Kinderabteilung in Görden um eine Kinderfachabteilung des Reichsausschusses gehandelt hat. Da ich nur in der Aufnahmeabteilung tätig war, hatte ich keinen Einblick in die Tätigkeit der anderen Teile der Kinderabteilung. Ich kann deshalb auch nichts darüber sagen, ob und in welchem Umfang während meiner Ausbildungszeit in Görden dort Kinder getötet worden sind. […] Da ich mit dem Beschuldigten mich unter vier Augen niemals über das Problem der „Euthanasie“ unterhalten habe und er seine Einstellung hierzu auf Konferenzen und gelegentlich der Visiten und Demonstrationen auch nicht hat erkennen lassen, kann ich nichts darüber sagen, wie er zu diesem Problem eingestellt war.“15 Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Hermann Wesse nach Görden geschickt wurde um dort zu lernen, wie man Kinder nach dem Verfahren des Reichsausschusses einschläfert. Es ist auch mehr als unwahrscheinlich, dass der Reichsausschuss einen jungen Arzt, der eine Kinderfachabteilung übernehmen sollte, zur „Ausbildung“ in seine 15 Aussage Hermann Wesse vom 25.11.1960, in: Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, Bl. 8855.

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„Musterabteilung“ schickte, ohne dass ihm dort das Verfahren gezeigt wurde. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Heinze bei Visiten und Vorträgen nicht auf das Thema der „Euthanasie“ einging, denn nur darum drehten sich die Aufgaben der Gördener Abteilung. Nach seinen Verurteilungen 1947 und 1948 und dem gescheiterten Bewährungsantrag des Jahres 195816 hatte Hermann Wesse wohl inzwischen die Erkenntnis gewonnen, dass es deutlich günstiger war nichts zu wissen und nichts bemerkt zu haben sowie immer nur das zuzugeben, was ihm zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte. Immerhin waren alle, die nach ihm vor Gericht gestellt wurden, mit dieser Einstellung deutlich besser weggekommen als er. Zudem wollte er mit Sicherheit nicht die Ablehnung des laufenden Gnadenverfahrens riskieren, indem er zugab, in Görden selbst Kinder getötet, oder an deren Tötung mitgewirkt zu haben. Damit hätte er Tötungen zugegeben, die zuvor nicht Gegenstand seiner Verfahren gewesen waren und für die man ihn bis dahin nicht vor Gericht gestellt hatte. Dort wo es um Dinge ging, die ihm ohnehin bereits nachgewiesen waren und ihm daher zu diesem Zeitpunkt nicht mehr schaden konnten, wurde er deutlicher: „Mir wird nunmehr vorgehalten, daß der Beschuldigte die Behandlungsermächtigungen dahin auslegt, sie hätten für den behandelnden Arzt die Ermächtigung bedeutet, Kinder einer Behandlung zuzuführen, die zwar mit großer Wahrscheinlichkeit den Tod der Kinder zu Folge haben würde, bei der aber andererseits auch eine ganz geringfügige Möglichkeit der Heilung bestanden hätte. Dies ist mir völlig neu. Wie ich schon oben sagte, bedeutete der Ausdruck ‚der Therapie oder der Behandlung zuführen‘ für jeden im Reichsausschuß tätigen Arzt Einschläferung.“17 Görden erhob den Anspruch, eine führende „Forschungseinrichtung“ auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu sein. Hermann Wesse berichtete, dass Heinze „zu Demonstrationszwecken anhand von Gehirnen verstorbener Kinder Ausführungen machte“.18 Dass die Kinder schon zu Lebzeiten als Lieferanten solcher „Demonstrationsobjekte“ ausgewählt wurden, ist nicht nur aus Görden bekannt. Die erhaltenen Bild- und Filmdokumente, mit ihrer offenkundigen Brutalität und Gefühllosigkeit den „Forschungsobjekten“ gegenüber, sprechen hierbei eine eigene Sprache. Im Bundesfilmarchiv, Berlin, befinden sich die Fragmente eines Films, der offenbar zu Ausbildungszwecken für den psychiatrischen Nachwuchs eingesetzt werden sollte. In einer Szene wird ein Kind mit einem immens großen Hydrocephalus (sog. „Wasserkopf“) 16 Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel „Der Strafvollzug“. 17 Vgl. Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, AR 1261/68, Bl. 8859. 18 Ebd., Bl. 8856.

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37 Abb. 18: Foto aus Gördener Krankenakte

Abb. 19: Ein „Forschungsobjekt“ wird für die Kamera herumgezeigt wie eine Trophäe

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Abb. 20: Dr. Friederike Pusch, Anfang der 1960er Jahre für die Kamera herumgezeigt. Die Person, die dieses Kind vorführt, ist Friederike Pusch, seit Juli 1942 Leiterin der Kinderfachabteilung in Görden und enge Mitarbeiterin von Heinze. Es kann daher mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es sich um Aufnahmen aus Görden handelt. Vom ersten Augenblick an entscheidender Stelle in die „Kindereuthanasie“ involviert war Werner Catel, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Leipzig. Er war der behandelnde Arzt im Fall des „Knauer-Kindes“ und derjenige, der dem Vater die Empfehlung gab, sich mit seiner Bitte um Tötung seines Sohnes direkt an Hitler zu wenden. Hans Hefelmann gab an, dass „Prof. Heinze und Dr. Wentzler […] mit Begeisterung und Prof. Catel aus Überzeugung die Euthanasie bejahten und sich deshalb ohne Zwang als Gutachter zur Verfügung stellten“.19 Auch Catel, der 1946 aus der sowjetischen Zone geflohen war, gab an, dass die Russen ihn dazu bewegen wollten eine Kinderklinik nach dem NS-Vorbild in der UDSSR zu übernehmen. Catel wurde entnazifiziert und als „entlastet“ eingestuft. Er gehörte zu den Beschuldigten, die durch den Beschluss des Landgerichts Hamburg 194920 außer Strafverfolgung gesetzt wurden. 1948 erklärte er, „er verabscheue das Vorgehen des nationalsozialistischen Staates gegenüber Erwachsenen durchaus“, die „Euthanasie“ „bei untermenschlich vegetierenden Kindern“ lasse sich aber „mit dem ethischen Arzttum durchaus vereinbaren“. Es stelle keinen Verstoß gegen die Menschlichkeit dar, „sondern deren höchste Erfüllung“. In mehreren Büchern und in Interviews präsentierte er sich stets als Verfechter der „Kindereuthanasie“, behauptete aber gleichzeitig immer, „unwissend in diese Verbrecherorganisation verstrickt“ gewesen zu sein. Angeblich hatte er nicht bemerkt, dass „die Kinderfachabteilungen getarnte Tötungsorte waren“ – ein Arzt, der lauthals die „Euthanasie“ forderte und befürwortete, aber selbst nicht mitgemacht haben wollte, als sie tatsächlich durchgeführt wurde. 19 Vgl. Klee 2004, S. 139. 20 So genanntes Straffreiheitsgesetz von 1949.

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Kaum bekannt ist hingegen, dass Catel 1962 vor dem Untersuchungsrichter nicht bestritten hat, dass er eigenhändig oder durch seine Assistenzärzte Kinder zu Tode brachte: „In solchen Fällen war es m. E. eine Sache der Menschlichkeit und der ärztlichen Pflicht, wenigstens eine Beruhigung dieser Kinder herbeizuführen. Hierzu wählte ich niemals Luminal, sondern Chloralhydrat, das zunächst in physiologischer Dosis […] verabreicht wurde […]. Der Tod trat langsam innerhalb von 5 bis 8 bis 14 Tagen ein. Bei der Verabreichung dieses Mittels bleibt offen, ob der Tod des idiotischen Kindes unmittelbare Folge des Mittels war oder eine Folge der hochgradigen cerebralen Schädigung oder ob schließlich der Tod durch Verabfolgung des Medikaments beschleunigt wurde.“ Die Kinder wurden also zu Tode „beruhigt“. Catel gab an, nicht in jedem Fall die sich über Tage erstreckende „Behandlung“ selbst durchgeführt, sondern diese teilweise seinen Assistenzärzten überlassen zu haben. Eine seiner Assistenzärztinnen hat angegeben, es sei „überwiegend Luminal eingespritzt worden.“ Catel weiter: „Die von mir genannten Ärzte, die in meinem Auftrage lebensunfähigen Kindern rektale Applikationen von Chloralhydrat verabreichten, haben selbstverständlich das Ziel dieser Beruhigungstherapie, nämlich die Einschläferung gekannt.“

Abb. 21: Prof. Dr. Werner Catel, ca. 1934 Als 1943 die Kinderfachabteilung in Waldniel aufgelöst wurde, gingen Hermann Wesse und seine Frau beide zu Catel an die Leipziger Universitäts-Kinderklinik. Hildegard Wesse beschrieb ihre Zeit dort in einem Vernehmungsprotokoll 1964 wie folgt:

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„Da ich dem Reichsausschuß durch Schriftwechsel von Waldniel aus bekannt war, ordnete er an, daß ich mit meinem Mann nach Leipzig ging. Wir sind im Sommer 1942 [richtig ist 1943 – A.d.V.] etwa 3 oder 4 Monate in Leipzig gewesen […]. Wenn es für mich auch bisher selbstverständlich war, dass in der Universitätskinderklinik in Leipzig während unserer Aufenthaltszeit Kinder eingeschläfert wurden, so kann ich mich heute nicht erinnern, ob mein Mann mir dies auch erzählte. Bei unserer Begrüßung in Leipzig erzählte uns Professor Catel von der Entstehung des Reichs­ ausschusses. In Leipzig habe sich ein SS-Arzt mit dem Wunsch nach Beseitigung seines idiotischen Kindes an ihn gewandt. Professor Catel habe ihm erwidert, das könne er selbst einem Kollegen gegenüber nicht tun. Dieser Arzt habe sich dann ebenso wie viele andere Eltern in gleicher Lage an Frau Magda Goebbels gewandt mit der Bitte um Hilfe. Auf diesem Wege sei dann die Euthanasieaktion ins Leben gerufen worden. Ich erinnere mich, daß Professor Catel einmal bei einer Konferenz sämtlicher Ärzte der Universitätskinderklinik, es handelte sich um eine klinische Vorstellung von Kindern, zu dem vorstellenden Arzt sagte: ‚Sehen Sie das nicht, das ist doch ein idiotisches Kind. Ich würde als Behandlung den anderen Weg vorschlagen’. Dabei meinte er die Meldung an den Reichsausschuß. Ich war darüber sehr erstaunt und sagte hinterher zu meinem Mann, hier scheinen ja alle Ärzte von dem Reichsausschußverfahren zu wissen. Es imponierte mir, daß das Verfahren hier so offen genannt wurde.“ Wenngleich der Vater des „Präzedenzfalles Knauer“ kein SS-Arzt war und das Gesuch nicht an Magda Göbbels, sondern an Hitler gerichtet wurde, veranschaulicht diese Darstellung, wie sehr schon damals der erste Fall von „Kindereuthanasie“ als Musterbeispiel verwendet wurde. Magda Göbbels, als siebenfache Mutter so etwas wie das Aushängeschild der NS-Familienpolitik, war als Empfängerin der Gnadengesuche natürlich besser darstellbar als die anonyme „Kanzlei des Führers“ und ein Arzt, der diese Entscheidung für den eigenen behinderten Sohn fällte, passte ebenfalls besser in das ethische Konzept als ein einfacher Landarbeiter. Es ist daher gut vorstellbar, dass Catel diesen ersten Fall seinen jungen Nachwuchsärzten in genau dieser Version erzählt hat. Am 30. Dezember 1964 wurde Catel vom Landgericht Hannover endgültig außer Strafverfolgung gesetzt. Obwohl die Vorwürfe gegen ihn seit 1947 nicht verstummten, wurde er auf Mediziner-Kongresse eingeladen und trat als Referent bei Treffen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin und der Nordwestdeutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde auf. 1960 ließ er sich emeritieren, da er „nicht wollte, dass dem Herrn Kultusminister durch meine Person weitere Schwierigkeiten entstehen sollten.“ Als das Magazin „Der Spiegel“ im Januar 1964 über den Heyde-Prozess berichtete und damit das Thema „Euthanasie“ noch einmal in das Rampenlicht der Öffentlichkeit rückte, wurde

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auch ein Interview mit Catel veröffentlicht. Der Spiegel wies in einer Begleitnotiz darauf hin, dass Catel als Person umstritten war und zu dieser Zeit noch Ermittlungen wegen seiner Gutachtertätigkeit gegen ihn liefen. Gleichzeitig wurde in dieser Personenbeschreibung aber auch betont, dass Catel als Professor für Kinderheilkunde „europäischen Rang“ besäße und es sich bei den auf Basis seiner Gutachten getöteten Kleinkindern „durchweg um Vollidioten“ gehandelt habe. Es ist bezeichnend, wie selbstverständlich dieser Professor in dem abgedruckten Interview weiterhin die Zulassung der „Euthanasie“ forderte und mit welcher Geringschätzung er von den, seiner Meinung nach zu tötenden, Kindern sprach: „Glauben Sie mir, es ist in jedem Fall möglich, diese seelenlosen Wesen von werdenden Menschen zu unterscheiden. […] Ich habe Kreaturen gesehen, die fraglos Vollidioten waren und dennoch äußerlich hübschen Kindern glichen. Auch aus diesen Wesen kann trotz intensivster ärztlicher und pflegerischer Bemühungen nichts herausgeholt werden. […] Ich bin wirklich überzeugt, daß sich eines Tages die Humanitas auch hier durchsetzen wird. Man wird erkennen müssen, daß es menschlicher ist, die idiotischen Kinder von ihrem Unglück zu erlösen als sie zur Qual für ihre Angehörigen vegetieren zu lassen. […] Die Monstren überwiegen bei weitem. Idioten, denen äußerlich nichts anzumerken ist, sind selten. […] Auch der Anstaltsaufenthalt löst das Problem ja nicht. Die seelische Belastung der Eltern bleibt. Das Monstrum vegetiert weiter, sich selbst zur Qual.“21 Catel ging in diesem Interview so weit, selbst das Empfinden von Schmerzen bei geistig behinderten Kindern in Abrede zu stellen, denn „Schmerzempfindung setzt Bewußtsein voraus, was vollidiotischen Kindern fehlt.“22 1964, fast 20 Jahre nach Kriegsende, vertrat der Professor offen die Auffassung, dass die „Euthanasie“ grundsätzlich eine gute Sache gewesen sei, für die man in der Bundesrepublik Deutschland dringend ein Gesetz benötige, um endlich in vernünftigem Rahmen damit weitermachen und die „Monster“ von ihren Qualen erlösen zu können. Zwar räumte er ein, dass natürlich während der NS-Zeit Fehler gemacht worden seien und ein strengerer Maßstab erforderlich gewesen wäre, unterstrich aber gleichzeitig seine Auffassung, dass er selbst selbstverständlich keine Fehler gemacht habe und in den Jahren 1933–1945 bereits gewissenhaft das durchführte, was er nun für die Zukunft forderte. Auch Catel hat ein hohes Alter erreicht. Er starb mit 86 Jahren. Die Universität rühmte in einer Todesanzeige, er habe „in vielfältiger Weise zum Wohle kranker Kinder 21 Der Spiegel, Ausgabe Nr. 8 vom 19.02.1964, S. 41f. 22 Ebd.

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beigetragen.“ Catel hinterließ der Universität eine halbe Million D-Mark unter der Auflage, dass aus den Zinsen eine Stiftung für medizinische Forschung mit Namen „Werner Catel-Stiftung“ zur Verleihung eines jährlichen „Werner Catel-Preises“ entstehen sollte. Dieser Versuch, sich post mortem ein Denkmal zu setzen, scheiterte an den Reaktionen der Öffentlichkeit. Die Universität schlug letztlich das Vermächtnis aus. Die hier dargestellten Sachverhalte beschränken sich zwangsläufig auf einen allgemeinen Überblick über die Entstehung und Durchführung der „Kindereuthanasie“ und berücksichtigen lediglich die an Schlüsselpositionen des Systems angesiedelten Personen und diejenigen, die im Verlauf des relevanten Zeitrahmens mit den in Waldniel tätigen Ärzten Hermann Wesse und Dr. Hildegard Wesse zusammengetroffen sind und diese beeinflusst haben. Man kann beim derzeitigen Forschungsstand die Existenz von 30 „Kinderfachabteilungen“ im gesamten Reichsgebiet als gesichert nachweisen. Jede einzelne dieser Abteilungen hat ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Täter, ihre eigenen Opfer. Nur wenige davon sind bisher umfassend erforscht worden. Mindestens vier dieser Abteilungen haben nicht bis Kriegsende bestanden. Eine davon ist die Kinderfachabteilung Waldniel. Es wird somit in der Folge auch näher auf die Kinderfachabteilungen einzugehen sein, in denen die Waldnieler Ärzte und die mit der Kindertötung betrauten Pflegerinnen nach der Auflösung ihre Tätigkeit fortsetzten. Ferner soll die Frage beantwortet werden, ob und ggf. in welchem Umfang die Täter an anderer Stelle weitergemordet haben und was aus den Kindern geworden ist, die im Juli 1943 von Waldniel aus in andere Kinderfachabteilungen verlegt wurden. Zuvor soll jedoch im nächsten Kapitel am Beispiel eines Einzelfalles der schleichende Prozess beleuchtet werden, mit dem während der NS-Zeit die Lebensbedingungen aller Psychiatriepatienten Schritt für Schritt, bis hin zu ihrer physischen Vernichtung, verschlechtert wurden.

Abb. 22: Catel im „Spiegel“-Interview, 1964

2. VOM „ST. JOSEFSHEIM“ WALDNIEL ZUR „KINDERFACHABTEILUNG“ – DIE VERÄNDERUNGEN AB 1933 AM BEISPIEL EGIDIUS S.

S

echseinhalb Monate nach der Machtergreifung, am 14. Juli 1933, wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet. Die offizielle Gesetzesauslegung berief sich auf Gedankengänge aus Hitlers „Mein Kampf“:23 „Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen. Es ist der entschlossene Wille, den Volkskörper zu reinigen und krankhafte Erbanlagen allmählich auszumerzen.“24 Dieses so genannte „Sterilisationsgesetz“ markierte die erste Stufe auf dem Weg zur Vernichtung geistig behinderter Mitmenschen. Im Gegensatz zu vorherigen Gesetzesentwürfen wurde nun ausdrücklich die Möglichkeit der zwangsweisen Sterilisierung, gegen den Willen des Patienten und/oder dessen Angehöriger, festgeschrieben. Beamtete Ärzte wie auch die Leiter von Kranken-, Heil-, Pflege- und Strafanstalten mussten die Träger angeblicher, genau festgelegter „Erbkrankheiten“ bei den Gesundheitsämtern melden. Die Amtsärzte der Gesundheitsämter hatten für diese „Erbkranken“ die Sterilisierung zu beantragen, wobei in Form eines Zivilprozesses vor neu errichteten Erbgesundheitsgerichten über den Eingriff entschieden wurde. War der Kranke nicht fortpflanzungsfähig, unter ständiger Aufsicht oder aufgrund seiner Erkrankung dauernd anstaltspflegebedürftig, sah man zunächst von einem Verfahren ab. Trat eine Änderung dieser Voraussetzungen ein, erfolgte die Antragstellung. Die gesetzlichen Sterilisationen während der elfjährigen NS-Herrschaft lassen sich auf mindestens 400.000 schätzen. Rund drei Viertel davon wurden während der ersten Hälfte des Regimes durchgeführt, in der zweiten Hälfte stand die Mordpolitik bereits im Vordergrund. Wie drastisch sich das Leben für einen Psychiatriepatienten in den dreißiger Jahren änderte, lässt sich am Beispiel des Waldnieler Patienten Egidius S. nachzeichnen. Egidius wurde im September 1912 geboren, und der Krankenakte ist zu entnehmen, dass die äußerst schwere Geburt mit der Zange beendet werden musste. Vermutlich wurde dem Säugling dabei eine Schädelfraktur zugefügt, worauf der Junge von Geburt an geistig zurück blieb, in den ersten Lebenstagen an Krämpfen litt und zeitlebens mit Bewegungsstörungen zu kämpfen hatte. Von 1922 bis 1927 besuchte er die Hilfsschule, laut Krankengeschichte immerhin mit „mittlerem Erfolg“. Als seine Mutter 1928 erkrankte, konnte man sich der Pflege des Jungen nicht mehr genügend widmen, und so kam er in die, zu dieser Zeit noch von den Franziskanerbrüdern geführte, „Bildungs- und Pflegeanstalt 23 Adolf Hitler: Mein Kampf (München 173. Aufl. 1936), S. 144f., S. 148f., S. 446f. u.a. Zitate hierzu vgl. Vormbaum 2005, S. 26−31. 24 Ausführungsverordnungen zum Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses von (München 1936), S. 5ff.

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2. Kapitel

für Geistesschwache“ St. Josefsheim Waldniel. Die erste psychologische Untersuchung fand dort am 23.07.1928 statt: „Sprache recht unverständlich. Benennt alle Farben richtig, Kann zählen bis 100. Kennt seinen Namen. Ist örtlich orientiert, zeitlich nicht. Zur Arbeit wegen seiner Athetose25 unbrauchbar.“ Etwa ein Jahr später hatte er sich in der Anstalt gut eingelebt und fühlte sich offensichtlich dort wohl: 6.11.29 – „Keine wesentliche Änderung, war nicht weiter krank und sieht gut aus. Führt sich gut und hilft etwas auf der Station. Anstalt dauernd.“ 27.5.30 – „Hat nichts zu klagen und arbeitet wie bisher auf der Station.“ 29.11.32 – „Keine wesentliche Änderung. War nicht krank. Anstalt dauernd nötig.“ So blieb es, bis 1936 die Waldnieler Anstalt von der Provinzialverwaltung übernommen wurde. Letzter Eintrag aus dieser Zeitspanne: 20.10.36 – „War nicht weiter krank, macht Stationsarbeit, steht geistig tief, führt sich gut.“ Am 28. Oktober 1936 wurde Egidius S., wohl wegen der zu dieser Zeit stattfindenden Bauarbeiten am Verbindungstrakt der zwei hinteren Gebäude in Waldniel, nach Johannistal/Süchteln verlegt.

Abb. 23: Angebauter Verbindungstrakt zwischen Männerstation und späterer Kinderfachabteilung, ca. 1936/37

25 Athetose = unwillkürliche Bewegungsunruhe.

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In Süchteln war Egidius am Aufnahmetag, bei einer Körpergröße von 1,65 m, 58,5 kg schwer und laut Eintrag in der Krankenakte „gutmütig, harmlos, willig“, aber auch: „Für nichts zu gebrauchen“ und „tiefstehend schwachsinnig.“ Daneben ein Stempelaufdruck: „Der Reichsarb. Gem. gemeldet“. Dieser muss aus dem Jahr 1940 stammen und bezieht sich auf die Meldung an die so genannte „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ in Berlin, die ab 1939 mit der systematischen Erfassung der später zu ermordenden geisteskranken Patienten beschäftigt war. Außer einer schnell wieder abklingenden Grippeerkrankung im Januar 1937 war Egidius auch in Süchteln nie krank. Man stellte keine geistigen Fortschritte fest, vermerkte aber, dass er sich in „blöd–heiterer Stimmung“ befand und ein „munteres grimassierendes Minenspiel“ zeigte. Am 16. August 1937 – die Bauarbeiten waren mittlerweile abgeschlossen – wurde er wieder nach Waldniel verlegt. Egidius’ Eltern holten ihn in jedem Jahr zu Weihnachten, Ostern und in den Sommermonaten nach Hause. Die Krankenakte zeigt in den Jahren ab 1928 lückenlos entsprechende Anträge seines Vaters, denen jeweils von Seiten der Franziskanerbrüder entsprochen wurde:

Abb. 24: Urlaubsschein Egidius S. Dies änderte sich, nachdem von Süchteln aus am 27.11.1936 die folgende Anzeige abgegeben wurde:

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2. Kapitel

Abb. 25: Meldung von Egidius S. Hier sind (durch die Streichungen schwer zu entziffern) noch einmal die Meldekriterien einzeln aufgeführt: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch depressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),

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erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung und schwerer Alkoholismus. Nach Maßgabe des Gesetzes waren also auch Menschen, die taub, blind oder alkoholsüchtig waren, zu melden und gegebenenfalls zu sterilisieren. Obwohl Egidius nach übereinstimmender Diagnose aller ihn behandelnden Ärzte an einem, durch die Zangengeburt verursachten, erworbenen Schwachsinn litt, wurde er im Sinne des Gesetzes gemeldet. Man stufte ihn als „väterlicherseits belastet“ ein, da sich ein Kind eines Onkels ebenfalls aufgrund von Schwachsinn in der Anstalt Waldniel befand. Die Huntingtonsche Chorea, nach einem amerikanischen Mediziner so benannt, ist eine erbliche Nervenerkrankung, die sich in Muskelunruhe, unwillkürlichen Zuckungen und Koordinationsstörungen bei willkürlichen Bewegungen äußert. Damit einher gehen Störungen der Stimmung und des Intellekts. Die Bezeichnung „Veitstanz“ stammt aus dem 14. Jahrhundert und bezieht sich auf die damals als „Tanzwut“ bezeichnete Krankheit, zu deren Heilung man zur Veitskapelle bei Ulm wallfahrtete. Obwohl die „choreatische Bewegungsunruhe“ im Falle von Egidius S. exogenen Ursprungs war und es sich nach Ansicht der Ärzte nicht um die erbliche „Chorea Huntington“ handelte, wurde er vom Amtsarzt als an „erblichem Veitstanz“ leidend gemeldet. Da er ohnehin als dauernd anstaltspflegebedürftig erfasst war, sah man von seiner Zwangssterilisation zunächst ab. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass er die Anstalt auf keinen Fall verlassen durfte.

Abb. 26: Ablehnung des Urlaubsgesuchs von Egidius S.

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2. Kapitel

Zu Weihnachten 1936 durfte Egidius erstmals nicht nach Hause. Die Franziskanerbrüder scheinen ihn, unter Missachtung des Gesetzes, in den Jahren 1934/35 trotzdem beurlaubt zu haben. Man heftete lediglich die dazugehörigen Anträge und Bewilligungen nicht mehr in der Krankenakte ab. 1936 wurde der übliche Antrag des Vaters mit einer vorgedruckten Antwort bedacht, die schon im Voraus deutlich machte, dass weitere Anträge keinerlei Aussicht auf Erfolg haben würden: Die Willkür und der Widerspruch in den diagnostischen Feststellungen offenbart sich, wenn man einen Vorgang aus dem Jahr 1939 näher betrachtet. Egidius‘ „erbgesunder“ Bruder beantragte in diesem Jahr ein sogenanntes Ehestandsdarlehen. Daraufhin bat der Oberbürgermeister der Stadt Mönchengladbach bei der Anstalt um eine ärztliche Einschätzung, ob die Ehe des Bruders denn „erblich belastet“ sein könne:

Abb. 27: Diagnose „erworbener Schwachsinn“ bei Egidius S. Handschriftliche Stellungnahme des Anstaltsarztes: „Es handelt sich bei Egidius S. um einen erworbenen Schwachsinn mit choreatischer Bewegungsunruhe.“ Hier wurde wieder die Bestätigung abgegeben, dass es sich um ein erworbenes und nicht um ein erbliches Leiden handelte, woraufhin das Ehestandsdarlehen gewährt werden konnte.

Vom „St. Josefsheim“ Waldniel zur „Kinderfachabteilung“

Abb. 28: Meldebogen Egidius S.

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2. Kapitel

Der zuvor heitere und unbekümmerte Egidius S. wurde in Waldniel mehrmals zur „Kolonne“ eingeteilt, aber immer wieder auf die Station zurückgeholt, da von ihm keine brauchbare Arbeitsleistung zu erzielen war. Bereits 1939 beschreibt man ihn nur noch als „stumpf und teilnahmslos“. Erstmals finden sich hier auch Vermerke, dass er unsauber sei und „geregelt“ werden müsse: 17.6.1939 – „Versuchsweise der Kolonne zugeteilt. Stand aber ständig untätig herum. War nicht zu gebrauchen. Unsauber, bedarf erhöhter Pflege.“ 7.7.1939 – „Stumpf und teilnahmslos. Zu nichts zu gebrauchen“. 31.1.1940 – Beschäftigungsversuche schlagen fehl, steht uninteressiert herum. Bei Anrede lächelt er läppisch, harmlos.“ Diese Einträge stammen von Frau Dr. Kalt, einer Ärztin, die am 18. Juli 1941 nach Andernach versetzt wurde und ihren Platz in Waldniel mit einer Ärztin aus Andernach tauschte. Bei dieser neuen Ärztin handelte es sich um Frau Dr. Hildegard Irmen, spätere Ehefrau des Arztes Hermann Wesse, der ab Oktober 1942 „Euthanasie“-Arzt und Leiter der Kinderfachabteilung Waldniel werden sollte. Am 1. Juli 1940 füllte Kalt den „Meldebogen 1“ für Egidius S. aus. Diese Meldebögen, vom Reichsministerium des Inneren verschickt, dienten angeblich der „planwirtschaftlichen Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (so Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti in einem Runderlass vom 24.10.1939). Tatsächlich wurden sie von der bereits erwähnten „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ zur Erfassung der in Kürze zu ermordenden Patienten verwendet. Indem Dr. Kalt die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ mit den Hauptsymptomen „idiotisches Verhalten“ angab und gleichzeitig bei der Frage nach Egidius’ Arbeitsleistung „keine Beschäftigung“ eintrug, hatte sie sein Todesurteil im Grunde bereits besiegelt. Diese Meldebögen wurden angeblich von drei, voneinander unabhängigen, Professoren geprüft, welche dann jeweils ihr Votum abgaben und entschieden, ob der Patient zu töten sei oder nicht. Keiner dieser Professoren hat je einen dieser Patienten persönlich zu Gesicht bekommen, geschweige denn eine Untersuchung vorgenommen. Aus dem Schriftwechsel ist ersichtlich, dass zuweilen in einem Zeitraum von 14 Tagen durch einen Gutachter mehr als 2.100 Meldebögen bearbeitet wurden. Man kann hier also wohl kaum von einem fundierten Expertenurteil sprechen. Irgendwann im Jahr 1941 (ein Datum ist in der Krankenakte nicht vermerkt) wurde in Berlin entschieden, dass Egidius „lebensunwert“ sei, und so sollte er auf Veranlassung des „Reichsverteidigungskommissars“ über die Zwischenanstalt Galkhausen nach Hadamar verlegt werden, wo die „Euthanasiepatienten“ vergast wurden. Dass es hierzu nicht kam, ist wohl auf Hitlers „Euthanasie–Stopp“ vom August 1941 zurückzuführen. Nachdem es in der Öffentlichkeit zu massiven Protesten gegen die Krankenmorde gekommen war und der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen in seiner berühmten Predigt die „Euthanasie“-Aktion öffentlich gebrandmarkt hatte, sah sich Hitler, der im Hinblick auf den bevorstehenden Russland-Feldzug

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Abb. 29: Geplante Verlegung von Egidius S. kein Interesse an negativer Stimmung im Volk haben konnte, gezwungen, die Aktion offiziell einzustellen. Er erteilte Brandt den mündlichen Befehl die Aktion abzustoppen, genehmigte aber gleichzeitig die Fortführung der „Kindereuthanasie“. Die Aktivitäten des Reichsausschusses wurden hierauf forciert und man ging dazu über, die erwachsenen Patienten unauffälliger, durch Überdosierung von Medikamenten und durch gezielten Nahrungsentzug zu beseitigen. Egidius, nicht ahnend, dass er soeben dem Tod in der Gaskammer entgangen war, blieb weiter in Waldniel, wo inzwischen die neue Ärztin Dr. Irmen die männlichen Geisteskranken betreute. Diese schrieb am 12. Dezember 1941 in die Krankenakte: „Verlegung nach Galkhausen ist bisher nicht erfolgt.“ Danach folgt eine Notiz vom 13. März 1942, die lediglich das wiederholt, was schon mehrmals in die Akte geschrieben wurde: „Sitzt hilflos herum, zu nichts zu gebrauchen.“ Am 15. Juni 1942 litt Egidius S., erstmals seit Beginn seiner Anstaltsunterbringung, an einer etwas ernsteren Erkrankung: „Hatte eine stark eitrige Entzündung der Halsdrüsen. Punktion – dadurch ist die Drüsenentzündung zurückgegangen.“ Der nächste Eintrag erfolgte erst dreieinhalb Monate später, am 4. Oktober 1942, und wiederholt abermals nur das, was bereits einige Male in der Akte stand: „Sitzt dösig und abgestumpft herum. Zu nichts zu gebrauchen.“ Am 29. Oktober 1942 folgte dann der vorletzte Eintrag (aufgrund der abweichenden Handschrift eindeutig nicht mehr von Hildegard Wesse, die zu dieser Zeit kurz vor der Entbindung ihres ersten Kindes stand und seit dem 27.10. nicht mehr arbeitete): „Seit einigen Tagen zu matt. Atemnot, schwacher Puls.“ Zwei Tage später, am 31. Oktober 1942 um 14:30 Uhr, starb Egidius S.,

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2. Kapitel

angeblich an Herzversagen. Er war 30 Jahre alt, seit 15 Jahren in Anstaltsunterbringung und in dieser ganzen Zeit fast nie ernsthaft krank gewesen. Ein gutmütiger und liebenswürdiger, geistig behinderter Mensch, der lediglich nicht in der Lage war produktive Arbeit zu leisten, war zum Opfer des Systems geworden. Aufschluss darüber, woran Egidius S. wirklich gestorben ist, kann zum Teil die in der Krankenakte enthaltene Gewichtstabelle geben, die für den Zeitraum vom September 1941 bis zu seinem Tod präzise geführt wurde. Abgesehen von dieser Tabelle befinden sich in der Akte nur zwei Gewichtsangaben. Bei der Aufnahme im Juli 1928 war Egidius 15 Jahre alt, 1,57 m groß und wog 49,7 Kilogramm. Im Oktober 1936, als Egidius von Waldniel nach Süchteln verlegt wurde, war er

Abb. 30: Egidius S.

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mit 24 Jahren 1,65 m groß und brachte 58,5 Kilogramm auf die Waage. Nach der obigen Tabelle wog Egidius bereits im September 1941 nur noch 55 kg. In den folgenden Monaten nahm sein Gewicht weiter dramatisch ab, bis es genau ein Jahr später auf dem Tiefpunkt

Abb. 31: Gewichtstabelle Egidius S.

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2. Kapitel

von 42 kg angekommen war. Damit lag er als erwachsener 30-Jähriger fast acht Kilogramm unter der Marke, die man bei ihm 15 Jahre zuvor festgestellt hatte. Die kurz vor seinem Tod in der Tabelle verzeichnete Gewichtszunahme von 1 kg findet sich auch in vielen anderen Gewichtstabellen dieser Zeit und sollte wohl den Eindruck erwecken, man habe sich liebevoll um den Patienten bemüht und eine Verbesserung seines Ernährungszustandes erreicht, ihn aber trotzdem nicht retten können. Vielleicht war demjenigen, der die Schlussbearbeitung der Patientenakte vornahm, die steil abwärts verlaufende Gewichtskurve auch einfach nur zu auffällig, so dass wenigstens beim letzten Eintrag eine Gewichtszunahme vermerkt wurde. Dass in Waldniel mittels der so genannten „E-Kost“, einer fleisch- und fettfreien Mangelernährung, gezielt auf die Beseitigung von Pa­tienten hingearbeitet wurde, ist anhand von Dokumenten nicht zu beweisen. Bereits das „Lewenstein-Gutachten“ von 1947 stellte dies entschieden in Abrede: „Die Verabreichung einer fett- und eiweißfreien Kost z. B. oder die fortgesetzte Darreichung abnorm hoher Mengen von Medikamenten, vor allem Schlafmitteln, Maßnahmen die in Anstalten anderer Provinzen schon sehr frühzeitig einsetzten und planmäßig in großem Umfange durchgeführt wurden, sind in rheinischen Anstalten niemals auch nur Gegenstand der Erörterung gewesen.“26 Allerdings weisen die Sterblichkeitsziffern und die auffallend gleich lautenden Angaben in den Todesbescheinigungen aus dieser Zeit genau darauf hin. Die Aussage von Dr. Walter Göbel aus dem Eichbergprozess vom 9. Dezember 1946 trifft sicherlich nicht nur auf die hessischen Anstalten zu: „Mir fiel 1933 auf, wie der Lebensstandard der Geisteskranken systematisch in erschreckender Weise gesenkt wurde. Der tägliche Verpflegungssatz wurde dauernd gesenkt und war am Schluß nur noch höchstens 40, vielleicht sogar nur noch 39, 38 Pfennige; mit diesem Verpflegungssatz konnte man einen erwachsenen Menschen unmöglich ernähren.“27 Von Seiten der Anstaltsleitung sind unmittelbar nach dem Krieg zwar die Tötungen in der Kinderfachabteilung zugegeben worden, ansonsten war man aber äußerst bemüht den Anschein zu erwecken, als habe man sich in der übrigen Anstalt weiterhin wie in Friedenszeiten um die Patienten gekümmert. Abgesehen von den Transporten in die Vergasungsanstalten, die von Berlin befohlen und daher nicht zu verhindern gewesen 26 ALVR 16968, Bl. 83f. 27 Klee 2001, S. 46; zu der erhöhten Sterblichkeitsrate („Hungersterben“) in den Anstalten der Rheinprovinz vgl. auch Faulstich 1998, S. 155−162.

Vom „St. Josefsheim“ Waldniel zur „Kinderfachabteilung“.

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seien, wollte man mit der „Euthanasie“ angeblich nichts zu tun gehabt haben. In diesem Zusammenhang ist allem Anschein nach auch das Personal in gewissem Maße unter Druck gesetzt worden. Wie sonst sind die Aussagen der Pflegerin Anna D. zu erklären, die am 3. Januar 1947 noch aussagte, die Kinder in der Kinderfachabteilung hätten so wenig zu essen bekommen, dass sich die Pflegerinnen des Öfteren bei der Oberpflegerin darüber beschwert hätten und dann, neun Monate später, am 14. Oktober 1947 zu Protokoll gab, „insbesondere die Ernährung der Kinder“ sei ausreichend und den Umständen entsprechend angemessen gewesen?28 Im Rahmen der Recherchen zu diesem Buch lagen 45 Krankenakten zur Analyse vor. Zusätzlich stand die fachmännische Analyse von acht Todesfällen durch den Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Münster zur Verfügung. Wenngleich dies angesichts der annähernd 100 Todesfälle in der Kinderfachabteilung und der weitaus höheren Zahl von Todesfällen bei den erwachsenen Geisteskranken für eine repräsentative statistische Vergleichserhebung keineswegs ausreicht, so kann es dennoch kein Zufall sein, dass ausnahmslos jede Gewichtskurve, sofern denn in den Akten eine vorhanden ist, exakt so verläuft wie die von Egidius S. In der Akte findet sich keine medizinische Erklärung über einen krankheitsbedingten Gewichtsverlust und auch die Angaben zur Todesursache sind mehr als dürftig. Hermann Wesse stellte die Todesbescheinigung in Vertretung seiner Ehefrau aus, ohne den Patienten selbst überhaupt angesehen zu haben. Die letzten Einträge in der Krankenakte stammen nicht von ihm. In der Todesbescheinigung trug er als Todesursache „Herzdillatation“ ein (= Herzerweiterung, wobei der medizinische Begriff korrekt mit nur einem „l“ geschrieben wird). Angaben über die Ursachen und die Entstehung dieser Herzerweiterung finden sich in der Krankenakte nicht. Egidius ist an Entkräftung gestorben und vieles deutet darauf hin, dass man ihn in Waldniel bewusst hungern ließ. Er war der Sterilisation und damit der „Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ um den Preis, nicht mehr zu seiner Familie nach Hause zu dürfen, entgangen. Zufall und glückliche Umstände bewahrten ihn vor dem Tod in der Gaskammer von Hadamar. Dem Vernichtungswillen derer, die ihn für „lebensunwert“ befunden hatten, entging er letzten Endes nicht.

28 Aussagen Anna D. vom 03.01.1947 und 14.10.1947, in: HStAD Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 47−54.

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Einführung

3.  DIE „KINDERFACHABTEILUNG“ WALDNIEL

Die Einrichtung der Kinderfachabteilung 1941

Abb. 32: Das „Schutzengelhaus“, in dem 1941 die Kinderfachabteilung Waldniel eingerichtet wurde, Foto aus dem Jahr 2004

I

m Herbst 1940 machten sich der Leiter des Amtes II b in der „Kanzlei des Führers“, Hans Hefelmann und sein Stellvertreter Richard von Hegener auf den Weg zu den Dezernenten der Länder und freien Reichsstädte, um die Einrichtung von Kinderfachabteilungen vorzubereiten. Hefelmann gab an, man sei sich darüber im Klaren gewesen, dass man nicht sämtliche Reichsausschusskinder in Görden unterbringen konnte. Zudem hatte man zu berücksichtigen, dass die Eltern der einzuweisenden Kinder es sicherlich vorziehen würden, ihre Kinder in einer Anstalt in der Nähe des Wohnorts untergebracht zu wissen. Es war geplant, ganz Deutschland mit einem Netz von Kinderfachabteilungen zu überziehen. Der zuständige Gesundheitsdezernent der Rheinprovinz war Prof. Dr. Walter Creutz. Bei ihm erschienen Hans Hefelmann und Richard von Hegener am 09.05.1941,29 um die 29 Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-18, S. 482.

3. Kapitel

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Abb. 33: Dr. agr. Hans Hefelmann Errichtung von zwei Kinderfachabteilungen30 des Provinzialverbandes für das Rheinland zu veranlassen. Bei dieser Besprechung ließ Creutz sehr deutlich erkennen, dass er der Sache ablehnend gegenüberstand. Hefelmann erklärte ihm daraufhin, dass „der ‚Reichsleiter‘ Bouhler von den Beamten des Deutschen Reiches erwartete, dass sie, wenn schon nicht als ausführende Ärzte für den Reichsausschuss tätig, sich für Weisungen der Reichskanzlei zur Verfügung stellten, nachdem sie sich entschlossen hatten im 3. Reich eine Beamtenposition zu übernehmen“. 31 Im Klartext hieß dies: Wer im NS-Staat eine Beamtenposition innehatte und diese gerne behalten wollte, der hatte gefälligst das zu tun, was Berlin von ihm verlangte. Daraufhin scheint Creutz keine weiteren Einwände erhoben zu haben. Er selbst hat bei seinem Prozess seine Ablehnung wesentlich deutlicher in den Vordergrund gestellt. Hefelmann sprach davon, dass diese Unterredung „konziliant“ geführt worden sei. Ein Streitgespräch hatte also offensichtlich nicht stattgefunden. Immerhin war dies der einzige Fall, bei dem im Rahmen der Rundreise, die Hefelmann und von Hegener durch das Deutsche Reich unternahmen, überhaupt auf irgendjemanden Druck ausgeübt werden musste.32 Letztlich wurde beschlossen, eine Kinderfachabteilung in Waldniel, der Außenstelle der Heil- und Pflegeanstalt Johannistal, einzurichten. Als Leiter dieser Kinderfachabteilung wurde Dr. Renno entsandt. Nach Angaben von Creutz kam dies zustande, weil er den Berliner Stellen mitgeteilt habe, im Rheinland sei 30 Vormbaum 2005 (Anklageschrift, S. 166). 31 Aussage Hans Hefelmann vom November 1960, zit. nach Benzenhöfer 2000, S. 36. 32 Ebd., S. 37.

Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel

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kein Arzt bereit diese Aufgabe zu übernehmen. Gleichzeitig stellte er die Behauptung auf, Wesse sei ihm später mit der Bemerkung präsentiert worden, man habe „nun doch einen rheinischen Arzt“ für diese Aufgabe gefunden.33 Hermann Wesse konnte sich 1947 an diese Bemerkung nicht erinnern, und es dürfte sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um eine der zahlreichen schönfärberischen Darstellungen von Creutz handeln. Dass der Vorschlag zur Einrichtung einer Kinderfachabteilung im Rheinland bei Creutz keine Begeisterung ausgelöst hatte, war Hefelmann nicht verborgen geblieben. Er war also allein deshalb schon daran interessiert, einen „erfahrenen“ Tötungsarzt nach Waldniel zu entsenden, der auch, wie im Fall von Dr. Georg Renno, als Medizinalrat und SSUntersturmführer mit entsprechender Reputation dort auftreten würde. Außerdem gab es seit dem, am 24. August 1941 von Hitler verfügten, offiziellen „Euthanasie-Stopp“ in der österreichischen Anstalt Hartheim für Renno keine Aufgabe mehr, und es ist mehrfach belegt, dass zur gleichen Zeit die Aktivitäten des „Reichsausschusses“ forciert und ausgeweitet wurden. Karl Brandt informierte den Amtsleiter Victor Brack im Beisein von Hans Hefelmann bei einer Besprechung im August 1941 darüber, dass der „Führer“ verfügt habe, die „Aktion“ (= Vergasung der erwachsenen Geisteskranken – A.d.V.) sei sofort einzustellen. Hefelmann fragte daraufhin, ob dies denn auch für die „Kinder-Euthanasie“ gelte, woraufhin Brandt, da er die Frage nicht beantworten konnte, bei Hitler nachfragen musste. Kurz darauf kehrte Brandt mit der Antwort zurück, die Einschläferung von Kindern könne unverändert weiterbetrieben werden.34 Renno, der am liebsten über seine Zeit in Waldniel überhaupt nichts preisgegeben hätte, behauptete im Jahr 1997, er habe in Waldniel nur „leere Räume“ vorgefunden und da „sei gar nichts gewesen“.35 Tatsächlich gibt es Dokumente darüber, dass die Einrichtung in Waldniel nicht in der gewünschten Geschwindigkeit vonstatten ging. So enthält das Schreiben zur Weihnachtsgratifikation des Jahres 1941 den Satz: „Obgleich die Kinderfachabteilung des Reichsausschusses in Waldniel bisher noch nicht ihre Tätigkeit aufgenommen hat …“. Dieses Schreiben trägt das Datum vom 22.12.1941 – bis zu diesem Zeitpunkt war also noch kein Kind in Waldniel eines unnatürlichen Todes gestorben. Allerdings befanden sich zu dieser Zeit bereits die ersten kleinen Patienten in der Kinderfachabteilung. Am 16.12.1941 war auf Verfügung von Prof. Creutz der erste Sammeltransport von Kindern in die neue Abteilung verlegt worden. Man war zu diesem Zeitpunkt also aufnahmebereit, und das Mordhandwerk konnte beginnen. Die ersten beiden Todesfälle ereigneten sich am 27.01.1942 und wurden beide von Dr. Renno bescheinigt. Der letzte von Renno unterzeichnete Aktenvermerk trägt das Datum 23.02.1942. Danach verließ Renno Waldniel, und die Kinderfachab33 Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-20, S. 484. 34 Vormbaum 2005 (Anklageschrift, S. 682). 35 Kohl 2000, S. 226.

3. Kapitel

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teilung wurde übergangsweise durch Dr. Hildegard Wesse geleitet. Hermann Wesse, der ja bereits als Nachfolger eingeführt war, befand sich zu dieser Zeit (seit dem 02.01.1942) zur „Ausbildung“ in der Kinderfachabteilung des Professors Heinze in Görden. Am 04.03.1942 war Wesse aus Görden zurück und hätte nun eigentlich die Arbeit in Waldniel übernehmen sollen. Er wurde jedoch zur weiteren Ausbildung nach Bonn an die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie versetzt, wo er bis zum 01.10.1942, also für sieben Monate verblieb. Diese Verzögerung wollte Walter Creutz später als Beleg für seine angebliche Sabotage der Aktion verstanden wissen, denn angeblich hatte er darauf bestanden, dass Hermann Wesse noch eine längere Ausbildung erhalten müsse. Dieser Darstellung folgte das Düsseldorfer Gericht im Jahre 1948. Hermann Wesse konnte sich indes bereits 1947 ebenfalls nicht mehr erinnern, ob der Vorschlag, ihn nach Bonn zu schicken, von Creutz oder von den Herren des Reichsausschusses stammte. Hefelmann war bei seiner späteren Vernehmung in den 1960er Jahren überzeugt, die Kinderfachabteilung hätte sich in Bonn befunden. Bonn muss mithin in den Gesprächen um die Einrichtung der Waldnieler Kinderfachabteilung eine große Rolle gespielt haben. Gleichzeitig erinnerte sich Hefelmann, dass Wesse, „da er noch sehr jung war“, an „ein Konzilium mit einem anderen Arzt“ gebunden war.36 Dieser andere Arzt war der Provinzial-Obermedizinalrat Dr. Hans Aloys Schmitz, der allerdings bis zum 04.09.1942 bei der Wehrmacht gebunden war und erst ab diesem Termin für die Arbeit in der „Kindereuthanasie“ zur Verfügung stand. Dieser renommierte und erfahrene Jugendpsychiater erhielt den Auftrag, Wesses Diagnosen zu überprüfen und im Bedarfsfall zu korrigieren; eine Vereinbarung, die möglicherweise tatsächlich auf Verlangen von Creutz zustande gekommen ist. Da Schmitz vor diesem Termin nicht zur Verfügung stand, war es naheliegend, den jungen und unerfahrenen Arzt Hermann Wesse zuvor in der Anstalt des übergeordneten Arztes ausbilden zu lassen, um dort die Arbeits- und Verfahrensweisen kennenzulernen, die der spätere Vorgesetzte gewohnt war und für angebracht hielt. Der erste Todesfall für Hermann Wesse als Arzt in Waldniel Am 01.10.1942 begann Hermann Wesse mit seiner Arbeit in der Kinderfachabteilung. Bereits am darauf folgenden Tag unterschrieb seine erste Todesbescheinigung, diese sogar fälschlich mit dem Ausstellungsdatum 01.10.1942. Hieraus die Schlussfolgerung zu ziehen, diese Bescheinigung wäre tatsächlich am 01.10.1942 ausgestellt worden für ein Kind, das zu diesem Zeitpunkt noch lebte, von dem Wesse aber bereits wusste, dass es 36 Aussage Hans Hefelmann vom November 1960, zit. nach Benzenhöfer 2000, S. 36.

Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel

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am nächsten Tag sterben würde, ist zwar verführerisch, im Hinblick auf die Umstände jedoch unwahrscheinlich. Es wird sich in diesem Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen simplen Tippfehler handeln. Abb. 34: Todesbescheinigung Gertrud W. − Vorderseite mit Todesdatum 2. Oktober

Abb. 35: Todesbescheinigung Gertrud W. − Rückseite mit Ausstellungsdatum 1. Oktober 1942

Gertrud W. dürfte eines „natürlichen Todes“ gestorben sein, da in der kurzen Zeit weder ein Gutachten erstellt, noch eine entsprechende „Ermächtigung“ des Reichsausschusses eingegangen sein konnte. „Natürlicher Tod“ bedeutet in diesem Fall allerdings lediglich, dass nicht mit Medikamenten nachgeholfen wurde. In Folge mangelnder Versorgung litten die Kinder zum großen Teil an Unterernährung und Entkräftung. Gertrud W. verstarb am 02.10.1942 im Alter von zehn Jahren um 22:10 Uhr an „Marasmus“.

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3. Kapitel

Abb. 36: Gewichtskurve aus Krankenakte Gertrud W.

Marasmus ist die Bezeichnung für eine totale Auszehrung des menschlichen Körpers in Folge von Nährstoff- und Proteinmangel. Heute würde man in der Beurteilung der Todesursache den kausalen Zusammenhang berücksichtigen und die Grunderkrankung mit einbeziehen. „Marasmus“ galt, unter den damaligen Kenntnissen und Umständen, als gängige Bezeichnung für die Todesursache von alten, hinfälligen Menschen und Kindern, die an Gedeih- und Entwicklungsstörungen litten oder bei denen aufgrund von Ernährungsstörungen Abmagerung und Kräfteverfall eintraten. Dass Abmagerung und Kräfteverfall in den Kinderfachabteilungen durch gezielte Unterernährung künstlich herbeigeführt wurden, ist durch eine Vielzahl von Dokumenten und Aussagen belegt. In Gertruds Krankenakte existieren Aufzeichnungen über den Gewichtsverlauf, die die stetig fortschreitende Entkräftung des Kindes dokumentieren. Bei der Aufnahme in Waldniel im Dezember 1941 wog das zu diesem Zeitpunkt neuneinhalbjährige Kind immerhin 21 Kilogramm. Bis zum März 1942 war ihr Gewicht auf zwölf Kilogramm gesunken. Im Juli 1942 wurde bei dem inzwischen zehnjährigen Mädchen ein Gewicht von nur noch elf Kilogramm vermerkt. Danach setzte eine Umkehr in der Gewichtskurve

Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel

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ein, die sich auffällig mit der Entwicklung in der Krankenkakte des Patienten Egidius S. deckt: Nun stieg die Gewichtskurve plötzlich steil an. Nach diesen Aufzeichnungen nahm Gertrud W. in ihren letzten zwei Lebensmonaten immerhin wieder drei kg zu.37 Während Wesses Tätigkeit in Waldniel starben dort insgesamt 91 Kinder. Zwei Kinder starben während der Tätigkeit von Dr. Renno, sechs weitere in der Zwischenzeit, während Hildegard Wesse die Abteilung betreute. Die Gesamtzahl der in Waldniel während des Bestehens der Kinderfachabteilung gestorbenen Kinder beträgt demnach 99. Die Bedeutung der Waldnieler Abteilung im Vergleich Die Existenz von mindestens 30 Kinderfachabteilungen im Gebiet des Deutschen Reiches kann inzwischen als gesichert betrachtet werden.38 Allerdings liegen nur wenige Informationen über deren jeweilige Größe und Belegungskapazität vor. Die „Musterabteilung“ des Reichsausschusses, die Anstalt in Görden, verfügte über eine Kinderabteilung mit annähernd 1.000 Betten. Nach Angaben von Professor Heinze waren hiervon aber nur 60–80 Betten für die Belegung durch den Reichsausschuss reserviert. Die Abteilung im Kalmenhof bei Idstein verfügte über 30, die Kinderfachabteilungen Niedermarsberg und Wiesloch nur über je 15 „Reichsausschuss-Betten“. In der Abteilung Eichberg standen dem Reichsausschuss ca. 20 Betten zur Verfügung.39 In der Kinderfachabteilung Lüneburg wurde, lt. Angaben des Leiters Dr. Baumert, „ein Pavillon mit etwa 30–40 Betten“ für die Kinderfachabteilung vorgesehen. Diese Angabe erscheint allerdings bewusst untertrieben, denn die Abteilung in Lüneburg wies bereits für das Jahr 1941 eine Belegung von 162 Patienten aus, und zwar nur für die Kinderfachabteilung. Im Jahr 1943, als im Sommer aus Waldniel insgesamt 38 Kinder hinzukamen,40 wies Lüneburg einen Gesamtbestand von 307 Kindern aus. Wenngleich in diesem Jahr in Lüneburg insgesamt 132 Kinder starben und Berichte über hoffnungslose Überbelegung existieren (z. T. mussten zwei Kinder in einem Bett liegen), kann bei diesen Zahlen eine Normalbelegung von 30−40 niemals zutreffend sein. Eine umfassende Studie zu den Aufnahmekapazitäten der einzelnen Kinderfachabteilungen liegt bislang nicht vor. Folgt man den Angaben von Dr. Hans Hefelmann, dann wurden Kinderfachabteilungen vorzugsweise in bereits bestehenden Kinderstationen eröffnet: 37 Krankenakte Gertrud W., in: LVR-Kliniken Viersen. 38 Vgl. hierzu Benzenhöfer 2000, S. 82f. 39 Vormbaum 2005 (Anklageschrift, S. 86−87). 40 ALVR 16968, Bl. 109.

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3. Kapitel

„Reichsausschuß-Anstalten im Sinne selbständiger Anstalten, die lediglich den Zwecken des Reichsausschusses zur Verfügung standen, hat es nicht gegeben […] Von einzelnen Ausnahmefällen abgesehen, bestanden auch keine Kinderfachabteilungen, in denen nur so genannte Reichsausschuß-Kinder behandelt wurden. In der Regel lagen die Reichsausschuß-Kinder in den Kinderabteilungen zusammen mit anderen. Ob der betreffende Klinikleiter die Reichsausschuß-Kinder in einer besonderen Abteilung zusammenfaßte oder nicht, lag völlig in seinem Ermessen.“41 Fest steht, dass es vor der Einrichtung der Kinderfachabteilung Waldniel eine Kinderabteilung oder Kinderstation in dieser Anstalt nicht gab. Lediglich in der Haupt-Anstalt Süchteln-Johannistal befand sich eine Kinderstation. Die größeren Transporte in die Kinderfachabteilung kamen aus Bonn, Oberhausen, Essen, und Kerpen. Ob die „normale“ Kinderabteilung in Süchteln weiter bestanden hat, wurde nicht überprüft, von dort wurden jedoch definitiv keine Verlegungen in die Kinderfachabteilung Waldniel vorgenommen. Dies wäre allerdings im Zuge einer planmäßigen Umstrukturierung und unter dem Gesichtspunkt, dass Waldniel tatsächlich neben den Reichsausschuss-Kindern auch andere aufnehmen sollte, mehr als naheliegend gewesen. Setzt man die Richtigkeit der spärlichen Belegungsangaben anderer Kinderfachabteilungen voraus, dann war Waldniel zu dieser Zeit eine der größten, wenn nicht sogar die größte derartige Station. Als reine Reichsausschuss-Abteilung eröffnet, verfügte sie von Anfang an über eine Kapazität von ca. 200 Betten und war damit (immer die Angaben der Zeugen als zutreffend unterstellt) sogar größer als das „Prunkstück des Reichsausschusses“42, die Kinderfachabteilung Görden. Dies würde auch erklären, warum die ursprünglich im Gespräch mit Creutz von Hans Hefelmann und Richard von Hegener geforderte Eröffnung einer zweiten Kinderfachabteilung in der Rheinprovinz in der Folge nie mehr erwähnt wurde. Wenn man anstelle der geforderten zwei Abteilungen mit vielleicht je 30–40 Betten eine große Abteilung mit 200 Betten zur Verfügung gestellt bekam, erübrigte sich ein zusätzlicher Standort. Diese Erkenntnis steht allerdings in Widerspruch zu der gerichtlichen Feststellung, dass in Waldniel auch andere Kinder untergebracht gewesen seien,43 sowie den Angaben der Zeugen über die Betreuung und Versorgung der „noch bildungsfähigen“ Kinder.44 Selbst wenn die Angaben zur Belegungskapazität der anderen Abteilungen unpräzise und möglicherweise zum Teil bewusst untertrieben waren, so wird die Bedeutung der 41 Aussage Dr. Hans Hefelmann vom 07.-14.11.1960, S. 17–18, zit. nach Benzenhöfer 2000, S. 24, Vormbaum 2005 (Anklageschrift, S. 123). 42 Vornbaum 2005 (Anklageschrift, S. 119). 43 Vgl. diesbezügliche Ausführungen im Urteil des LG Düsseldorf 8 KLs 8/48 v. 24.11.1948 in Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-61, S. 525 u. Urteil in Entnazifizierungssache Dr. Kleine vom 14.09.1948, in: HStAD, NW-1097-B1 Nr. 7254. 44 Vgl. Kap. 6, Abschnitt „Mord und Pflege Tür an Tür?“.

Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel

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Kinderfachabteilung Waldniel allein schon an dem Umstand verdeutlicht, dass man im Sommer 1943 insgesamt fünf Aufnahmeanstalten benötigte, um die Patienten der Waldnieler Abteilung unterbringen zu können. Hierunter befand sich kein einziger Transport, der in eine Landesklinik oder eine „normale“ Kinderabteilung verschickt wurde. Alle Aufnahmeanstalten waren Kinderfachabteilungen des Reichsausschusses. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass es sich bei der Abteilung Waldniel um eine reine ReichsausschussStation gehandelt hat, die ausschließlich zum Zweck der Kindertötung eingerichtet und betrieben wurde. Die Einweisung der Kinder Zunächst wurde mit allerlei Versprechungen versucht, den Eltern die Einweisung ihrer Kinder in eine Reichsausschuss-Abteilung schmackhaft zu machen. Wenn das Versprechen der bestmöglichen Behandlung und modernster Therapiemöglichkeiten nicht ausreichte, um die Eltern zu überzeugen, wurden die Amtsärzte angewiesen nochmals auf die Eltern einzuwirken: „[…] Ich bestätige den Empfang ihres Schreibens vom 17.2.1941 und habe davon Kenntnis genommen, daß die Eltern des Kindes Bedenken haben, dieses in die Heilund Pflegeanstalt […] einzuweisen. Ich bitte mit den Eltern nochmals Verbindung aufzunehmen und darauf hinzuweisen, daß die von mir vorgeschlagene Aufnahme des Kindes in der Kinderfachabteilung […] ausschließlich in dessen Interesse erfolgen soll und nicht mit einer Einweisung in eine Irrenanstalt identisch ist. Es handelt sich vielmehr um eine nur verwaltungsmäßig mit der Anstalt verbundene Kinderfachabteilung. Andererseits können selbstverständlich vor einer stationären Beobachtung des Kindes keine bindenden Angaben gemacht werden, ob in vorliegendem Fall nur eine Beobachtung des Kindes oder erforderlichenfalls auch eine Therapie in Frage kommt und wie lange der Aufenthalt des Kindes erforderlich sein wird. Selbstverständlich steht es den Eltern jedoch jederzeit frei, ihr Kind von dort wieder abzuholen.“45 Spätestens mit Erlass des Innenministeriums vom 20.09.1941 bedurfte es solcher Schreiben nicht mehr. Den Eltern konnte mit dem Entzug des Sorgerechts gedroht werden, was in der Regel zum gewünschten Erfolg führte: 45 Schreiben des Reichsausschusses an das Gesundheitsamt Biberach vom 26.02.1941, in: StA Tübingen Band 58/1, Ks 6/49; Vornbaum 2005 (Anklageschrift, S. 109−110).

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3. Kapitel

„[…] Die Volksgemeinschaft hat das größte Interesse daran, daß Kinder mit schweren Mißbildungen oder schweren geistigen Schädigungen alsbald einer erfolgversprechenden Behandlung oder Asylierung zugeführt werden. Über die Notwendigkeit ist nichts weiter zu sagen, da diese selbstverständlich ist. […] Durch die Asylierung schwer leidender und besonders pflegebedürftiger Kinder wird den Eltern erfahrungsgemäß eine wirtschaftliche und seelische Last abgenommen und eine Vernachlässigung etwa in der Familie vorhandener gesunder Kinder zugunsten des kranken Kindes verhindert. […] Die Sorgeberechtigten sind oft nicht gern bereit, das Kind in eine Anstalt zu geben. Sie stützen sich dabei oft auf die Angabe des Hausarztes, daß auch eine Anstaltsbehandlung an dem Zustand nichts ändern könne, oder sie glauben, eine fortschreitende Besserung im Zustand des Kindes zu bemerken, was in Wirklichkeit aber meist […] eine Anpassung der Beobachter an diesen Zustand darstellt. […] Ich bringe das den Gesundheitsämtern zur Kenntnis, damit sie die Sorgeberechtigten entsprechend belehren können […].“46 Zusätzlich wurden den Eltern mit dem Wegfall der Kostenübernahme für den Fall eines zu langen Zögerns gedroht: „[…]Den Eltern muß gesagt werden, daß durch eine rechtzeitige Anstaltsunterbringung ihnen und dem Kind am besten gedient sei, daß eine Anstaltsunterbringung später doch notwendig werde, daß bei Verweigerung der Anstaltsunterbringung gegebenenfalls für sie oder für das Kind später wirtschaftliche Belastungen eintreten können, so daß unter Umständen geprüft werden müsse, ob nicht in der Zurückweisung des Angebots eine Überschreitung des Sorgerechts zu erblicken ist […].“47 Mit zunehmendem Fortschreiten der Maßnahmen wurde auch der Umgang mit den Eltern immer drastischer. Als Beispiel sei hier das Schreiben des Reichsausschusses an die Mutter des Kindes Barbara B. angeführt, die versucht hatte sich der Anstaltseinweisung ihres Kindes zu widersetzen: „[…] Die Feststellung, daß Ihr Kind Barbara an einem körperlichen und geistigen angeborenen Leiden krank ist, erfolgte durch das Staatl. Gesundheitsamt. Es handelt sich um einen Zustand, der die körperliche und geistige Entwicklung in einer Weise hemmt, daß das Kind unfähig bleibt, sein Leben selbst zu gestalten. Es wird immer Pflege und Wartung notwendig haben. – Sie müssen aus diesem Grunde dafür dank46 Vormbaum 2005 (Anklageschrift, S. 102f.). 47 Erlass des Reichsministers des Innern IV b 1982/41 1079 Mi vom 20.09.1941, unterzeichnet von Dr. Leonardi Conti.

Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel

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bar sein, daß Stellen geschaffen wurden, in denen die Möglichkeit der besten und erfolgreichsten Behandlung vorhanden sind, um den Zustand solcher vom Schicksal getroffener Kinder zu bessern. Es ist von Ihnen im Interesse ihres Kindes unklug, sich gegen die Einweisungsmaßnahmen zu sträuben. Eine Verzögerung der Einweisung bzw. deren Aufhebung kann nicht erfolgen. Es werden weitere Maßnahmen, z.B. Entziehung des Sorgerechts, veranlaßt werden müssen, wenn Sie sich der Verbringung ihres Kindes in die Landesheilanstalt […] weiterhin entgegenstellen. Ich bitte deshalb, sich innerhalb einer Woche zu entscheiden […].“48 Zusätzlichen Druck auf die Eltern, insbesondere alleinstehende Mütter, übte man später dadurch aus, dass man die zuständigen Arbeitsämter anwies, die der Einweisung ihres Kindes widersprechende Mutter „in Arbeit zu vermitteln“, sofern „für die bisherige Nichtbeschäftigung die Pflege des kranken Kindes ausschlaggebend war“. Sobald die Mutter dann eine Arbeit in einem Rüstungsbetrieb o.ä. zugewiesen bekommen hatte, blieb ihr praktisch nichts mehr anderes übrig als der Einweisung zuzustimmen. „[…] Nachdem hin und wieder unverständige Eltern eine Einweisung ihres schwerkranken Kindes in eine Anstalt abgelehnt haben, hat der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz auf Anfrage des Herrn Reichsministers des Inneren grundsätzlich erklärt, daß die Pflege eines solchen kranken Kindes nicht als Grund für die Zurückstellung der Mutter vom Arbeitseinsatz gelten könne. […] Vor einiger Zeit ist nun der obengenannten Frau seitens des Reichsausschusses die Möglichkeit zur Aufnahme ihres Kindes in die Kinderfachabteilung […] geboten worden. Sie hat die Einweisung trotz entsprechenden Hinweises des zuständigen Gesundheitsamtes abgelehnt, möglicherweise um sich einem Arbeitseinsatz zu entziehen. Ich teile Ihnen dies mit, mit dem Anheimstellen, die genannte Frau in Arbeit zu vermitteln, sofern für die bisherige Nichtbeschäftigung die Pflege des kranken Kindes ausschlaggebend war. In diesem Falle bitte ich um kurze Unterrichtung. Heil Hitler! Gez. Hefelmann.“49 Auflösung der Waldnieler Abteilung Im Sommer 1943 war das Rheinland Ziel von immer stärkeren Luftangriffen der Alliierten. Immer mehr Städte des Ruhrgebietes wurden zerstört, und es fehlte an Lazarettraum für die Opfer der Bombenangriffe. Diesen suchte man in den ländlichen Gebieten, die 48 Vornbaum 2005 (Anklageschrift, S. 111−112). 49 Schreiben des Reichsausschuss vom 26.02.1941, Beiakten Ks 6/49, in: StA Tübingen Band 58/1; Vornbaum 2005 (Anklageschrift, S. 114).

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3. Kapitel

von den Luftangriffen weitgehend verschont blieben. Im Sommer 1943 besichtigte der Düsseldorfer Gauleiter Florian die Anstalt Waldniel und stellte Ansprüche auf einige Gebäude als Ausweichkrankenhaus. Dabei legte er offenbar besonderen Wert auf das Gebäude der Kinderfachabteilung. Wesse wies ihn darauf hin, dass dieser Teil der Anstalt dem Reichsausschuss direkt unterstellt sei und die Provinzialverwaltung nicht einfach darüber entscheiden könne. Trotzdem erhielt er etwa drei Wochen später die Verfügung über die Auflösung seiner Kinderfachabteilung. Am 29.06.1943 kündigte die GEKRAT (Gemeinnützige Krankentransport GmbH) an, dass sie aus Waldniel vom 01.07.1943 an 510 Männer, 588 Frauen und 176 Kinder abtransportieren werde.50

Abb. 37: Gewaltsame Verladung von Kindern oder Jugendlichen in Busse der GEKRAT, heimlich aufgenommenes Foto, vermutlich 1942 Setzt man die Richtigkeit dieser Zahlen voraus, dann zeigt sich, dass die Abteilung zu diesem Zeitpunkt tatsächlich „rund“ lief, denn zwischen dem 28.06.1943 und dem letzten Verlegungstag ereigneten sich noch sechs Todesfälle in Waldniel. Trotzdem wurden insgesamt 183 Kinder verlegt, was bedeutet, dass die Abteilung im gleichen Zeitraum einen Zugang von immerhin 13 neuen Patienten zu verzeichnen hatte. Die 183 Kinder wurden auf verschiedene andere Abteilungen verteilt. Der Abtransport begann am 1. Juli. Am 10.07.1943 verließ der letzte Transport mit 16 Kindern die Anstalt Waldniel in Richtung Ansbach. − Damit war die Funktion der Waldnieler Anstalt als offizielle Tötungseinrichtung beendet. 50 ALVR 13073, Bl. 97.

Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel

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Das weitere Schicksal der Waldnieler Reichsausschusskinder Das Schicksal der Kinder aus Waldniel war bisher vollkommen unerforscht. Auch eine Aufstellung der Provinzialverwaltung aus dem Jahr 1947 weist 183 Kinder aus, die angeblich an folgenden Terminen in die nachstehenden Anstalten verlegt wurden:51 Tag des Transports

Männlich

Weiblich

Gesamt

Bestimmungsort

02.07.1943 03.07.1943 04.07.1943 08.07.1943 10.07.1943

27 31 21 11 7 97

32 20 17 8 9 86

59 51 38 19 16 183

Görden Uchtspringe Lüneburg Ueckermünde Ansbach

Die Unterlagen, die seinerzeit Grundlage für die Zusammenstellung dieser Aufstellung gewesen sein müssen, existieren heute nicht mehr. Demnach gibt es kein Verzeichnis über die Namen, Geburtsdaten und die Herkunft dieser 183 Kinder. Auskunft konnten also zunächst nur die Aufnahmebücher der Zielanstalten geben, sofern solche dort noch existierten. Da zu dieser Zeit überall aus den rheinischen Anstalten Patienten in Aufnahmeanstalten des Ostens verlegt wurden und die dortigen Aufnahmebücher nicht zwingend nach Kindern und Erwachsenen getrennt geführt wurden, ist eine komplette Recherche heute kaum mehr möglich. Die Anstalt Lüneburg, die im Übrigen eine hervorragende Aufklärungsarbeit in Bezug auf die eigene NS-Vergangenheit leistet, verfügt lediglich über zwei Krankenakten aus dem Bestand der Kinderfachabteilung. Hierbei handelt es sich nicht um Kinder aus Waldniel. Im zuständigen Staatsarchiv Wiesbaden existieren ca. 450 Kinderakten, die bisher nicht in Bezug auf Ursprungsanstalten und die Zuordnung zur Kinderfachabteilung erforscht wurden. Die Bestände aus Görden und Ansbach wurden an die jeweils zuständigen Staatsarchive abgegeben, wo sich in den Findbüchern und Verzeichnissen keine Hinweise auf Unterlagen über die Transporte aus der Kinderfachabteilung Waldniel ermitteln ließen. Dagegen existieren Aufnahmebücher und teilweise Krankenakten in den Archiven der Anstalten Uchtspringe und Ueckermünde. Nach Ueckermünde wurden neben den 19 Kindern aus der Kinderfachabteilung noch 140 erwachsene Patienten aus Waldniel verlegt. Bis zur Aussage Hefelmanns am 15.05.1961 war die Existenz einer Reichausschussabteilung in Ueckermünde vollkommen unbekannt. Aufnahmebücher und ein Teil der Krankenakten haben den Krieg überdauert. Die Ankunft des Transportes ist auch dort mit Datum 08.07.1943 vermerkt. 18 Kinder 51 Lewenstein-Gutachten, in: ALVR 16968.

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3. Kapitel

aus Waldniel starben in Ueckermünde, zwölf davon bereits innerhalb eines Monats nach ihrem Eintreffen.52 Durch die Auswertung der dortigen Unterlagen wurde ersichtlich, dass man bei der Verlegung der Kinder alphabetisch „der Reihe nach“ vorgegangen war, denn alle Namen der nach Ueckermünde verlegten Kinder begannen mit den Anfangsbuchstaben S, T und V.53 Schriftverkehr aus den Akten von Kindern, die kurz vor dem Verlegungstermin noch in Waldniel gestorben waren, gab darüber Aufschluss, dass der Transport nach Lüneburg den Buchstabenkreis „P“ einschloss. Dadurch ließen sich in gewissem Umfang Rückschlüsse auf die Namen der in die übrigen Zielanstalten verlegten Kinder ziehen. Abgesehen von den Angaben über die 99 in Waldniel gestorbenen Kinder, die aufgrund der lückenlos vorliegenden Aufzeichnungen des Standesamtes Waldniel eindeutig festzustellen sind, waren nur wenige Unterlagen vorhanden. Eine Bestandsmeldung an den Reichs­ ausschuss vom 21.12.1942 enthält die Namen von 122 Kindern, die zu diesem Zeitpunkt in der Kinderfachabteilung untergebracht waren. Darüber hinaus existiert die Transportliste eines am 06.03.1943 von Kerpen nach Waldniel durchgeführten Kindertransports mit den Namen von 54 Mädchen. Abzüglich der in Waldniel zu Tode gekommenen Kinder verblieben aus diesen Listen insgesamt 134 Namen von Kindern, die bei Auflösung der Kinderfachabteilung verlegt worden sein müssen. Die übrigen 49 Kinder müssen nach dem 21.12.1942 in Waldniel aufgenommen worden sein, und sie stammten nicht aus dem Kerpener Transport. Ihre Namen sind unbekannt. Aufgrund dieser Erhebungen gelang es, von den 51 nach Uchtspringe verlegten Kindern 33 namentlich zu verifizieren. 23 dieser Kinder starben nachweislich in Uchtspringe, davon 21 (annähernd 65 Prozent) innerhalb von weniger als zwei Monaten nach ihrer Aufnahme. Zusammen mit den Daten aus Ueckermünde ergeben sich danach bei 52 eindeutig festgestellten Verlegungskindern 33 Todesfälle innerhalb der ersten zwei Monate in der Aufnahmeanstalt. Das entspricht einer Sterblichkeitsrate von 63,5 Prozent. Es ist also festzustellen, dass die Auflösung der Waldnieler Abteilung und die damit verbundene Verlegung der Insassen für diese keine Verbesserung oder gar Rettung darstellte. In den Aufnahmeanstalten wurde die Sterblichkeitsrate stattdessen nochmals drastisch erhöht. Dem Autor lagen insgesamt sieben Krankenakten von Kindern vor, die aus Waldniel nach Ueckermünde weiterverlegt wurden. Vier davon entstammten einem Transport, der ursprünglich am 08.03.1942 vom St. Vincenzhaus in Oberhausen nach Waldniel kam.54 Mithin hatten diese vier Kinder in Waldniel mehr als ein Jahr über52 Bernhardt 1994, S. 119. 53 Ebd., S. 71. 54 Zu diesem Transport vgl. nähere Erläuterungen im Kapitel über Prof. Walter Creutz. Die Auffindung der sieben Krankenakten ist dem beispielhaften und unermüdlichen Einsatz von Frau Matzke aus dem Ueckermünder Klinikarchiv zu verdanken.

Die „Kinderfachabteilung“ Waldniel

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lebt. In Ueckermünde verstarb das erste von ihnen nach sechs Tagen. Das letzte verstarb am 05.08.1943 und hatte damit auch nur weniger als einen Monat in Ueckermünde zugebracht. Im Gegensatz zur Dokumentation, die Hermann Wesse und Hans Aloys Schmitz in den Krankenakten vornahmen, sind die Aufzeichnungen aus Ueckermünde ausgesprochen dürftig. Der namentlich nicht bekannte Arzt notierte meist nur einen oder zwei kurze und kaum lesbare Sätze.

Abb. 38: Verlegungs- u. Aufnahmevermerk mit anschließendem „Krankheitsverlauf“ und Todesfolge55

Tötungen nach Kriegsende ? Die Vorstellung, dass sich die Umstände in der deutschen Psychiatrie im Jahr 1945 unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes deutlich zum Wohle der Patienten verändert hätten, ist leider illusorisch. Zwar setzten vielerorts recht früh die Ermittlungen zur Ergreifung der „Euthanasie“-Täter ein, häufig wurde aber in den Anstalten einfach „weitergearbeitet“, als wäre nichts geschehen. Dort, wo Kinderfachabteilungen nicht als solche bekannt wurden und man der Auffassung war, es handele sich um eine „normale“ Kinderstation, blieben Ärzte und Pflegepersonal zunächst im Amt und setzten ihre Tätig55 Krankenakte Wilhelm T. aus Zell a.d. Mosel, in: Archiv der Klinik Ueckermünde.

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3. Kapitel

keit unverändert fort. An die Beseitigung der „lebensunwerten“ Patienten scheint man sich bis zu diesem Zeitpunkt so sehr gewöhnt zu haben, dass in einigen Fällen auch ohne die Ermächtigung des nicht mehr existenten Reichausschusses weitergemordet wurde.56 Ein solcher Fall ereignete sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Ueckermünde. Elisabeth T., eines jener Mädchen aus dem Kerpener Transport, verstarb in Ueckermünde am 08.07.1945. Die Handschrift in der Krankenakte zeigt, dass dort zu diesem Zeitpunkt immer noch der gleiche Arzt beschäftigt war, der die Vermerke in die Akten der anderen Waldnieler Kinder geschrieben hatte. Neben dem Aufnahmevermerk befindet sich in der Akte nur der Eintrag: „8.VII.45 (†) [= Exitus] : Lungenentzündung“.

Abb. 39: Auszug aus der Krankenakte Elisabeth T.

Selbst wenn bekannt wäre, um welchen Arzt es sich hier gehandelt hat, hätte man aus diesem Vermerk niemals einen vor Gericht verwertbaren Beweis herleiten können. Selbstverständlich kann dieses Kind eines natürlichen Todes gestorben sein. Auffällig ist das gänzliche Fehlen eines Krankheitsverlaufs oder einer Behandlung. Eine Lungenentzündung entwickelt sich langsam fortschreitend und hätte, bevor sie zum Tod führt, über einen gewissen Zeitraum medikamentös behandelt werden müssen. Dass die Todesursache „Lungenentzündung“ in den Kinderfachabteilungen im überwiegenden Teil der Fälle das Synonym für Tötung darstellte, ist Fakt. Dies verbunden mit der Tatsache, dass es sich hier um eine in unveränderter Besetzung tätige Kinderfachabteilung handelte, legen den Verdacht nahe, dass in Ueckermünde auch im Juli 1945 noch nach den Methoden des Reichsausschusses getötet wurde.

56 Vgl. hierzu den Bericht von Robert E. Abrahms, in: Klee 1985, S. 452f.

4. DIE ANSTALTSÄRZTE

Dr. med. Georg Renno

D

er Begriff des „Massenmörders“ ist untrennbar mit dem Nationalsozialismus verbunden, und Dr. med. Georg Renno war jemand, auf den diese Bezeichnung zutrifft. Man stellt sich den Typus des Massenmörders immer als Monster oder Bestie in Menschengestalt vor und ist nicht selten überrascht, wenn man auf Fotos Menschen zu sehen bekommt, die ganz „normal“ aussehen und durchaus kultiviert und gebildet zu sein scheinen.

Abb. 40: Dr. med. Georg Renno, ca. 1937

Georg Renno, am 13.01.1907 in Straßburg geboren, besuchte dort bis 1919 die Volksschule und Oberrealschule.57 1920 ließ sich die Familie in Ludwigshafen nieder, wo Georg Renno im Jahr 1926 sein Abitur machte. Anschließend begann er ein Medizinstudium in Heidelberg, wechselte nach München, kehrte zurück nach Heidelberg. 1930 trat er in die NSDAP ein, nachdem er ein Jahr zuvor bereits dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) beigetreten war. Renno war ein begabter Flötenspieler, der als Angehöriger des Musikzuges 1931 in die SS eintrat. Hierbei handelte es sich um die Standarte von Theodor Eicke, erster Lagerkommandant von Dachau und später Inspekteur aller Konzentrationslager. Im Februar 1933 erhielt Renno seine Approbation als Arzt und promovierte im April 1933 zum Dr. med. Als er am 06.05.1940 seinen Dienst in der 57 Zu Rennos Lebenlauf vgl. die SS-Personalakte Renno im Bundesarchiv (ehem. Berlin Document Center), vgl. auch Klee 2004, S. 108f.

4. Kapitel

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Vergasungsanstalt Hartheim, der größten Vernichtungsanstalt dieser Art, antrat, war er bereits zum SS-Untersturmführer aufgestiegen. Nach dem so genannten „EuthanasieStopp“ kurierte Renno in Leipzig ein Magenleiden aus und saß anschließend – nach eigenen Angaben – untätig im Schloss Hartheim herum.58 Im Oktober 1941 übernahm er die Kinderfachabteilung Waldniel, wo er nach kurzer Zeit an offener Lungentuberkulose erkrankte. − Ironie des Schicksals: Es ist dies genau die Erkrankung, die Georg Renno selbst als häufigste fingierte Todesursache in die Sterbeurkunden seiner Opfer eingetragen hatte. Dies noch dazu in derart auffälliger Anzahl, dass sich Tötungsarzt Dr. Irmfried Eberl (später erster Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka), der selbst einen Katalog mit 61 Kurzgutachten für falsche Todesursachen erstellt hatte, genötigt sah, sich bei Rennos Chef Dr. Lonauer zu beschweren: „Mit dem Schreiben Ihres Ass.-Arztes, Herrn Dr. Renno, und den darin geäußerten Gedankengängen hinsichtlich der Wahl der Todesursache Lungen-Tbc. kann ich mich nicht einverstanden erklären. Die zu wählenden Todesursachen werden aus folgenden Gesichtspunkten bestimmt [ …]. Zusammenfassend möchte ich nun feststellen, daß aus all den angeführten Gründen das so häufige Auftreten der Diagnose Lungen-Tbc., wie sie von Ihnen gehandhabt wird nicht unbedenklich ist, und ich bitte Sie, im Interesse einer gedeihlichen Zusammenarbeit, von der Stellung dieser Diagnose in so häufiger Zahl und insbesondere dann, wenn vorher keinerlei Erscheinungen vorhanden waren, abzusehen […].“59 Eine 1945 in Hartheim aufgefundene Statistik der „Euthanasie“-Aktion weist für alle Vergasungsanstalten des Deutschen Reiches eine „Gesamtleistung“ von 70.273 vergasten Geisteskranken aus. Die Aufzeichnungen beginnen mit der Anstalt Grafeneck im Januar 1940 und enden mit vier in Betrieb befindlichen Anstalten (Bernburg, Hartheim, Sonnenstein und Hadamar) beim „Euthanasie-Stopp“ im August 1941. Nach dieser Statistik hatte die Anstalt Hartheim im Mai 1940 ihren „Betrieb“ aufgenommen und in der Zeit bis zum August 1941 allein 18.269 Menschen ermordet. Dr. Georg Renno war derjenige, der diese Menschen ein letztes Mal in Augenschein nahm und mit einem kurzen Blick auf den Todeskandidaten die Entscheidung über die angebliche Todesursache traf. Renno, der bei der Übernahme dieser Tätigkeit den Einwand erhoben haben will, „er habe schließlich nicht Medizin studiert um jetzt einen Gashahn zu betätigen“,60 bediente persönlich die Gaszufuhr in Hartheim. Vor Gericht nach dem Verfahren befragt, kehrte er ganz den forschen und herablassenden SS-Offizier heraus und gab die Antwort: 58 Zitiert nach Kohl 2000, S. 223f. 59 Unterlagen der französischen Militärregierung, I 253/1, zit. nach Klee 2001, S. 154. 60 Kohl 2000, S. 73.

Die Anstaltsärzte

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„Den Gashahn zu bedienen war ja keine große Sache – umschweifiger Unterweisungen bedurfte es nicht!“61

Abb. 41: Dr. Georg Renno (2. Reihe, Mitte), inmitten der feiernden Belegschaft der Mordanstalt Hartheim, 1940

Renno behauptete stets, nie ein Kind eingeschläfert zu haben. Eine Aussage, von der zutreffen kann, dass Renno nicht unmittelbar und eigenhändig die todbringenden Medikamente verabreichte, die ansonsten aber nicht stimmt. Unliebsamen Aufgaben und Begleitumständen entzog er sich jeweils durch Krankheit. So verließ er Waldniel Anfang 1942 aufgrund seines Blutsturzes und begab sich zu einer Kur nach Davos. Im Frühjahr 1943 kehrte er nach Hartheim zurück, wo jetzt KZ-Häftlinge aus Mauthausen vergast wurden. Renno blieb bis Ende 1944 in Hartheim, will aber an der Vergasung der KZHäftlinge nicht beteiligt gewesen sein. Er behauptete, hiervon nichts mitbekommen zu haben und im Schloss „nur noch gewohnt“ zu haben. Im November 1944 zog Renno mit 61 Aussage Renno vor dem Untersuchungsrichter des LG FfM, 04.02.1965 ( Js 18/61), zit. nach Klee 2001, S. 148.

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4. Kapitel

seiner Familie in das Erholungsheim der „T4“-Belegschaft am Attersee. Im Februar 1945, mitten im Chaos des sich abzeichnenden Zusammenbruchs, brach Rennos Tuberkulose erneut aus, und er begab sich zu einer weiteren Kur nach Davos. Es verwundert, dass ihm dies in der damaligen Situation ermöglicht wurde. Im April 1945 kehrte er zurück an den Attersee, wo er das Kriegsende unbehelligt erlebte. Während sein Vorgesetzter Rudolf Lonauer am 05.05.1945 sich, seine Frau und seine zwei Töchter vergiftete, fälschte Renno seine Papiere auf den Namen „Reinig“ und schlug sich zu seiner Familie nach Aschaffenburg durch. Kurz danach ließ er sich in Großbockenheim bei Ludwigshafen nieder, wo er bis zu seinem Tod am 04.10.1997 lebte.

Abb. 42: Rudolf Lonauer mit Ehefrau und einer seiner beiden Töchter

Georg Renno hat sich dem Zugriff der Justiz erfolgreich entzogen. In den Wirren des Jahres 1945 ließ er sich zunächst falsche Papiere ausstellen: „Das war eine Kennkarte. […] aus Renno „Reinig“ zu machen war ja nicht ganz schwer. Da hab’ ich unten ein Stück abgeschnitten und angebrannt, und diesen Ausweis hab’ ich dann ersetzt bekommen, im Bayerischen, auf einen normalen Ausweis.“62 Fast zehn Jahre lebte Renno unter diesem falschen Namen. Relativ schnell fand er eine Beschäftigung als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Pharma-Großkonzern Schering AG. Obwohl er keine Approbationsurkunde 62 Kohl 2000, S. 267.

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vorlegen konnte (denn die lautete ja auf den Namen Renno), bekam er nach dem Krieg sofort Arbeit als Vertretungsarzt und als Begleitarzt bei einem Minensuchkommando. Auch bei Schering verlangte man keinen Nachweis seiner beruflichen Qualifikation. Im August 1954 fühlte Renno sich so sicher, dass er einen „Antrag auf Berichtigung des Personenstandes“ stellte, um seinen richtigen Namen wieder anzunehmen. Er führte darin an, dass die Änderung der Personalien aus politischen Gründen (Parteimitglied seit 1930, allgemeine SS seit 1931) erfolgt sei, besonders infolge der umgehenden Gerüchte über beabsichtigte langjährige Inhaftierung der SS-Angehörigen. Außerdem sei seine Lungen-Tbc 1945 noch nicht ausgeheilt gewesen, und deshalb habe er im Falle einer Inhaftierung „um Leib und Leben gefürchtet“. Im Januar 1955 erfolgte daraufhin eine erkennungsdienstliche Behandlung Rennos. Zum Beweis seiner wahren Identität legte er Geburts-, Approbations- und Doktorurkunde vor. Die Polizeibehörde nahm daraufhin die Personenstandsberichtigung von Dr. Georg Reinig auf Dr. Georg Renno anstandslos vor.

Abb. 43: Georg Renno zu der Zeit, als aus „Reinig“ wieder Renno wurde Ende der fünfziger Jahre begann sich die Justiz im Rahmen des Skandals um den einstigen Chefgutachter und medizinischen Leiter der „Euthanasie“-Aktion, Professor Werner Heyde, nochmals für die Verfolgung der NS-Ärzte zu interessieren. Heyde war 1945 in englische Gefangenschaft geraten und den Amerikanern, die den Nürnberger Ärzteprozess vorbereiteten, übergeben worden. Bei der Überstellung zu einer Zeugenaussage gelang ihm in Würzburg die Flucht. Er tauchte für zwölf Jahre unter. Obwohl

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er verschiedenen Politikern und Beamten seine wahre Identität offenbarte, konnte er unter dem Namen „Dr. Sawade“ eine Laufbahn als Arzt und neurologischer Gutachter für das Oberversicherungsamt in Schleswig beginnen. Zahlreiche hochrangige Vertreter von Politik und Justiz des Landes Schleswig-Holstein wussten, wer Dr. Sawade wirklich war, doch alle hielten dicht. Niemand wollte den „Kollegen“ und „Herrn Professor“ der Justiz ausliefern. Die Bundesjustiz intensivierte Ende der fünfziger Jahre die Fahndung nach NS-Tätern und ging dem mehr oder weniger offenen Geheimnis um „Dr. Sawade“ zunehmend nach. Schließlich stellte sich Heyde im November 1959 selbst. Fünf Tage vor Prozessbeginn beging er unter nie ganz geklärten Umständen in seiner Zelle in der Untersuchungshaft Selbstmord. Rund um den Fall Heyde kamen eine ganze Reihe von „Euthanasie“-Tätern vor Gericht. Im Herbst 1961 griff die Justiz auch nach Georg Renno. Am 25. Oktober wurde er in seiner Wohnung verhaftet. Rennos Anwalt schickte daraufhin am 01.11.1961 dem Gericht ein Schreiben, in dem Rennos Gesundheitszustand in den düstersten Farben ausgemalt wurde. Renno leide an „fast unerträglichen Schmerzen“ und sei haftunfähig. Der Arzt der Untersuchungshaftanstalt bestätigte jedoch das Gegenteil. Am 18.01.1962 wurde Renno gegen eine Sicherheitsleistung aus der Untersuchungshaft entlassen. Mehr als drei Jahre später, am 01.02.1965, erfolgte die Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter. Als Renno am 15. Februar zu einer weiteren Vernehmung erscheinen sollte, traf stattdessen eine Krankmeldung ein. Ein Gerichtsarzt, der Renno am 22. Februar in seiner Wohnung untersuchte, konnte nichts finden, was eine Vernehmungsunfähigkeit begründet hätte. Die Vernehmung wurde deshalb am 24. Februar fortgesetzt. Zweieinhalb Jahre später, am 07.11.1967, lag die Anklageschrift endlich vor. Es dauerte nochmals fast zwei Jahre, bis der Prozess am 20.08.1969 begann. Seit Rennos erster Verhaftung waren nahezu acht Jahre vergangen.

Abb. 44: Dr. Georg Renno zur Zeit des Prozessbeginns, etwa 1969

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Am 52. Verhandlungstag, es war der 11.03.1970, erschien Renno nicht zur Verhandlung. Er war am Blinddarm operiert worden und lag in Ludwigshafen im Krankenhaus. Nach den damals gültigen Vorschriften des § 229 der Strafprozessordnung durfte eine Hauptverhandlung höchstens für zehn Tage unterbrochen werden, sonst musste von neuem begonnen werden. Wäre also bis zum 21. März nicht wieder verhandelt worden, wären sieben Monate Gerichtsverhandlung umsonst gewesen. Das Gericht beschloss, die Hauptverhandlung für zehn oder fünfzehn Minuten im Krankenhaus stattfinden zu lassen, um die Zehntagesfrist einzuhalten. Am 13. März wurde Georg Renno deshalb untersucht. Der Arzt stellte fest, dass Renno „für eine kurze, schonende Verhandlung am Krankenbett fähig“ sei. Am Morgen des 16. März hatte sich Rennos Zustand überraschend verschlechtert. Er hatte Fieber und einen stark beschleunigten Puls. Man erklärte ihn für verhandlungsunfähig. Schließlich wurde das Verfahren gegen ihn am 19.12.1975 endgültig eingestellt. Der angeblich schwer kranke und verhandlungsunfähige Renno sollte noch weitere 22 Jahre, von der Justiz unbehelligt, leben und das stattliche Alter von 90 Jahren erreichen. Als die Justiz im Jahre 1989 nochmals im Zusammenhang mit Rennos Waldnieler Tätigkeit gegen ihn ermittelte, führte er ebenfalls seinen angeschlagenen Gesundheitszustand an: „[…] der jetzt 85 Jahre alte Beschuldigte Dr. Georg Renno ist vernehmungsunfähig. Er leidet nach einem ärztlichen Attest vom 22.08.1992 an […] [es folgen medizinische Fachbegriffe für Bluthochdruck, Herzenge, Herzkranzgefäßerkrankung, Schlaganfälle und Netzhautentzündung, A.K.] […] und Durchblutungsstörungen der Augen mit starker Herabsetzung der Sehfähigkeit. Er klagt über Erinnerungsverlust, Schwindel, Sprachstörung, Gleichgewichtsstörung, Angstzustände und Schlaflosigkeit. Wegen der Verkalkung der Hirngefäße und der Herzrhythmusstörung mit der Gefahr einer Hirnembolie oder eines Schlaganfalles, sollten jegliche psychischen Belastungen vermieden werden. Zweifel an dieser ärztlichen Bescheinigung bestehen angesichts des hohen Alters des Beschuldigten nicht. Da mit einer Besserung des Gesundheitszustandes nicht zu rechnen ist, ist das Verfahren wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit einzustellen.“63 Als Georg Renno drei Jahre später von Walter Kohl interviewt wurde, war er sicherlich ein alter und gebrechlicher Mann, litt aber weder unter Erinnerungsverlust, noch unter Sprachstörungen. Renno ist ein gutes Beispiel dafür, wie „Euthanasie“-Täter sich dem Zugriff der Justiz entziehen und, nahezu unbehelligt, ein unbeschwertes Leben führen konnten. 63 Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Dortmund zum Verfahren 45 Js 47/89 vom 02.02.1993, S. 6 H.

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Rennos kurzes Gastspiel als leitender Arzt der Kinderfachabteilung Waldniel ist der Abschnitt seiner „Euthanasie“-Laufbahn gewesen, über den er nie reden wollte und der bei ihm wohl die stärksten Schuldgefühle hinterlassen hat. Gleichwohl gilt er als Mit-Urheber des so genannten „Luminal-Schemas“, jener Methode, nach der in den Kinderfachabteilungen hauptsächlich gemordet wurde. Bereits 1940 erprobte Professor Nitsche in seiner Anstalt Leipzig-Dösen Möglichkeiten, wie man Menschen durch Überdosierung bestimmter Medikamente unauffällig töten konnte. Nach eigener Aussage unternahm er die Luminal-Versuche, die 60, bewusst mangelhaft ernährte und dadurch geschwächte, Patienten das Leben kosteten, unter Assistenz von Dr. Renno.64 Auch dies stritt Renno zeitlebens ab. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Dortmund im Jahr 1991 wurden erstmals Krankenakten aus Waldniel einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen. Hierbei waren auch die Akten der beiden Kinder Gegenstand der Ermittlungen, für die Georg Renno am 27.01.1942 die Todesbescheinigungen unterzeichnete. Der erste Todesfall ereignete sich um 8:00 Uhr. Es handelte sich um die sechsjährige Gisela W. aus Amern. Das Kind hatte in der siebten Lebenswoche eine Hirnhautentzündung durchgemacht, woraufhin sich ein Wasserkopf entwickelte, der im Dezember 1941 einen Kopfumfang von 56 cm aufwies. Gisela W. hatte keine geistigen Fortschritte gemacht. Mit dem ersten Transport von Kindern in die neue Abteilung wurde Gisela W. am 16.12.1941 nach Waldniel verlegt.65 Am 12.01.1942 litt sie an „Durchfall nach ungewohnter Kost“. Renno verordnete „Teepause, Kohle und Diät nach 24. Std.“. Unter dem Datum 15.01. steht das Wort „unverändert“ in der Krankenakte und am 20.01. „noch durchfällig“. Nachdem am 23.01. der Eintrag „immer noch durchfällig. Weiterhin Diät“ in der Krankenakte erschien, wurde am 26.01. festgestellt: „Das an sich schon weitgehend entkräftete Kind wird zusehends schwächer“. Am nächsten Tag stellte Renno dann den Tod des Kindes fest und trug als Ursache ein: „Allgemeiner Kräfteverfall“. Diese Einträge korrespondieren mit dem vorher beschriebenen Allgemeinzustand. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Münster kam folglich zu dem Ergebnis, dass angesichts der dürftigen Aufzeichnungen in der Krankenakte und der damals üblichen Bezeichnungen die Todesursache „Allgemeiner Kräfteverfall“ als möglich anzusehen sei.66 Dieser scheinbare Beweis für einen natürlichen Tod relativierte sich, als man den zweiten Todesfall untersuchte. Die ebenfalls sechsjährige Melanie E. aus Brüssel starb am selben Tag um 22:15 Uhr, angeblich an einem epileptischen Anfall. Diese, auf den ersten Blick plausibel erscheinende Todesursache war zunächst allein des64 Aussage Nitsche vor dem Ermittlungsrichter des Volksgerichts Sachsen/Dresden 12.04.1946 u. 20.06.1946, vgl. Klee 2001, S. 433. 65 Folgende Angaben aus Krankenakte Gisela W., in: StaatsA Münster, Verf. 45 Js 47/89, Bd. 3. 66 Gutachten Prof. Dr. med. B. Brinkmann vom 12.11.1991, in: StaatsA Münster, 45 Js 47/89, Bd. 1, Bl. 19−66.

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Abb. 45: Aufnahmevermerk in der Krankenakte Gisela W.

Abb. 46: Rennos Einträge in der Krankenakte von Gisela W., 1942

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halb unglaubwürdig, weil in den letzten drei vorausgehenden Jahren bei dem Kind keine epileptischen Anfälle mehr aufgetreten waren. Noch wesentlich auffälliger waren jedoch die Eintragungen in der Krankenakte. Am 12.01.1942 bekam Melanie E. Durchfall und zwar „Seit heute nach Verabreichung ungewohnter Kost“. Am 15.01. war der Zustand „unverändert“ und am 19.01. „immer noch durchfällig“. Anders als bei Gisela W. erschien am 23.01. der Eintrag „heute kein Durchfall mehr“. Dafür hatte sie am 26. und 27.01.1942 angeblich jeweils einen epileptischen Anfall, von denen der letzte zum Exitus führte.67 Die Beweislage verdichtet sich, wenn man sich noch einmal die Krankenakte von Gertrud W. anschaut.68 Dieses Kind, das am 02.10.1942 verstarb und für das Hermann Wesse seine erste Waldnieler Todesbescheinigung mit dem irrtümlichen Datum des Vortages ausstellte, war ebenfalls mit dem Sammeltransport am 16.12.1941 nach Waldniel verlegt worden. Auch sie starb an „Allgemeinem Kräfteverfall“, bzw. nach damaliger Bezeichnung „Marasmus“. Es scheint, dass sie bereits im Januar 1942 der dritte Todesfall hätte werden sollen, denn betrachtet man die von Georg Renno stammenden Einträge aus der Krankenakte, so ergeben sich erstaunliche Parallelen. Exakt am 12.01.1942 bekam auch sie „Durchfall nach ungewohnter Kost“ und wurde behandelt mit „Teepause, Kohle. Diät“. Am 15.01. trug Renno in ihre Krankenakte „Durchfall hält an. Weiterhin Therapie wie oben“ ein, um dann am 20.01. den Satz „keine wesentliche Besserung“ in die Akte zu schreiben. Danach finden sich bis zum 20.09.1942, dem Zeitpunkt, als Hermann Wesse ihre Tötung einleitete, keine weiteren Einträge mehr. Möglicherweise war in diesem Fall durch Georg Renno bereits ein Gutachten an den Reichsausschuss erstellt worden und dieser hatte, entgegen Rennos Erwartung, die Zurückstellung anstelle der Tötung entschieden. In den Akten aus diesem ersten Transport befinden sich mit Datum 16.12.1941 jeweils Einträge wie „Wird heute im Sammeltransport zugeführt. Körperlicher u. geistiger Zustand unverändert“, die teilweise von Dr. Renno und zum anderen von der Erstpflegerin Wrona stammen. Die Erstbearbeitung der Krankenakten wurde wohl im Dezember 1941 von beiden arbeitsteilig durchgeführt und enthält jeweils in verschiedenen Abwandlungen immer wieder diese Formulierungen. Während in vielen Fällen auf diesen ersten Satz lange Zeit keine weiteren Einträge mehr folgen, hat Dr. Renno ganz offensichtlich im Januar 1942 bereits eine Vorauswahl der in Kürze zu tötenden Kinder getroffen. In der Krankenakte des Kindes Gertrud K. finden sich folgende Einträge:69 Hier stammt der Ersteintrag von Schwester Wrona und es zeigt sich abermals, dass Renno wenig einfallsreich in seinen Diagnosen und Einträgen vorging. Wieder wurde der erste Eintrag am 12.01.1942 vorgenommen und wieder handelte es sich um „Durchfall 67 Ebd. 68 Krankenakte, in: LVR-Kliniken Viersen. 69 Ebd.

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Abb. 47: Rennos Einträge in der Krankenakte von Gertrud W. und die Fortführung durch Hermann Wesse ab September 1942

Abb. 48: Krankheitsverlauf aus der Krankenakte Gertrud K.

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nach ungewohnter Kost“. Man fragt sich, wie oft Renno den Satz an diesem Tag wohl geschrieben haben mag, denn längst nicht alle Akten dieses Transportes liegen vor bzw. konnten bisher analysiert werden. Der zweite Eintrag wurde wiederum am 15.01.1942 in die Akte geschrieben und im Gegensatz zu den anderen Akten, in denen an dieser Stelle meist das Wort „unverändert“ steht, notierte Renno hier eine Besserung. Ob der Reichsausschuss also in diesem Fall bereits eine Entscheidung zur Zurückstellung getroffen hatte, oder ob sich der Zustand des Kindes tatsächlich gebessert hatte (sofern es denn vorher überhaupt an Durchfall erkrankt war), ist heute nicht mehr festzustellen. Jedenfalls erscheint es nach dieser Aktenlage wenig zweifelhaft, dass Dr. Georg Renno in Waldniel die Tötung der beiden Kinder Gisela W. und Melanie E. vorgenommen bzw. veranlasst hat und zumindest in diesen beiden weiteren Fällen bereits im Begriff war die Tötung der Kinder in die Wege zu leiten. Alle seine späteren Behauptungen, er habe in Waldniel überhaupt nichts gemacht, die Kinder seien noch gar nicht begutachtet worden, es hätten noch keine Krankenakten vorgelegen und bevor alles ins Rollen kam, sei er bereits wieder fort gewesen, sind weitaus weniger glaubhaft. Dass Renno in Waldniel keineswegs „nichts“ gemacht hat, sondern im Gegenteil mit Eifer, oder aber zumindest mit penibler Gründlichkeit an seine Aufgabe ging, beweisen diverse von ihm unterzeichnete Schreiben, mit denen er Geburtsurkunden, Heiratsurkunden der Eltern und Abstammungsnachweise seiner kleinen Patienten anforderte. Das letzte von Renno unterschriebene Schriftstück aus Waldniel stammt vom 23.02.1942. Es handelt sich dabei um die Beschwerde über eine Pflegerin, die sich gegen die Erstpflegerin Wrona aufgelehnt hatte (vgl. Abb. 50): Bezeichnenderweise war die einzige Konsequenz, die der Pflegerin aus diesem Verhalten entstand, ihre Rückversetzung nach Süchteln. Das von den Beteiligten immer wieder vorgebrachte Argument, bei einer Weigerung zwangsläufig mit einer Inhaftierung in einem Konzentrationslager und Gefahr für das eigenen Leben bedroht worden zu sein, wird hierdurch entkräftet. Die besagte Pflegerin Anna D. schilderte den Vorgang folgendermaßen: „Die Pflegerin R. muß mich wegen des Inhalts unserer Unterhaltung bei dem damaligen nazistisch eingestellten Leiter der Kinderfachabteilung, Dr. Renno, ange­schwärzt haben. Anderntags gegen 9:00 Uhr wurde ich nämlich zu Dr. Renno bestellt. Dieser machte mir große Vorhaltungen über meine der R. geäußerte Einstellung. Er erklärte u. a. in kränkender Weise, ich sei keine Deutsche und sei nicht wert, daß ich vor ihm stehe. Ich gehöre ins KZ. Anschließend wurde ich nach Süchteln zurückversetzt.“70

70 Aussage Anna D. vom 14.10.1947, in: HStAD, 8 Js 119/47, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, Bl. 130−131.

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Abb. 49: Bericht Rennos über Pflegerin Anna D., vom 23.02.1942

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Diese Schilderung und der dazugehörige Vermerk Rennos erwecken nicht den Anschein, als sei hier jemand am Werk gewesen, der diese Aufgabe nur widerwillig in Angriff nahm und so schnell wie möglich wieder abreisen wollte. Wenn Renno zu dieser Zeit nicht das Ziel verfolgte, das Mordhandwerk in der Kinderfachabteilung möglichst effektiv und reibungslos voranzutreiben, warum sollte er wegen Streitigkeiten innerhalb des Personals dann einen solchen Aufwand betreiben? Hildegard Wesse schilderte ihre Bekanntschaft mit Georg Renno in einer Vernehmung 1961 so: „Dr. Renno, der früher in Linz/Donau gewesen war, wollte wieder von Waldniel fort. Mein Mann hatte mich schon vor ihm gewarnt und mir geraten, mich nicht dahin zu äußern, daß ich – wie es der Fall war – gegen die Erwachsenen-Euthanasie eingestellt war. Mir war bekannt, daß der Reichsausschuß für die Kinderfachabteilung in Waldniel einen Arzt suchte, aber nicht finden konnte. Dieses Wissen hatte ich von Dr. Renno, der mir nach einer Reise von Berlin zurückkommend unverhofft eröffnete, er habe dem Reichsausschuß meinen Mann als Arzt für die Kinderfachabteilung vorgeschlagen. Er hatte dies getan, ohne meinen damaligen Verlobten vorher überhaupt gefragt zu haben. Ich erklärte Dr. Renno, daß ich nicht glaubte, daß mein Mann diesen Vorschlag gut heißen würde. Ich sage dies, um einmal klar herauszustellen, daß nicht ich es war, die meinen Mann in diese Dinge hineingebracht hat. Übrigens war dies nicht nur ein freundlicher Vorschlag von Dr. Renno, sondern es war ersichtlich, daß meinem Mann nicht allzu viel Überlegungen übrig blieben. […] Mein Mann erzählte mir, daß man ihm bei der Besprechung im Hauptbahnhof in Düsseldorf gesagt habe, er müsse annehmen. […] Ich wiederum habe von Seiten des Reichsausschusses nie ein solches „Muß“ erlebt.“71 Dass Hermann Wesse, der zu dieser Zeit in Andernach arbeitete, von dem SS-Arzt Renno gehört hatte, mag zutreffen. Ob er, der bei seinen Besuchen, wenn überhaupt, nur flüchtigen Kontakt zu Renno hatte, seine Verlobte, die täglich mit Renno zusammenarbeitete und ihn demnach weitaus besser kannte als er, in der geschilderten Form vor ihm gewarnt hat, erscheint eher fraglich. Georg Renno beschrieb den Sachverhalt 1997 so: „ Ja das war so: Der Wesse war befreundet oder verlobt mit einer Ärztin, die in Waldniel tätig war, in der Landesklinik, nicht in der Euthanasie. Die wollten zusammenziehen. Und da ist es denen günstig erschienen, wenn sie in Waldniel wohnen zusammen 71 Hildegard Wesse vor dem Untersuchungsrichter des LG Frankfurt/Main im Verfahren Js 148/60 (GStA), 29.11.1961. Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, 18119, Bl. 904.

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[sic], und so ist es gelungen. Ist sehr schwierig gewesen. Die ist dann später seine Frau geworden. […] und der Wesse ist dafür ja zwanzig Jahre gehockt. [sic]“72 Wie bereits erwähnt, berichtete Renno an anderer Stelle, er habe sich „krampfhaft bemüht Wesse zu überreden, das er das macht“73 und einiges spricht dafür, dass Hildegard Wesse ihn dabei unterstützt hat. Jedenfalls erscheint die Schilderung Rennos insgesamt einleuchtend. Renno log und beschönigte immer dann, wenn es seine eigenen Handlungen betraf. Hier hatte er keinen Grund die Ereignisse falsch darzustellen.

Abb. 50: Dr. Georg Renno, 1997 Offensichtlich betrachtete Renno die Tatsache, dass Hermann Wesse „dafür 20 Jahre gehockt“ hatte, als eine Art persönliches Pech. Dass er selbst, dessen letztes Interview in der Veröffentlichung den bezeichnenden Titel „Ich fühle mich nicht schuldig“ trägt, sich seiner gerechten Strafe geschickt entzogen hatte, schien ihm offenbar kein Unrechtsempfinden zu verursachen. Dr. Georg Renno starb am 23.10.1997 im Alter von über 90 Jahren. Wer erwartet, er habe die Gelegenheit im Sommer seines letzten Lebensjahres genutzt, um „reinen Tisch“ zu machen und so etwas wie eine „Lebensbeichte“ abzulegen, wird bitter enttäuscht. Die Aufzeichnungen Kohls zeigen einen Mann, der sich nach wie vor selbst belog und dem Journalisten gegenüber so argumentierte, als stünde er wieder vor einem Gericht. Die Erkenntnis der eigenen Schuld an sich heran zu lassen, dazu fehlte dem Arzt und SSObersturmführer auch 56 Jahre nach den Ereignissen in Hartheim und Waldniel immer noch der Mut. 72 Kohl 2000, S. 228. 73 Ebd., S. 226.

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Dr. med. Hildegard Wesse Am 28.03.1911 wurde in dem kleinen Ort Strotzbüsch in der Eifel (Kreis Daun) ein Mädchen namens Hildegard Maria Elisabeth Irmen geboren. Ihr Vater, Matthias Irmen, war Lehrer an der örtlichen Grundschule. Matthias Irmen, ein passionierter Jäger, katholisch und sehr religiös, ein Mann, der in Ausübung seines Berufes gern und reichlich den Rohrstock zu gebrauchen pflegte, herrschte patriarchisch über seine Familie. Hildegards Mutter brachte in den Jahren 1913 und 1914 noch zwei Söhne zur Welt. Sie verstarb nach kurzer Krankheit im Alter von nur 27 Jahren am 12.06.1917. Knapp zwei Jahre später, am 25.03.1919, verheiratete sich Matthias Irmen mit Franziska P., die selbst kinderlos blieb, sich aber fortan liebevoll um die drei Kinder aus der ersten Ehe kümmerte.

Abb. 51: Der Ort Strotzbüsch, so wie Hildegard Irmen ihn in ihrer Kindheit erlebt hat, Postkarte ca. 1925 Allen Kindern wurde der Besuch der höheren Schule ermöglicht, auch wenn die finanziellen Mittel hierfür von dem spärlichen Lehrergehalt in der damals etwa 360 Seelen zählenden Gemeinde nur mit Mühe aufgebracht werden konnten. Dass mindestens einer der Söhne den Beruf des Priesters zu wählen hatte, war für einen Mann wie Matthias Irmen eine Selbstverständlichkeit. Hildegard kam mit 14 Jahren in ein Internat nach Hersel bei Bonn. Etwa im Jahr 1927 erhielt Matthias Irmen eine Stelle in Düsseldorf und zog mit der Familie nach Düsseldorf-Garath. Daraufhin konnte Hildegard das Internat verlassen und wieder bei ihren Eltern wohnen. 1932 machte sie in Düsseldorf an der St. Angela-Schule ihr Abitur. Nach fünf vorklinischen Semestern legte sie im Herbst 1934 in Köln das medizinische Physikum ab und studierte anschließend bis 1937 an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf. Dort bestand sie am 01.09.1937 das Staatsexamen. Anschließend lieferte sie unter der Leitung von Prof. Dr. Huebschmann am 21.10.1937 eine Arbeit mit dem Titel „Das Bronchialcarcinom und gewerbliche Schädigungen“ ab und promovierte damit zum Doktor der Medizin. Die gerade einmal 14 Seiten umfassende

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Dissertation beschäftigte sich mit der Frage, ob Autoabgase Lungenkrebs verursachten und basierte auf der Untersuchung von 51 vollkommen unterschiedlich gelagerten Todesfällen. So verwundert es nicht, dass als Ergebnis nur die Feststellung herauskam, ein Beweis für die These des Prof. Dr. Huebschmann könne nicht erbracht werden. Im Schlusswort dankte sie ihm für die Überlassung des Themas und erklärte, dass seine Beobachtungen „in seinem weiteren Bekanntenkreis“ ihn „auf die Idee brachten, einmal über diese Sache arbeiten zu lassen“. Mehr als 50 Prozent der Arbeit besteht aus Fakten, die aus bestehenden Quellen abgeschrieben wurden.74

Abb. 52: Dissertation von Hildegard Wesse (damals noch Hildegard Irmen) Die frischgebackene Ärztin bewarb sich am 25.10.1938 um eine Stelle an der Heil- und Pflegeanstalt Andernach, wobei die Aussicht auf die damit verbundene Trennung und Loslösung vom herrschsüchtigen Vater sicherlich ein mitbestimmender Faktor gewesen sein wird. Zum 15.12.1938 wurde sie durch den zuständigen Landesrat der Provinzialverwaltung Professor Creutz als Volontärärztin mit einer Barentschädigung in Höhe von 150 Reichsmark bei freier Station und freier Wäschereinigung eingestellt. Creutz machte allerdings zur Voraussetzung, dass sie bei ihrer Meldung in Andernach ihre ärztliche Bestallungsurkunde vorlegen müsse. Das Schreiben enthält außerdem noch diese 74 Dissertation im Verzeichnis der Dt. Bibliothek Jahrgang 1939, Di 1939 A Nr. 770.

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Notiz:75 „Ich muß Sie noch darauf hinweisen, daß ich bei der zuständigen Gauleitung der NSDAP ein politisches Unbedenklichkeitszeugnis über Sie anfordern muß und daß Ihre Beschäftigung im Rheinischen Provinzialdienst nicht möglich ist, falls das Zeugnis nicht ausgestellt werden kann.“ Die Durchschrift für die Andernacher Personalakte enthält zusätzlich noch folgende Anweisung von Creutz: „Frl. Irmen ist vor ihrem Dienstantritt gemäß meiner Verfügung vom 26.6.1936 – II B 2689 – auf den Führer zu verpflichten. Die Verpflichtung ist mir vorzulegen.“ Am 17.12.1938 erhielt Creutz die Antwort aus Andernach: „Die Volontärärztin Hildegard Irmen hat ihren Dienst am 15. ds. Mts. Angetreten. Verpflichtungserklärung liegt bei.“

Abb. 53: Hildegard Wesses „Verpflichtung auf den Führer“ vom 17.12.193876 Dem wachsamen Walter Creutz entging nicht, dass die Angabe über die Vorlage der Bestallungsurkunde fehlte und so erinnerte er am 27.01.1939 daran, dass diese ihm noch vorzulegen war. Hildegard Irmen schrieb daraufhin, dass sich die Bestallungsurkunde noch nicht in ihrem Besitz befände, weil das Innenministerium noch Ahnenpässe und Ariernachweise ihrer Großeltern angefordert hatte. Eine für sie etwas peinliche Situation, die Aufschluss darüber gibt, wie penibel 1938/39 von amtlicher Seite auf den Nachweis der einwandfreien „Rassezugehörigkeit“ geachtet wurde. Die Ausstellung der ärztlichen Bestallungsurkunde scheint von allen Seiten mit Erleichterung aufgenommen worden zu sein, denn es finden sich gleich drei beglaubigte Abschriften davon in Hildegard Wesses 75 Personalakte H. Wesse, in: Archiv der Landesklinik Uchtspringe (unverzeichneter Bestand). 76 Ebd.

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Personalakte. Die junge Ärztin erledigte ihre Aufgaben zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten, und so wurden ihr rückwirkend zum 01.01.1940 die Bezüge eines Assistenzarztes bewilligt „obwohl Assistenzarztstellen zur Zeit nicht frei“ waren.77 Mit Schreiben vom 18.07.1941 erfolgte die bereits erwähnte Versetzung nach Johannistal, die wohl im Rahmen der damals in den Kliniken des Provinzialverbandes üblichen Rotationspraxis erfolgte und somit keinen besonderen sonstigen Anlass hatte. Durch die Rotation lernten die Ärzte die verschienenen Kliniken kennen, wurden über Jahre beobachtet und beurteilt und stiegen bei Bewährung nach und nach in der Hierarchie auf. Nach zweieinhalbjähriger Tätigkeit in Andernach war eine Versetzung im gleichzeitigen Austausch gegen eine andere Ärztin daher völlig normal.78

Abb. 54: Versetzungsschreiben von Walter Creutz an Hildegard Irmen, 18.07.1941 77 Ebd. (Walter Creutz an Hildegard Irmen, 12.02.1940). 78 Angaben von Dr. Wolfgang Franz Werner, ALVR.

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Hildegard Wesses Einflussnahme in Bezug auf die Übernahme der Kinderfachabteilung Waldniel durch ihren Ehemann wurde oben bereits geschildert. Im Folgenden soll die weitere „Euthanasie-Karriere“ von Dr. Hildegard Wesse genauer beleuchtet werden. Bei Auflösung der Kinderfachabteilung Waldniel ging sie mit ihrem Mann an die Universitäts-Kinderklinik Leipzig, von wo aus sie anschließend (wieder zusammen mit ihrem Ehemann) an die Landesheilanstalt Uchtspringe in der Altmark im Kreis Stendal versetzt wurde. Nach eigenen Angaben leitete sie hier eine Frauenabteilung, während Hermann Wesse die Kinderfachabteilung übernahm.79 Als ihr Mann am 01.12.1943 zur Wehrmacht einberufen wurde, erhielt sie vom Anstaltsdirektor Beese den Auftrag, anstelle ihres Mannes fortan die Kinderfachabteilung zu übernehmen. Angeblich handelte Beese eigenmächtig, indem er Hildegard Wesse dem Reichsausschuss als Leiterin der Kinderfachabteilung vorschlug. Hermann Wesse soll über dieses eigenmächtige Vorgehen sehr erbost gewesen sein und seine Frau lehnte die Übernahme dieser Tätigkeit angeblich mit der Bemerkung ab, sie sei schließlich eine Frau und Dr. Beese wisse ja gar nicht, ob sie den an sie gestellten Anforderungen seelisch gewachsen sei.80 Im Gerichtsurteil vom Dezember 1953 heißt es weiter: „Die Angeklagte betonte vor dem Schwurgericht, daß diese Ablehnung mit ihrer grundsätzlichen Einstellung zur ‚Euthanasie’ nichts zu tun hatte. Sie habe bereits in Waldniel, während der acht Monate, in denen sie vertretungsweise die allgemeine ärztliche Betreuung der Kinderstation gehabt habe, so viele grauenvolle Fälle völliger Idiotie erlebt, daß sie sich gesagt habe, vom rein menschlichen Standpunkt aus sei es furchtbar, daß keine Möglichkeit zur Erlösung der Kinder bestehe, […] bei ihr habe aber letztlich das Mitleid mit den unglückseligen Geschöpfen und auch mit deren Eltern überwogen. Gerade von letzteren sei schon in Waldniel des öfteren der Wunsch an sie herangetragen worden, ob man denn nicht ihre Kinder von diesem Vegetieren befreien und damit auch der Familie die schwere seelische Belastung nehmen könnte. Deshalb habe sie an sich die ‚Euthanasie‘ für die schwersten Fälle der Vollidiotie innerlich bejaht. Die Frage, ob sie selbst das jemals tun könnte, habe sie sich indessen bis dahin nicht vorgelegt gehabt, weil sie gar nicht damit gerechnet habe, einmal vor eine solche Entscheidung gestellt zu werden.“81 Es ist in diesem Buch bereits nachgewiesen worden, dass es sich bei den Kindstötungen keineswegs um Regel-, sondern um Ausnahmefälle gehandelt hat. Die hier gewählte 79 Aussage Hildegard Wesse vom 24.07.1952, in: Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162/18119, Bl. 247−251. 80 Ebd. 81 Rüter Bd. XI, lfd. Nr. 381-13, S. 747.

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Darstellung, dass den Eltern mit der Ermordung ihrer Kinder grundsätzlich ein Gefallen getan und eine Last genommen wurde, ist angesichts der vorliegenden Dokumente völlig unhaltbar. Hildegard Wesse will sich weiterhin gesträubt haben, gab aber ihren Widerstand auf, als Dr. Beese ihr eröffnete, wenn sie die Tätigkeit für den Reichsausschuss wirklich nicht übernehmen wolle, dann müsse er es selbst tun: „Nach alledem sagte sich die Angeklagte, wenn Dr. Beese jetzt die Kinderabteilung übernehmen werde, würde das zu einer ganz gewissenlosen Handhabung der ergangenen Bestimmungen führen.“82 Nachdem sie die Kinderfachabteilung letztlich doch übernommen hatte, wurde sie von Dr. Beese (eben jenem „gewissenlosen und unqualifizierten“ Anstaltsdirektor) nochmals über das Reichsausschussverfahren unterrichtet. Obwohl sie Dr. Beese als ärztlich nicht vollwertig ansah und er ihr gegenüber erklärt hatte, man solle die „Euthanasie“ „in Bausch und Bogen“ erledigen, gewann sie aus seinen Ausführungen „den Eindruck, daß es sich bei diesem Verfahren nicht um eine ‚Vernichtungsaktion’ im Sinne der in früheren Jahren gegen die erwachsenen Geisteskranken durchgeführten Maßnahmen handelte, sondern um ein Programm, bei dem nach gewissenhafter Entscheidung dreier Gutachter nur die wirklich vollidiotischen Kinder erlöst würden, während im übrigen alle Heilungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden sollten. Von einer Geheimhaltung dieser Maßnahmen hat Dr. Beese ihr gegenüber allerdings gesprochen; sie entnahm indessen daraus keine Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des Verfahrens, da ihr bereits Professor Catel gesagt hatte, daß das Gesetz mit Rücksicht auf die Kriegsverhältnisse vorerst nicht veröffentlicht werden sollte.“ 83 Dass in den Kinderfachabteilungen keine Heilungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden und dass es nie ein rechtskräftiges Gesetz gegeben hat, wurde bereits gezeigt. Die Behauptung der Täter, man habe alles nach streng wissenschaftlichen Erwägungen gehandhabt und alles aus Mitleid getan, taucht in den „Euthanasie“-Prozessen regelmäßig auf. Hildegard Wesse führte hier zudem die Behauptung, dass sie sich nur deshalb dazu entschlossen habe die Kinder zu töten, weil der gewissenlose Dr. Beese (dessen charakterliche Beschreibung sicherlich zutreffend ist) alles noch viel radikaler gehandhabt und noch weitaus mehr Kinder getötet hätte. Gleichzeitig soll aber die Erläuterung gerade dieses Arztes dazu geeignet gewesen sein, in ihr das Gefühl zu erwecken, hier ginge alles streng wissenschaftlich und mit rechten Dingen zu. Hildegard Wesse fertigte in ihrer Zeit in Uchtspringe etwa 400 bis 500 Gutachten für den Reichsausschuss an; natürlich ebenfalls „nach längerer und gewissenhafter Beobachtung der Kinder.“84 Dr. Beese machte ihr keine Schwierigkeiten, weil sie ihm zu gewissenhaft arbeitete, soll aber ihr gegenüber geäußert haben: „Ich weiß gar nicht, 82 Rüter Bd. XI, lfd. Nr. 381-14, S. 748. 83 Ebd. 84 Ebd.

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was Sie sich für Gedanken machen, alles umlegen, alles umlegen!“ Diese Schilderungen stammen ebenfalls aus den Prozessunterlagen des Jahres 1953 und der Anstaltsdirektor Dr. Beese verfügte als Sündenbock über den unbestreitbaren Vorteil, nicht mehr am Leben zu sein und daher keine Gegendarstellung seines Handelns mehr abgeben zu können. Als besondere Ironie des Schicksals hat Beese nach dem Zusammenbruch aufgrund einer Psychose in seiner eigenen Anstalt als Patient gelegen. Während dieser Zeit litt er unter einem hemmungslosen Rededrang und hat u. a. auch mit Begeisterung von den Erfolgen gesprochen, die er bei der schnellen Beseitigung von Patienten hatte.85 Beese ist kurz nach dem Einmarsch der Alliierten gestorben. Hildegard Wesse gab an, in 60 Fällen Kinder eingeschläfert zu haben. Trotz der gewissenhaften Untersuchung und der Entscheidung, nur bei hoffnungslosen Fällen die Tötung zu empfehlen, sind offenbar Kinder dabei gewesen, die zumindest noch über körperliche Widerstandskraft verfügten: „Die Kinder wurden nach kürzester Zeit bewußtlos und starben meist nach ein bis zwei Tagen, da sie im Allgemeinen körperlich schon sehr geschwächt waren. Bei einzelnen Kindern, deren körperlicher Zustand noch besser war, verordnete sie eine Morphium-Spritze, die ebenfalls von der Pflegerin gegeben wurde; in einigen Fällen führte sie die Injektionen auch selbst aus […] die Angeklagte hatte keine Gewissensbisse, daß den Eltern eine falsche Todesursache mitgeteilt wurde, weil sie es für richtig hielt, daß deren Gefühle geschont wurden.“86 Obwohl sie ihm angeblich zu gewissenhaft arbeitete und die „Euthanasie“ nicht „in Bausch und Bogen“ erledigte, war Anstaltsdirektor Beese mit der Arbeit seiner Ärztin sehr zufrieden, denn zum Jahresabschluss des Jahres 1944 schrieb er folgenden Brief an den Reichsausschuss: „Sehr geehrter Parteigenosse v. Hegener! Zu umseitiger Anfrage teile ich Ihnen mit, daß sich infolge Auslagerung unseres Anstaltsbetriebes auf der Frauen- und Kinderseite Frau Dr. Wesse und die beiden Pflegerinnen […] mit großem Eifer der Behandlung von Kranken widmen. […] Seit Ende August haben Frau Dr. Wesse und ich über 250 Behandlungen erfolgreich durchgeführt. Heil Hitler! gez. Beese“87 Da „Behandlung“ im NS-Jargon für Ermordung steht und sich Hildegard Wesse dieser Aufgabe „mit großem Eifer“ gewidmet hat, zeichnet dieser Brief ein anderes Bild, als das einer gewissenhaften Ärztin, die sich nur widerwillig an ihre Aufgabe macht, weil der Anstaltsdirektor sonst noch Schlimmeres anrichtet. Es blieb nicht bei der Ermordung von Kindern. Ende 1944 kehrte Dr. Beese von einer Besprechung aus Berlin zurück und teilte Hildegard Wesse mit, der Reichsausschuss habe ihm den Auftrag erteilt, nunmehr auch 85 Urteil des LG Göttingen vom 02.12.1953 – 6 Ks 1/53,in: Rüter Bd. XI, lfd. Nr. 381-17, S. 751. 86 Aussage Hildegard Wesse vom 24.07.1952, Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, 18119, Bl. Nr. 247−251. 87 Bundesarchiv Berlin, NS 51/227 Nr. 121.

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erwachsene Geisteskranke der „Euthanasie“ zuzuführen. Er erklärte, für die Erwachsenen lasse sich das bei den Kindern angewendete Verfahren der Begutachtung und Stellungnahme durch Gutachter des Reichsausschusses nicht mehr durchführen, weil das zu lange dauern würde. Deshalb habe der Reichsausschuss ihm die alleinige Entscheidung übertragen. Beese richtete daraufhin ein Haus für die zu tötenden erwachsenen Männer ein und trug Hildegard Wesse auf, die Tötung der erwachsenen Frauen zu übernehmen. Hildegard Wesse erklärte sich hierzu bereit – wieder tötete sie aus „Verantwortungsbewusstsein“: „Sie war sich allerdings darüber klar, daß dieses Verfahren aus dem Rahmen des sonst üblichen fiel, was umso auffälliger war, als das ‚Reichsausschuß-Verfahren‘ für die Kinder in der geregelten Weise bis zuletzt weiterlief. Sie glaubte eine Erklärung für diese Abweichung darin zu finden, daß man sich in Berlin unter dem Druck der damaligen Kriegslage zu dieser Maßnahme entschlossen habe. Die Anstalt Uchtspringe beherbergte damals rund 2.500 Kranke und es kamen aus dem Osten immer neue Transporte von Kindern und Erwachsenen hinzu. Gegenüber den inneren Hemmungen, unter denen die Angeklagte litt, war indessen der Gedanke ausschlaggebend, daß sie größeres Unheil verhüten wollte. Denn sie hatte inzwischen die laxe Einstellung des Dr. Beese zur ‚Euthanasie‘ […] auch selbst aus dessen Äußerungen kennen gelernt; sie befürchtete deshalb, daß Dr. Beese, wenn er die ‚Euthanasie‘ der Frauen ebenfalls durchführen würde, rücksichts- und gewissenlos ‚wüten‘ werde. Demgegenüber nahm sie sich vor, die Frauen in der gleichen sorgfältigen Weise auszuwählen, die sie bisher bei den Kindern gehandhabt hatte.“88 Vor Gericht gab Hildegard Wesse die Tötung von 30 Frauen zu. Das oben zitierte Schreiben Beeses an den Reichsausschuss, welches stolz von über 250 gemeinsam mit Frau Dr. Wesse durchgeführten Ermordungen (im Zeitraum August bis November 1944!) spricht, legt eher die Vermutung nahe, dass Hildegard Wesse gemeinsam mit Beese „gewütet“ hat, anstatt sich hemmend und mäßigend in das Verfahren einzuschalten. „Dr. Beese bestimmte nunmehr die Frauen, die nach seiner Ansicht für eine ‚Euthanasie’ in Betracht kamen und ließ sie in das Haus 20 der Kinderabteilung verlegen. Die Angeklagte las zunächst die Krankenpapiere dieser Frauen sorgfältig durch, sah sich die Frauen genau an und entschied sich schließlich ohne [dieses Wort ist auch in der Veröffentlichung des Gerichtsurteils unterstrichen – A.d.V.] Rücksprache mit Dr. Beese für die Einschläferung von 30 Frauen. Dabei handelte es sich um schwerste 88 Aussage Hildegard Wesse vom 24.07.1952, Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, Nr. 18119, Bl. Nr. 247−251.

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Elends- und Endzustände völliger geistiger Umnachtung bei Personen, die meist schon 30 bis 40 Jahre in einer Anstalt […] zugebracht hatten. Die Tötung dieser Frauen erfolgte durch Morphium-Injektionen, welche die Angeklagte selbst verabfolgte, so daß die Patientinnen schmerzlos einschliefen. Diese 30 Frauen waren nach Angaben der Angeklagten nur ein Bruchteil von denjenigen, die auf Veranlassung von Dr. Beese in das Haus 20 verlegt worden waren. Ein großer Teil von letzteren verstarb während des Aufenthaltes im Haus 20 an Entkräftung oder akuten Erkrankungen.“89 Anhand dieser Schilderung kann man die grauenhaften Zustände, die auf dieser Station geherrscht haben müssen, nur erahnen. Der Großteil der dorthin verlegten Frauen ist also verstorben; Hildegard Wesse will aber nur 30 davon umgebracht haben. Der Rest ist an Unterernährung und Entkräftung zugrunde gegangen. Außer Hildegard Wesses eigener Schilderung ist keine weitere Aussage zu den Zuständen auf dieser Station bekannt. Von den Patientinnen hat mit hoher Wahrscheinlichkeit keine einzige überlebt. Im Gerichtsurteil heißt es: „Ob der Rest der Frauen, welche die Angeklagte nicht zur ‚Euthanasie’ ausgewählt hatte [und die nicht verhungert oder auf andere Weise verstorben sind – A.d.V.], wieder in ihre ursprünglichen Stationen zurückverlegt worden ist, vermochte sie nicht anzugeben.“ Mit geradezu erschreckender Offenheit schilderte Hildegard Wesse vor dem Untersuchungsrichter, dass die Ermordung der geisteskranken Frauen ausschließlich aus Platzgründen erfolgte: „Ende des Krieges und zwar etwa seit Ende 1944 füllte sich die Anstalt Uchtspringe sehr stark auf. Es kamen Lazarettzüge an, Verwundete aus Magdeburg und wer weiss woher, weil die Front immer näher kam. Es herrschten allmählich unmögliche Zustände in Uchtspringe. Es war kein Platz mehr da. Auf Anweisung des Dr. Beese wurde deshalb die Euthanasie an schwerkranken Erwachsenen vorgenommen und ich selbst habe etwa 30 Frauen euthanasiert, die wohl schon 40 Jahre lang in der Anstalt waren und im Endstadium der Schizophrenie standen, oder sonst wie völlig am Ende waren. Diese Euthanasie wurde nicht von Berlin aus geleitet. Sie war angeordnet, aber nicht in jedem Einzelfall geleitet. Die Auswahl traf vielmehr Dr. Beese und teilweise habe ich sie auch selbst getroffen. In diesen Fällen habe ich die Spritzen selbst gegeben, aber wie gesagt, es waren Kranke in der letzten Lebensphase, und wir sind dann hier zur Euthanasie übergegangen, weil die Verhältnisse in der Anstalt untragbar geworden waren. In diesen Fällen habe ich die Krankenpapiere genau durchgelesen, habe mir die Kranken genau angesehen und dann die Euthanasie ebenfalls mündlich angeordnet. Sie wurde dann von den beiden Schwestern durchgeführt. […] Es wurden größere Luminalportionen genommen. Auch habe ich dann 89 Ebd.

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noch Spritzen persönlich gegeben. […] In Berlin war offenbar die Ordnung nicht mehr so erhalten, deshalb sagte er [Dr. Beese] die Auswahl müssen wir selber treffen, so habe es Berlin bestimmt, und ich solle das für die Frauenabteilung machen. Ich habe das dann auch getan. Als Todesursache habe ich irgendetwas eingetragen, Lungenentzündung, Herzerkrankung usw. Die Angehörigen haben dann entsprechend Nachricht bekommen.“90 Diese Patienten mussten also sterben, weil es in der Anstalt zu eng wurde, und Hildegard Wesse gab hier unumwunden zu, die Auswahl der Todeskandidaten völlig eigenmächtig getroffen zu haben. Nicht nur Dr. Beese, auch der Reichsausschuss in Berlin war mit seiner Uchtspringer Ärztin zufrieden. 1944 erhielt sie auf Vorschlag von Beese eine Weihnachts-Sonderzuwendung in Höhe von 150 Reichsmark; dies entsprach immerhin mehr als einem Drittel ihres sonstigen Bruttogehalts – für damalige Verhältnisse eine Menge Geld. Die Anweisung dieses Betrages, nebst Sonderzuwendungen in Höhe von jeweils 50 Reichsmark für die Pflegerinnen, erhielt Beese mit der Bitte, „bei dieser Gelegenheit den Genannten für die geleistete Tätigkeit Dank und Anerkennung auszusprechen.“ Das Schreiben von Hegeners schließt mit „den besten Wünschen für die Weihnachtstage und den Jahreswechsel sowie das Jahr 1945, das unserem Volk und Vaterland hoffentlich den ersehnten und entscheidenden Erfolg bringen wird.“91 Hildegard Wesse muss ihre Arbeit für den Reichsausschuss gut gemacht haben, denn am 16.11.1944, also gut einen Monat vor Beeses Schreiben, in dem er ihre Arbeit lobte und die 250 erfolgreichen „Behandlungen“ herausstellte, erhielt sie ein Schreiben von Dr. Hans Hefelmann, in dem er sie bereits über eine Sonderzuwendung von 100 Reichsmark monatlich, rückwirkend ab Oktober 1944, informierte (s. Abb. 56). Hermann Wesse war zu diesem Zeitpunkt seit sechs Monaten im hessischen Kalmenhof tätig und hatte sich scheinbar noch nicht in gleicher Weise hervorgetan. In den Unterlagen des Reichsausschusses konnte zwar ebenfalls eine „Weihnachtsgratifikation“ für Hermann Wesse ermittelt werden; eine monatliche Zusatzzahlung scheint er aber nie erhalten zu haben. Hildegard Wesse bedankte sich am 01.12.1944 bei Hefelmann: „Ihr Schreiben vom 16.11.44 habe ich erhalten. Ich bitte Sie, die mir bewilligte Entschädigung von monatlich 100 RM auf das Konto: Dr. Hermann Wesse und Frau […] zu überweisen. Gleichzeitig möchte ich Ihnen an dieser Stelle herzlich für Ihre Anerkennung danken. Heil Hitler! Fr. Dr. Wesse“92 Ärzte, die erst Anfang der 1950er Jahre angeklagt wurden, konnten auf extrem milde Urteile hoffen, wenn es um die Ermordung behinderter Kinder ging. Ausgangspunkt 90 Ebd. 91 Bundesarchiv Berlin, NS 51/227 Nr. 129. 92 Ebd., Nr. 122.

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Abb. 55: Prämienankündigung des Reichsausschusses für H. Wesse

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dieser Betrachtungsweise war ein Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 19.04.1949, gegen 19 am Kindermord Beteiligte (fast ausnahmslos Ärzte) gar nicht erst zu verhandeln, sondern sie außer Strafverfolgung zu setzen. Die Richter fanden die Tötungen zwar „objektiv rechtswidrig“, fanden jedoch keine Schuld: „Die Strafkammer […] ist nicht der Meinung, daß die Vernichtung geistig völlig Toter und leerer Menschenhülsen […] absolut und a priori unmoralisch ist.“ Die „Verkürzung lebensunwerten Lebens“ könne keinesfalls eine Maßnahme genannt werden, „welche dem allgemeinen Sittengesetz widerstreitet“. So konnten in der Folge alle Täter mit Freisprüchen rechnen, wenn sie dem Gericht nur glaubhaft machten, sie wären von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns überzeugt gewesen. 1947/48 hatten die Gerichte dies im Fall von Hermann Wesse, der stets angab, er sei davon überzeugt gewesen im Rahmen gültiger Gesetze gehandelt zu haben, noch nicht gelten lassen. Das Landgericht Göttingen kam im Dezember 1953 nach gerade mal drei Verhandlungstagen zu der Erkenntnis, dass „der Verbotsirrtum der […] Angeklagten in Bezug auf die Tötung der Kinder unvermeidbar war“ und sie „mangels eines möglichen Schuldvorwurfs aus subjektiven Gründen“ freigesprochen werden musste. Das Gerichtsurteil wies noch ausdrücklich darauf hin, dass man deshalb nicht mehr zu prüfen brauchte, ob Hildegard Wesse „Mord oder Totschlag – in mittelbarer oder unmittelbarer Täterschaft – oder etwa nur Beihilfe […]“ geleistet hatte. Die Tötung der 30 Frauen wurde als Totschlag gewertet. Das Gericht stellte allerdings fest, dass Hildegard Wesse nicht aus „niedrigen Beweggründen“ gehandelt hatte und ihr auch nicht nachzuweisen sei, dass sie „heimtückisch“ getötet habe. Die Strafkammer bezeichnete die Ermordung der Frauen als „Einschläferung“ und fand, dass diese Tat sogar „sittliche Anerkennung“ verdiente: „Schließlich darf auch hier der Umstand nicht unberücksichtigt bleiben, daß sie die Einschläferung der 30 Frauen um der Rettung der übrigen willen vorgenommen hat. Der Beweggrund hat zwar bei den „Begehungsweisen“ der Tötung im Sinne des § 211 StGB nur ausnahmsweise besonderes Gewicht. Wenn ihm aber – wie im vorliegenden Fall – eine gewisse sittliche Anerkennung nicht abgesprochen werden kann, so nimmt er dem Handeln des Täters den Charakter der Verschlagenheit und Tücke […] Das Gericht hat für jeden Fall der Tötung eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten für angemessen und ausreichend erachtet. Aus den Einzelstrafen [also 30 Tötungen x 6 Monate = 15 Jahre – A.d.V.] ist gemäß § 74 StGB eine Gesamtstrafe von zwei Jahren Gefängnis gebildet worden. Auf die Strafe wurde […] die von der Angeklagten erlittene Untersuchungs- und Auslieferungshaft in vollem Umfange angerechnet.“93 93 Rüther Bd. XI, lfd. Nr. 381/35, S. 769.

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Hildegard Wesse war also sofort wieder auf freiem Fuß. Sie hat 1953 bereits wieder als Allgemeinmedizinerin in Braunschweig praktiziert.

Abb. 56: Hildegard Wesse praktizierte wieder – Briefkopf auf einem Schreiben von 1953 Der letzte Versuch, Hildegard Wesse gerichtlich zu belangen, wurde im Jahr 1989 unternommen und bezog sich wieder auf ihre Tätigkeit in Waldniel. Die „Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei der Staatsanwaltschaft in Dortmund“ leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes bzw. Beihilfe zum Mord ein.94 Hermann Wesse war bereits gestorben und somit konzentrierten sich die Ermittlung auf den – damals bereits 85-jährigen – Dr. Georg Renno und auf Dr. Hildegard Wesse. Anlass für die Einleitung des Ermittlungsverfahrens waren Presseberichte über Forschungsergebnisse des Landschaftsverbandes Rheinland und des Leiters der Rheinischen Landesklinik Langenfeld, Matthias Leipert, nach denen mindestens 100 Kinder in Waldniel durch Luminal getötet worden seien. Bei diesem Verfahren wurden erstmals einige Krankenakten aus Waldniel analysiert, im Düsseldorfer Prozess von 1948 war man noch davon ausgegangen, die Krankenakten seien komplett vernichtet worden. Auch dieses letzte Ermittlungsverfahren wurde jedoch mit Verfügung vom 02.02.1993 eingestellt.95 Hildegard Wesse hatte – bewusst oder unbewusst – etwas sehr Geschicktes getan: Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte sie auf den von ihr ausgestellten Todesbescheinigungen bei der Angabe des behandelnden Arztes nie „Wesse“ eingetragen, sondern stets die Floskel „Ärzte der Anstalt“ oder „Anstaltsärzte“ verwendet. Somit konnte lediglich nachgewiesen werden, dass sie die Todesursache eingetragen hatte und diese Todesursache 94 Staatsanwaltschaft Dortmund, Verfahren 45 Js 47/89. 95 Einstellungsverfügung und Ermittlungsakten im Staatsarchiv Münster 45 Js 47/89, Bd. 1−3.

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nach Analyse der Krankenakten falsch bzw. nicht nachvollziehbar war. Es konnte aber nicht bewiesen werden, dass sie selbst die behandelnde Ärztin war, die die Todesursache festgestellt und die Angaben auf der Todesbescheinigung gefälscht hatte: „Es ist daher davon auszugehen, dass die Beschuldigte in Fällen der Kinder B., G. und K. die Todesbescheinigung in Kenntnis der Unrichtigkeit der angegebenen Todesursache unterschrieben hat. Weitere Feststellungen, insbesondere ob die Beschuldigte die Tötung dieser Kinder selbst angeordnet oder gar selbst vorgenommen hat, sind dagegen auch nach den neuen Erkenntnissen nicht zu treffen. Es kann allenfalls vermutet werden, dass die Beschuldigte im Zusammenwirken mit dem für die Tötung dieser Kinder verantwortlichen Arzt [eben einem jener geheimnisvollen „Ärzte der Anstalt“ – A.d.V.] die Todesbescheinigung ausgestellt hat; zu einem hinreichenden Tatverdacht ist diese Vermutung jedoch nicht zu verdichten.“96 Die „Beschuldigte“, die seit bereits mehr als 30 Jahren wieder ganz normal als Ärztin praktizieren durfte, hielt es noch nicht mal für nötig, persönlich irgendwelche Fragen zu beantworten. Die Staatsanwaltschaft ließ sie daraufhin in Ruhe: „Die Beschuldigte sollte zu dem Vorwurf, durch ihre Bereitschaft, eine unrichtige Todesursache zu unterzeichnen, Beihilfe zu der Tötung dieser Kinder geleistet zu haben, verantwortlich vernommen werden. Sie hat durch einen Rechtsanwalt vortragen lassen, daß sie nur bereit sei, sich über ihren Anwalt schriftlich zu äußern. Eine entsprechende Äußerung ist auch nach Gewährung von Akteneinsicht auf Erinnerung nicht eingegangen, so daß davon auszugehen ist, daß die Beschuldigte sich nicht einlassen will.“97 Zum Zeitpunkt dieser Ermittlungen war Dr. Hildegard Wesse 78 Jahre alt. Sie hatte 30 Frauen und 60 Kinder ermordet (dies sind die Fälle, die sie selbst vor Gericht zugegeben hat – es muss davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Zahl um einiges höher liegt) und stets den Standpunkt vertreten, dass die „Euthanasie“ an sich eine gute Sache war, die für die Opfer eine „Erlösung“ von ihrem „Dahinvegetieren“ bedeutete. Alle Schilderungen deuten darauf hin, dass Hildegard Wesse eine recht energische Person gewesen ist. Allerdings hatte sie 1989, als die Ermittlungen der Dortmunder Staatsanwaltschaft liefen, offenbar große Angst, man könne sie wegen der Waldnieler Tötungen, die sie als „diesen alten Mist“ bezeichnete,98 doch noch ins Gefängnis bringen. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Aus einem Gespräch des Autors mit einer auf Wunsch anonym bleibenden Person.

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Im Jahr 1942 brachte sie es fertig, noch im siebten Schwangerschaftsmonat vertretungsweise eine Kinderfachabteilung zu leiten. Wenn sie zu dieser Zeit auch vielleicht keine Tötungen vorgenommen hat, so musste die Arbeit in einer solchen Abteilung für eine junge Frau, die gerade ihr erstes Kind erwartet, sicherlich eine schwierige Angelegenheit sein. Sie hat ihr erstes Kind in dem Gebäude der Kinderfachabteilung entbunden und zwei Monate später ihre Berufstätigkeit wieder aufgenommen.99 Folgt man der Aussage der stellvertretenden Erstpflegerin Luise Müllender, dann hat sie bis kurz vor ihrer Entbindung in der Kinderfachabteilung gearbeitet: „Frau Dr. Wesse war auf einer der Kinderfachabteilung angrenzenden Frauen- und Männerstation tätig. Dort erfolgten m. W. keine Tötungen. Mit der Kinderfachabteilung hatte Frau Dr. Wesse im Allgemeinen nichts zu tun. Eine Ausnahme gilt für folgende Zeitspannen: Es mag im Oktober oder November 1942 gewesen sein, als Dr. Wesse für eine Zeit von etwa 6 Wochen zum Wehrdienst einberufen wurde. Ich entsinne mich dieser Zeit noch verhältnismäßig genau, weil Frau Dr. Wesse damals hochschwanger war […].“100 Diese Aussage wurde am 13.10.1947 aufgenommen und ist ein gutes Beispiel dafür, wie unpräzise − selbst relativ kurze Zeit nach den Ereignissen − die Erinnerungen der Beteiligten waren. Beginnend mit dem 01.10.1942 sind Todesbescheinigungen aus der Kinderfachabteilung Waldniel lückenlos von Hermann Wesse unterschrieben. Da es in diesem Zeitraum mindestens einmal wöchentlich zu Todesfällen kam, würde eine Abwesenheit von sechs Wochen in den Bescheinigungen auffallen. Die letzte Todesbescheinigung vor ihrer Entbindung stellte Hildegard Wesse am 27.10.1942 aus; die erste danach am 21.02.1943. Während dieser Zeit hat ihr Mann, der sonst nur die Todesbescheinigungen der Kinderfachabteilung unterzeichnete, in der Erwachsenenabteilung mitgearbeitet. Zumindest unterzeichnete er in diesem Zeitraum die Todesanzeigen und -bescheinigungen der erwachsenen Patienten. Der Zeitpunkt von Hermann Wesses erster Einberufung ist in den Meldeunterlagen der Wehrmacht vermerkt. Die Stammkompanie des Grenadier-Ersatz-Batallions 484 meldete Hermann Wesse am 27.03.1943 als Zugang vom Wehrbezirkskommando Krefeld. Die Entlassung erfolgte 1943 überraschend schnell: Bereits am 05.04.1943 ist in den Wehrmachtsunterlagen vermerkt: „Entlassen zur Heimatanschrift“. Sowohl die Meldungen des Wehrbezirkskommandos, als auch der Abgleich mit den Todesanzeigen beweisen, dass Hermann Wesse im März/April 1943 lediglich für neun Tage beim Ersatzbatallion 484 in Elberfeld gewesen ist. Es handelt sich auf keinen 99 Meldeunterlagen der NSV Jahrgang 1942, in: Kreisarchiv Viersen in Kempen. 100 Vernehmungsprotokoll Luise Müllender vom 13.10.1947, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, Bl. 120.

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Fall um einen Zeitraum von sechs Wochen. Während Hildegard Wesse „hochschwanger“ war, war Hermann Wesse definitiv in Waldniel anwesend. Zwei Tage, bevor er zum ersten Mal Vater wurde, unterschrieb er dort die Todesbescheinigung des siebenjährigen Gottfried A., den er am Abend zuvor eingeschläfert hatte.101 Während sich abzeichnete, dass der Zusammenbruch des Regimes nicht mehr aufzuhalten sein würde und die Front bereits immer näher rückte, war Hildegard Wesse zum zweiten Mal schwanger. Geschickt nutzte sie diesen Umstand aus, um sich rechtzeitig vor dem Einmarsch der Russen in Uchtspringe abzusetzen. Am 31.05.1945 holte sie sich bei Professor Mobitz, der mit seinem Krankenhaus Magdeburg-Altstadt in die Ausweichstelle Uchtspringe verlegt war, folgende Bescheinigung: „Frau Dr. Wesse befindet sich im 8. Schwangerschaftsmonat. Es finden sich deutliche Anzeichen von ausgesprochener Herzbelastung infolge des vorliegenden Zustandes. Ich rate daher, Frau Dr. Wesse zunächst aus dem Dienst auszuscheiden. Der Direktor der Mediz. Klinik. Gez. Prof. Mobitz.“ Am nächsten Tag meldete sie sich bei Beese krank.102 Herzbelastung und Schwangerschaft hinderten Hildegard Wesse nicht daran, sich umgehend auf den Weg zu machen. Als die Russen am 10.07.1945 in Uchtspringe einmarschierten, war sie bereits wieder in Düsseldorf, wo sie in den ersten Tagen des August 1945 ihr zweites Kind zur Welt brachte. Der Krieg und die „Euthanasie“ schienen vergessen, und so lebte sie mit ihrem Ehemann, den die Amerikaner zunächst aus der Haft entlassen hatten, über ein Jahr lang unbehelligt in Düsseldorf. Nachdem man ihren Mann am 08.09.1946 erneut inhaftiert hatte, wurde am 09.11.1946 auch sie verhaftet und in das Düsseldorfer Polizeigefängnis eingewiesen. Am 12.12. kam sie in die Untersuchungshaftanstalt DüsseldorfDerendorf, von wo aus sie am 14.06.1947 in die Sowjetische Besatzungszone ausgeliefert und nach Magdeburg überführt werden sollte. Zu ihrem Glück wurde sie in Helmstedt angehalten, bis über das Auslieferungsersuchen der sowjetischen Behörden entschieden wurde, welches die englische Militärregierung letztlich ablehnte. Nach einem viermonatigen Aufenthalt in Helmstedt wurde sie in die Untersuchungshaftanstalt Braunschweig überführt, wo man sie am 19.08.1948 wieder auf freien Fuß setzte. Sie kehrte nicht nach Düsseldorf zurück, sondern ließ sich in Braunschweig nieder und eröffnete eine Praxis für Allgemeinmedizin. Abgesehen von dem Uchtspringe-Prozess im Jahr 1953, der nach wenigen Verhandlungstagen mit Freispruch und einer geringen Bewährungsstrafe endete, und ein paar unangenehmen Fragen der Dortmunder Staatsanwaltschaft im Jahr 1989 ist Hildegard Wesse von der Justiz nie wieder behelligt worden.

101 Todesbescheinigung Gottfried A., in: Kreisarchiv Viersen in Kempen, Bestand Gemeindearchiv Waldniel Nr. 881. 102 Bescheinigung und Schreiben an Beese in der Personalakte Hildegard Wesse, in: Archiv Klinik Uchtspringe.

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Abb. 57: Dr. Hildegard Wesse, 1991 Dr. Hildegard Wesse starb am 27.05.1997 im Alter von 86 Jahren. Sie konnte im Kreise der Familie, bei einem ihrer Kinder, ihren Lebensabend verbringen. Nach allen vorliegenden Erkenntnissen hat sie − anders als Hermann Wesse − weder jemals eingesehen sich schuldig gemacht zu haben, noch ihre Taten je bereut. Hermann Wesse In den Reihen der Täter, die aufgrund von NS-Euthanasieverbrechen verurteilt wurden, ist der Arzt Hermann Wesse eine eher unbedeutende Figur. Er war ausführendes Organ einer Vernichtungsaktion, die andere entwickelt, gesteuert und geprägt hatten. Er hat sich weder durch grauenerregende Experimente, noch durch die Verantwortung für astronomisch anmutende Zahlen von Toten hervorgetan, wie dies beispielsweise für einen Josef Mengele oder die Ärzte in den „T4“-Vergasungsanstalten gilt. Was Hermann Wesse von allen anderen „Euthanasie“-Tätern unterscheidet, ist die Tatsache, dass er, abgesehen von denjenigen die kurz nach Kriegsende zum Tode verurteilt und deren Urteile auch vollstreckt wurden, als einziger nicht weitgehend unbeschadet „aus der Sache herausgekommen“ ist, sondern eine Haftstrafe von annähernd zwanzig Jahren verbüßt hat. Was also unterscheidet seine Taten von denen derer, die mit fadenscheinigen Begründungen wie z. B. „mangelndes Unrechtsbewusstsein“ freigesprochen wurden oder die man nach Ver-

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büßung eines minimalen Bruchteils ihrer Haftstrafe auf dem Gnadenwege in die Freiheit entließ? Was unterscheidet ihn von den Drahtziehern der „Aktion“, den Medizinalräten und Professoren, die, obwohl vielfach weitaus tiefer in die verbrecherische Maschinerie verstrickt, nahtlos in Amt und Würden weiterarbeiten konnten als wäre nichts geschehen? Im Dezember 1952 verfasste der Direktor der Strafanstalt Kassel-Wehlheiden eine Beurteilung über Wesse und sprach davon, dass das Schicksal dieses Mannes, auf dessen Konto immerhin 55 gerichtlich festgestellte und von ihm selbst zugegebene Tötungen von Kindern gehen,103 „nicht einer gewissen Tragik“ entbehre.104 An dieser Stelle wird es zunächst darum gehen, wie es dazu kam, also um den Werdegang Wesses und seine „Karriere“ als Tötungsarzt des NS-Regimes – die vielleicht am Ende auch für ihn selbst, besonders aber für seine Opfer und deren Angehörige in der Tat tragisch war. Wesses Verurteilung und der Strafvollzug werden später nochmal gesondert behandelt (s. Kapi­tel 8).

Abb. 58: Hermann Wesse, ca. 1941 Vom Medizinalpraktikanten zum Tötungsarzt Hermann Karl Wilhelm Wesse wurde am 22.01.1912 als Sohn des Polizeianwärters Hermann Wesse geboren. Sein Vater verstarb kurz vor seiner Geburt, und so wuchs er bis zum Ende seines Studiums unter der straffen Zucht seines Onkels auf, der zugleich auch 103 Urteile LG Frankfurt/Main vom 30.01.1947, 4 Ks 1/48 u. LG Düsseldorf vom 24.11.1948 8 KLs 8/48. 104 Schreiben vom 23.12.1952 , in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 164, Bl. 10.

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sein Vormund war. Ab 1918 besuchte er vier Jahre lang in Düsseldorf die Volksschule, anschließend von 1922 bis 1931 die Oberrealschule in Düsseldorf am Fürstenwall, wo er im Jahr 1931 sein Abitur bestand. Hermann Wesse wollte Arzt werden und studierte ab 1931 drei Semester Medizin an der Universität in Köln. Zwischen 1932 und 1934 unterbrach er sein Studium. Im Zusammenhang mit dieser Unterbrechung tauchen erste Widersprüche in Wesses Nachkriegsaussagen auf. Während er in einer Vernehmung im Jahr 1946 wahrheitsgemäß angab, sein Vater sei vor seiner Geburt verstorben,105 erklärte er im Oktober 1947, er habe sein Studium 1932 unterbrechen müssen „weil sein Vater gestorben war“.106 Tatsächlich ist Wesses Vater am 12.10.1911 verstorben und zwar noch vor der geplanten Heirat mit seiner bereits schwangeren Braut. Hermann Wesse war somit ein uneheliches Kind. Erst durch eine Verfügung des Regierungspräsidenten vom 23.01.1918 (Wesse war sechs Jahre alt) wurde dem Kind gestattet, den Familiennamen „Wesse“ zu führen.107 Grund für die Unterbrechung seines Studiums werden finanzielle Schwierigkeiten gewesen sein, denn der Beurteilung des Direktors der Strafanstalt Kassel-Wehlheiden ist zu entnehmen, dass Wesse durch die NSDAP im Jahr 1934 eine Zuwendung bewilligt wurde, die ihm die Fortsetzung seines Studiums ermöglichte.108 Auch in dieser Beurteilung ist davon die Rede, dass Wesse 1932 sein Studium „wegen des Todes seines Vaters“ aufgeben musste.109 Ob es sich in Wirklichkeit um den Tod des Vormunds gehandelt hat, oder ob dieser Wesse keine Unterstützung mehr zukommen lassen konnte bzw. wollte, muss unbeantwortet bleiben. Was Hermann Wesse in dieser Zeit gemacht hat, ist ebenfalls nicht mehr zu ermitteln. Fest steht, dass sein Eintritt in die NSDAP in diese Zeitspanne fällt. Am 01.04.1933 wurde er Parteimitglied und erhielt die Mitgliedsnummer 1706063.110 1936 bestand Hermann Wesse in Köln sein Physikum und setzte sein Studium an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf fort, wo er 1939 auch sein Staatsexamen bestand.111 Am 17.07.1939 wurde er als Medizinalpraktikant in der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau eingestellt und erhielt eine monatliche Vergütung von 50 Reichsmark nebst Verpflegung und freier Station. Am 25.09.1939 bekam er rückwirkend zum 01.09.1939, dem Datum des Kriegsausbruches, vorzeitig seine Bestallung als Arzt:

105 Vernehmungsprotokoll vom 06.01.1946 Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main 4a Js 21/46, in: Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, Bl. 5. 106 Vernehmungsprotokoll vom 25.10.1947 Staatsanwaltschaft Düsseldorf 8 Js 119/47, in: HStAD Gerichte Rep. 372, Nr. 132, Bl. 14ff. 107 Verfügung vom 23.01.1918, I Ca 635, in: Stadtarchiv Düsseldorf, Standesamt Düsseldorf-Ost 9/1918. 108 Schreiben des Direktors der Stafanstalt Kassel-Wehlheiden vom 23.12.1952, in: HStAD, Gerichte Rep. 372, Nr. 164, Bl. 10. 109 Ebd. 110 Personalkarteikarte, in: ALVR (unverz. Bestand); Gaukarte, in: Bundesarchiv Berlin (ehem. Berlin Document Center) 111 Personalakte, in: LVR-Kliniken Viersen.

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Abb. 59: Bestallungsurkunde von Hermann Wesse Unter Beifügung der Bestallungsurkunde bat er am 11.10.1939 um die Übertragung einer Volontärarztstelle in Bedburg-Hau, die man ihm, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass mehrere Anstaltsärzte bereits zur Wehrmacht eingezogen waren und weitere Einberufungen erwartet wurden, bewilligte. Fortan wurde er mit einem Monatsgehalt von 150 Reichsmark in Bedburg-Hau weiterbeschäftigt.112 Im März 1940 war die Anstalt Bedburg-Hau Mittelpunkt der größten Massenaktion in der Geschichte der NS-„Euthanasie“. In der Anstalt sollte ein riesiges Reserve-Lazarett entstehen. Dafür mussten die geisteskranken Patienten weichen. Rund 2.200 Anstaltsinsassen wurden innerhalb von nur einer Woche von einer aus Berlin angereisten Ärztekommission überprüft. In der darauf folgenden Woche verlegte man 1.742 Patienten aus der Rheinprovinz hinaus, größtenteils direkt in den Tod nach Grafeneck und Brandenburg. Nachdem die Anstalt auf diese Weise ihrer Patienten entledigt worden war, gab es für die Anstaltsärzte in Bedburg-Hau nichts mehr zu tun. Die Provinzialverwaltung versetzte Hermann Wesse daher am 22.04.1940 zur Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Andernach. Hier lernte er die Assistenzärztin Hildegard Irmen kennen, die seit dem 15.12.1938 in Andernach beschäftigt 112 Ebd.

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war und am 18.12.1941 seine Ehefrau werden sollte. Der Personalakte ist zu entnehmen, dass Hermann Wesse zum Zeitpunkt seines Amtsantritts in Andernach mit einer anderen Frau verlobt war und diese auch, wie es der Jargon der damaligen Zeit formulierte, an der Anstalt „eingeführt“ hatte. Die Liebschaft mit der Assistenzärztin Irmen erregte also zunächst einmal etwas Aufsehen. Wie sehr das Personal mit Argusaugen alles und jeden überwachte, wird anhand eines Aktenvermerkes deutlich. Die Anstaltsstenotypistin Lia R. hatte im Büro darüber getratscht, dass sie Hermann Wesse und die Assistenzärztin Dr. Irmen dabei beobachtet hatte, wie diese sich auf der Straße umarmten und küssten.113 Um der Gerüchteküche ein Ende zu bereiten, berief Anstaltsdirektor Dr. Recktenwald ein Gespräch mit beiden ein, in dessen Verlauf Hermann Wesse erklärte, er habe Dr. Irmen möglicherweise mal im Scherz geküsst, ansonsten aber nur rein kollegial mit ihr verkehrt und werde zukünftig den Kontakt auf die rein dienstlichen Belange beschränken. In einer etwa zeitgleich angeforderten Beurteilung über Hermann Wesse findet der Vorfall ebenfalls Erwähnung. In dieser Beurteilung bekräftigt Dr. Recktenwald aber gleichwohl, dass seiner Ansicht nach „auf die Angelegenheit kein besonderes Gewicht“ zu legen sei.114 Durch Verfügung des Oberpräsidenten der Rheinprovinz wurde Hildegard Irmen am 18.07.1941 von Andernach nach Johannistal (Viersen-Süchteln) versetzt.115 Ein Zusammenhang mit ihrer Beziehung zu Hermann Wesse ist hierbei allerdings nicht festzustellen. Am 29.07.1941 trat sie ihren Dienst in Süchteln an. Im Herbst 1941 wurde sie erneut versetzt. Nach erfolgreicher Einarbeitungszeit in Süchteln übertrug man ihr die Leitung der Männerstation in der Abteilung Waldniel. Bei der Anstalt Waldniel handelte es sich um eine ehemals konfessionelle Anstalt von Franziskaner-Brüdern, die nach einem durch Devisen- und Sittlichkeitsprozesse erzwungenen Konkurs116 am 05.04.1937 durch die Verwaltung der Rheinprovinz übernommen worden war und seither als Außenstelle der Anstalt Johannistal fungierte. In dieser Anstalt eröffnete der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ im Oktober 1941 eine „Kinderfachabteilung“. Leiter dieser Abteilung wurde der SS-Untersturmführer und Medizinalrat Dr. Georg Renno. Renno war bis zum August 1941, dem Zeitpunkt von Hitlers so genanntem „Euthanasie – Stop“ und der zumindest vorübergehenden Einstellung der Vergasungen erwachsener Geisteskranker, stellvertretender Leiter der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz in Österreich. Als er in Waldniel eintraf, hatte er bereits bei der Tötung von über 18.000 Menschen in der Hartheimer Gaskammer mitgewirkt und war daher schon routiniert in der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Personalakte Hildegard Wesse, in: Archiv der Klinik Uchtspringe. 116 Zöhren 1988, S. 8f.

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Abb. 60: Auf dieser Postkarte von 1915 noch St. Josefsheim der Franziskanerbrüder, später Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Johannistal- Abteilung Waldniel

Hildegard Irmen und Georg Renno freundeten sich an. Beide waren neu in der Anstalt, und die alteingesessenen Waldnieler Ärzte begegneten Renno aufgrund seines Aufgabengebietes und seiner SS-Zugehörigkeit mit misstrauischer bzw. ängstlicher Zurückhaltung. Daher fand er verständlicherweise eher Zugang zu der jungen Ärztin. Diese Bekanntschaft sollte lange halten. Beide standen noch im Jahr 1996 zumindest telefonisch in Kontakt.117 Währenddessen war Hermann Wesse weiterhin in Andernach beschäftigt und legte an den Wochenenden regelmäßig die 150 Kilometer lange Strecke von Andernach nach Waldniel zurück, um seine Verlobte zu besuchen. Beide wollten heiraten und waren auf der Suche nach einer Möglichkeit wieder zusammen zu sein. Diese bot sich bereits im Dezember 1941. Zwei Tage, bevor Wesse zu seiner Hochzeit nach Düsseldorf reiste, erhielt er einen Anruf von Dr. Renno, der sich mit ihm und zwei „Herren aus Berlin“ im Wartesaal des Düsseldorfer Hauptbahnhofs treffen wollte. 117 Kohl 2000, S. 227ff. Kohls Schlussfolgerung, Renno und Hildegard Wesse hätten sich nach dem Krieg „regelmäßig und häufig“ getroffen, erscheint allerdings überzogen. Der von Renno im Gespräch mit Kohl erwähnte telefonische Kontakt steht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Dortmund (Ermittlungsverfahren 45 Js 47/89) gegen ihn und Hildegard Wesse. Beide mussten befürchten, Anfang der 1990er Jahre nochmals wegen der Morde in Waldniel belangt zu werden. Für ein Gespräch bestand also ein konkreter Anlass.

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Renno machte Hermann Wesse mit Hans Hefelmann und Richard von Hegener vom „Reichsausschuss“ bekannt, und gemeinsam unterbreitete man ihm den Vorschlag, die Kinderfachabteilung als Nachfolger Rennos zu übernehmen. Hermann Wesse willigte ein. Anschließend begab man sich zum zuständigen „Dezernenten für die Irrenpflege“ in der Rheinprovinz, Prof. Dr. Walter Creutz. Dieser erhob lediglich den Einwand, dass Hermann Wesse keinerlei Erfahrung in der Jugendpsychiatrie besaß. Man kam überein, Hermann Wesse zunächst zur „Ausbildung“ nach Brandenburg-Görden zu Professor Heinze zu schicken. Anschließend verbrachte er noch weitere sechs Monate in der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn. Seine endgültige Versetzung an die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Johannistal „zum Zwecke der Verwendung in der Kinderfachabteilung“118 erhielt er am 01.10.1942. Bereits einen Tag später unterzeichnete er dort seine erste Todesbescheinigung.119 Die Umstände, die zur Übernahme der Kinderfachabteilung durch Hermann Wesse geführt haben, sind sehr unterschiedlich dargestellt worden.120 Die Nachkriegsberichterstattung hat sich bemüht, die Legende von der „sauberen Rheinprovinz“ aufrechtzuerhalten. Derartige Verbrechen sollte es hier angeblich nicht gegeben haben. Eine ganze Reihe von namhaften Mitverantwortlichen hat es verstanden, die eigene Schuld als „versteckten Boykott“ auszulegen und sich mit Erfolg auf die Ausrede zurückgezogen, man habe nur mitgemacht, um Schlimmeres zu verhindern. Hätte man sich geweigert, wären andere nachgerückt, die alles weitaus schlimmer gemacht hätten. In diesem Zusammenhang finden sich nur wenige Kommentare zu Hermann Wesse. Sämtliche Veröffentlichungen erschöpfen sich bislang in der Aussage, er habe sich sofor, ohne zu zögern, skrupellos an sein Mordhandwerk begeben. Diese Darstellung wird einer fundierten Geschichtsschreibung wohl ebenso wenig gerecht wie der Versuch, das Verhalten irgendeines NS-Verbrechers zu beschönigen oder gar zu rechtfertigen. Wesse hatte die Massentransporte aus Bedburg-Hau und die rücksichtslose Räumung der dortigen Anstalt miterlebt und konnte kaum Zweifel über das Schicksal der abtransportierten Patienten haben. Andernach diente als „Zwischenanstalt“ für die Vernichtungsstätte Hadamar, wo im Sommer 1941 in einer perversen Bestattungs-Zeremonie die Verbrennung der zehntausendsten Leiche gefeiert wurde.121 Seit der Verkündung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde die deutsche Bevölkerung mit Propagandafilmen wie „Erbkrank“ und „Opfer der Vergangenheit“ auf die Verachtung der „unnützen Esser“ eingestimmt. Selbst in die Schulbücher von Grundschulklassen hielten Rechenaufgaben zu den angeblichen Kosten für Irrenanstalten und die Versorgung von 118 Personalakte Hermann Wesse, in: LVR-Kliniken Viersen. 119 Kreisarchiv Viersen in Kempen, Bestand 882 Gemeindearchiv Waldniel. 120 Vgl. Prost 2003, Fußnote 13. 121 Klee 2001, S. 336.

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Geisteskranken Einzug. Die Inhalte des Medizinstudiums wurden ab 1935 ebenfalls entsprechend verändert. So erhob man zum Beispiel das Fach „Rassenhygiene“ zum Pflichtfach für alle Medizinstudenten. Ein in der Erwachsenenpsychiatrie tätiger Arzt konnte unter solchen Voraussetzungen durchaus den Eindruck gewinnen, in einem Beruf ohne Zukunft tätig zu sein. Irgendwann würden die geisteskranken Patienten zwangsläufig alle vernichtet sein. Dagegen garantierte die Tätigkeit in einer Kinderfachabteilung einen auf absehbare Zeit nicht versiegenden Nachschub an Patienten bzw. Tötungskandidaten. Ob solche Überlegungen Hermann Wesse dazu bewogen haben, sich für die Tätigkeit als „Euthanasie“ Arzt zu entscheiden, ist nicht dokumentiert. Mit Sicherheit kann aber davon ausgegangen werden, dass er nach einer Tätigkeit in der Nähe seiner Frau gesucht hat. Mit ebensolcher Sicherheit hatte er im Dezember 1941 Interesse an einer Beschäftigung, die ihm eine dauerhafte „u.k.“-Stellung (= unabkömmlich und damit von der Wehrmacht freigestellt) garantierte. Der im Juni begonnene Russlandfeldzug steckte im Dezember 1941 in seiner ersten schweren Krise. Erste Zweifel an der Führung und am siegreichen Ausgang des Krieges lagen auf der Hand. Für einen jungen Assistenzarzt gab es folglich erstrebenswertere Ziele als die Aussicht auf den Heldentod in einem Feldlazarett an der Ostfront. Die Tätigkeit für den Reichsausschuss stellte für einen jungen Arzt einen Karrieresprung dar, denn der Ausschuss zahlte sowohl seinen Tötungsärzten, als auch dem mit der Verabreichung der tödlichen Medikamente betrauten Pflegepersonal regelmäßige Sondervergütungen. Bei Ärzten handelte es sich hierbei in der Regel um 100 Reichsmark monatlich,122 was für Wesse immerhin eine Gehaltssteigerung von annähernd 25% bedeutete. Außerdem war die Tätigkeit als „Euthanasie“-Arzt ein Sprungbrett für einen schnellen Aufstieg in die Position eines Abteilungsleiters oder sogar Anstaltsdirektors. Die Bekanntschaft mit dem Vergasungsarzt Renno, der zu diesem Zeitpunkt, als gerade mal 35-jähriger Arzt, bereits den Titel eines Medizinalrates im Beamtenverhältnis führte, wird auf Hermann Wesse und nicht zuletzt auch auf seine Verlobte einen entsprechenden Eindruck gemacht haben. Hildegard Wesses Einfluss auf ihren Mann ist in diesem Zusammenhang ebenfalls unterschiedlich beurteilt worden. So heißt es z. B. in einem Gutachten des Anstaltsleiters der Sondervollzugs-Anstalt Marburg u. a. über Hermann Wesse: „[…] anschließend unterstand er dem Einfluss seiner Braut, welche bereits im Euthanasie-Programm eingesetzt war […].“123 Die Behauptung, Hildegard Wesse sei zu diesem Zeitpunkt bereits im „Euthanasie“-Programm tätig gewesen, ist anhand der vorliegenden Dokumente nicht zu beweisen und von ihr selbst stets vehement abgestritten worden.124 Die von ihr unterzeichneten Todesbescheinigungen der Jahre 1942–1943 aus 122 Bundesarchiv Berlin, NS 51/227 Akte Sonderzuwendungen, Bl. 88f. 123 Brief an den Oberstaatsanwalt beim LG Frankfurt/Main AZ. 73/47-S. vom 27.08.1948, vgl. Klee 2004. S. 208. 124 Vgl. u.a. Vernehmungsprotokoll der Stadtpolizei Braunschweig vom 10.11.1947, in: Bundesarchiv B 162/ 18119, Bl. 24.

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der Erwachsenenabteilung der Anstalt Waldniel offenbaren zwar eine immens hohe Sterblichkeit der Patienten und auffällig gleichartige Todesursachen;125 es wird sich hierbei aber mit hoher Wahrscheinlichkeit um „natürliche“ Todesfälle handeln, wobei man bei der katastrophalen Ernährungslage in den Heil- und Pflegeanstalten wiederum nur bedingt von natürlicher Todesursache sprechen kann. Es finden sich allerdings weder in den Todesbescheinigungen, noch in den Krankenakten konkrete Beweise dafür, dass hier mit todbringenden Medikamenten nachgeholfen wurde. Wenig glaubhaft erscheint, dass Hildegard Wesse ihren Mann nicht zur Übernahme der Kinderfachabteilung gedrängt haben will. Sie traf als erste mit Renno zusammen. Sie erfuhr auch sicherlich von Renno, dass dieser nach einem Nachfolger suchte und erkannte die Chance, die sich dadurch für ihre gemeinsame Zukunft mit ihrem Ehemann bot. Renno, der unmittelbar vom Reichsausschuss eingesetzt worden war, wollte schnellstmöglich aus Waldniel wieder weg. Einerseits scheint ihm die Einöde des niederrheinischen Provinznests nach seinem Einsatz im österreichischen Renaissance-Schlösschen nicht gefallen zu haben. Andererseits hat der Gedanke, kleine Kinder töten zu müssen, bei ihm möglicherweise Gewissenskonflikte ausgelöst.126 Renno, selbst dreifacher Vater, dessen jüngste Tochter zu dieser Zeit gerade zweieinhalb Jahre alt war, hatte ohne Skrupel in Hartheim hunderte von erwachsenen Geisteskranken durch eigenhändige Betätigung des Gashahns ins Jenseits befördert. Der Aufgabe in Waldniel versuchte er zu entgehen. Eigenen Angaben zufolge war er zu diesem Zweck sogar nach Leipzig zu Professor Heinze gefahren.127 Dieser zeigte „Verständnis“ für Rennos Bedenken,128 was allerdings nichts an der Tatsache änderte, dass Renno die Abteilung Ende 1941 übernahm. In einem Interview, das der österreichische Journalist Walter Kohl mit Renno kurz vor dessen Tod im Jahr 1997 führte, versuchte dieser dem Thema Waldniel mehrfach auszuweichen und erging sich in Bezug auf die Tötung von Kleinkindern in Ausreden und Schutzbehauptungen. Bei diesem Interview kam er auch auf Hermann Wesse zu sprechen und erklärte unter anderem, er habe sich „krampfhaft bemüht, Wesse zu überreden daß er das macht“.129 Er berichtete weiter, dass es sehr schwierig gewesen sei, die Nachfolge zu regeln. Letztlich sei die Tatsache, dass Hermann und Hildegard Wesse zusammenziehen wollten, der ausschlaggebende Faktor für das Gelingen seiner Pläne gewesen. Weitere Einzelheiten gab Renno 1997 nicht preis. Diese Schilderung zeichnet immerhin das Bild eines zögerlichen Hermann Wesse der erst „überredet“ werden musste, die Stelle zu übernehmen, mithin zu diesem Zeitpunkt keineswegs völlig skrupel- und 125 Kreisarchiv Viersen in Kempen, Bestand 881/882 Gemeindearchiv Waldniel. 126 Kohl 2000, S. 233. 127 Ebd., S. 209. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 226.

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gewissenlos agierte. Dass er letztlich den Weg des geringsten Widerstandes gegangen ist und als Preis für die ihm angebotenen Bequemlichkeiten in Kauf nahm, zum Mörder zu werden, ist Fakt. Möglicherweise hat er versucht, sich selbst mit den gleichen Argumenten zu beruhigen, mit denen er später bei seinen Gerichtsverhandlungen argumentierte: Es würden ja nur „leere Menschenhülsen von ihren Leiden erlöst“, das Ganze geschähe auf „streng wissenschaftlicher Basis“, die Verantwortung läge bei den Professoren die die Ermächtigungen unterzeichneten usw. Von Waldniel bis Idstein Im Juli 1943 wurde die Kinderfachabteilung in Waldniel aufgelöst und Hermann Wesse an die Universitäts-Kinderklinik in Leipzig abgeordnet. Seine Frau wurde etwa zeitgleich zur gleichen Klinik versetzt. Hier klafft eine bemerkenswerte Lücke in der Personalakte von Hildegard Wesse. Während von ihrer Einstellung in den Dienst der Provinzialverwaltung bis zur letzten Beurteilung durch den Leiter der Anstalt Johannistal alles chronologisch verzeichnet ist, finden sich zwischen dieser Beurteilung vom 19.03.1942 und der Übernahme durch die Anstalt Uchtspringe am 20.01.1944, also einem Zeitraum von annähernd zwei Jahren, keinerlei Vermerke oder Eintragungen. Der Zeitpunkt der Versetzung nach Leipzig ist also, anders als bei Hermann Wesse, nicht exakt zu bestimmen. Dass beide gleichzeitig an dieselbe Klinik versetzt wurden, ist keineswegs selbstverständlich. In Waldniel wurden schließlich auch weiterhin Ärzte gebraucht. Spätestens hier scheint auch Hildegard Wesses Verflechtung mit dem Reichsausschuss zu beginnen, der sicherlich seinen Einfluss geltend machte, um den Wünschen seiner Tötungsärzte nachzukommen. Hildegard Wesse deutete dies in einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft Hannover am 11.02.1964 an: „Als im Sommer 1943 die Kinderfachabteilung Waldniel aufgelöst wurde, […] hatte mein Mann keine Beschäftigung. Der Reichsausschuß ordnete nun an, daß mein Mann zur Überbrückung bis zum Freiwerden einer anderen Stelle zu Professor Catel in die Universitäts-Kinderklinik Leipzig als Gastarzt gehen solle. Da ich dem Reichs­ ausschuß durch Schriftwechsel von Waldniel aus bekannt war, ordnete er an, daß ich mit meinem Mann nach Leipzig ging.“130 Hildegard Wesse war bis zu diesem Zeitpunkt ganz normal als Ärztin im Dienst der Provinzialverwaltung angestellt. Die Kinderfachabteilung betreute sie lediglich vertretungsweise und fertigte dort angeblich keine Gutachten für Berlin an. Es erscheint verwunderlich, dass der Reichsausschuss sie in seine Dienste berief und sie mit ihrem Mann 130 LG Hannover 449 AH 402/67, in: Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162 Nr. 18119, Bl. 192.

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nach Leipzig beorderte, nur weil Hildegard Wesse ihm „durch Schriftwechsel bekannt“ war. Gleichzeitig wurden auch die beiden Pflegerinnen, die in Waldniel mit der Tötung der Kinder betraut waren, zur Kinderfachabteilung Leipzig-Dösen versetzt. Die Universitäts-Kinderklinik Leipzig unterstand, wie oben erwähnt, Professor Werner Catel. Catel war Kinderpsychiater, Gutachter für den Reichsausschuss und eine der führenden Persönlichkeiten in der NS-„Kindereuthanasie“. Im Widerspruch zu den Angaben seiner Ehefrau behauptete Hermann Wesse, seine Versetzung nach Leipzig sei nicht durch den Reichsausschuss, sondern durch die Provinzialverwaltung erfolgt.131 Jedoch erscheinen das Ziel dieser Versetzung und der Umstand, dass beide Ehepartner gleichzeitig an dieselbe Klinik beordert wurden, zu offensichtlich, um hier einen Zufall annehmen zu können. Im Oktober 1943 wurde die Leipziger Klinik bei einem schweren Luftangriff vollständig ausgebombt. Anschließend verlegte man die Abteilungen an verschiedene Orte. Hermann Wesse wurde zur Kinderfachabteilung Uchtspringe versetzt, um den dortigen Arzt Dr. Wenzel abzulösen, der zur Wehrmacht einberufen worden war. Zum 20.01.1944 wurde auch Hildegard Wesse nach Uchtspringe versetzt. Die offizielle Einstellung in der Klinik trägt dieses Datum. Tatsächlich muss sie aber schon vorher, etwa zur gleichen Zeit wie ihr Mann, in Uchtspringe tätig gewesen sein. In einer Zeit, in der tausende von Ehefrauen die Trennung von ihren Ehemännern hinnehmen und mit der ständigen Angst vor der Mitteilung über deren „Heldentod“ leben mussten, konnte das junge Arztehepaar immer zusammen wohnen, an der gleichen Stelle arbeiten, täglich die Pausen und die Freizeit gemeinsam verbringen, und somit fast ein Leben wie in Friedenszeiten führen. Am 1. Dezember wurde Hermann Wesse zum zweiten Mal von der Wehrmacht eingezogen. Bis Februar 1944 absolvierte er eine Grundausbildung bei der Infanterie Ersatzabteilung 488 in Hannover. Danach versetzte man ihn zur SanitätsErsatzabteilung 11 nach Bückeburg, wo er einen Unterarzt-Kursus absolvierte. Kurz vor Beendigung dieses Kurses erhielt er die Aufforderung, sich bei Richard von Hegener in der Reichskanzlei zu melden. Der Reichsausschuss hatte eine neue Verwendung für seinen Tötungsarzt und ließ ihn erneut „u.k.“ stellen. Hermann Wesse hat dies stets so dargestellt, als habe der Reichsausschuss ihn gerufen. Beim Prozess in Frankfurt/Main im Jahr 1947 versuchte er noch, die Tötungen in Waldniel und Uchtspringe zu verschweigen. Angeblich sei die Berufung von 1944 seine erste Tätigkeit für die „Kindereuthanasie“ gewesen.132 Damals hatte er bereits einige Mühe, eine plausible Antwort auf die Frage zu finden, wie denn der Reichsausschuss dazu gekommen sei, gerade ihn für diese Aufgabe auszuwählen. Hermann Wesse, der bereits 1941 die Entscheidung getroffen hatte, lieber kleine Kinder zu „erlösen“ als den Winter an der Ostfront zu verbringen, wird sicherlich 131 Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162/AR, Nr. 1672/65, Bl. 170. 132 Kopie des Vernehmungsprotokolls vom 06.01.1946, in: Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162/521, Bl. 5f.

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Abb. 61: Landesheilanstalt Uchtspringe in Zusammenarbeit mit seiner Frau bestrebt gewesen sein, eine neue Heimatverwendung zu erhalten. Bereits Alice Platen-Hallermund erwähnte 1948, dass Wesse sich „um eine uk.-Stellung bemüht“ hatte.133 Im Dezember 1943 befand sich die Katastrophe von Stalingrad auf ihrem Höhepunkt und der bevorstehende Zusammenbruch des Dritten Reiches zeichnete sich mit erschreckender Deutlichkeit ab. Am 03.03.1944 um 11:00 Uhr erreichte ein Telegramm aus Berlin das Wehrbezirkskommando Leipzig II, wonach der „Wehrpflichtige Hermann Wesse“ für einen „Sonderauftrag des Führers“ unabkömmlich gestellt worden und sofort zur Kanzlei des Führers in Marsch zu setzen sei. Dort angekommen, wurde ihm durch Richard von Hegener eröffnet, dass er jetzt „nachdem er auch mal eine Ausbildung als Soldat erhalten habe“, die Leitung einer Kinderfachabteilung in Krakau übernehmen solle. Wesse fuhr nach Krakau, kehrte aber bereits nach zwei Tagen wieder zurück, da angeblich die Räumung der Stadt bereits begonnen hatte.134 Betrachtet man den relativ gut einzugrenzenden Zeitraum dieser Reise (März/ April 1944), dann können diese Angaben nicht zutreffen. Die Existenz einer Kinderfachabteilung in Krakau konnte bisher nicht nachgewiesen werden, und im April 1944 war man deutscherseits von einer Räumung Krakaus noch weit entfernt. Nachweisbar 133 Platen-Hallermund 1948, S. 92f. 134 HHStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 31526, Bl. 355ff.

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ist lediglich, dass Wesse zu dieser Zeit nach Krakau gefahren ist. Sein diesbezügliches Schreiben an den Reichsausschuss beschäftigt sich aber nur mit der Abrechnung der Fahrtkosten, ohne Aufschluss über den genauen Zweck der Reise zu geben. Die unmittelbare Nähe Krakaus zum Konzentrationslager Auschwitz und dem dort zu dieser Zeit an Kindern „forschenden“ Dr. Josef Mengele mag signifikant erscheinen. Der Gedanke kann aber mangels nachweisbarer Fakten nicht weiter verfolgt werden, zumal Mengele nicht im Auftrag des Reichsausschusses tätig war, sondern seinen „Forschungsauftrag“ vom KWI, dem „Kaiser-Wilhelm-Institut“ für Anthropologie erhalten hatte. Näher als in diesen zwei Tagen in Krakau ist Hermann Wesse der Ostfront jedenfalls nie gekommen. Nachdem er von dort zurückgekehrt war, wurde ihm durch Richard von Hegener seine neue Aufgabe zugewiesen: In der Kinderfachabteilung „Kalmenhof“ in Idstein/Taunus hatte man Verwendung für einen neuen Tötungsarzt, nachdem die dortige Ärztin, Dr. Mathilde Weber, sich bei der Behandlung eines Transports von „Reichsausschusskindern“ mit TBC infiziert hatte und krankheitsbedingt ausfiel. Hermann Wesse litt zu dieser Zeit ebenfalls an einer Kehlkopftuberkulose, die er noch ganze zwei Monate lang in Uchtspringe auskurierte. Da es sich nicht um eine offene TBC handelte, erklärte von Hegener ihn Ende April 1944 für dienstfähig und wies ihn an, nun endlich die Kinderfachabteilung Kalmenhof zu übernehmen. Daraufhin trat er dort am 10.05.1944 seinen Dienst an. Diese Versetzung ist die letzte Eintragung in der Personalkarteikarte der rheinischen Provinzialverwaltung. Als letzter Eintrag steht hier „Abgeordnet 16.4.44“ ohne Angabe des Ortes und der übertragenen Aufgabe.135 Möglicherweise hat Wesse vom Reichsausschuss einen Rüffel erhalten, da er sich nach der „u.k.“-Stellung und der überstürzten Abreise aus Krakau so lange zu seiner Frau nach Uchtspringe „verdrückt“ hatte. Auf jeden Fall legte er in Idstein einen überraschenden Diensteifer an den Tag. Als er bei seiner Ankunft keine Ermächtigungen und keine ReichsausschussKinder vorfand (Frau Dr. Weber hatte aufgrund ihrer Erkrankung darum gebeten, keine weiteren Transporte nach Idstein zu schicken) verfasste er den für ihn wahrscheinlich verhängnisvollsten Brief seiner „Euthanasie“-Laufbahn. Am 12.05.1944, zwei Tage nach seinem Dienstantritt, schrieb er an Richard von Hegener: „Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich, wie verabredet, die Reichsausschußabteilung in Idstein übernommen habe. Da wir zur Zeit keine Reichsausschußkinder hier haben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie eine baldige Verlegung von Reichsausschußkindern in die hiesige Anstalt bewerkstelligen würden.“136

135 Personalkarteikarte Hermann Wesse, in: ALVR (unverz. Bestand). 136 HHStA W, Abt. 461, Nr. 31526, Blatt 497.

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Abb. 62: Hauptgebäude der Anstalt Kalmenhof in Idstein/Taunus Der Tötungsarzt beklagte sich bei seinem Auftraggeber über den Mangel an Todeskandidaten und bat ihn, ihm Kinder zu schicken, die er einschläfern konnte. Diesen Brief wird Wesse später noch mehrfach bitter bereut haben, wovon im Kapitel über den Strafvollzug noch die Rede sein wird. Das im fünften Kriegsjahr befindliche Nazi-Deutschland drohte zu dieser Zeit bereits langsam im Chaos zu versinken. Der Reichsausschuss teilte Wesse mit, dass aufgrund der herrschenden Transportschwierigkeiten keine aus Berlin organisierte Zuführung von neuen Reichsauschusskindern möglich sei. Man wies ihn an, sich diesbezüglich an Landesrat Bernotat zu wenden. Gleichzeitig erfolgte der Hinweis, man könne Zuführungen aus Bonn und der Rheinprovinz, die bis dahin zur Kinderfachabteilung Eichberg geleitet wurden, künftig zum Kalmenhof senden. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass der Reichsausschuss nicht wirklich dringend einen Nachfolger für den Kalmenhof benötigte, sondern eher Hermann Wesse dringend auf eine neue u.k.–Stelle aus gewesen war. Die Klinik Eichberg befand sich in unmittelbarer Nähe zu Idstein und „funktionierte“ zu diesem Zeitpunkt unter ihrem Leiter Dr. Mennecke im Sinne des Reichsausschusses einwandfrei. Es gab also keine erkennbare Notwendigkeit, die Abteilung in Kalmenhof zu aktivieren. Landesrat Bernotat hatte zu diesem Zeitpunkt ebenfalls andere Sorgen, als sich um die Versorgung eines Tötungsarztes mit Todeskandidaten zu kümmern. Er wies Hermann Wesse an, sich „mit dem zu begnügen was da

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ist“ und über die Kinder in der Heil- und Erziehungsanstalt Kalmenhof Gutachten zu erstellen. Nun begann Hermann Wesse den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Anweisung, die vorhandenen Kinder zu untersuchen, stellte klar, dass Wesse es hier keineswegs mit Kindern zu tun hatte, welche die Kriterien des sogenannten „lebensunwerten Lebens“ erfüllten. Hier waren vor allem schwererziehbare Jugendliche untergebracht, die im Jargon der damaligen Zeit als „abartig“ oder „asozial“ galten, aber nicht missgebildet oder geisteskrank waren. Spätestens hier begann die Fassade der angeblich streng wissenschaftlichen Tätigkeit des Reichsausschusses zu bröckeln, und es wurde klar, dass die hier durchgeführten Tötungen einzig dem Zweck dienten, sich unbequemer und unproduktiver Mitmenschen zu entledigen. Hatte Wesse es in Waldniel zum Teil noch wirklich mit schwersten Fällen von Geisteskrankheiten und körperlichen Gebrechen zu tun, so tötete er hier erstmals von eigener Hand Kinder bzw. Jugendliche, die völlig gesund und lediglich unbequem oder aufsässig waren.137 Gleichzeitig versuchte er um jeden Preis den nationalsozialistischen Machthabern zu gefallen, indem er beispielsweise die Halbjüdin Ruth Pappenheimer tötete, die auf ausdrücklichen Wunsch des Landesrates Bernotat zum Kalmenhof verlegt worden war und dort beseitigt werden sollte. Ruth Pappenheimer, ein damals fast 19-jähriges und nach Zeugenaussagen auffallend hübsches Mädchen, war geistig völlig normal. Weil sie als Kind „verlogen gewesen sei“ und bei ihrer Arbeitgeberin „einige Flaschen Wein und einen Wollschal entwendet“ haben sollte, wurde sie der Fürsorgeerziehung überwiesen. An diesen fadenscheinigen Begründungen kann man nur erahnen, wie sich die Dinge in Wirklichkeit abgespielt haben müssen. Hartnäckig hielten sich Gerüchte, dass Landesrat Bernotat ein Verhältnis mit Ruth Pappenheimer hatte und sie deshalb aus dem Weg geräumt haben wollte. Jedenfalls forderte Bernotat Wesse auf, ein Gutachten über Ruth Pappenheimer anzufertigen. Anschließend erkundigte er sich mehrmals, wo denn die Ermächtigung bliebe und beschwerte sich heftig, weil Berlin ihm zu langsam arbeitete. Wesse fasste sein Gutachten so ab, dass die Ermächtigung aus Berlin dann auch kam. Er machte also in diesem Gutachten bewusst falsche Angaben, um dem Wunsch Bernotats nachzukommen. Als dann die Ermächtigung eintraf, tötete er Ruth Pappenheimer eigenhändig durch eine Spritze mit einer Morphium-Überdosis.138 Ruth Pappenheimer ahnte, was ihr bevorstand und versuchte sich gegen die Verabreichung der Todesspritze mit aller Gewalt zur Wehr zu setzen. Die Pflegerinnen Maria Müller und Aenne Wrona überwältigten schließlich das Mädchen, so dass Wesse die Spritze verabreichen konnte.139 Wie schrecklich sich diese Szene in der Realität abgespielt haben muss, können Aussagen und Schilderungen wohl nur ansatzweise vermitteln. Entscheidend ist, dass hier offenbar die letzten Hemmschwellen, über die Hermann Wesse noch verfügt 137 Sick 1983, S. 37. 138 Ebd. 139 HHStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 31526, S. 39.

Die Anstaltsärzte

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haben mag, gefallen sind und er von diesem Moment an vollends zu einem skrupel- und gewissenlosen Mörder wurde. Auf dem Totenschein von Ruth Pappenheimer vermerkte er als Todesursache: „Bronchopneumonie, Herz- und Kreislaufschwäche“.

Abb. 63: Das Krankenhaus der Anstalt Kalmenhof − wer zur „Untersuchung“ hier heraufgeschickt wurde, kam meist nicht wieder

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Einführung

5. OPFER UND ANGEHÖRIGE

A

nders als bei der Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken, die 1941 aufgrund der Proteste der Kirchen und der Öffentlichkeit von Hitler (zumindest offiziell) gestoppt wurde, hat die „Kindereuthanasie“ keine vergleichbaren Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Dies ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass die öffentliche Meinung und auch die beteiligten Ärzte hierzu eine grundsätzlich andere Einstellung vertraten. Die Entscheidung, von Geburt an schwer missgebildete „Idioten“ zu beseitigen, traf auf geringere Hemmschwellen als die Ermordung erwachsener Geisteskranker, die zum Teil ehemals gesunde Menschen waren und über persönliche und familiäre Bindungen verfügten. Die nationalsozialistische Ideologie vom „erbgesunden Volk“ hatte den Menschen 1941 bereits einige Jahre lang eingetrichtert, dass ein missgebildetes oder geisteskrankes Kind etwas war, dessen die Eltern sich zu schämen hatten, und so kam es nicht selten vor, dass Eltern froh waren, ihr Kind in die Obhut einer Kinderfachabteilung abgeben zu können, zumal ein pflegebedürftiges Kind, bei den damals meist kinderreichen Familien, für die Eltern eine schwere Belastung darstellte. Bereits 1920 veröffentlichten zwei der angesehensten Wissenschaftler ihrer Zeit, der Psychiatrieprofessor Alfred Erich Hoche und der Jurist Karl Binding, die Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“. Sie lieferten damit die Grundlage für eine Auslese- und Vernichtungsideologie, auf die sich sämtliche Tötungsärzte, darunter auch Hermann Wesse, später berufen sollten.

Abb. 64: Karl Binding

Abb. 65: Alfred Hoche

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Ebenfalls 1920 verschickte der Obermedizinalrat Ewald Meltzer, Direktor der sächsischen Landespflegeanstalt Großhennersdorf, 200 Fragebögen an die Eltern seiner pflegebefohlenen „idiotischen“ Kinder. Er wollte wissen, wie sie zur schmerzlosen Beseitigung ihrer Kinder stünden und hatte vor, mit seiner Befragung Binding und Hoche zu widerlegen.140 Die erste Frage lautete: „Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens Ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, dass es unheilbar blöd ist?“ Das Ergebnis war erschreckend: Von den 162 Eltern, die antworteten, waren nur 19 ganz eindeutig gegen die mit „Lebensabkürzung“ umschriebene Tötung. Einige äußerten sich dahingehend, dass sie stillschweigend mit der Tötung einverstanden seien, aber vorher nicht gefragt werden wollten, also nicht bereit waren, eine ausdrückliche Genehmigung zur Tötung abzugeben. Es finden sich tatsächlich immer wieder Briefe von Eltern, die sich bei Anstalten bedankten, dass ihr Kind „nun endlich von seinem schweren Leiden erlöst sei“, so zum Beispiel in mehreren Krankenakten der Kinderfachabteilung Uchtspringe.141 Die „Euthanasie“ und die Haltung von Eltern und Angehörigen – vier Fallbeispiele Karl Heinz P. Ein besonders dramatisches Beispiel stellt die Geschichte von Karl Heinz P. aus Köln dar. Der Junge war das Produkt einer Affäre zwischen dem „aus guter Sippe stammenden“ Haupttruppführer Philipp B. und seiner Geliebten Appolonia P. Geboren wurde er am 3. August 1938:142 Am 13. Oktober 1941 wurde der Junge, der zuvor in der Orthopädischen Klinik der Universität Köln behandelt worden war, an die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn überwiesen. Hier stellte man fest, dass es sich um einen erheblich unterentwickelten Jungen handelte, der an einer Rachitis litt, die aber fast abgeklungen war. Laut Begleitschreiben der Orthopädie hatte eine Ventrikolographie „schwerste Missbildungen“ des Gehirns ergeben. Der Junge erwies sich in Bonn als „nur mäßiggradig rückständig, kontaktwarm, anleitbar und entwicklungsfähig“. Die Diagnose: „schwerste Missbildungen des Gehirns“ konnte also nicht zutreffen. Eine in Bonn durchgeführte Encephalographie ergab lediglich eine Erweiterung der Ventrikel (= Hohlräume im Gehirn), einen so genannten Hydrocephalus internus. Der Krankenakte ist zu entnehmen, dass der Vater mit einigem Aufwand ein erbbiologisches Gutachten forderte, um 140 „Der Spiegel“ Ausg. Nr. 8 vom 19.02.1964, S. 34. 141 Synder 1994. 142 Alle folgenden Angaben aus der Krankenakte Karl-Heinz P., in: LVR-Kliniken Bonn.

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die Vaterschaft möglichst abstreiten zu können. Ein solches Gutachten konnte jedoch mit den damaligen Mitteln in diesem Alter des Kindes noch nicht erstellt werden, zumal der Vater nicht bereit war, die geforderten Unterlagen über seine Abstammung einzureichen. In mehreren Schreiben wurde diskutiert, ob es möglich sei, ein solches Gutachten auch gegen den Willen der Mutter zu erstellen. Appolonia P. hatte keinerlei Interesse an dem Jungen und kümmerte sich nicht um ihn, worauf auch seine Unterentwicklung zurückzuführen war. Sie musste mit mehreren, immer drastischer formulierten Schreiben dazu bewegt werden, die Kleiderkarten für ihren Sohn bei der Anstalt einzureichen. Interessant ist, dass der Bonner Bericht vom 10.07.1943 dreimal neu geschrieben wurde und in den ersten beiden Fassungen noch die Sätze enthielt: „Es wurde ferner vermerkt, daß die Kindsmutter eine Euthanasie vorgeschlagen habe“ und am Ende des Berichtes: „Von der Mutter des Kindes wurde Euthanasie vorgeschlagen, aus welchem Grund die Klinikeinweisung erfolgte.“ Der Bericht endet mit dem Satz: „Untersuchter wurde der Kinderfachabteilung Waldniel zugeführt“, enthält aber nicht den Satz: „Meldung gemäß Runderlaß des Reichsministers des Inneren vom 18.08.1939 ist erfolgt“. Letzteres hätte die Übermittlung des Falles an den Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden- und damit die Einbindung in das Tötungsverfahren bedeutet. Karl Heinz P. wurde in Waldniel nicht getötet, sondern bei Auflösung der Abteilung am 04.07.1943 mit einem Transport zur Kinderfachabteilung Lüneburg verlegt. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Neben der erschreckenden Gleichgültigkeit, mit der die Mutter hier versuchte sich des unbequemen Sohnes zu entledigen, fällt auf, wie gut diese, sicherlich nicht besonders gebildete Frau über das Mordverfahren informiert war. Die Klinikeinweisung erfolgte, weil die Mutter „Euthanasie“ vorgeschlagen hatte. Gleichzeitig wurde von der Klinik eine Diagnose erstellt, die den Vorschlag der Mutter unterstützte und ganz offensichtlich falsch war. Der Hinweis der Mutter, dass „der doch eh’ blöd“ sei und „man doch heutzutage solche Idioten von ihren Leiden erlösen kann“, scheint dem behandelnden Arzt genügt zu haben. Solche Beispiele blieben aber Ausnahmen. In aller Regel waren die Eltern um ihre Kinder besorgt und hatten zum Teil Bedenken, ihre Kinder in einer „Kinderfachabteilung“ unterzubringen. So findet sich in einem Bericht vom 19.03.1943 über einen Transport von Kindern aus Kerpen der folgende Hinweis: „Bei dem Transport befand sich ebenfalls die Mutter eines Kindes, das mit in die hiesige Anstalt verlegt wurde. Die Mutter äusserte Fräulein G. gegenüber, dass ihr die Schwestern der Kerpener Anstalt geraten hätten, ihr Kind mit nach Hause zu nehmen, da es aus der hiesigen Anstalt doch nicht mehr herauskäme. Sie habe daraufhin die ganze Nacht vor Aufregung nicht schlafen können, und sei mit nach hier

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5. Kapitel

gekommen, um zu sehen, wie es in der hiesigen Anstalt wäre. Diese Aufregung habe sie um so mehr mitgenommen, da sie wieder in Hoffnung sei.“143 Fritz S. In der Patientenakte des Kindes Fritz S. fanden sich folgende Informationen: „Die Mutter äußerte bei einem Besuch im September, daß ihr Kind schlecht aussehe und stark abgemagert wäre im Gegensatz zu den anderen. Sie wurde ausfallend, wollte den Jungen sofort mitnehmen und drohte, die Leute auf der Straße zusammenzurufen und ihnen zu erzählen, was hier mit den Kindern gemacht wird. Ihr wurde daraufhin Besuchsverbot erteilt.“ 144

Abb. 66: Besuchsverbot aus Krankenakte Fritz S. In der Patientenakte befinden sich mehrere Dokumente, die sowohl die Versuche der Eltern, den Sohn den Fängen der Tötungsanstalt zu entreißen als auch die Schwierigkeiten, die ihnen dabei von Seiten der Anstalt gemacht wurden, eindrucksvoll belegen. Am selben Tag, an dem in Waldniel das Besuchsverbot ausgesprochen wurde, schrieb der Vater, der zwar nicht die hohe Kunst der deutschen Grammatik beherrschte, ansonsten 143 Aktenvermerk in HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 87. 144 Patientenakte Fritz S., teilw. in: LVR-Kliniken Viersen, teilw. in: Staatsarchiv Münster 45 Js 47/89, Bd. 3.

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aber keineswegs einen gänzlich ungebildeten Eindruck machte, folgenden Brief an die Verwaltung der Anstalt: „Da ich mein Kind Fritz S. wieder bei mir nehmen und meine Frau ihm selber pflegen will ersuche ich Ihnen, mir mitzuteilen wann und zu welcher Zeit ich Ihm abholen kann. Achtungsvoll Karl S.“

Abb. 67: Brief des Vaters von Fritz S. v. 17.09.1942 Die Kinderfachabteilung ließ sich ihren Todeskandidaten jedoch nicht so einfach wegnehmen, und so schrieb Dr. Hildegard Wesse, die zu diesem Zeitpunkt noch vertretungsweise die Leitung der Abteilung übernommen hatte, am 22.09.1942 einen Brief an das Gesundheitsamt.

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Abb. 68: Brief von Hildegard Wesse vom 22.09.1942

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Von einer Vertreterin der Familienfürsorge wurde Frau S. daraufhin überredet, den Jungen weiterhin in der Anstalt zu lassen: „Eine Unterbringung des Kindes Fritz S. im elterlichen Haushalt ist bei der großen Pflegebedürftigkeit des Kindes nicht möglich. Frau S. hat ihren Haushalt noch durchaus in Ordnung, doch ist sie nicht in der Lage das Kind zu Hause zu halten. Frau S. sah dieses auch bei meiner Aussprache mit ihr ein, und will das Kind auch in der dortigen Anstalt lassen.“ Vier Monate später war Fritz S. tot. Am 24.02.1943 kollabierte er „trotz Herz- und Kreislaufmittel“ und verstarb gegen 22:10 Uhr an „Hypostatischer Pneumonie“.

Abb. 69: So wie dieses Kind, (Kinderfachabteilung Görden) litt Fritz S. an „erethischer Idiotie“ und motorischer Unruhe Bis Fritz S. am 08.03.1942 nach Waldniel verlegt wurde, verlief seine Gewichtsentwicklung zwar unterhalb der Durchschnittskurve, aber nahezu parallel zu dieser. In Waldniel fiel sie dann sprunghaft ab. Die Aufzeichnungen des Franz-Sales Hauses in Essen, wo der Junge zuvor untergebracht war, und der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn beschreiben ihn als etwas zu kleinen und zu leichten Jungen, der sich aber „in ausreichendem Allgemeinzustand“ befand.

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„Neurologisch unauffällig, zeigt er psychisch eine extreme motorische Unruhe. Er springt durch das Zimmer, beklopft und betastet alles Erreichbare; faßt alles an, kneift und beißt die anderen und muß ständig unter strenger Aufsicht gehalten werden. Er kennt keine Gefahren und bekommt Schreitouren, wenn man seinem Treiben Einhalt gebieten will, kann aber auch hin und wieder freundlich lachen. Bei den Mahlzeiten muß er immer alleine gesetzt werden, weil er sonst auch die Teller der anderen Kinder säubert. Ansonsten ist er gesundheitlich gut in Ordnung und nicht krank gewesen.“145 Im Februar 1942 wog Fritz S. 27 kg. Nach seiner Verlegung nach Waldniel verlor der Junge bis September 1942 insgesamt 5 kg an Gewicht. Man machte sich nicht die Arbeit, ihn streng zu beaufsichtigen und bei den Mahlzeiten alleine zu setzen. Im Juli 1942 wurde vermerkt, dass er nur im Bett gehalten werde, weil er nach allem, was er finde, greife und es esse. Die harmlos anmutende Formulierung „kann nur im Bett gehalten werden“ bedeutet in der Realität, dass der Junge ständig am Bett angebunden bzw. gefesselt wurde, was auch eindeutig aus dem obigen Schreiben von Dr. Hildegard Wesse hervorgeht. Fritz S., der schon zuvor als gieriger Esser beschrieben wurde, muss in Waldniel unglaublichen Hunger gelitten haben. Da er gefüttert wurde, oblag die Menge dessen, was der Junge zu Essen bekam, der Verantwortung des Pflegepersonals. Im November 1942 wog er noch 19 kg und entsprach damit als 13-jähriger dem Gewicht eines Sechsjährigen. Hildegard Wesse, die dem Gesundheitsamt gegenüber betont hatte, dass „der Junge hier in guter Pflege ist“, schrieb am 25.02.1943 folgenden „Trostbrief“ an die Eltern: „Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen mitteilen, daß gestern am 24.2.1943 um 22:10 Uhr Ihr Söhnchen an einer Lungenentzündung gestorben ist. Es wird am Sonnabend, den 27.2.1943 um 15,30 Uhr hier beerdigt. Dr. Wesse Abteilungsarzt“. Wie die Eltern auf diese Nachricht reagiert haben, war aus der Akte nicht zu ersehen. Margarethe P. Die Mutter des Kindes Margarethe P. aus Krefeld gab sich mit der Mitteilung über den Tod ihrer Tochter nicht einfach zufrieden. Sie, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammte, selbst als Kind in Fürsorgeerziehung lebte und neben der behinderten Margarethe noch sechs weitere Kinder zu versorgen hatte, machte sich im Juli 1943 auf den Weg von Krefeld nach Waldniel um ihre Tochter zu besuchen. Bei ihrer Ankunft teilte man ihr mit, dass die Kinderfachabteilung aufgelöst und der leitende Arzt versetzt worden sei. Gleichzeitig informierte man sie, dass ihr Kind seit dem 30.06.1943 nicht mehr am Leben war und dass man angeblich ein Telegramm an sie verschickt hatte, welches wohl aufgrund von 145 Gutachten des Leiters der Rechtsmedizin der Universität Münster, Prof. Dr. B. Brinkmann, vom 12.11.1991, in: Staatsarchiv Münster, 45 Js 47/89, Bd. 1, Bl. 19−66.

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„Feindeinwirkung“ nie bei ihr ankam. Frau P. ließ sich nicht abwimmeln und erreichte, dass ihr die neue Anschrift von Hermann Wesse mitgeteilt wurde. Anschließend wurde ein Brief an den Arzt verfasst, der sich zu dieser Zeit in der Universitätsklinik in Leipzig aufhielt. Wesse antwortete kurz darauf und behauptete vom Tod der kleinen Margarethe nichts zu wissen: „Leipzig, den 28.7.43. Sehr geehrte Frau P.! Auf Ihr Schreiben vom 21.7.43 kann ich Ihnen nur mitteilen, daß ich Ihr Töchterchen Margarethe mit einem Transport anderer Kinder zur Anstalt Lüneburg verlegen mußte, da die Kinderfachabteilung in Waldniel wegen der ständigen Luftangriffe im Rheinland geräumt werden mußte. Von einem Ableben Ihres Töchterchens ist mir nichts bekannt. Heil Hitler. Dr. Wesse.“146 Hermann Wesse log die verzweifelte Mutter schlichtweg an. Er selbst hatte am 30.06.43 den letzten Vermerk in die Krankenakte des Kindes geschrieben: „Kollabierte heute plötzlich und erholte sich nicht mehr aus dem Kollaps. Gegen 4 Uhr Exitus letalis. Klinische Diagnose: Angeborener Schwachsinn. C.M. Akute Herz- und Kreislaufschwäche“ (C.M. steht für „Causa Mortis“ = Todesursache – A.d.V.).

Abb. 70: Eintrag Wesses in die Krankenakte Margarete P. vom 30.06.1943. Gleichzeitig unterschrieb er eine Todesanzeige und eine doppelseitige Todesbescheinigung. Auch wenn er sich bei einer Belegung von mehr als 180 Kindern sicherlich nicht an jeden einzelnen Fall genau erinnern konnte, so konnte er den Tod der kleinen Margarethe in der kurzen Zeit nicht vergessen haben, zumal er sich genau erinnert haben wollte, den Namen auf einer Transportliste gesehen zu haben. Um selbst der Verlegenheit zu entgehen unangenehme Fragen über die Umstände und Ursachen des Ablebens des Kindes beantworten zu müssen, machte er der Mutter falsche Hoffnungen und stritt den Tod 146 Dieses und alle folgenden Schriftstücke in der Krankenakte Margarethe P., in: LVR-Kliniken Viersen.

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ihrer Tochter einfach ab. Angesichts der Tatsache, dass Wesse sich als Arzt des Reichs­ ausschusses den Eltern gegenüber in entsprechender Machtposition befand und diese ihm ohnehin mehr oder weniger als Bittsteller gegenübertreten mussten, war dies ein ungemein feiges Verhalten. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, den Tod medizinisch zu begründen und die Mutter mit einigen tröstenden Sätzen zu beruhigen. Stattdessen schob er die Verantwortung nach Lüneburg und setzte die Mutter der quälenden Ungewissheit über den Verbleib ihres Kindes aus. Frau P. veranlasste im Anschluss einen weiteren Brief an die „Kinderklinik Waldniel“, in welchem Wesses Antwortschreiben vollständig zitiert wird, weswegen der Schriftwechsel überhaupt erhalten geblieben ist. Berechtigterweise fragte sie darin, was sie denn nun für richtig halten solle und ob denn ihr Kind nun in Lüneburg sei oder nicht. Daraufhin führte Dr. Lewenstein (wohl in Vertretung des Anstaltsleiters Dr. Kleine) einen Schriftwechsel mit Lüneburg und erhielt die Antwort, dass das Kind Margarethe P. noch auf der Liste gestanden habe, aber kurz vor dem Transport in Waldniel verstorben war: „Vom Personal der Kinderfachabteilung ist vergessen worden, den Namen von der Transportliste zu streichen.“ Das letzte Antwortschreiben an die Familie P. datiert vom 03.09.1943 und ist von Dr. Lewenstein unterzeichnet. Wenn man bedenkt, dass hier ein Arzt eine Familie über den Tod ihres Kindes informiert, dann fällt auf, dass das Schreiben ebenfalls jede Anteilnahme vermissen lässt und man vergeblich nach Worten des Trostes sucht: „Im Nachgang zu meinem Schreiben vom 30.8.1943 teile ich Ihnen mit, daß Ihr Kind Margarethe P. in der Verlegungsliste zu Landesheilanstalt Lüneburg zwar aufgeführt war, die Verlegung aber nach Lüneburg nicht mehr erfolgen konnte, da das Kind am 30.6.43 in Waldniel verstorben ist. Die Ihnen bei Ihrem Besuch in Waldniel erteilte Auskunft ist also richtig, die Mitteilung des Herrn Dr. Wesse irrig. Heil Hitler! 3.SEP.43 Lewenstein“ Die Krankenakte von Margarethe P. ist im Süchtelner Archiv vollständig erhalten geblieben. Anhand der Befunde und Untersuchungsberichte ist es möglich, sich ein recht detailliertes Bild von ihrem Zustand zu machen: „Körperlicher Befund: Ausreichender Allgemeinzustand. Haut gut durchblutet und gespannt […] reichliches Unterhautfettgewebe […] Gelenke aktiv und passiv frei beweglich, intoto locker überstreckbar […] Herzaktion lebhaft, über beiden Lungen bronchitische Geräusche, Genitale äußerlich ohne Befund.“ Das zweijährige Kind war also zu diesem Zeitpunkt gut ernährt, zeigte keine Anzeichen von Herzschwäche und war, abgesehen von einer leichten Erkältung, körperlich völlig gesund. Neurologisch wurde folgendes Krankheitsbild notiert: „[…] Das Kind ist nicht in der Lage den Kopf selbständig zu halten, kann sich nicht aufsetzen. Bei passivem

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Abheben sinkt das Köpfchen kraftlos in den Nacken oder nach vorne. Greifversuch gering. Sinnesorgane funktionstüchtig.“ Der anschließend folgende „psychische Befund“ offenbart dann, wie man sich eine „leere Menschenhülse“ bzw. eine „Ballast­existenz“ in der Realität vorstellen kann: „[…] Das Kind scheut vor jedem Situationswechsel, läßt sich aber rasch beruhigen. Auf freundlichen Zuspruch reagiert es durch Zuwendung, es erwidert das ihm gegebene Lächeln. An Personen ist das Kind noch nicht gebunden; jeder, der sich ihm zuwendet kann das Vertrauen des Kindes gewinnen.[ ]… Spricht man mit ihm, bewegt es die Lippen und die Zunge, schaut dabei unentwegt auf den Mund des Sprechers. Sprachverständnis ist noch nicht vorhanden. Das Kind reagiert zwar auf Anruf und Namensnennung, nimmt dabei aber nur den Laut wahr […].“ Die abschließende Beurteilung endet mit folgender Stellungnahme: „Die Untersuchung in hiesiger Klinik ergab einen Schwachsinn erheblichen Grades neben neurologischen Besonderheiten […] Untersuchte wurde der Kinderfachabteilung Waldniel zugeführt. Gemäß Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 18.8.1939 erfolgte Meldung […].“ Dieser Bericht trägt das Datum 08.06.1943 (einen Tag vor Margarethes zweitem Geburtstag und genau 22 Tage vor ihrem Tod) und bezieht sich auf die Untersuchung in Bonn. Da sich das Kind bereits seit dem 17. Mai in der Kinderfachabteilung befand, scheint Dr. Schmitz mit seinen Berichten im Rückstand gewesen zu sein. Der psychische Befund, den Hermann Wesse am 21.05.1943 in die Waldnieler Krankenakte schrieb, enthielt Margarethes Lächeln nicht mehr, sondern zeichnete ein völlig anderes Bild: „Kind ist äußerst schwer zu fixieren, greift nicht nach vorgehaltenen Gegenständen, hält auch den in die Hand gelegten Finger nicht fest, ist affektiv nicht ansprechbar, hat zu ihrer Umwelt keinerlei Kontakt, hat für Spieldinge keinerlei Interessen, zeigt keinen Spieltrieb, keinen Nachahmungstrieb, schreit viel, unmotiviert, reagiert nicht auf Zuspruch, trotz Wartung ständig unrein, muß gefüttert werden.“ Aus dem Kind, das zwar offensichtlich behindert war, sich aber lebhaft über Zuneigung freute und fasziniert auf die Lippen desjenigen schaute, der mit ihm sprach, war in kürzester Zeit ein apathisches Wesen ohne Kontakt zur Umwelt geworden. Augenscheinlich wurden hier entweder Medikamente zur Ruhigstellung verabreicht, die das Kind anschließend so teilnahmslos wirken ließen, oder es wurde einfach eine Diagnose abgegeben, die den Sachverhalt deutlich negativer darstellte als er in Wirklichkeit war. Hinzu kam sehr wahrscheinlich die emotionale Vernachlässigung des Kindes in der Kin-

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derfachabteilung. Aufschlussreich sind auch die Angaben zur Vorgeschichte, die in beiden Berichten identisch sind und ein überaus schlechtes Licht auf Margarethes Eltern werfen: „[…] Kindsmutter war in Fürsorgeerziehung, sie soll unwirtschaftlich sein [auf der Karteikarte aus Bonn heißt es sogar „schlampig“ A.d.V.], ihre Kinder schlecht erziehen. Kindsvater soll Trinker sein. Beide Eltern wurden angeblich wegen Schmuggelei wiederholt bestraft. Eine Schwester der Kindsmutter ist schwerhörig und linksseitig blind. Sie habe keine Schule besucht. 2 Brüder der Kindsmutter waren kriminell. Der Großvater mütterlicherseits soll einen geistig beschränkten Eindruck machen. Geschwisterkinder der Mutter waren ebenfalls in Fürsorgeerziehung, eines dieser Kinder ist debil. Untersuchte ist das jüngste von 7 Kindern; außerdem hatte Kindsmutter 3 Tot- und Fehlgeburten. Die Kinder sollen durchweg schlecht erzogen sein. Bruder der Mutter mit 6 Jahren in Anstalt Oberhausen gekommen und dort mit 13 Jahren gestorben […].“ Besonders auffällig ist hierbei, dass diese Angaben komplett aus Gerüchten bestehen und offensichtlich nicht von den Eltern selbst stammten. Aus der Akte ist nicht ersichtlich, wer diese Angaben gemacht hat (wahrscheinlich handelt es sich um die Auskunft der Fürsorgestelle). Einmal heißt es: „Erzeuger hat zeitweise getrunken“. Dann wieder: „Kindsvater soll Trinker sein“, was auf der Karteikarte zu dem Vermerk führt: „Vater Trinker“. In der Hauptsache ging es wohl darum, auf dem Personalbogen unter der Rubrik: „Erbkrank?“ ein „ja“ ankreuzen zu können, was Hermann Wesse auch tat. Selbst ihm scheinen die Angaben aber zu vage vorgekommen zu sein, da er hinter diesem „ja“ immerhin noch ein Fragezeichen einfügte.

Abb. 71: Diagnose aus der Krankenakte Margarethe P.

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Der Hinweis auf die Meldung gemäß Runderlass von 1938 sowie der Umstand, dass die Todesursache „akute Herz- und Kreislaufschwäche“ in konkretem Widerspruch zum körperlichen Untersuchungsbefund steht, lässt nur wenige Zweifel daran, dass Margarethe P. in Waldniel getötet worden ist. Heinrich B. In der Zeit nach dem Weggang Dr. Rennos wurde die Kinderfachabteilung durch Dr. Hildegard Wesse betreut. Bis ihr Mann am 01.10.1942 die Abteilung übernahm, starben auf der Station insgesamt sechs Kinder. Tötungen nahm sie also mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vor. Hildegard Wesse, deren „Untersuchungsbefunde erschöpfend“ waren und deren „Krankenblätter sorgfältig und gewissenhaft geführt“ wurden (so eine Beurteilung von Dr. Kleine vom 19.03.1942, auf die bereits ausführlich eingegangen wurde),147 war wie erwähnt, zu diesem Zeitpunkt im fünften Monat schwanger und erwartete selbst ihr erstes Kind. Als Beispiel aus der Zeit ihrer Tätigkeit in der Kinderfachabteilung sei hier die Krankengeschichte von Heinrich B. angeführt:148 Heinrich B. wurde 1936 geboren und etwa ein Jahr in einem Waisenhaus betreut. Die Mutter war unverheiratet und kümmerte sich nicht um ihr Kind. Daher wurde Heinrich B. am 26.07.1937 in das St. Vincenz-Haus in Oberhausen überwiesen, wo er bis zum 08.03.1942 verblieb. Die Aufnahme-Diagnose lautete hier: „Intellektueller Rückstand, floride Rachitis und [handschriftlich hinzugefügt] angeborener Schwachsinn“. Mit gut zwei Jahren konnte er alleine sitzen, feste Speisen zu sich nehmen und hatte hierbei einen guten Appetit. Am 17.11.1938 wog er 12 kg bei einer Körperlänge von 87,5 cm und konnte mittlerweile alleine stehen. Psychisch wurde er als deutlich zurückgeblieben beschrieben: „Besitzt kein Wortverständnis. Zuweilen bekommt er Schreianfälle, von denen er sich aber leicht beruhigen läßt. Er freut sich lebhaft, wenn ihn jemand aufnimmt und mit ihm spielt, lacht dann und klatscht in die Hände, ist überhaupt für freundliche Gesten und Behandlung sehr empfänglich, jedoch ohne Verständnis oder tieferes Empfinden.“ Auch 1939 war das Kind körperlich gesund, geistig jedoch unverändert. Im Pflegebericht vom 05.12.1941 wurde ein Körpergewicht von 19 kg vermerkt: „Der Junge ist in einem leidlichen Allgemeinzustand, geistig aber unverändert.“ Am 08.03.1942 wurde Heinrich B. nach Waldniel verlegt. Er war einer von den zwölf „bildungsunfähigen Knaben“, die auf Anordnung des Landeshauptmanns der Rheinprovinz vom St. Vinzenzhaus in Oberhausen nach Waldniel verlegt wurden.149 Im Austausch erhielt das St. Vinzenzhaus zwölf „bildungsfähige“ Jungen. Hildegard Wesse machte am Aufnahmetag einen Eintrag in die Krankenakte: „Kind in schlechtem Allge147 Vgl. diesbezügliche Ausführungen im Kapitel über Hildegard Wesse. 148 Folgende Unterlagen aus Krankenakte Heinrich B., teilweise in Staatsarchiv Münster, 45 Js 47/89, Bd. 3, teilweise LVR-Kliniken Viersen. 149 Vgl. hierzu die Angaben im Kapitel über Walter Creutz.

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meinzustand. Kaut Wäsche oder an den Fingern, Macht stereotyp. Bewegungen mit dem Köpfchen. Dauernd unrein, nicht ansprechbar.“ Erst drei Monate später, am 14.06.1942, nahm sie einen weiteren Eintrag vor: „Hat ständig erbrochen. Muß in ganz kleinen Mengen gefüttert werden. Geht körperlich stark zurück.“ Einen weiteren Monat später, am 15.07.1942, erfolgte die letzte Eintragung in die Krankenakte: „Heute Exitus letalis an Magenkatarrh morgens 4:40 Uhr.“ Am 16.07.1942 füllte Hildegard Wesse nachträglich die Aufnahme-Karteikarte aus, die in den anderen Akten jeweils am bzw. kurz nach dem Aufnahmetag bearbeitet wurde. Als Diagnose trug sie hier ein „Angeb. Schwachsinn“ ein, und im Feld für die „Typische, atypische Krankheitsform“ standen zwei Worte: „völlig idiotisch“.

Abb. 72: Aufnahme-Diagnose von Heinrich B. Die Angaben aus der Krankenakte sind so dürftig, dass der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Münster, der im Jahr 1991 die Krankenakte im Auftrag der Staatsanwaltschaft Dortmund analysierte, nicht mehr ermitteln konnte, ob die

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angegebene Todesursache nachvollziehbar war oder nicht. Er stellte in seinem Gutachten lediglich fest, dass „Magenkatarrh“ keine Todesursache sei, sondern unter Berücksichtigung des kausalen Geschehens die Krankheit zu benennen gewesen wäre, die den Tod unmittelbar herbeigeführt hatte. Aufgrund der bruchstückhaften Aufzeichnungen aus der Krankenakte war eine genaue Bestimmung der Todesursache im Nachhinein absolut unmöglich.

Abb. 73: Todesanzeige von Heinrich B., unterschrieben von Dr. Hildegard Wesse.

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Fest steht, dass Heinrich B. ein Junge war, dessen geistiger Zustand sich in den vorherigen Jahren der Anstaltsunterbringung nicht gebessert hatte, der unsauber war und viel schrie: ein Patient ohne Besserungs- oder Heilungsaussichten, der lästig war und viel Arbeit machte. Die Eintragungen in der Krankenakte ähneln in auffallender Weise denen, die bei der „Behandlung“ von Reichsausschusskindern vorgenommen wurden, jedoch ist die Zeitspanne zwischen den Einträgen hierfür ungewöhnlich lang. Es ist müßig über die Ursache seines Todes Spekulationen anzustellen. Mit Sicherheit ist nicht davon auszugehen, dass man dem „völlig idiotischen“ Heinrich B. in der Kinderfachabteilung die bestmögliche Pflege und Ernährung zukommen ließ. Dass er am 15.07.1942, nachdem er vier Monate in der Kinderfachabteilung zugebracht hatte, so geschwächt war, dass eine Gastritis oder Magenschleimhautentzündung (damals „Magenkatarrh“) seinen Tod verursachte, spricht für sich. Im Folgenden wird noch vielfältig auf Erkenntnisse aus den Krankenakten einzugehen sein, und die darin enthaltenen Informationen werden aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Teilweise wird im Zusammenhang mit Zeugenaussagen und aktuellen Erkenntnissen nochmals auf bereits erwähnte Fälle zurückzukommen sein, um die Angaben aus den Krankenakten diesen Fakten gegenüberzustellen. Zunächst soll jedoch anhand von zwei exemplarischen Einzelfällen nochmal etwas ausfürhlicher verdeutlicht werden, wie die Vollstrecker des „Gnadentodes“ mit behinderten Kindern und deren Eltern verfuhren. Anneliese B. – „Ally“ Anneliese B. wurde am 08.09.1938 in Düsseldorf geboren. Knapp ein Jahr später, am 18.08.1939, wurde der berüchtigte Runderlass herausgegeben, wonach Kinder mit Behinderungen dem Gesundheitsamt zu melden waren .150 Laut eines in den Akte befindlichen Impfscheins wurde Anneliese am 15.12.1940 „zum ersten Mal mit Erfolg“ geimpft. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Amtsarzt spätestens bei diesem Termin seiner Meldepflicht nachkam. Anneliese litt am so genannten „DownSyndrom“, damals allgemein als „Mongolismus“ oder „Mongoloider Schwachsinn“ bezeichnet. Damit fiel sie unter die erste Kategorie der im Runderlass genannten Fälle und befand sich somit von Geburt an in den Fängen des NS-Systems. Darüber, ob Kinder mit Down-Syndrom überhaupt unter die Vorschriften des Erlasses fallen sollten, soll es im Vorfeld rege Diskussionen gegeben haben. Nach Angaben von Dr. Hans Hefelmann hat in den Sitzungen des beratenden Gremiums Einigkeit darüber bestanden, dass diese 150 Runderlass des Reichsministers des Inneren vom 18.08.1939 – IV b 3088/39-1079 Mi.

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Kinder in die Aktion nicht mit einbezogen werden sollten.151 Dem steht allerdings die Tatsache gegenüber, dass Mongolismus im besagten Runderlass direkt an erster Stelle genannt wurde und der ergänzende Erlass vom 20.09.1941152 mit folgendem Wortlaut auf die Down-Syndrom Kinder einging: „Die Sorgeberechtigten sind oft nicht gern bereit, das Kind in eine Anstalt zu geben. […] Erfahrungsgemäß ist dies bei Kindern mit mongoloider Idiotie besonders häufig der Fall, zumal die Angehörigen die Anhänglichkeit, Freundlichkeit oder Musikfreude derartiger Kinder oft falsch werten, sich unerfüllbare Hoffnungen vortäuschen und daher von der Anstaltspflege nichts wissen wollen […].“153

Abb. 74: Anneliese B. Davon, dass Anneliese bereits als Todeskandidatin für den „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ registriert war, ahnte ihre Mutter nichts. Bis zum Jahr 1943 wuchs „Ally“ im Familienkreis auf, spielte viel und gern mit ihrem 1941 geborenen Brüderchen. Sie war ein fröhliches Kind, lernte mit drei Jahren laufen und entwickelte sich, abgesehen von ihrer Behinderung, ganz normal wie jedes andere Mädchen. Als Säugling erkrankte sie einmal an einem Magen- und Darmkatarrh. Später hatte sie die üblichen Kinderkrankheiten, Masern und Wasserpocken. Im Juni 1939 begab sich Frau B. zu einem Fotografen, um sich mit ihrer Tochter ablichten zu lassen. Wenn es überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, dass auch im nationalsozia­ 151 Vornbaum 2005 (Anklageschrift, S. 105.) 152 In dieser Ergänzung wurde festgeschrieben, dass den Eltern ggf. das Sorgerecht entzogen werden konnte, vgl. hierzu den Abschnitt „Die Einweisung der Kinder“ in Kap. 4. 153 Erlass des Reichsministers des Inneren vom 20.09.1941, IV b 1981/41 1079 Mi., Vornbaum 2005 (Anklageschrift, S. 102−103).

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listischen Deutschland eine Mutter mit einem behinderten Kind glücklich sein konnte, dann ist er durch diese Bilder wohl erbracht.

Abb. 75: „Ally“ mit ihrer Mutter, 1939 Im Jahr 1943 wurde dieses Glück jäh zerstört. Frau B. erhielt die Aufforderung, sich mit ihrer Tochter beim Amtsarzt zur Untersuchung einzufinden. Dieser füllte den „Fragebogen C1“ für „schwachsinnige oder epileptische Kinder unter 16 Jahren“ aus.154 Am Ende dieses ärztlichen Fragebogens steht der Vermerk, dass selbiger auf Ersuchen des Wohlfahrtsamtes zwecks Erwirkung der Aufnahme in eine geeignete Anstalt ausgestellt wurde. Der Amtsarzt hielt Anneliese weder für bildungs- noch für erziehungsfähig und notierte: „Unterbringung in Anstalt erforderlich“. Begründet wurde dies damit, dass die Pflege des Kindes von der Mutter nicht geleistet werden könne, da noch ein zweites Kind zu versorgen sei und die Mutter „sehr elend und nervös“ wirke. Was immer man Frau B. bei diesem Termin auch versprochen haben mag, wahrscheinlich ahnte sie hier zum 154 Krankenakte Anneliese B., in: LVR-Kliniken Viersen.

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ersten Mal, dass ihre Tochter in Gefahr war. Ob man Annelieses Mutter Versprechungen machte oder ob man ihr drohte, ist nicht bekannt. Jedenfalls wurde Anneliese auf Veranlassung des Amtsarztes in die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn eingeliefert, ohne dass aus den Akten ersichtlich ist, ob ihre Mutter dem zugestimmt hatte oder nicht. Von dort wurde sie nach auffallend kurzer Zeit (acht Tage), ohne dass in Bonn ein Untersuchungsbericht erstellt worden wäre, nach Waldniel verlegt. Als Frau B. die Nachricht von der Verlegung ihrer Tochter erhielt, machte sie sich sofort auf den Weg nach Waldniel um nach ihrem Kind zu sehen. Immer noch glaubte oder hoffte sie vermutlich, es mit verantwortungsvollen Ärzten zu tun zu haben, denen das Wohl ihrer Patienten am Herzen lag. Was sie dann in Waldniel erlebte, ist ihrem Brief vom 29.05.1943 zu entnehmen, der sich bei den Düsseldorfer Prozessakten befindet: „Düsseldorf, den 29.5.1943. Sehr geehrter Herr Doktor Wessel [sic], ich erhielt Nachricht von Bonn, dass mein Kind Anneliese B. bei Ihnen untergebracht wurde, ohne nähere Angaben über Besuchszeiten und Sprechstunden. Am 18.5. kam ich in das dortige Heim, um mein Kind zu besuchen und erhielt die Auskunft das eine Besuchssperre wegen Masern sei. Auch meine Bitte Sie selbst zu sprechen wurde mir abgelehnt. Nach weiterem Bitten wurde ich telefonisch mit Ihnen verbunden. Sie teilten mir mit, das es zwecklos sei, sich mit mir über das Kind zu unterhalten, vor 2 – 3 Monaten könnten Sie über das Kind nichts sagen, da es unter Ihrer Beobachtung stehe. Bei meinem heutigen Anruf, erfuhr ich nun das mein Kind seit gestern Temperatur hat, die man sich dort noch nicht erklären kann. Ich habe die Schwester darauf aufmerksam gemacht, das dieses wohl mit dem Hals zusammen hängt, da dies zu Hause des öfteren vorkam. Auch sah ich bei meinem Besuch dass die Kleine Ausschlag im Gesicht hatte, welches ich an ihr nie kannte, das Gesicht verträgt keine Seife. Da ich nun die Eigenarten des Kindes genau kenne und Ihnen darüber Mitteilung machen möchte, bitte ich Sie nochmals dringend mir eine Zeit anzugeben, wann ich Sie persönlich sprechen kann, womit gleichzeitig ein Besuch meines Kindes verbunden wird. Ueber das eigentliche Krankheitsbild mit Ihnen zu sprechen will ich gerne die Beobachtungszeit abwarten. Bei einer Verschlimmerung des Zustandes bitte ich um Ihren telefonischen Anruf. Mit Deutschem Gruss! Frau Karl B.“155 Unter diesem Brief befindet sich ein einziger, handschriftlicher Satz von Hermann Wesse: „3.6.43. […] 2.6.43 an doppelseitiger Pneumonie bei Masern gestorben. Wesse“.

155 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, Bl. 88.

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Hermann Wesse scheute die Konfrontation mit den Angehörigen seiner Opfer. Soweit es ihm möglich war, ließ er sich verleugnen und war nur dann für Angehörige zu sprechen, wenn diese absolut hartnäckig blieben und das Pflegepersonal mit ihnen nicht fertig wurde. Dass Frau B. trotz aller Bitten lediglich telefonisch mit Wesse verbunden wurde, spricht für sich. Immerhin schaffte sie es, trotz der Besuchssperre zu ihrem Kind gelassen zu werden und erreichte, dass man den Arzt für sie ans Telefon holte. Im Hinblick auf die Situation, in der Frau B. sich befand, hat sie ihren Brief sicherlich noch vorsichtig formuliert, und man muss zwischen den Zeilen lesen um ermessen zu können, wie sich dieser Besuch wohl in der Realität abgespielt haben mag. Während Frau B. darum betteln musste, mit dem Arzt ihres Kindes sprechen zu dürfen, war dieser gerade dabei dessen Todesurteil zu unterschreiben. Anneliese war gerade einmal seit 19 Tagen in Waldniel, als sie am 02.06.1943 starb. Hält man sich das Reichsausschuss-Verfahren vor Augen, so ist dieser Zeitraum eigentlich zu kurz, als dass aus Berlin eine Ermächtigung zur Tötung von Anneliese B. vorliegen konnte. Hermann Wesse musste ein Gutachten erstellen, welches Hans Aloys Schmitz bei seinem nächsten Besuch kontrollieren und gegenzeichnen musste. Danach ging die Empfehlung an den Reichsausschuss, woraufhin das Gremium aus drei, voneinander unabhängigen, Gutachtern einheitlich die Tötungsempfehlung aussprechen musste. Alsdann musste die Ermächtigung beim Reichsausschuss erstellt und nach Waldniel zurückgesandt werden. Der Waldnieler Untersuchungsbefund trägt das Datum 18.05.1943. Derselbe Tag, an dem Annelieses Mutter nach Waldniel kam. Der nächste Montag war der 24.05.1943. Wenn Schmitz an diesem Tag den Befund bestätigte und anschließend die Tötungsempfehlung nach Berlin ging, so müsste das geschilderte Verfahren beim Reichsausschuss binnen einer Frist von sieben Tagen abgewickelt worden sein. Es gibt allerdings noch eine andere Möglichkeit. Hans Aloys Schmitz gab in einer Aussage am 18.05.1947 an, jeweils in Waldniel übernachtet und die Untersuchungsberichte am folgenden Vormittag abgezeichnet zu haben. Vielfach mussten die Berichte neu geschrieben werden und waren erst am Folgetag fertig. Schmitz war am Montag, dem 17.05.1943, in Waldniel, was sich anhand des Falles Margarethe P. mit einiger Sicherheit nachweisen lässt.156 An diesem Tag nahm er auch Untersuchungen vor, wobei es sich nach seiner eigenen Schilderung um jeweils 8–10 Kinder handelte. Zeitgleich mit dem Untersuchungsbericht in der Patientenakte könnte also auch der Befund für den Reichs­ ausschuss am 18.05.1943 abgefasst worden sein, was den Zeitraum für das anschließende Ermächtigungsverfahren um eine Woche verlängert und damit in einen realistischen Zeitrahmen bringt.

156 Vgl. diesbezügliche Schilderung im Kapitel über Opfer und Angehörige.

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Annelieses Krankenakte fand sich in einem unsortierten Haufen anderer Akten am Fußende eines Regals im Alt-Archiv der Rheinischen Kliniken Viersen-Süchteln. Wie zu vermuten war, hatte Frau B. sich nicht einfach mit dem Tod ihrer kleinen „Ally“ abgefunden, sondern im Jahr 1961 Anzeige erstattet. Im Rahmen der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf war die Krankenakte herausgesucht und nach Rücksendung nicht wieder einsortiert worden. So hatte sie weitere 45 Jahre dort auf dem Boden gelegen. Das Ermittlungsverfahren wurde „ne bis in idem“ (nicht zweimal in derselben Sache) eingestellt, nachdem festgestellt worden war, dass Hermann Wesse bereits in dieser Sache zu lebenslanger Haft verurteilt worden war und sich im Strafvollzug befand. Aufgrund der nur fünfjährigen Aufbewahrungsfrist solcher Ermittlungsakten gibt es zur Anzeige der Frau B. keine Unterlagen mehr. Ob sie die endgültige Gewissheit erhalten hat, dass ihre Tochter durch Hermann Wesse getötet worden war, ist heute nicht mehr festzustellen und in der Familie nicht überliefert. Anhand der Krankenakte wäre diese Gewissheit möglich gewesen. In ihrem Fall sogar präziser als bei den meisten anderen Todesfällen aus der Kinderfachabteilung Waldniel: Der Untersuchungsbefund aus Waldniel, der, wie bereits dargestellt wurde, häufig negativer ausfällt als die Befunde vorheriger Untersuchungen in anderen Kliniken, attestierte dem Kind Kontaktfähigkeit und einen Schwachsinn lediglich „mittleren Grades“. Anneliese war somit für den Reichsausschuss eigentlich kein sofortiger Todeskandidat. Außerdem ist in der Akte vermerkt: „Kann sauber gehalten werden“. Ein weiterer Umstand der in einer Kinderfachabteilung lebensverlängernd wirken konnte. Aus den Angaben im amtsärztlichen Fragebogen vom 31.03.1943 geht hervor, dass sie bereits eine Wasserpocken- und eine Masernerkrankung überstanden hatte. Eine einmal überstandene Masernerkrankung immunisiert den menschlichen Organismus im Normalfall ein Leben lang, weshalb eine zweite Masernerkrankung, wenn auch nicht unmöglich, so doch zumindest unwahrscheinlich ist. Tatsache ist, dass die Kinderfachabteilung Waldniel sich im Mai 1943 auf dem Höhepunkt ihrer Tötungskapazität befand. Allein in diesem Monat starben dort 27 Kinder. Auf dem Krankenblatt finden sich drei handschriftliche Einträge aus der Feder von Hermann Wesse: „31.5.43 Erkrankte heute an Masern zugleich mit einer doppelseitigen Pneumonie. Herz und Kreislauf o.B. (ohne Befund). − 1.6.43 Kreislaufkollaps. bekommt Cardiazol. − 2.6.43 Heute gegen 1 45 Uhr Exitus letalis − Klinische Diagnose: Mongoloider Schwachsinn − C.M. doppelseitige Pneumonie bei Masern − Wesse“. Wenn man bedenkt, dass hier ein drei Tage andauernder Krankheitsverlauf dokumentiert werden sollte, sehen das Schriftbild und die Gleichmäßigkeit der Eintragungen auffällig danach aus, als wären sie in einem Durchgang vorgenommen worden. So verhält es sich auch bei vielen anderen Krankenakten, die Hermann Wesse in Waldniel geführt hat. Zum Teil finden sich sogar Streichungen und Korrekturen von Daten, die den Eindruck erwecken, als habe er nachträglich versucht den Anschein einer mehrtägigen Doku-

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Abb. 76: Krankenblatt Anneliese B. mit Einträgen Wesses Mai/Juni 1943 mentation zu wahren.157 Dies ist eine der wenigen Akten, in denen Hermann Wesse eine Medikation oder Therapie eingetragen hat. Er dokumentierte sonst in der Regel lediglich Symptome und Begleiterscheinungen, wie „bekommt Krämpfe“; „erholte sich nicht mehr“ oder „einschießende Spasmen“. Hier trug er ein, dass Anneliese am 01.06.1943 nach einem Kreislaufkollaps mit einer nicht bezeichneten Dosis Cardiazol behandelt werden sollte. Cardiazol wurde in der Psychiatrie der damaligen Zeit für die berüchtigten und für den Patienten überaus unangenehmen Schocktherapien (ein Vorläufer der Elektroschocktherapie) zur Behandlung der Schizophrenie eingesetzt. In normaler Dosierung war Cardiazol allerdings ein Medikament, das durchaus zur Kreislaufstimulation und 157 So z. B. in den Krankenakten Gottfried A., Helga R., Peter S., Therese R. u.a., in: LVR-Kliniken Viersen.

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Anregung der Herzaktivität angewendet wurde. Dieser Vermerk in der Akte ist also unverfänglich und passt zum geschilderten Krankheitsbild. Weitaus aufschlussreicher sind die Einträge auf dem Blatt, welches die Dokumentation von Puls und Fieberkurve enthält. Am 02.06.1943 trug Schwester Wrona die „finale Medikation“ ein, die den Tod des Kindes herbeiführte. Sie verabreichte kein Cardiazol, sondern notierte „Somiefen 15“ [richtig: Somnifen – A.d.V.] und 3 Einheiten Luminal 01, wobei sie zunächst „1,1“ schrieb und dann die erste Eins in eine Null änderte.158

Abb. 77: Medikation von Anneliese B. Einem Kind, welches an Masern und einer doppelseitigen Lungenentzündung leidet, Phenobarbital (= Inhaltsstoff von Luminal) zu verabreichen, ist aus medizinischer Sicht vollkommen unsinnig, es sei denn, man will es umbringen. Dass eine erfahrene Pflegerin wie Anna Wrona Cardiazol mit Luminal verwechselt und das tödliche Medikament versehentlich verabreicht hat, ist mit einiger Sicherheit auszuschließen, zumal die Kombination mit dem Schlafmittel Somnifen auch bei einer unterstellten Verwechslung keinen Sinn ergibt. Bei Somnifen handelt es sich ebenfalls um ein Barbiturat, welches seit 1920 158 Außer dieser waren bisher keine weiteren Akten mit vergleichbarer Dokumentation der Medikation aufzufinden. Möglicherweise deutet dies daraufhin, dass Anneliese B. Teil eines „Experiments“ mit verschiedenen Medikamenten zur Tötung der Kinder war. Vgl. hierzu das Kapitel 7 „Forschung und Experimente“.

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für so genannte Dauerschlafkuren eingesetzt wurde und dessen Zusammensetzung und Wirkung mit den bekannteren Substanzen Luminal und Veronal nahezu identisch ist. Somnifen wird auch andernorts im Zusammenhang mit Patientenmorden genannt, so z. B. im Verfahren gegen Dr. Niedermoser aus der Anstalt Klagenfurt in Kärnten. Anneliese B. bekam also hier einen aus zwei Komponenten zusammen gemischten TodesCocktail verabreicht. Am Vortag verabreichte man ihr eine Dosis aus zwei Einheiten Percamidorm:

Abb. 78: Medikation von Anneliese B. (Ausschnitt) Pyramidon, ein seit 1878 von der Firma Hoechst vertriebenes Präparat, wirkt in normaler Dosierung schmerzstillend und Fieber senkend. In Kombination mit Luminal verzögert es dessen Ausscheidung und verlängert dadurch den narkotischen Zustand, wobei die zunächst entgiftende Wirkung rasch abklingt. Das Medikament, dessen tödliche Wirkung bei Überdosierung seit Ende der 1920er Jahre bekannt ist, taucht u.a. auch bei den Malariaversuchen im Konzentrationslager Dachau auf. Der Vollständigkeit halber soll hier untersucht werden, ob es unter irgendwelchen Umständen eine medizinische Indikation für die Verabreichung von Luminal bei dem beschriebenen Krankheitsbild gegeben haben könnte: Allgemein wird die Anwendung von Phenobarbital bei Kindern und Jugendlichen ohnehin nicht empfohlen. Gleichzeitig wird vor der „atemdepressiven Wirkung“ von Phenobarbital gewarnt, weshalb Patienten mit Lungenleiden oder Erkrankungen der Atemwege das Medikament nicht einnehmen sollen. Im Falle einer doppelseitigen Lungenentzündung ist das Medikament (auch in normaler Dosierung) für den Patienten also reines Gift. Außerdem warnt der Hersteller davor, dass es besonders nach Gabe höherer Dosen zu Herzrhythmusstörungen kommen kann. Laut Eintragung in der Krankenakte litt Anneliese B. an einer doppelseitigen Pneumonie und hatte an dem Tag, an dem ihr das Luminal verabreicht wurde, einen Kreislaufkollaps erlitten. Die verabreichten

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Medikamente waren also nur dazu geeignet das Krankheitsbild zu verschlimmern. Bleibt noch die Frage nach der Masernerkrankung zu klären. Wie schon erwähnt, ist eine solche unwahrscheinlich, da Anneliese bereits eine Masernerkrankung gut überstanden hatte und somit über ein entsprechendes Immunsystem hätte verfügen müssen. Es existieren mehrere Berichte aus verschiedenen Kinderfachabteilungen, in denen erwähnt wird, dass die Kinder an einem Ausschlag litten, der „wie Masern aussah“. Auch Annelieses Mutter berichtete in ihrem Brief von diesem Ausschlag. Hierbei wird es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um ein Arznei-Exanthem handeln, welches vergleichsweise häufig durch Luminal hervorgerufen wird. Annelieses „Masern“ waren wahrscheinlich eine Nebenwirkung des Luminal, was bedeutet, dass ihr bereits vor dem 18.05.1943 (dem Tag, als ihre Mutter sie besuchte und den Ausschlag bemerkte) dieses Medikament verabreicht wurde. Dies deckt sich auch mit der Aussage der Pflegerin Maria W. („Luminal bekamen sie ja immer […]“). Schauen wir uns, trotz all dieser eindeutigen Indizien, nochmals die verabreichte Menge des Medikaments an: Der Hersteller gibt als Richtwert für Kinder und Jugendliche eine Dosis von 3−4 mg pro Kilogramm Körpergewicht an. In Annelieses Krankenakte finden sich keine Gewichtsangaben, es gibt daher keine präzisen Information über ihr Körpergewicht. Lediglich ein guter Ernährungszustand am Einlieferungstag wurde attestiert. Geht man nun ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Kinder in der Kinderfachabteilung untergewichtig waren, von dem normalen Körpergewicht eines gut entwickelten viereinhalbjährigen Mädchens aus, dann kann man ein Körpergewicht von 19 kg unterstellen. Somit ergibt sich eine zulässige Höchstdosis von maximal 76 mg pro Tag. Schwester Wrona notierte drei Tabletten von jeweils 0,1 g Luminal, also 300 mg. Dies entspricht dem vierfachen der zulässigen Höchstdosis für ein körperlich gesundes Kind. Rechnet man noch die im Somnifen enthaltene Menge des gleichen Wirkstoffes hinzu, die bei „Somnifen 15“ wohl 0,15 g pro Tablette enthalten hat, so ergibt sich mindestens eine Gesamtmenge von 450 mg. Bezieht sich die Einheitenangabe „03“ auf beide Medikamente, haben wir es sogar mit einer noch höheren Überdosierung und einer Gesamtmenge von 750 mg Barbital zu tun. Es kann also völlig ausgeschlossen werden, dass mit der Verabreichung dieses Medikaments irgendetwas zum Wohle der kleinen Patientin erreicht werden sollte. Zweifel daran, dass dieses Medikament in Tötungsabsicht verabreicht wurde, bestehen nicht. Es scheint allerdings, als habe man hier sichergehen wollen, dass der Medikamenten-Mix ebenso schnell wie absolut tödlich wirken würde. Bei einer objektiven Beurteilung des eigentlichen Krankheitsbildes hätte die Entscheidung nach den Kriterien des Reichsausschuss mit großer Wahrscheinlichkeit „weitere Beobachtung“ lauten müssen. Wie sonst ist es zu erklären, dass Kinder mit deutlich schwereren Behinderungen wesentlich länger in Waldniel überlebten und bei Auflösung der Abteilung noch in andere Kinderfachabteilungen weiterverlegt wurden? Hermann Wesse hat in einer Vernehmung am 25.10.1947 das Auswahlverfahren detailliert beschrieben:

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„Die Fälle leichten Grades schieden für den Reichsausschuß ohnehin aus. In diesen Fällen bedurfte es keiner zusätzlichen Bemerkung. […] Bei der Beurteilung Schwachsinn mittleren Grades fügte ich die Bemerkung hinzu: ‚Es wird vorgeschlagen, das Kind noch 1 Jahr unter Beobachtung zu halten.’ […] Auf die Berichte, die über einen Schwachsinn leichten Grades oder zuweilen mittleren Grades aussagten, erging die Antwort: ‚Das Kind aus dem Reichsausschuß zu entlassen’. In Fällen zweifelhafter Art über den Grad der geistigen Erkrankung erhielten wir die Weisung von Berlin: ‚Das Kind ist auf 1 Jahr oder eine entsprechende Zeit zurückzustellen, alsdann ist erneut zu berichten.’“159

Abb. 79/80: Das letzte Foto von Anneliese B. mit einer handschriftlichen Notiz ihrer Mutter auf der Rückseite: „Lasset mich der letzten schönen Tage noch freuen – Ally im April 1943“ Bei dieser Vernehmung erklärte er ferner, dass nur bei Diagnostizierung eines Schwachsinns „schweren Grades“ vom Reichsausschuss auf Tötung entschieden wurde. Im Untersuchungsbericht fehlt der übliche Abschluss: „Das Kind ist nicht bildungsfähig“, d.h. die Floskel, die dem Opfer das Recht weiterzuleben absprach.160 159 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 152f. 160 Wie sehr Hermann Wesse darauf bedacht war eine Distanz zu seinen Opfern aufzubauen und diese nicht als Menschen anzusehen, zeigt sich daran, dass er etwa ab Anfang 1943 dazu überging, hierfür nicht mehr den Begriff „bildungsfähig“ zu

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Obwohl man Anneliese Kontaktfähigkeit attestierte, ihr die Bildungsfähigkeit nicht vollends absprach und in der Diagnose lediglich einen Schwachsinn „mittleren Grades“ angab, wurde sie bereits nach kürzester Zeit ermordet. Glaubt man Wesses eigener Aussage, dann muss er hierbei eigenmächtig vorgegangen sein, da der Reichsausschuss aufgrund seiner Diagnose keine Tötungsermächtigung ausgestellt hätte. Annelieses Mutter hat ihr Kind in der kurzen Zeit in Waldniel mindestens einmal besucht und mehrmals angerufen um sich nach der Kleinen zu erkundigen. Natürlich waren besorgte Eltern, die die Kinder häufig besuchten, hartnäckig den Arzt zu sprechen wünschten, diesem Ratschläge zum Umgang mit den Kindern erteilen wollten und im Anschluss auch noch Briefe schickten, lästig. Grausame Ironie des Schicksals: Vielleicht hätte Anneliese länger gelebt, wenn ihre Mutter weniger intensiv versucht hätte sich um sie zu kümmern. Ally wurde am Montag, dem 07.06.1943 um 10:45 Uhr auf dem Kinderfeld des Nordfriedhofs in Düsseldorf beigesetzt. Obwohl die Landeshauptstadt im Sommer 1943 von Bombenangriffen der Alliierten heimgesucht wurde und die Kriegsereignisse die Bestattungsziffern auf ein Rekordniveau trieben, war ihre Beerdigung im Friedhofsverzeichnis präzise nachvollziehbar:

Abb. 81: Begräbnis von Anneliese B. auf dem Hauptfriedhof Düsseldorf Frau B., die keinen Zweifel mehr daran hatte, dass Anneliese eines unnatürlichen Todes gestorben war, organisierte trotz der schwierigen Verhältnisse die Überführung ihres Kindes nach Düsseldorf, um sie nicht mit den anderen Opfern der Anonymität des Waldnieler Anstaltsfriedhofs zu überlassen. Da die Eltern also den Leichnam ihres getöteten Kindes auf eigene Kosten in Düsseldorf bestatten ließen, fand keine Beerdigung in Waldniel statt. Trotzdem stellte die Süchtelner Verwaltung für die angebliche Bestattung auf dem Anstaltsfriedhof 26 Reichsmark in Rechnung. Diese wurden auch gezahlt, wie das Schreiben Dr. Lewensteins vom Juli 1943 beweist. Im allgemeinen Durcheinander dieses vierten Kriegssommers hatte die Düsseldorfer Fürsorgestelle für Familienunterhalt scheinbar versäumt, den „Pflegebeitrag“ für Annelieses Aufenthalt in der Kinderfachabteilung an die Rheinprovinz zu überweisen. Mit verwenden, sondern die Bezeichnung „dressierfähig“ oder – noch schlimmer – wie bei einem Hund das Wort „abrichtfähig“ verwendete. Ein Ausmaß an Menschenverachtung das Veranlassung gab, dem Buch genau diesen Titel zu geben.

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Abb. 82: Vermerk über Beerdigungskosten von Anneliese B. Schreiben vom 16.09.1943 wandte sich der Gesundheitsdezernent der Provinzialverwaltung Walter Creutz persönlich an den Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf und forderte die ausstehende Zahlung (47 Reichsmark und 50 Pfennige) bei der Abteilung für Familienunterhalt ein: Am 28.10.1943 konnte Dr. Lewenstein dann an Creutz berichten, dass auch diese ausstehenden „Pflegekosten“ gezahlt waren: Damit war Annelieses Ermordung auch verwaltungstechnisch zum Abschluss gebracht worden und die Akte konnte geschlossen werden. Else H. – „Els’chen“ Else H. stammte aus Duisburg-Meiderich und wurde mit dem ersten Transport behinderter Kinder am 16.12.1941 vom St. Vincenzhaus in Oberhausen in die frisch eingerichtete Kinderfachabteilung nach Waldniel verlegt. Sie überlebte dort mehr als ein Jahr lang, weshalb in ihrem Fall eine recht umfangreiche Krankenakte vorhanden ist. Nach den Schilderungen ihres Vaters wurde die Behinderung der kleinen Else durch eine Diphtherie-Impfung verursacht, deren Nebenwirkungen in der Folge zu Elses geistiger Behinde-

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Abb. 83: Vermerk zu den Pflegekosten von Anneliese B.

Abb. 84: Abschlussvermerk zu den Pflegekosten von Anneliese B.

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rung führten.161 Die Eltern kümmerten sich liebevoll um das Kind und hatten keinerlei Ambitionen ihr Kind in eine Anstalt einweisen zu lassen. Else H. wurde am 01.03.1931 geboren. Zu dieser Zeit existierten noch keine Runderlasse des Innenministeriums und es gab keine Meldepflicht. Zudem wäre sie, wenn ihre Behinderung durch die bereits erwähnte Impfung hervorgerufen wurde, bei ihrer Geburt auch noch nicht in erkennbarer Weise „meldepflichtig“ gewesen. Den Behörden fiel Elses Behinderung demnach erst auf, nachdem sie mehrmals von der Einschulung zurückgestellt worden war, da sie mit inzwischen sieben Jahren noch nicht sprechen konnte. Darauf musste Herr H. sich am 18.10.1938 mit seiner Tochter beim Amtsarzt in Duisburg einfinden, wo der berüchtigte „Ärztliche Fragebogen für schwachsinnige oder epileptische“ Kinder ausgefüllt wurde. Der Amtsarzt hielt Else „nicht für bildungsfähig. Vielleicht für erziehungsfähig“ und stellte fest: „kann nicht am öffentlichen Unterricht teilnehmen.“

Abb. 85: Else H. 161 Familienüberlieferung aus Gesprächen des Autors mit der Nichte des Opfers, Marlies H. Nebenwirkungen bei DiphterieImpfungen sind äußerst selten, können in Einzelfällen (vor allem bei Kombinationsimpfungen mit Tetanus, Keuchhusten usw.) aber heftige Folgen haben. In der Krankenakte ist bei den Angaben über überstandenen Kinderkrankheiten eine Diphterie-Erkrankung aufgeführt, die aber nicht näher erläutert wurde. Ein ursächlicher Zusammenhang mit Elses geistiger Behinderung wurde nicht vermerkt.

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Gleichzeitig empfahl er, das Kind „behufs Bildungsversuches und Klärung der Diagnose in die Prov. Heilanstalt f. seelisch abnorme Kinder aufzunehmen.“162 Dort wurde Else im Februar 1939 von Dr. Hans Aloys Schmitz untersucht, der später in Waldniel ihr Todesurteil gegenzeichnen sollte. Schmitz diagnostizierte „Idiotie“ und stellte fest: „Nennenswerte Erzieh- und Bildbarkeit besteht praktisch nicht. Anstaltsunterbringung muß erfolgen, wenn im Laufe der Zeit die pflegerischen Anforderungen der E. H. über das im familiären Rahmen tragbare Maß hinausgehen sollten. Sie wurde jetzt dem Wunsch ihrer Eltern entsprechend nach Hause entlassen.“ Zu diesem Zeitpunkt war es für die Eltern also noch ohne weiteres möglich frei zu entscheiden und ihr Kind mit nach Hause zu nehmen. Der berüchtigte Runderlass des Innenministeriums erschien erst sechs Monate später. Zwei Monate danach wurde Else im St. Vincenzhaus in Oberhausen aufgenommen. Ob dies aufgrund des Drucks von Seiten des Gesundheitsamtes geschah, oder ob man die Eltern in Bonn davon überzeugt hatte, dass dies für ihr Kind „so das Beste“ sei, ist aus den Unterlagen nicht ersichtlich. Bezüglich der konkreten Diagnose wurde man sich in Oberhausen nicht einig. Der Bonner Bericht sprach bereits von „wahrscheinlich exogener Entstehung“ des „Schwachsinns“ und die Diagnose des Krankenblattes aus Oberhausen nennt „Schwachsinn erheblichen Grades“, bei dem dann „angeborener“ hinzugefügt und anschließend mit der Erläuterung „mit Wahrscheinlichkeit exogen“ wieder gestrichen wurde. Auch hinter dieser letzten Erläuterung befindet sich noch ein Fragezeichen.

Abb. 86: Diagnose aus der Krankenakte von Else H. Wenngleich Else, den Schilderungen nach, in Oberhausen gut und liebevoll versorgt wurde, so offenbaren die Einträge in der Krankenakte bereits die Geringschätzung, mit der von Seiten der Ärzteschaft geistig behinderten Kindern begegnet wurde: „04.39 Psychisch: völlig verblödetes Kind ohne jede freudige oder depressive Affektäußerung […] läßt alles mit sich machen, ist schmutzig und meldet sich nicht zu den 162 Soweit nicht anders angegeben, stammen die Informationen aus der Krankenakte Else H., in: LVR-Kliniken Viersen.

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Bedürfnissen; kann auch nicht allein essen. Blöder Gesichtsausdruck. Ohne jedes Verständnis und Neigung zu Spiel- oder Beschäftigung.“ Auch wenn die Begriffe „Idiot“ und „Schwachsinn“ im damaligen Sprachgebrauch nicht den heutigen Charakter eines Schimpfwortes hatten und in der Diagnostik durchaus üblich waren, gibt es ausreichend Beispiele für Befundberichte, die dennoch ohne derartige Formulierungen auskamen. Es ist bezeichnend, dass mit der wachsenden Verstrickung der Ärzte in die Ausgrenzung und später in die Vernichtung der Patienten auch die Wortwahl in den Befundberichten sich drastisch zu Ungunsten der Patienten veränderte. Als Dr. Hildegard Wesse am 21.07.1942 in Waldniel den Meldebogen mit der lfd. Nr. 38 ausfüllte, schrieb sie über Else H. in der Rubrik „Klinische Schilderung (Vorgeschichte, Verlauf, Zustandsbild)“ nur die von ihr gerne verwendeten zwei Worte: „völlig idiotisch.“ Nachdem die Räumlichkeiten in Waldniel renoviert und umgestaltet waren, der Reichsausschuss Dr. Georg Renno zum leitenden Arzt der Kinderfachabteilung bestimmt und die Anstalt in Süchteln eine Erstbesetzung an Pflegerinnen bereitgestellt hatte, war die Reichsausschussabteilung im Dezember 1941 „aufnahmebereit“. Landesrat Walter Creutz macht sich ans Werk, um die ersten Verlegungen zu veranlassen. Jede Verlegung erfolgte aufgrund seiner ausdrücklichen Verfügung, wenn auch zum Teil mit dem Hinweis, dass der Reichsausschuss diese Verlegungen angeordnet hatte. Da das St. Vincenzhaus in Oberhausen durch die Wehrmacht als Lazarett beansprucht wurde, musste Creutz hier vorrangig Platz schaffen. So lag es für ihn nahe, die Erstbelegung der neuen Kinderfachabteilung aus Oberhausen zu verlegen. Dieser erste Transport umfasste direkt etwa 80 Kinder. Im Dezember 1941 hatte das Personal der Kinderfachabteilung noch keine Routine. Die Abteilung war gerade erst fertig eingerichtet, und der leitende Arzt Dr. Renno hatte ohnehin keine Erfahrung mit Kindern. Außerdem war das Pflegepersonal noch nicht aufeinander eingespielt. Als die Transporte eintrafen, herrschte zunächst Unruhe und Hektik. Eilig wurden von Dr. Renno und Schwester Wrona die Krankenakten grob durchgesehen und durchgängig mit dem Vermerk: „mit Sammeltransport zuverlegt. Zustand unverändert“ versehen. Bei Elses Akte wurde dieser Eintrag von der Oberpflegerin Anna Wrona vorgenommen.

Abb. 87: Verlegungsvermerk von Else H.

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In Bezug auf die Diagnose war man sich zum Zeitpunkt der Übergabe in Oberhausen immer noch nicht einig, denn auf dem Übergabeschein steht hinter dem Hinweis „Else H. leidet an angeborenem Schwachsinn“ weiterhin ein Fragezeichen.

Abb. 88: Übergabeschein vom St. Vincenzhaus Dr. Renno machte sich in Waldniel zügig an die Arbeit und war bereits knapp einen Monat später so weit, dass die ersten Ermächtigungen des Reichsausschusses bei ihm auf dem Tisch lagen und er die ersten beiden Kinder einschläfern konnte. Seine Einträge in den Krankenakten deuten darauf hin, dass er in einer ganzen Reihe weiterer Fälle bereits diagnostiziert und entschieden hatte, die endgültige Umsetzung der Tötungen allerdings nicht mehr ausführen konnte, da er Ende Februar 1942 Waldniel verließ. Aus den spärlichen erhaltenen Unterlagen lässt sich aber zumindest eine Tendenz erkennen, die zeigt, dass Renno sich zunächst die schweren Fälle herausgesucht hatte, die am eindeutigsten den Tötungskriterien des Reichsausschusses entsprachen. Unter diesem Gesichtspunkt ist interessant, dass es in Elses Krankenakte praktisch keinen Eintrag Dr. Rennos gibt. Das einzige Dokument mit seiner Unterschrift ist die Anforderung einer Geburts- und Heiratsurkunde vom 12.02.1942. Während er zu diesem Zeitpunkt

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bereits die ersten beiden Kinder getötet hatte und in der Auswahl weiterer Todeskandidaten bereits fortgeschritten war hatte er Else H. bis dahin noch nicht ein einziges Mal untersucht und nichts in ihre Krankenakte geschrieben. Mithin scheint Else kein derart schwerer Fall von „geistigem Tiefstand“ gewesen zu sein, wie die noch folgenden Dokumente glauben machen wollen.

Abb. 89: Else H. mit ihrer Mutter, ca. 1937 Die Verlegung ihrer Tochter wurde den Eltern als Glücksfall dargestellt, denn man teilte ihnen gleichzeitig mit, ihr Kind befände sich nun in der modernsten und besten Einrichtung, die es für geistig behinderte Kinder gebe. Gleichzeitig wurde der von den Eltern zu zahlende Eigenbeitrag erhöht, und zwar, wie aus dem folgenden Schreiben hervorgeht, auf das Doppelte. Die Eltern kamen ihr Kind regelmäßig besuchen. Entsprechend schockiert waren sie über die tatsächlichen Zustände, die sie in der Kinderfachabteilung vorfanden. Sie mussten erkennen, dass sie getäuscht worden waren und dass von besserer Pflege und modernen Therapien in Waldniel keinesfalls die Rede sein konnte. Von Elses Vater stammt eine der anschaulichsten und aufschlussreichsten Schilderungen über die Kinderfachabteilung. Nachdem er und seine Frau ihr Kind am Wochenende in Waldniel besucht hatten, schrieb er am 29.09.1942 einen Brief an Hermann Wesse:

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„Sehr geehrter Herr Doktor! Bitte Sie, Herr Doktor, mir über folgende Fragen eine Antwort zukommen zu lassen: Am Sonntag den 27. d. Mts. besuchte ich mit meiner Frau meine Tochter Else H. Dabei mußte ich leider die Feststellung machen, daß sich das Kind bei meinem jedesmaligen Besuch gesundheitlich in einem immer schlechteren Zustand befindet. Wie ist es nur zu erklären, daß es ständig an Gewicht verliert? Nach Aussagen der Abt.-Schwester (Oberin) kann das Kind nicht alleine essen u. kaut neuerdings an den Fingern herum. (Letztere sind als ‚neuste‘ Erklärung entzündet) Nun bin ich am genannten Sonntag drei volle Stunden bei meinem Kinde gewesen u. sie hat zügig u. ‚alleine‘ gegessen. Möchte dabei auch darauf hinweisen, daß ich mein Kind jedesmal bei meinem Kommen vollständig ausgehungert antreffe. Bekommt das Kind denn nicht genügend zu essen? Als es seinerzeit in Oberhausen war, sah es besser aus u. war niemals dermaßen gierig vor Hunger. (Was übrigens alle am genannten Sonntage zufällig angesprochenen Besucher von ihren Kindern ebenfalls erklärten u. was ich wie übrigens sie auch selbst beobachten konnten.) Wenn man nun den Krieg als Entschuldigung gelten lassen wollte, wir leben ja alle im Krieg u. in Oberhausen gab es für die Kinder gewiß auch keine Friedenskost. Ihre Informationen besagten ja, die Kinder hätten eine bessere (zusätzliche) Ernährung als sie evtl. gesunde Kinder haben. – Bitte mir nun darüber Auskunft zu geben, denn leider kann mein Kind selbst nicht sprechen u. der Abt.-Pflegerin (Oberin) kann und will ich keinen Glauben schenken, da sie ja niemals den Eindruck einer ‚Kinder‘-Schwester macht und uns, mir sowohl wie meiner Frau gegenüber stets nur sehr kurz und herablassend Rede und Antwort steht. Ich habe bisher immer nur ‚liebevolle‘ Pflegerinnen kennengelernt. Sämtliche Besucher, die ich von Oberhausen aus her kenne, klagen mir unaufgefordert dasselbe. – Doch das gehört wohl nicht hierher. – Ferner leidet mein Kind dauernd an Furunkeln, wie ist dieses zu erklären ? Bitte nun den Herrn Doktor mir selbst möglichst bald eine umgehende Antwort zukommen zu lassen, da ich als Grubenarbeiter im kriegswichtig arbeitenden Betrieb nicht dermaßen über meine Zeit verfügen kann, um mtl. persönlich bei Ihnen nachzufragen. Da man mir nach Überführung meines Kindes von Oberhausen nach dort, sofort das Doppelte der Unterhaltungskosten abverlangte u. mir bei dieser Gelegenheit die Waldnieler ‚Heil‘-Anstalt als besonders fortschrittlich versprach, kann ich es mir nicht erklären, weshalb mein Kind ausgerechnet dort zusehends abnimmt. Früher in Oberhausen nahm ich das Kind mitunter bis zu 4 Wochen nach Hause, oder ging mit ihm während meiner Besuchszeit sogar in der Stadt spazieren – woran doch jetzt bei Weitem kein Gedanke mehr ist. Glauben Sie mir, Herr Doktor, es tut uns Eltern in der Seele weh, zusehen zu müssen wie das Kind nach unserer eigenen Feststellung allmählich zugrunde geht, und wenn es auch nur ein anormales Kind ist, so ist eine Quälerei dieses armen Geschöpfes bestimmt nicht angebracht. Bitte zum Schluß

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nochmals um erklärende Benachrichtigung – falls ich mich sonst gezwungen sehe, im nicht gegebenen Falle, an anderer Stelle Auskunft zu erhalten, wozu ich mich als Vater meines Kindes doch bestimmt für berechtigt halte. − Es zeichnet mit Deutschem Gruß  Johannes H.“ Zwei Dinge machen diesen Brief so einzigartig: Einerseits belegt er eindeutig, dass man die Kinder in Waldniel tatsächlich bewusst hungern ließ, andererseits deckt sich die im Brief verwendete Bezeichnung „Abt. Pflegerin (Oberin)“ genau mit der Schilderung der Pflegerin Maria W., die rund 60 Jahre später angab, die Pflegerin Wrona habe sich in Waldniel mit „Oberin“ anreden lassen, obwohl ihr diese Bezeichnung nicht zustand. Warum hätte der Vater sonst diesen Zusatz in Klammern verwenden sollen, wenn ihm gegenüber diese Anrede bei seinen Besuchen nicht besonders betont worden wäre? Außerdem entspricht die Beschreibung der Schwester Wrona, bei der sich der Vater sicherlich noch zurückgehalten hat, exakt der Darstellung, die die übrigen Pflegerinnen über sie abgaben. Mindestens ebenso aufschlussreich ist die Antwort, die Hermann Wesse Elses Vater zukommen ließ. Während er sich nur oberflächlich die Mühe machte, die Argumente und Sorgen des Vaters zu entkräften, verwendete er umso mehr Zeit darauf, den „geistigen Tiefstand“ des Kindes zu betonen und Herrn H. für seine Vorwürfe juristische Konsequenzen anzudrohen: „Auf Ihr Schreiben vom 29.9.42 teile ich Ihnen mit, daß bei geistig tiefstehenden Kindern, wie dies ja bei Ihrem Kind der Fall ist, es oft zu einem körperlichen Rückgang kommt. Ihr Kind kann zwar allein essen, muß aber trotzdem gefüttert werden, da es aufgrund seines erheblichen Schwachsinns viel zu gierig ißt. So erkrankte Ihre Tochter auch nach Ihrem letzten Besuch an einem heftigen 2-tägigen Durchfall, da es den von Ihnen mitgebrachten Kuchen wiederum viel zu gierig gegessen hatte. Ich muß Sie daher darauf aufmerksam machen, daß Besucher solche Lebensmittel nat. an die Abteilungspflegerin abzugeben haben, damit ihr Kind diese Dinge vernunftgemäß nacheinander bekommt und nicht alles auf einmal ißt. Daß beim erheblichen Schwachsinn (Idiotie) Ihrer Tochter oft es leider nicht zu vermeiden ist, daß sie sich immer wieder den Finger in den Mund steckt u. daran lutscht. [sic!] Eine Furunkulose, wie sie z. Z. bei Ihrer Tochter vorhanden ist, kann jederzeit bei einem Kinde auftreten u. klingt bei entsprechender Behandlung auch wieder ab. Ihre Tochter wird selbstverständlich in dieser Hinsicht behandelt. Da Ihr Kind leider geistig derart tiefstehend ist, kann eine Besserung auf intellektuellem Gebiet nie mehr erwartet werden. Auf das entschiedenste muß ich aber den Vorwurf der Quälerei zurückweisen. Es wird hier alles getan was zur Pflege der Kinder erforderlich

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ist. Sollte mir nochmals ein derartiger Vorwurf ihrerseits zu Ohren kommen, sehe ich mich gezwungen juristisch gegen Sie vorzugehen. Im Übrigen hoffe ich Ihnen Ihre Fragen weitgehend beantwortet zu haben. Für eine mündliche Auskunft stehe ich jederzeit zur Verfügung.“ Drei Monate später war Else tot. Am 09.01.1943 erlag sie, wie schon so viele andere vor ihr, einer „doppelseitigen Pneumonie“. Das Krankenblatt zeigt mit Datum „April 42“ maschinenschriftliche Einträge, die sehr auffällig mit den Feststellungen der obigen Schreiben übereinstimmen. Es drängt sich der Eindruck auf, diese Einträge wären nachträglich vorgenommen worden um zu dokumentieren, dass der Zustand, den der Vater im September 1942 bemängelte, schon im April ärztlicherseits festgestellt worden sei. Diese Einträge waren die ersten, seit Schwester Wrona am 16.12.1941 das „unveränderte Zustandsbild“ notiert hatte. Falls sie tatsächlich im April 1942 eingetragen wurden, so müssen sie von Dr. Hildegard Wesse stammen, die zu dieser Zeit vertretungsweise die Kinderfachabteilung leitete. Dies ist allein schon deshalb unwahrscheinlich, weil Akteneinträge von Hildegard Wesse sonst nur in den Krankenakten der Kinder zu finden sind, die in der Zeit ihrer Vertretung verstarben. Hildegard Wesse hatte gleichzeitig die Waldnieler Männerstation zu betreuen und arbeitete im Juli 1942 die kompletten Meldebögen der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ sowohl für die Männerseite, als auch für die Kinderfachabteilung ab. Sie wird sich wohl kaum die Mühe gemacht haben, in der Abteilung, die sie nur übergangsweise betreute, Untersuchungen durchzuführen, Diagnosen zu stellen und Krankenakten zu pflegen. Betrachtet man die Gewichtstabelle, die für Else in Waldniel geführt wurde, dann fällt auf, dass Elses Gewicht nach dieser Aufzeichnung im April 1942 angeblich wieder auf das ursprüngliche Niveau gestiegen war, nachdem es im Januar lediglich noch 19 kg betragen hatte. Der Eintrag „Gewichtsabnahme“ macht also im April 1942 eigentlich keinen Sinn. Diese Gewichtstabelle verdient noch einmal etwas genauer analysiert zu werden. Hiernach wog Else bei ihrer Ankunft in Waldniel 22 kg. Danach nahm sie in kürzester Zeit 3 kg ab. Im März/April 1942 soll ihr Ursprungsgewicht angeblich wieder erreicht worden sein, um dann innerhalb nur eines Monats auf 17 kg zu fallen. Mit einigen kleinen Schwankungen wog sie dann von Juni bis einschließlich Oktober 1942 durchgängig 20 kg. Im November 1942 erreichte ihr Körpergewicht den Tiefpunkt von 16 kg. Bis zu ihrem Tod soll sie dann angeblich wieder 2 kg zugenommen haben. Auffällig ist, dass Else bereits auf dem Transport von Oberhausen nach Waldniel 2 kg an Gewicht verloren haben müsste, denn der letzte Eintrag aus dem St. Vincenzhaus wies ein Körpergewicht von 24 kg aus.

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Abb. 90: Gewichtstabelle Else H.

Abb. 91: Gewichtsangabe Else H. aus dem St. Vincenzhaus Oberhausen Wie schon erwähnt, wurde Else von ihren Eltern in Waldniel mehrfach besucht. Wenn die Tabelle stimmt, dann können dem Vater drastische Gewichtsverluste im Mai und im November 1942 aufgefallen sein. Das Schreiben des Vaters stammt aber vom September 1942, einem Zeitpunkt, zu dem das Gewicht des Kindes angeblich relativ konstant blieb. Außerdem berichtete Herr H. in seinem Brief, dass sein Kind „fortwährend“ abnahm. Von einer zwischenzeitlichen Erholung, die er bei seinen Besuchen ebenfalls hätte feststellen müssen, erwähnte er nichts. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Else H. fast 12 Jahre alt. Die letzte Größenangabe stammt vom Oktober 1941 und gibt eine Kör-

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pergröße von 130 cm an. Nach der Größen- und Gewichtstabelle von Pfaundler (Wien 1945), die für diesen Zeitraum repräsentativ sein dürfte, entsprach ihre Größe damit der Norm. Ihr Körpergewicht lag mit 24 kg zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 6 kg unterhalb dieses Richtwertes. Als zwölfjähriges Mädchen hätte sie hiernach bei einer Größe von 140 cm etwa 35 kg wiegen müssen. Da in Waldniel keine Messungen der Körpergröße notiert wurden, können nur Rückschlüsse auf das Gewicht gezogen werden. Unterstellt man, dass die im letzten Lebensmonat notierte Gewichtszunahme, die aufgrund der Erkenntnisse aus anderen Patientenakten stark in Zweifel zu ziehen ist, den Tatsachen entspricht, dann hat Else H. bei ihrem Tod 18 kg gewogen. Damit lag sie um 17 Kilogramm unterhalb der Norm. Geht man davon aus, dass diese letzte Angabe geschönt ist, dann hat Else zum Todeszeitpunkt gerade mal 16 kg gewogen und lag damit fast 20 kg unterhalb der Altersnorm.

Abb. 92: aus dem Fotoalbum der Familie H. – ein „lebensunwertes Kind“, das sich des Lebens freut … Das von eiternden Geschwüren geplagte und durch Mangelernährung bis auf die Knochen abgemagerte Kind hatte im Januar 1943 den Luminaltabletten nichts mehr entgegenzusetzen. Trotzdem dauerte Elses Todeskampf noch ganze sieben Tage: „2.1.43 Geht körperlich zurück, zeitweise unruhig. Schlechte Nahrungsaufnahme, auf geistigem Gebiet keine Fortschritte. 6.1. Über beiden Lungen Dämpfung, Bronchialatmen, Rg´s (Rasselgeräusche – A.d.V.) Temperatur 39,2o, Herz- und Kreislauf

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schlecht. 8.1. Doppelseitige Pneumonie. Zustand unverändert. 9.1. Bronchialrasseln, Nasenflügelatmen, Gegen 1630 Uhr Exitus letalis. Klinische Diagnose: Erworbenes Hirnleiden mit Idiotie. C.M. Doppelseitige Pneumonie.“

Abb. 93: Krankenblatt Else H. mit den letzten Einträgen Wesses Bezeichnenderweise finden sich in der Krankenakte keine Durchschriften von den sonst üblichen Benachrichtigungen an die Eltern. Hermann Wesse ahnte wohl, dass die Eheleute H. sich nicht kommentarlos mit dem Tod ihres Kindes abfinden würden. In der Krankenakte ist lediglich vermerkt, dass Else nicht auf dem Anstaltsfriedhof in Waldniel bestattet, sondern am 15. Januar 1943 abgeholt wurde. Ob die Eltern am Leichnam ihres Kindes außer der schrecklichen Unterernährung weitere Anzeichen eines unnatürlichen Todes festgestellt haben, ist nicht überliefert. Allerdings ist bekannt, dass Elses Vater den Arzt zur Rede stellen wollte. Als die Eltern nach Waldniel kamen, um den Leichnam

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ihrer Tochter abzuholen, erteilte man ihnen die Auskunft, die Ärzte seien gerade „auf Ausritt“ und man könne ihnen nicht sagen, wann einer von ihnen wieder zu sprechen sein würde.

Abb. 94: Else – etwa 1940, vor der Verlegung nach Waldniel Abb. 95: „Stolperstein“ für Else H. in Duisburg Auf Initiative ihrer Nichte, Marlies H., wurde im Jahr 2007 in Duisburg-Meiderich vor dem Haus, in dem Else gelebt hat, ein Stolperstein gesetzt. Dieser Stein, im Gehsteig der Lösorterstraße 59 (die auch heute noch so heißt), erinnert nun an das unschuldig ermordete Kind. 64 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen in Waldniel wurde hier ein Schritt gegen das Vergessen getan. Diese beiden Einzelschicksale wurden zur ausführlichen Darstellung ausgewählt, da es in diesen Fällen gelungen ist, Angehörige der Opfer ausfindig zu machen. Diese haben freundlicherweise Fotos der ermordeten Kinder zur Verfügung gestellt und Schilderungen aus der Familienüberlieferung beigesteuert. In der Gegenüberstellung haben die beiden Fälle auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Else H. kam mit dem ersten Transport nach Waldniel und überlebte in der Kinderfachabteilung ein Jahr und einen Monat lang. Sie hat den Anfang unter Dr. Renno erlebt und verbrachte das komplette Jahr 1942 in Waldniel. Als sie im Januar 1943 getötet wurde, verfügte der Arzt Hermann Wesse erst über drei Monate „Tötungsroutine“ und hielt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch relativ genau an das Reichsausschussverfahren. Setzt man die Richtigkeit der

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Diagnostik in der Krankenakte voraus, dann ist der Grad ihrer geistigen Behinderung schwerer gewesen als bei Anneliese B., wobei es sich bei Elses Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein erworbenes Leiden handelte, während Annelieses „Down Syndrom“ unzweifelhaft eine angeborene Behinderung war. Anneliese kam im Mai 1943 in die Kinderfachabteilung, als diese auf Hochtouren lief und Hermann Wesse bereits einen siebenmonatigen Prozess gefühlsmäßiger Verrohung hinter sich gebracht hatte. Sie entsprach nur bedingt den Kriterien des Reichsausschusses, verstarb aber bereits nach 19 Tagen. Während Wesse den Brief des Herrn H., wenn auch herablassend, so doch immerhin noch recht ausführlich beantwortete, widmete er dem Schreiben der Frau B. nur noch einen einzigen flüchtigen Satz. Else H. wurde offenbar „verfahrenskonform“ getötet, während es bei Anneliese B. deutliche Hinweise auf eine eigenmächtige und vorschnelle Beseitigung gibt. Eines aber haben diese beiden Fälle gemeinsam: Keines dieser beiden Kinder entsprach auch nur im Entferntesten den Beschreibungen, die die Mörder später zu ihrer Rechtfertigung verwendeten. Es waren keine Wesen, die von ihrer Umwelt keinerlei Notiz nahmen und nur stumpf und apathisch vor sich hindämmerten. Keines dieser Mädchen befand sich auf einem geistigen Stand, der „unterhalb dem eines Tieres“ angesiedelt war, und sicherlich empfanden sie ihr Dasein nicht selbst als Last, ebenso wenig, wie ihre Eltern über den Tod ihrer Kinder erleichtert waren oder diesen als „Erlösung“ empfunden haben. Diese beiden Kinder, die völlig zufällig aus der Menge der fast 100 ermordeten Waldnieler Kinder hervorgehoben wurden, treten uns, da die Fotos uns die Möglichkeit geben in ihre Gesichter zu blicken, weitaus näher als jede Statistik anonymer Opfer.

Abb. 96: Ally

Abb. 97: Els’chen.

6. DAS PFLEGEPERSONAL

Die leitenden Pflegerinnen der Kinderfachabteilung Anna Wrona und Luise Müllender

H

itlers „Gnadentoderlass“ besagte, dass die „Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte“ so zu erweitern seien, dass sie den „Gnadentod“ gewähren könnten; und Karl Brandt wollte die Tötung im Rahmen der Aktion als einen medizinischen Vorgang verstanden wissen. Als letzte medizinische Handlung sollte der Arzt zum Wohle der Volksgemeinschaft und zur Gesundung des Volkskörpers den unheilbaren Patienten beseitigen. Es ist deshalb, zumindest zu Beginn der Aktionen, streng darauf geachtet worden, dass die Tötungen auch tatsächlich von Ärzten ausgeführt wurden. In den Vergasungsanstalten hatten Ärzte den Gashahn zu bedienen, bei der Ankunft und anschließenden Vergasung in den Konzentrationslagern mussten Ärzte die Selektion durchführen und bei der anschließenden Vernichtung anwesend sein. Auch die todbringenden Medikamente in den Kinderfachabteilungen waren grundsätzlich durch einen Arzt zu verabreichen. In der tatsächlichen Praxis wurde diese Aufgabe jedoch fast ausschließlich den Pflegerinnen übertragen. Einerseits überließen die Ärzte dieses Handwerk gerne anderen, andererseits drängte sich das Pflegepersonal teilweise zu dieser Arbeit, nicht zuletzt weil hierfür vom Reichsausschuss „Tötungsprämien“ gezahlt wurden. Dies geschah sowohl in Form einer Vergütung „pro Todesfall“, als auch im Rahmen einer monatlichen Sonderzuwendung.163 Zusätzlich wurden alljährlich durch den Reichsausschuss für die mit der Tötung betrauten Pflegerinnen Weihnachtsgratifikationen gezahlt. Die Vorschlagslisten und der Schriftverkehr über diese Zahlungen gehören zu den wenigen Dokumenten, die vom Reichsausschuss erhalten geblieben sind. Es fällt auf, dass gerade im Jahr 1941, dem Jahr, in dem Hefelmann und von Hegener ihre Rundreise zwecks Eröffnung weiterer Abteilungen unternahmen, diese Weihnachtsgratifikationen außerordentlich hoch ausfallen. Offensichtlich wollte man das angeworbene Personal bei Laune halten. Im Falle der Kinderfachabteilung Waldniel ist dies besonders auffällig, da die Abteilung Weihnachten 1941 noch gar nicht mit ihrer „Arbeit“ begonnen hatte. Viktor Brack, Leiter des Amtes II der Kanzlei des Führers, schrieb am 22.12.1941 an Dr. Renno in Waldniel: „Sehr geehrter Parteigenosse Renno! Obgleich die Kinderfachabteilung des Reichsausschusses in Waldniel bisher noch nicht ihre Tätigkeit aufgenommen hat, möchte ich den bevorstehenden Jahresabschluß benutzen, um der von Ihnen bestimmten Oberschwester Anna 163 Entsprechende Belege hierfür in: HHStA Wiesbaden (Unterlagen Kalmenhof-Prozess) u. Bundesarchiv Berlin NS 51/227, Bl. 31f.

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Wrona, die nach Aussage von Herrn Dr. Hefelmann einen recht guten Eindruck gemacht hat, eine einmalige Sonderzuwendung von RM 100,- zukommen zu lassen. Ich habe diesen Betrag heute durch Postanweisung an Ihre Anschrift anweisen lassen und bitte Sie, diesen Oberschwester Wrona mit einigen entsprechenden Worten auszuhändigen. Ich wünsche Ihnen ein gesundes und frohes Weihnachtsfest sowie ein glückliches neues Jahr. Heil Hitler! Gez. Brack.164 Der Einlieferungsschein dieser Postanweisung befindet sich noch heute im Bundesarchiv.165

Abb. 98: Postanweisung der Weihnachtsgratifikation für Schwester Wrona

164 Bundesarchiv Berlin, Bestand NS 51/227 Bl. Nr. 51 (KdF, Dienststelle Bouhler). 165 Ebd., Bl. 31.

Das Pflegepersonal

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Bedenkt man, dass zur gleichen Zeit ein Volontärarzt in den Diensten des Provinzialverbandes monatlich 150 Reichsmark brutto erhielt und ein Assistenzarzt im Angestelltenverhältnis gerade einmal 450 Reichsmark brutto zur Verfügung hatte, kann man ermessen, in welcher Größenordnung hier eine Oberschwester bedacht wurde. In den Folgejahren beliefen sich die Weihnachtsgratifikationen für Pflegerinnen jeweils auf etwa 30–35 Reichsmark. 1941 wollte man also ganz offensichtlich durch Großzügigkeit die Mörder bei der Stange halten. In Waldniel wurden die Tötungen hauptsächlich von der Oberschwester Anna Wrona durchgeführt.166 Schwester Wrona steht exemplarisch für den Typus der Pflegerin, die der Reichsausschuss für seine Zwecke anwarb. 1907 geboren, war sie nach Abschluss der Volksschule im Marienkloster in Ochtrup in der Hausarbeit ausgebildet worden. 1925 trat sie eine Stelle als Kindermädchen bei einer Familie in Bochum an. Zwei Jahre später bewarb sie sich auf eine Stelle in der Heilund Pflegeanstalt Johannistal in Süchteln. Dort war sie zunächst als Lernpflegerin, später als Pflegerin tätig. Angeblich kündigte sie ihre Stelle im Oktober 1941, da sie sich der Arbeit auf der Männerstation, mit überwiegend besonders schweren Fällen, nicht mehr gewachsen fühlte. Ende 1941 kam dann ein Vertreter des Reichsausschusses (es muss sich um Hefelmann gehandelt haben − s. obiges Schreiben Bracks) nach Süchteln um Personal für die Kinderfachabteilung auszusuchen. Im Beisein von Dr. Kleine, dem Leiter der Anstalt Johannistal, klärte Hefelmann die Pflegerin über den Reichsausschuss, die „Kindereuthanasie“ und die Aufgaben der Kinderfachabteilungen auf und bot ihr an, die Stelle der Oberpflegerin in Waldniel zu übernehmen. Die Aussicht, keine Pflegedienste mehr leisten zu müssen und als Oberschwester den Befehl über die übrigen Pflegerinnen zu führen, scheint Anna Wrona, die von den meisten als „Drachen“ beschrieben wird, höchst willkommen gewesen zu sein. Dass es zu ihren Aufgaben gehören würde, den kleinen Kindern die tödlichen Medikamente zu verabreichen, wurde ihr in diesem Gespräch bereits mitgeteilt. Außerdem wurde sie am Ende dieses Gesprächs vereidigt und zum Stillschweigen verpflichtet. Die Bedenkenlosigkeit, mit der sie die angebotene Aufgabe annahm und ihr insgesamt burschikoses Auftreten werden den „guten Eindruck“ vermittelt haben, von dem in dem Schreiben Bracks die Rede ist. Einige Beschreibungen der Oberschwester Wrona aus den Zeugenaussagen:167 Agnes Sch.: „Die Wrona galt allgemein als größenwahnsinnig und besaß ein ausgesprochenes Geltungsbedürfnis. Sie hatte meines Erachtens keinerlei Hemmungen. Auffallend war ferner, daß die Wrona und die Müllender keinerlei freundschaftlichen 166 Dies bestätigte neben zahlreichen schriftlichen Dokumenten aus Prozessakten auch die Pflegerin Maria W. im Jahr 2005. 167 Alle Zeugenaussagen in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, außer Maria W. (Gespräch mit dem Autor 2005).

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Umgang mit den anderen Pflegerinnen unterhielten. Sie verhielten sich vollkommen zurückgezogen.“ Lilo G. (damals Sekretärin von Hermann Wesse): „Mit der Erstpflegerin Wrona und deren Vertreterin Müllender habe ich mich kaum unterhalten. Ich stand mit den genannten Pflegerinnen nicht auf besonders gutem Fuße. Unser gegenseitiges Verhältnis war weniger durch konkrete Zerwürfnisse als vielmehr durch eine allgemeine, psychologisch bedingte Abneigung hervorgerufen.“ Anna D.: „Die Wrona soll eines Tages zu Dr. Wesse geäußert haben: ‚Herr Doktor, sollen wir es mal mit dem Kind X versuchen?’ Dr. Wesse soll darauf bejahend geantwortet haben. Tatsächlich ist das Kind einige Tage später verstorben. Ich war selbst Zeuge, daß die Erstpflegerin Wrona Dr. Renno auf ein schwer krankes Kind aufmerksam machte und ihn fragte ob sie auch diesem etwas verabreichen solle, was dieser dann bejahte. Zwei Tage hiernach starb dieses Kind.“ Maria W.: „Die Wrona war ein ‚Mannweib‘[…] Ich hatte sie schon früher in Johannistal kennengelernt als ich dort als Lehrmädchen angefangen habe. Damals war die Wrona normale Pflegerin und eigentlich ganz umgänglich. Es ging das Gerücht um, dass ein Arzt aus Berlin nach Süchteln kam um Personal für ‚diese Sache’ auszusuchen und Anna Wrona hat das angenommen. Dort ‚war sie dann wer’. Sie ließ sie sich dort mit ‚Oberin’ anreden obwohl sie lediglich Erstpflegerin war und betonte ständig, dass sie hier in Waldniel das Sagen hätte; schikanierte und kommandierte die jungen Pflegerinnen herum. Zwar tat sie nach außen hin in Bezug auf die Kinder sehr fürsorglich […] wenn sie aber abends vor der Schlafenszeit mit ihrem Spritzentablett durch die Räume ging, wussten wir was sie dort machte […] jeden Morgen waren Kinder tot.“ Luise Müllender: „Kurze Zeit nach der Übernahme der Vertretung änderte sich das Verhältnis zwischen mir und der Erstpflegerin Wrona. Während ich ein sehr gutes Verhältnis zu dem übrigen Personal hatte, stand die Wrona ständig auf gespanntem, zuweilen sogar strittigem Fuße. Ich habe mich bemüht, für die Nöte und Sorgen des übrigen Personals Verständnis zu zeigen und war daher in meinen Anordnungen großzügiger. Diese Einstellung verärgerte offenbar die Wrona.“ Hermann Wesse: „Die Menge der jeweiligen Tabletten bestimmte die Wrona in eigener Zuständigkeit. Sie war als Erstpflegerin hierfür ausdrücklich ausgebildet worden. Die Wrona erklärte mir gelegentlich einer diesbezüglichen Frage: ‚ich gebe schon

Das Pflegepersonal

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genug […]‘. Auch wurde mir bei Antritt meiner Stelle ausdrücklich versichert, die Wrona wisse über alle Einzelheiten Bescheid. Die Wrona – als Feldwebelnatur – war bei ihren Kolleginnen nicht besonders beliebt.“

Abb. 99: Anna Wrona (stehend) u. rechts neben ihr Hermann Wesse beim Kalmenhof-Prozess (Foto aus Frankfurter Rundschau vom 23.01.1947). Rechts neben Hermann Wesse: KalmenhofDirektor Wilhelm Großmann Es wird deutlich, dass gerade unter dem Pflegepersonal eine strenge Hierarchie geherrscht haben muss, denn immer wieder geht aus den Aussagen hervor, dass Pflegerinnen die Tötungen übernahmen aus Angst, sonst ihre Stellung innerhalb des Pflegepersonals zu verlieren. Je nach Ausprägung der Charaktere wurden diese Dienste bereitwillig bis zögerlich übernommen, übernommen wurden sie aber in fast allen Fällen. Bei der Erstauswahl des Pflegepersonals für die Kinderfachabteilung Waldniel hatten lediglich zwei Pflegerinnen ihre Mitarbeit verweigert. Aus einer Liste bei den Düsseldorfer Prozessunterlagen geht hervor, dass insgesamt 32 Pflegerinnen in der Kinderfachabteilung beschäftigt waren. Zumindest die Erstbesetzung ist vorher über die Aufgaben der Kinderfachabteilung unterrichtet worden und konnte frei entscheiden, ob sie diese Arbeit übernehmen wollten oder nicht. Später wurde dann laufend Pflegepersonal nach Waldniel versetzt, ohne dass man vorher eine politische Überprüfung vorgenommen oder die Schwestern nach ihrer Bereitschaft gefragt hätte. Wie schon erwähnt zeigte sich der Reichsausschuss 1941 dem Pflegepersonal gegenüber äußerst großzügig. Dass Waldniel, zumindest zu diesem Zeitpunkt, einen gewissen Sonderstatus einnahm und keineswegs in allen Kinderfachabteilungen die gleichen Vergünstigungen herrschten, zeigt folgendes Beispiel: Nachdem Anna Wrona (auf Bestreben von Hermann Wesse) zur Kinderfachabteilung Kalmenhof versetzt worden war,beantragte man beim Reichsausschuss eine monatliche „Anerkennungsgebühr“ in Höhe von 35 Reichsmark für sie, die sie „früher für ihre gleichartige Tätigkeit“ bereits erhalten

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hatte.168 Nach Rücksprache zwischen Landesrat Bernotat und von Hegener wurde diese Zuwendung auch bewilligt, wobei Bernotat den Vorschlag unterbreitete, dass Schwester Maria Müller ebenfalls die gleiche Summe erhalten solle. Schwester Müller, die Anna Wrona an Skrupellosigkeit und Herrschsucht wohl noch übertraf, war in Kalmenhof als Oberpflegerin beschäftigt und Anna Wrona somit übergeordnet. Sie hatte sich schon unter Wesses Vorgängerin, Dr. Mathilde Weber, im nationalsozialistischen Sinne bestens „bewährt“ und war bereits länger für den Reichsausschuss tätig. Deshalb verwundert es, dass sie diese Zuwendung vorher nicht erhielt, sondern erst damit bedacht wurde, als diese für ihre Stellvertreterin bewilligt wurde und man sie, als Vorgesetzte, nicht benachteiligen konnte.

Abb. 100: Prämie für Schwester Wrona im Kalmenhof 168 Bundesarchiv Berlin, NS 51/227, Bl. 98.

Das Pflegepersonal

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Das Geschacher um die Mordprämien ging noch weiter. Nachdem die monatliche „Anerkennungsgebühr“ bewilligt war, sah der stellvertretende Anstaltsdirektor Großmann sich veranlasst, die vorher gezahlten „pro Kopf“-Todesfallprämien zu kürzen. Im September 1944 teilte Großmann Schwester Wrona in einem vertraulichen Schreiben mit, dass er sich außerstande sähe, ihr weiterhin pro Sterbefall aus der Anstaltskasse eine Prämie von 5 Reichsmark zu zahlen, sondern „sie schon bitten müsse“ sich diesen künftig mit Schwester Maria Müller zu teilen, da sie ja bereits monatlich eine Sondervergütung vom Reichsausschuss erhalte.169

Abb. 101: Kalmenhof-Direktor Wilhelm Großmann, 1943. Foto aus Ausmusterungsschein v. 25.11.1943 der ihm bescheinigte, dass er „völlig untauglich zum Dienst in der Wehrmacht“ sei. Schwester Maria Müller war im Rahmen des Kalmenhof-Prozesses ebenfalls angeklagt worden, konnte aber aus amerikanischer Haft flüchten und wurde danach nie mehr gefasst. Hermann Wesse beschrieb sie Ende 1946 so: „Daß die Schwester Maria Müller in gewisser Weise herrschsüchtig war, sich schwer lenken ließ und gerne Eigenmächtigkeiten beging ist zutreffend. Sie war in dieser Hinsicht eine etwas schwierige Untergebene […]. Daß Frau Dr. Weber manchmal gegenüber der Schwester Maria keinen leichten Stand gehabt haben wird, glaube ich schon […]. Nach dem Eintreffen der Schwester Änne Wrona beharrte Schwester Müller […] umso mehr an ihrer Stellung, wich Tag und Nacht nicht aus dem Krankenhaus und duldete keinerlei Eingriff in ihre Arbeit […].“170 Die alteingesessene Mordschwester fürchtete also durch die neue, mit dem neuen leitenden Arzt bereits vertraute, Pflegerin von ihrem Thron gestoßen zu werden und verteidigte ihren Machtbereich. Aus den Verhören, die vor ihrer Flucht mit Maria Müller 169 HHStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 31526, Bl. 25−29. 170 HStAD, Gerichte Rep. 372.

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6. Kapitel

durchgeführt wurden, stammen folgende Zitate:171 „Die Patienten wurden größtenteils verhungern lassen […]. Die Kinder lebten nach der Verabreichung der Spritze noch einige Tage. Dies war sehr verschieden, es kam auf die Naturen der Opfer an […]. Besonders starke Naturen erlebten mitunter noch den 5. Tag. Bei besonders hartnäckigen Fällen beauftragte mich der Arzt […] 1-2 cb nachzuspritzen.“ Auch Anna Wrona gab im Verhör zunächst zu, im Kalmenhof Kindern tödliche Injektionen verabreicht zu haben, widerrief ihr Geständnis aber anschließend. Nach der Flucht von Schwester Müller bot es sich an, alles auf sie zu schieben, und Hermann Wesse hat die Version von der Oberschwester Müller, die alles allein machen wollte, bestätigt. Die Zuwendung durch den Reichsausschuss beweist jedoch das Gegenteil, da dieser ihr wohl kaum eine monatliche Zulage gezahlt hätte, wenn sie nicht mit Tötungshandlungen betraut gewesen wäre. Anna Wrona hat in ihren Vernehmungen eine Menge widersprüchlicher und unzutreffender Angaben gemacht. Teilweise drängt sich der Verdacht auf, dass sie absichtlich „wirres Zeug“ redete, um Verhandlungsunfähigkeit vorzutäuschen. So gab sie am 15.10.1947 in einer Vernehmung des Amtsgerichts Frankfurt am Main an, in Waldniel überhaupt nichts von Tötungen gemerkt zu haben und noch nicht mal zu wissen, wer die Abteilung geleitet hatte:172 „Ich weiß nicht, ob Dr. med. Hermann Wesse Leiter der Kinderfachabteilung in Waldniel war […], ich hatte die Arzneimittel auf Anweisung des Arztes an die […] Pflegerinnen herauszugeben (und) brauchte mich nicht darum zu kümmern, aus welchem Grund und zu welchem Zweck die Herausgabe erfolgte […]. Da ich überhaupt keine Kenntnis von Tötungen hatte, kann ich zu diesen Dingen keine Antwort geben […]. Ich habe nichts davon gehört, daß Kinder durch das Einnehmen von Luminaltabletten gestorben sind […]. Ich habe mich bereits über meine Tätigkeit in Waldniel geäußert und erklärt, daß ich mit dort angeblich vorgenommenen Tötungen nichts zu tun hatte.“ Nicht einmal zehn Tage später, am 24.10.1947, machte sie bei einer Vernehmung durch die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft umfangreiche und detaillierte Angaben über die Tötungen in Waldniel (auch die, die sie selbst ausgeführt hatte) und sagte außerdem folgendes aus: „Es kam auch häufig vor, daß Kinder als Neuaufnahme von den Eltern, bzw. von Angehörigen dieser Kinder in die Anstalt gebracht wurden, Dr. Wesse vorgestellt 171 HHStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 31526, Bl. 25−29. 172 Vernehmungsprotokolle Wrona, in: Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, 449 AR 1055/67, Bl. 164.

Das Pflegepersonal

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wurden und wenige Stunden später verstorben sind. Diese Kinder starben, ohne daß ich mit ihnen in Berührung gekommen bin. Welchen Todes diese Kinder gestorben sind vermag ich nicht anzugeben. Ich bin daher auch nicht in der Lage (anzugeben), ob Dr. Wesse diesen Kindern Luminal oder ein anderes tödlich wirkendes Medikament verabfolgt hat.“ Diese Darstellung, nach der Eltern oder Angehörige ihre Kinder „zum Einschläfern in Waldniel abgeben“ konnten, so wie man ein todkrankes Tier beim Tierarzt abliefert, mag für jemanden, der versucht Greueltaten aufzudecken, verführerisch einleuchtend sein. Sie entbehrt aber jeder Grundlage. Die Vorgänge in den Kinderfachabteilungen sind auch ohne solche Schilderungen grauenvoll genug, so dass es sich erübrigt diese Angaben weiter auszuschmücken. Der einzige Fall, bei dem diese Angaben annähernd zutreffen könnten, ist der Tod des Jungen Heinz-Werner B. der am 13.01.1943 geboren wurde und bereits am 03.05.1943 in Waldniel verstarb. Von diesem Kind existiert lediglich die Todesbescheinigung im Kempener Kreisarchiv. Eine Krankenakte ist nicht aufzufinden, und es existiert keine der sonst üblichen Karteikarten. Es konnte daher nicht ermittelt werden, wann der Junge in Waldniel aufgenommen wurde und ob der Tag seiner Einlieferung auch gleichzeitig sein Todestag war. Es ist auch nicht festzustellen, ob er zuvor bereits in anderen Kliniken untersucht wurde. Einziges Indiz für die Schilderung der Schwester Wrona ist hierbei die Tatsache, dass das Kind nur viereinhalb Monate alt war und keinerlei Unterlagen über seine Aufnahme und seinen Tod im Archiv der Klinik existieren. Ein Beweis für den von ihr geschilderten Ablauf ist damit selbstverständlich nicht erbracht. Dagegen gibt es einige Fakten, die eindeutig gegen die Schilderung der Schwester Wrona sprechen: Tatsächlich ist in Fällen, in denen Eltern um die Ermordung ihrer Kinder gebeten haben, von Seiten des Reichsausschusses mit äußerster Zurückhaltung vorgegangen worden. Einen Beweis hierfür liefert der folgende Schriftwechsel zwischen dem Ministerialrat Prof. D. Stähle und dem Reichsausschuss: „Betr. Kind des Leutnants der Reserve Kurt B. Wie aus dem beigelegten amtsärztlichen Zeugnis hervorgeht, leidet das am 17. März 1944 geborene Kind des Kurt B. an einer schweren Mißbildung […]. Beide Eltern erklären sich damit einverstanden, daß das Kind von seinen Leiden erlöst wird. Der Vater, Ehrenzeichenträger der Partei und Leutnant der Res. an der Front, hat mich dieserhalb aufgesucht […].“ Antwort des Reichsausschusses: „Betr.: Kind des Kurt B., geb. 17.3.1944. Ich bestätige den Empfang Ihres Schreibens vom 13.4.1944 und teile Ihnen dazu mit, daß ich es sehr begrüße, wenn das Kind […] möglichst bald dem Städt. Kinderheim […] zugeführt

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6. Kapitel

wird […]. Der Fall liegt insofern nicht ganz leicht, als, wie Sie mitteilen, die Kindeseltern um eine entsprechende Behandlung gebeten haben, die ihnen selbstverständlich im Hinblick auf die bestehenden Gesetze verweigert werden muß. Ich bezweifle nicht, daß Sie die Kindeseltern in diesem Sinne unterrichtet haben, da bekanntlich keinesfalls zugegeben werden darf, daß staatlicherseits entsprechende Maßnahmen betrieben werden. […] Daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie auch diesen [den Amtsarzt – A.d.V.] entsprechend unterrichten würden, daß keine Krankenanstalten oder Heime existieren, wo einem derartigen Wunsch entsprochen wird. Ich habe Herrn Dr. Lempp gleichzeitig gebeten, mir, falls das Kind zur Einweisung gelangt, möglichst bald einen entsprechenden Befundbericht zu übermitteln. Von dem Veranlaßten bitte ich mir kurz Kenntnis zu geben. Heil Hitler! gez. von Hegener.“173 Wenn also noch 1944 so vehement darauf gepocht wurde, dass es die „Kindereuthanasie“ offiziell gar nicht gab, erscheint es gänzlich unwahrscheinlich, dass 1942/43 in der frisch eingerichteten Kinderfachabteilung Waldniel anders gearbeitet wurde. Hermann Wesse, der seine Empfehlungen an den Reichsausschuss nur nach vorheriger Kontrolle durch Dr. Schmitz weitergeben durfte, wird wohl kaum den Schneid besessen haben sich sowohl über Creutz und Schmitz, als auch über den Reichsausschuss hinwegzusetzen und derart eigenmächtig zu handeln. Dennoch konnte Eltern, die den Wunsch nach „Erlösung“ ihrer kranken Kinder andeuteten und ihre stillschweigende Billigung der Tötung durchblicken ließen, dieser Wunsch im Jahr 1943 recht schnell erfüllt werden, wie der folgende Fall zeigt: Die Zwillinge Monika und Brigitte G. geboren am 05.03.1940, wurden am 06.03.1943 in Waldniel aufgenommen. Zuvor waren sie im St. Vinzenzhaus in Kerpen, wo kein Krankenblatt angelegt wurde, da die Kinder nur acht Tage dort waren. Der Vater, ein Leutnant und Adjutant im Stab einer Ausbildungsabteilung, schrieb am 05.05.1943 an Hermann Wesse: „ […] von meiner Frau, welche unsere Kinder kurz vor den Osterfeiertagen besuchte, habe ich die traurige Nachricht erhalten, dass sich der Zustand von den Kindern sehr verschlechtert hat. Sie können daher sicher unsere Unruhe verstehen. Es ist für uns als Eltern ein grosser Schmerz, dass unsere Kinder so leiden müssen. Wir hoffen jedoch, dass doch noch einmal eine Erlösung eintritt. […] Da ich in nächster Zeit wieder zu einer Feldeinheit versetzt werde, möchte ich doch noch von Ihnen unterrichtet sein, wie es mit meinen Kindern steht.“

173 Vornbaum 2005 (Anklageschrift, S. 115).

Das Pflegepersonal

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Hermann Wesse antwortete ihm fünf Tage später und deutete dem Leutnant unterschwellig an, dass dieser womöglich „erblich belastet“ sei: „Sehr geehrter Herr Leutnant. Die klinisch-neurologische Untersuchung bei Ihren beiden Kindern ergab keinen sicheren Anhaltspunkt dafür, dass es sich bei dem Schwachsinn Ihrer Kinder um ein erworbenes Leiden handelt. [Umkehrschluss: Es könnte also auch ein erbliches Leiden sein – A.d.V.] Die Prognose bezüglich ihrer intellektuellen Weiterentwicklung ist bei beiden leider sehr schlecht. […] Ich bedauere es ausserordentlich Ihnen nicht eine bessere Auskunft geben zu können, da ich mich verpflichtet fühle Ihnen die unbedingte Wahrheit zu sagen.“174 Lilo G., damals Sekretärin der Kinderfachabteilung, konnte sich im Gespräch mit dem Verfasser im Jahr 2008 gut an das Ehepaar mit den Zwillingen erinnern. Die beiden Mädchen gaben unartikulierte Laute von sich, wälzten sich herum und schlugen sich unentwegt selbst gegen den Kopf. Lilo G. war Zeugin, wie der Leutnant sich unverblümt an Hermann Wesse wandte: „Herr Doktor – können Sie nicht irgendetwas machen um das zu beenden? Meine Frau und ich wir können nicht mehr […] wir halten das nicht mehr aus.“ Der Leutnant bat also direkt und ohne Umschweife um die Tötung seiner Kinder. Hermann Wesse hielt sich laut Lilo G. ans Protokoll. Sie gab an, sich genau zu erinnern, wie er dem Leutnant widersprach und bekräftigte: „Nein – tut mir leid. So etwas darf ich nicht und so etwas machen wir hier nicht.“ Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die oben angeführte Behauptung der Schwester Wrona so nicht zutreffen kann. Trotzdem waren kurze Zeit darauf beide Kinder „erlöst“. Brigitte starb am 16.05.1943. Fünf Tage später, am 21.05.1943, endete auch das Leben ihrer Schwester Monika. Ob Hans Aloys Schmitz diese beiden Kinder untersucht hat, vermochte Lilo G. nicht mehr zu sagen, wohl hingegen, dass er nach ihrer Erinnerung jeden Montag nach Waldniel kam. Im Hinblick auf den Zeitpunkt ihrer Aufnahme in Waldniel liegen beide Fälle innerhalb einer Zeitspanne, die die Einhaltung des Reichsausschussverfahrens (ob nun mit oder ohne Votum von Hans Aloys Schmitz) durchaus möglich erscheinen lässt, und zwischen dem Datum des Briefes, in dem der Vater nochmals die „Hoffnung auf Erlösung“ durchblicken ließ und den Todeszeitpunkten liegen zwei Montage. Darunter der 17.05.1943, ein Montag, an dem Hans Aloys Schmitz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Waldniel war und Kinder untersucht hat.175

174 Krankenakten Monika und Brigitte G., in: LVR-Kliniken Viersen. 175 Vgl. hierzu die Ausführungen Margarete P. aus dem Kapitel „Opfer und Angehörige“.

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6. Kapitel

Schwester Wrona wurde im Jahr 1951 im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Luise Müllender erneut vernommen und machte dabei folgende Angaben, die sich mit den Aussagen der Pflegerin Maria W. decken:176 „Der Zustand der idiotischen Kinder mit den Mißgeburten war so furchtbar, daß selbst einmal bei Besichtigungen von Wehrmachtsoffizieren, die das Haus beschlagnahmen wollten, diese mit Entsetzen wieder davon gingen und nicht einmal einen Blick in die Kinderstation tun wollten. Die Kinder ließen den Kot unter sich, so daß täglich ca. 600 Liter Kotwäsche vorhanden waren.“ Dann folgten wieder einige sehr absonderliche Behauptungen: „Das Haus war im Übrigen bestens eingerichtet. Es war sogar eine Hilfsschule für die Kinder eingerichtet, die dafür in Frage kamen. Die Pflege und die Verpflegung waren ebenfalls erstrangig. Ich habe dafür gesorgt, daß die Kinder sogar Pralinen bekamen, so daß manche Kinder bis zu 2 kg im Monat zugenommen [hatten] und die Angehörigen über den verbesserten Zustand erstaunt waren. Aufgrund all dieser Umstände konnten wir nie auf den Gedanken kommen, daß in Waldniel etwas Unrechtmäßiges geschah; das habe ich erst bei Gericht erfahren.“ Angesichts der tatsächlichen Zustände in der Kinderfachabteilung eine geradezu grotesk anmutende Darstellung. Anschließend machte sie noch einige Angaben zur Hierarchie in der Anstalt: „Wenn von einem Gesetz die Rede war, dann glaubten wir auch bedingungslos daran, zumal da die Ärzte für uns die Herrgötter waren. Was sie sagten, das war für uns Gebot. Wenn Professor Creutz kam, dann schlotterten uns die Knie. Zu einer eigenen Urteilsbildung kamen wir auch schon deshalb nicht, weil wir gar nicht zum Denken kamen, weil wir dienstlich überlastet waren.“

Diese Beschreibung mag auf die jungen Pflegerinnen in der Kleinkinderstation zutreffen, bestimmt aber nicht auf die resolute und herrschsüchtige Anna Wrona, die nachweislich selbst in Waldniel keinen Pflegedienst zu leisten hatte, aber offenbar dafür sorgte, dass den anderen Pflegerinnen „die Knie schlotterten“. In den Krankenakten finden sich unter den Benachrichtigungsschreiben, die an die Eltern herausgingen, sobald das Tötungs-

176 Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, 449 AR 1055/67, Bl. 22.

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verfahren eingeleitet worden war, solche, die mit „Wrona“ unterschrieben sind. Sie war also sehr wohl mit Verwaltungsdingen betraut und wusste ganz genau, dass und was genau Unrechtes in Waldniel geschah. Im weiteren Verlauf des Verhörs behauptete sie, nicht an den Untersuchungen durch Wesse und Schmitz teilgenommen zu haben: „Dr. Schmitz aus Bonn habe ich einmal gesehen. Im übrigen kam er immer dann, wenn ich frei hatte; das war etwa alle 14 Tage. Das beruhte auf einer Anordnung von Dr. Wesse.“ Dieser Angabe steht die Aussage von Dr. Schmitz gegenüber, der keinen Grund gehabt hätte, hierbei die Unwahrheit zu sagen: „Die zu untersuchenden Kinder wurden von der Oberpflegerin Verona [gemeint ist natürlich Wrona – A.d.V.] gebracht und wieder abgeholt. Diese Pflegerin würde ich wahrscheinlich wiedererkennen, während ich mich sonst keiner Pflegerin entsinne, da ich mit sonst niemandem vom Pflegepersonal näher zusammen gekommen bin.“177 Eine Besonderheit stellt das Verhältnis von Anna Wrona zu ihrer Stellvertreterin Luise Müllender dar. Den Akten des Düsseldorfer Euthanasieprozesses aus dem Jahr 1948 ist zu entnehmen, dass die beiden offenbar ein lesbisches Liebesverhältnis verband – für die damalige Zeit ein ungeheurer Skandal. Dieses Verhältnis wäre in der konkreten Form niemals aktenkundig geworden, hätte Luise Müllender nicht am 13.05.1948, unter dem Eindruck einer ihr vermeintlich bevorstehenden harten Bestrafung und Verurteilung, in der Strafanstalt Düsseldorf-Derendorf hierzu eine Aussage zu Protokoll gegeben. Sie schilderte sehr detailliert, wie sie Anfang des Jahres 1941 in Süchteln von der Pflegerin Wrona, zu der sie bis dahin nur eine rein freundschaftliche Bindung gehabt habe, verführt worden sei. Aus Gründen, die sie nicht zu erklären vermöge, habe sie sich nicht gegen die Avancen der Wrona zur Wehr gesetzt. Fortan sei ein „gewisses Abhängigkeitsverhältnis“ zwischen den beiden entstanden: „Ich hatte die Wrona sehr gern und habe mich mit ihr – soweit die Zeit und die Umstände es erlaubt haben – fortlaufend intim eingelassen. Zur Angabe einer genauen Zahl der Fälle bin ich jedoch nicht in der Lage. […] Ich glaube, daß ich Waldniel nie gesehen hätte, wenn mich nicht diese Beziehung zu der Wrona gebunden hätte.“178 Die Aussagen der anderen Pflegerinnen geben durchweg an, dass diese Abhängigkeit recht einseitig die Pflegerin Müllender betraf. Maria W.: „Die Luise Müllender […] das war an und für sich ein guter Mensch. Die war von der Wrona abhängig […] anders kann ich das nicht beschreiben […] die 177 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 35. 178 Aussage Luise Müllender vom 13.05.1948, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 120−122.

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musste mittun. Wenn die Wrona etwas sagte, dann kuschte sie sofort. Dass die beiden etwas miteinander hatten […] ja, das war bekannt.“179 Lilo G.: „Änne Wrona war eine große, dunkelhaarige und durchaus attraktive Erscheinung. Sie strahlte, abgesehen von ihrer burschikosen Art, auch eine gewisse Überlegenheit aus […]. Ich gebe zu, dass ich sie damals in gewisser Weise bewundert habe. Luise Müllender war dagegen eher unscheinbar und etwas pummelig. Sie stand auf jeden Fall vollkommen im Schatten der Änne Wrona.“180 Anna D.: „Über das Verhältnis zwischen Wrona und Müllender befragt erkläre ich, daß diese Beziehungen sehr intim waren. Man munkelte sogar, es bestehe zwischen beiden ein sexuelles Abhängigkeitsverhältnis. Genaueres vermag ich hierüber natürlich nicht zu sagen.“181

Abb. 102: Luise Müllender, ca. 1939 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass offensichtlich bereits während der Existenz der Kinderfachabteilung dieses Verhältnis Gegenstand einer Untersuchung gewesen ist: Hermann Wesse am 26.05.1951: „Auf eine Beschwerde einer Schwester darüber, daß nachts die Wrona und die Müllender zusammen in einem Zimmer gewesen seien, hat eine Untersuchung stattgefunden, an der auch Prof. Creutz und Dr. von Hegener u.a. teilgenommen hatten, da auch ich mich über die Behauptung empört hatte. Im Laufe des Prozesses habe ich dann erfahren, daß ein lesbisches Verhältnis bestanden haben soll. Die Wrona war unbedingt der führende Teil gegenüber der Müllender.“182 179 Aus dem Gespräch mit dem Autor im Jahr 2005. 180 Aus dem Gespräch mit dem Autor im Jahr 2008. 181 NRW HSA Düsseldorf, Gerichte Rep. 372, Nr. 132, Bl. 131. 182 Bundesarchiv B 162, AR 1261/51, Bl. 20-21, Zentralstelle Ludwigsburg.

Das Pflegepersonal

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Viele Jahre später, am 29.11.1961, erwähnte Dr. Hildegard Wesse den gleichen Vorfall, als sie im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Dr. Hans Hefelmann vernommen wurde: „In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, daß es einmal in Waldniel mit den Pflegerinnen Wrona und Müllender sehr unerfreuliche Erfahrungen gab. Um dies zu klären und notfalls zu bereinigen, kam Herr von Hegener eigens nach Waldniel und brachte zum Ausdruck, daß sich der Reichsausschuß es nicht erlauben könne, mit Ärzten oder Pflegepersonal zu arbeiten, das moralisch und sachlich nicht einwandfrei war.“183 Richard von Hegener, Stellvertreter Hefelmanns und damit zweithöchster Funktionär in der „Kindereuthanasie“, kam also persönlich nach Waldniel, um Ermittlungen anzustellen und die beiden Pflegerinnen zurechtzuweisen.

Abb. 103: Richard von Hegener, 1949 Hildegard Wesse machte diese Angaben, um zu bekräftigen, dass der Reichsausschuss sich ihrer Ansicht nach um „gute Leute“ bemühte und versuchte zu widerlegen, dass seitens des Reichsausschusses in erster Linie junge und unerfahrene Ärzte beauftragt wurden und man weitaus mehr Wert auf die „Weltanschauung“ des beauftragten Personals legte, als auf dessen fachliche Qualifikation. Sie wurde in dem Verhör nicht nach dem Verhältnis der beiden Pflegerinnen befragt, sondern gab den Vorfall von sich aus zu Protokoll. Anna Wrona wurde im Zuge der Ermittlungen gegen Dr. Georg Renno im Mai 1962 ebenfalls auf diesen Vorfall angesprochen. Sie, die das Verhältnis nie auch mit nur einem Wort erwähnt hatte, konnte sich angeblich an nichts erinnern.184 Gleichzeitig war die Anzahl 183 Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162, 449 AR 402/67, Bl. 906. 184 Dagegen gab sie bei einer Vernehmung in Idstein am 26.04.1945 an, dass es angeblich „14 Tage zuvor“ mit Hermann Wesse zu „intimen Beziehungen“ gekommen sei, weshalb Sandner Anna Wrona als „spätere Geliebte“ von Hermann Wesse

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der laut ihrer Aussage von 1948 von ihr getöteten Kinder in ihrer Erinnerung von 25 auf „höchstens 3 bis 4“ gesunken: „Dieser Herr von Hegener ist mir auch sonst nicht in Erinnerung. Wenn mir aus der Vernehmung von Frau Dr. Wesse […] vorgehalten wird, daß ein Herr von Hegener wegen Frl. Müllender und mir in Waldniel gewesen sein soll, so kann ich dazu nur sagen, daß ich mich nicht erinnere, mit diesem Herrn gesprochen zu haben. Da diese Unterredung sicher nicht besonders erfreulich gewesen wäre, hätte ich sie sicher nicht vergessen. Wie ich die Dinge heute sehe, sind in Waldniel höchstens 3–4 Kinder eingeschläfert worden. Was man in meiner ersten Verhandlung von 25 Kindern gesagt hat, ist völlig unrichtig.“185 Unterlagen über diesen brisanten Vorgang waren zunächst nicht zu ermitteln. Im Düsseldorfer Prozess stützte sich alles Diesbezügliche einzig auf die Aussage von Luise Müllender. Vom Reichsausschuss in Berlin existiert leider nur eine sehr begrenzte Überlieferung. Hier wurden gegen Kriegsende wohl noch in großem Umfang Akten vernichtet. Falls es, aufgrund des persönlichen Eingreifens von Hegeners, über den Vorfall beim Reichsausschuss überhaupt Unterlagen gegeben hat, so haben diese den Krieg nicht überdauert. Vermerke und Berichte hätten sich gegebenenfalls in den Personalakten der beiden Pflegerinnen finden können. Die Personalakte der Pflegerin Müllender verblieb bei Kriegsende in der Anstalt Eichberg, ihrem letzten Einsatzort während der NS-Zeit. Dort ist der Aktenbestand „1935 bis 1970“ kurz nach der Jahrtausendwende vernichtet worden und somit außer einer Karteikarte, die ausweist, dass Luise Müllender vom 02.09.1944 bis zum 29.05.1945 dort beschäftigt war, nichts mehr vorhanden. Die Personalakte der Pflegerin Wrona befindet sich bei den Unterlagen des „Kalmenhof-Prozesses“ im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden. Sie enthält ebenfalls keine Dokumente über einen derartigen Vorgang. Etwas Licht in diese Angelegenheit bringt unter Umständen der Beschwerdebrief der Pflegerin Josefine V., den diese am 14.12.1942 an den „Betriebsobmann der Deutschen Arbeitsfront“ schrieb:186 bezeichnet (vgl. Sandner 2003, S. 541). Dieser Angabe ist m. E. wenig Glauben zu schenken, da einerseits ihre gleichgeschlechtliche Neigung (die Hermann Wesse bekannt war) dagegen spricht, andererseits ein derartiges Verhältnis an keiner anderen Stelle und von keiner anderen Person jemals erwähnt wurde. Nicht ganz auszuschließen ist natürlich, dass es gegen Kriegsende anlässlich einer der zahlreichen „Zechereien“ im Kalmenhof (von denen Hermann Wesse an anderer Stelle berichtete) zu so etwas wie einem „one night stand“ zwischen den beiden gekommen sein kann. Ein darüber hinausgehendes Verhältnis ist aber mit einiger Sicherheit auszuschließen. 185 HHStA Wiesbaden Abt. 461, Nr. 31526, Bl. 1406. 186 Personalakte der Pflegerin Josefine V., in: Prost 2000, S. 129.

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Abb. 104: Beschwerdebrief der Pflegerin Josefine V.

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Diesen Brief verdanke ich dem Autor Heinz Prost, der ihn in seinem Buch „Rheinische Kliniken Viersen im Wandel der Zeit“ veröffentlicht hat. Die komplette Personalakte der Pflegern V. ist inzwischen nicht mehr vorhanden. Herr Prost kommt verständlicherweise zu dem Schluss, dass es sich in diesem Brief um eine Beschwerde über die Kindertötungen in Waldniel handelt und die von der Pflegerin angesprochenen „Missstände“ sich auf die schlechte Behandlung der Kinder beziehen. Isoliert betrachtet legt der Brief diese Schlussfolgerung nahe, ich erlaube mir an dieser Stelle allerdings aus folgenden Gründen eine andere Interpretation: Aus einem Schreiben Dr. Rennos vom 23.02.1942187 geht hervor, dass die in dem Brief der Pflegerin V. erwähnte Anna R. zu diesem Zeitpunkt als Stellvertreterin der Erstpflegerin Wrona fungierte. Diese Pflegerin wäre also in letzter Konsequenz auch mit Tötungen betraut worden und wurde, da sie zur Erstbesetzung der Kinderfachabteilung gehörte, vor ihrem Dienstantritt von dem Betriebsobmann Hormes (an den der Brief der Pflegerin V. gerichtet ist) und dem politischen Leiter Bastian auf ihre „Zuverlässigkeit“ überprüft. Einer Aussage der Pflegerin Anna D. ist zu entnehmen, dass Anna R. den Kindestötungen keineswegs ablehnend gegenüberstand, denn von ihr ist die Aussage überliefert, sie könne nicht verstehen „warum man die Kinder noch so lange füttert. Wenn man ohnehin vorhabe die Kinder zu beseitigen, dann könne man dies doch auch sofort tun“.188 Als die Pflegerin D. im weiteren Verlauf dieses Gesprächs einen gegenteiligen Standpunkt einnahm und die Predigt des Graf von Galen erwähnte, wurde sie von Anna R. bei Dr. Renno denunziert. Dieser machte ihr am Folgetag schwerste Vorwürfe bezüglich ihrer Einstellung und veranlasste in der Folge ihre Rückversetzung nach Süchteln.189 Im April 1942 kam Luise Müllender nach Waldniel und verdrängte die Pflegerin R. von ihrem Posten. Fortan war sie, von der allgemein bekannt war oder zumindest gemunkelt wurde, dass sie mit der Erstpflegerin eine Liebschaft verband, den anderen Pflegerinnen überstellt. Der Zeitrahmen deckt sich mit der Angabe in diesem Brief, da Pflegerin V. im Dezember 1942 schreibt, dass „das Jahr bald rum ist“ und sie immer noch auf den „Termin“ wartet. Studiert man den Brief aufmerksam, dann fällt auf, dass die Pflegerin an keiner Stelle und mit keinem Wort den Wunsch erwähnt aus der Kinderfachabteilung versetzt zu werden. Im Gegenteil, sie beschwert sich darüber, dass ihre langjährige Freundin Anna R. versetzt wurde und will die Pflegerin Müllender loswerden, selbst aber offensichtlich in Waldniel bleiben. Bei den von ihr erwähnten Missständen geht sie mit keinem Wort auf die Kinder ein, sondern erwähnt Männerbesuche und sonstige Ausschweifungen 187 Vgl. auch das Kapitel über Dr. Renno. 188 Aussage Anna D. vom 14.10.1947, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 130f. 189 Abdruck des entsprechenden Aktenvermerks im Kapitel über Dr. Renno.

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des Personals. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man den unter dem Brief angefügten Nachsatz berücksichtigt:

Abb. 105: Nachsatz, unter dem Brief von Josefine V. vom 14.12.1942 Im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Aussagen deutet alles darauf hin, dass Anna R. diejenige gewesen ist, die die von Wesse erwähnte Anzeige erstattet hat. Sie hatte hierfür ein eindeutiges Motiv, da sie ihres Postens beraubt worden war und sich plötzlich Anweisungen einer 13 Jahre jüngeren Pflegerin gefallen lassen musste, die ihr die Position auf dem Weg über die Beziehung zur Erstpflegerin (die sich bekanntermaßen gern „Oberin“ nennen ließ) streitig gemacht hatte. Dass so etwas Hass, Neid und Missgunst hervorruft, ist, insbesondere unter Berücksichtigung der damaligen Machtverteilung innerhalb des Pflegepersonals, absolut verständlich. Die Pflegerin Anna R. wird diese Entscheidung nicht allein getroffen, sondern sich vorher mit ihrer Freundin besprochen haben, die ihr wahrscheinlich anbot sie zu unterstützen und zur Anzeigeerstattung beim Betriebsobmann bzw. bei der Kreisleitung zu begleiten. Aufgrund der, für damalige Verhältnisse, vorliegenden Ungeheuerlichkeit der Anschuldigung wird der Betriebsobmann sicherlich seine Hilfe zugesagt haben. Mit ebensolcher Sicherheit wird er davon ausgegangen sein, dass − sollten sich die Vorwürfe als wahr erweisen − eine Weiterbeschäftigung der beiden Pflegerinnen Wrona und Müllender ausgeschlossen sein würde. An irgendeinem Punkt muss der Reichsausschuss sich in die Sache eingeschaltet haben, worauf der beschriebene Besuch Richard von Hegeners in Waldniel erfolgte. Wie auch immer diese Befragungen und Gespräche abgelaufen sein mögen, als Ergebnis wurden nicht die beiden Pflegerinnen Wrona und Müllender bestraft, sondern Anna R. versetzt und die beiden Beschuldigten konnten weitermachen wie zuvor. Der Kreisleitung wurde in diesem Zusammenhang sicherlich mitgeteilt, die Missstände seien nun, da von Hegener für Ordnung gesorgt hatte, endgültig behoben. Dies erklärt sowohl die Verärgerung der Pflegerin V. über die Versetzung ihrer Freundin, als auch ihre im Brief getätigten Aussagen: „[…] von wegen die Missstände sind behoben“ und „alle guten Pflegerinnen [müssen] verschwinden […], damit die hier ihr Unwesen besser betreiben können.“ Ferner erklärt es die Tatsache, dass Luise Müllender, die von allen anderen Pflegerinnen im Gegensatz zu Anna Wrona als gutherzig und umgänglich beschrieben wird, sich Josefine V. gegenüber „aufs hohe Pferd“ setzte.

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Sicherlich war ihr bekannt, wer versucht hatte sie an höherer Stelle anzuschwärzen, und nachdem sie und Anna Wrona bei diesem Intrigenspiel gewonnen hatten und die Hauptgegnerin bereits versetzt und damit ausgeschaltet worden war, ließ sie nun möglicherweise ihre Wut an der vermeintlichen Mitläuferin aus. Hierzu hat Josefine V., die offenbar eine energische und streitbare Person war, sicherlich ihren Teil beigetragen. Josefine V. und Anna R. müssen davon ausgegangen sein, dass die beiden Pflegerinnen hart bestraft und auf jeden Fall ihres Postens enthoben werden würden. Der Gedanke, dass die beiden sich eventuell auch schon als Nachfolgerinnen für die beiden frei werdenden Positionen gesehen haben könnten, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, führt aber hier unter Umständen zu weit. Zumindest der Satz „ […] dass hier die besten verschwinden müssen, die gegen das Unrecht angehen“ spricht in gewissem Umfang für die Interpretation von Prost, kann sich aber auch genau so gut auf den hier dargestellten Sachverhalt beziehen. Nach damals geltendem Recht waren gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen strafbar und die Zügellosigkeit des übrigen Personals sowie die Willkürherrschaft der Pflegerin Wrona waren aus Sicht einer alteingesessenen und berufserfahrenen Schwester sicherlich „Unrecht“. Abgesehen von den Pflegerinnen, die den Ärzten bei der Tötung der Kinder assistierten, leistete das übrige Personal normalen Pflegedienst, der sich im Grundsatz nicht von dem in anderen Anstalten unterschied. Die ohnehin katastrophale Versorgungslage in den Heil- und Pflegeanstalten trat hier nur noch extremer in Erscheinung, da man das klare Ziel verfolgte die kleinen Patienten durch bewusste Unterversorgung zu schwächen. Dass geistig behinderte Kinder auch in anderen Anstalten, die keine Kinderfachabteilungen waren, miserabel behandelt wurden, zeigt der folgende Bericht vom 19.03.1943. Es ist das einzige Dokument, in dem Hermann Wesse offenbar um das Wohl ihm anvertrauter Kinder besorgt zu sein scheint. Ob aus diesem Brief seine Sorge um den Zustand der Kinder spricht, oder ob es sich einfach nur um seinen Ärger darüber handelt, dass er und sein Personal mit diesen Kindern so viel Arbeit hatten, ist wiederum Interpretationssache: „Am 6.3.1943 wurden 54 Kinder von dem St. Vincenshaus, Kerpen in die hiesige Anstalt überführt. Die Kinder befanden sich in Begleitung von vier Schwestern. […] Die Kinder befanden sich in einem unglaublich verwahrlosten Zustand. Bei allen Kindern befanden sich Kopfläuse, nur bei 4 Kindern in geringer Anzahl, während bei den restlichen 50 zahlreiche Kopfläuse gefunden wurden. Weiterhin war das Haar mit Nissen derart durchsetzt, dass es zum Teil kaum möglich war, diese Kinder zu kämmen. Bei ungefähr der Hälfte der Kinder waren die Nägel seit langer Zeit nicht mehr geschnitten und an den Füssen befanden sich Schmutzkrusten, die erst nach längerer Mühe entfernt werden konnten. In der Anlage liegt die Durchschrift eines

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Briefes an den ärztlichen Leiter der Anstalt Kerpen bei, in dem ich diesen von dem verwahrlosten Zustand der Kinder in Kenntnis setzte.“190 Außer den wenigen Dokumenten aus den Krankenakten geben die Aussagen des Pflegepersonals den größten Aufschluss über die tatsächlichen Verhältnisse in der Kinderfachabteilung. Überraschenderweise ist hierbei mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den Ereignissen eine sich verstärkende Verdrängungstendenz erkennbar. Man könnte annehmen, dass mit größerem zeitlichen Abstand und mit geringeren Befürchtungen selbst in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen zu werden, die Bereitschaft zur Offenheit und zu präziseren Schilderungen zunehmen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Bei Vernehmungen in den 1950er und 1960er Jahren wurde seitens des Pflegepersonals fast durchgängig angegeben, sich an die Vorgänge nicht mehr genau erinnern zu können. Die Erstpflegerin Wrona wurde plötzlich in fast allen Aussagen als nett und hilfsbereit beschrieben. Die Verpflegung der Kinder war nun angeblich stets einwandfrei und ausreichend gewesen. Von Tötungen wollte jetzt plötzlich niemand mehr etwas bemerkt haben. So z. B. die Pflegerin Christine E. – hier ein Vergleich von Niederschriften der Vernehmungsprotokolle: „04.12.1947 – Zunächst habe ich in Waldniel keine Auffälligkeiten wahrgenommen. Später erschien mir sowie anderen Pflegerinnen die hohe Sterblichkeitsziffer in Waldniel verdächtig. Ich hatte den Verdacht, daß möglicherweise tödlich wirkende Spritzen gegeben würden. […] Ergänzend möchte ich noch bekunden, daß die für uns erkennbare Todesursache in sehr vielen Fällen Lungenentzündung war. In diesen Fällen waren die Kinder wenige Tage auffallend stark verschleimt. Unmittelbar hiernach verstarben sie.“191 Dagegen fünf Jahre später: „30.01.1953 – Mir ist bei der Pflege der Kinder und bei meiner sonstigen Tätigkeit nichts besonderes aufgefallen. Ich kann auch nicht sagen, daß die Sterblichkeitsziffer besonders hoch war. […] [Nachdem der Zeugin ihre eigene Aussage von 1947 vorgelegt worden war:] Wenn ich bei meiner Vernehmung vom 4.12.1947 angegeben habe, dass mir die hohe Sterblichkeitsziffer auffiel und daß ich den Verdacht hatte, daß möglicherweise tödlich wirkende Spritzen gegeben wurden, so ist meine damalige Aussage richtig gewesen. Die Angeklagte Wrona war auch in Waldniel wie früher 190 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 87. 191 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, Bl. 60.

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stets freundlich und hilfsbereit. Ich bemerke noch, daß die Angeklagte auch den Kindern gegenüber stets freundlich und nett war.“192 Im Gegensatz zu 1947 machte Christine E. im Jahr 1953 eine Angabe, die ihre persönliche Einstellung zur „Kindereuthanasie“ erkennen ließ und gleichzeitig offenbarte, dass sie damals sehr wohl über die Tötungen informiert war: „Nach meiner damaligen Ansicht war es für die schwer geisteskranken und mißbildeten Kinder eine Erlösung, wenn sie einschliefen, jedoch vertrat ich nach meiner religiösen Anschauung die Überzeugung, daß man auch diese Kinder nicht töten darf.“ Agnes S., von der eine der aufschlussreichsten Aussagen über die Kinderfachabteilung existiert und die die Erstpflegerin Wrona 1947 noch als „größenwahnsinnig, geltungsbedürftig und hemmungslos“ bezeichnet hatte, gab am 05.02.1953 Folgendes zu Protokoll: „Meines Erachtens ist die Wrona korrekt im Dienst gewesen. Mir gegenüber hat sie sich stets menschlich gehalten. Sie war nach meinen Wahrnehmungen den Kindern gegenüber stets freundlich und sorgte für das allgemeine und leibliche Wohl der Kinder. Allerdings hatte die Angeklagte damals auch Gegner. Sie galt als geltungsbedürftig, das mag aber durch ihren Charakter und ihre Strebsamkeit bedingt sein.“193 Es kann davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil des Personals die „Euthanasie“ im Grundsatz bejaht hat. Neben ganz konkreten Angaben wie der oben bereits zitierten der Pflegerin Anna R., sie verstünde nicht, wieso man diese Kinder noch so lange fütterte, anstatt sie sofort zu beseitigen, finden sich viele versteckte Andeutungen und zum Teil unachtsame Formulierungen, die die wahre Einstellung der Befragten offenbaren. Auch Schwester Maria W., die sich sicherlich nicht aktiv an Tötungen beteiligt hat, stellte im Interview irgendwann die Frage: „Ja meinen Sie denn nicht, dass es einen Grund gab, warum diese Kinder in so eine Abteilung kamen?“ Die ehemalige Pflegerin hatte offensichtlich mit 82 Jahren immer noch die Überzeugung, dass die damaligen Vorgänge irgendwie rechtens gewesen sein mussten. Warum sollte sie auch etwas anderes denken? Alle Respektpersonen ihrer Umgebung unterstützten die Maßnahmen. Die Ärzte führten sie mit Billigung des Direktors durch, und die Staatsführung hatte von höchster Stelle alles angeordnet. Dass dies alles falsch, böse und ungesetzlich gewesen sein sollte, vermochte Maria W. auch 60 Jahre später noch nicht vollends zu akzeptieren. Zwangsläufig hätte sie sich sonst eingestehen müssen, sich selbst in gewissem Umfang mit schuldig gemacht zu haben – mochten das Ausmaß dieser Mitschuld und die Mög192 Staatsarchiv Münster 45 Js 47/89, Bl. 253f. 193 LAV NRW Staatsarchiv Münster, 45 Js 47/89, Bd. IX, Bl. 254.

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lichkeiten, die sie damals gehabt hätte, irgendetwas gegen die Tötungen zu unternehmen, auch noch so gering gewesen sein. Eine Passage in einem der Vernehmungsprotokolle von Luise Müllender offenbart sehr aufschlussreich auch ihre Einstellung zu den behinderten Kindern: „Die Kinder, die in unserer Abteilung waren, waren zum großen Teil schwer mißbildet. Meine Angehörigen haben sich häufig gewundert, daß ich trotz dieser Mißbildungen noch so viel Liebe zu den Kindern […] aufbringen konnte. Ich hatte die Kinder auch trotz ihrer Fehler sehr lieb.“194 Sie versuchte hier ihre Liebenswürdigkeit den Kindern gegenüber herauszustellen und räumte gleichzeitig unbewusst ein, dass es ihrer Ansicht nach etwas Besonderes sei, die Kinder „trotz ihrer Fehler“ lieben zu können. Dass keines dieser Kinder für seine „Fehler“ etwas konnte, und die Eltern sehr wohl in der Lage waren ihre Kinder zu lieben, scheint ihr nicht begreiflich gewesen zu sein, was die allgemeine Auffassung der damaligen Zeit und das Verhältnis zum Pa­tienten, der als „Kranker“ oder „Pflegling“, nicht aber als vollwertiger Mensch betrachtet wurde, widerspiegelt. Wie die analysierten Krankenakten und die vorgestellten Einzelfälle bereits gezeigt haben, liegen den geschilderten Missbildungen oftmals maßlose Übertreibungen zu Grunde. Die Täter glaubten damit ihre Handlungen besser begründen zu können und bei Unbeteiligten mehr Verständnis für ihr Vorgehen zu erreichen. Ihre wahre Einstellung gab die Pflegerin zwei Sätze später preis, wobei sie – um nicht selbst Stellung beziehen zu müssen – sich auf die allgemeine Formulierung „man“ zurückzog, sich aber gleichzeitig zutraute beurteilen zu können, was für Kinder und Eltern „das Beste“ gewesen sei: „Dennoch hatte man häufig das Gefühl, es sei für die Kinder und für die Eltern wesentlich besser, wenn der Herrgott diese Geschöpfe hole. Nur unter dem Zusammenwirken all dieser Einflüsse ist meine Handlungsweise zu verstehen.“ Im Januar 2008 führte der Verfasser dieser Studie ein Gespräch mit Luise Müllenders jüngerer Schwester.195 Sie erinnerte sich, einmal in Waldniel gewesen zu sein und ihre Schwester besucht zu haben. Luise führte sie durch die Kinderfachabteilung und zeigte ihr das Haus. Dabei zog sie in einem der Krankensäle ein behindertes Kind aus seinem Bettchen hervor und wiegte es wie einen Säugling in ihren Armen. Dann sagte sie zu ihrer Schwester: „Schau her – dieses Kind ist bereits vier Jahre alt. Hättest Du das geglaubt?“ In der Erinnerung ihrer Schwester hatte dieses Kind (es muss sich um einen der schwersten Fälle gehandelt haben) nichts Menschliches mehr an sich. Kaum größer als ein Säugling, sei dieses Kind „nur ein Klumpen Fleisch“ gewesen: ein erschreckender und abstoßender Anblick. Luises Schwester erinnert sich, völlig schockiert wieder nach Hause gekommen zu sein. Dort sagte sie zu ihrem Vater: „Du glaubst nicht was die Luise 194 Vernehmung Luise Müllender vom 13.10.1947, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 119. 195 Nachfolgende Ausführungen aus Gesprächsnotizen mehrerer Telefonate des Autors mit Maria S., geb. Müllender.

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da ertragen muss. Selbst wenn man mir tausend Mark am Tag bezahlen würde […] nicht einen Tag könnte ich dort arbeiten.“ Davon, dass ihre Schwester dort auch mit der Tötung solcher Kinder betraut war, wusste sie bis zum Prozess nichts. So wie alle Täter in späteren Jahren sämtliche Opfer als derart schwere Fälle schilderten, um mehr Verständnis für ihre Handlungen zu erhalten und die Behauptung zu stützen, sie hätten alles nur aus Mitleid getan, hatte Luise Müllender vielleicht insgeheim das Bedürfnis, ihrer Schwester gegenüber ihre Taten zu rechtfertigen, ohne ihr dabei wirklich mitzuteilen, was genau sie dort machte. Auch an Anna Wrona konnte sich Luises Schwester lebhaft erinnern. Diese war regelmäßig mit zu ihnen nach Hause nach Mönchengladbach gekommen und gehörte damals „schon fast zur Familie“. Luises Vater mochte Anna Wrona nicht, denn auch hier im Familienkreis offenbarte sie ihre burschikose und resolute Art. Die Familienmitglieder ahnten, dass die beiden Frauen mehr verband als eine normale Freundschaft unter Arbeitskolleginnen. Niemand wollte diesen Verdacht aber an sich heranlassen, geschweige denn offen aussprechen. Die „Feldwebelnatur“ der Wrona und die Tatsache, dass sie damit den Aufstieg in die mit „geheimen Reichssachen“ betraute Führungsposition geschafft hatte, schienen Luise Müllender zu imponieren. Sie versuchte ihr nachzueifern und sich ein ähnliches Auftreten anzueignen. Daher rührt wohl die zeitweise auftretende Diskrepanz in den Beschreibungen anderer Pflegerinnen. Luises Schwester berichtet, dass Luise in Abwesenheit der Pflegerein Wrona auch zu Hause versuchte, ein ähnlich burschikoses und herrisches Verhalten an den Tag zu legen. Es ist somit naheliegend, dass sie in Zeiten, in denen sie die Vertretung der Wrona auf der Station übernahm, den anderen Pflegerinnen gegenüber in ähnlicher Art und Weise auftrat und nicht so gutherzig und umgänglich erschien wie sonst. Von Waldniel aus wurden beide Pflegerinnen an die Kinderfachabteilung LeipzigDösen versetzt. Auch dies war eine Tötungseinrichtung des Reichsausschusses, eine Anstalt, die Professor Nitsche unterstand, einem der bekanntesten Psychiater seiner Zeit und absoluten Befürworter der Krankentötungen. An dieser Anstalt hatte Nitsche seinerzeit Methoden zur unauffälligen Beseitigung von Patienten erprobt und unter Assistenz von Dr. Renno mit dem Luminal-Tötungsschema die Methode entwickelt, nach der in den Abteilungen des Reichsausschusses hauptsächlich gemordet wurde.196 Nachdem die Leipziger Klinik Ende 1943 ausgebombt worden war, kamen beide nach Großschweidnitz. Dort wurde die Kinderfachabteilung in die bereits bestehende Kinderabteilung integriert, so dass für einen Großteil der Leipziger Schwestern kein Tätigkeitsfeld mehr bestand. 196 Aussage Nitsche vor dem Ermittlungsrichter des Volksgerichts Sachsen/Dresden 12.04.1946 u. 20.06.1946, in: Klee 2001, S. 433.

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Abb. 106: Aus Schreiben Dr. Mittag Ende 1944: Unterbringung des Leipziger Personals in Großschweidnitz Hier trennten sich die Wege von Anna Wrona und Luise Müllender. Ein Schreiben des Leipziger Abteilungsarztes Dr. Mittag zum Jahresende 1944 gibt Auskunft darüber, wo beide sich zu diesem Zeitpunkt befanden.197 Anna Wrona war auf ihr Betreiben und mit seiner Unterstützung wieder zu Hermann Wesse, diesmal nach Idstein im Taunus, versetzt worden. Diese Versetzung erfolgte am 17.06.1944, knapp einen Monat nachdem Hermann Wesse die Kinderfachabteilung im Kalmenhof übernommen und den Wunsch geäußert hatte „wieder mit Schwester Wrona zusammenzuarbeiten“.198

Abb. 107: Auszug aus Schreiben Dr. Mittag Ende 1944 Luise Müllender wurde hingegen erst am 02.09.1944 nach Eichberg/Eltville versetzt. Auch Eichberg war eine Tötungsanstalt; auch in Eichberg existierte eine Kinderfachabteilung. Luise Müllender wurde hier aber scheinbar nur im regulären Pflegedienst und nicht mehr in der „Euthanasie“ eingesetzt. Ob dies auf ihre Initiative zurückgeht und somit eine Art Ausstieg aus dem Mordprogramm darstellt, oder ob man für sie in der Mordstation einfach keine Verwendung hatte, muss offen bleiben. Das hier zitierte 197 Bundesarchiv Berlin, Bestand NS 51/227 (KdF, Dienststelle Bouhler), Bl. 100f. 198 Schriftverkehr hierzu in den Akten zum Kalmenhof-Prozess, in: Klee 2004, S. 330.

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Schreiben des Dr. Mittag bezieht sich auf die alljährlichen Weihnachtsgratifikationen, die der Reichsausschuss an seine Mörder bezahlte. Luise Müllender hatte in den Jahren 1942 und 1943 jeweils eine solche Gratifikation erhalten. Am 04.10.1944 muss in Berlin bereits Luise Müllenders Ausscheiden aus dem Mordprogramm festgestanden haben, denn Dr. Mittag schrieb, es seien ihm keine „Anerkennungsbeträge“ für sie zugegangen.

Abb. 108: Notiz zur Pflegerin L. Müllender, aus Schreiben Dr. Mittag, Ende 1944 Luise Müllenders Schwester war der Überzeugung, dass auch sie gegen Kriegsende in Idstein gewesen sei. Es ist zumindest denkbar, dass sich Luise Müllender um eine Versetzung in das nur 44 km von Eltville entfernte Idstein, oder zumindest in die Nähe von Idstein, bemüht hatte, um wieder bei ihrer Freundin sein zu können. Nach dem Krieg, so gab die Schwester an, habe sie „nie wieder den Namen Wrona gehört“. Bei Kriegsende meldete sich Luise aus Hattenheim am Rhein, wo sie bei einem Winzer Unterschlupf gefunden hatte und von wo aus sie „mit einer ganzen Kiste guten Weines im Gepäck“ unversehrt in Mönchengladbach ankam.199 Zunächst wurden 1948 beide Pflegerinnen zu vier Jahren Haft verurteilt, wobei im Fall von Luise Müllender die Untersuchungshaft angerechnet wurde, wodurch für sie eine Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verblieb. Im anschließenden Revi­ sionsverfahren wurde das Urteil über Hermann Wesse bestätigt, in Bezug auf die beiden Pflegerinnen jedoch aufgehoben und zur Neuverhandlung an das Schwurgericht zurückverwiesen. Diese Neuverhandlung sollte 1951 gegen beide gemeinsam geführt werden. Bereits am ersten Verhandlungstag musste der Prozess wieder unterbrochen werden, da Anna Wrona absolut unverwertbare Aussagen machte und im Anschluss ihre angebliche „Verhandlungsunfähigkeit“ durchsetzte (s. Abb. 110).200 Das Gericht verhandelte zunächst nur gegen Luise Müllender weiter, die am 31.05.1951 endgültig freigesprochen wurde. Die Urteilsbegründung offenbart bereits die in den fünfziger Jahren zunehmende Tendenz, mit NS-Verbrechen milder umzugehen und augenscheinlich unglaubwürdige Schilderungen im Zweifel zu Gunsten der Angeklagten gelten zu lassen. So finden sich im Urteil die folgenden beiden Darstellungen, die allenfalls durch Aussagen ebenfalls belasteter Mittäter, nicht aber durch Dokumente oder nachprüfbare Fakten bewiesen waren: 199 Gesprächsnotizen des Autors aus Telefonaten mit Maria S., geb. Müllender, Januar 2008. 200 Alle hier abgebildeten Zeitungsausschnitte, in: ALVR 16968.

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Zu den getöteten Kindern: „Eingeschläfert wurden nur vollidiotische Kinder mit Verkrüppelungen, Lähmungen, Mißbildungen (z. B. Wasserköpfe, Schwimmhäute), die auf tiefstem Niveau standen. Die Kinder, die nicht unter die ‚Therapie‘ fielen, wurden auf das sorgfältigste weitergebildet und betreut, wobei sich die Angeklagte, die auch die übrigen Kinder äußerst liebevoll pflegte, besonders auszeichnete.“ Zu Hermann Wesse: „Sie hatte bemerkt, daß er im Dienst äußerst gewissenhaft und gründlich war und die Kinder an ihm wie an einem Vater derart hingen, daß sie ihn schon umsprangen, wenn er auf der Station erschien.“ Während der erste Absatz durch die in diesem Buch gezeigten Einzelfälle bereits hinreichend widerlegt ist, stellte die Pflegerin Maria W. im erwähnten Gespräch mit dem Verfasser im Jahr 2005 eine Pflege- und Betreuungstätigkeit durch Luise Müllender insgesamt in Frage, da sie diese nach ihrer Erinnerung lediglich bei der Wäscheausgabe und bei der Dienstverteilung zu sehen bekam. Da das Haus aber über mehrere Etagen und verschiedene Stationen verfügte, kann die im Urteil beschriebene Darstellung durch eine einzelne Aussage mit derart großem zeitlichen Abstand wohl nicht angezweifelt werden. Ob Hermann Wesse im Dienst gewissenhaft und gründlich war, liegt jeweils im Auge des Betrachters und muss, auch wenn die von ihm geführten Krankenakten dies nicht untermauern, an dieser Stelle so akzeptiert werden. Als der Verfasser Maria W. aber den zweiten Absatz vorlas, reagierte die alte Dame zum ersten Mal in dem Gespräch regelrecht wütend: „Da wo ich gearbeitet habe, die Kinder sind nicht mehr gesprungen. Die lagen flach! Sterbenskrank in ihren Betten […].“ Im Jahr 1951 wurden die beiden Schilderungen vom Gericht nicht weiter hinterfragt und der Sachverhalt als zutreffend akzeptiert. Krankenakten der verstorbenen Kinder lagen, wie bereits 1948, dem Gericht nicht vor. Am 07.02.1953 wurde die inzwischen wieder verhandlungsfähige Anna Wrona ebenfalls freigesprochen. Über ihren weiteren Lebensweg war nicht viel in Erfahrung zu bringen. Den Verlust ihrer Machtstellung und die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu den „Herren Doktoren, die schon alle wieder Posten hatten“,201 verurteilt worden war, konnte sie nur schwer verkraften. Bereits Anfang der 1950er Jahre ist immer wieder von schweren Krankheiten die Rede, die als Grund für ständig verschobene Vernehmungstermine und letztlich Verhandlungsunfähigkeit angeführt wurden. Anna Wrona starb am 19.07.1975 im Alter von 68 Jahren allein in ihrer Wohnung in Bochum. Luise Müllender zog kurz nach ihrem Freispruch von Mönchengladbach nach Düsseldorf und arbeitete dort als Hausangestellte. Sie lebte in bescheidenen Verhältnissen und scheint alles, was sich auf ihre Zeit in der Kinderfachabteilung und ihre Beziehung 201 Aussage Anna Wrona lt. med. Gutachten vom 27.07.1952, zit. nach Klee 2004, S. 330.

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Abb. 109: Zeitungsausschnitt zum Prozess Wrona /Müllender von 1951

Abb. 110: Zeitungsausschnitt zum Prozess Wrona /Müllender von 1951

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zu Anna Wrona bezog, vernichtet zu haben. Als ihre Schwester nach ihrem Tod 1998 die Wohnung auflöste, fand sie weder Fotos noch sonstige Unterlagen aus dieser Zeit. Im Jahr 1974 musste sich Luise Müllender ein letztes Mal mit diesem Abschnitt ihres Lebens beschäftigen. Sie beantragte in Süchteln „zur Berechnung ihrer Altersrente“ eine Bescheinigung, dass ihr während des Krieges neben der regulären Vergütung auch Kost und Logis frei zur Verfügung gestellt worden wären. Dies war zumindest in Waldniel wohl der Fall, war aber nie offiziell festgelegt und Bestandteil ihres Arbeitsvertrages geworden. Ihre Personalakte aus dieser Zeit war in Süchteln nicht mehr vorhanden und auf die Idee, in der Klinik Eichberg nachzufragen, wo die Akte damals noch lagerte, kam offenbar noch nicht mal sie selbst. Man erteilte ihr die gewünschte Bescheinigung nicht.

Abb. 111: Bescheinigung bzgl. Rentenversicherung für Luise Müllender Luise Müllender starb am 24.04.1998 im Alter von 83 Jahren in Düsseldorf. Sie, die 1948 angab, sich trotz ihrer Beziehung zu Anna Wrona „wie jede natürliche Frau […] dem männlichen Geschlechte zugezogen“202 zu fühlen, blieb unverheiratet und kinderlos. Zeitlebens wurde sie offenbar die Schrecken der NS-Zeit und die Verbrechen, an denen sie sich mit schuldig gemacht hatte, nicht mehr ganz los. Ihrer Schwester vertraute sie an, dass sie auch Jahrzehnte nach dem Krieg immer noch häufig von den Kindern träumte, nachts aufwachte und danach immer lange keinen Schlaf mehr fand. Nennenswerte Spuren hat ansonsten auch Luise Müllender nicht hinterlassen. Ein Kissenstein auf der Familiengrabstätte nennt nur ihren Namen mit Geburts- und Todesjahr. 202 Vernehmungsprotokoll, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, Bl. 120.

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Abb. 112: Grab von Luise Müllender Was wir heute den Gerichtsakten und Vernehmungsprotokollen entnehmen können, ist wohl nur ein kleiner Bruchteil dessen, was Pflegerinnen wie Luise Müllender in diesen Jahren erlebt und gesehen haben. Wohin ein Unrechtssystem Menschen führen kann, die nicht über ein Übermaß an Willenskraft und Durchsetzungsvermögen verfügen, hat die Geschichte uns reichlich gelehrt. Das Pflegepersonal, als unterstes Glied in der Kette der Anstaltshierarchie, hatte hier sicherlich den geringsten Spielraum. Es gehörte Mut dazu sich zu weigern, bestand doch durchaus Anlass, für den Fall einer Weigerung mit ernsten Konsequenzen rechnen zu müssen. Seitens der Vorgesetzten wurden solche Konsequenzen auch gerne angedroht. Dass bei denen, die trotzdem die Kraft und den Mut besaßen sich zu weigern, diese Konsequenzen letztlich ausblieben, ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass die Aktion jeder gesetzlichen Grundlage entbehrte. Wie wollte man jemanden dafür bestrafen oder verurteilen sich an einer Aktion nicht beteiligt zu haben, die es offiziell gar nicht gab? Diejenigen, die entweder nicht den Mut besaßen sich zu weigern oder aus welchen Gründen auch immer gar nicht an eine Weigerung dachten, sind zu Mördern geworden. Letztlich fand der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ die benötigten Handlanger, durch die er in der Lage war, das geplante Mordhandwerk in Waldniel durchzuführen und sich der in seinen Augen „lebensunwerten Geschöpfe“ zu entledigen.

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193 Alltag in der Kinderfachabteilung

Maria W. Schwester Maria W. wurde Anfang 1943 zur Kinderfachabteilung Waldniel versetzt. Sie war damals 21 Jahre alt und hatte kurz zuvor ihr Pflegerinnen-Examen gemacht. Die Oberin der Anstalt Johannistal, Agnes H., teilte ihr die Versetzung mit und verwies auf die „schöne Arbeit“ mit den kleinen Kindern, die ja angenehmer sei als die Pflege von erwachsenen Geisteskranken.203 Eine Aufklärung über die tatsächlichen Aufgaben der Kinderfachabteilung oder eine Verpflichtung zum Stillschweigen erfolgte nicht. Es schien sich um eine ganz normale Versetzung zu handeln.

Abb. 113: Agnes H., Oberin der Süchtelner und Waldnieler Schwesternschaft, ca. 1940 Die Zustände, die Maria W. in Waldniel antraf, schockierten sie zutiefst. Die jungen Schwestern wurden für die „Drecksarbeit“ eingeteilt, das heißt sie wurden auf der Station mit den Säuglingen und Kleinkindern eingesetzt, die sich nicht selbst sauber halten konnten und gefüttert und gewickelt werden mussten. Nach einer ersten Erinnerung an die Arbeit in der Kinderfachabteilung befragt, erinnerte sich die ehemalige Pflegerin sofort an den unglaublichen Gestank, der einem entgegenschlug, sobald man diesen Teil der Abteilung betrat. Morgens bei der Ausgabe erhielten die Schwestern einen Packen Wäsche und die Anweisung: „Damit müßt ihr auskommen – mehr gibt es nicht“.

203 Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen die folgenden Schilderungen aus Gesprächen des Autors mit der ehem. Pflegerin Maria W. im Sommer 2005.

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Abb. 114: Pflegerinnen beim Ernte-Einsatz, Sommer 1942 – vorne in der Mitte: Toni F., vorne rechts: Maria W. Da die schwer behinderten Kinder sich dauernd beschmutzten und die zur Verfügung stehende Wäsche bei weitem nicht ausreichte, waren die Schwestern vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Sie hatten keine andere Wahl, als die armen Geschöpfe größtenteils in ihrem Kot und Urin liegen zu lassen. Maria W. berichtete, wie sie und die anderen Pflegerinnen verzweifelt versuchten, zwischendurch einige Laken von Hand auszuwaschen und durch Drehen und Wenden der Betttücher zumindest zu verhindern, dass die Kinder direkt in ihren eigenen Exkrementen liegen mussten. Sie, die mit viel Enthusiasmus und mit Idealen den Pflegeberuf ergriffen hatte, musste hier erleben, was „Pflege“ im nationalsozialistischen Deutschland bedeuten konnte. Die einzigen erhaltenen Filmaufnahmen aus einer Kinderfachabteilung befinden sich im Bundesfilmarchiv. Es fällt auf, dass auf diesen Bildern die Kinder gut genährt sind und eine Anzahl Pflegerinnen sich liebevoll um die Kinder bemüht. Wahrscheinlich sind diese Bilder für einen Propagandafilm gemacht worden, auf dem man die Pflege in einer Kinderfachabteilung positiv darstellen wollte. Bei genauem Hinsehen fällt allerdings auf, wie angsterfüllt einige der kleinen Gesichter in die Kamera blicken (vgl. Abb. 115/116). Auch die Ernährung der Kinder konnte von den Schwestern nicht gewährleistet werden. Soweit Schwester Maria W. sich erinnern konnte, gab es grundsätzlich nur Milchbrei

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Abb. 115 /116: Kinderfachabteilung (vermutlich Görden)

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zu essen. Dieser musste den Kindern in den Mund geschoben werden, da sie zum großen Teil aufgrund ihrer Behinderung nicht selbständig essen konnten. Auch dies musste im „Hau-Ruck-Verfahren“ erledigt werden, da die Anzahl der vorhandenen Pflegerinnen für eine vernünftige Versorgung dieser Kinder bei weitem nicht ausreichte. Woraus dieser vermeintliche „Milchbrei“ tatsächlich bestand und ob dieser bereits Teil einer gezielten Mangelernährung war, vermochte Maria W. nicht zu sagen, wohl aber, dass alle Kinder auf der Säuglingsstation abgemagert und unterernährt waren. Die hohe Sterblichkeit unter den Kindern fiel allen Schwestern auf, und es gab keinen Zweifel daran, dass hierbei mit Medikamenten nachgeholfen wurde. Wenn abends die Oberschwester Wrona mit ihrem „Spritzentablett“ durch die Abteilung ging, war allen Pflegerinnen klar, dass jetzt die tödlichen Medikamente verabreicht wurden.204 Maria W. hatte die Aufgabe, morgens der Oberschwester die Todesfälle zu melden. Sie erinnert sich an einen Morgen im Mai 1943. Beim ersten Rundgang durch den Krankensaal stellte sie fest, dass drei Kinder tot in ihren Bettchen lagen. Noch erschüttert von dem Anblick der toten Kinder ging sie in das Büro der Schwester Wrona und informierte sie: „Drei sind tot“. Die Oberpflegerin habe zu ihr aufgesehen, die Krankenakte, an der sie gerade gearbeitet hatte, zusammengeklappt und „mit kaltem Blick“ geantwortet: „Mein Gott – nur drei?“ Den kleinen Patienten wurden auch ohne Tötungsabsicht Medikamente verabreicht. Frau W. kann sich nicht an Nachtwachen in der Kinderfachabteilung erinnern, wohingegen sie im sonstigen Pflegedienst eigentlich regelmäßig Nachtwachen zu leisten hatte. „Luminal – die Kinder müssen doch schlafen!“ ist ihr als eine Aussage der Oberpflegerin in Erinnerung. Das bedeutet, den Kindern wurden aus purer Bequemlichkeit hohe Dosen an Beruhigungsmitteln verabreicht, damit man über Nacht seine Ruhe hatte. Prof. Dr. Dr. Gerhard Kloos, Leiter der Kinderfachabteilung und des Landeskrankenhauses Stadtroda erläuterte die Verfahrensweise folgendermaßen: „Allerdings mußte ich denjenigen [sic] kleinen Idioten, die ununterbrochen schrieen, ihre Wäsche und ihr Bettzeug – damals schwer ersetzbares, bewirtschaftetes Material – dauernd zerrissen, einnäßten und einkoteten und das Pflegepersonal kratzten und bissen, durch nicht unerhebliche Dosen von Beruhigungs- und Schlafmitteln dämpfen […].“

204 Sowohl Hermann Wesse, als auch Anna Wrona haben stets vehement abgestritten, in Waldniel mittels Injektionen getötet zu haben. Laut ihrer Aussagen wurde zur Tötung ausschließlich Luminal verwendet und stets in Tablettenform verabreicht. In den übrigen Zeugenaussagen ist jedoch immer wieder von Injektionen die Rede, und auch Maria W. sprach im Jahr 2005 spontan und ohne Zögern von Schwester Wrona und ihrem „Spritzenteller“.

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Anschließend gab er auch Auskunft über die Langzeitwirkung dieser „Dämpfung“: „Wenn man bettlägerigen Menschen, sowohl Kindern als auch Erwachsenen, wochen- und monatelang, wie es in solchen Fällen in Stadtroda geschehen mußte, Barbitursäurepräparate gibt […], entwickelt sich häufig eine gewisse Kreislaufschwäche mit vermindertem Blutumlauf in den Lungen und es kommt dann nicht selten zu Stauungs-Lungenentzündungen (hypostatischen Pneumonien).“ 205

Abb. 117: Narkotisiertes Reichsausschuss-Kind in Eichberg In Waldniel wurde im Frühsommer 1943 eine Masernepidemie dazu genutzt, die Sterblichkeit nochmals zu steigern. Die Schwestern hatten keine Erklärung dafür, dass die Kinder plötzlich reihenweise an Masern starben. Maria W. erzählte, dass sie heute noch mit Schaudern an die große Menge kleiner Särge denke, die gezimmert und im Leichenraum unter der Anstaltskapelle aufgestellt wurden. In den wenigen Pausen, die der jungen Pflegerin zur Verfügung standen, sei sie mit einigen Kameradinnen in den Garten der Anstalt gegangen, um Blumen zu pflücken, die sie anschließend auf diese kleinen Särge legten.

205 Aussage Dr. Gerhard Kloos vom 27.11.1961, in: GStA Frankfurt/Main Js 148/60, zit. nach Klee 2004, S. 132.

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Abb. 118: Der Eingang des Leichenraums unter der Anstaltskapelle, Januar 2006

Einem Elternpaar, das aus Mönchengladbach anreiste, um die Leiche ihres verstorbenen Kindes abzuholen, verweigerte der Fahrer der Straßenbahnlinie den Einstieg. Mit dem Hinweis, er dürfe keine Leichen transportieren, und sie müssten ihm beweisen, dass der Sarg leer sei verwehrte er den Eltern, die einen kleinen Kindersarg mit sich führten, den Eintritt in die Straßenbahn.

Abb. 119: Straßenbahn vor der Anstalt Waldniel

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So stiegen die Eltern, jeder mit einer Hälfte des Kindersarges vorne und hinten ein und mussten die Fahrt nach Waldniel getrennt sitzend in der Straßenbahn zurücklegen. Maria W., die die Ankunft der Eltern mit erlebte, hatte noch 60 Jahre später das Bild dieses um Fassung ringenden Mannes vor Augen, der mit dem kleinen Sargdeckel unter dem Arm in Waldniel aus der Straßenbahn stieg und nicht wusste, wie er nun mit seinem toten Kind wieder nach Mönchengladbach zur Bestattung kommen sollte. Interessanterweise konnte sich Maria W. im Jahr 2005 an Hermann Wesse zunächst überhaupt nicht erinnern. Nach Betrachten eines Fotos erkannte sie in ihm den Arzt wieder, der sie selbst behandelt hatte, als sie in der Kinderfachabteilung an einer schweren Angina erkrankte und in ihrem Zimmer im Dachgeschoss des Schutzengelhauses das Bett hüten musste. Da es ihr immer schlechter ging, hatten die anderen Pflegerinnen den Arzt geholt. Dieser untersuchte sie und warnte sie, diese Infektion nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Damit sei nicht zu spaßen! In einer Umgebung, in der unentwegt Kinder an künstlich herbeigeführten Atemwegsinfektionen starben, sicherlich kein schlechter Rat. Dass es sich bei diesem Mann um den behandelnden Arzt der kleinen Kinder im Erdgeschoss handelte, wusste Maria W. nicht. Sie verfügte im Jahr 2005 über keine Erinnerung daran, in der Zeit, in der sie mit der Pflege in der Kinderfachabteilung beschäftigt war, überhaupt jemals einen Arzt auf der Station gesehen zu haben. Auch die Hilfsschule für die „noch bildungsfähigen“ Kinder, die angeblich im ersten Obergeschoss untergebracht war und in mehreren Aussagen erwähnt wurde, hat die Pflegerin nie gesehen. Da Maria W. im Gegensatz hierzu über eine sehr lebhafte Erinnerung an die Oberpflegerin Wrona und deren Stellvertreterin Müllender verfügte, sich an viele Einzelheiten aus der Kinderfachabteilung detailliert erinnern konnte und in der Lage war, die Namen einer ganzen Reihe von anderen Pflegerinnen sofort zu nennen, liegt die Annahme auf der Hand, dass es diese Hilfsschule möglicherweise nie gegeben hat. Vielleicht zählt auch sie zu den Nachkriegsmärchen, die zur Beschönigung und Verwässerung der eigentlichen Tatsachen erfunden und von den Beschuldigten zur besseren Selbstdarstellung bereitwillig aufgegriffen wurden. Die Tatsache, dass Maria W. sich partout nicht an Hermann Wesse oder einen anderen Arzt in der Kinderfachabteilung erinnern konnte, spricht dafür, dass dieser die Kinder lediglich bei den Besuchen von Dr. Hans A. Schmitz untersuchte, wozu sie von Anna Wrona geholt und in das Behandlungszimmer gebracht wurden. Ansonsten zog er es wohl vor, seine Entscheidungen vom Schreibtisch aus zu fällen. Toni F. Gemeinsam mit Maria W. wurde auch die Pflegerin Toni F. nach Waldniel versetzt. Sie bekam alles, was in der Kinderfachabteilung geschah, ebenso hautnah mit, wurde im Gegensatz zu Maria W. 1947 von der Staatsanwaltschaft verhört und zu den Vorgängen befragt. Ihre Aussage ist ein Beispiel dafür, wie gut die Einschüchterungspoli-

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tik der Nationalsozialisten funktioniert hatte und auch nach Beendigung des Krieges noch wirkte. Toni F. wollte bei ihrer Tätigkeit in Waldniel praktisch nichts Auffälliges bemerkt haben.

Abb. 120: Aussage von Toni F.

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Selbst nachdem sie durch den Staatsanwalt unter Druck gesetzt worden war, blieb Toni F. hartnäckig bei ihrer Aussage, die Pflegerinnen Wrona und Müllender hätten sich „immer sehr anständig und einwandfrei“ verhalten und „außergewöhnliche Todesfälle“ seien ihr „nicht aufgefallen“.

Abb. 121: Aussage von Toni F. Toni F. wollte offenbar um keinen Preis in die Sache hineingezogen werden und schützte die Pflegerinnen Wrona und Müllender in erster Linie, um sich selbst zu schützen. Hier tritt das unterschwellige Bewusstsein zu Tage, sich selbst auch mit schuldig gemacht zu haben und sei es nur dadurch, nichts gegen die Vorgänge in Waldniel unternommen zu haben. Interessant ist, dass die Pflegerin Toni F. sich im Jahr 1947 über die Person und Tätigkeit des leitenden Arztes durchaus informiert zeigte, wogegen Maria W. im Jahr 2005 über keine Erinnerung an Hermann Wesse verfügte. Ein Gegenbeispiel: Wilma P. Ein Beleg dafür, dass es im Jahr 1943 in den Anstalten Waldniel und Süchteln-Johannistal kaum jemanden gab, der nicht zumindest gerüchteweise davon gehört hatte, dass in Waldniel Kinder getötet wurden, ist die Aussage der Röntgenassistentin Wilma P., die im Oktober 1942 nach Waldniel versetzt werden sollte:

6. Kapitel

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„Eines Tages erhielt ich die Mitteilung, daß ich durch Direktor Kleine für zwei oder drei Tage nach Waldniel als Röntgenassistentin versetzt sei. Zuvor wurde ich zu dem damaligen Vertrauensobmann für Beamte und Angestellte der hiesigen Anstalt, Herrn Bastian, bestellt. Dieser sollte offenbar meine politische Gesinnung überprüfen. Eingangs der Unterredung stellte er Fragen wie, wann gehen sie zur Kirche usw. Mir waren diese Fragen seinerzeit unverständlich. Herr Bastian erklärte dann weiter, daß ich wohl bereits erfahren habe, daß ich für einige Tage in der Woche nach Waldniel kommandiert sei. Erläuternd fügte er hinzu, sie werden dann auch sehen, was krankhaft und was gesund ist. Da man an der hiesigen Anstalt bereits allgemein munkelte, daß an der Kinderfachabteilung Waldniel gesetzwidrige Maßnahmen an geisteskranken Kindern durchgeführt würden, habe ich Herrn Bastian gegenüber in eindeutiger und unmißverständlicher Weise zu verstehen gegeben, daß ich nicht daran dächte, nach Waldniel zu gehen. Ich habe ihm erklärt, daß ihm das allgemeine Gerücht über Kindertötungen in Waldniel nicht unbekannt geblieben sei und daß ich nicht beabsichtige, meine Hände an dieser unmoralischen Handlung zu beschmutzen. Herr Bastian erhob sich spontan, schloß das Fenster und erwiderte: ‚Wissen Sie was auf Ihre Äußerung steht? Auf diese Äußerung steht die Todesstrafe.’ Im Übrigen verließ er den Gegenstand des bisherigen Gesprächs.“206 Nachdem Wilma P. die Versetzung mit Unterstützung ihres Vorgesetzten Dr. Lewenstein bis zur Auflösung der Kinderfachabteilung hinausgeschoben hatte glaubte sie, dass die Sache sich damit erledigt habe und war entsprechend verwundert, als anschließend noch weitere Male versucht wurde, auch noch relativ kurz nach Kriegsende, sie aus Johannistal zu versetzen. „Nachdem die Besatzung [der Amerikaner – A.d.V.] bereits hier war, erschien eines Tages Prof. Dr. Creutz in der hiesigen Anstalt und erklärte, ich müsse jetzt nach Galkhausen. Obwohl das hiesige Labor wieder in Tätigkeit war und ich demnach in der hiesigen Anstalt ein ausreichendes Arbeitsfeld hatte, sollte ich dennoch nach Galkhausen. […] Ich vermute, daß die ganzen Versetzungsabsichten nicht sachlichen Erwägungen entsprungen sind, sondern daß man mich irgendwie maßregeln wollte, weil ich es damals gewagt hatte, über die gesetzwidrigen Maßnahmen in Waldniel Kritik zu üben. Vielleicht war ich auch manchen Herren wegen meines Wissens um die Dinge in Waldniel unangenehm und man glaubte mich durch eine Versetzung in eine andere Umgebung kalt zu stellen.“207 206 Aussage Wilma 207 Ebd.

P. v. 28.11.1947, HstAD, Gerichte Rep. 372, Nr. 132, Bl. 44.

Das Pflegepersonal

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Um das Röntgengerät für die Kinderfachabteilung rankt sich eine der vielen Legenden der „anständigen Rheinprovinz“. Der findige Walter Creutz, der – wie wir noch sehen werden – nahezu jede seiner Handlungen und Entscheidungen rund um diese Abteilung irgendwie als „Widerstand“ auszulegen vermochte, gab an, er habe auf die Bereitstellung eines Röntgenapparats für Waldniel bestanden. Dies habe er in dem vollen Bewusstsein getan, dass ein solcher Apparat unter den damaligen Umständen nicht, oder nur sehr schwer zu beschaffen sein würde, was er wiederum als „Verzögerungstaktik“, bzw. „Sabotage“ der Aktion interpretiert wissen wollte. Tatsächlich hat diese Forderung, von wem immer sie auch stammen mochte, weder die Abläufe in der Kinderfachabteilung verzögert, noch sonst irgendeinen Einfluss auf die Aktion gehabt. Kein einziges Kind hat deswegen auch nur einen Tag länger überlebt. Da im Rahmen des Düsseldorfer Gerichtsurteils so intensiv auf dieses Röntgengerät eingegangen wurde, wurde im Kontext der Recherchen zu diesem Buch bei der Analyse der Krankenakten aus dem Jahr 1943 natürlich auch nach Röntgenaufnahmen gesucht. Die einzige in einer Krankenakte vorhandene Röntgenablichtung stammt von dem Kind Helga R., das an Verwachsungen (Syndaktylie) der Hände und Füße litt.

Abb. 122: Röntgenbild aus Krankenakte Helga R. Im unteren Teil der Aufnahme sind die Finger der Hand des Arztes oder Röntgenassistenten zu erkennen, die die Hand des sechs Monate alten Kindes auf die Apparatur pressen. Wie oben links eindeutig zu erkennen ist, ist diese Aufnahme am 26.10.1942 angefertigt worden. Sie stammt also mit absoluter Sicherheit nicht aus Waldniel, da das Kind erst am 02.03.1943 in der Kinderfachabteilung aufgenommen wurde, wie die Auf-

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6. Kapitel

zeichnungen in ihrer Krankenakte belegen. Auf die Zweckmäßigkeit der Anschaffung eines Röntgengerätes für die Tötungsstation wird im Kapitel „Forschung und Experimente“ nochmals genauer eingegangen. Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass die in der 15 Kilometer entfernten Hauptanstalt tätige Röntgenassistentin bereits vor ihrer geplanten Versetzung nach Waldniel genau wusste, was sich dort abspielte und welche Aufgaben die Abteilung in Waldniel hatte. Wenn dies bereits einer Pflegerin in Süchteln mit solcher Genauigkeit bekannt war, dann erscheint es gänzlich unglaubwürdig, dass Pflegerinnen, die in der Abteilung selbst beschäftigt waren, davon nichts mitbekommen haben wollten. Maria W., die mit der oben erwähnten Pflegerin Toni F. gut befreundet war, konnte über deren Vernehmungsprotokoll nur milde lächeln: „Uns allen war klar, dass es dort nicht mit rechten Dingen zuging. Es konnte nicht sein, dass so viele Kinder plötzlich an Lungenentzündung oder gar an Masern starben. Wir haben uns noch gesagt: Schau an – jetzt sterben sie auf einmal an Masern. Ich konnte das überhaupt nicht begreifen. Alle haben es gewusst.“

Abb. 123: Pflegerin Maria W., Winter 1942 /43 Mord und Pflege „Tür an Tür“? Die Pflegerinnen waren im Dachgeschoss des Schutzengelhauses untergebracht, welches nach einem Brand im Jahre 1927 neue Dachgauben mit kleinen Kammern erhalten hatte. Von den vier zur Anstalt gehörenden Blöcken verfügte dieses Haus, nach den umfangreichen Renovierungsarbeiten, die die Provinzialverwaltung vor der Eröffnung

Das Pflegepersonal

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der Kinderfachabteilung durchführen ließ, über die beste Ausstattung und die modernste Einrichtung. Die Aussage der Erstpflegerin Wrona, das Haus sei bestens eingerichtet gewesen, kann daher durchaus als zutreffend angesehen werden, wogegen ihre Angabe, die Pflege und vor allem die Verpflegung der Kinder sei ebenfalls erstrangig gewesen, äußersten Bedenken begegnen muss. Zu den schriftlichen Beschwerden der Angehörigen aus den Krankenakten, die im Hinblick auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung über jeden Zweifel erhaben sind, und in denen über die mangelhafte Ernährung der Kinder geklagt wird, gesellen sich damit korrespondierende Angaben von Pflegerinnen in den Vernehmungsprotokollen des Jahres 1947 und die Angaben der Pflegerin Maria W. im Jahr 2005. Abgesehen von den anders lautenden Aussagen belasteter Täter, bei denen diese Schilderungen als Schutzbehauptungen eingeordnet werden können, und den teilweise widersprüchlichen Aussagen des vernommenen Pflegepersonals, die möglicherweise auf entsprechenden Druck seitens der Anstaltsleitung zurückzuführen sind, existieren noch die Angaben der Sekretärin Lilo G. aus dem Jahr 2008. Sie gab an, sie könne bestätigen, dass die Kinder dort „anständig zu essen“ bekamen und dass abends mit vereinten Kräften für die Kinder Brote geschmiert wurden, wobei sie selbst mehrfach mitgeholfen habe. Als reine Schreibkraft hatte sie nichts mit der Pflege der kranken Kinder zu tun. Lediglich bei den Untersuchungen durch Schmitz und Wesse kam sie mit ihnen in Kontakt, und ihr gegenüber hatte Hermann Wesse mit Nachdruck die Tötung von Kindern in Abrede gestellt. Sie berichtete, wie sie im Sommer 1943 beobachten konnte, dass sich Gruppen von Kindern spielend draußen in der Sonne aufhielten und die Kinder bei anstehenden Besuchen der Eltern sorgfältig gewaschen, schick angezogen und „herausgeputzt“ wurden. Frau G., die bei dem Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen nicht den Eindruck erweckte, sich der Thematik nicht stellen zu wollen, und die vor allen Dingen keinen Grund hatte, irgendwelche schön gefärbten Märchen zu erzählen, hat diese Dinge so erlebt. Diese, auf den ersten Blick völlig widersprüchlichen, Schilderungen sind bei näherer Betrachtung gar nicht so unwahrscheinlich. Die NS-Psychiatrie hatte keineswegs die Absicht, sich durch die Vernichtung ihrer Patienten in absehbarer Zeit aus eigener Kraft überflüssig zu machen. Im Gegenteil – die durch die Ausrottung der „unheilbar Kranken“ frei werdenden Kapazitäten sollten den therapierbaren Fällen zu Gute kommen. Denen, die vom Arzt als heilbar und behandlungswürdig eingestuft wurden, sollte die modernste und beste Behandlung zuteil werden. Dies sollte auf Kosten der Patienten geschehen, die man für „lebensunwert“ hielt und derer man sich kurzfristig zu entledigen gedachte. Dass Waldniel, als frisch eingerichtete große Abteilung, diese „Auslese“ bereits vollzog und es neben dem Bereich, in dem gehungert und gestorben wurde, einen Teil gab, in dem die aussichtsreichen Fälle untergebracht waren, die dort tatsächlich bestens versorgt wurden, ist nicht unwahrscheinlich. Der überwiegende Teil der Todesfälle des Jahres

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6. Kapitel

1943 betrifft Kinder, deren Aufnahme in Waldniel erst im Jahr 1943 erfolgte und die anschließend nur wenige Wochen – manchmal nur Tage – in der Kinderfachabteilung verbrachten. Dagegen sind von den 122 Kindern, die sich am 21.12.1942 in der Abteilung befanden, „nur“ 24 in Waldniel verstorben, während die Gesamtzahl der Todesfälle vom 21.12.1942 bis zur Auflösung der Abteilung 77 beträgt. Das heißt, 53 der innerhalb eines Zeitraumes von knapp sieben Monaten in Waldniel verstorbenen Kinder befanden sich zu Beginn des Jahres noch nicht dort. In einem Fall überlebte ein damals 13jähriger Junge den Krieg und wohnte bis zu seinem Tod im Jahr 1997 wieder in Süchteln. In den Akten fanden sich zwei Entlassungsscheine und eine Beurlaubung, die anschließend zur Entlassung erweitert wurde. Es gab also in Waldniel nicht nur ausschließlich „hoffnungslose Fälle“. Dies kann damit zusammen hängen, dass im Jahr 1941 eine Erstbelegung aus anderen Anstalten nach Waldniel erfolgte, die zunächst mal dafür sorgen sollte, dass die mit großem Aufwand ausgestattete Abteilung auch gefüllt wurde.

Der Bestand vom Dezember 1942 zeigt, dass die Abteilung zu diesem Zeitpunkt maximal zu 2/3 belegt war. Die fortwährende Zuführung von reinen „Todeskandidaten“ begann erst, als Hermann Wesse und Hans-Aloys Schmitz im Oktober 1942 ihre „Arbeit“ aufnahmen. Von da an wurden laufend Kinder nach Waldniel verlegt, die den Kriterien des Reichsausschusses entsprachen und die anschließend nach sehr kurzer Zeit in Waldniel ermordet wurden. Dass die Aufteilung der Kinder nicht nur nach Alter oder Geschlecht vorgenommen wurde, sondern es innerhalb der Abteilung einen eigenen Bereich für die „bildungsfähigen“ Kinder gab, die dort unter Umständen in der geschilderten positiven Art und Weise versorgt und betreut wurden, ist durchaus möglich. In diesem Zusammenhang würde auch die Existenz der angeblich in Waldniel vorhandenen Hilfsschule wieder Sinn ergeben, die aufgrund der Aussagen der Pflegerin Maria W. durchaus in Zweifel zu ziehen war. Angeblich hat hierzu sogar ein Austausch zwischen den Kinderfachabteilungen Lüneburg und Waldniel dergestalt stattgefunden, dass Kinder aus der dortigen Abteilung der Waldnieler Hilfsschule zur Überprüfung ihrer Bildungsfähigkeit überstellt wurden.208 Dies würde abermals die Bedeutung von Waldniel im Gesamtkontext der Kinderfachabteilungen unterstreichen, da in Lüneburg demnach eine solche Einrichtung nicht vorhanden war. Ein abschließender Beweis für die Existenz oder Nicht-Existenz der Hilfsschule konnte nicht erbracht werden. Fest steht, dass sich unter den in Waldniel verstorbenen Kindern keines aus dem Einzugsgebiet um Lüneburg befindet und der Einsatz von pädagogischem Fachpersonal für die Kinderfachab-

208 Auskunft von Herrn Dr. Raimond Reiter, Gedenkstätte Lüneburg. Leider konnte die Quelle und der Ursprung dieser Angaben nicht verifiziert werden.

Das Pflegepersonal

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teilung Waldniel nicht festgestellt werden konnte. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Pflegerinnen, die im einen oder anderen Bereich der Abteilung ihren Dienst verrichteten, auch nur die jeweils beschriebene Art der Versorgung und Betreuung erlebt haben. Das Gebäude verfügt über drei Stockwerke und entspricht seit dem Anbau des Verbindungstraktes in den dreißiger Jahren vom Grundriss her in etwa einem großen Quadrat:

Abb. 124: Luftaufnahme der ehem. Kinderfachabteilung Waldniel, 2004 Die Gänge sind weitläufig und zum Teil merkwürdig verwinkelt. Das Personal bestand aus dem Abteilungsarzt, Erstpflegerin und deren Stellvertreterin, sowie etwa 30 weiteren Pflegerinnen, die jeweils in den ihnen zugewiesenen Bereichen tätig waren.

Abb. 125: Gebäudekomplex der Kinderfachabteilung von Südwesten gesehen, 2004

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6. Kapitel

Es kann daher durchaus zutreffen, dass Pflegerinnen, die in verschiedenen Etagen arbeiteten, sich den ganzen Tag nicht über den Weg liefen. Pflegerin Maria W. gab zum Beispiel an, dass sie die Erstpflegerin Wrona und deren Vertreterin Müllender immer nur morgens bei der Wäscheausgabe zu sehen bekam und dass sie der Sekretärin Lilo G. überhaupt nie begegnet sei. Mithin mag es in Waldniel auch eine Station gegeben haben, auf der im weitesten Sinne alles „normal“ gehandhabt wurde. Damit wären die Aussagen nicht so widersprüchlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Angesichts der Aussagen der Röntgenassistentin Wilma P. erscheint es allerdings als sehr unwahrscheinlich, dass Pflegerinnen, die in Waldniel, auf welcher Station auch immer, gearbeitet haben, tatsächlich gar nichts von den Vorgängen mitbekommen haben. Dazu waren die „Gerüchteküche“ und der „Flurfunk“ trotz aller befohlenen Geheimhaltung zu aktiv, was die dargestellten Fakten belegen. Ein weiteres kleines Indiz für die Existenz einer „zwei Klassen-Verpflegung“ in Waldniel befindet sich im Entnazifizierungsurteil des Anstaltsleiters Dr. Kleine vom 14.09.1948.209 Dort wird mit Bezug auf die Aussage einer Pflegerin erklärt: „Wenn die Pflegerin B. demgegenüber […] angibt, daß der Berufungsführer sie als Pflegerin für Waldniel zu Euthanasie-Maßnahmen vorgeschlagen habe, so übersieht sie, daß auch nicht schwachsinnige Kinder in dieser Anstalt untergebracht wurden, die der wirklichen Pflege bedurften […].“ Ungeachtet der Tatsache, dass man die hier gewählte Formulierung ein zweites Mal lesen sollte, um die darin enthaltene Geringschätzung der behinderten Kinder voll zu erfassen (die demnach der „wirklichen Pflege“ nicht bedurften?) , wurde hier ebenfalls angedeutet, dass in Waldniel eine Gruppe von besser situierten Patienten untergebracht war. Woher das Gericht diese Informationen hatte und ob ihr Wahrheitsgehalt überprüft wurde, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Im Rahmen der Recherchen zu diesem Buch konnte die Unterbringung von Kindern, die nicht zumindest in geringem Maße geistig behindert waren, in der Waldnieler Abteilung nicht festgestellt werden. Auch die wenigen Fälle von Entlassungen betrafen Kinder, bei denen zuvor eine entsprechende Diagnose, die mindestens auf Schwachsinn leichten bis mittleren Grades lautete, gestellt worden war. Zwangsläufig fällt in diesem Zusammenhang wieder der Bericht über die Mutter des Jungen Fritz S. auf. Sie, der man aufgrund ihres „ungebührlichen Verhaltens“ anschließend den Besuch ihres Sohnes untersagte (s. Kapitel 5: „Opfer und Angehörige“), stellte bei ihrem Besuch fest, dass ihr Junge stark abgemagert war „im Gegensatz zu den Anderen“

209 HStAD, NW 1097, BI. Nr. 7254.

Das Pflegepersonal

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und der Junge im Bett daneben ihm wohl alles wegessen und „die dicken Backen haben“ würde.210

Abb. 126: Bericht über die Mutter von Fritz S. Wie Lilo G. berichtete, wurden die Kinder bei angekündigten Besuchen der Eltern zurechtgemacht und „herausgeputzt“. Angesichts des fortgeschrittenen Entkräftungszustands von Fritz S. war dies zu diesem Zeitpunkt bei ihm wohl kaum noch möglich. Aufschlussreich ist, dass sich bei diesem Besuch neben ihm ein Kind befand, das offensichtlich wohlgenährt war und „dicke Backen“ hatte. Außerdem scheinen sich mehrere Kinder in vergleichsweise gutem Ernährungszustand im Besuchszimmer befunden zu haben, weshalb Frau S. den Verdacht äußerte, die anderen unterernährten Kinder seien wohl im Keller versteckt. Vielleicht kam Frau S. auch unerwartet, und man hatte keine Möglichkeit mehr ihren Sohn „herauszuputzen“, denn der Vermerk erwähnt, dass der Junge nicht angezogen war. Wieder wird erwähnt, dass der Abteilungsarzt (in diesem Fall Hildegard Wesse, da Hermann Wesse sich im September 1942 noch in Bonn befand 210 Aktenvermerk in Krankenakte Fritz S., in: Staatsarchiv Münster 45 Js 47/89 Staatsanwaltschaft Dortmund, Bd. 3.

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6. Kapitel

und die Abteilung erst am 01.10.1942 übernahm) für eine aufgebrachte Mutter nicht zu sprechen war, ohne dass hierfür nähere Gründe genannt werden. Der Begegnung mit Frau S., die außer sich war angesichts der Tatsache, dass man ihren Sohn dort offenbar absichtlich verhungern ließ und ihn mit Betäubungsmitteln in einem Dämmerzustand hielt, durch den er „ganz doof“ aussah, stellte sich auch Hildegard Wesse nicht. Dieser Fall veranschaulicht, wie machtlos eine Mutter aus einfachen Verhältnissen im Kampf gegen das System dastand, auch wenn sie bereit war, für ihr behindertes Kind wie eine Furie zu kämpfen.

7. „FORSCHUNG“ UND EXPERIMENTE

D

er Medizin boten sich im nationalsozialistischen Deutschland aufgrund der Geringschätzung des menschlichen Lebens und der Vorherrschaft reiner Nützlichkeitserwägungen aus ihrer Sicht geradezu phantastische Möglichkeiten. Angesehene Wissenschaftler, Ärzte und Professoren warfen mit erschreckender Gleichgültigkeit die Prinzipien der Ethik über Bord und erlagen der Versuchung, die sich ihnen durch die plötzliche Möglichkeit uneingeschränkter Menschenversuche bot. Wie grausam und unmenschlich diese Vertreter der Wissenschaft mit ihren „Probanden“ umgingen, ist spätestens seit dem Nürnberger Ärzteprozess bekannt und füllt als Thema eine Reihe eigener Bücher. Überall dort, wo aussortiert und getötet wurde existierten auch Bestrebungen, die „Ballastexistenzen“ noch so weit wie irgend möglich auszuschlachten, sei es nun durch Verwertung ihrer Arbeitskraft bis zur totalen Erschöpfung oder durch Missbrauch ihrer noch lebenden oder auch schon toten Körper zu Forschungszwecken. So wurden z.B. die Universitäten mit reichlich anatomischem Anschauungsmaterial – sprich Leichen – aus den Konzentrationslagern versorgt. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es auch in den Kinderfachabteilungen Versuche, Experimente und Forschungsprojekte gab, weshalb der Frage nachzugehen war, ob derartige „Forschung“ auch in Waldniel stattgefunden hat. Einer der ersten diesbezüglichen Hinweise stammt aus dem Vernehmungsprotokoll der Oberpflegerin Anna Wrona vom 3. Januar 1947: „Frage: Wann wurde die Kinderabteilung Waldniel errichtet? Wrona: Dezember 1941. Frage: Was war der Zweck dieser Abteilung? Wrona: Es wurden dort Experimente an Kindern vorgenommen. Frage: Welcher Art waren diese? Wrona: Man verabreichte den Kindern Medikamente.“211 In der Folge beschrieb Anna Wrona allerdings nur noch die Verabreichung von Luminal als Mittel zur Tötung. Es folgten keine weiteren Einzelheiten über die angeblichen Experimente. Dass mit verschiedenen Medikamenten zur Tötung experimentiert wurde, wurde bereits im Zusammenhang mit der Krankenaktenanalyse der kleinen Anneliese B. herausgestellt.212 Ein hierbei durchgeführtes „Experiment“ wäre möglicherweise eine Erklärung dafür, dass die besagten Einträge überhaupt Einzug in das Krankenblatt gehalten haben. Bisher waren keine weiteren Akten mit einer ähnlich präzisen Dokumentation der zur Tötung verabreichten Medikamente aufzufinden. Natürlich stellt sich die Frage, warum Anna Wrona die tödlichen Medikamente auf dem Krankenblatt eingetragen hat. Jeder Mensch mit etwas medizinischem Sachverstand konnte dadurch eindeutig nachweisen, dass Anneliese B. getötet wurde. Warum ging sie also das Risiko eines derart eklatanten 211 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 15−17. 212 Vgl. hierzu die Erläuterungen im Kapitel über Anneliese B.

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7. Kapitel

Verstoßes gegen die befohlene Geheimhaltung ein? War Anna Wrona im Juni 1943 durch die fortwährenden Tötungen bereits so abgestumpft, dass sie hierüber nicht mehr nachdachte? War das Morden für sie bereits so selbstverständlich geworden, dass sie keinen Grund mehr sah die Wahrheit zu verschleiern? Nach dem Rekordmonat Mai 1943 mit seinen 27 getöteten Kindern durchaus eine denkbare Erklärung. Vielleicht stellte die Kombination der Medikamente Somnifen und Luminal aber auch nur einen von mehreren Versuchen dar. Versuche, die unternommen wurden, um die beste und effektivste Mordmethode zu ermitteln. In diesem Fall musste natürlich sowohl die gewählte Dosis, als auch die genaue Bezeichnung der Medikamente festgehalten werden um anschließend das Ergebnis einer solchen „Versuchsreihe“ auswerten zu können. Ist das Krankenblatt der kleinen Ally eventuell nur das einzige einer ganzen Reihe derartiger Krankenblätter, welches versehentlich mit in die „normale“ Patientenakte geheftet wurde? Hierfür spricht zumindest der Umstand, dass in den übrigen vorliegenden Krankenakten des Zeitraumes Mai/Juni 1943 keine derartigen Blätter ohne Medikationseinträge enthalten sind, sondern diese Blätter durchweg fehlen. Da aber nicht alle Akten lückenlos vorliegen, und lediglich etwas mehr als ein Drittel des Gesamtbestandes für die Analyse zur Verfügung stand, ist diese Vermutung mit Fakten nicht ausreichend zu untermauern. Ein weiterer Hinweis in Bezug auf Waldnieler Forschungstätigkeit findet sich bei den Angaben von Walter Creutz aus dem Düsseldorfer Prozess: „Nach einem schweren Luftangriff auf Düsseldorf im Sommer 1943 wurde für die Kinderklinik eine Ausweiche gesucht. Der Angeklagte Creutz verwies den Gauleiter auf die für diesen Zweck gut eingerichtete Kinderfachabteilung in Waldniel, die allerdings – wie er erwähnte – für eine Berliner Parteistelle Versuche mache und deshalb am ehesten durch den Gauleiter zur Freigabe gebracht werden könne.“213 Die präzisesten Hinweise liefert die Aussage der Pflegerein Agnes Sch. vom 28.11.1947: „Ich weiß ferner noch, daß die ganze Aktion in Waldniel groß aufgezogen werden sollte. Es sollte ein Sektionsraum geschaffen werden, in dem die eines unnatürlichen Todes verstorbenen Kinder seziert werden sollten. Der Raum an sich war schon ausgewählt. Er befand sich unter der Kirche. Ein Sektionstisch mit Instrumenten war bereits vorhanden. Es fehlte der allgemeine Wasseranschluß, der die Spülung bei der Sektion am Tisch ermöglicht hätte.“214 213 Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-22, S. 486. 214 Vernehmungsprotokoll im HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 37−38.

„Forschung“ und Experimente

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Tatsächlich fallen an dem Raum unter dem Chor der Anstaltskirche ein paar Besonderheiten auf. Der angesprochene Wasseranschluss ist fertig gestellt worden, denn ein Waschbecken befindet sich noch heute dort. Die recht abenteuerlich über Putz verlegten Leitungen zu diesem Becken lassen darauf schließen, dass dieser Wasseranschluss nachträglich und in großer Eile hergestellt wurde.

Abb. 127: Waschbecken im ehem. Sektionsraum, 2005 Abb. 128: Blick aus dem ehem. Sektionsraum, 2005 Die beiden Räume unter dem Altar der Kirche, die nur von außen zu erreichen sind und keine innere Verbindung zum Gebäude haben, wurden bereits zu Zeiten der Franziskaner-Tertiaren als Totenkammer benutzt. Ungewöhnlich erscheint hierbei, dass der hintere der beiden Räume bis zur Höhe von 1,60 m gefliest ist, was den Charakter eines Sektionsraumes unterstreicht und für eine Totenkammer mit rein religiöser Verwendung keinen Sinn ergibt. Die Angaben der Pflegerin erscheinen also absolut glaubhaft. Ein weiterer Hinweis findet sich in einer Aussage von Dr. Hans Aloys Schmitz vom 18.05.1947: „Ich erinnere mich, daß Wesse von einer Sektion sprach, die er vorgenommen hatte. Das Sektionsprotokoll habe ich nicht gesehen.“215 Aus den Protokollen der Zeugenvernehmungen ist ersichtlich, dass alle Pflegerinnen, Medizinalrat Schmitz und auch Wesses Sekretärin nach den Sezierungen und den möglichen Experimenten und Menschenversuchen gefragt wurden. Seltsamerweise finden sich weder in den Vernehmungen von Hermann und Hildegard Wesse, noch in denen der beiden hauptverantwortlichen Pflegerinnen entsprechende Nachfragen. Nur Schwester Wrona hat sich – wie oben geschildert – dazu geäußert, wobei sie hier nur nach dem 215 Vernehmungsprotokoll im HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, Bl. 36.

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7. Kapitel

Zweck der Kinderfachabteilung, nicht aber nach Versuchen gefragt wurde und von sich aus den Begriff „Experimente“ gebrauchte. Diejenigen, die also wirklich präzise Angaben zu diesem Thema hätten machen können, wurden aus unerklärlichen Gründen nicht dazu befragt. Wesses Sekretärin Lilo G. erinnerte sich, in Waldniel an Sektionen teilgenommen und dabei Protokoll geführt zu haben. Auch sie nannte dabei den Raum unter der Kirche als Sektionsraum, gab allerdings an, sich nur an Sektionen erwachsener Patienten erinnern zu können, die nach ihrer Erinnerung nicht von Hermann Wesse durchgeführt wurden. Es ist dennoch sehr wahrscheinlich, dass Hermann Wesse in diesem Raum ebenfalls Sektionen vorgenommen hat. Welchem Zweck sie dienten und ob sie durch den Reichsausschuss angeordnet waren, ist heute ebenso wenig zu klären wie die Frage, ob Hermann Wesse hier möglicherweise auf eigene Faust nach Erkenntnissen (u.U. für die von ihm geplante Dissertation) geforscht hat. Ein weiteres Mysterium ist die von Professor Creutz erwähnte und angeblich von ihm veranlasste Anschaffung eines Röntgenapparates für die Kinderfachabteilung. Das Gericht wertete dies zu Gunsten von Walter Creutz als Verzögerungstaktik, da „er wusste, dass er im Kriege kein solches Gerät bekommen würde“.216 Aus den Aussagen der Pflegerin Wilma P. ist zu entnehmen, dass sie als Röntgenassistentin nach Waldniel versetzt werden sollte, und man deshalb einen nicht unerheblichen Druck auf sie ausübte.217 Die Versetzung einer Röntgenassistentin nach Waldniel machte aber keinen Sinn, wenn sich dort kein Röntgengerät befand, bzw. man nicht wirklich fest beabsichtigte, in kurzer Frist ein solches Gerät dort bereitzustellen. Damit stellt sich die Frage nach dem Sinn eines Röntgengerätes für eine Kinderfachabteilung. Wie wir wissen, wurden in den Kinderfachabteilungen keine Operationen durchgeführt, und die leitenden Ärzte waren weder Chirurgen noch Orthopäden. Die eigentliche Diagnostik wurde in Bonn durchgeführt, so dass von dort heil- oder therapierbare Fälle gar nicht erst nach Waldniel gelangten. Ludwig Hermeler218 hat die Rolle von Creutz in den „Euthanasie“-Aktivitäten der Rheinprovinz sehr detailliert recherchiert und stellt ebenfalls den Gedankengang an, dass der Beschaffung dieses Röntgengerätes eine andere Bedeutung beigemessen werden müsse, wenn man berücksichtigt, dass in Kinderfachabteilungen an den zur Tötung vorgesehenen, aber noch lebenden Kindern medizinische Untersuchungen und Versuche vorgenommen wurden, zu denen z. B. Pneumenencephalographien219 bei bestimmten

216 Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-19, S. 483 und Nr. 102 b-4, S. 533. 217 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 43–45. 218 Hermeler 2002, S. 199. 219 Immer schmerzhaftes und zuweilen tödlich endendes Verfahren, bei dem durch Lufteinleitung in die Ventrikel (= Hohlräume im Gehirn) auf einem Röntgenbild ein Hydrocephalus oder die genaue Lage eines Hirntumors erkennbar gemacht werden sollte.

„Forschung“ und Experimente

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Hirnschäden gehörten. Hermann Wesse gab 1946 an, er habe an einem zweimonatigen Kursus für Encephalographie teilgenommen.220 Was die Zuführungen des Jahres 1943 betrifft, wurde jedwede Diagnostik und Behandlung zum Wohle der Patienten in der vorgeschalteten Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie vorgenommen. Nach Waldniel kamen die aus dortiger Sicht hoffnungslosen und gänzlich unheilbaren Fälle. Waldniel bewahrte diese dann eine Zeit lang auf, untersuchte nochmals und reichte dann in Zusammenarbeit mit Schmitz aus Bonn das Gutachten nach Berlin ein. Nach dortiger Rückmeldung galt es nur noch zu beseitigen. Was also sollte man in Waldniel mit einem Röntgenapparat? Bestenfalls die spektakulärsten Fälle von Missbildungen und Hirnschädigungen wissenschaftlich auswerten und für die psychiatrische Forschung dokumentieren. Natürlich lag die Überlegung nahe, an den ohnehin hoffnungslosen Fällen riskante, schmerzhafte und eventuell tödlich verlaufende Therapieversuche durchzuführen in der unsinnigen Hoffnung, dadurch möglicherweise „per Zufall“ auf neue Heilungsmethoden zu stoßen. Die in der Psychiatrie der damaligen Zeit angewandten Therapieformen lassen in ihrer Gesamtheit ohnehin oft eine fundierte wissenschaftliche Grundlage vermissen. So basierte die lang geübte Praxis der so genannten „Cardiazol-Schocktherapie“ auf der statistischen Erkenntnis, dass sich unter den an Schizophrenie erkrankten Patienten nahezu keine Epileptiker befanden. Der daraus gezogene Umkehrschluss, mit Epilepsie ließe sich die Schizophrenie behandeln, führte dazu, dass hunderte von Patienten höchst unangenehmen und medizinisch völlig sinnlosen Schocktherapien unterworfen wurden. Der Cardiazol-Schock war letztlich nichts anderes als die künstliche Herbeiführung eines epileptischen Anfalls.221 Es gibt mehrere Berichte, dass den Eltern gegenüber neue Heilungsmethoden als Rechtfertigung der Tötung ihrer Kinder benutzt wurden. Der Arzt teilte den Eltern mit, dass es eine neuartige, aber gleichzeitig auch sehr riskante Behandlungsmethode für ihr Kind gäbe. Man versprach, dass möglicherweise die vollständige Heilung des Kindes erreicht werden könnte, wies andererseits aber auch auf das Risiko hin, dass das Kind an dieser „Therapie“ sterben könnte. Eltern, die in der Hoffnung auf ein Wunder hierzu ihre Einwilligung gaben, hatten dadurch lediglich den Freibrief zur Tötung ihres Kindes unterzeichnet. Kurze Zeit, nachdem die Eltern eingewilligt hatten, wurde ihr Kind getötet, und man teilte ihnen mit, der Therapieversuch sei leider fehlgeschlagen. Für Waldniel sind allerdings derartige Vorgehensweisen nicht dokumentiert. Ebenso wenig sind Versuche zur Entdeckung neuer Heilungsmethoden bekannt. Die Pflegerinnen berichteten von zwei Epidemien, die während des Bestehens der Kinderfachabteilung in Waldniel 220 Bundesarchiv Zentralstelle Ludwigsburg B 162 Nr. 152, Bl. 5. 221 Diese Methode wurde zuerst von Ladislaus Joseph von Meduna eingeführt, war später äußerst umstritten und wird heute nicht mehr angewendet, vgl. u.a.: Huonker 2003, Ebbinghaus u.a. 1984, http://www.cerebromente.org.brn04/historia/ shock_i.htm

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7. Kapitel

zusätzlich zu erhöhten Sterblichkeitsziffern geführt haben. Hierbei handelte es sich um Masern und Keuchhusten. Keine der Befragten konnte Angaben darüber machen, ob diese Epidemien natürlichen Ursprungs waren oder ob sie gezielt herbeigeführt wurden. Indizien für eine künstlich herbeigeführte Epidemie, die bestimmten Forschungszwecken diente, könnten also nur gleichartige Aktivitäten in anderen Kinderfachabteilungen liefern. Hierzu einige Beispiele aus Reichsausschuss-Stationen, in denen Forschungsaktivitäten nachgewiesen sind: Ein Zentrum einschlägiger nationalsozialistischer Forschung war die Psychiatrisch-Neurologische Klinik der Universität Heidelberg unter der Leitung von Professor Carl Schneider. Der Tod und die anschließende „Ausschlachtung“ der Opfer zu wissenschaftlichen Zwecken war klarer Bestandteil der Forschung. Die von Hans Hefelmann als „Reichsschulstation“ bezeichnete Kinderfachabteilung Görden war Heidelberg in punkto Forschung unterstellt. Es gibt eine Reihe von Dokumenten, die belegen, dass die Heidelberger Forschungsstelle einige Kinder nach der Untersuchung in die Kinderfachabteilung Eichberg verlegt und den Akten der noch lebenden Kinder bereits Anweisungen für deren Sektion mitgegeben hat. Zu den erschreckenden Dokumenten aus Eichberg zählt ein Fotoalbum mit sechs Kindern und einem erwachsenen geistig Behinderten, dem die Fotos von den bei der Sektion entnommenen Gehirnen dieser Patienten folgen. Dieses Album hat ein Patient, der als Sektionsgehilfe arbeitete, dem Eichberger Oberarzt Dr. Walter Schmidt zu Weihnachten 1941 geschenkt. Neben solchen makaberen Auswüchsen einer entmenschlichten Forschung gibt es eine Vielzahl von Belegen dafür, dass in erster Linie die Gehirne der Opfer zu Forschungszwecken entnommen wurden. In der Klinik „Wiesengrund“ war man hingegen darauf spezialisiert, TuberkuloseImpfexperimente vorzunehmen. Die vom Reichsausschuss zur „Therapie“ freigegebenen Kinder wurden mit abgetöteten Tbc-Bakterien geimpft, worauf sich riesige, unvorstellbar schmerzhafte Eiterabszesse bildeten. In den Krankenakten finden sich durchgängig Vermerke über starke Unruhe, welche in vielen Fällen mit Luminal behandelt wurde. Bei den Höllenqualen, die diese Kinder durchlitten haben müssen, ist „Unruhe“ mehr als natürlich. Neben diesen Notizen finden sich noch Vermerke wie diese in den Krankenblättern: „Abszess aufgegangen, eine ganze Eiterschale von Eiter herausgenommen.“ − „Impfwunde ist entzündet und eitert stark.“ Nachdem die Kinder dieses sinnlose Martyrium teilweise über mehrere Monate hinweg durchgemacht hatten, verstarben sie (wie in Waldniel) an „akutem Magen u. Darmkatarrh bei allgemeiner Abzehrung“, „Kreis­ laufschwäche“ oder in einigen Fällen ebenfalls an „Masern bei allgemeiner Auszehrung“. Eines der schlimmsten Dokumente aus diesem Bereich ist eine Fotografie, die Professor Berthold Ostertag kurz vor der Sektion eines ermordeten Kindes zeigt, wobei er fröhlich in die Kamera lächelt.

„Forschung“ und Experimente

217

Abb. 129: Professor Ostertag bei einer Sektion in der Anstalt Wiesengrund im Sudetenland Richten wir unser Augenmerk auf den Hintergrund des Bildes, so fällt auf, dass die Beschaffenheit dieses Raumes durchaus Ähnlichkeit mit dem Raum in Waldniel aufweist. Ein weiteres kleines Indiz dafür, dass die Angaben über den Sektionsraum in Waldniel zutreffend sind. Dass im Bereich der Tuberkulose und des Typhus im NS-Staat an vielen Stellen geforscht wurde, ist anhand einer Vielzahl von Dokumenten belegt. Hierzu wurden sowohl Häftlinge in Konzentrationslagern, als auch Kinder in Kinderfachabteilungen missbraucht. Hinweise auf Forschungsaktivitäten, die sich mit Masern oder Keuchhusten beschäftigen, finden sich hingegen keine. Wenngleich hierdurch nicht der Beweis dafür erbracht ist, dass die Epidemien in der Kinderfachabteilung Waldniel natürlichen Ursprungs waren (sie könnten auch künstlich herbeigeführt worden sein um die Sterblichkeit zu erhöhen), so ist dennoch mit einiger Sicherheit auszuschließen, dass es sich um experimentelle Infektionen gehandelt hat. Hermann Wesse besaß, anders als Heinze oder Schneider, nicht die Erfahrung und Reputation die es gerechtfertigt hätte, ihm die Verantwortung für einen Forschungsauftrag zu übertragen. Zudem wäre eine Forschungsreihe in der recht kurzen Zeitspanne von September 1942 bis Juni 1943 auch

218

7. Kapitel

kaum umzusetzen gewesen. Anders liegen die Dinge bei der renommierten Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie unter Hans Aloys Schmitz. Einerseits besaß diese Einrichtung einen Ruf, der immerhin mit Heidelberg vergleichbar war; andererseits verfügte ihr Leiter über die entsprechende Berufserfahrung und ein hohes Ansehen in seinem Fach. Beim Studium der Waldnieler und Bonner Krankenakten drängt sich eindeutig der Eindruck auf, dass Waldniel das Pendant zur diagnostizierenden Bonner Einrichtung darstellte, wohin Schmitz alle Fälle, die er in Bonn nicht heilen konnte und die er als hoffnungslos ansah, zur Vernichtung abliefern konnte. Der nächste und übernächste Schritt, nämlich die Leichen der getöteten Kinder für die Forschung zu nutzen und an den noch lebenden Kindern riskante medizinische Versuche durchzuführen, ist sicherlich auch in Waldniel Gegenstand der Planungen gewesen. Die Zusammenarbeit zwischen Bonn und Waldniel zeigt hier auffällige Parallelen zu der Verflechtung von Heidelberg und Eichberg. Zu Forschungsaktivitäten, wie sie für Eichberg nachgewiesen sind, ist es in Waldniel wohl letztlich aufgrund der Kriegsereignisse nicht mehr gekommen. Die Aussage der Schwester, dass die Sache in Waldniel „groß aufgezogen“ werden sollte und die immer wieder, wenn auch nie konkret, in den Aussagen auftauchenden Begriffe „Experimente“ und „Versuche“ belegen, dass entsprechende Gerüchte bereits unter dem Personal kursierten und legen zumindest die Vermutung nahe, dass in Waldniel Forschungen geplant waren. Ob und in welchem Umfang Dr. Hans Aloys Schmitz und die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie hierbei eine Rolle gespielt haben und letztlich daran beteiligt gewesen wären, ist anhand der bisher verfügbaren Unterlagen leider nicht zu belegen.

8. DER „GUTE TOD“?

E

s existieren höchst unterschiedliche Beschreibungen über das Sterben der Kinder. Bei den Gerichtsprozessen zu den Tötungen der erwachsenen Geisteskranken wurde unter Anderem die abstruse Behauptung aufgestellt, der Tod in der Gaskammer sei „eine der humansten Tötungsarten“222 und in den Gerichtsurteilen finden sich Formulierungen wie diese: „Unter Einwirkung des Gases wurden die Eingeschlossenen, ohne daß sie irgendwelche körperlichen Schmerzen verspürten, nach einigen Minuten bewußtlos […].“223 In gleicher Art wurde das Sterben der Kinder vom Personal der Kinderfachabteilungen häufig als „ruhiges Einschlafen“, aus dem die Kinder einfach nicht mehr aufwachten, beschrieben. Die Aussagen derer, die nicht angeklagt waren und daher kein Interesse daran hatten Dinge zu beschönigen, lesen sich ganz anders: Anna D.: „Es geschah während meiner Tätigkeit nichts, was auf eine Therapie hätte schließen lassen. Ebenfalls bekamen die Kinder so wenig zu essen, daß des öfteren Beschwerden bei der Erstpflegerin Wrona von Seiten der Pflegerinnen gemacht wurden. […] Ich erinnere mich an einen Fall, daß ein Kind nach Verabreichung von Medikamenten einem Erstickungstode erlag, wobei sich der ganze Körper dunkelblau verfärbte.“ Christine E.: „Die für uns erkennbare Todesursache war in sehr vielen Fällen Lungenentzündung. In diesen Fällen waren die Kinder wenige Tage auffallend stark verschleimt. Unmittelbar hiernach verstarben sie.“ Agnes S.: „Für uns alle war klar erkennbar, daß die Kinder in großer Zahl an den gleichen Symptomen starben. Wenn ich nach der Eigenart dieser Symptome gefragt werde, so erwidere ich darauf, daß die Lunge der infrage kommenden Kinder durch Nase und Mund auskochte. Dies geschah wiederum in der Weise, daß immer wieder gelblich-grüner Schleim und Eiter durch Nase und Mund trat. Unmittelbar hiernach trat der Tod ein.“224 Es existieren auch einige Aussagen von Tätern, die den Deckmantel der Beschönigung zuweilen für einen kurzen Augenblick lüfteten: Dr. Fritz Kühnke (Anstalt Eglfing-Haar): „Die Tötung durch Verabfolgung von Luminaltabletten dauerte etwa drei bis vier Tage. Ich räume ein, daß bei dieser Art 222 LG Frankfurt Main, Urteil vom 23.05.1967, Verfahren: Ks 1/66, in: Klee 2004, S. 215. 223 LG Göttingen, Urteil vom 02.12.1953, Verfahren: 6 Ks 1/53, in: Rüter Bd. XI, lfd. Nr. 381. 224 Vernehmungsprotokolle im HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132.

220

8. Kapitel

Abb. 130: Bild aus der Krankenakte einer Kinderfachabteilung: Kommentar: „5 1/2 J[ahre] – nicht gehfähig“ der Tötung die Kinder nicht ständig tief bewußtlos waren. Wenn ihnen eine neue Luminalgabe verabfolgt wurde mußten sie mindestens soweit geweckt werden, daß sie in der Lage waren das Medikament zu schlucken. Es kann durchaus sein, daß die Kinder bei dieser Art der Tötung, die letztlich durch künstliche Herbeiführung einer Lungenentzündung bewirkt wurde, Beschwerden und Schmerzen gehabt haben, wenn sie aus der Bewußtlosigkeit geweckt wurden.“225 Dr. Heinrich Gross (Anstalt Am Spiegelgrund): „Frage: Wie sind die Kinder gestorben? G: Eing’schlafen. Frage: Und warum hieß die Todesursache Lungenentzündung? G: Die kriegt man, wenn man da längere Zeit […] übermäßig […]. Frage: Wurden trotz Kälte die Fenster geöffnet um die Kinder zu schwächen? G: Ja.“226 Dr. Pfannmüller (Eglfing-Haar):227 „Ein Kind mit einem schweren Wasserkopf und einer mangelhaften Lebensfähigkeit kann mit einer Dosis Luminal schon einschlafen, die die Maximaldosis gar nicht erreicht, bei einem Kind mit besserer Herztätigkeit ist mehr Luminal notwendig. Das Kind stirbt nicht an einer Vergiftung – das habe ich schon einmal zurückgewiesen. Es stirbt lediglich an dem Eintreten einer Stauung in den Lungen, also Kreislauf- und Lungenstörungen, daran stirbt es. Ich habe den 225 Aussage vor dem LG München, Verfahren 1 c Js 382/61, zit. nach Klee 2001, S. 307. 226 Aufzeichnung eines Interviews mit Dr. Heinrich Gross, 1998, Ethikkommission, Österreich. 227 Platen-Hallermund 1948, S. 26.

Der „gute Tod“?

221

Angehörigen gesagt, daß es zweckmäßig ist, das Kind zu besuchen und die Angehörigen kamen dann auch – das Kind wacht ja in den ersten Tagen immer noch wieder auf, bevor die kumulierende Wirkung des Luminals beim Kinde eintritt […].“

Abb. 131: Narkotisiertes Kind in der Kinderfachabteilung Görden Auch in Waldniel wurde das Verfahren praktiziert, den Eltern kurz nach Beginn der „Behandlung“ schriftlich mitzuteilen, dass ihr Kind erkrankt sei und Anlass zu ernster Sorge bestehe. Diese Briefe wurden sowohl von Hermann Wesse, als auch teilweise von der Oberpflegerin Wrona unterzeichnet. Hierdurch wollte man erreichen, dass der Tod der Kinder die Eltern weniger überraschend traf und gleichzeitig den Eindruck erwecken, man habe sich in der Kinderfachabteilung nach besten Kräften um die Kinder bemüht und auch den Angehörigen umgehend Nachricht gegeben. Je nach Mentalität der Angehörigen wurde hierbei ein sehr unterschiedlicher Aufwand betrieben. So sind in den Akten von Kindern, die sich bereits zuvor schon lange in Anstaltspflege befunden hatten und keinen Besuch von Angehörigen erhielten, oft gar keine Mitteilungen enthalten. In anderen Fällen wurde den Angehörigen lediglich eine wenig mitfühlende, zum Teil nur aus einem einzigen Satz bestehende Todesmitteilung zugeschickt. Der kurzfristig angesetzte Bestattungstermin wurde oftmals im gleichen Atemzug mit angegeben. Waren die Eltern um ihr behindertes Kind besorgt und so weit gekommen, dass sie persönlich bis zu Hermann Wesse vorgedrungen waren, wurde in Einzelfällen ein fast grotesk anmutendes Schauspiel inszeniert. So zum Beispiel im Falle des Kindes Helga R., dessen Einweisung auf Betreiben des Gesundheitsamtes Wesel erfolgte:228 228 Krankenakte Helga R., in: LVR-Kliniken Viersen.

222

8. Kapitel

Abb. 132: Benachrichtigung des Gesundheitsamtes bzgl. Einweisung Helga R. Die Mutter, die ihr Kind am 02.03.1943 persönlich nach Waldniel gebracht hatte, erhielt kurz darauf von Hermann Wesse die Nachricht, Helga R. sei noch am selben Abend an einer fieberhaften Bronchitis erkrankt.

Abb. 133: Benachrichtigung der Angehörigen von Helga R.

Der „gute Tod“?

223

Üblicherweise wäre daraufhin einige Tage später die Mitteilung über den Tod des Kindes erfolgt. Im Falle der kleinen Helga ergab sich jedoch eine überraschend positive Wendung: Hermann Wesse schrieb am 09.03.1943, dass die Erkrankung völlig abgeklungen sei.

Abb. 134: Schreiben von Hermann Wesse an die Angehörigen von Helga R. vom 09.03.1943 Kurze Zeit darauf erkrankte das Kind allerdings erneut, wie aus dem Schreiben vom 25.03. an die Angehörigen hervorgeht.

Abb. 135: Benachrichtigung der Angehörigen von Helga R. vom 25.03.1943

8. Kapitel

224

21 Tage später (verglichen mit anderen Fällen ein ungewöhnlich langer Zeitraum) war das Kind tot. Die Todesursache lautete, passend zum vorher beschriebenen Krankheitsbild, „fieberhafter Magen-Darmkatarrh“. Das Kind, das zudem an starken körperlichen Missbildungen der Extremitäten litt, war in Bezug auf die Reichsausschuss-Kriterien ein unzweifelhafter Fall. Eine Zurückstellung durch Verfügung aus Berlin scheidet mit hoher Wahrscheinlichkeit aus. Dem Schriftverkehr der Akte ist zu entnehmen, dass die Mutter liebevoll um ihr Kind besorgt war. In Bezug auf die wirklichen Aufgaben der „Kinderfachabteilung“ scheint sie völlig ahnungslos gewesen zu sein.229 Es hat den Anschein, als habe Hermann Wesse es verstanden, ihr recht überzeugend den fürsorglichen Kinderarzt vorzuspielen. Trotzdem ist der betriebene Aufwand im Vergleich mit anderen Fällen ungewöhnlich hoch. Die endgültige Nachricht über den Tod des Kindes ist in der Akte im Übrigen nicht enthalten. Im Normalfall war der Zeitraum zwischen der Mitteilung über die Erkrankung und dem Tod des Kindes so knapp bemessen, dass die Eltern ihre Kinder bereits tot vorfanden, wenn sie zum Besuch in der Kinderfachabteilung erschienen. In vielen Fällen war auch die Bestattung aufgrund von angeblichen „seuchenpolizeilichen Bestimmungen“ bereits durchgeführt worden, so dass die Eltern keine Gelegenheit mehr hatten die Leiche ihres Kindes noch einmal zu sehen. Man wollte offensichtlich vermeiden, dass die Eltern die teilweise bis zum Gerippe abgemagerten Körper ihrer Kinder zu sehen bekamen und hierüber berichten konnten. Der Einsatz gezielter Unterernährung zur Schwächung der Kinder konnte bereits nachgewiesen werden.230 Die Auswertung der vorliegenden Krankenakten zeigt, dass Entkräftung oder „Auszehrung“ überraschenderweise die häufigste aller Todesursachen war: Todesursache:

Anzahl:

In % der vorl. Akten:

Marasmus Brechdurchfall Pneumonie Akute Herz- und Kreislaufschwäche Hirnschwellung

13  9  7  6  1

36 % 25 % 19 % 17 %   3%

Der Vergleich mit einer Statistik der Kinderfachabteilung Ueckermünde zeigt bei einer Auswertung von 21 Akten nachweislich in dieser Kinderfachabteilung verstorbener Kinder ebenfalls die „Entkräftung“ an erster Stelle, gefolgt von „Lungenentzündung“, wobei die Todesursache „Brechdurchfall“ in Ueckermünde keine Verwendung fand.231 229 Die Schreiben der Mutter aus der Krankenakte legen diese Schlussfolgerung nahe. 230 Vgl. Schriftverkehr zum Fall Else H. in diesem Buch. 231 Bernhardt 1994, S. 118.

Der „gute Tod“?

225

Ungeachtet der Tatsache, dass die angegebenen Todesursachen ohnehin keinen sicheren Rückschluss auf die wirklichen Gründe für das Versterben eines Kindes in einer dieser Abteilungen geben können, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Verabreichung von Medikamenten sich in vielen Fällen durch Hunger und Entkräftung bereits erübrigt hatte. Wie sehr ein Kind durch den Aufenthalt in einer Kinderfachabteilung entkräftet werden konnte, lässt sich anhand des Falles Anna C. aus Tüddern veranschaulichen. Anna C. war eines der Kinder, die mit dem ersten Transport am 16.12.1941 nach Waldniel verlegt wurden. Sie kam allerdings nicht aus Oberhausen, sondern von der Heil- und Pflegeanstalt „Kloster Maria-Hilf“ in Gangelt. Dies beweist, dass der Starttermin 16.12.1941 relativ groß angelegt und logistisch offenbar von längerer Hand geplant wurde. An diesem Tag kam die Erstbelegung nach Waldniel, und neben dem großen Transport aus Oberhausen erfolgten noch weitere Verlegungen aus anderen Anstalten. Bei ihrer Ankunft in Waldniel war Anna elfeinhalb Jahre alt und befand sich seit Juli 1940 in Anstaltspflege. Bereits in Gangelt wurde sie als „sehr wohlgenährtes Kind“ beschrieben.232 Anna konnte nicht sprechen, nicht ohne Hilfe gehen oder stehen. Sie war „unsauber“, konnte nicht allein essen, sondern musste „gelöffelt“ werden. Den Einträgen im Gangelter Krankenblatt ist zu entnehmen, dass Anna C. über einen „guten Appetit“ verfügte und „körperlich wohlauf“ war. Ungeachtet ihrer geistigen Behinderung ging es ihr in Gangelt offenbar gut: 20.1.1941: – „Sieht gut aus, lacht viel, offensichtlich sehr zufrieden.“ − 01.11.1941: „bedarf sehr sorgfältiger Pflege. Freundliches Kind, lacht viel. Gut genährt – schätzungsweise 32,0 Kg.“ Im April 1942 wurde in Waldniel folgende Feststellung eingetragen: „Körperliches Allgemeinbefinden gut. Spricht kein Wort, hat kein Sprachverständnis, hat den ganzen Tag ein leeres Lachen. Tag und Nacht unrein.“ Im Juli 1942 wurde „gleiches Zustandsbild“ vermerkt und auf dem Meldebogen des gleichen Monats steht der Hinweis: „Kein Besuch.“ Auch in diesem Fall ist auffällig, dass zwar ein guter körperlicher Zustand diagnostiziert wurde, aber Annas Fröhlichkeit und Freundlichkeit verschwunden waren und einem „leeren Lachen“ Platz gemacht hatten.233 Der Hinweis aus Gangelt, dass Kind wiege schätzungsweise 32 Kg, ist die einzige in der Akte vorhandene Gewichtsangabe. Eine Gewichtstabelle liegt der Krankenakte zwar bei, auf dieser wurde allerdings bereits in Gangelt der Hinweis „kann nicht gewogen werden“ vermerkt. Folgerichtig wurde wohl in Waldniel gar nicht erst versucht Anna C. zu wiegen. Angaben darüber, warum die Pa­tientin nicht gewogen werden konnte, fehlen. Der Prozess der körperlichen Entkräftung lässt sich demnach nicht anhand von Gewichtsangaben nachvollziehen. Erst ein 232 Folgende Angaben aus der Krankenakte Anna C., in: LVR-Kliniken Viersen. 233 Vgl. hierzu den Fall Margarethe P. im Kapitel „Opfer und Angehörige“ in diesem Buch.

226

8. Kapitel

Jahr später, am 18.05.1943, erfolgte der nächste Eintrag in Annas Krankenakte: „Körperlich zurückgegangen, mässiger Ernährungs- und Kräftezustand, reduziertes Unterhautfettgewebe, rachitisch stark deformierter Thorax. Das Kind liegt ständig zu Bett, ist völlig stumpf, uninteressiert, hat keinerlei Spieltrieb, kein Sprachverständnis, ist völlig hilflos.“ Danach ging alles sehr schnell: „10.6.1943 – geht körperlich sehr zurück trotz genügender Nahrungsaufnahme, ist marastisch. − 14.6.1943 – ist seit heute in der Agonie. − 15.6.1943 – Heute gegen 4:20 Uhr – Exitus letalis. C.M.: Marasmus.“ Anna C. war in den eineinhalb Jahren in der Kinderfachabteilung Waldniel von einem pummeligen und fröhlichen Kind zu einem abgemagerten und apathischen Wesen geworden. Bezeichnend ist, dass es sich hierbei nicht um ein Kleinkind oder einen Säugling, sondern um ein bereits zwölfjähriges Mädchen handelte, welches bei seiner Ankunft in Waldniel körperlich gesund und gut genährt war. Als Hermann Wesse im Oktober 1942 mit seiner „Arbeit“ in Waldniel begann, hatte Anna C. bereits zehn Monate Mangelernährung hinter sich. Im Gegensatz zu Else H. bekam Anna nur selten Besuch von Angehörigen. Niemand beschwerte sich darüber, dass Anna in Waldniel langsam verhungerte und zusehends verfiel. Es gab daher für Wesse auch keinen Grund ein Gutachten zu erstellen und den Vorgang mit Medikamenten zu beschleunigen. Er brauchte einfach nur abzuwarten. Die Einträge in diesem Krankenblatt sind mit Schreibmaschine vorgenommen worden, und der Zeilenabstand ist sowohl bei den Einträgen „April und Juli 42“, als auch bei den zwei Blöcken des Jahres 1943 absolut identisch. Entweder man verfügte in Waldniel über die Fähigkeit, ein Blatt Papier immer mit dem exakt gleichen Abstand in die Maschine einzuspannen, oder die Einträge wurden jeweils nachträglich in einem Durchgang vorgenommen. Es findet sich kein Hinweis auf eine Behandlung des Kindes. Weder die Verabreichung von Medikamenten, noch irgendeine sonstige therapeutische Maßnahme wurde vermerkt. Im Falle von Anna C. hatte der Reichsausschuss dafür gesorgt, dass alle älteren Geschwister, die die Mutter bei der Pflege des behinderten Kindes hätten unterstützen können, zwangsweise in Arbeit vermittelt wurden.234 Der Mutter war also keine andere Wahl geblieben, als Anna in eine Anstalt zu geben. Annas jüngere Schwester, die heute in den Niederlanden lebt, berichtete, dass die Mutter und die älteren Geschwister versuchten Anna C. „so oft es eben ging“ zu besuchen, was allerdings unter den damaligen Bedingungen sehr schwer war. Die Entfernung zwischen Tüddern und Waldniel beträgt insgesamt nur etwa 60 Kilometer. Da die Strecke aber über zahlreiche kleine Dörfer führt, benötigt man dafür auch mit einem heutigen PKW noch über eine Stunde. Eine direkte Bus- oder Bahnverbindung existierte nicht, und so glich die Reise unter den 234 Vgl. hierzu die beschriebene Verfahrensweise über die Einweisung der Kinder im Kapitel „Die Kinderfachabteilung Waldniel“.

Der „gute Tod“?

227

damaligen Umständen einer kleinen Odyssee. Kurz vor Annas Tod machten sich zwei ältere Schwestern dennoch auf den Weg nach Waldniel um Anna zu besuchen. Als sie die Anstalt erreichten, wurde ihnen der Zutritt verwehrt, wahrscheinlich mit Hinweis auf die mehrfach erwähnte Besuchssperre wegen der Masernepidemie. Die Schwestern ließen sich nicht abweisen und bestanden darauf Anna C. zu sehen. Sie wollten nicht nach Hause fahren, ohne der Mutter aus eigener Anschauung über den Zustand des Kindes berichten zu können. Deshalb blieben sie hartnäckig: „Jetzt sind wir so weit gefahren − jetzt wollen wir unsere Schwester auch sehen − wir gehen nicht eher hier weg!“ Daraufhin wurde ihnen das Kind kurz gebracht. Anna C. war nackt, nur in eine grobe Decke gehüllt. Sie war schrecklich abgemagert, vollkommen teilnahmslos und apathisch. Die Geschwister hatten nicht den Mut noch weitere Fragen zu stellen oder wegen des elenden Zustandes ihrer Schwester aufzubegehren. Es hatte sie schon Überwindung gekostet, so lange standhaft zu bleiben, bis man ihnen ihre Schwester zeigte. Auf dem Heimweg äußerte die ältere der beiden bereits den Verdacht: „Die sehen wir nicht mehr lebend wieder […].“ Anna C. wurde nicht in Waldniel auf dem Anstaltsfriedhof bestattet. Ihre Schwester berichtete, dass die Familie mit vereinten Kräften alles getan hat, um die erforderlichen 300 Reichsmark zusammen zu bekommen, damit Annas Leichnam nach Tüddern überführt werden konnte. Ihre Mutter öffnete den Sarg und war erschüttert über den ausgemergelten und völlig abgezehrten Leichnam des Kindes. Anna muss an Infektionskrankheiten gelitten haben, denn ihre Schwester, die ebenfalls in den Sarg sah und den Leichnam berührte, bekam danach eine Leichenvergiftung und musste im Krankenhaus behandelt werden.235 Die Angabe, dass Anna C. unbekleidet war, korrespondiert in auffälliger Weise mit dem Vermerk über den Besuch der Mutter des Kindes Fritz S.236 Auch er war stark abgemagert und beim Eintreffen der Mutter offenbar nackt. Beide Kinder waren laut Angaben aus den Krankenakten „unrein“ und der Mangel an Wäsche war den Berichten der Pflegerinnen zufolge ein zentrales Problem im Tagesablauf der Kinderfachabteilung. Man machte sich demnach also nicht mehr die Mühe die Kinder, die kurz vor dem Ableben standen noch anzukleiden, sondern ließ sie nackt in ihren Betten liegen und auf den Tod warten? Wie bereits in anderen Fällen festzustellen war, investierte Hermann Wesse in seine Diagnostik nicht sehr viel Einfallsreichtum, sondern benutzte immer wiederkehrende Formulierungen. Dies erwies sich bei der Entzifferung der handschriftlichen Einträge als äußerst hilfreich, da sich identische Einträge in mehreren Krankenakten fanden und das jeweils nicht zu entziffernde Wort in anderen Akten zum Teil leserlicher geschrieben war. Es ist naheliegend, dass Wesse sich auch bei der Auswahl der angegebenen Todesursachen bestimmter Schemata bedient hat, weswegen diese eine genauere Betrachtung verdienen. 235 Diese Schilderungen entstammen einem Gespräch des Autors mit Anna C.’s jüngster Schwester im August 2010. 236 S. oben Kapitel 6, „Alltag in der Kinderfachabteilung“.

8. Kapitel

228

Die folgende Tabelle umfasst alle 99 Todesfälle der Kinderfachabteilung Waldniel und gibt Einblick in die Häufigkeit der jeweils verwendeten Todesursache:237 Todesursache

Anzahl

Prozentualer Anteil

Marasmus Pneumonie Akute Herz- u. Kreislaufschwäche Brechdurchfall / Magen- Darmkatarrh Sonstige

38 29 14 10  8

38,4 % 29,3 % 14,1 % 10,1 %   8,1 %

Zunächst ist augenscheinlich auch bei dieser Gesamtbetrachtung die weitaus häufigste Todesursache nicht Lungenentzündung (Pneumonie), sondern Entkräftung /Auszehrung (Marasmus). In den Todesfällen dieser ersten beiden Kategorien, wurde in den Krankenakten jeweils ein mehrtägiger Krankheitsverlauf verzeichnet, der nach drei bis fünf Tagen zum Tode des Kindes führte. Die Fälle mit „akuter Herz- und Kreislaufschwäche“ verzeichnen jeweils nur einen Eintrag, der den Tod des Kindes feststellt und gelegentlich die Gabe von „Herz- und Kreislaufmittel“ vermerkt, meistens ohne dass angegeben wäre um welche Mittel es sich hierbei gehandelt hat. Auffällig ist weiterhin, dass immerhin 10 Prozent der Kinder an „Brechdurchfall“ oder „fieberhaftem Magen-Darmkatarrh“ starben. Die übrigen acht Fälle enthalten jeweils Todesursachen, die sich aus der in den Krankenblättern vermerkten Vorgeschichte ergeben (z. B. Epilepsie) und wohl aufgrund der einfachen Plausibilität im Zusammenhang mit dem Krankheitsbild gewählt wurden. Ging aus den Akten eine Erkrankung hervor, die eine dazu passende Todesursache bot, so brauchte der Arzt sich nicht die Mühe machen eine fingierte Todesursache mit entsprechendem Krankheitsverlauf zu erfinden. Unterstellen wir eine einheitliche Vorgehensweise, so wären die Fälle von „Marasmus“ diejenigen, die mit Unterernährung – sprich Verhungern – zu erklären sind. In den Fällen von Pneumonie würde es sich um Tötungen nach dem Luminal-Schema handeln, was der gängigen Methode im Reichsausschuss-Verfahren entspräche. Die Fälle von „akuter Herz- und Kreislaufschwäche“ wären erklärbar, wenn es sich bei diesen um Tötungen mittels Injektionen gehandelt hat. Dass ein fieberhafter Magen-Darmkatarrh oder „Brechdurchfall“ keine ausreichende Diagnose für eine Todesursache sein kann, sondern jeweils die Krankheit zu benennen gewesen wäre, die den Tod unmittelbar herbeigeführt hat, wurde bereits durch das Gutachten des Direktors des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Münster im Falle des Kindes Heinrich B. eindeutig herausgestellt.238 237 Todesbescheinigungen, in: Kreisarchiv Kempen, Bestand Nr. 881, Gemeindearchiv Waldniel. 238 Gutachten Prof. Dr. B. Brinkmann vom 12.11.1991, in Staatsarchiv Münster 45 Js 47/89, Bd. 1, Bl. 19–66.

Der „gute Tod“?

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Diese zehn Fälle sind also, ebenso wie die acht Fälle mit sonstigen Todesursachen, bei den weiteren Überlegungen außer Acht zu lassen. An dieser Stelle erscheint es angebracht, sich nun noch einmal einige Fakten aus den Unterlagen und Zeugenvernehmungen zu vergegenwärtigen: Schwester Maria Müller (Kalmenhof/Idstein) sagte aus, man habe die Kinder größtenteils verhungern lassen. Mehrere Pflegerinnen haben nach dem Krieg Angaben über die unzureichende Verpflegung der Kinder gemacht. Aus der Korrespondenz mit Angehörigen geht hervor, dass die Kinder ständig abnahmen und bei den Besuchen der Eltern völlig ausgehungert waren. Dies alles erklärt den überwiegenden Anteil der Todesursache „Marasmus“ für Waldniel und lässt in diesen Fällen einen Tod durch Verhungern annehmen. Die durch die Gabe von Luminal künstlich herbeigeführten Lungenentzündungen entsprechen dem klassischen Tötungsvorgang, so wie Hermann Wesse ihn sicherlich in Brandenburg-Görden beigebracht bekam.

Abb. 136: Eigentlich ein Medikament zur Epilepsiebehandlung – in den Kinderfachabteilungen durch Überdosierung das Mittel zur Ermordung von Kindern: Luminal Auch die Vernehmungsprotokolle des Pflegepersonals geben als häufigste Todesursache durchweg Lungenentzündung an. Diese Todesfälle können insofern als eindeutig

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8. Kapitel

zuzuordnen angesehen werden. Interessanterweise entspricht die Gesamtzahl ziemlich exakt dem, was Hermann Wesse im Düsseldorfer Euthanasieprozess eingeräumt und zugegeben hat. Er sprach damals davon, dass er etwa 30 Kinder „auf die angegebene Weise“ (= Tod durch Luminal-Überdosierung) eingeschläfert habe.239 Gehen wir davon aus, dass es sich bei den 29 Fällen von Pneumonie um Einschläferungen nach dem Luminal-Schema handelt, so verfügte Hermann Wesse 1948 über ein erstaunlich präzises Erinnerungsvermögen und hat dem Gericht gegenüber vollkommen wahrheitsgemäße Angaben gemacht. Es ist einleuchtend, dass er keine Veranlassung hatte, 62 weitere Fälle, bei denen er aller Wahrscheinlichkeit nach mittels Hunger und Injektionen getötet hatte, vor Gericht zu erwähnen, so lange er nicht explizit danach gefragt wurde. Wie schon bei der Frage nach Wesses Dissertation, der Tätigkeit in Uchtspringe oder seiner Euthanasie-Verstrickung vor der Zeit in Kalmenhof erleben wir, dass Hermann Wesse Tatbestände weder leugnete, noch verfälschte, sondern lediglich den Teil der Wahrheit unerwähnt ließ, der nicht konkret thematisiert bzw. nach dem er nicht ausdrücklich gefragt wurde. Ein Grund mehr, seinen Aussagen in Bezug auf seine Vorgesetzten und die übrigen Beteiligten mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als die Gerichte dies 1947/48 getan haben. Wer an einer Lungenentzündung stirbt, erleidet keinen „guten“ oder „leichten“ Tod, auch wenn er dabei größtenteils narkotisiert ist. Auch wer verhungert, hat sicher keinen „guten Tod“, sondern vielmehr einen sehr quälenden. Wer durch eine Injektion einen Herzstillstand erleidet, hat möglicherweise den schnellsten und ggf. schmerzlosesten, sicherlich aber keinen „guten“ Tod. Zeugen, die Vergasungen von Geisteskranken mit angesehen haben, mussten sich nach kurzer Zeit abwenden, da der Anblick so grauenerregend war, dass ihnen schlecht wurde240 – so viel zu „einer der humansten Tötungsarten“. Schwester Maria W. war auch nach über 60 Jahren zeitlichen Abstands keine Detailschilderung in Bezug auf den Tod der Kinder zu entlocken. Auch sie hatte nur die Erinnerung, dass jeden Morgen Kinder tot in ihren Bettchen lagen. Sicherlich hat sie mehr gesehen und erlebt als das. Sie war aber auch nach so langer Zeit offenbar noch nicht in der Lage, mehr von der grausamen Realität ihrer eigenen Erlebnisse an sich heran zu lassen. Fakt ist am Ende dieses Kapitels nur, dass die Kinder in den Kinderfachabteilungen und die Opfer der Aktion „T4“ eines qualvollen Todes starben und der Begriff „Euthanasie“ seither untrennbar mit Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit assoziiert werden muss.

239 Urteil des LG Düsseldorf vom 24.11.1948, 8 KLs 8/48, in: Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-56, S. 520. 240 Klee 2001, S. 148f.

9. DIE VORGESETZTEN UND IHRE KONKRETEN VERSTRICKUNGEN IN DIE KINDER-„EUTHANASIE“ IN WALDNIEL, DIE STRAFVERFOLGUNG

Heinrich („Heinz“) Haake

N

achdem eingangs die oberste Führungsspitze der Krankenmordaktion betrachtet und in der Folge das Augenmerk auf Ärzte, Pflegepersonal, Opfer und Angehörige gerichtet wurde, soll nun die unmittelbar übergeordnete Führungsebene der Kinderfachabteilung Waldniel genauer untersucht werden. An oberster Stelle dieser Regionalhierarchie stand der Landeshauptmann der Rheinprovinz Heinrich (Heinz) Haake. Haake, 1892 in Köln am Rhein geboren, absolvierte nach dem Abitur eine Banklehre und arbeitete bis 1924 bei der Deutschen Bank, Filiale Köln. 1914 nahm er als Kriegsfreiwilliger am ersten Weltkrieg teil. Bei Langemarck in Belgien wurde er verwundet und galt in der Folge als schwer kriegsbeschädigt. 1919 kehrte er nach Köln zurück, wo er ein Jahr später in die Deutsch-Völkische Einheitspartei eintrat. Ungefähr zur gleichen Zeit trat er dem „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“ bei. 1921 wurde er Mitglied der NSDAP und erhielt die Mitgliedsnummer 13328. Haake zählte somit, mit einer Mitgliedsnummer unter 100.000 und dem Parteibeitritt vor 1923, zur ersten Auswahl der so genannten „alten Kämpfer“. Nachdem die NSDAP in Folge des misslungenen Putschversuchs in München 1924 vorübergehend verboten wurde, wechselte Haake zur Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung, deren einziger Landtagsabgeordneter im Preußischen Landtag er 1924 wurde. Mit der Neugründung der NSDAP wurde Haake 1925 zunächst Ortsgruppenleiter in Köln und am 27.03.1925 Gauleiter des Gaues Rheinland-Süd. Mit Beginn der Legislaturperiode 1929 saß er zusammen mit Robert Ley, Hinrich Lohse, Karl Kaufmann, Hanns Kerrl und Wilhelm Kube (die so genannten „Preußen-Sechs“) im preußischen Landtag. Unter dem Schutz dieses Mandats avancierte er zum bedeutenden Propagandaredner, der in dieser Zeit mehrfach im Berliner Landtag übernachtete, um seiner beim Verlassen des Gebäudes drohenden Verhaftung zu entgehen. Gleichzeitig war er seit 1928 Mitglied des Rheinischen Provinziallandtages und als solcher mit hoher Wahrscheinlichkeit maßgeblich an den Schmutzkampagnen gegen den amtierenden Landeshauptmann Johannes Horion von der Zentrumspartei beteiligt. Horions Tod am 19.02.1933, wenige Tage nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, bot Haake die einzigartige Gelegenheit, sich die Vormachtstellung in der Rheinprovinz zu sichern. Mit Wirkung vom 13.04.1933 ließ er sich zum Landeshauptmann und Verwaltungschef der Rheinischen Provinzialverwaltung wählen. Ebenfalls im Jahr 1933 wurde er Erster Vizeprä-

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sidenten des Preußischen Landtages und Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis 20 (Köln-Aachen).

Abb. 137: Heinz Haake, ca. 1935 Die Rheinprovinz wurde verhältnismäßig spät in die planmäßige „Aktion“ gegen die Geisteskranken einbezogen. Die ersten Meldebögen trafen hier erst im Sommer des Jahres 1940 ein. Haake wurden die bevorstehenden Maßnahmen Anfang des Jahres 1941 von Berlin aus schriftlich angekündigt. Unter Hinweis auf die zu befürchtende Unruhe in der (überwiegend katholischen) Bevölkerung der Rheinprovinz lehnte er die Durchführung der Maßnahmen zunächst ab und ersuchte sie „tunlichst“ auf einen Zeitpunkt „nach siegreicher Beendigung des Krieges“ zu verschieben. Am 10.02.1941 unterschrieb Haake eine Rundverfügung, nach der alle Krankenverlegungen seiner ausdrücklichen Anordnung oder vorherigen Zustimmung bedurften. Dies hat allerdings keinen Patienten vor dem Tode bewahrt, sondern sich lediglich dahingehend ausgewirkt, dass die Provinzialverwaltung den notwendigen Überblick zur Führung ihres „Todeskatasters“ behielt. Unabhängig davon hatte sich für den 12.02.1941 eine Kommission aus Berlin zur Besprechung der Fragen in Bezug auf die Verlegung von Kranken bei ihm angekündigt. Dieser Kommission gehörten Professor Heyde von der „T4“ und von der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ die Herren Vorberg und Tillmann an. Angeblich bat Haake zu dieser Besprechung auch seinen Dezernenten für das „Irrenwesen“, Walter Creutz, hinzu und forderte diesen unmittelbar vor der Besprechung auf, seinen ebenfalls ablehnenden Standpunkt mit Vehemenz zu verteten.241 Nachdem Haake bei dieser 241 Da Haake bereits 1945 verstarb, basieren die Schilderungen dieser Abläufe sämtlich auf Aussagen anderer, zum großen Teil selbst belasteter Mitverantwortlicher. Die Darstellung muss also in Bezug auf den Widerstandswillen von Creutz u. A. zumindest erheblichen Zweifeln begegnen − vgl. hierzu das folgende Kapitel zu Walter Creutz.

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Besprechung (vermutlich) eine Kopie von Hitlers „Euthanasie“-Ermächtigung gezeigt worden war, gab dieser seinen ablehnenden Standpunkt auf und fügte sich dem Willen seiner Besucher. Im weiteren Verlauf dieser Besprechung wurde Hadamar als Tötungsanstalt benannt, und es wurden zwei weitere namentlich noch nicht festgelegte Anstalten in der Rheinprovinz als Zwischenanstalten für die zu verlegenden Todeskandidaten bestimmt.242 Anfang 1941 erschienen Hefelmann und von Hegener in Düsseldorf um die Forderung nach Einrichtungen von zwei Kinderfachabteilungen in der Rheinprovinz an Haake heranzutragen. Die Vertreter des Reichsausschusses wandten sich diesbezüglich an Creutz, da Haake an diesem Tag nicht anwesend war.243 Dieser will daraufhin seinen Landeshauptmann auch in diesem Zusammenhang zu einer ablehnenden Haltung gedrängt haben.244 Wie zuvor, bei der Aktion gegen die erwachsenen Geisteskranken, gab Heinz Haake seinen ablehnenden Standpunkt kurze Zeit später auf und stimmte der Einrichtung einer Kinderfachabteilung in der Rheinprovinz zu.245 Eines erneuten Gesprächstermins bedurfte es hierzu nicht, Haake führte lediglich einen „nicht näher ermittelten“ Schriftverkehr246 mit den verantwortlichen Berliner Stellen. Mit dieser endgültigen Entscheidung, den Maßnahmen keinen Widerstand entgegen zu setzen, übernahm Heinz Haake die persönliche Verantwortung für die Krankenmorde in der Rheinprovinz. Damit endete allerdings auch seine unmittelbare Verstrickung in die Ereignisse. Soweit bisher bekannt ist, hat er (anders als Professor Creutz) weder die Kinderfachabteilung Waldniel, noch eine der Zwischenanstalten oder die Tötungsanstalt Hadamar jemals persönlich besichtigt. 1943 wurde Heinz Haake zum SA-Gruppenführer ernannt. Es sollte die letzte Beförderung seiner NS-Laufbahn sein. Im Mai 1945 geriet er in englische Gefangenschaft. Interniert in Recklinghausen starb er dort noch im selben Jahr. Als Todestag wird der 17.09.1945 angenommen. Prof. Dr. Walter Creutz Walter Creutz war zuständiger Landesrat und damit Vorgesetzter aller rheinischen Anstaltsdirektoren. Anders als Dr. Renno, der vom Reichsausschuss direkt eingesetzt wurde und eigenständig agierte, stand Hermann Wesse in den Diensten des Rheinischen Provinzialverbandes und war somit Professor Creutz unterstellt. 242 Urteil LG Düsseldorf vom 24.11.1948, 8 KLs 8/48, in: Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-13, S. 477. 243 Nähere Einzelheiten zum Verlauf dieses Gesprächs vgl. das folgende Kapitel über Walter Creutz. 244 Ebd. 245 Rüter, Bd. III, lfd. Nr. 102 a-19, S. 483. 246 Ebd.

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Abb. 138: Prof. Dr. Walter Creutz Über Creutz und seine Verstrickung in die Gasmordaktion „T4“ existieren umfangreiche Arbeiten von Matthias Leipert,247 Wolfgang Franz Werner248 und Ludwig Hermeler,249 weswegen auf seine Person hier lediglich in engem Zusammenhang mit Hermann Wesse und der Kinderfachabteilung Waldniel eingegangen wird. Creutz war der ranghöchste Angeklagte im Düsseldorfer Prozess, und seine Unterlagen füllen allein etwa zehn Ordner. Tatsächlich hat er es verstanden, nicht nur weitgehend unbeschadet aus der Sache herauszukommen, sondern in einigen Publikationen sogar den Status eines „Widerstandskämpfers“ gegen die „Euthanasie“ zu erlangen.250 Da sogar Hans Hefelmann sich daran erinnerte, dass Creutz der Einrichtung einer Kinderfachabteilung ablehnend gegenübergestanden hatte,251 kann ihm diese Haltung nicht abgesprochen werden. Zumindest hat er hierbei in gewissem Umfang bremsend gewirkt und möglicherweise wirklich darauf gewartet, dass die „Kindereuthanasie“ irgendwann gestoppt würde, so wie es mit den Transporten der erwachsenen Geisteskranken in die Vernichtungsanstalten geschehen war. Nachdem sein Vorgesetzter Haake sich aber einmal für die Durchführung der Tötungsaktion und die Einrichtung der Kinderfachabteilung entschieden hatte, ist auch Creutz nicht mehr entschieden gegen die Aktion eingetreten. Seine Behauptung, er habe dem Reichsausschuss mitgeteilt, dass „kein rheinischer Arzt diese Aufgabe übernehmen wolle“, ist eine von den schönen Legenden der „sauberen Rheinprovinz“ und wird seit 1948 immer wieder in allen möglichen Variationen zitiert. 247 Leipert 1987. 248 Werner 1991. 249 Hermeler 2002. 250 So z. B. Synder 1994. 251 Aussage Hans Hefelmann vor der GStA beim OLG Frankfurt/Main am 09.11.1960, S. 27, Js 148/60, in: Benzenhöfer 2000, S. 36.

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Nach seiner Aussage haben Hans Hefelmann und Richard von Hegener ihm seinerzeit den Arzt Hermann Wesse mit der Bemerkung präsentiert: „Sehen Sie, nun haben wir doch einen rheinischen Arzt für diese Aufgabe gefunden.“ Hermann Wesse konnte sich an eine solche Bemerkung nicht erinnern und hatte im Gegensatz zu Hefelmann bei den Besprechungen nicht den Eindruck, dass Creutz oder Dr. Kleine, von dem noch die Rede sein wird, der Sache ablehnend gegenüberstanden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Gespräche, an denen Wesse teilgenommen hat, erst stattfanden, als die Abteilung bereits eingerichtet war und sich schon etwa ein halbes Jahr in Betrieb befand. Obwohl Wesses Darstellung des Gesprächsverlaufs recht detailliert ist und er zu diesem Punkt schlüssige und überzeugende Angaben gemacht hat, hat ihm das Gericht im Jahr 1948 keinen Glauben geschenkt. Aussage Hermann Wesse vom 25.10.1947: „Bei Prof. Creutz traf ich Dr. von Hegener, Dr. Kleine und Dr. Schmitz […]. Von dem Inhalt der anfänglichen Besprechung habe ich keine Kenntnis, da ich zunächst angewiesen worden war, im Vorzimmer zu warten. Nach einer geraumen Zeit teilte Prof. Creutz mir mit, daß ich an der weiteren Besprechung teilnehmen solle. Sofort nach meinem Erscheinen erklärte Prof. Creutz mir, daß ich die Leitung der Kinderfachabteilung in Waldniel zu übernehmen habe. Mir wird nun eröffnet, daß Prof. Creutz sich hinsichtlich meiner Beauftragung als Leiter der Kinderfachabtlg. Waldniel folgendermassen geäußert hat. Er – Creutz – habe dem Reichsausschuß gegenüber erklärt, unter den rheinischen Psychiatern habe sich keiner freiwillig bereit gefunden, für den Reichsausschuss tätig zu werden. Daraufhin habe Dr. von Hegener erklärt, wenn sie keinen rheinischen Psychiater ausfindig machen können, dann stelle ich ihnen einen in der Person des Dr. Wesse vor. Diese Wiedergabe über den Hergang meiner Beauftragung als Leiter der Kinderfachabteilung in Waldniel ist unrichtig. Vielmehr hat sich die Beauftragung so abgespielt, wie ich sie zuvor geschildert habe. […] Als Weiterausbildungsstelle wurde dann die Rheinische Landesklinik für Jugend­psychiatrie in den Rahmen der Besprechung einbezogen. Ob Prof. Dr. Creutz diese Klinik in Vorschlag gebracht hat, oder ob es eine Anregung der beiden Herren vom Reichsausschuß in Berlin war, vermag ich heute mit Sicherheit nicht mehr anzugeben. […] Weitere Einwendungen als die meiner mangelnden Vorbildung als Jugendpsychia­ter hat Prof. Dr. Creutz in dieser Besprechung nicht erhoben. Meines Erachtens hätte er auch die Vorbringung solcher Einwendungen gegenüber den Vertretern des Reichsausschusses nicht gewagt […].“252

252 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 151.

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Abgesehen von der Tatsache, dass Hermann Wesse sich nicht mehr erinnern konnte, von wem der Vorschlag zur weiteren Ausbildung in Bonn unterbreitet wurde, gibt er die beiden Gespräche detailliert und anschaulich wieder. Im Gerichtsurteil heißt es hingegen: „ […] demgegenüber kamen den in dieser Hinsicht sehr unbestimmten Angaben des Angeklagten Wesse, der sich an Einzelheiten nicht genau erinnern konnte, keine ausschlaggebende Bedeutung zu.“253 Hans Aloys Schmitz gab hingegen 1947 zu Protokoll, Creutz habe ihm gegenüber erklärt, dass er Wesse unter dem Druck der Berliner Stellen an die Landesklinik abkommandiert habe. Walter Creutz war ein Mann mit Weitsicht, der bei Dingen, die ihm heikel erschienen, stets den Versuch unternahm, sich selbst in jeder nur möglichen Art und Weise abzusichern. Dass ihm die Zusammenarbeit mit dem Reichsausschuss und die ganze „Kindereuthanasie“ bedenklich vorkam, steht außer Zweifel. Also traf er Vorkehrungen. Der Vorschlag einer zusätzlichen Ausbildung in Bonn kann von ihm unterbreitet worden sein, ebenso wie die Forderung, Hermann Wesses Diagnosen und Empfehlungen zusätzlich durch den erfahrenen Jugendpsychiater und Obermedizinalrat Dr. Hans Aloys Schmitz überprüfen zu lassen. Alle diese Maßnahmen und Forderungen ließen sich den Berliner Stellen gegenüber plausibel begründen und waren dazu geeignet, im Bedarfsfall zu belegen, wie sehr Creutz dafür gesorgt habe, dass hier „alles mit rechten Dingen“ zuging, bzw. wie sehr er letztendlich versucht habe, den Maßnahmen Steine in den Weg zu legen und „Widerstand“ zu leisten. Ein Kommentar zum letztinstanzlichen Gerichtsurteil vom 28.04.1950 formuliert es so: „[…] Es mag auch als richtig unterstellt werden, daß Creutz in der Durchführung der Euthanasieaktion nicht so scharf war wie sein Amtskollege Bernotat in Hessen. Jedenfalls kann bei Creutz von einem Widerstand, wie das Schwurgericht ihn in seinen beiden Urteilen als erwiesen angesehen hat, keine Rede sein. […] Diese nüchternen Berichte (über 869 nach Hadamar in den Tod verlegte Geisteskranke, von denen nur 24 zurückgehalten wurden − A.d.V.), zu denen das Schwurgericht überhaupt nicht Stellung genommen hat, beweisen eindeutig, daß von einer Sabotage (der Erwachsenen-Euthanasie – A.d.V.) nicht im Entferntesten die Rede sein kann.“ 254 Als Zeichen seines „Widerstandes“ hat Creutz angeführt, dass er Wesses Einberufung zum Wehrdienst, die ihm um die Jahreswende 1942/43 angekündigt worden sei, nicht widersprochen habe und keinerlei Schritte dagegen unternahm. Tatsächlich wurde Hermann Wesse erst Ende März 1943 einberufen und ist nach neun Tagen bereits wieder ent253 Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-32, S. 496. 254 Vermerk des Oberstaatsanwaltes zu 8 Ks 28/49 vom 28.04.1950, in: ALVR 16966.

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lassen worden. Seine „u.k.-Stellung“ vom 22.02.1942 wurde erst am 15.11.1943 (als Waldniel schon längst geschlossen war) aufgehoben, weshalb die ganze Einberufung im März 1943 ein Versehen gewesen zu sein scheint.255 Nur so ist es zu erklären, dass er bereits nach neun Tagen entlassen wurde, ohne dass es dafür eines Schriftverkehrs zwischen Reichsausschuss und Wehrmacht bedurft hätte. Walter Creutz verfügte weder über die Macht, eine u.k.-Stellung zu veranlassen, noch diese aufzuheben. Möglicherweise ist ihm die geplante Einberufung angekündigt worden, und er hat das Wehrbezirkskommando nicht über Wesses „Unabkömmlichkeit“ und seine Tätigkeit für den Reichsausschuss informiert. Hierin eine „Sabotage“ der Aktion oder „Widerstand“ zu sehen, ist allerdings ziemlich weit hergeholt. Schließlich hat Creutz bestenfalls „nichts“ getan und einfach den Dingen ihren Lauf gelassen. Durch die daraus resultierende Abwesenheit Wesses sind weder Leben gerettet worden, noch wurde die Durchführung der Aktion hierdurch in irgendeiner spürbaren Weise gehemmt. Neben diversen Verfügungen über Kinder, die auf seine Anweisung hin von anderen Anstalten in die Kinderfachabteilung Waldniel verlegt werden sollten, hat Creutz auch eine offizielle Versetzungsanweisung an Hermann Wesse unterschrieben. Wenn man die Formulierung dieses Schreibens spitzfindig auslegt, fällt auf, dass hier nicht gesagt wird, Wesse habe die Anweisungen des Reichsausschusses auszuführen, sondern die Formulierung besagt, Hermann Wesse habe „die im Einvernehmen mit dem Reichsausschuß […] mündlich erteilten Weisungen“ auszuführen. Genau genommen heißt dies, dass es sich um Weisungen von Walter Creutz handelte, die dieser zwar „im Einvernehmen“ mit dem Reichsausschuss, letztlich aber selbst erteilt hatte. Creutz nahm außerdem für sich in Anspruch, Gauleiter Florian aus Düsseldorf, der auf der Suche nach einem Ausweichkrankenhaus für die ausgebombte Düsseldorfer Kinderklinik war, auf die für diesen Zweck gut geeignete Kinderfachabteilung aufmerksam gemacht zu haben. Gleichzeitig behauptete er, dass Florian die Räumung der Abteilung auf seine Anregung hin durchgesetzt habe. Da hierüber keine Dokumente existieren, ist dies weder zu beweisen, noch zu widerlegen. Es gibt allerdings ein Indiz, welches gegen diese Darstellung von Creutz spricht. Am 30.06.1943 verfasste Abteilungsdirigent Schaumburg einen Aktenvermerk „An den Herrn Landeshauptmann“: „Die gemeinnützige Kranken-Transport-GmbH, Berlin hat mündlich hier mitgeteilt, daß die Kinderfachabteilung in der Abteilung Waldniel der Provinzial-Heilund Pflegeanstalt Johannistal auf Anordnung von Berlin geräumt werden solle […]. Auf eine fernmündliche Anfrage bei dem Reichsausschuß zur wissenschaftlichen 255 Schreiben Wehrbezirkskommando Stendal vom 26.11.1943, in: Deutsche Dienststelle Berlin − Wehrmachtsarchiv.

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Abb. 139: Versetzungsschreiben von Creutz an Wesse

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Abb. 140: Der Düsseldorfer Gauleiter Friedrich Karl Florian Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden hat Herr von Hegener mir diese mündliche Mitteilung […] bestätigt und mitgeteilt, daß die Räumung auf Anordnung von Prof. Dr. Brandt nach einer Besprechung mit Gauleiter Florian und der Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten erfolgen solle, um die Abteilung Waldniel, deren Räumung ganz bis auf die erforderlichen Arbeitskräfte durchgeführt werden solle, für die Unterbringung anderer Personen freizumachen.“256 Es ging hier also nicht nur um die Kinderfachabteilung, sondern um die gesamte „Abteilung Waldniel“, denn „erforderliche Arbeitskräfte“ befanden sich lediglich unter den erwachsenen Patienten der Anstalt. Bei der Räumung dieser Anstalt auch die Auflösung der dazugehörigen Kinderfachabteilung in Kauf zu nehmen war also an oberster Stelle des NS-Regimes beschlossen worden. Wenn Creutz den Gauleiter tatsächlich auf die Abteilung aufmerksam gemacht hatte, um durch diesen Hinweis den unliebsamen Teil seiner Anstalt loszuwerden, ist es verwunderlich, dass Schaumburg hier noch einmal nachfragte, ob diese mündliche Mitteilung denn tatsächlich der Wahrheit entspräche. Der Verwaltungsapparat des NS-Regimes war bekanntlich ein immens kompliziertes Gebilde mit Verzahnungen und Zuständigkeiten, die zum Teil mit verschiedensten Interessen in den gleichen Bereichen agierten. Die Gefahr, hier durch eine Nachfrage „schlafende Hunde zu wecken“ und damit zu riskieren, dass irgendein hochrangiger Parteifunktionär die Schließung der Abteilung im letzten Moment verhinderte, war nicht von der Hand zu weisen. Wäre die Räumung beispielsweise nicht von Brandt angeordnet worden, so hätte dieser ohne Weiteres die Macht besessen, eine von anderer Stelle angeordnete Schließung zu verhindern. Es fällt schwer, sich bei der Lektüre dieses Aktenvermerks des Eindruckes zu erwehren, dass der Verfasser über die Schließung weder erleichtert, noch glücklich 256 ALVR 13073.

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war. Eher entsteht der Eindruck, dass bei den Berlinern nachgefragt wurde, weil man nicht glauben wollte, dass die gerade erst mit viel Aufwand fertig eingerichtete und erst seit wenigen Monaten richtig „arbeitende“ Kinderfachabteilung nun schon wieder geschlossen werden sollte. Die Staatsanwaltschaft vertrat von Anfang an den Standpunkt, dass Walter Creutz dem Reichsausschuss nur so lange bremsend entgegentrat, bis sein Vorgesetzter, Landeshauptmann Heinz Haake, die Einrichtung der Kinderfachabteilung genehmigt hatte. Danach war eine verzögernde Haltung Creutz’ nicht mehr feststellbar, geschweige denn Widerstand oder Sabotage. Der einzige wirklich greifbare Hinweis auf Creutz’ ablehnende Haltung ist die Aussage Hefelmanns aus dem Jahr 1960 und dessen Erinnerung an die „konziliant“ geführte Unterredung, in der Creutz „sehr deutlich erkennen ließ, daß er der Sache ablehnend gegenüberstünde“.257 Hinzu kommt möglicherweise noch ein Schreiben von Viktor Brack vom 11.07.1941. Dieses Schreiben wurde von Creutz selbst lediglich als Abschrift vorgelegt und kann somit von jedem, der in der Lage war eine Schreibmaschine zu bedienen, verfasst worden sein. Vom Gericht wurde es anerkannt, da zwei Zeugen aus dem Umfeld von Walter Creutz es „als tatsächlich eingegangen“ bestätigt hatten. Nehmen wir mal die Authentizität dieses Schreibens an, dann fällt besonders auf, dass Brack am Ende die „vorbildliche“ Kinderheilanstalt in Bonn erwähnt. Ein weiteres Indiz dafür, dass in Bonn mit Pohlisch und Schmitz keineswegs Gegner der Aktion am Werk waren: „Nachdem die gesondert durchgeführte Reichsausschuß-Aktion überall im Reiche nicht nur eben durchgeführt, sondern ihrer ganzen Art wegen allseits begrüßt wurde, kann ich nicht einsehen, weshalb dies nun in der Rheinprovinz nicht gehen soll. Daran ändern auch die teilweise vorhandenen starken konfessionellen Bindungen, über die ich sowohl im allgemeinen, als auch im besonderen genau unterrichtet bin nichts, denn die Aktion wurde auch in anderen schwarzen Gegenden seit längerer Zeit reibungslos durchgeführt. Auf der anderen Seite bin ich nicht gewillt, einer längeren Verzögerung zuzusehen, denn die Reichsausschuß-Aktion hat – worauf Sie hingewiesen wurden – zur Voraussetzung, daß zwecks guter Verteilung der einzelnen Fälle die zur Verfügung stehende Zeit gut ausgenutzt wird. Weiter wurde darauf hingewiesen, daß die Errichtung einer Kinderabteilung in einer rheinischen Provinzialanstalt ohnehin früher oder später erfolgen wird, denn die Nationalsozialistische Bewegung wird sich aus grundsätzlichen Erwägungen mit dem zur Zeit in der Rheinprovinz bestehenden Zustand der konfessionellen Betreuung kranker Kinder auf die Dauer

257 Aussage Hans Hefelmann vor der GStA beim OLG Frankfurt/Main am 09.11.1960, S. 27, Js 148/60, zit. nach Benzenhöfer, S. 36.

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nicht abfinden. Daran ändert auch die Einrichtung der vorbildlichen Rheinischen Landes-Jugend-Klinik in Bonn nichts.“258 Das Gericht hat eine fortgesetzte Gegnerschaft Creutz’ als erwiesen betrachtet und sowohl seine Geschichte der geplanten „Abwehrfront gegen die Euthanasie“ geglaubt, als auch die Echtheit der ominösen „Denkschrift“,259 die Creutz für Haake verfasst haben will und die ebenfalls nicht im Original vorlag, anerkannt. Auch diese Denkschrift wurde lediglich durch Creutz’ Sekretärin in ihrer angeblichen Echtheit bestätigt. Nachdem der Revisionsprozess überstanden war, konnte Creutz sich wieder seinem Entnazifizierungsverfahren zuwenden. Seiner diesbezüglichen Stellungnahme vom 6. September 1946 liegen sogar 16 „Persilscheine“ bei.260 Einer davon stammt aus der Feder der Leiterin des katholischen Fürsorgevereins Essen, die gleichzeitig dem Vorstand des dortigen FranzSales-Hauses angehörte.261 Ob Creutz das Franz-Sales-Haus tatsächlich irgendwann gewarnt hat, als „wieder einmal“ eine Verlegung von Kindern bevorstand, mag dahingestellt sein. Tatsache ist aber, dass er selbst Verlegungen von Kindern aus dem Franz-Sales-Haus in die Tötungsstation veranlasst hat, und dies auch eindeutig ohne ausdrückliche Veranlassung der Berliner Stellen, sondern auf eigene Initiative um in einer anderen Anstalt Platz zu schaffen, wie aus seinem Schreiben 23.03.1942 an die Leitung des Franz-Sales-Hauses hervorgeht. Dass Professor Creutz diese namentlich nicht bezeichneten zwölf „nicht bildungsfähigen“ Knaben mit der Überstellung nach Waldniel gleichzeitig auch dem Reichsausschussverfahren zuführte und somit die Verantwortung für die hohe Wahrscheinlichkeit ihres baldigen Ablebens übernahm, ist Fakt. Aufgrund des Aufnahmedatums 08.03.1942 und der vorherigen Unterbringung im Essener Franz-Sales-Haus konnte das Schicksal von zehn dieser zwölf Knaben anhand der ermittelten Krankenakten nachvollzogen werden. Drei von ihnen, Gottfried A., Heinrich B. und Martin C. verstarben noch im Laufe des Jahres 1942. 1943 starben in Waldniel Fritz S. und Rolf K., während fünf weitere Patienten im Juli 1943 nach Ueckermünde verlegt wurden. Erich S, Gottfried S., Alex T., Wilhelm T. und Paul V. kamen am 08.07.1943 in Ueckermünde an. Der erste von ihnen verstarb dort bereits sechs Tage später. Der letzte, Wilhelm T., starb am 30.07.1943.262 Somit trug Walter Creutz letztlich die Verantwortung für die Ermordung dieser zehn Jungen. Die übrigen beiden Teilnehmer des Transports konnten anhand der vorhandenen Unterlagen nicht mehr ermittelt werden. Es ist unwahrscheinlich, dass einer von ihnen überlebt hat. 258 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 151, Bl. 66−67. 259 Vollständiger Abdruck der Denkschrift in Hermeler 2002, S. 271f. 260 Vgl. hierzu die diesbezüglichen Erläuterungen im folgenden Kapitel über Dr. Kleine. 261 Entnazifizierungsakte Walter Creutz, in: HStAD, NW 1000, Nr. 20136. 262 Angaben aus den Krankenakten Waldniel (LVR-Kliniken Viersen) und Archiv Ueckermünde.

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Abb. 141: „Persilschein“ für Prof. Creutz Die von der Zeugin zu Gunsten von Creutz erwähnte Warnung mag zu einem späteren Zeitpunkt unter dem Bewusstsein der in Bälde bevorstehenden Schließung der Kinderfachabteilung tatsächlich erfolgt sein. An den oben geschilderten Tatsachen ändert dies allerdings nichts. Sicherlich hätte Walter Creutz nach dem günstigen Ausgang des Revisionsprozesses und dem Abschluss des Entnazifizierungsverfahrens gerne in Amt und Würden weitergearbeitet als wäre nichts geschehen. Widerstände im Sozialminis-

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Abb. 142: Verlegung von zwölf „nicht bildungsfähigen“ Jungen terium sorgten jedoch dafür, dass er nicht wieder adäquat in der Provinzialverwaltung beschäftigt wurde. Anfang 1951 ging er, immerhin als Chefarzt, zum Alexianerkrankenhaus in Neuss.

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Dr. med. Wilhelm Kleine Hermann Wesses unmittelbarer Vorgesetzter in Waldniel war der ehemalige SA Sanitäts-Oberscharführer Dr. Wilhelm Kleine, geboren am 10.05.1897, seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP und seit 1937 Direktor der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Johannistal in Süchteln. Die Düsseldorfer Prozessakten offenbaren einen umfangreichen Rechercheund Vernehmungsaufwand, der betrieben wurde, um handfeste Anklagepunkte gegen Dr. Kleine zu finden.263 Diese Bemühungen führten jedoch zu keinem greifbaren Erfolg. Dr. Kleine wurde im Düsseldorfer Prozess nicht angeklagt, sondern lediglich als Zeuge vernommen. Allerdings kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er über die Vorgänge in der Kinderfachabteilung vollständig informiert war und ihnen, wenn er sie vielleicht innerlich auch nicht gebilligt haben mag, keinen erkennbaren Widerstand entgegengesetzt hat.

Abb. 143: Dr. med. Wilhelm Kleine, 1943 Der von ihm unterbreitete Vorschlag, die Räumlichkeiten für die Einrichtung der Kinderfachabteilung zunächst gründlich renovieren zu lassen,264 kann gleichermaßen als Verzögerungstaktik interpretiert werden, wie auch als Versuch, dem Reichsausschuss eine besonders perfekt eingerichtete Abteilung zu präsentieren. Dr. Kleine behauptete zunächst, die Kinderfachabteilung überhaupt nie betreten zu haben und später, als andere Zeugenaussagen dies widerlegten, der Abteilung nur bei einigen „nicht zu vermeidenden“ Gelegenheiten Besuche abgestattet zu haben. Eine dieser Gelegenheiten ergab sich im Dezember 1941, als er die Abteilung gemeinsam mit Professor Creutz, Hefelmann, von Hegener, Renno und Wesse besichtigte, nachdem vorher die Übernahme der Abteilung 263 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 5ff. 264 Urteil LG Düsseldorf vom 24.11.1948, 8 KLs 8/48 S. 32, in: Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-32, S. 496.

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durch Wesse bei Creutz diskutiert worden war. Hermann Wesse gab an, dass Dr. Kleine ihm bei diesem Gespräch „seine volle Unterstützung“ zugesagt habe.265 Da Wesse durch diese Aussage keinen persönlichen Vorteil hatte, und seine Schilderungen im Allgemeinen nicht das Bestreben erkennen lassen, andere Beteiligte unbedingt belasten zu wollen, ist diese Darstellung nicht anzuzweifeln. Diese Äußerung wurde von Dr. Kleine in Anwesenheit der „hohen Herren“ aus Berlin und des SS–Untersturmführers Renno gemacht, der sich beim Reichsausschuss bereits über die mangelnde Unterstützung durch Creutz und Kleine beschwert hatte. Dass Dr. Kleine hierdurch eingeschüchtert war und sich eifrigst bemühte, den Abgesandten des Reichsausschusses zu gefallen, erscheint durchaus plausibel. In einem Vernehmungsprotokoll vom 06.10.1947 gab Kleine an, er habe „jede ärztliche Mitwirkung kategorisch abgelehnt“.266 Tatsächlich konnte kein einziger Hinweis entdeckt werden, der darauf schließen ließe, dass die ärztliche Mitarbeit Dr. Kleines in der Kinderfachabteilung überhaupt jemals zur Debatte gestanden hätte. Die Behauptung, er habe absichtlich „weltanschaulich unzuverlässiges Personal“267 nach Waldniel entsandt, ist ebenfalls nicht zu belegen. Der einzige beurkundete Fall der Rückversetzung einer Pflegerin hatte nichts mit deren weltanschaulicher Einstellung zu tun, sondern schlicht mit Streitigkeiten zwischen ihr und der Oberpflegerin Wrona.268 Dagegen gibt es Aussagen, die bezeugen, dass Dr. Kleine auf Pflegerinnen, die sich der Versetzung nach Waldniel widersetzen wollten, sowohl Druck ausgeübt, als auch versucht hat, ihnen die Tätigkeit in Waldniel mit einigen Argumenten schmackhaft zu machen.269 Das Studium sämtlicher Vernehmungsprotokolle von Dr. Kleine förderte nahezu keine verwertbaren Informationen zu Tage. Allerdings ist bei seinen Aussagen der klare Versuch erkennbar, die eigene Beteiligung herunterzuspielen und möglichst viel Verantwortung auf Hermann und Hildegard Wesse abzuschieben. Einige Beispiele: „[…] zuvor hatte [Dr. Renno] […] es fertig gebracht, die in der Geisteskrankenabteilung eingesetzte Ärztin Dr. Irmen zu bestimmen, auf Ihren Verlobten, Ass. Arzt Dr. Wesse in Andernach, einzuwirken, sich für die Zwecke des Reichsausschusses zur Verfügung zu stellen.“ „Die Beendigung der Tätigkeit des Dr. Wesse, der mir persönlich verächtlich erschien, weil er aus Angst vor Einberufung sich zu dieser Tätigkeit bereit erklärt hatte und der auf dieser Grundlage seine Ehe mit Frl. Dr. Irmen geschlossen hatte, und die 265 Aussage Hermann Wesse vom 25.10.1947, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 146f. 266 Ebd., Bl. 6. 267 Ebd., Bl. 7. 268 Vgl. hierzu den vollständigen Aktenvermerk im Kapitel über Dr. Georg Renno. 269 So z. B. die Aussage der Pflegerinnen Wilma P. u. Agnes S. u. a. vom 28.11.1947, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132.

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Auflösung der Reichsausschußstation habe ich als beglückende Erlösung empfunden […].“ „[Prof. Creutz] […] war vor allen Dingen aufs tiefste gekränkt und empört, daß sich ein rhein. Prov. Arzt wie Dr. Wesse nebst Frau bereit erklärt hatte, mitzuwirken.“ „[…] in der Anlage überreiche ich 12 begl. Abschriften von Erklärungen von Persönlichkeiten, die mich kennen und die über meine charakterliche und weltanschauliche Einstellung Bekundungen machen können.“270 Dieser Aussage sind tatsächlich zwölf Erklärungen beigefügt, die allesamt nichts mit dem Sachverhalt zu tun haben, sondern sich lediglich in ermüdenden Ausschweifungen über die menschliche Größe des Herrn Dr. Kleine auslassen. Es sind klassische „Persilscheine“, im Jargon der damaligen Zeit so genannt, weil sie dazu dienen sollten, die angeklagten Nazi-Verbrecher rein zu waschen und ihnen eine „weiße Weste“ zu verschaffen. Dr. Kleine, der den Assistenzarzt Wesse „verächtlich“ fand und der mitbekommen hatte, wie „empört“ sein Vorgesetzter Creutz über diesen und seine Ehefrau war, verfasste am 19.03.1942, also knapp vier Monate nach dem Gespräch mit den Vertretern des Reichs­ ausschusses, auf Anforderung von Creutz eine Beurteilung über Dr. Hildegard Wesse, was ihm also durchaus eine Gelegenheit verschafft hätte, sich über die unliebsame Ärztin negativ auszulassen: „Fr. Dr. Wesse-Irmen betreut seit etwa Mitte Dezember 1941 recht gewandt und praktisch selbständig die in Waldniel untergebrachten Kranken. Sie ist pünktlich und gleichmäßig fleißig, ihre Untersuchungsbefunde sind erschöpfend, ebenso sind ihre Krankenblätter sorgfältig und gewissenhaft geführt. Frau Dr. Wesse-Irmen zeigt volles Verständnis für die anstaltsärztlichen Aufgaben und ist mir eine brauchbare Mitarbeiterin. Ihre dienstliche Führung ist einwandfrei, auch außerdienstlich ist mir nichts Nachteiliges bekannt geworden.“271 Während diese Beurteilung geschrieben wurde, leitete Hildegard Wesse vertretungsweise die Kinderfachabteilung. Dr. Renno war bereits im Februar abgereist und Hermann Wesse befand sich seit dem 04.03.1942 zur jugendpsychiatrischen Ausbildung in Bonn. Besonders auffällig ist in dieser Beurteilung der Satz: „[…] zeigt volles Verständnis für die anstaltsärztlichen Aufgaben […]“. Zum einen stellt sich die Frage, was denn hier für besondere Aufgaben bestanden, für die der Anstaltsarzt Verständnis haben musste. Zum anderen erinnert diese verklausulierte Formulierung auffällig an die im NS-Sprachge270 Alle folgenden Zitate entstammen den verschiedenen Vernehmungsniederschriften der Düsseldorfer Prozessakten, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132. 271 Personalakte Dr. med. Hildegard Wesse, in: Archiv der Klinik Uchtspringe.

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brauch gerne verwendeten Tarnbegriffe wie „Sonderbehandlung“, „der Therapie zuführen“ oder „im Sinne des Reichsausschuss positiv tätig“ sein. Genau zu dieser Zeit bestand die „anstaltsärztliche Aufgabe“ für Hildegard Wesse in der Bearbeitung von Meldebögen für die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“. Sie traf also täglich Grundsatzentscheidungen über Leben und Tod. Diese Entscheidungen fällte sie sowohl über ihre erwachsenen Patienten, als auch über die Kinder in der Kinderfachabteilung. Als Hermann Wesse die Abteilung übernahm, war die Meldebogenaktion bereits abgeschlossen. Sofern sich in den Akten der verstorbenen Kinder solche Meldebögen befinden, sind sie durchweg von Hildegard Wesse ausgefüllt worden.272 Die vorliegende Beurteilung war eine rein interne Angelegenheit des Provinzialverbandes. Sie ging also nicht an den Reichsausschuss oder eine sonstige Berliner Stelle. Der Schriftwechsel fand ausschließlich zwischen den beiden Herren statt, die im Nachhinein „empört“ waren und das Tun ihrer Ärzte „verächtlich“ fanden. Merkwürdig, dass Hildegard Wesse, deren Befunde – wie bereits festzustellen war – längst nicht so erschöpfend und gewissenhaft waren, wie Dr. Kleine hier behauptete, von ihrem Vorgesetzten so gut beurteilt wurde. Aufschlussreich ist auch ein Vermerk vom 17.02.1943. Während in der Kinderfachabteilung zu dieser Zeit bereits fleißig gemordet und wieder Geisteskranke in Tötungsanstalten transportiert wurden, machte Dr. Kleine eine Bestandsaufnahme und nahm eine Dienstverteilung vor. „[…] Bei dieser Gelegenheit berichte ich, daß folgende Dienstverteilung meinerseits geplant ist: Wenn die Verlegungen der Kranken nach Wiesengrund und MeseritzObrawalde [und damit in den sicheren Tod – A.d.V.] durchgeführt sind, verbleiben in Johannistal und Waldniel je 600 Kranke. […] die Waldnieler Kranken [werden ärztlich versorgt] durch Prov. Med. Rat Dr. L., Männerabteilung, Frau Dr. WesseIrmen, Frauenabteilung und Dr. Wesse, Kinderfachabteilung.“273 Auch wenn Kleine sicherlich nicht ohne Rücksprache mit dem Reichsausschuss die Besetzung der Kinderfachabteilung hätte ändern können, so lässt die Formulierung in diesem Schreiben dennoch nicht vermuten, dass er nicht voll und ganz hinter diesen Maßnahmen stünde und sich nicht dafür verantwortlich fühlte. Er war nicht bemüht, die Kinderfachabteilung hierbei auszuklammern. Tatsächlich nahm er zu diesem Zeitpunkt eine Umverteilung vor. Hildegard Wesse gab stets an, in Waldniel eine Männerstation 272 Krankenakten der Kinderfachabteilung Waldniel, in: LVR-Kliniken Viersen. 273 Personalakte Dr. med. Hildegard Wesse, Archiv der Klinik Uchtspringe (unverz. Bestand).

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betreut zu haben. Bis zum Oktober 1942 traf dies auch zu, denn die von ihr unterzeichneten Todesbescheinigungen stammen durchweg von männlichen Patienten. Nach der Geburt ihres ersten Kindes unterbrach sie ihre ärztliche Tätigkeit von Oktober 1942 bis Februar 1943. Danach muss sie die Frauenabteilung übernommen haben, denn beginnend mit diesem Datum findet man ihre Unterschrift unter den Todesbescheinigungen der weiblichen Patienten. Am 01.07.1946 wurde Dr. Kleine als Provinzialmedizinalrat an die Anstalt Bonn versetzt, nachdem er auf Anraten des ersten Landesrates Anfang Mai „aus Gesundheitsgründen“ auf das Amt des Anstaltsdirektors verzichtet hatte. Zuvor war er im Februar 1946 „zur Wiederherstellung seiner Gesundheit“ beurlaubt worden. Das dazugehörige Schreiben ist von Walter Creutz unterschrieben, der sich zu diesem Zeitpunkt also noch im Amt befand. Nach Kleines eigener Angabe war der wirkliche Grund der, dass er selbst und die Verwaltung bei seiner Entnazifizierung keine Schwierigkeiten bekommen sollten.274 Die Versetzung bewahrte ihn allerdings nicht vor Schwierigkeiten. Nachdem der Entnazifizierungsausschuss in Kempen ihn im Juli 1946 zunächst als Provinzialmedizinalrat in Bonn bestätigt hatte, holte ihn der Vorwurf ein, er habe Kinder zur Tötung in die Anstalt Waldniel verlegen lassen und Transportlisten erwachsener Geisteskranker in die zu ihrer Tötung bestimmten Anstalten aufgestellt. Der Entnazifizierungsausschuss befand daraufhin, dass Kleine „als Arzt untragbar“ sei, woraufhin er am 07.03.1947 auf Verfügung des Sozialministers des Landes Nordrhein-Westfalen aus dem rheinischen Provinzialdienst entlassen wurde.275 Im Jahre 1947 lief bereits das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Düsseldorf im Zusammenhang mit der Kinderfachabteilung Waldniel, wodurch sich Kleines Entnazifizierungsverfahren ebenfalls verkomplizierte. Dr. Kleine, der davon überzeugt war, „völlig rehabilitiert aus diesem Verfahren hervorzugehen“ wandte sich am 21.05.1947 an den Düsseldorfer Oberstadtdirektor („Lieber Walter!“), um von diesem Unterstützung zu erhalten. Kleine schrieb, dass er befürchtete, der Sozialminister werde nicht sachlich informiert, da sein Referent für das Gesundheitswesen, Ministerialrat Dr. Lewenstein, früher Anstaltsarzt in Süchteln gewesen sei und ihm „nicht wohl“ wolle, da er sich angeblich fürchte, „sich für irgend jemand einzusetzen, der Parteigenosse war und umstritten ist.“276 Von Dr. Lewenstein kann zumindest gesagt werden, dass er aufgrund seines jüdischen Vaters als „Mischling ersten Grades“ während der NS-Zeit spürbaren Benachteiligungen ausgesetzt war und nachweislich seine Röntgenassistentin dabei unterstützte, sich der Versetzung nach Waldniel zu widersetzen, obwohl diese hierzu bereits von Dr. Kleine 274 Personalakte Dr. Wilhelm Kleine, in: ALVR. 275 Akten d. Büros OStD. 1946−1976, Handakten Entnazifizierung IV 16369, in: Stadtarchiv Düsseldorf, 276 Ebd.

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und Professor Creutz unter Druck gesetzt worden war.277 Allerdings ist aus den Akten ersichtlich, dass er – zumindest nach deren Auflösung − für die Kinderfachabteilung Schriftverkehr mit Angehörigen abwickelte. Hierbei zeigte auch Lewenstein den Opfern und Angehörigen gegenüber keine nennenswerten Gefühlsregungen.278 Lewenstein, aufgrund seiner Abstammung aus Sicht der Berliner Stellen ohnehin nicht würdig an einer „geheimen Reichssache“ mitzuwirken, leistete nach dem Krieg erste Aufklärungsarbeit, indem er für die Staatsanwaltschaft ein Gutachten über die Verlegungen der erwachsenen Geisteskranken und die Sterbefälle in der Kinderfachabteilung erstellte. Wenngleich mit inhaltlichen Fehlern behaftet und insgesamt lückenhaft, ist dieses „Lewenstein-Gutachten“ ein wichtiges Dokument, das die „Euthanasie“-Vorgänge in der Rheinprovinz für die Nachwelt festgehalten hat.279 Eine Vielzahl von Unterlagen, die ihm seinerzeit bei der Erstellung des Gutachtens noch zur Verfügung gestanden haben, sind zwischenzeitlich vernichtet worden. Dies macht einerseits das Gutachten umso wertvoller, erschwert aber naturgemäß in vielen Details dessen Beweiskraft und Nachvollziehbarkeit. Dr. Kleine fügte seinem Brief an den Oberstadtdirektor zwei Schriftsätze bei, die den Komplex „Abtransport der Geisteskranken in andere Anstalten“ und „Kinderfachabteilung Waldniel“ aus seiner Sicht behandelten, und verwies auf die schon erwähnten zwölf Leumundszeugnisse, die ihm bestätigten, dass er „nur formelles Parteimitglied war und immer weltanschaulich einen positiv katholischen Standpunkt eingenommen hatte.“

Abb. 144: Sommerfest in Süchteln, 1942 – von rechts: Dr. Kleine (in Uniform), Med. Rat. Dr. Günter, Dr. Pöll u. Dr. Lewenstein 277 Aussage Wilma P. vom 28.11.1947, in HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 43−45. 278 Vgl. hierzu den Schriftwechsel mit den Eltern des Kindes Margarethe P. im Kapitel „Opfer und Angehörige“. 279 Original des Gutachtens, in: ALVR 13073.

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Interessant ist im Zusammenhang mit Kleines Verstrickung in die Tötungsaktion auch der Karrieresprung, den Hermann Wesses Sekretärin im Juli 1943 machte. Sie, die zuvor lediglich der Kinderfachabteilung zugeordnet und somit Sekretärin eines Teilbereichs einer Außenstelle war, wurde im Zuge der Auflösung der Abteilung zu Dr. Kleine berufen und stieg dadurch mit einem Schlag zur „Chefsekretärin“ auf. Eine Entwicklung, die besonders verwundert, da Lilo G. zu diesem Zeitpunkt durch die Affäre mit einem verheirateten Arzt und die Geburt eines unehelichen Kindes unangenehm „aufgefallen“ war.280 Zur damaligen Zeit in der katholischen Rheinprovinz ein Skandal, der eigentlich jeden beruflichen Aufstieg für lange Zeit hätte ausschließen müssen. Der Gedanke, dass Dr. Kleine die Sekretärin der Kinderfachabteilung in seinen unmittelbaren Wirkungskreis versetzte, um sie, die zwangsläufig „viel wusste“, im Bedarfsfall kontrollieren und beeinflussen zu können, ist zumindest nicht gänzlich von der Hand zu weisen. So wie Dr. Kleine letztlich „entnazifiziert“ wurde, wurden auch seine Personalakten bei der rheinischen Provinzialverwaltung „gereinigt“. Die Akten, die immerhin drei Hängeregistermappen umfassen, enthalten nicht ein einziges Blatt aus dem Zeitraum 1939 bis 1945. In den Unterlagen, die ansonsten von der Beförderung bis zur Fahrtkosten­ erstattung jede noch so unbedeutende Kleinigkeit enthalten, hat die NS-Zeit praktisch nicht stattgefunden.

Abb. 145: Dr. Kleine, ca. 1960 Nachdem Dr. Kleine wieder in adäquater Stellung eingesetzt war, setzte sich seine Karriere fort, als wäre nie etwas geschehen. Bereits am 04.02.1952 wurde er zum Obermedizinalrat befördert. Am 04.10.1955 folgte die Ernennung zum Landesmedizinaldirektor. 280 Aussage Lilo G. im Gespräch mit dem Autor am 03.07.2008.

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Die einzig interessante Besonderheit in Dr. Kleines Personalakten besteht aus einem Schreiben, in welchem er seine Vorgesetzten pflichtbewusst darüber informierte, dass er für die Jahre 1960 und 1961 „erneut“ zum „nichtbeamteten ärztlichen Beisitzer des Erbgesundheitsobergerichtes“ in Düsseldorf bestellt worden sei. Interessant nicht aufgrund der Ernennung an sich, sondern weil es verwundert, dass der aus der NS-Zeit entsprechend negativ behaftete Begriff „Erbgesundheitsgericht“ tatsächlich auch 1961 noch gebräuchlich war. Am 31.05.1961 trat Dr. Wilhelm Kleine „nach Erreichen der Altersgrenze“ mit allen dazu gehörigen Ehrungen in den Ruhestand. Er hat seinen Ruhestand noch sieben Jahre lang genießen können. Am 15.06.1968 starb er im Alter von 71 Jahren. Dr. med. habil. Hans Aloys Schmitz Betrachtet man die besondere hierarchische Konstellation in Waldniel und würdigt dabei die Strafzumessung, die das Gericht Hermann Wesse zuteil werden ließ, dann erscheint es gänzlich unverständlich, dass Obermedizinalrat Dr. Hans Aloys Schmitz nicht den Rest seines Lebens im Gefängnis verbracht hat. Aus keiner anderen Kinderfachabteilung ist bekannt, dass der dortige leitende Arzt einen übergeordneten Psychiater, sozusagen als „Aufpasser“, überstellt bekommen hätte. Glaubt man den Ausführungen von Professor Creutz und anderen, dann hatte Schmitz in Waldniel genau diese Aufgabe wahrzunehmen. Dieser Umstand hätte Hermann Wesse eigentlich von jeder eigenen Verantwortung freisprechen müssen. Das Gegenteil ist der Fall. Der als Koryphäe auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie geltende Schmitz wurde in Düsseldorf gar nicht erst angeklagt.

Abb. 146: Dr. med. habil Hans Aloys Schmitz, ca. 1939

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Im Gerichtsurteil von 1948 heißt es: „Wenn der Zeuge Dr. Schmitz in der begreiflichen Vorsicht wegen seiner Tätigkeit in Waldniel bei seiner Aussage zurückhaltend und unsicher war, so hat er darin doch bestätigt, daß er vom Angeklagten Creutz erkennbar als hemmendes und überwachendes Glied in Waldniel eingeschaltet wurde.“281 Dies zu bestätigen und seinem Vorgesetzten Creutz damit Rückendeckung zu verschaffen, war für Schmitz natürlich ein Leichtes, da es gleichzeitig ein positives Licht auf ihn selbst warf. Was hätte er, ohne sich selbst dabei schwer zu belasten, sonst dazu sagen sollen? Creutz hatte sich seinerzeit nicht nachsagen lassen wollen, er ließe einen Arzt, der lediglich über neun Monate jugendpsychiatrische Erfahrung verfügte, Entscheidungen bzw. Empfehlungen über Leben und Tod treffen. Eine Vorsichtsmaßnahme, die auch bei Fortbestand des NS-Regimes für Creutz nicht von Nachteil sein konnte. Wie hilfreich ihm dieses Vorgehen einmal sein würde, konnte er zum Zeitpunkt seiner Entscheidung wohl nur erahnen. Im Prozess 1948 wurde daraus „das hemmende Einschalten des als Gegner der Maßnahmen genau bekannten Zeugen Dr. Schmitz“,282 welches „der Aktion gegen die Kinder in erheblich größerem Umfange Abbruch getan hat, als sie mit der Tötung von 30 Kindern zum Zuge gekommen ist.“283 Mit der Feststellung dieser, von Hermann Wesse zugegebenen, Tötungen steht gleichzeitig fest, dass Hans Aloys Schmitz in diesen 30 Fällen sein Votum zu Ungunsten der kleinen Patienten abgab und einen Bericht unterzeichnete, der die Einschläferung dieser Kinder empfahl. Zudem war in vielen Fällen er es, der die Kinder vorher in Bonn untersuchte und die „Meldung gemäß Runderlaß“ veranlasste,284 wodurch die Kinder überhaupt erst in das Reichsausschussverfahren aufgenommen wurden. Noch höhere Brisanz erhält der Sachverhalt, wenn man sich vor Augen führt, dass Dr. Schmitz die Todeskandidaten zum Teil persönlich nach Waldniel transportiert hat. Bonner Ordensschwestern haben im Interview mit der Autorin Linda Orth angegeben, dass Dr. Schmitz einzelne Kinder, für die die Verlegung nach Waldniel angeordnet worden war, bei seinen Besuchen dorthin mitgenommen hat.285 So muss es sich auch bei dem bereits eingehend beschriebenen Fall der Margarethe P. abgespielt haben.286 Einlieferungstag war der 17.05.1943, ein Montag. Schmitz kam jeweils montags nach Waldniel. An diesem Tag ist nur ein einziges Kind in Waldniel neu aufgenommen worden. Margarethe P. war zuvor in der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn und wurde zweifelsfrei an diesem Tag von Bonn nach Waldniel überführt. Es kann also mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Schmitz dieses 281 HStAD, Gerichtsurteil zu 8 KLs 8/48 vom 24.11.1948, in: Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-32, S. 496. 282 Ebd. 283 Ebd., S. 497. 284 U.a. Krankenakte Margarete P., in: LVR-Kliniken Viersen. 285 Mdl. Auskunft Linda Orth. 286 Vgl. Kapitel 5 „Opfer und Angehörige“.

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Kind anlässlich seines regelmäßigen Besuches mitbrachte. Angesichts dieser Umstände schwindet die Distanz, die Schmitz in seinen Aussagen aufzubauen versucht hat, und das groteske Bild eines kleinen, lächelnden Mädchens erscheint, das gemeinsam mit dem, der über seinen Tod entschieden hat, auf dem Weg in die Tötungsabteilung ist, um dort „erlöst“ zu werden. In Bezug auf Dr. Schmitz erscheinen die Angaben, die Hermann Wesse im Oktober 1947 gemacht hat, ebenfalls weitgehend plausibel: „Wenn ich über die Tätigkeit des Obermedizinalrates Dr. Schmitz befragt werde, so erwidere ich darauf, daß dieser mit den Dingen in der Kinderfachabteilung genau so verflochten war wie ich […], jedenfalls war Dr. Aloys Schmitz mir in meiner Tätigkeit für den Reichsausschuß in Berlin überstellt. Ich konnte keinen Bericht ohne seine Begutachtung fertigen. Ich war insoweit nicht selbstständig.“287 Schmitz’ eigene Angaben erscheinen dagegen weitaus weniger glaubhaft. So hatte er angeblich darauf bestanden, von allen Berichten, die er mit unterzeichnet hatte, eine Kopie zu erhalten. Offenbar hatte er aber anschließend keine einzige dieser Kopien nach Bonn mitgenommen und war nicht in der Lage anzugeben, wo diese Berichte geblieben seien. Auffallend nachlässig für jemanden, der sonst so gewissenhaft zu arbeiten pflegte. Da Schmitz keine Zweifel über den Sinn seiner Tätigkeit und die Auswirkung seiner Berichte haben konnte, legte er sich eine Auslegung zurecht, die so absurd ist und sich selbst Lügen straft, dass sich eigentlich jeder Kommentar erübrigt: „Bezüglich der Regelmäßigkeit, mit der ich die Abteilung Waldniel aufzusuchen pflegte, kann ich Wesse’s Angaben nicht bestätigen, daß ich jede Woche nach Waldniel gefahren wäre. Obwohl ich dazu nach der mir von Prof. Creutz zuteil gewordenen Anweisung eigentlich genötigt gewesen wäre, habe ich meine Besuche in unregelmäßigen Abständen gemacht, je nachdem, ob Wesse Kinder zur Nachuntersuchung vorbereitet hatte oder nicht. Leitend war für mich dabei der Gedanke, daß ich unter keinen Umständen durch meine Besuche Wesse zu einer aktiveren Arbeit anregen wollte, andererseits glaubte ich nicht verantworten zu können, völlig fern zu bleiben, weil ich bei der Ungewißheit der Verwendung der Berichte, den davon betroffenen Kranken nicht die einzige Chance der Rettung nehmen wollte, sofern eine objektive Berichterstattung den Kranken nützen konnte. Da ich durch meine Besuche in Waldniel Wesse zumindestens zu einer sorgfältigeren und damit länger dauernden Bearbeitung der Fälle veranlaßte, konnte ich das darin gelegene retardierende Moment nicht ganz außer acht lassen […]. Eine offensichtliche Tatsache zu bestreiten oder 287 Vernehmungsniederschrift Hermann Wesse, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 24.

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Wesse an einer solchen Feststellung zu hindern, war ich in der damaligen Situation nicht imstande. Ich muß aber darauf hinweisen, daß in meiner sonstigen beruflichen Tätigkeit ich es nicht gescheut habe, selbst offensichtliche Tatsachen zu verschleiern, wenn ich damit Kinder und Jugendliche vor dem Zugriff der Berliner Stellen retten konnte. Um eine derartige Sabotage als solche zu erkennen, wäre Wesse intelligent genug gewesen. Bei den von dem Reichsausschuß erfaßten Kindern konnte, wenn überhaupt, nur eine positive Feststellung meinerseits das Schicksal von den Kindern abwenden und um eine solche machen zu können, hätten die betreffenden Fälle eine objektive Handhabe bieten müssen.“288 Demnach hatte er also bei den Kindern, die bereits in Waldniel waren, nicht viel zur Rettung beitragen können, in seiner Anstalt in Bonn will er aber „selbst offensichtliche Tatsachen verschleiert“ haben, um Kinder zu retten. Zumindest im Fall der Margarethe P. hat er jedoch die Meldung gemäß Runderlass selbst veranlasst, das Kind damit dem Reichsausschuss überantwortet und dann auch noch persönlich in Waldniel abgeliefert. Ein Beweis dafür, dass Schmitz bei Fällen, die „keine objektive Handhabe“ boten, eigenständig handelte und sich keinerlei Mühe gab, die Kinder vor den Berliner Stellen zu retten, findet sich in der Krankenakte des kleinen Peter S. aus Köln-Kalk. Als er am 31.03.1943 in Bonn untersucht wurde, war der Junge eineinhalb Jahre alt und aus Sicht der Ärzte ein hoffnungsloser Fall, er „wurde als reiner Pflegefall der Kinderfachabteilung Waldniel zugeführt“.289 Da Schmitz ohnehin das Gutachten gegenzeichnen musste, welches Hermann Wesse in Waldniel erstellt hätte, kürzte er hier den Vorgang ab und meldet den Jungen unter Beifügung seines eigenen Gutachtens direkt dem Reichsausschuss. Hermann Wesse brauchte in Waldniel nur noch den Eingang der Ermächtigung abzuwarten und die Tötung vorzunehmen. Am 09.04.1943 wurde Peter S. in Waldniel aufgenommen. Ein paar Tage später schrieb Hermann Wesse eine Nachricht über die angebliche Erkrankung des Kindes an die Eltern. Vom Zeitpunkt der Einlieferung in Waldniel bis zum Tod des Jungen vergingen nur 13 Tage. Die Sekretärin füllte ein Krankenblatt aus und dokumentierte am 15.04.1943 eine Untersuchung des Kindes, die wieder mit der Feststellung endete: „Das Kind ist nicht abrichtfähig“. Am 22.04.1943 machte Hermann Wesse drei handschriftliche Eintragungen in die Krankenakte, wobei er das erste Datum zunächst mit 22. angab und dann die zweite Zwei in eine Null änderte, um wieder die Dokumentation eines mehrtätigen Krankheitsverlaufs vorzutäuschen: 288 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 188ff. 289 Folgende Dokumente aus der Krankenakte Peter S., in: LVR-Kliniken Viersen.

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Abb. 147: Untersuchungsbericht zu Peter S.

Abb. 148: Benachrichtigung der Eltern von Peter S. „20.4.43 Seit heute Brechdurchfall. Keine Temperatur − körperlich o.B. 21.4.43 Trotz Teepause weiterhin erbrochen. 22.4. Trotz (unleserlich) bestehen des Brechdurchfalls. Herz- und Kreislauf und Allgemeinbefinden schlecht. Gegen 20:30 Uhr Exitus letalis. Klinische Diagnose: Microcephalie, Idiotie, Pyramidenbahnstörungen, einschießende Spasmen. C.M. Brechdurchfall. Wesse.“

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Abb. 149: Krankenblattauszug Peter S. Ein Fall der belegt, dass Hans Aloys Schmitz durchaus ohne das Zutun von Hermann Wesse Kinder dem Reichsausschuss auslieferte und Waldniel in diesem Fall lediglich die ausführende Stelle war, die ein Urteil vollstreckte, welches er zuvor in seiner Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie bereits gefällt hatte. Als Beispiel für die unmittelbaren Auswirkungen der Handlungsweise von Dr. Schmitz sollen auch die folgenden beiden Einzelfälle gegenübergestellt werden: Hans-Erich F. aus Köln wurde am 20.04.1943 von Bonn nach Waldniel verlegt. Sein Fall stellt deshalb eine Besonderheit dar, weil von ihm zwei Krankenakten existieren. Bei seiner Überführung, die am „Geburtstag des Führers“ und damit an einem mit Feiern und Kundgebungen ausgefüllten Tag erfolgte, wurde die gleichzeitige Überstellung der Bonner Unterlagen versäumt. In Waldniel wurde deshalb bei seiner Aufnahme eine neue Akte angelegt. Seine Patientenakte ist eine der wenigen in Bonn erhaltenen Akten eines nach Waldniel verlegten Kindes. In diesem Bestand ist sie die einzige, die ein Foto enthält. Hans-Erich F. war bereits im August 1942 in Bonn untersucht worden. Diese Untersuchung führte der zu diesem Zeitpunkt dort zur Ausbildung befindliche Hermann

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Abb. 150: Hans-Erich F., 1942 Wesse durch. Der offizielle Bonner Untersuchungsbericht, der sich in der Waldnieler Akte befindet und daher von Dr. Schmitz zu seinem Termin mitgebracht worden sein muss, stammt vom 02.10.1942. Auf diesen Bericht wird später im Zusammenhang mit Wesses Ausbildungszeit in Bonn nochmals eingegangen werden. Ein anschließend in Waldniel angefertigter Untersuchungsbericht diagnostizierte ebenso wie in Bonn einen „erworbenen Hirndefekt mit geistigem Defektzustand vom Grade einer Idiotie“ und fügte abermals den berüchtigten Satz hinzu: „Das Kind ist nicht abrichtfähig.“ Nach etwas mehr als zwei Wochen in der Kinderfachabteilung verstarb Hans-Erich F. an einem „fieberhaften Darmkatarrh mit Erbrechen.“ Anders verhält es sich im Falle von Nikolaus A. aus Trier. Sein Aufenthalt in der Kinderfachabteilung Waldniel war lediglich anhand der zufällig aufgefundenen Belegungsliste vom 21.12.1942 nachweisbar. Nikolaus A. war im September 1941, also noch vor Eröffnung der Kinderfachabteilung Waldniel, in Bonn untersucht worden. Den Unterlagen zufolge befand Dr. Schmitz sich zu dieser Zeit bei der Wehrmacht. Die Untersuchung wurde durch den Bonner Arzt Dr. Horster durchgeführt. Das Untersuchungsergebnis war niederschmetternd und hätte nach den Kriterien des Reichsausschuss die „Behandlung“ des Kindes in jeder Hinsicht gerechtfertigt: „Erheblicher Defektzustand nach geburtstraumatischer Hirnschädigung. Der geistige Defekt ist so groß, daß von bildungsmäßigen oder erzieherischen Maßnah-

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men keinerlei Erfolg zu erwarten ist. Die Unterbringung des Untersuchten in einer Schwachsinnigenanstalt ist daher dringend erforderlich. Sie erfolgt z. Zt. lediglich zum Zwecke der Bewahrung.“290

Abb. 151: Nikolaus A., 1941 Im Gutachten wurde keine Meldung an den Reichsausschuss, sondern lediglich die Überstellung des Patienten in die Anstalt Mönchengladbach-Hardt vermerkt. Von dort wurde Nikolaus A. am 16.12.1942 nach Waldniel verlegt. Eine erneute Einschaltung der Bonner Klinik erfolgte nicht. Obwohl sein Krankheitsbild eindeutig den Kriterien des Reichsausschusses entsprach, und seiner Tötung demnach nichts im Wege gestanden hätte, überlebte Nikolaus mehr als eineinhalb Jahre in Waldniel. Durch die Belegungsliste vom 21.12.1942 ist eindeutig nachweisbar, dass er dem Reichsausschuss namentlich als in der Kinderfachabteilung befindlicher Patient bekannt war. Trotzdem geschah nichts. Am 2. Juli 1943 wurde er mit den anderen Kindern seines Buchstabenkreises nach Brandenburg-Görden verlegt. In Görden überlebte Nikolaus A. nur noch drei Tage. In der Krankenakte ist mit Datum 05.07.1943 vermerkt: „Heute Exitus“ (19.00 Uhr) ohne Angabe einer Todesursache. Sein Fall scheint in Görden von wissenschaftlichem Interesse gewesen zu sein, denn ein Sektionsprotokoll vom Folgetag enthält sechs Fotografien des entnommenen Gehirns und stellt „grössere bronchopneumonische Infiltration“ 290 Krankenakte, in: LVR-Kliniken Bonn.

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der Lunge fest. Sein plötzliches Ableben ist also mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Anwendung des „Luminal-Schemas“ zurückzuführen.

Abb. 152: Hirnsektionsfotos Nikolaus A., Angabe in der Krankenakte: 6. März 1943, 8:00 Uhr Die Gegenüberstellung dieser beiden Fälle zeigt, dass dort, wo Dr. Hans-Aloys Schmitz an den Entscheidungen mitwirkte, recht zügig im Sinne des Reichsausschusses gehandelt wurde. Im Gegensatz zu seiner Aussage, dass „nur eine positive Feststellung seinerseits“ das Schicksal von den Kindern hätte abwenden können, zeigt sich, dass Kinder trotz eindeutigem Krankheitsbild in Waldniel vergleichsweise gute Überlebenschancen hatten, sobald Dr. Schmitz an dem Verfahren nicht beteiligt war und die Kinder nicht unmittelbar von Bonn aus nach Waldniel verlegt wurden. Die Sekretärin Lilo G., die in Waldniel den Schriftverkehr der Kinderfachabteilung erledigte, schilderte die Rolle von Dr. Schmitz 1947 folgendermaßen: „Nahezu wöchentlich, und zwar regelmäßig montags erschien dann Herr Medizinalrat Dozent Dr. Hans-Aloys Schmitz und untersuchte die von Herrn Dr. Wesse bereits untersuchten Kinder. Kam er in seiner Untersuchung zu einem von Dr. Wesse abweichenden Urteil, wurde der ursprünglich von Dr. Wesse verfaßte Bericht abgeändert und neu geschrieben. Beide Herren, also Dr. Wesse und Dr. Schmitz, unterschrieben dann den Bericht, der von mir an den Reichsausschuß in Berlin abgesandt wurde.“291 Im dem im Jahr 2008 mit der inzwischen 86-jährigen Lilo G. geführten Gespräch wurde ihr auch ein Foto von Hans Aloys Schmitz, dessen Namen sie in ihrer Erinnerung zunächst mit einer anderen Person in Verbindung gebracht hatte, vorgelegt. Nachdem sie es lange und eingehend betrachtet hatte, begann sie zu erzählen: 291 Vernehmungsprotokoll Lilo G. vom 31.10.1947, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 174ff.

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„Ach ja, der Schmitz […] ja, der kam jede Woche. Ein gut aussehender und immer sehr gut gekleideter Mann, der wusste, wer er war. Er war der Chef und hatte das letzte Wort in Bezug auf die Kinder. Ich hatte den Eindruck, dass der Doktor Wesse gegen den Schmitz nicht ankam.“ – Auf Nachfrage: „Nach meinem Empfinden fiel die Beurteilung durch Dr. Schmitz häufig härter aus, und er entschied eher zu Ungunsten der Kinder als Dr. Wesse. Meinungsverschiedenheiten oder Streit zwischen den beiden habe ich nicht erlebt. Auch nicht, dass Schmitz sich Herrn Wesse gegenüber herablassend oder überheblich gebärdet hätte. Es bestand aber kein Zweifel daran, dass bei unterschiedlicher Beurteilung die Meinung des Herrn Schmitz letztlich die entscheidende war und Dr. Wesse sich dieser zu fügen hatte.“ Luise Müllender sagte 1947 folgendes aus: „Frage: Welche Rolle spielte Dr. Aloys Schmitz, Bonn? Antwort: Dieser kam jeden Montag zu Überprüfung der durch Dr. Wesse aufgestellten Untersuchungen und Berichte, da dieser meines Wissen nach noch Ass.-Arzt war und so seine ärztlichen Berichte zunächst noch von einem Facharzt überprüft werden mußten. […] Dr. Schmitz untersuchte die Kinder, die in dem verflossenen Zeitraum von Dr. Wesse untersucht worden waren. Nach der Untersuchung wurden ihm die Berichte von Dr. Wesse vorgelegt. Er überprüfte sie. In den meisten Fällen mußten die Berichte erneut geschrieben werden. Ich nehme an, daß dieses auf eine andere ärztliche Beurteilung des Dr. Schmitz zurückzuführen war.“ In dem ersten Untersuchungsbericht der Staatsanwaltschaft zu den Vorfällen in Waldniel findet sich folgender Hinweis: „Es befinden sich weiterhin in den Akten der ehemaligen Kinderfachabteilung Waldniel drei Schreiben, und zwar vom 22.5.42, 1.6.42 und vom 18.6.42, aus denen hervorgeht, daß Dr. Schmitz seine Mitarbeit hinsichtlich der Kinderfachabteilung des Reichsausschusses in Waldniel zugesagt hat.“292 Bei den Prozessunterlagen im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf waren diese drei Schreiben nicht mehr aufzufinden. Einige Mühe bereitete dem Gericht die Würdigung der siebenmonatigen Ausbildungszeit, die Hermann Wesse in Bonn verbrachte. Wie bereits erwähnt, wertete Professor Creutz diesen Zeitabschnitt als eine, auf seine Veranlassung hin erfolgte, Verzögerung der Tötungen. Bonner Pflegepersonal hat in Vernehmungen tatsächlich angegeben, Hermann Wesse sei ihnen „unheimlich“ gewesen und man habe versucht möglichst jeden Kontakt mit ihm zu vermeiden.293 Das Gericht ging bei der Urteilsbegründung so weit zu 292 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 24. 293 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133.

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argumentieren, Hermann Wesse habe die Rechtswidrigkeit seiner Handlungen u. a. daran erkennen müssen, dass er „während seiner siebenmonatigen Tätigkeit in der Landesklinik in Bonn […] von allen gemieden“ worden sei, „weil gegen ihn wegen seiner Beziehungen zu den Berliner Stellen Argwohn und Mißtrauen herrschte“.294 Dies erscheint relativ befremdlich, wenn man das Verhalten des Klinikleiters Professor Pohlisch betrachtet, das weiter unten noch Gegenstand sein wird.295 Außerdem deutet in den vorhandenen Unterlagen nichts darauf hin, dass Hermann Wesse (dessen medizinische Kompetenz gleichfalls in Abrede gestellt wurde) in der Bonner Landesklinik nicht ganz normal gearbeitet hätte, wie jeder andere Arzt auch. Dies untermauert z. B. die bereits erwähnte Krankenakte von Hans-Erich F., der zuerst in Bonn durch Hermann Wesse untersucht wurde, um dann anschließend nach Waldniel verlegt und dort von ihm getötet zu werden. Am 28.08.1942 erstellte Hermann Wesse einen Untersuchungsbericht, der sich durch Nichts von den sonst üblichen Befunden der Bonner Klinik unterscheidet.296

Abb. 153: Diagnose zu Hans Erich F. Mit dem Stempel der Bonner Klinik wurde am 02.10.1942 der offizielle Befund erstellt, abgezeichnet von den Ärzten Dr. Faust und dem bereits erwähnten Dr. Horster. Dieser Bericht ist eine wortgetreue Abschrift des Untersuchungsberichtes von Hermann Wesse. Sein Urteil und seine Diagnostik wurden von den beiden Fachärzten weder ergänzt, noch in Zweifel gezogen. Wesses Aufzeichnungen zufolge wurde Hans-Erich F. am 25.04.1942 auf Wunsch der Mutter nach Hause beurlaubt. Er empfahl die Aufnahme des Kindes in die Anstalt Mön294 Urteil LG Düsseldorf vom 24.11.1948 – 8 KLs 8/48, S. 58, in: Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-58, S. 522. 295 Vgl. dazu den Exkurs zu Beginn des Kapitels „Der Strafvollzug“ in diesem Buch. 296 Die folgenden Unterlagen aus der Krankenakte Hans-Erich F., in: LVR-Kliniken Bonn.

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9. Kapitel

chengladbach-Hardt, „falls die Mutter des Kindes die Pflege nicht mehr leisten kann“. Bezeichnenderweise erwähnte Hermann Wesse keine Meldung an den Reichsausschuss. Obwohl er einen Schwachsinn „schweren Grades“ diagnostiziert hatte, entsprach er dem Wunsch der Mutter, ohne das Kind gleichzeitig den Berliner Stellen auszuliefern. Für einen angehenden Tötungsarzt, dessen Gebaren den anderen Mitarbeitern „unheimlich“ war, ein überraschend großzügiges Verhalten, zumal die Meldung an den Reichsausschuss in den Berichten von Dr. Hans-Aloys Schmitz in solchen Fällen obligatorisch war. Ein weiterer, bedeutsamer Widerspruch findet sich in Hans-Aloys Schmitz’ eigenen Aussagen. So behauptete er einerseits, trotz seiner „häufigen Zusammenkünfte mit dem Angeklagten Wesse die Unterhaltung immer nur auf die rein dienstlichen Notwendigkeiten beschränkt, außer dem Arztzimmer die Abteilung nur bei drei Gelegenheiten betreten und jede persönliche Note in Gespräch und Umgang stets vermieden“297 zu haben. An anderer Stelle wird folgendermaßen auf Schmitz Bezug genommen: „Im Übrigen hat er [Wesse] sich nach Aussage des Zeugen Dr. Schmitz in großer Fürsorge um die kranken Kinder der Abteilung in Waldniel bemüht und ihnen mit Spielsälen, der Errichtung einer Hilfsschule und in jeder sonst nur möglichen Weise alle Erleichterungen und Verbesserungen ihrer traurigen Lage zu vermitteln versucht.“298 Diese, sich völlig widersprechenden, Aussagen finden sich im Abstand von nur drei DIN A4-Seiten in demselben Gerichtsurteil. In den Heidelberger Dokumenten befindet sich eine Liste der zugelassenen „Euthanasie“-Gutachter. Neben Namen wie Heyde, Heinze, Lonauer und Linden (alles hochkarätige Vertreter der „Euthanasie“-Aktion) und dem ersten Arzt der Waldnieler Kinderfachabteilung, Dr. Renno, findet sich unter den Gutachtern, die die Zulassung besaßen, über Leben und Tod zu entscheiden, auch der Name Dr. Aloys Schmitz Es wurde bereits mehrfach auf das im Nachhinein für Hermann Wesse so verhängnisvolle Schreiben an den Reichsausschuss vom 12.05.1944 eingegangen, jenen Brief, in dem er um die Überstellung neuer Todeskandidaten nach Idstein /Taunus bat. Dieses Schreiben hat in beiden Prozessen und bei der Behandlung späterer Gnadengesuche immer wieder eine Rolle gespielt. Von den Gerichten völlig unbeachtet blieb hingegen, dass es zu diesem Brief ein Antwortschreiben des Reichsausschusses gibt, das in Bezug auf Dr. Schmitz und Professor Creutz besonders aufschlussreich ist: „Bezüglich der Einweisung von Reichsausschußkindern würde ich empfehlen, sich mit Herrn Landesrat Bernotat299 ins Benehmen zu setzen. Dieser könnte vermutlich veranlassen, daß aus der Bonner Klinik von Herrn Dr. Schmitz laufend Kinder nach 297 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 24. 298 Urteil LG Düsseldorf vom 24.11.1948 – 8 KLs 8/48, S. 61, in: Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-61, S. 525. 299 Bernotat hatte in Hessen u. a. die gleiche Funktion wie Creutz in der Rheinprovinz.

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Abb. 154: Gutachterliste

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dem Kalmenhof verlegt werden, wie das bereits auch früher geschah. In letzter Zeit sind diese Kinder nach dem Eichberg verlegt worden. Unabhängig davon werde ich an Herrn Professor Creutz schreiben und ihm vorschlagen, entsprechende Kinder aus dem Rheinland, sofern er solche bei sich hat, gleichfalls nach dem Kalmenhof zu verlegen.“300 Wenn Professor Creutz dem Reichsausschuss bei der Einrichtung der Kinderfachabteilung so viele Schwierigkeiten gemacht hatte, wenn durch ihn das ganze Verfahren so immens verzögert und sogar „sabotiert“ wurde, dann scheint an dieser Stelle die Frage angebracht, wieso Richard von Hegener auf die Idee kam, gerade ihn bezüglich der Versendung von Kindern nach Idstein anzuschreiben. Glaubt man den Ausführungen des Gerichtsurteils, dann war Creutz’ ablehnende Haltung dem Reichausschuss bereits aufgefallen, weshalb man ihn angeblich von der Gestapo überwachen ließ. (Eine „GestapoAkte Creutz“ findet sich im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, das den bundesweit größten Bestand an Gestapoakten verwahrt, freilich nicht. – A.d.V.). Ferner ist diesem Schreiben zu entnehmen, dass Dr. Schmitz, der – ebenso wie Creutz – die Auflösung der Waldnieler Abteilung „mit Freude und Erleichterung“ aufgenommen haben wollte, trotz seiner Ablehnung und Gegnerschaft die ganze Zeit über weiterhin „laufend“ Kinder in Tötungsstationen geschickt hatte. Der Vorschlag von Hegeners, an dieser Stelle Creutz und Schmitz einzuschalten, legt die Schlussfolgerung nahe, dass man hier ein Team wieder zusammenbringen wollte, welches offensichtlich zuvor schon einmal im Sinne der Tötungsaktion ganz erfolgreich zusammengearbeitet und gut funktioniert hatte. Jede andere Schlussfolgerung ergibt keinen Sinn. Am 20.12.1947 wurden die Ermittlungen gegen Dr. Hans-Aloys Schmitz mit folgender Begründung eingestellt: „Zunächst ist durch die Ermittlungen erwiesen, daß Dr. Schmitz eine unmittelbare Verpflichtung dem Reichsausschuß in Berlin gegenüber nicht eingegangen ist. Ferner hat er sich der Übernahme der Gutachtertätigkeit in Waldniel heftig zur Wehr gesetzt, […] unmittelbar nach seiner uk-Stellung das WBK (Wehrbereichskommando) in Bonn aufgesucht und dort um seine Wiederverwendung bei der Wehrmacht gebeten, […] stets eine ärztlich einwandfreie Ethik durch seine Tätigkeit bewiesen und […] die vorsätzliche Tötung auch von hoffnungslos erkrankten Kindern mißbilligt und in seinem eigenen Tätigkeitsbereich schroff abgelehnt, […] sich fortgesetzt durch aktive Handlungen gegen die Durchführung der ‚Euthanasie’ gestemmt […] 300 HHStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31526, Bl. 496.

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seine Absicht, die nationalsozialistischen Euthanasie-Maßnahmen und Rassetendenzen zu sabotieren, nach Kräften im Rahmen des jeweils Möglichen in die Tat umgesetzt [...].“301 Diese Einstellungsverfügung endet mit folgender Feststellung: „Unter Zugrundelegung der obigen Ausführungen ist in der formalen Verflechtung des Dr. Schmitz zu der Kinderfachabteilung Waldniel eine Rechtswidrigkeit nicht zu erblicken, zum mindesten ist ihm die Absicht und das Bewußtsein einer Rechtswidrigkeit nicht nachzuweisen.“302 Dr. Hans Aloys Schmitz war bereits am 20.02.1947 nach einer durch die Militärregierung in Düsseldorf erteilten Genehmigung als leitender Arzt der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn wieder eingestellt worden. Am 28.05.1949 wurde er außerplanmäßiger Professor der Universität Bonn. Im März 1955 beantwortete er eine Anfrage des Düsseldorfer Oberstadtdirektors bezüglich eines von Bonn nach Kalmenhof transportierten und dort ermordeten Kindes. Zunächst behauptete er, die angeforderte Krankenakte sei in Bonn nicht mehr auffindbar und wahrscheinlich seinerzeit nach Kalmenhof mitgegeben worden. Im Anschluss stellte er noch folgende Behauptungen auf: „Eltern, welche ihre Kinder diesen Verlegungen entziehen wollten, hatten im Jahre 1943 dazu meistens genügend Gelegenheit […], [also] […] darf man die Vermutung herleiten, daß seitens der Angehörigen zu mindestens nichts geschehen ist, um das wegen seines geistigen Tiefstandes gefährdete Kind den Parteidienststellen zu entziehen. […] Da die Klinik trotz Verbots grundsätzlich den Angehörigen bei jeder Verlegung die neue Anschrift sogleich mitgeteilt hat, hätten die Eltern ihr Kind auch von Idstein noch abholen können, denn – wie die Mutter angibt – hat es dort noch bis zum […] 1944 gelebt.“303 Bezeichnenderweise fand sich dieser Schriftwechsel in der, angeblich nicht auffindbaren, Krankenakte. Abgesehen davon, wie unverfroren Schmitz hier den Eltern unterstellte, sie hätten sich 1943 nicht ausreichend um ihr Kind gekümmert und wären demnach selbst schuld, dass ihr Kind in Idstein getötet wurde, sind die Angaben über die angeblich sofortige Weitergabe der neuen Anschrift an die Eltern ebenfalls unzutreffend. In den analysierten Krankenakten der Kinderfachabteilung Waldniel fanden sich fünfzehn Untersuchungsberichte aus der Rheinischen Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn. Hiervon wurden elf nach dem Erscheinen des Runderlasses von 1938 verfasst. In vier Fällen ist im Untersuchungsbericht eindeutig festgehalten worden, dass die dem 301 Orth 1989, S 40f. 302 Ebd. 303 Orth 1989 S. 50f.

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Runderlass entsprechende Meldung von der Klinik, d.h. von Schmitz, vorgenommen wurde. In allen Fällen wurde vermerkt, dass der/die Untersuchte der Kinderfachabteilung Waldniel zugeführt wurde. In mindestens einem Fall hat Dr. Hans-Aloys Schmitz die Überführung des Kindes nach Waldniel im Rahmen seiner regelmäßigen Besuche persönlich vorgenommen. Bedenkt man, an welch entscheidender Position er bei der Durchführung der „Euthanasie“ in Waldniel mitgewirkt hat, muss die Erkenntnis, wie selten sein Name in den vorhandenen Unterlagen auftaucht, einige Verwunderung auslösen. Es scheint, als habe man ihm bei der Zeugenvernehmung alles, was er zu Protokoll gab, vorbehaltlos geglaubt und im Anschluss seine Mitwirkung bei den Kindertötungen schnell wieder vergessen. Bedingt durch die Kriegsereignisse herrschte im Jahr 1947 in Deutschland überall ein Mangel an Fachkräften. Schmitz galt nach wie vor als Koryphäe auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Kinderanstalt brauchte einen Leiter mit entsprechender Reputation und hatte hierbei keine große Auswahl. Hans-Aloys Schmitz starb im Jahr 1973. Er hat nie einen Tag im Gefängnis verbracht.

10. HERMANN WESSE – TRAGIK EINES KINDERMÖRDERS?

I

m Dezember 1952 verfasste der Direktor der Strafanstalt Kassel-Wehlheiden eine Beurteilung über Wesse und sprach davon, dass das Schicksal dieses Mannes, auf dessen Konto immerhin 55 gerichtlich festgestellte und von ihm selbst zugegebene Tötungen von Kindern gehen, „nicht einer gewissen Tragik“ entbehre.304 In den Reihen der Täter, die aufgrund von NS-Euthanasieverbrechen verurteilt wurden, ist der Arzt Hermann Wesse eine eher unbedeutende Figur. Er war ausführendes Organ einer Vernichtungsaktion, die andere entwickelt, gesteuert und geprägt hatten. Er hat sich weder durch grauenerregende Experimente, noch durch die Verantwortung für astronomisch anmutende Zahlen von Toten hervorgetan, wie dies beispielsweise für einen Josef Mengele oder die Ärzte in den „T4“-Vergasungsanstalten gilt. Was Hermann Wesse von allen anderen „Euthanasie“-Tätern unterscheidet, ist die Tatsache, dass er, abgesehen von denjenigen die kurz nach Kriegsende zum Tode verurteilt und deren Urteile auch vollstreckt wurden, als einziger nicht weitgehend unbeschadet „aus der Sache herausgekommen“ ist, sondern eine Haftstrafe von annähernd zwanzig Jahren verbüßt hat. Unterscheiden sich also seine Taten von denen derer, die mit fadenscheinigen Begründungen wie z. B. „mangelndes Unrechtsbewusstsein“ freigesprochen wurden oder die man nach Verbüßung eines minimalen Bruchteils ihrer Haftstrafe auf dem Gnadenwege in die Freiheit entließ? Unterscheiden sie sich von den Drahtziehern der „Aktion“, den Medizinalräten und Professoren, die, obwohl vielfach weitaus tiefer in die verbrecherische Maschinerie verstrickt, nahtlos in Amt und Würden weiterarbeiten konnten als wäre nichts geschehen? Wesses Verstrickungen in die „Euthanasie“, auch sein Prozess, seine Verurteilung und der anschließende Strafvollzug lohnen auf jeden Fall noch einmal eine nähere Betrachtung. „Doktor“ Hermann Wesse Die Frage nach Hermann Wesses Dissertation tauchte erst bei den tiefergehenden Recherchen zu diesem Buch auf. In den Gerichtsurteilen wurde jeweils mit unterschiedlicher Formulierung auf die Doktorarbeit Bezug genommen. Im Frankfurter Urteil von 1947 hieß es hierzu: Seine Doktorarbeit behandelte das Thema: „Nebenstörungen bei angeborenem und erworbenem Schwachsinn“. Während diese Formulierung noch die Frage offen ließ, ob diese Doktorarbeit jemals fertiggestellt und ob damit promoviert wurde, wurden die Angaben im Düsseldorfer Gerichtsurteil vom 24.11.1948 deutlich konkreter: 304 Schreiben vom 23.12.1952, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 164, Bl. 10.

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10. Kapitel

„Im Oktober 1942 erhielt er die Stelle eines selbständigen Assistenzarztes an der Kinderfachabteilung in Waldniel übertragen. Nach der Auflösung dieser Abteilung kam er für drei Monate an die Universitätskinderklinik in Leipzig, wo er gleichzeitig mit einer Arbeit über: ‚Nebenstörungen bei angeborenem und erworbenem Schwachsinn‘ promovierte.“305 Hier wurde also noch mal exakt der gleiche Titel der Dissertation genannt und zusätzlich festgehalten, dass Wesse in der Zeit an der Universitätskinderklinik Leipzig promoviert haben soll. Diese Darstellung erscheint auf den ersten Blick schlüssig. Leipzig war Universitätsklinik. Ihr Leiter, Professor Werner Catel, galt zu dieser Zeit als eine der führenden Kapazitäten auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Leipzig wäre also der ideale Ort gewesen, um eine Dissertation aus diesem Themengebiet zu vollenden. Aufgrund des Themas und des dargestellten zeitlichen Ablaufs hätte dies bedeutet, dass die Doktorarbeit Erkenntnisse aus Wesses Arbeit in Waldniel beinhalten würde und er sie, da die Zeit in Leipzig dafür zu kurz gewesen wäre, größtenteils in Waldniel verfasst haben musste. Natürlich keimt beim Historiker in so einem Moment die Hoffnung auf, Unterlagen, Fotos und Einzelfallbeschreibungen zu entdecken, von deren Existenz bislang niemand etwas ahnte. Eine Dissertation, die auf Erkenntnissen aus einer Kindermordstation basiert und für die dem Verfasser die „Würde eines Doktors der Medizin“ verliehen worden wäre, würde ein zeitgeschichtlich ebenso erschreckendes wie sensationelles Dokument darstellen. Mit einigem Aufwand wurde versucht, diese Dissertation ausfindig zu machen. Beginnend mit der Universitätsklinik Leipzig und dem dortigen Archiv führten die Nachforschungen über die Deutsche Bibliothek und die Berliner Humboldt-Universität sämtlich ins Leere. Am Ende der aufwändigen Nachforschungen stand die Erkenntnis, dass diese Doktorarbeit nicht existiert und auch nie existiert hat. Wenn Hermann Wesse überhaupt an einer solche Dissertation gearbeitet hat, dann wurde sie zumindest nicht vollendet, bzw. er wurde damit nie promoviert. Den Titel „Dr. med.“ durfte er demnach nicht führen. Auch in der NS–Zeit wurde i.d.R. Wert auf diesen akademischen Titel gelegt, und gerade die jungen SS-Ärzte und die Vollstrecker der „Euthanasie“ hatten hier vielfach Nachholbedarf. So gibt es mehrere Beispiele, dass Ärzte in den Konzentrationslagern das ihnen zur Verfügung stehende „Menschenmaterial“ rücksichtslos als Versuchskaninchen für grausame Experimente missbrauchten, die in erster Linie dem Zweck dienten, eine Dissertation zu einem möglichst spektakulären Thema zu veröffentlichen. Diese Dissertationen wurden zudem noch, wie im Falle des Buchenwalder Lagerarztes Dr. Hoven, häufig von Häftlingen geschrieben, die – da in der Regel medizi305 Rüter Bd. I, Nr. 14 (Kalmenhof ) u. lfd. Nr. 102 (Waldniel).

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nisch wesentlich erfahrener und gebildeter als die jungen SS-Ärzte – ohnehin die ganze Arbeit machten.306 Nur in der verkehrten Welt der Konzentrationslager war es denkbar, dass einem jungen Arzt, der gerade einmal sein Staatsexamen absolviert hatte, Doktoren und Professoren zur Verfügung standen, die ihm unterstellt waren, und deren Leben von seinem Wohlwollen abhing. Hoven promovierte 1943 mit einer mit „sehr gut“ bewerteten Doktorarbeit über Versuche zur Heilung der Lungentuberkulose. Er erwähnte ausdrücklich, dass die Versuchsreihen an Menschen durchgeführt wurden. Von den 33 Personen der ersten Versuchsreihe starben allein fünf „Versuchsobjekte“.

Abb. 155: SS-Arzt Dr. Waldemar Hoven, 1949 Da die „T4“ und der Reichsausschuss in erster Linie erwarteten, dass ihre Ärzte „weltanschaulich einwandfrei“ waren und der medizinischen Qualifikation weitaus weniger Aufmerksamkeit schenkten, stellte die Mitarbeit im „Euthanasie“-Programm für viele junge Ärzte eine Karriereperspektive dar. Unter Umgehung der sonst üblichen Stationen einer Arzt-Karriere versprach die Mittäterschaft schnelles Vorwärtskommen und attraktives Einkommen. Für den „Euthanasie“-Arzt ergab sich mithin keine dringende Notwendigkeit, Arbeits- und Zeitaufwand für die Erstellung einer Dissertation zu investieren, war er doch in der Lage, sich über die Tätigkeit als Mörder weitreichend zu privilegieren und sogar den Posten eines Anstaltsdirektors oder Ähnliches zu erreichen. Dass eine Promotion nicht zwingend mit übergroßem Arbeitsaufwand verbunden sein musste, sondern man mit Hilfe eines aufgeweckten Doktorvaters relativ schnell und unkompliziert an den Titel „Dr. med.“ kommen konnte, wurde bereits am Beispiel von Wesses Ehefrau, Dr. Hildegard Wesse, gezeigt.307 Im Falle des Hadamarer Vergasungs306 Kogon 1989, S. 321. 307 Vgl. die diesbezüglichen Ausführungen im Kapitel über Hildegard Wesse.

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arztes Gorgaß gibt es immerhin einen Schriftverkehr mit dem Landesverband, in dem nachgefragt wurde, wann er denn mit seiner Doktorarbeit (von der er bereits ein Jahr zuvor behauptet hatte, sie stünde unmittelbar vor der Fertigstellung) zur Vollendung zu kommen gedenke. Gorgaß erging sich in Ausflüchten und in der Folge wurde von übergeordneter Stelle niemals wieder nachgefragt.308 Zurück zu Hermann Wesse: Die Angaben in den beiden Gerichtsurteilen können nur von ihm stammen, da es sonst keine Quellen zu dieser Dissertation gibt. Im Jahr 1947 wählte er noch eine Formulierung, bei der er im Bedarfsfall einlenken und behaupten konnte, er habe ja nicht gesagt, dass er diese Doktorarbeit je fertig gestellt und damit promoviert habe. Schließlich hatte er lediglich angegeben, welches Thema die Arbeit behandelte. Dagegen hat er 1948 ohne jeden Zweifel bewusst die Unwahrheit gesagt. Was also hatte sich zwischen 1947 und 1948 verändert? Berücksichtigt man die politischen Ereignisse dieser Zeit, so wird die veränderte Darstellung schnell nachvollziehbar. Der Begriff des „Kalten Krieges“ wurde 1947 erstmals geprägt, und das Jahr 1948 brachte den endgültigen Zerfall des alliierten Bündnisses, welcher seinen Höhepunkt in der BerlinBlockade fand. Hermann Wesse konnte also mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass aus der sowjetisch besetzten Zone in absehbarer Zeit keine Unterlagen zu erhalten sein würden. In der Chronologie der Ereignisse ließ sich die Doktorarbeit einleuchtend in Leipzig unterbringen, und bei einem glücklichen Ausgang des Prozesses hätte man sich auf diesem Wege eventuell einen amtlich festgestellten Doktortitel verschafft, der nie mehr zu überprüfen gewesen wäre. Der Versuch, sich auf diesem Wege den Titel zu erschleichen, liegt offen auf der Hand! Dass er, selbst wenn dieser Versuch geglückt wäre, in den kommenden 20 Jahren mit dem Titel „Dr. med.“ nichts würde anfangen können, konnte Hermann Wesse zu diesem Zeitpunkt wohl kaum absehen.

Abb. 156: Vernehmungsprotokoll v. 21.01.1949, in dem Wesse sich selbst als „Dr. med.“ bezeichnet 309

308 Telefonische Mitteilung von Peter Sandner Mai 2005. 309 HHStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31526, Bl. 355.

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Der endgültige Beweis für diese Lüge fand sich in einem der zahlreichen Bände des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf. Im Jahr 1949 ging es im Rahmen des Strafvollzuges um die Bezüge, die Hermann Wesse als Arzt im Normalfall von der Provinzialverwaltung zugestanden hätten. In diesem Zusammenhang fiel auf, dass in den Unterlagen überall ein Dr. Wesse geführt wurde, aber nirgendwo ein Nachweis über die Verleihung des Doktortitels zu finden war. Es wurde also angewiesen festzustellen, wo der Gefangene sich gerade aufhielt und ihn zu fragen. Hermann Wesse saß zu dieser Zeit im Gefangenen-Hospital Marburg Lahn. Von dort ging am 10. November ein Antwortschreiben an den Oberstaatsanwalt in Düsseldorf:310 „Unter Bezugnahme auf das o.a. Schreiben, gerichtet an die Haftanstalt in Frankfurt (Main), wird mitgeteilt, daß sich Wesse seit 21.11.1947 im hiesigen Gefangenen-Hospital in Strafhaft befindet. […] Dem W. wurde eröffnet, daß die lebenslange Zuchthausstrafe in […] Düsseldorf ebenfalls rechtskräftig geworden ist. Überhaft wurde in dieser Sache notiert. Bezüglich der Verleihung des Doktorgrades verweise ich auf die in der Anlage beigefügte Vernehmung des Wesse.“ Nun musste Hermann Wesse zugeben, dass er keinen Doktortitel besaß:

Abb. 157: Befragung Wesses wegen seines Doktortitels 310 Verfahren 8 KLs 8/48, in: HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 164, Bl. 6.

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Dass Hermann Wesse sich des Doktortitels nicht bedient hätte, ist nur zum Teil richtig. Zutreffend ist, dass im Rahmen der Recherchen zu diesem Buch kein Dokument aufgetaucht ist, welches er mit „Dr. Wesse“ unterschrieben hat. Die Todesbescheinigungen aus der Kinderfachabteilung Waldniel tragen die einfache Unterschrift „Wesse“, und auch die Einträge in den Krankenakten aus Waldniel sind so unterzeichnet.

Abb. 158: Typische Unterzeichnung einer Todesbescheinigung durch Hermann Wesse, Juni 1943 Rezeptformulare, wie Wesse sie in der Vernehmung am 10.11.1949 erwähnte, waren keine vorhanden. Dass Hermann Wesse der Bezeichnung „Dr. Wesse“ konkret widersprach, ist allerdings erst nach dem 10.11.1949 feststellbar. Beispielsweise beginnt ein Vernehmungsprotokoll vom 25.10.1947 mit den Angaben zur Person und der Formulierung „Ich heiße Dr. med. Wesse“. Dieses Protokoll wurde mit „v.g.u.“ (vorgelesen genehmigt unterschrieben) von ihm unterzeichnet, ohne dass er die Angaben richtig gestellt hätte. Eine Eidesstattliche Erklärung vom 03.01.1947 beginnt mit den Worten: „Ich, Dr. med. Hermann Wesse, schwöre, sage aus und erkläre […]“. Auch dieses Dokument ist von ihm unterschrieben worden, ohne dass er an der Bezeichnung „Dr. med.“ etwas korrigiert hätte. Man kann also nicht nachweisen, dass Hermann Wesse sich eigenmächtig des Doktortitels bedient hätte; er hat aber grundsätzlich auch nicht widersprochen, wenn Andere ihn fälschlicherweise mit diesem Titel bezeichneten. Erst in späteren Vernehmungen wies er darauf hin, dass er nicht berechtigt war, den Doktortitel zu führen, und die Angaben aus früheren Protokollen, bei denen er dies geflissentlich übersehen hatte, unrichtig waren. Auch während der NS-Zeit ließ er sich diese Bezeichnung gefallen. So trägt beispielsweise sein Soldbuch der Wehrmacht die Bezeichnung „Dr. Hermann Wesse“, wenngleich er es auch nur mit „Hermann Wesse“ unterschrieben hat. Selbst der sonst so penibel arbeitende Walther Creutz hat sich Wesses Titel nicht bestätigen lassen. Er, der – wie der Personalakte von Hildegard Wesse zu entnehmen

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Abb. 159: Auszug aus Vernehmungsprotokollen Wesses

Abb. 160: Soldbuch Hermann Wesses war – peinlichst genau darauf achtete, dass ihm ärztliche Bestallungsurkunden, die Vereidigung auf den „Führer“, politische Unbedenklichkeitsbescheinigungen etc. vorgelegt wurden, hat den Titel stillschweigend vorausgesetzt. Das offizielle Versetzungsschreiben nach Waldniel, am 26.09.1942 von Creutz verfasst, ist an „den Assistenzarzt Dr. Hermann Wesse“ adressiert.311 Die Personalkarteikarten der Rheinprovinz tragen ab 1939 die Bezeichnung „Dr. Wesse“. Zu diesem Zeitpunkt war Hermann Wesse gerade durch die Bestallung zum Arzt vom Medizinalpraktikant zum „Volontärarzt“ aufgestiegen und bezog ein Einkommen von monatlich 150,00 Reichsmark. Lediglich die Karteikarte der Reichsärztekammer lautet auf „Hermann Wesse“ und trägt den Vermerk „bestallter Arzt“, jedoch nicht „Dr. med.“. Hildegard Wesse hatte ihre Dissertation am 21.10.1937 abgeliefert. Die Arbeit findet sich im Verzeichnis des Pathologischen Instituts der Medizinischen Akademie Düsseldorf unter dem Jahrgang 1938. Ihre Bestallung als Arzt wurde jedoch erst am 21.01.1939 311 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 133, Bl. 196.

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mit rückwirkender Gültigkeit ab dem 15.12.1938 ausgestellt. Setzt man dies als den damals üblichen Ablauf und „Normalfall“ voraus, erscheint es einleuchtend, dass man stillschweigend davon ausging, mit der ärztlichen Bestallung am 01.09.1939 habe Hermann Wesse zeitgleich auch zum Dr. med. promoviert. Die Partei und der „Sonderauftrag“ Hermann Wesse wollte Karriere machen und es „zu etwas bringen“. Über einen gewissen Zeitraum versuchte er dies dadurch zu erreichen, dass er im Strom der sich rapide ausbreitenden Nazi-Aktivisten mitschwamm. Während dieser Zeit gehörte er auch kurzfristig einem „SA-Studentensturm“ an,312 war dort aber nicht in herausragender Weise aktiv. In den SA-Unterlagen des ehemaligen Berlin-Document-Center waren über Hermann Wesse keine Angaben zu finden. Es gibt lediglich eine so genannte „Gau-Karte“, aus der hervorgeht, dass Hermann Wesse sich bis zu seiner Zeit in Waldniel immer ordentlich bei der jeweils zuständigen Ortsgruppe der NSDAP an- und abgemeldet hat.

Abb. 161: Gaukarte Hermann Wesses 312 Urteil des LG Düsseldorf vom 24.11.1948, 8 KLs 8/48 (Pers. Werdegang des Angeklagten Wesse), in: Rüter Bd. III, lfd. Nr. 102 a-5, S. 469.

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Außerdem existieren mehrere Personalkarteikarten der Anstaltsverwaltung, aus denen sich sowohl Wesses beruflicher Werdegang, als auch die Entwicklung seiner Bezüge größtenteils nachvollziehen lässt. Die Karteikarte des Zeitraums 1940 bis 1942 enthält zudem eine detaillierte Aufstellung der Parteiorganisationen, denen Wesse zu dieser Zeit angehörte.

Abb. 162: Personalkarteikarte Wesses in der NSDAP Geht man davon aus, dass die Angabe über die Zuwendung der NSDAP, die ihm die Fortsetzung seines Studiums ermöglichte, stimmt,313 dann war sein Bestreben, sich der Partei gegenüber loyal zu zeigen, nur natürlich. Dass Wesse seit April 1933 Parteimitglied war und auch (wie der überwiegende Teil aller „Parteigenossen“) der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) angehörte, war bereits bekannt. Interessant ist an dieser Karteikarte der Eintrag bei dem unscheinbaren Kürzel „PL“. Diese Abkürzung steht für „Politische Leitung“ der NSDAP, welcher Wesse – nach dieser Karte – seit dem 01.01.1937 angehörte. Die Politische Leitung gehört zu den Parteigliederungen, die beim Nürnberger Prozess zu „Verbrecherischen Organisationen“ erklärt wurden. Im Gegensatz zu SA, SS und anderen Parteiorganisationen ist über die Politische Leitung relativ wenig bekannt und die Frage, was man denn tun musste um „Politischer Leiter“ zu werden und welche Aufgaben ein Politischer Leiter hatte, ist nicht mit wenigen Sätzen pauschal zu beantworten. Im Organisationshandbuch der NSDAP gibt es eine umfangreiche Abhandlung darüber, die allerdings nicht alle Fragen beantwortet: „Alle Politischen Leiter gelten als vom Führer ernannt und sind ihm verantwortlich, sie genießen nach unten volle Autorität. Bei der Auswahl der Politischen Leiter kommt es darauf an, den richtigen Mann an die richtige Stelle zu setzen. […] Alter, 313 HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 164, Bl. 10 (Schreiben des Direktors der Stafanstalt Kassel-Wehlheiden vom 23.12.1952).

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gesellschaftliche Stellung sind nebensächlich. Charakter und Eignung entscheiden allein. […] Berufungen von Politischen Leitern werden vorgenommen […] von den Gauleitern, Kreisleitern, Ortsgruppenleitern für ihre jeweiligen Hoheitsgebiete […]. Mit dem Politischen Leiter bauen wir die politische Führung im Staate auf. Der Politische Leiter muß Prediger und Soldat zugleich sein.“314 Folgt man diesem Organisationshandbuch, so konnte jedes Parteimitglied in seinem Wirkungskreis zum Politischen Leiter ernannt werden. Hierbei gab es neben den Gauleitern und Ortsgruppenleitern nach unten hin weiter verzweigte Zuständigkeitsbereiche, wie die so genannten „Blockleiter“ und „Zellenleiter“. In jedem Fall waren die Politischen Leiter dafür zuständig, in ihrem Einflussbereich die nationalsozialistische Ideologie und Weltanschauung zu vertreten und bei Bedarf durchzusetzen. Im Falle von Hermann Wesse kann sich diese Tätigkeit auch auf seine Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund beziehen, was wiederum sowohl mit der Förderung seines Studiums durch die Partei, als auch mit der Tatsache korrespondieren würde, dass er nach Beendigung seines Studiums offenbar nicht mehr als Politischer Leiter in Erscheinung getreten ist. Der Begriff des Politischen Leiters tauchte bereits im Zusammenhang mit der Auswahl des Pflegepersonals für die Kinderfachabteilung Waldniel auf. Mehrere Schwestern berichteten, sie seien vorher von einem „Politischen Leiter“ namens Bastian befragt worden. Es ist nicht anzunehmen, dass Hermann Wesse nach 1942 noch viel Energie in seine Aufgaben bei der „PL“ investiert hat. Als Arzt des Reichsausschusses hatte er dies wohl auch nicht mehr nötig. Zumindest war er aber 1937 noch bereit, sich um der Karriere willen intensiver an die Nationalsozialisten zu binden, als er dies in späterer Zeit getan hat. Die in den Gerichtsurteilen immer wieder verzeichnete Feststellung: „Ein Amt hat er in der Partei nicht bekleidet“,315 ist also nur bedingt richtig. Wie nah man durch die Tätigkeit für den Reichsausschuss an das Zentrum der nationalsozialistischen Macht herangerückt war, zeigt die Formulierung eines Schreibens vom 22.02.1942. Es handelt sich dabei um Hermann Wesses erste „u.k.-Stellung“. Darin wird erwähnt, dass „der Führer“ höchstpersönlich diese Unabkömmlichkeit verfügt habe.316

314 Organisationshandbuch der NSDAP, hg. vom Organisationsleiter der NSDAP, Fassung 1943. 315 Persönliche Angaben zu Wesse sowohl im Frankfurter, als auch im Düsseldorfer Gerichtsurteil 1947/1948. 316 Deutsche Dienststelle (WASt), Berlin, Wehrmachtsunterlagen Hermann Wesse.

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Abb. 163: Schreiben der „Adjutantur der Wehrmacht beim Führer“ bzgl. Wesses u.k.-Stellung vom Febr. 1942

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Auch bei der Aufhebung dieser „u.k.-Stellung“ gibt es einen aufschlussreichen Hinweis in Bezug auf die weitere Verwendung von Hermann Wesse:

Abb. 164: Aufhebung der uk-Stellung Wesses Das diesbezügliche Schreiben enthält die Verfügung, dass Hermann Wesse „nicht an der Ostfront zum Einsatz kommen“ durfte. Dies kann verschiedene Gründe haben. Einerseits liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der Reichsausschuss seinen Tötungsarzt zu gegebener Zeit wieder für seine Zwecke einsetzen wollte und deshalb Vorkehrungen traf, um dessen Überleben sicherzustellen. Andererseits sollte unter Umständen auch vermieden werden, dass „Euthanasie“-Ärzte, die über das Reichsausschuss-Verfahren und die von der Kanzlei des Führers durchgeführte Mordaktion genau informiert waren, den Sowjets in die Hände fallen und somit der gefürchteten „Feindpropaganda“ wertvolle Informationen liefern konnten. Gerade mit dem Hinweis auf diese „Feindpropaganda“ hatte Hitler es strikt abgelehnt ein „Euthanasie-Gesetz“ zu erlassen und damit die Mordaktion zu legalisieren. Bei dieser zweiten Einberufung ging die Entlassung weniger schnell als zu Beginn des Jahres 1943. Wesse rückte am 03.12.1943 zur Stabskompanie Sanitäts-, Ersatz- und Ausbildungsabteilung 11 ein. Vom 19.12.1943 bis zum 22.02.1944 absolvierte er die Grundausbildung beim Grenadier-Ersatz-Batallion 588 in Hannover, um schließlich am 23.02.1944 wieder bei der Stabskompanie in Bückeburg zu landen. Am 03.03.1944 ging schließlich ein Fernschreiben bei der Fernschreibestelle der 14. Flak-Division in Leipzig ein.

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Abb. 165: „An Wehr. Bez. Kdo. Leipzig Roem. Zwei. Beim WBK Krefeld ging heute folgendes ein: ‚Fuer einen Sonderauftrag des Fuehrers hat der Chef OKW den Wehrpflichtigen Hermann Wesse, geb. 22.1.12. z. Zt. Stammkomp. G.E.B. Hannover unabkoemmlich gestellt. Es ist umgehend zu entlassen und zur Kanzlei des Fuehrers in Marsch zu setzen. A. B. Chef OKW […]’“. Diesmal wurde die „u.k.-Stellung“ vom Chef des O.K.W. vorgenommen. Wie bereits erwähnt, deutet einiges darauf hin, dass Hermann Wesse sich aktiv um eine erneute Beschäftigung beim Reichsausschuss bemüht hat, um dem Wehrmachtseinsatz zu entgehen. Ob ihm die Anweisung, dass man ihn nicht an die Ostfront schicken durfte, bekannt gewesen ist erscheint fraglich. Ebenso gehört die Frage, ob er sich erneut für das Mordhandwerk zur Verfügung gestellt hätte, wenn ihm diese Anweisung bekannt gewesen wäre, zu denen, die heute nicht mehr zu beantworten und somit reine Spekulation sind. Nachdem der Stabsarzt und Kompaniechef der Stabskompanie festgestellt hatte, dass Hermann Wesse „k.v.“ und somit voll „kriegsverwendungsfähig“ war, wurde er am 07.03.1944 entlassen. Er erhielt Entlassungs-Wehrsold in Höhe von 11 Reichsmark und weitere 16,80 Reichsmark Entlassungs-Verpflegungsgeld. Im Mai 1944 trat er seinen Dienst als Tötungsarzt in Idstein/Taunus an. Interessant ist ein Schreiben der Kreisleitung Gardelegen an das Wehrbezirkskommando Wiesbaden vom 06.07.1944. Hermann Wesse hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Kalmenhof „eingearbeitet“ und „erlöste“, in Ermangelung von Reichsausschuss-Kindern, gerade die dortigen Fürsorgezöglinge. Offenbar hatte sich das Wehrbezirkskommando bei der Kreisleitung des „Gau“ Magdeburg-Anhalt (wozu der Bereich Uchtspringe gehörte, in dem Hildegard Wesse zu dieser Zeit arbeitete und ihr Mann Hermann Wesse zumindest gemeldet war) nach seiner politischen Einstellung erkundigt. Da Wesse bereits seit dem 03.03.1944 wieder „u.k.“ gestellt war, hatte das Wehrbezirkskommando mit ihm eigentlich nichts mehr zu tun. Irgendjemandem scheint der junge

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Arzt, der sich so elegant aus der Verpflichtung zum Kriegsdienst herausgewunden hatte, ein Dorn im Auge gewesen zu sein:

Abb. 166: Nachfrage des Wehrbezirkskommandos hinsichtlich Hermann Wesse

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Dieses Schreiben zeigt deutlich, dass Hermann Wesse sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um die Gunst der Parteistellen bemühte, sondern sich voll und ganz auf seine Beziehungen zum Reichsausschuss und die Kanzlei des Führers verließ. In Zeiten des Zusammenbruchs, wo die kleinste falsche Bemerkung zu einer Anzeige wegen „Wehrkraftzersetzung“ und damit direkt zu einem Todesurteil führen konnte, hätte manch anderen eine solche Beurteilung Kopf und Kragen kosten können. Für einen Arzt mit „Sonderauftrag des Führers“ blieb sie ohne Konsequenzen. Der Strafvollzug Am 30.01.1947 wurde Hermann Wesse vom Landgericht Frankfurt wegen Mordes in mindestens 25 Fällen zum Tode verurteilt. Am 16.04.1948 verwarf das Oberlandesgericht die Revision und bestätigte damit das Todesurteil.317 Zur gleichen Zeit liefen bereits die Ermittlungen der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft zu den Euthanasieverbrechen im Rheinland. Der anschließend vor dem Landgericht in Düsseldorf stattfindende Prozess bezog sich nicht nur auf die Kinderfachabteilung Waldniel, sondern behandelte gleichzeitig die Aktionen gegen die erwachsenen Geisteskranken, insbesondere deren Abtransport aus den rheinischen Heil- und Pflegeanstalten in die Vergasungsstätten der Aktion „T4“. Neben Wesse und den beiden Waldnieler Pflegerinnen Wrona und Müllender waren auch Ärzte angeklagt, die mit der Kinderfachabteilung nichts zu tun hatten, sondern als Gutachter für die Auswahl der Vergasungs-Opfer gewirkt hatten. Prominentester unter ihnen war der Gründer des „Rheinischen Provinzialinstituts für Psychiatrisch-Neurologische Erbforschung“ in Bonn, Professor Dr. Kurt Pohlisch. Pohlisch wollte sämtliche Personen erfassen, die „in den letzten hundert Jahren in einer rheinischen Anstalt Aufnahme gefunden haben.“ Bis 1936 hatte er bereits von 17 Anstalten der Rheinprovinz die Aufnahmebücher „verkartet“, 13.000 „Sippschaftstafeln“ angelegt und etwa 300.000 Pa­tienten in einer Kartei erfasst. Bis 1941 waren in 30.000 „Sippentafeln“ rund 1,25 Millionen Personen in einer Hauptkartei verzeichnet.318 Bereits 1934 erhielt Pohlisch an der Universität in Bonn die ordentliche Professur für Psychiatrie und Neurologie, wurde gleichzeitig Chefarzt der Universitätsnervenklinik und außerdem Direktor der Provin­zial-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn. Trotz nachgewiesener Gutachtertätigkeit und wenig glaubhafter Aussagen über seinen Widerstand und die durch ihn geübte „Sabotage“ der Aktion wurde er freigesprochen. 317 LG Frankfurt/Main vom 30.01.1947, 4 Ks 1/48 u. OLG Frankfurt/Main. vom 16.04.1948, Ss 206/47 – Urteile zum Kalmenhof Prozess, in: Rüter Bd. I, lfd. Nr. 14. 318 Leipert 1991, S. 120 f.

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Abb. 167: Prof. Dr. Kurt Pohlisch, 1940 Hermann Wesse machte 1947 eine Aussage über Pohlisch, die vom Gericht weder erwähnt, noch irgendwie beachtet worden ist. Der Exkurs zur Person des Professors Pohlisch soll hier eingefügt werden, da anhand von Wesses Schilderung sehr anschaulich dargestellt werden kann, wie sehr ein so hochkarätiger und renommierter Mediziner wie Pohlisch es offensichtlich für angebracht hielt, sich einem unbedeutenden Assistenzarzt gegenüber seiner Kontakte nach Berlin zu rühmen: „Zu der Tätigkeit des Prof. Dr. Pohlisch im Zusammenhang mit der ‚Euthanasie‘ befragt, erkläre ich folgendes: In Bonn bestand einmal die Universitätsnervenklinik, ferner die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie und schließlich die Provinzial Heil- und Pflegeanstalt in Bonn. Obwohl jede Anstalt ihren eigenen Leiter hat, war Professor Dr. Pohlisch allen drei Anstalten als Direktor überstellt. Auch während des letzten Krieges hat er diese Stellung ausgeübt. Er war zwar als begutachtender Psychiater zum Wehrdienst eingezogen. Dennoch amtierte er auch an den vorgenannten Anstalten. Als ich nun zur Ausbildung in Jugendpsychiatrie an die rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie in Bonn versetzt wurde hatte ich es in Unkenntnis der dienstlichen Stellung des Prof. Pohlisch verabsäumt, mich bei ihm zu melden. Nach etwa 6 Wochen wurde ich zu ihm gerufen. Er machte mir zunächst Vorhaltungen, daß ich es nicht für notwendig gefunden hätte, mich bei ihm zu melden. Im weiteren Verlauf des Gesprächs erklärte er, ich weiß, daß sie für den Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden in Berlin hier ausgebildet werden sollen. Weiter fragte er, was

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es Neues im Reichsausschuß gebe. Ich entgegnete, wenn ihm der Reichsausschuß bekannt sei, dann wisse er doch auch Bescheid. Prof. Pohlisch war über diese Antwort äußerst ungehalten. Er äußerte sich dahin, daß er über den Reichsausschuß in Berlin mehr wisse als ich, er habe bereits in Berlin für den Reichsausschuß als Gutachter gearbeitet. Ich hatte den Eindruck, daß er sich seiner engen Beziehungen zu dem Reichsausschuss rühmen wollte.“319 Zum Zeitpunkt dieser Aussage war Hermann Wesse bereits zum Tode verurteilt worden und befand sich zur Behandlung seiner Kehlkopftuberkulose in der Lazarettabteilung der Strafanstalt Ziegenhain. Während er einerseits auf den Ausgang seines Revisionsverfahrens in Frankfurt wartete, konnte er sich bereits auf den bevorstehenden Prozess in Düsseldorf vorbereiten. Er hatte also zu diesem Zeitpunkt sicher Besseres zu tun, als Geschichten über einen Professor zu erfinden, dem er zuvor nur ein einziges Mal begegnet war, und den zu belasten ihm keine nennenswerten Vorteile bringen konnte. Setzt man die Richtigkeit seiner Schilderung voraus, so kann man ermessen, wie sehr das hierarchische Gefüge der Ärzteschaft durch die „Euthanasie“-Ärzte aus den Fugen geraten und Pohlisch darauf aus war, einen jungen Assistenzarzt zu beeindrucken, den er sonst wohl keines Blickes gewürdigt hätte, nur weil dieser für den Reichsausschuss tätig war. Die Gefangenen-Personalakte von Hermann Wesse ist von der Justizvollzugsanstalt Ziegenhain irgendwann Ende der sechziger Jahre vernichtet worden.320 Im Gegensatz zur sonst üblichen Praxis, die zur Vernichtung anstehenden Aktenbestände zuvor vom Staatsarchiv sichten zu lassen und geschichtlich bedeutsame Fälle in den Bestand des Archivs zu übernehmen, hat man nach Auskunft des Hessischen Staatsarchivs Marburg die „Jahrgänge 1953 bis 1969 ohne vorherige rechtzeitige Meldung an das Staatsarchiv vollständig vernichtet.“ Über den Verlauf von Wesses Strafhaft können also nur noch die Gnadenhefte und seine eigenen Vernehmungsprotokolle im Zusammenhang mit späteren „Euthanasie“-Prozessen einen gewissen Aufschluss geben. Nach dem Einrücken der Amerikaner in Idstein/Taunus wurde er zunächst festgenommen und blieb etwa ein halbes Jahr in Haft. In dieser Zeit verlegte man ihn von Idstein nach Freien-Diez, Diez a.d. Lahn und schließlich nach Wiesbaden. In Wiesbaden wurde er von den Amerikanern entlassen. Hermann Wesse behauptete in späteren Vernehmungen, die Amerikaner hätten ihn entlassen, da er „aufgrund gesetzlicher Bestimmungen“ gehandelt habe. Diese Angabe ist äußerst zweifelhaft. Die Amerikaner waren 1945 unter dem frischen Eindruck der befreiten Konzentrationslager hauptsäch-

319 Aussage Wesse vom 25.10.1947, S. 13f., in HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 132, Bl. 158f. 320 Angaben JVA Ziegenhain und Hess. Staatsarchiv Marburg auf Nachfrage des Autors (16.06.2005).

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lich auf der Jagd nach SS-Angehörigen. In Wesses erster Vernehmung vom 25.04.1945 musste er sich noch gegen die Anschuldigung verteidigen, SS-Mitglied gewesen zu sein und im Dienst SS-Uniform und Abzeichen getragen zu haben. Da den Amerikanern zu diesem Zeitpunkt der tiefere Einblick in das System der Krankentötungen und des Reichsausschusses noch fehlte, wurde Hermann Wesse vermutlich allein aufgrund des Umstandes entlassen, dass er nachweislich niemals SS-Mitglied war. Wie schon erwähnt, ging Wesse zu seiner Frau nach Düsseldorf und lebte dort fast ein Jahr lang unbehelligt. Diese Zeitspanne hätte er nutzen können um das Land zu verlassen, sich falsche Papiere zu besorgen oder „unterzutauchen“. Hätte er dies getan, so wie Hefelmann oder Renno, dann wäre es ihm wahrscheinlich Mitte der fünfziger Jahre möglich gewesen nach Deutschland zurückzukehren, bzw. hier seine richtige Identität wieder anzunehmen, ohne nennenswert von der Justiz behelligt zu werden. Womöglich hätte man ihm den Prozess gemacht, jedoch wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit freigesprochen worden. Erforderlichenfalls hätte er auch, mit Hinweis auf seine Kehlkopf-TBC, wegen „Verhandlungsunfähigkeit“ die Einstellung seines Verfahrens erwirken können. Schlimmstenfalls hätte ihm eine Strafe von ein paar Jahren gedroht, die wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzt worden wäre. Hermann Wesse glaubte 1946 „die Sache hinter sich zu haben“ und unternahm keinen Versuch, sich vor der Justiz zu verstecken. Er versuchte gerade, die ärztliche Zulassung wieder zu erhalten, als er am 08.09.1946 – wie er angab – „plötzlich aus heiterem Himmel“ verhaftet wurde. Es sollten fast 20 Jahre vergehen, bis sich die Gefängnistore für ihn wieder öffneten. Die erste große Vernehmung fand in der Untersuchungshaftanstalt Frankfurt/Main vom 06. bis 09.01.1947 statt. Nach der Verurteilung im „Kalmenhof-Prozess“ kam er in die Justizvollzugsanstalt Ziegenhain bei Kassel. Als der Staatsanwalt Dr. Jager ihn in Vorbereitung des Düsseldorfer Prozesses zwecks Vernehmung aufsuchte, befand er sich bereits in der Strafanstalt. Während seine Frau sich am 31.05.1949 in Düsseldorf „nach Braunschweig ohne weitere Angaben“ abmeldete, wurde in Düsseldorf erst am 04.09.1961 Wesses „Auszug“ festgestellt. Der Vermerk auf der Meldekarte lautet: „in Ziegenhain, Paradeplatz 5“ (die Anschrift der JVA – A.d.V.). Am 21.11.1947 wurde Hermann Wesse in das Gefangenen-Hospital Marburg/Lahn verlegt. Zu dieser Zeit litt er an Lungenund Kehlkopftuberkulose und musste sich einer Gallenblasenoperation unterziehen. In Marburg blieb er bis November 1949. Von dort aus wurde er in die Strafanstalt KasselWehlheiden verlegt, wo er mindestens bis 1953 verblieb. Zwischen 1953 und 1958 befinden sich weder Schriftverkehr noch Aktennotizen in den Düsseldorfer „Gnadenheften“. Ein Umstand, auf den im Zusammenhang mit den Begnadigungsanträgen später noch einzugehen sein wird. Es kann demnach nicht exakt bestimmt werden, wann Hermann Wesse wieder nach Ziegenhain zurückverlegt wurde. Ein in den hessischen Unterlagen

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enthaltener Vermerk zeigt, dass er spätestens ab März 1955 wieder in Ziegenhain einsaß.321 Dort blieb er bis zu seiner Entlassung am 01.01.1965. Ein erstes Gnadengesuch stellte Hildegard Wesse am 20.11.1952. Sie, gegen die zu dieser Zeit gerade das Verfahren wegen ihrer Morde in Uchtspringe lief,322 und die selbst erst durch das Urteil vom 02.12.1953 glimpflich aus der Sache herauskommen sollte, bat um „die Beseitigung der ehrenrührigen Belastung“ ihres Ehemannes.323 Wenngleich sie einleitend betonte, dass sie „keineswegs die Richter in beiden Sachen irgendwie kritisieren oder gar ihre Lauterkeit bezweifeln will“, verfiel sie im Verlauf des Gesuchs mehrfach in einen belehrenden und zum Teil wütend-besserwisserischen Stil. Sie sprach von der „Euthanasie“, die „noch in der heutigen Zeit nicht eindeutig abgelehnt wird, sondern […] auch jetzt noch auf Befürwortung trifft.“ Ferner führte sie aus: „Man muß solche Fälle gesehen habe, um überhaupt verstehen zu können, daß die ‚Euthanasie’ Fürsprecher hatte und m.E. auch immer haben wird.“ Es folgten die übliche Aufzählung und Beschreibung verschiedener „Elendszustände“ die mit dem Bild der Kinder, „die ihren eigenen Kot aufaßen und verschmierten“, endete. Diese Darstellung verdeutlicht eindrucksvoll, wie sehr Hildegard Wesse auch 1952 noch in der nationalsozialistischen Vorstellungswelt zu Hause war. Die Beschreibung des Geisteskranken, der seinen eigenen Kot verspeist und sich somit auf einem Stand „noch unterhalb dem eines Tieres“ befindet, ist ein immer wiederkehrendes Bild bei der Definition vom vollends „lebensunwerten Leben“ und geht möglicherweise auf Hitler selbst zurück.324 Es ist bezeichnend, dass bei allen Rechtfertigungen, sowohl während als auch nach der NS-Zeit immer wieder diese Schilderungen herangezogen wurden. Im Verlauf des Gnadengesuchs steigerte Hildegard Wesse sich in ihren Formulierungen und schrieb sich förmlich in Wut: „Ja, woher sollten wir Ärzte denn wissen, daß jede Rechtsnorm veröffentlicht werden muß.“ Anschließend folgten wieder einige Formulierungen, die veranschaulichen, dass sich Hildegard Wesses Einstellung zur „Euthanasie“ nicht geändert hatte: „Es gab Gründe genug, die Euthanasie nicht an die große Glocke zu hängen. Wir lebten doch damals im Kriege, und es war deshalb nichts darin zu finden, wenn von der Euthanasie kein besonderes Aufheben gemacht wurde, um der Feindpropaganda kein Material zu geben. […] Wenn deswegen den Eltern und dem Standesamt gegenüber 321 Direktor der Strafanstalt Ziegenhain an Oberstaatsanwaltschaft beim LG Frankfurt/Main vom 24.03.1955, in: HHStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31526, Bl. 9. 322 Prozess vor dem LG Göttingen 1953, 6 Ks 1/53, in: Rüter Bd. XI, lfd. Nr. 381. 323 Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen alle folgenden Zitate aus den Gnadenheften im Aktenbestand HStAD, Gerichte Rep. 372 Nr. 164 und HHStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31526. 324 Aussage des ehem. Chefs der Reichskanzlei, Lammers, am 07.02.1947 vor dem Militärgerichtshof I in Nürnberg über von Hitler ihm gegenüber gemachte Äußerungen im Herbst 1939, in: Vormbaum 2005, S. 28.

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eine harmlose Todesursache angegeben werden mußte, so lag das doch im Rahmen der […] gebotenen Geheimhaltung.“ Am Ende des Gesuchs brachte sie ihre Sicht der Dinge auf den Punkt: „Man mag von der Euthanasie denken wie man will: dem tätigen Arzt kann in solchem Fall kein ehrenrühriger Vorwurf gemacht werden. Aus diesem Grunde bitte ich um Beseitigung der durch die Urteile herbeigeführten diffamierenden Wirkungen.“ Nach einigem Hin und Her bezüglich der Zuständigkeit in den beiden Strafangelegenheiten richtete Hildegard Wesse am 04.05.1953 ein weiteres Gnadengesuch an den Oberstaatsanwalt beim Landgericht Düsseldorf. Abgesehen von einigen leichten Umformulierungen ist dieses Gesuch identisch mit dem des Vorjahres. Die oben angeführten Sätze finden sich unverändert darin wieder. Lediglich im letzten Absatz (der im ersten Gnadengesuch nicht enthalten ist) bekommt dieses zweite Gesuch den Charakter einer Bitte: „Ich bitte den Herrn Oberstaatsanwalt ergebenst, die vorstehenden Ausführungen einer wohlwollenden Prüfung zu unterziehen und meinem Gesuch, dem sich meine beiden unmündigen Kinder und die alte Mutter meines Mannes anschließen, unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich in der Rechtssprechung und Öffentlichkeit gewandelten Beurteilung im Gnadenwege gütigst stattzugeben. Mein Mann ist seit Jahren schwer krank und nicht nur er, sondern auch wir – seine Familie – leiden sehr unter dem durch das unfaßbare Urteil herbeigeführten Zustand. Ein Gnadenerweis nach fast achtjähriger Haft würde uns nicht nur den Mann und Vater, der alten Mutter, die sich mit Wohlfahrtsunterstützung in Düsseldorf unter kümmerlichsten Verhältnissen durchschlagen muß, den einzigen Sohn und Ernährer zurückgeben, sondern uns alle von furchtbarer Diffamierung und lebenslänglicher Qual befreien. Hochachtungsvoll Dr. Hilde Wesse.“ Aufgrund der ersten Eingabe wurde der Direktor der Strafanstalt Kassel-Wehlheiden, bei dem Wesse zu dieser Zeit inhaftiert war, gebeten eine Stellungnahme abzugeben. Dieser beurteilte seinen Gefangenen am 23.12.1952: „W. ist mir bereits von meiner früheren Tätigkeit als Leiter der Strafanstalt Ziegenhain her bekannt. Er ist von anständigem, ruhigem Charakter und trägt schwer an den Folgen seiner Mitarbeit bei der Euthanasie. Sein Schicksal entbehrt nicht einer gewissen Tragik: W. musste 1932 wegen des Todes seines Vaters sein medizinisches Studium aufgeben. 1934 wurde ihm durch die nationalsozialistische Partei eine Zuwendung bewilligt, die das weitere Studium ermöglichte. Wenn W. schon

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durch diesen Umstand eine starke Hörigkeit und einseitige Verpflichtung hatte, so wurde diese noch erhöht durch seine spätere Verlobung mit seiner jetzigen Ehefrau. Er wurde damals vor die Wahl gestellt, entweder auf eine eheliche Verbindung zu verzichten und an die Front zu gehen oder aber an dem Auftrag bei der Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens’ mitzuwirken. Durch die Autorität seiner Vorgesetzten und die zeitgemäße Auffassung über diese ‚lebensunwerten Leben‘ glaubte er, seinen gefaßten Entschluß verantworten zu können. Seit 1947 leidet W. an einer Lungentuberkulose, die erst sehr stark aktiv war und infolge der Pflege in der Spezialanstalt Marburg-Cappel nach und nach zurückging. Durch die lange Todesgefahr ist W. reifer und stark gefestigt worden. Die letzten 6 Jahre haben in ihm eine Festigung erzielt, die es verantworten ließe, dem Antrag Zustimmung zu zeigen. Ob infolge der besonderen Umstände der Zeitpunkt hierfür gegeben ist, kann von hier aus nicht beurteilt werden. Jedenfalls halte ich W. für würdig, ihm in geeignetem Zeitpunkt Entgegenkommen zu zeigen. Gez. Berg.“ Auf die falsche Darstellung bezüglich des Todes von Wesses Vater wurde bereits eingegangen. Interessant ist in dieser Beurteilung die Feststellung, dass seine „Hörigkeit und einseitige Verpflichtung“ durch die Verlobung „erhöht“ wurde. Es steht fest, dass die entscheidende Besprechung mit Renno, von Hegener und Hefelmann in Düsseldorf unmittelbar vor Wesses Hochzeit stattgefunden hat. Die Angaben der Beteiligten schwanken hier zwischen dem 17. und 18.12.1941. Wesses Eheschließung ist vom Standesamt Düsseldorf-Mitte mit Datum 18.12.1941 beurkundet.325 Die Besprechung, bei der Hermann Wesse sich zur Übernahme der Kinderfachabteilung bereit erklärte, fand also einen Tag vor seiner Hochzeit, bzw. sogar am Tag seiner Hochzeit statt. Es bestand demnach gar keine Möglichkeit, ihn in der geschilderten Form „vor die Wahl zu stellen.“ Ein solches Druckmittel passt auch nicht zum sonstigen Gebaren des Reichsausschusses, der im Normalfall ohnehin keine Schwierigkeiten hatte, geeignete Bewerber für die Tötungsabteilungen zu finden. Hierbei kann die Rheinprovinz unter Umständen wirklich in gewissem Umfang eine Ausnahme gewesen sein. Wie Hermann Wesse selbst berichtete, wurde er bei dieser Besprechung gar nicht gefragt, sondern sein Einverständnis wurde vorausgesetzt. Da die Beurteilung aus Kassel zweifellos auf einem vorhergehenden Gespräch des Gefängnisdirektors mit Hermann Wesse beruht, ist auffällig, dass hier erneut eine Beteiligung von Hildegard Wesse bei der Entscheidung zur Übernahme der „Euthanasie“-Tätigkeit angedeutet wurde. Nachdem das zweite Gesuch in Düsseldorf eingegangen war, wurde der Neusser Rechtsanwalt Dr. W. Seitz beauftragt, den Fall einer juristischen Prüfung zu unterziehen 325 Meldeverzeichnis Standesamt Düsseldorf-Mitte 1296/1941, in: Stadtarchiv Düsseldorf.

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und eine Empfehlung abzugeben. Dessen Urteil fiel geradezu vernichtend aus: Nachdem er zunächst die, vom Gericht berücksichtigten, mildernden Umstände für unberechtigt erklärt hatte, zerlegte er sowohl die Formulierung des Gnadengesuchs, als auch die Beurteilung der Strafanstalt: „[…] Daß der Verurteilte sich zu dieser wissenschaftlich getarnten Mördertätigkeit geradezu drängte und eine erneute serienweise Befriedigung seiner Mordlust gar nicht abwarten konnte, zeigt sein Schreiben vom 12.5.44 an den Reichsausschuß […], demzufolge er ‚dankbar’ wäre, wenn der derzeitige Mangel an Todeskandidaten durch die baldige Verlegung […] behoben würde.[…] Angesichts dieser charakterlichen Verrohung des Verurteilten […] ist sein Verhalten weder aus seinem angeblichen Glauben an die Vertretbarkeit des Euthanasiegedankens zu rechtfertigen noch kann davon die Rede sein, daß es ‚von wirklich ehrenhaftem ärztlichen Verantwortungsbewußtsein getragen’ gewesen sei (so die Ehefrau in ihrem Gesuch vom 4.5.53 – Bl. 28 – ). Ich halte daher den Verurteilten eines Gnadenerweises nicht für würdig. Daran kann auch nichts die gute Beurteilung durch die Strafanstalt ändern. Ich vermag dieser Beurteilung umso weniger zuzustimmen, als sie sich durch völlig abwegige Gedankengänge selbst entwertet. Daß jemand sich zur Mitwirkung an einer pseudo– legalisierten Mordserie ungeheuerlichen Ausmaßes bereit erklärt, ist auch durch den Hinweis auf den sonst unausweichlichen Verzicht auf ein Ehe- und Familienleben und die Gefahr eines (bei Ärzten ohnehin weniger gefährlichen) Frontdienstes nicht zu entschuldigen, und zwar umso weniger, als Millionen sich von den Tendenzen und Zielen des Nationalsozialismus distanzierender Männer – darunter unzählige ergraute und kinderreiche Familienväter – sich diesem Verzicht und diesen Gefahren resigniert unterordnen mußten, wenn sie nicht den Tod durch das Fallbeil oder den Strang vorzogen. […] Wer eine lange Zeit hindurch unbedenklich fremdes Leben mißachtet und vernichtet hat, kann keinen Anspruch auf Gnade und Mitleid erheischen, wenn lediglich seine Gesundheit auf Grund selbstverschuldeter Umstände angegriffen, sein Leben aber noch nicht einmal bedroht ist.“ Wie schon 1947 bei der Bemessung des Strafmaßes durch das Gericht wurde Hermann Wesse sein Brief an den Reichsausschuss mit der Bitte um Überstellung neuer Kinder nach Idstein zum Verhängnis. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob die Beurteilung des Rechtsexperten milder ausgefallen wäre, hätte Hildegard Wesse ihrem Gnadengesuch eine weniger forsche und bestimmende Formulierung verliehen. Am 08.12.1953 wurde der Gnadenerweis abgelehnt. Neben Begründungen, die zweifelsfrei aus der Stellungnahme von Dr. Seitz stammten, findet sich hier noch der Hinweis, dass „Rechtsanwalt Hungershausen, der sich mit der Materie sehr eingehend befaßt hat, nach Rücksprache

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mit den Professoren Dr. Pohlisch und Dr. Panse, seine Vertretung niederlegte.“ Dies war genau jener Professor Pohlisch, der sich Wesse gegenüber seiner guten Kontakte zum Reichsausschuss gerühmt hatte. Er und Professor Panse waren gemeinsam mit Hermann Wesse in Düsseldorf angeklagt und beide freigesprochen worden. Bezeichnend, dass ausgerechnet diese beiden Herren nun Wesses Anwalt dazu veranlassten, sich aus der Sache herauszuhalten und seine Vertretung niederzulegen. Auf dem zweiten Gnadengesuch von Hildegard Wesse findet sich noch ein handschriftlicher Vermerk des Justizbeamten: „RA Hungershausen hat ein Gnadengesuch angekündigt.“ Der Rechtsanwalt wollte also zu diesem Zeitpunkt noch ein weiteres, wahrscheinlich juristisch fundierteres Gnadengesuch nachreichen. Die nächsten fünf Jahre saß Hermann Wesse in Haft, ohne dass etwas Nennenswertes aus den Düsseldorfer Akten hervorgeht. Bedeutsamstes Ereignis dieser Jahre war die Scheidung von seiner Frau. Am 27.06.1956 wurde die Ehe von Hermann und Hildegard Wesse durch Urteil des Landgerichts Marburg-Lahn rechtskräftig geschieden. Bereits im Herbst 1953 muss es bei Hildegard Wesse zu einem Sinneswandel gekommen sein, denn eine Stellungnahme des Anstaltsarztes der Strafanstalt Kassel-Wehlheiden erwähnte am 26.10.1953 Folgendes: „Sein Gesundheitszustand war hier bis vor einigen Wochen so günstig, daß er als Laborarbeiter im Krankenhaus beschäftigt werden konnte. Er hat die ihm übertragenen Arbeiten mit großer Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Durch sein stilles, bescheidenes, immer freundliches und hilfsbereites Wesen hat er sich sowohl beim Personal als auch bei den Mitgefangenen Beliebtheit erworben. Die feste seelische Haltung, mit der er sein schweres Schicksal als Gefangener getragen hat, beweist, daß er als Mensch gereift ist. Im Laufe des letzten Jahres wurde seine seelische Haltung auf eine harte Probe gestellt durch die Scheidungsabsichten seiner Ehefrau. Wesse ist trotz anfänglicher starker Erschütterung auch mit dieser Belastung seelisch und geistig fertig geworden. Körperlich hat er jedoch darauf mit einer Verschlechterung seines tuberkulösen Lungenprozesses reagiert.“ Der Arzt schloss mit der Empfehlung: „Ich halte Wesse nicht nur charakterlich unbedingt für gnadenwürdig, sondern auch aus gesundheitlichen Gründen für dringend gnadenbedürftig, damit ein verhängnisvolles Fortschreiten seiner Lungentuberkulose verhindert wird.“ Hätte sich Hermann Wesse zu diesem Zeitpunkt erst vor Gericht befunden, so hätte diese ärztliche Einschätzung wahrscheinlich ausgereicht, um ihn dauerhaft für verhandlungsunfähig zu erklären und ihn vor jedwedem Strafvollzug zu bewahren. Hildegard Wesse wurde 1961 anlässlich einer Vernehmung im Zusammenhang mit der Vorunter-

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suchung zum angestrebten Prozess gegen Hefelmann zu den Gründen ihrer Scheidung befragt. Sie gab lediglich an: „Meine Scheidung erfolgte aus rein persönlichen Gründen und steht in keinem Zusammenhang mit den Euthanasiemaßnahmen.“ Folgt man den Ausführungen des Scheidungsurteils, so ist dies nicht richtig. Zunächst bleibt festzustellen, dass nicht sie, sondern Hermann Wesse als Scheidungskläger auftrat. Er beantragte „die Ehe der Parteien ohne Schuldspruch zu scheiden“ und trug vor:326 „Die Ehe der Parteien sei tief und unheilbar zerrüttet; die Beklagte habe sich völlig von ihm, dem Kläger, losgesagt, und es bestehe seit mehreren Jahren auch kein Briefwechsel mehr zwischen ihnen. Als er, der Kläger, mit Brief vom 22.8.1952 eine Versöhnung mit der Beklagten habe erreichen wollen, sei ihre Antwort ablehnend gewesen. Sie habe ihm nämlich mitgeteilt, daß sie inzwischen von den Tatsachen erfahren habe, die seiner, des Klägers, Verurteilung zu Grunde lägen und dadurch erheblich erschüttert worden sei.“ Daraufhin ließ Hildegard Wesse durch ihren Anwalt mitteilen, dass „sie mit der Scheidung ohne Schuldspruch einverstanden sei; daß ihr Vertrauen zum Kläger stark erschüttert worden sei, seitdem sie erfahren habe, welcher Taten er sich im Rahmen des sog. Euthanasie-Programms schuldig gemacht habe, und daß dadurch, in Verbindung mit der langen Strafhaft des Klägers und der damit verbundenen Trennung der Parteien, jede Aussicht auf Wiederherstellung (der Ehe) ausgeschlossen sei.“ Es gibt wohl kaum etwas, dessen Hermann Wesse sich schuldig gemacht hat, was seine Frau nicht in gleicher Art und Weise getan hätte, weswegen es geradezu lächerlich erscheint, dass irgendetwas davon sie „erschüttert“ haben könnte. Die vier Einzelfälle aus dem Kalmenhof-Prozess, bei denen Hermann Wesse eigenhändig getötet hatte, offenbaren nicht mehr Willkür und Verrohung, als Hildegard Wesses eigenmächtige Morde gegen Kriegsende, um in Uchtspringe „Platz zu schaffen“. Bei dem, was Hildegard Wesse im Laufe ihrer Zeit als Anstaltsärztin erlebt und gesehen hat, dürfte sie eigentlich durch gar nichts mehr zu „erschüttern“ gewesen sein. Auffällig ist auch, dass sie angeblich im August oder September 1952 mit dieser Begründung ablehnend auf Hermann Wesses „Versöhnungsbrief“ geantwortet haben soll, während sie am 04.05.1953 jenes zweite Gnadengesuch stellte, in welchem sie ihn und seine Taten verteidigte und den Ministerpräsidenten bat, ihr und ihren Kindern doch den Ehemann und Vater wiederzugeben. Wenn wirklich etwas bei ihr derart große Erschütterung ausgelöst hatte, dass sie sich deshalb von ihrem Mann zu trennen gedachte, dann war ihr dies im Mai 1953 zumindest bereits bekannt. Die Begründungen vor dem Scheidungsrichter machen also insgesamt keinen Sinn. 326 Urteil des LG Marburg-Lahn, AZ. 4 R 153/1955.

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Fakt ist, dass die Abwendung Hildegard Wesses von ihrem Ehemann relativ plötzlich und für diesen unerwartet erfolgt sein muss. Der Direktor der Strafanstalt Ziegenhain schrieb hierzu am 24.03.1955: „Im August 1948 berichtet der Anstaltsgeistliche, daß Wesse die religiöse Auseinandersetzung mit seiner Straftat und dem damals noch bestehenden Todesurteil suchte. Wesse hat sich diese innere Verarbeitung nicht leicht gemacht. Er ist eine äußerlich schwunglose, wenig aktive, bedächtige und leise Persönlichkeit. Wie die Stellungnahme berichtet […] litt Wesse stark. Entsprechend seiner vorwiegend passiven Natur wirkte sich diese Belastung undramatisch und schleichend aus. Als er später erfuhr, daß seine in gleicher Sache angeklagte Frau, die anfänglich mit starken Beteuerungen zu ihm gehalten hatte, ihn anscheinend plötzlich fallen ließ, brach die Tuberkulose erneut aus. […] Heute läßt sich sagen, daß Wesses langes innerliches Ringen wertvolle Früchte getragen hat. Das Leid der Strafe hat zweifellos zu seiner sittlichen Verfeinerung beigetragen.“ Hildegard Wesse hat den Familiennamen beibehalten und auch später nicht wieder geheiratet. Offenbar hat sie aber nach dem Scheitern des zweiten Gnadengesuchs endgültig jeden Kontakt zu ihrem Ex-Ehemann abgebrochen und diesen im Gefängnis sich selbst überlassen. In der Welt, die ihr nach der Einstellung ihres eigenen Strafverfahrens wieder offen stand, ging das Leben weiter. Die Verantwortlichen der Strafvollzugsanstalt Ziegenhain, die ihren Gefangenen zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Jahren für „gnadenwürdig“ hielten und jede diesbezügliche Anfrage ausdrücklich befürworteten, hielten am 29.04.1958 die Voraussetzungen für eine vorzeitige Entlassung nach § 26 StGB für erfüllt. Die hessische Gnadenbehörde hatte am 14.01.1958 Wesses lebenslange Haftstrafe in eine Zeitstrafe von 15 Jahren umgewandelt, wovon im April 1958 zwei Drittel verbüßt waren. Bedingte Entlassung nach § 26 StGB in der Fassung von 1953 setzte die Erwartung voraus, dass „der Verurteilte in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen würde“. Dies war nach Ansicht der Gefängnisleitung im Falle Hermann Wesse ja bereits seit 1952 gegeben. Unaufgefordert wurde eine weitere Beurteilung über Hermann Wesse an die Strafkammer des Landgerichts in Frankfurt abgegeben und die bedingte Entlassung nach § 26 StGB beantragt. Zunächst kamen zwei Herren des Erziehungsdienstes zu Wort: „Wesse ist hier durch schwere Kämpfe gegangen. Er brauchte verständlicherweise genügend lange Zeit, bis er aus seiner verbitterten Haltung herausging, bzw. sich von ihr freimachte und einer stillen Ergebenheit in seine Lage und auch besseren Einsicht Raum ließ. […] Kann man ihn für eine vertrauliche Unterredung gewinnen, dann

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ist doch zu erkennen, daß er seine Vergangenheit vor Gott in Ordnung gebracht hat. Dann spürt man es ihm ab, daß er sehr unter dem leidet, was war. Ich bin der Überzeugung, dass W. die Anstalt einmal als eine geläuterte Persönlichkeit verlassen wird und befürworte darum eine vorzeitige Entlassung. […] Wesse, hier seit langem als Büchereikalfaktor eingesetzt, ist mir als dem Leiter der Anstaltsbücherei gut bekannt. Führung und Erledigung der ihm obliegenden Pflichten sind einwandfrei. Darüber hinaus ist mir in vielen Gesprächen mit ihm klar geworden, daß W. aufgrund seiner Hinwendung zum Christentum seine begangenen Straftaten zutiefst verabscheut und echt bereut. Das alles nicht zuletzt durch den Einfluß seiner jetzigen Braut, die ein gläubiger Mensch ist und ihn auch in dieser Hinsicht gut zu führen versteht […].“ An dieser Stelle wird in den Akten erstmals Wesses „Braut“ erwähnt, die ihn „gut zu führen“ verstand, und auf die später nochmals einzugehen sein wird. Zu diesen persönlichen Bewertungen gesellte sich eine Stellungnahme des Anstaltsarztes: „[…] ich halte W. nicht nur charakterlich für gnadenwürdig, sondern befürworte auch aus gesundheitlichen Gründen das Gesuch mit Rücksicht auf eine ev. Reaktivierung seines Lungenleidens durch die lange Haftzeit.“ Die abschließende Stellungnahme des Regierungs-Oberinspektors erwähnt, dass Hermann Wesse beabsichtigte in die pharmazeutische Industrie zu gehen, zu diesem Zeitpunkt bereits entsprechende Verbindungen geknüpft hatte und dass „ein solches Unterkommen möglich ist“.327 Das Gutachten schließt mit dem Satz, dass „eine bedingte Entlassung von der Beamtenkonferenz einstimmig voll befürwortet“ wird. Mit Verfügung vom 16.05.1958 wurde die bedingte Entlassung von der Strafkammer abgelehnt, da die die Voraussetzungen des § 26 StGB aufgrund der immer noch gültigen lebenslänglichen Haftstrafe aus dem Düsseldorfer Urteil nicht erfüllt waren. Daran hatte in Hessen offenbar niemand gedacht. Für Hermann Wesse, der sich nach der positiven Beurteilung durch die Gefängnisdirektion aufgrund der vermeintlich eindeutigen Rechtslage zu diesem Zeitpunkt sicherlich berechtigte Hoffnung auf eine baldige Entlassung machte, muss in diesem Moment eine Welt zusammengebrochen sein. Dieses Versäumnis erklärt auch die in den Düsseldorfer Unterlagen klaffende Lücke von fünf Jahren, in denen dort weder Gnadengesuche noch sonstige Schriftstücke abgelegt wurden. Das Gesuch wurde am 02.06.1958 ersatzweise als Gnadengesuch eingereicht, wodurch die Zuständigkeit der Entscheidung von der Strafkammer wieder zur Gnadenbehörde, sprich dem hessischen Ministerpräsidenten wechselte. In der abermaligen Stellungnahme der Strafanstalt wurde neben dem Hinweis darauf, dass „der Bericht und die Befürwortung der Strafaussetzung vom 29.4.1958 auch für das Gnadengesuch

327 Vgl. weiter unten die Anmerkung über die spätere Tätigkeit bei Braun-Melsungen.

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uneingeschränkte Gültigkeit“ behalten, auch erstmals auf die gebotene „Rechtsgleichheit“ aufgrund der milderen Beurteilung anderer Euthanasietäter hingewiesen: „Es sollte berücksichtigt werden, dass die Delikte, für die Wesse verurteilt worden ist, damals in den verschiedenen Bundesländern rechtlich ganz verschieden behandelt worden sind und dass daraus ein Ausgleichsbedürfnis entstanden ist. Es ist Sache der Gnadenbehörde zu entscheiden, inwieweit dieses Ausgleichsbedürfnis verstärkt worden ist durch die Haftentlassung des ebenfalls in Hessen verurteilten Euthanasiearztes Dr. Gorgass [sic].“

Abb. 168: Dr. Hans Bodo Gorgaß, 1946 – Vergasungsarzt in Hadamar, der 1947 „wegen Mordes in mindestens 1.000 Fällen“ vom Landgericht Frankfurt zum Tode verurteilt wurde. Seine, später in lebenslanges Zuchthaus umgewandelte, Strafe endete bereits im Januar 1958 durch Begnadigung. Nach der Enttäuschung über die Ablehnung der bedingten Strafaussetzung wurde im Jahr 1958 alles versucht, um auf schnellstem Wege auch in Düsseldorf die gewünschten Voraussetzungen zu schaffen. Am 02.05.1958 ging das nächste Gnadengesuch bei der Landesregierung Nordrhein-Westfalen ein. Absenderin war Wesses Mutter Eugenie Wesse.328 Neben allgemeinen Ausführungen über die „Euthanasie“ trug sie als konkrete Gnadengründe vor: „ 1. Nahezu alle mit der ‚Euthanasie’ befaßten Ärzte, die z.T. auf Grund ihrer höheren Stellung bzw. auf Grund ihrer größeren ärztlichen Erfahrung viel intensiver in die 328 Ihr Name lautete eigentlich Eugenie Güntsch, da nach der Verfügung von 1918 nur dem Kind gestattet worden war, den Familiennamen „Wesse“ zu führen, vgl. diesbezügliche Ausführungen im Kapitel über Hermann Wesse.

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Euthanasieaktion verstrickt waren, sind heute auf freiem Fuß. 2. Mein Sohn hat inzwischen 12 Jahre Zuchthaus abgebüßt. 3. Infolge der […] schlechten Wirtschaftslage (Fettmangel) […] ist mein Sohn an Lungen- und Kehlkopftuberkulose erkrankt und hat neben dem Freiheitsentzug schwerstens gelitten. 4. Während seiner Verbüßungszeit hat er sich einer Gallenblasenoperation unterziehen müssen. 5. Seit 12 Jahren ist mein Sohn von seiner Familie, insbesondere von seinen 2 Kindern getrennt. 6. Ich als Mutter bin heute 76 Jahre und möchte es noch erleben, mit meinem Sohn gemeinsam meinen Lebensabend verbringen zu dürfen.“ Das Gesuch endete mit „der Erwartung, daß Sie, Herr Ministerpräsident, einer alten Mutter ihre letzte und heißeste Bitte nicht versagen, mit ergebener Hochachtung.“ Der Umstand, dass aufgrund der beiden Verurteilungen in Frankfurt und in Düsseldorf Gnadengesuche immer sowohl an den hessischen, als auch an den nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten gerichtet werden mussten, und die Tatsache, dass dies in Ziegenhain bis zur Ablehnung des Bewährungsantrages am 16.05.1958 versäumt wurde, hat die Freilassung Hermann Wesses maßgeblich verzögert. Bei den Prozessunterlagen im Hessischen Hauptstaatsarchiv findet sich ein in weiten Zügen identisch formuliertes Gnadengesuch Eugenie Wesses, welches bereits am 14.08.1953 verfasst wurde. Ein Duplikat dieses Gnadengesuches fehlt bei den Düsseldorfer Unterlagen, ebenso wenig findet sich ein Exemplar des Gesuchs von 1958 in den hessischen Dokumenten. Zwischen diesen Gesuchen, die sinnvoller Weise zeitgleich hätten versandt werden müssen, liegen die bereits genannten fünf Jahre. Nachdem bis zum 22.07.1958 noch keine Entscheidung in der Gnadensache erfolgt war, wurde Eugenie Wesse persönlich im Amt des Ministerpräsidenten vorstellig. Der Ministerialbeamte verfasste hierauf den folgenden Aktenvermerk: „Heute erschien Frau Witwe Eugenie Wesse aus Düsseldorf-Oberkassel, […] in der Gnadensache ihres Sohnes, Dr. med. Hermann Wesse. Die Erschienene bat, man möge doch von hier aus alles versuchen, um für ihren Sohn baldigste Entlassung aus dem Zuchthaus zu erwirken. […] Sie sei […] der Meinung, daß, wie schlimm auch immer die Straftaten ihres Sohnes gewesen sein möchten, nun doch endlich Gnade am Platze sei. Ihr Sohn, den sie im vorigen Monat im Zuchthaus Ziegenhain b. Kassel besucht habe, sei körperlich und seelisch ein Wrack und gesundheitlich aufs äußerste gefährdet. […] Dazu kommen sein schweres persönliches Schicksal, abgesehen vom Verlust seiner Freiheit und seines Berufs, an dem er gehangen habe: Seine Frau habe sich vor ein paar Jahren unter dem Eindruck seiner Verurteilung und der langen Trennung von ihm scheiden lassen und halte keine Verbindung zu ihm mehr aufrecht. Seine beiden Kinder […] habe er in all den vielen Jahren nicht ein einziges Mal wieder gesehen. Er sehne sich nach ihnen, wolle sie aber nur in der Freiheit wieder begrüßen

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können. […] Der zermürbende Zustand der jahrelangen Haft sei für beide Teile, für den Verurteilten wie für sie, seine Mutter, nicht mehr zu ertragen. Beide befürchteten ernstlich, daß sie unter den Qualen dieser jahrelangen Trennung und des ungewissen Schicksals zusammenbrechen und nicht mehr lange leben würden. Deshalb bitte sie inständigst, nun endlich Gnade vor Recht ergehen zu lassen und einen Weg zu suchen, der ihren Sohn bald wieder in die Freiheit zurückführe.“ Die Düsseldorfer Amtsträger waren gnädig. Nach der Stellungnahme eines Dr. Mai, die einige abstruse Schlussfolgerungen enthält, und beispielsweise ausführte, dass „heute wieder gewisse Stimmen laut werden, die Unfruchtbarmachung auf Verlangen zulassen“ und gleichzeitig behauptete, dass „Unfruchtbarmachung, Indikation (insbesondere aus sozialen Gründen) und Euthanasie“ eine „gewisse innere Verwandtschaft“ zeigen würden,329 wurden am 11.11.1958 vom Landesobermedizinaldirektor Dr. Müller „unter Berücksichtigung aller Umstände gegen einen Erlaß der von Dr. Wesse noch zu verbüßenden Reststrafe im Gnadenwege keine Bedenken erhoben“. Allerdings war diese Empfehlung für Wesse noch kein Erfolg. Alles hing von der Entscheidung des Ministerpräsidenten ab. Der hessische Ministerpräsident, der am 05.07.1949 Wesses Todesurteil in lebenslängliches Zuchthaus und am 07.01.1958 in eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren umgewandelt hatte, lehnte am 01.08.1958 einen weitergehenden Gnadenerweis ab. Franz Meyers, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, lehnte, entgegen der Empfehlung des Obermedizinaldirektors Müller, einen Gnadenerweis am 29.04.1959 ebenfalls ab.

329 ALVR 14295, Bl. 138.

Abb. 169: Franz Meyers, ca. 1966

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Am 10.09.1958, kurz nachdem der hessische Ministerpräsident weitere Gnadenerweise abgelehnt hatte, und Meyers noch darüber nachdachte, ob er die lebenslange Haftstrafe in eine Zeitstrafe umwandeln sollte, oder nicht, starb Eugenie Wesse. Hermann Wesse hatte nun aus dem Kreise seiner Familie keinen Fürsprecher mehr, da seine Frau und seine Kinder seit der Scheidung keinen Kontakt mehr zu ihm hielten. Eine Cousine, Anneliese S., aus Düsseldorf nahm sich seiner an und richtete am 01.10.1959 ein weiteres Gnadengesuch an Franz Meyers: „Die Familie meines Vetters hat sich endgültig von ihm getrennt. Seine Mutter, mit der er in großer Liebe verbunden war, hat das Schicksal ihres Sohnes nicht mehr ertragen und ist verstorben. Zwei Ereignisse, die ihn bei seinem schlechten Gesundheitszustand haben fast zerbrechen lassen. Ich habe mich seiner angenommen und verhindert, daß er seinem Leben ein Ende setzte. […] Im Hinblick auf die verschiedenartige Beurteilung der mit der […] Euthanasie befaßten Ärzte darf ich im Vertrauen auf Ihren hohen Gerechtigkeitssinn um eine wohlwollende Prüfung vorstehenden Gnadengesuches bitten.“ Meyers machte sich die Entscheidung nicht leicht. Zunächst forderte er bei der Strafanstalt Ziegenhain nochmals eine Stellungnahme an. Diese wurde in Ziegenhain am 16.09.1959 verfasst und fiel, wie schon die Einschätzung von 1952, für Wesse äußerst positiv aus: „Nach übereinstimmender Auffassung der hiesigen Beamtenkonferenz ist der Zweck der Strafe erreicht. Ohne das Urteil kritisieren zu wollen, darf und muß angesprochen werden, daß die strafrechtliche Würdigung von Wesses Verbrechen inzwischen von juristischer Seite – die hier allein maßgebend sein soll – eine gewisse Verschiebung zugunsten des Verurteilten erfahren hat. Diese Milderung entspricht vertretbaren Billigkeitsgrundsätzen, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen zu werden braucht, da der Verurteilte sie für sich moralisch gar nicht in Anspruch nimmt. Wesse bekennt sich seit Jahren, wie zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung, innerlich verantwortlich und schuldig. Er hat sich der Strafe unterworfen und ist an ihr gereift. Er geht nicht hausieren mit der Vorstellung, daß er ein reines Opfer früheren Staatsunrechtes sei, er sieht seine persönliche Untat, deren Folgen er mit Sühnewilligkeit trägt. Er bereut schwer sein strafbares Verhalten und seine damalige Haltung, die der Ausgangspunkt seiner Straftaten wurde. Mit großem sittlichen Ernst – das zeigten die hiesigen Persönlichkeitsbeobachtungen – hat Wesse an einer Neuordnung seiner Lebenseinstellung gearbeitet. Damit ist auch dem Erziehungsgedanken ausreichend Rechnung getragen. Wenn Wesse in die Öffentlichkeit zurückkehrt, dann tut er das

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als ein geläuterter Mann, der außer dem Haftübel auch inzwischen ein ernstes körperliches Leiden mit anerkennenswerter Fassung und Geduld verwunden hat. Er ist kein Krimineller, er ist kein Sadist. Was er wegen seinerzeitiger fehlender moralischer Entscheidungsstärke zu büßen hatte, hat er gebüßt, ohne zu verbittern. Der reinigende Zweck der Sühne, der in der Versöhnung zu sehen ist, kann als erreicht angesehen und Wesse kann dem bürgerlichen Leben zurückgegeben werden in der gerechtfertigten Erwartung, daß er sich künftig wohlverhalten wird. Dr. von Bülow/Regierungsrat.“

Abb. 170: Hermann Wesse gegen Ende der Haftzeit Wie viel von dieser Schulderkenntnis auch, im Interesse einer positiven Beurteilung, von Wesse vorgespielt worden sein mag, Fakt ist, dass man wohl nicht über Jahre hinweg seine Mitmenschen täuschen und eine „Sühnewilligkeit“ vorspielen kann, über die man in Wirklichkeit nicht verfügt. Folgt man dieser Beurteilung des Direktors der Strafanstalt, dann hatte Hermann Wesse das Gebilde der schöngefärbten Rechtfertigung und des Selbstbetrugs tatsächlich überwunden, seine eigene Schuld erkannt und seine Taten bereut. Hiermit dürfte er unter den NS-Euthanasietätern eine einmalige Sonderstellung einnehmen, da abgesehen vielleicht von denen, die in Erkenntnis ihrer Schuld bei Kriegs­ende den Freitod wählten, niemand bekannt ist, der seine Verbrechen je offen bereut, geschweige denn sie als solche eingestanden hätte. Am 18.12.1959 entschloss der Ministerpräsident sich dazu, Wesses lebenslange Haftstrafe im Gnadenwege in eine Strafe von zwölf Jahren umzuwandeln. Nach diesem Stand musste er in der Düsseldorfer Sache noch bis 1971, in der Frankfurter Angelegenheit bis 1973 in Haft bleiben. Die Reduzierung der lebenslangen Haftstrafen auf Zeitstrafen gaben Hermann Wesse nun endlich die Möglichkeit, die bereits zwei Jahre zuvor angestrebte

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Entlassung auf Bewährung zu beantragen, und so stellte er am 19.03.1960 selbst ein entsprechendes Gesuch: „Da jetzt auch der Herr Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen meine in Düsseldorf ausgesprochene lebenslängliche Zuchthausstrafe […] in eine 12jährige Strafe umgewandelt hat, bitte ich, mir den Rest meiner auf dem Gnadenwege in eine 15jährige Zuchthausstrafe umgewandelte Strafe auf Bewährung zu erlassen. Ich befinde mich jetzt ununterbrochen seit 13 ½ Jahren in Haft und machte in dieser Zeit eine schwere sich über Jahre hinziehende Lungen- und Kehlkopftuberkulose durch, die mir eine ständige Kurzatmigkeit zurückließ. Ich mußte mich in der Haft einer Gallenblasenoperation unterziehen und verlor meine sämtlichen Zähne. Auch wurde meine Ehe geschieden, so daß ich nur noch den Wunsch habe mir eine bescheidene Existenz aufzubauen. Mein großer Wunsch, meiner Mutter, die ihr Leben als Wohlfahrtsempfängerin fristen mußte, ihren Lebensabend zu erleichtern, kann sich leider nicht mehr erfüllen, da meine Mutter im September 1958 einem Herzinfakt [sic] erlag. Ich kann richtig die bestimmte Versicherung abgeben nie mehr straffällig zu werden und hasse das Geschehen des gesamten 3. Reiches, das auch für mich die Ursache meines Unglücks wurde, aus ganzem Herzen. So sehr ich mir über das Strafbare und Ungesetzmäßige meiner Taten, die ich nach langer qualvoller Gewissenserforschung aus tiefstem Herzen bereue, im klaren bin, gibt mir doch die Tatsache, daß andere Ärzte, die sich des gleichen Verbrechens schuldig machten, viel milder oder […] gar nicht bestraft wurden […] sowie der großzügige Gnadenerweis gegen […] Dr. Gorges [Wesse meint hier den oben erwähnten Dr. Hans Bodo Gorgaß – A.d.V.] den Mut, dieses Gnadengesuch zu stellen und die Hoffnung, da ich noch der einzigste von allen damals wegen der Euthanasie bestraften Ärzte in Strafhaft befindliche bin, mir jetzt auch durch einen Gnadenerweis der Rest meiner Strafe erlassen wird.“ Während man in Frankfurt offenbar bereit war, einer Bewährungsstrafe zuzustimmen, blieb Meyers hart. Mit der Begründung, Wesse hätte nicht genug von der Gesamtstrafe abgesessen, um eine weitere Begnadigung rechtlich rechtfertigen zu können, wurde die Bewährung abgelehnt. Die wackere Cousine Anneliese S. richtete daraufhin am 21.01.1961 noch einmal ein Gesuch an den Ministerpräsidenten. Neben Ausführungen darüber, dass alle ranghöheren und diensterfahreneren „Euthanasie“-Täter „seit langem (wieder) Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sind, die zum Teil mit Ehren überhäuft werden“ und „in vielen Ländern der Bundesrepublik gegen viele Ärzte, die an dem Euthanasieprogramm teilgenommen haben überhaupt keine Klage erhoben worden ist“, erwähnt dieses Gnadengesuch, dass Hermann Wesse zu dieser Zeit „jede Verbindung zur Außenwelt verloren (hat) nachdem sich seine Familie von ihm getrennt

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hat und seine Mutter verstorben ist.“ Ansonsten beschäftigte sich das Gesuch in erster Linie mit der Frage, ob die Verbüßung der Haftstrafe aus dem Frankfurter mit der aus dem Düsseldorfer Urteil zusammengerechnet hätte werden müssen und deshalb der Minister die „rechtliche aber auch die moralische Möglichkeit [habe], im Falle Hermann Wesse Gnade vor Recht ergehen zu lassen“. Franz Meyers, der den Posten des Ministerpräsidenten gerade erst im Jahr 1958 übernommen hatte, muss den Eindruck gewonnen haben, er werde seit seinem Amtsantritt unablässig mit Gnadengesuchen dieses Strafgefangenen Wesse bombardiert. Am 31.01.1961 stellte er klar, dass er es nun „satt“ war und verfasste ein Antwortschreiben, das Hermann Wesse’s Hoffnungen auf baldige Entlassung für die nächsten vier Jahre begraben sollte. In diesem Schreiben brachte der Ministerpräsident unmissverständlich zum Ausdruck, dass er keinen weiteren Gnadengesuchen mehr entsprechen würde: „[…] nach Prüfung des Sachverhaltes sehe ich mich auch bei voller Würdigung der von Ihnen vorgetragenen Milderungsgründe nicht in der Lage, Ihrem Vetter Hermann Wesse für die noch zu verbüßende Freiheitsstrafe bedingte Aussetzung der Vollstreckung im Gnadenwege zu gewähren. Die vom Schwurgericht in Düsseldorf verhängte lebenslange Zuchthausstrafe ist durch meine Gnadenentscheidung vom 18. Dezember 1959 in eine zeitige Zuchthausstrafe von 12 Jahren umgewandelt worden […]. Die Frage der Gewährung einer weitergehenden Vergünstigung ist von mir dann im Herbst des vergangenen Jahres eingehend geprüft worden. Nach Abwägung aller Umstände des Falles war ich genötigt, im Hinblick auf die Schwere der gerichtlich festgestellten Straftaten und die Größe der strafrechtlichen Schuld des Täters in meiner Entschließung vom 21. Oktober 1960 eine weitergehende Vergünstigung im Gnadenwege zu versagen. Bei dieser erst kurze Zeit zurückliegenden Entscheidung muß es sein Bewenden haben.“ Mitte des Jahres 1961 hatte die Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf den Fall nochmals auf dem Tisch, da nunmehr auf Grundlage des § 26 StGB, so wie bereits 1958 in Hessen, die Frage der bedingten Haftentlassung erneut zu entscheiden war. Staatsanwalt Dr. Gragert forderte fernmündlich in Ziegenhain eine weitere Beurteilung an. Diese fiel abermals sehr positiv für Hermann Wesse aus: „Ziegenhain, den 1.8.1961. […] Entsprechend der Gnadenordnung des Landes Nord­ rhein-Westfalen kann gesagt werden: Die hiesige Stellungnahme vom 16.9.1959 an die Gnadenstelle beim Landgericht Düsseldorf ist uneingeschränkt aufrecht zu erhalten. In den zwischenzeitlichen 2 Jahren hat Wesse in vorbildlicher Geduld und Sühnewilligkeit das strapaziöse Auf und Ab von Entlassungshoffnungen und Ver-

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sagungen hingenommen. Sein normaler bürgerlicher Sinn ermöglicht es ihm, die gnadenrechtlichen Schwierigkeiten seines Falles zu sehen und zu verstehen. Trotzdem konnte nicht ausbleiben, daß er zuweilen in eine ernste, wenn auch nach außen hin stille Krise geriet, in der ihm die Frage nach dem Sinn eines Weiterlebens bedrohlich wurde. Mit dem Tod seiner Mutter ist eine tragende Familienrücksicht entfallen. Er hat aber auch Halt aus Verpflichtung gegenüber seiner Braut, die unbeirrt zu ihm hält. Ein Gnadenerweis würde jetzt der Gesellschaft einen ernsten, fast 50 jährigen, in Selbstrechenschaft gereiften, sozial verantwortlichen Mann zurückgeben. In Übereinstimmung mit der Beamtenkonferenz wird eine Begnadigung unbedingt befürwortet.“ Trotz dieser überaus positiven Beurteilung sollte es noch bis zum 01.01.1965 dauern, bis Hermann Wesse die Strafanstalt verlassen konnte. In diesem Schreiben wurde erneut Wesses „Braut“ und spätere zweite Ehefrau erwähnt. Wesse lernte sie im Rahmen seines „Resozialisierungs-Programms“ kennen, ein Verfahren, bei dem für Strafgefangene, bei denen in absehbarer Zeit mit Entlassung zu rechnen war, die aber sonst keinen Kontakt zur Außenwelt mehr besaßen, solche Kontakte neu aufgebaut werden sollten. Es war üblich, dass in solchen Fällen von der JVA freiwillige Bezugspersonen gesucht wurden, die bereit waren, brieflich und persönlich mit Strafgefangenen in Kontakt zu treten, um ihnen die Rückkehr ins bürgerliche Leben zu erleichtern. Friedrich Wieprecht, damals Polizeimeister in Ziegenhain, hat am 02.01.1970 die letzte in den Gnadenakten enthaltene Beurteilung über Hermann Wesse verfasst. Im Jahr 2005 – in einem Gespräch mit dem Verfasser – konnte er, mittlerweile längst pensioniert, sich noch gut an den Arzt Hermann Wesse erinnern. Er schildert ihn als einen großen, sehr ruhigen Mann, der eher durch seine Zurückhaltung auffiel. „Man konnte ihm anmerken, dass er froh war, endlich draußen zu sein und um keinen Preis unangenehm auffallen wollte. Wir hatten ja damals einige von den NS-Leuten hier und die meisten haben sich nach ihrer Entlassung überhaupt nicht zurechtgefunden. Für die hatte die Welt, die sie draußen vorfanden sich so verändert, dass sie gar nichts Rechtes mit ihrer Freiheit anzufangen wussten. Bei Wesse war das anders. Er hat den Einstieg ins normale Leben geschafft und war während der Bewährungszeit absolut unauffällig. Es gab damals keinen Grund irgendetwas Negatives über ihn zu schreiben.“330 „Polizeikommissariat Ziegenhain, 2. Januar 1970. Bezug: Die Gnadenstelle beim Landgericht Düsseldorf, Az.: 42a I Gns 256 / 63, vom 17.11.1969. Der Arzt Hermann 330 Aussage aus einem Telefongespräch des Verfassers mit dem ehemaligen Polizeikommissar im Juni 2005.

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Wesse schloß nach seiner Haftentlassung aus der Strafanstalt Ziegenhain am 13. September 1966 die Ehe mit der […] geb. […]. Seit dem 1.2.1967 arbeitet Herr Wesse in dem medizinisch-pharmazeutischen Werk Braun, Melsungen. Seine Ehefrau arbeitet als Büroangestellte im Altersheim der Stadt Ziegenhain. Die Ehe ist kinderlos. Die Eheleute Wesse genießen in der Stadt Ziegenhain ein gutes Ansehen, sie leben zurückgezogen. Der Erlaß der Strafe kann von hier aus empfohlen werden.“ So, wie die Gefangenen-Personalakte von Hermann Wesse der Vernichtungsaktion zum Opfer gefallen ist, waren auch bei der Braun-Melsungen AG keine Personalunterlagen mehr vorhanden. Es konnte also nicht nachvollzogen werden, wie lange Hermann Wesse dort gearbeitet hat und welche Tätigkeit er ausübte. Am 11.06.1971 zog Wesse von Ziegenhain nach Bad Hersfeld, wo er mit seiner Frau bis zu seinem Tod am 20.10.1989 lebte. Die Ehe blieb kinderlos, und Wesses Witwe wurde bei ihrem Tod von einem Neffen beerbt. Eine an ihn gerichtete Anfrage des Autors, um Näheres über Wesses Leben nach der Haft in Erfahrung zu bringen, blieb leider unbeantwortet.

Abb. 171: Hermann Wesses Grab auf dem Friedhof in Bad Hersfeld

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Einführung

11. VERGRABEN UND VERGESSEN

I

m Gegensatz zu den reinen Tötungseinrichtungen, die nur noch mit Hilfe von Krematorien in der Lage waren die anfallenden Leichen zu beseitigen, wurde in Waldniel noch auf herkömmliche Weise bestattet. Der Anstaltsfriedhof, im Jahr 1912 von den Franziskanerbrüdern eingeweiht und bis 1935 sorgfältig gepflegt, verzeichnete in den Jahren ab 1940 drastisch ansteigende Bestattungsziffern. Waren in den Jahren zuvor im Durchschnitt jedes Jahr etwa 15 Personen verstorben, so wurden diese Sterbeziffern nun zuweilen in einem einzigen Monat erreicht und teilweise übertroffen. Die Nachlässigkeit, mit der die Provinzialverwaltung das Gräberverzeichnis weiterführte, machte es nahezu unmöglich die genaue Lage einer bestimmten Ruhestätte ausfindig zu machen. Die folgende Abbildung zeigt das Gräberverzeichnis der Franziskanerbrüder, das bis zur Grabnummer 301 sorgfältig mit Tusche geführt wurde. Die restlichen, schlampig und unübersichtlich mit Bleistift vorgenommenen Einträge, stammen von der Provinzialverwaltung.331

Abb. 172: Gräberverzeichnis des Anstaltsfriedhofs in Waldniel 331 Zöhren 1988, S. 42.

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11. Kapitel

Dieses Verzeichnis zeigt die ursprüngliche Größe des Friedhofs mit dem am Ende des Mittelganges stehenden Hochkreuz. Einem Lageplan von 1938 ist zu entnehmen, dass diese Fläche bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ausreichte und der Friedhof in westlicher Richtung erweitert wurde.

Abb. 173: Skizze der Friedhofserweiterung in Waldniel, 1938 Viel hätte nicht gefehlt, und die Waldnieler Opfer der NS-„Euthanasie“ wären vollends in Vergessenheit geraten. Einer Anregung des Ratsherrn Hubert van Horrick auf einer Gemeinderatssitzung im Jahre 1985 ist es zu verdanken, dass der Friedhof erhalten wurde und heute zur Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes mahnt. Seit 1988 ist der ehemalige Friedhof in Waldniel-Hostert Gedenkstätte. Es existieren keine fotografischen Dokumente über die frühere Beschaffenheit dieses Geländes. Fest steht, dass die Fläche der heutigen Gedenkstätte nur einen Teil des tatsächlichen Anstaltsfriedhofs umfasst und die Lage auch nicht exakt der des ursprünglichen Friedhofs von 1912 entspricht. Die Gedenkstätte wurde, nach einem durch den LVR ausgeschriebenen Künstlerwettbewerb, durch die Arbeitsgemeinschaft Struber-Gruber vollkommen neu gestaltet und im Mai 2018 der Öffentlichkeit übergeben. Ein erhalten gebliebenes Verzeichnis der in Waldniel auf dem Anstaltsfriedhof bestatteten Kinder weist zwischen 1942 und 1944 insgesamt 83 Kinderbegräbnisse aus, von denen 73 eindeutig als Sterbefälle der Kinderfachabteilung zu verifizieren sind. Die Liste gibt die Grabnummern 1001 bis 1079 an,

Vergraben und Vergessen

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ohne dass ein Lageverzeichnis enthalten wäre. Fünf Jugendliche wurden, da sie in großen Särgen bestattet werden mussten, auf der Männerseite begraben. Dort wurden Grabnummern zwischen 588 und 611 angegeben. Betrachtet man noch einmal das Verzeichnis der Franziskanerbrüder, dann ist festzustellen, dass die ursprüngliche Friedhofsfläche nach 441 Bestattungen ausgefüllt war. Geht man von einer gleichartigen Belegung aus, dann konnten auf der 1938 ausgewiesenen Erweiterungsfläche zusätzlich etwa 320 Bestattungen stattfinden. Damit wäre eine Gesamtzahl von 761 Gräbern erreicht worden. Niemals aber hätten die ausgewiesenen, annähernd 1.100 Gräber dort Platz finden können.

Abb. 174: Die neu gestaltete Gedenkstätte – gut zu erkennen: die sich langsam neigende Mauer auf der linken Seite und die Kugelskulpturen, die von Kinderhänden geknetete Bälle darstellen. Es gibt Berichte, dass beim Bau der links im Bild liegenden Häuserreihe Kinderknochen ausgegraben wurden,332 und es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Opfer der Kindereuthanasie sich nicht im Boden der heutigen Gedenkstätte befinden. Frau T., die heute in einem dieser Häuser lebt, berichtete, dass ihr Mann bei dem Versuch, einen im Garten befindlichen Betonsockel zu entfernen, in etwa zwei Metern Tiefe auf Kisten gestoßen sei. Sie bewog ihn, nicht weiter zu graben. Sie weiß, was sich 332 Ebd., S. 27.

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11. Kapitel

in diesen Kisten befindet, und sie wollte den Inhalt nicht sehen, wollte der endgültigen Gewissheit, dass ihr Haus auf einem Boden voller Leichen steht, nicht ins Auge blicken.

Abb. 175: Lage und Größe der heutigen Gedenkstätte, 2005 Zeitzeugen haben berichtet, dass es auf dem Friedhof ein mit Brettern verschaltes Massengrab gegeben habe und dass die Bürger, die jeden Sonntag auf dem Weg zur Kirche an dem Friedhof vorbei kamen, von Woche zu Woche die Erweiterung dieser Bretterverschalung beobachten konnten. Schließlich ließ die Provinzialverwaltung das Friedhofstor schließen, und die Anwohner mussten über den Gutshof zur Kirche gehen. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass durch die Anlage von Massengräbern entsprechend Platz eingespart wurde und die Skizze von 1938 folglich die komplette Friedhofsfläche bis 1945 ausweist. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der 1938 verzeichnete Straßenverlauf deutlich weiter westlich liegt, was auf einen Fehler des Kartographen schließen lässt, da Luftaufnahmen aus den 50er Jahren eindeutig die Lage des eingezeichneten Sportplatzes rechts der Straße belegen, was aber mit der Zeichnung von 1938 nicht in Übereinstimmung zu bringen ist (s. Abb. 176). Ein Waldnieler Kaplan, der die Patienten religiös betreute, sprach von unzähligen Beerdigungen, wobei nur die wenigsten davon kirchlich erfolgten. In den meisten Fällen

Vergraben und Vergessen

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Abb. 176: Lageplan von 1938 über dem Luftbild des heutigen Areals wurden die Verstorbenen durch Patienten auf einem Wägelchen vom Leichenkeller unter der Kirche zum Friedhof transportiert. Entweder in Särgen, die aus rohen Holzbrettern gezimmert waren, oder auch einfach nur in Ölpapier eingewickelt. Dort wurden sie ohne irgendeine Zeremonie in die Grube gekippt.333 Ein so genannter „Klappsarg“, ein durch einen herunter zu klappenden Boden immer wieder aufs Neue verwendbarer Sarg, mit dem z. B. in der Anstalt Kalmenhof der überwiegende Teil der Bestattungen durchgeführt wurde, war auch in Waldniel vorhanden. Augenzeugenberichte oder Unterlagen über den tatsächlichen Einsatz dieser Apparatur liegen allerdings nicht vor. Einem Bauantrag des Jahres 1957 war zu entnehmen, dass zu diesem Zeitpunkt noch zwei weitere Wohnhäuser auf dem Gelände des Friedhofs geplant waren, wodurch die Begräbnisstätte vollends verschwunden wäre.334 333 Zöhren 1988, S. 27. 334 Die hier verwendeten Skizzen entstammen dem Beitrag Zöhren 2008, S. 89 ff.

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11. Kapitel

Abb. 177: Links in schwarz die vorhandene Bebauung, rechts die beiden geplanten Gebäude auf der Fläche der heutigen Gedenkstätte Wäre dieses Bauprojekt verwirklicht worden, dann würde heute an dieser Stelle nichts mehr an einen Friedhof, geschweige denn an die Opfer der NS-„Euthanasie“ erinnern. Die wechselvolle Geschichte des Friedhofs und den beschwerlichen Weg durch die Instanzen bis zur Schaffung der heutigen Gedenkstätte hat Peter Zöhren in einem Beitrag in der Ausgabe 2008 des Heimatboten Schwalmtal detailliert beschrieben.335 Zur Neugestaltung der Gedenkstätte im Jahr 2018 gibt es einen sehr schönen Begleitband, mit dem Titel „Erinnerung entsteht gemeinsam“ in dem vor allem die Zusammenarbeit mit Schülern und behinderten Menschen (ein wesentliches Kriterium bei der Ausschreibung des Wettbewerbs) bei der Gestaltung der Skulpturen detailliert beschrieben und dokumentiert ist.336

335 Weitergehende Informationen hierzu finden sich auf der Internetseite: www.waldniel-hostert.de. 336 Erinnerung entsteht gemeinsam, Die Neugestaltung der Gedenkstätte Waldniel-Hostert von Katharina Struber, Klaus Gruber, Mandelbaum Verlag, 2019.

EPILOG

V

on den an oberster Stelle der Kindermordaktion angesiedelten Funktionären beging Philipp Bouhler, der Leiter der Kanzlei des Führers, 1945 Selbstmord, Viktor Brack und Karl Brandt wurden in Vollstreckung des Urteils aus dem Nürnberger Ärzteprozess am 02.06.1948 in Landsberg hingerichtet. Hans Hefelmann hatte sich nach dem Krieg nach Argentinien abgesetzt, kehrte aber Ende der 1950er Jahre nach Deutschland zurück und stellte sich als Zeuge im Prozess gegen Professor Heyde zur Verfügung. Er selbst ist nie mehr angeklagt worden. Richard von Hegener wurde 1952 von der Großen Strafkammer des Landgerichts in Magdeburg zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, war aber bereits vier Jahre später wieder auf freiem Fuß. Im Juli 1956 wurde er aufgrund eines Ministerialbeschlusses der damaligen DDR in die Freiheit entlassen. Dr. Kleine und Dr. Schmitz wurden erst gar nicht angeklagt. Professor Creutz wurde im Revisionsverfahren freigesprochen und konnte wieder Chefarzt einer Klinik werden. Ende der Fünfziger Jahre war außer Hermann Wesse kein einziger Euthanasietäter mehr in Haft. Eingangs wurde die Frage gestellt, warum ausgerechnet Hermann Wesse so lange in Haft blieb. Die Antwort ist ebenso einfach wie banal: Er hatte Pech! Die Offenheit, mit der er sich zu seinen Taten und seiner Schuld bekannte und die anschließende „Sühnewilligkeit“, mit der er seine Haftstrafe auf sich genommen hat, haben sich für ihn nicht ausgezahlt. Vermutlich wäre seine Haftstrafe kürzer ausgefallen, hätte er bereits im Kalmenhofprozess seine Tätigkeit in Waldniel zugegeben und im Gegenzug geleugnet, in den Fällen Pappenheimer, Rettig und Zey im Kalmenhof selbst Hand angelegt und damit eigenhändig Menschen getötet zu haben, die nicht geisteskrank waren. Seine Vorgängerin im Kalmenhof, Dr. Mathilde Weber, die alle noch so klaren Tatbestände einfach nur hartnäckig leugnete und ungeachtet ihrer offensichtlichen Unglaubwürdigkeit starrsinnig behauptete selbst nichts gemacht und nichts gewusst zu haben, wurde weitaus milder bestraft als er. Mit Sicherheit wäre er einer langen Haftstrafe entgangen, wenn er es verstanden hätte, sich dem Zugriff der Justiz für ein paar Jahre zu entziehen. Wäre man seiner nicht bereits 1947, sondern erst Mitte der Fünfziger Jahre habhaft geworden, dann hätte er sich möglicherweise überhaupt nicht für seine Taten vor Gericht verantworten müssen. Er hätte gute Chancen gehabt, im Falle einer Anklageerhebung auf milde Richter zu treffen, die ihm sowohl seinen Glauben an die vermeintlich gesetzlich geregelte Rechtmäßigkeit seines Handelns, als auch einen eventuellen „Befehlsnotstand“ abgenommen hätten. Der unmittelbar nach dem Krieg herrschende Ärztemangel hätte ihn vor einer Verurteilung bewahren können, wenn er denn bereits ein qualifizierter Facharzt mit entsprechender Reputation gewesen wäre, so wie Heinze oder Professor Catel. Hermann Wesse war ein unbedeutender Assistenzarzt, der noch nicht einmal über

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Epilog

einen Doktortitel verfügte und in seiner ärztlichen Praxis nicht viel anderes getan hatte als nach Anweisung und nach Anleitung anderer kleine Kinder zu ermorden. Auf ihn konnte man 1948 getrost verzichten, und er war ein willkommener Sündenbock, da er eigenhändig getötet hatte und dies auch nicht bestritt. 1947 und 1948 waren die deutschen Gerichte, unter dem Druck der Siegermächte, noch deutlich bestrebt NS-Verbrecher hart und unbarmherzig zu bestrafen. Aber auch hier fällt bereits auf, dass renommierte Mediziner und Professoren milder bestraft wurden als Wesse. Die Tatsache, dass man etwa ab 1953 versäumte, Gnadengesuche und Beurteilungen an die Düsseldorfer Justizbehörden zu senden und dies erst im Jahr 1958 eilig nachzuholen versuchte, gepaart mit dem Umstand, dass der zuständige Entscheidungsträger ausgerechnet in diesem Jahr im Amt des Ministerpräsidenten wechselte, hat Hermann Wesse sieben Jahre seines Lebens gekostet, die er im Normalfall früher in Freiheit hätte sein können. Für die hessischen Strafvollzugsbehörden war Hermann Wesse im Jahr 1958 „begnadigungsreif“ und hätte wohl (genau wie Gorgaß) im selben Jahr noch das Gefängnis verlassen können, wäre da nicht die immer noch gültige lebenslängliche Verurteilung aus Düsseldorf gewesen, um die man sich nach Aktenlage fünf Jahre lang nicht gekümmert hatte. Aber, ist sein Schicksal deswegen „tragisch“? Hermann Wesse hatte während der NSZeit immer die Möglichkeit „nein“ zu sagen und die Tätigkeit für den Reichsausschuss abzulehnen. Für das immer wieder von allen Tätern vorgebrachte Argument, man hätte sich im Falle einer Weigerung zwangsläufig in einem Konzentrationslager wiedergefunden, gibt es keinen einzigen Präzedenzfall. Diejenigen, die sich geweigert haben, sind schlimmstenfalls versetzt und in der Folgezeit bei Beförderungen übergangen worden. Natürlich hätte Wesse mit seiner Einberufung zur Wehrmacht und gegebenenfalls mit seiner Verwendung in einem Feldlazarett an der Front rechnen müssen. Jedermann dürfte emotional nachvollziehen können, dass er darauf nicht besonders versessen war. Abgesehen von der unangenehmen Aufgabe, kleine Kinder töten zu müssen, die er ja noch nicht einmal eigenhändig ausführen musste, bot die Tätigkeit für den Reichsausschuss für Wesse nur Vorteile. Er konnte sich in gesicherter Stellung dem Risiko eines „Heldentodes“ entziehen, hatte die Möglichkeit mit seiner Frau zusammen in der gleichen Anstalt zu arbeiten. Er bekam für sich und seine junge Familie eine komfortable und kostengünstige Wohnung in der Anstalt und hatte die Aussicht darauf, in unmittelbarer Nähe der Anstalt ein Ärztehaus beziehen zu können. Außerdem konnte er sich auf finanzielle Sondervergütungen vom Reichsausschuss einstellen und sich mittelfristig berechtigte Hoffnungen auf den Posten eines Anstaltsdirektors machen. Überdies erlebte er in Bonn, wie sich Professor Pohlisch ihm gegenüber seiner guten Kontakte zum Reichsausschuss rühmte und offensichtlich das Bedürfnis hatte ihn, den kleinen Assistenzarzt, zu beeindrucken. Dass die Tötung der Kinder kein Mord, sondern ein „Gnadenakt“ oder eine „Erlösung“ sei, konnte er sich zumindest eine gewisse Zeit lang einreden, zumal dieses Verfah-

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ren von höchster Stelle initiiert und gedeckt wurde. Dergleichen abstrakte Überlegungen verlieren jedoch „normalerweise“ unmittelbar an Überzeugungskraft, sobald die Opfer ein Gesicht bekommen.

Abb. 178: „Reichsausschuss“-Kind in Görden Hermann Wesse musste in solche Gesichter blicken und sich entscheiden, ob er sich tatsächlich zum Herrn über Leben und Tod dieser unschuldigen Kinder machen wollte. Hier lag die eigentliche Schwelle, die es zu überschreiten galt und möglicherweise der letzte Haltepunkt, an dem ihm das eigene Gewissen noch hätte sagen können: „Nein – das mache ich nicht!“ Hermann Wesse hat diese Schwelle überschritten und ist zum Mörder geworden. Er ist, sicherlich auch auf Drängen seiner Frau, den vermeintlich bequemeren Weg gegangen. Das Ausmaß, in dem seine Ehefrau später gleiche Aufgaben übernahm, ohne dabei unter vergleichbarem Entscheidungsdruck zu stehen, macht es schwer ihr zu glauben, sie hätte ihn diesbezüglich nicht beeinflusst. Gleichzeitig wirft es ein sehr eindrucksvolles Licht auf das Verhältnis, das eine junge Ärztin in der NSPsychiatrie ihren Patienten gegenüber entwickeln konnte. Hildegard Wesse, die 1938 noch über Bronchialkarzinome promovierte und sicherlich als engagierte junge Ärztin den Dienst in der Psychiatrie angetreten hatte, war im dienstlichen Alltag abgestumpft und hatte, der Ideologie der damaligen Zeit folgend, aufgehört ihre Patienten als Menschen

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zu betrachten. Für sie waren die Patienten nur noch „Idioten“ und „Schwachsinnige“ und sie als Ärztin klar befähigt zu beurteilen, wer von ihnen noch ein Recht zu leben besaß und für wen es besser wäre „einzuschlafen“. Diese Einstellung ist auch aus ihren Aussagen und schriftlichen Darlegungen der Nachkriegszeit klar ersichtlich. Als der souverän auftretende Dr. Renno in Waldniel einen Nachfolger suchte und sich die Chance bot „ihren Hermann“ in dieser Stellung unterzubringen, wird Hildegard Wesse dies eher als glücklichen Zufall empfunden haben. Denen, die diese Zeit bewusst miterlebt haben, fällt es auch heute noch schwer über ihre ermordeten Angehörigen zu sprechen. Zu tief sitzen der Schmerz und die Trauer. Bei einigen wirkt die Einschüchterung der Nationalsozialisten bis heute und sie haben das Gefühl eine Sache zu berühren „über die man nicht sprechen darf“und immer noch den inneren Impuls „etwas Verbotenes zu tun“. Wenn dann heute von Menschen, die diese Zeit nicht miterlebt haben, Quellen erschlossen, Zusammenhänge analysiert und Fragen gestellt werden, hilft dies nicht nur die Erinnerung an die Opfer aufrecht zu erhalten. Manchmal gibt es auch den Zeitzeugen die späte Gelegenheit, diese Erlebnisse zu verarbeiten: „Ach, bin ich froh, dass ich das alles jetzt mal erzählt habe. Ich hab’ ja immer schon gedacht: Mich fragt mal keiner […] man durfte ja damals auch nicht darüber sprechen, wissen Sie […]“, lautete eine der emotionalsten Äußerungen, die im Rahmen der Recherchen zu diesem Buch gemacht wurden. Wo wir beginnen den Wert des Menschen an seiner Leistungsfähigkeit zu bemessen, ist der Schritt von seiner Verachtung zu seiner Vernichtung nur noch ein kleiner. Die Geschichte sollte uns lehren, dass dieser Schritt in den Abgrund führt. Diejenigen, die diesen Schritt gegangen sind, hatten dafür zu büßen, und das hat Hermann Wesse am eigenen Leib erfahren. Das Tragische an der Geschichte dieser Mörder ist, dass es viel zu vielen gelungen ist, dieser Buße zu entgehen. Vor diesem Hintergrund hat Hermann Wesse sicherlich sein eigenes Schicksal als tragisch empfunden. Aber ist nicht das Schicksal der Kinder, deren sterbliche Überreste in Waldniel auf einem Friedhof ohne Grabsteine verscharrt liegen und von denen niemand mehr weiß, an welcher Stelle sich welcher Leichnam befindet, weitaus tragischer? Ist nicht das Schicksal der Eltern, die teilweise in gutem Glauben, teilweise mit bangen Vorahnungen ihre Kinder der Obhut der „Kinderfachabteilung“ überließen und die kurz darauf fadenscheinige Mitteilungen über den verschlechterten Gesundheitszustand und anschließenden Tod ihrer Kinder erhielten, das eigentlich Tragische? Ist es nicht tragisch, dass hier in Waldniel, wo die Ruine der Kinderfachabteilung vor sich hin modert und der langsam verfallende Turm der Anstaltskapelle sich immer noch wie ein mahnender Zeigefinger weithin sichtbar in den Himmel reckt, fast niemand etwas über diese Dinge weiß? Wäre es nicht tragisch, wenn wir alle uns irgendwann daran nicht mehr erinnern?

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Abb. 179: Gedenkstätte Waldniel, November 2020

Abb. 180: Turm der ehem. Anstaltskapelle, 2004

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Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 181: Eingangsbereich im ehemaligen Gebäude der Kinderfachabteilung, 2006

STUMME ZEUGEN – DER ORT DES GESCHEHENS GESTERN UND HEUTE

B

efragt man die Waldnieler heute nach dem Gebäudekomplex in Hostert, dann sprechen die Leute im Allgemeinen von der „Kent School“. Nach dem Krieg diente ein Block des Gebäudekomplexes als Altersheim für Behinderte. 1952 wechselten alle Patienten nach Süchteln, womit die Nutzung als psychiatrische Anstalt endete. 1955 wurden die Gebäude an die britische Besatzungsmacht vermittelt, die den Komplex nach aufwändigen Um- und Anbauten einige Jahre als Militärhospital nutzte. Die Präsenz der Royal Air Force in Elmpt und Wildenrath hat die Region über Jahrzehnte hinweg geprägt, und auch wenn sicherlich niemand den obligatorischen Fluglärm der englischen „Harrier“ vermisst, so ist mit dem Abzug der britischen Luftstreitkräfte der Region doch ein gutes Stück Infrastruktur verloren gegangen. Nach Einstellung des Krankenhausbetriebes im Jahr 1963 dienten die Gebäude den Engländern fast 30 Jahre lang als Schule für die Kinder der hier stationierten Einheiten. Hinter den beiden Blöcken der ehemaligen Männerstation und Kinderfachabteilung entstanden zusätzliche Schulgebäude; ein Mensabetrieb und eine große Turnhalle wurden gebaut. Wandert man heute durch die dunklen, modrig riechenden Gänge der Gebäude, dann kann man sich eher eine Schar lärmender Schüler vorstellen, die diese Gänge mit Leben erfüllt, als dass man sich in die Atmosphäre einer Tötungsanstalt hineinversetzt fühlt. Die eingezogenen Zwischendecken aus Rigips, die Trennwände mit denen die ehemaligen Krankensäle zu Klassenräumen umfunktioniert wurden und das eine oder andere englischsprachige Hinweisschild unterstreichen diesen Eindruck. Nach irgendwelchen Spuren des Grauens sucht man vergebens. So sehr es sich in den Jahren des Schulbetriebes für den Leistungskurs Geschichte angeboten hätte, einmal die Vergangenheit der eigenen Schule zu erforschen, so wenig hatten die Engländer ein Interesse daran. Dass ihre schöne Schule einstmals ein Ort war, an dem kleine Kinder ermordet wurden, davon wollte in diesen Jahren niemand etwas wissen.

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Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 182: Postkarte aus den Jahren vor 1936

Abb. 183: Luftaufnahme, 2005. Deutlich zu erkennen: der Verbindungstrakt zwischen den hinteren beiden Blöcken aus den Jahren 1956/57 und die rechts liegende Turnhalle aus der Zeit der „Kent School“

Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 184: Der alte Eingang zur Anstaltskapelle

Abb. 185: Der Eingang heute mit verbreiterter Treppe und dem Vorbau von 1967

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Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 186: Flur im Schulhaus; Auf dieser Postkarte aus den 30er Jahren kann man deutlich hinten links den Abgang zur tiefer liegenden Aula des Schulgebäudes erkennen, die für den Verbindungstrakt in den fünfziger Jahren abgerissen wurde. In diesem Gang befand sich damals die Kleinkinderstation, auf der die Pflegerin Maria W. ihren Dienst verrichtete.

Abb. 187: Ansicht 2005

Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 188: Ein Klassenraum im Schulgebäude zu Zeiten der Franziskanerbrüder

Abb. 189: Zustand im Jahr 2005, mit den Resten der von den Engländern eingezogenen Zwischendecke.

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Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 190: Verwaltungsgebäude neben der Kapelle, vor 1935 – hier noch mit der kleinen Sakristei (rechts im Bild), die 1935 überbaut wurde, wofür u. a. eines der großen Kirchenfenster neben dem Altar zugemauert werden musste.

Abb. 191: Annähernd gleiche Perspektive im Jahr 2010. Gut erkennbar: vergrößerter Anbau und die Spitze des zugemauerten Kirchenfensters

Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 192: Das „Schutzengelhaus“ – die spätere Kinderfachabteilung vor 1936 …

Abb. 193: „Schutzengelhaus“, … die gleiche Perspektive im Januar 2006

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Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 194, links: Anstaltskapelle, 1935. 1935 wurde die Anstaltskapelle aufwändig ausgemalt und renoviert: ein Zeichen dafür, wie wenig die Franziskanerbrüder damit rechneten, ihren Anstaltsbetrieb in Kürze aufgeben zu müssen. Abb. 195, rechts: Anstaltskapelle, 2004

Abb. 196: Anstaltskapelle, 1935

Abb. 197: Anstaltskapelle, 2004

Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

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Abb. 198: Der Eingangsbereich des Verwaltungsgebäudes, hier im Jahr ca. 1921, …

Abb. 199: … ist inzwischen nicht mehr zugänglich (Aufnahme von 2004).

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Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

Abb. 200: Straßenbahn vor der Anstalt Waldniel, 1914. Dort wo einst die Straßenbahnlinie „MönchengladbachHardt−Waldniel“ an der Anstalt Halt machte …

Abb. 201: … sind die Gebäude heute im Frühjahr kaum noch zu sehen (Frühjahr 2005)

Abb. 202: … und im Sommer gänzlich aus dem Blickfeld verschwunden (Sommer 2005).

Stumme Zeugen – Der Ort des Geschehens gestern und heute

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Abb. 203: Der Anstaltsfriedhof, auf dem es keine Grabsteine gibt … (Ansicht November 2020)

Abb. 204: … und der früher wohl ein Vielfaches seiner heutigen Fläche bemessen hat … (Blick über den Friedhof, November 2020)

Abb. 205: … ist heute Gedenkstätte (von Paten aus der Region beschriftete Namenstafeln der Opfer, Mai 2018).

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Anhang

Archivverzeichnis Archiv der Klinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche der Universität Leipzig Archiv des Landgerichts Marburg Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland, Pulheim-Brauweiler Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen Bundesarchiv Koblenz Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg Bundesarchiv, Berlin Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin Deutsche Bibliothek, Leipzig Deutsche Dienststelle (WASt), Berlin Hessisches Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden (HHStAW) Hessisches Staatsarchiv, Marburg Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main Kreisarchiv Viersen in Kempen Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Staatsarchiv Münster Lohn- und Gehaltsarchiv der Stadt Leipzig Niedersächsisches Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover Registratur der Rheinischen Kliniken Bonn Rheinische Kliniken Viersen SALUS-Institut, Betreibergesellschaft für sozial orientierte Einrichtungen des Landes Sachsen-Anhalt (dort: Archiv Kliniken Uchtspringe) Stadtarchiv Düsseldorf Stadtarchiv Leipzig Standesamt-Archiv der Stadt Bochum Zentralarchiv Kliniken Anklam-Ueckermünde

Literaturverzeichnis Beddies, Thomas: Kinder in der NS-Psychiatrie (Berlin 2004) Benzenhöfer, Udo: „Kinderfachabteilungen“ und „NS-Kindereuthanasie“ (Wetzlar 2000) Benzenhöfer, Udo: der Fall Leipzig (alias Fall „Kind Knauer“) und die Planung der NS-„Kindereuthanasie“ (Münster 2008) Bernhardt, Heike: Anstaltspsychiatrie und „Euthanasie“ in Pommern 1933 bis 1945 (Frankfurt 1994) Böhm, Boris u.a.: Nationalsozialistische Euthanasie-Verbrechen in Sachsen. Beiträge zu ihrer Aufarbeitung (Pirna 1996) Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914−1949. Mit einer Topographie der NSPsychiatrie (Freiburg 1998) Hermeler, Ludwig: Die Euthanasie und die späte Unschuld der Psychiater. Massenmord, BedburgHau und das Geheimnis rheinischer Widerstandslegenden (Essen 2002)

Archiv- und Literaturverzeichnis/Abbildungsnachweise

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Hoche, Alfred E.: Jahresringe (München 1934) Klee, Ernst: Euthanasie im NS-Staat (Frankfurt 1985, 102001) Klee, Ernst: Dokumente zur Euthanasie (Frankfurt 1985) Klee, Ernst: Was sie taten, was sie wurden (Frankfurt 122004) Klee, Ernst: Irrsinn Ost, Irrsinn West (Frankfurt 1993) Kogon, Eugen: Der SS-Staat (München 1974) Kohl, Walter: Ich fühle mich nicht schuldig (Wien 2000) Kohl, Walter: Die Pyramiden von Hartheim (Grünbach 1997) Leipert, Matthias: Verlegt nach unbekannt. Sterilisation und Euthanasie in Galkhausen 1933–1945 (Köln 1987) Leipert, Matthias: „Euthanasie“ und „Widerstand“ von Ärzten in der Rheinprovinz 1939-1945, in: Psychiatrie im Abgrund. Spurensuche und Standortbestimmung nach den NS-PsychiatrieVerbrechen (Köln 1001), S. 111−124 Orth, Linda: Die Transportkinder aus Bonn (Köln 1989) Platen-Hallermund, Alice: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland (Frankfurt 1948) Prost, Heinz: Rheinische Kliniken Viersen im Wandel der Zeit (Willich 2003) Rüter, C.F./Rüter-Ehlermann, Adelheid L.: Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen (Amsterdam 1971) Sandner, Peter: Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus (Gießen 2003) Schmidt, Ulf: Kriegsausbruch und Euthanasie: Neue Forschungsergebnisse zum „Knauer Kind“ im Jahre 1939 (Oxford 2006) Sick, Dorothea: Euthanasie im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofes in Idstein im Taunus (Frankfurt 1983) Synder, K.: Patientenschicksale in Uchtspringe (Uchtspringe 1994), in: www.uchtspringe.de/synder. htm [Zugriff 2009] Vormbaum, Thomas: „Euthanasie vor Gericht“ Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Dr. Werner Heyde u.a. , 22. Mai 1962 (Berlin 2005) Werner, Wolfgang Franz: Walter Creutz – Widerstandskämpfer ? in: Folgen der Ausgrenzung. Studien zur Geschichte der NS-Psychiatrie in der Rheinprovinz (Köln 1995), S. 173−195 Zöhren, Peter: Nebenan eine andere Welt (Schwalmtal 1988)

Abbildungsnachweise Abb. Seite 13, Abb. 179, 203, 204 Foto: B. Henkel Abb. 104, 105, 143: Archiv Heinz Prost Abb. 53, 54: Archiv Klinik Uchtspringe Abb. 109, 110, 137, 138, 145, 162: Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland Abb. 17: BKJPP, Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e.V. (www.bkjpp.de) Abb. 4, 20, 103: Beddies 2004 (S. 27, S. 196, S. 57) Abb. 21: Bildersammlung des Karl-Sudhoff-Instituts, Medizinische Fakultät, Universität Leipzig

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Anhang

Abb. 11, 16, 55, 98, 100, 106–108, 161: Bundesarchiv, Berlin Abb. 153: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Krankenakte Nikolaus A. aus Görden Abb. 43, 44, 159: Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg Abb. 19, 69, 115, 116, 131, 178: Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin Abb. 13: Deutscher Beamtenkalender 1939, (Beamtenpresse GmbH, Berlin SW 68) Abb. 52: Die Deutsche Bibliothek, Leipzig Abb. 58, 160, 163–166: Dt. Dienststelle, Referat VI / ZNS, Berlin Abb. 81: Friedhofsverwaltung Düsseldorf Abb. 34, 35, 73: Gemeindearchiv Waldniel, Nr. 881 im Archiv des Kreises Viersen, Kempen Abb. 101, 168: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHSTAW) Abb. 65: Hoche, 1934 Abb. 171: Foto: Hubert van Horrick Abb. 99: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt/Main Abb. 32, 112, 118, 124, 125, 127, 128, 174, 175, 179, 181, 183, 187, 189, 193, 195, 197, 199, 201–203, 205: Foto: A. Kinast Abb. 5: Klee 1985, S. 18 Abb. 18, 129, 154: Klee 1993 (S.148, S. 193, S. 135) Abb. 33, 117, 170: Klee 2004 (S. 37, S. 182, S. 203) Abb. 6, 40, 50: Kohl 1997 (S. 44, S. 104, S. 462) Abb. 158: Kreisarchiv Kempen Abb. 169: Josef Albert Slominski Abb. 49, 56, 120, 121, 139, 141, 142, 156, 157: Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) Abb. 9: „Neues Volk“, Monatsschrift des Rassepolitischen Amtes der NSDAP, Ausgabe vom Oktober 1933 Abb. 146, 167: L. Orth, APG Bonn (Arbeitskreis Psychiatriegeschichte Bonn) Abb. 51, 57: Privatbesitz Abb. 74, 75, 79, 80, 96: Privatbesitz Dieter B., Düsseldorf Abb. 3, 60, 119, 182, 184, 186, 188, 190, 192, 194, 196, 198, 200: Privatbesitz Familie Crisp, Waldniel Abb. 102: Privatbesitz Familie F., Mönchengladbach Abb, 85, 89, 92, 94, 97: Privatbesitz Marlies H., Köln Abb. 113: Privatbesitz, aus Nachlass Pflegerin Gertrud R. Abb, 114, 123, 144: Privatbesitz Maria W Abb. 150–152: Registratur der Rheinischen Kliniken Bonn Abb. 1, 2, 23–31, 36, 47, 48, 59, 66–68, 70, 71, 76–78, 82–84, 86–88, 90, 91, 93, 111, 122, 132–135, 147–149: Rheinische Kliniken Viersen Abb. 45, 46, 72, 126: Staatsarchiv Münster Abb. 22, 64: Der Spiegel, 19.02.1964 (S. 41, S. 34) Abb. 184, 191: Foto: Maria und Victoria Tauer Abb. 10: Ullstein Bild Abb. 8, 14, 41, 140, 155: United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) Abb. 38, 39: Zentralarchiv Kliniken Anklam-Ueckermünde Abb. 95, 172, 173, 177: Foto: Peter Zöhren