Es ist nicht alles unerbittlich: Grundzüge der Philosophie Emmanuel Lévinas' 9783495997062, 9783495481882, 3495481885


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Einleitung
§1 Die Seinsfrage
§2 Rosenzweig und die Philosophie der Existenz
2.1 Der Zusammenbruch des Idealismus und das »neue Denken«
2.2 Rosenzweig und Heidegger
2.3 Die Existenz als Problem
§3 Lévinas
3.1 Biographisches
3.2 Die jüdische Tradition
3.3 Die Phänomenologie
3.4 Philosophie nach der Shoah
§4 Die Absicht der Darstellung
I. Die Dialektik der Zeit
§5 Die Idee der Freiheit und das Denken
5.1 Einleitung
5.2 Die Gefangenschaft im Mythos
5.3 Die Idee der Freiheit
5.4 Die Rolle des Denkens
§6 Die Kritik am Denken: Der Nationalsozialismus
6.1 Die Krise Europas als Krise des Denkens
6.2 Die Gefangenschaft in der Vorstellung
6.3 Die Bodenlosigkeit der Vorstellung
6.4 Die Gesinnungslosigkeit der Vorstellung
6.5 Das ›germanische Ideal‹
§7 Die Kritik am Denken: Die Anthropologie
7.1 Einleitung
7.2 Kritik der Vorstellung
7.3 Partizipation
7.4 Die Auflösung des Subjekts
7.5 Anthropologie und Humanwissenschaften
§ 8 Die Kritik am Denken: Die Phänomenologie
8.1 Ausgang von der Vorstellung
8.2 Vorstellung und Vergegenständlichung
8.3 Die Zeit als Sein des Subjekts
8.4 Die Verheimlichung der Zeit im Objektivismus
8.5 Zwei Beziehungen: zum Sein (Existenz) und zum Objekt (Intentionalität)
8.6 Die Analyse des Bedürfnisses
8.7 Der Zusammenfall von Intentionalität und Existenz
8.8 Die Transitivität der Existenz
8.9 Die Affektivität
§ 9 Die Dialektik der Gegenwart
9.1 Die Zeit der Vorstellung
9.2 Die Zeit der Existenz
9.3 Das Paradox der Gegenwart
§ 10 Eine andere Zeit
10.1 Die Zeit des anderen
10.2 Gliederung
II. Die erotische Transzendenz
2.1 Einleitung
§ 11 Ontologische Differenz und Transzendenz
11.1 Die ontologische Differenz
a. Die ontologische Differenz
b. Das Sein ohne Seiendes
c. Das Seiende
d. Die Einsamkeit des Seienden
e. Parmenides
11.2 Die Transzendenz
a. Das Problem der Transzendenz
b. Der traditionelle Begriff der Transzendenz
c. Die Polarität der Transzendenz
d. Transzendenz und Ekstase
e. Transzendenz und Theorie
f. Die Ambivalenz der Begriffe
g. Der jüdische Begriff der Transzendenz oder Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit
§12 Transzendenz und Zeit
12.1 Sein und Zeit
12.2 Zur Gliederung
2.2 Vom Sein zum Seienden
§13 Das Sein
13.1 Das Sein ohne Seiendes
a. Das traditionelle Seinsverständnis
b. Sein als Instanz der Entfremdung
c. Die moderne Wiederkehr des Seins
d. Die Einklammerung der Welt
13.2 Die Anknüpfung des Seinsbegriffs an traditionelle Begriffe
a. Heidegger
b. Sartre
c. Zimzum
Exkurs: »Jude sein«
13.3 Die Erfahrbarkeit des Seins ohne Seiendes
a. Das Sein: kein Gegenstand der »Erfahrung«
b. Seinserfahrung und Affektivität
c. Ekel, Scham, Entsetzen, Langeweile
13.4 Der systematische Ort eines Seins ohne Seiendes
a. Das Sein als frühe Entwicklungsstufe
b. Das Sein als bleibende Versuchung
c. Das Sein als Gegenstand einer Wahl
d. Das Sein als Alternative zum Idealismus
e. Die Wiederkehr des Seins als soziales Phänomen
f. Zur Topographie des Seins
g. Die Stellung Europas
§14 Das Seiende oder die Hypostase
14.1 Das Seiende als Hypostase
14.2 Hypostase und Bewußtsein
14.3 Hypostase und Dasein
a. Die Hypostase geht der Welt voraus
b. Die Hypostase ist keine Ekstase
14.4 Hypostase und Leben
§ 15 Hypostase und Zeit
15.1 Hypostase und Substanz
15.2 Hypostase und Augenblick
a. Hypostase – Augenblick – Zeit
b. Die Dialektik des Augenblicks
15.3 Das Sich als Materie und Leib
a. Das Sich als Leib
b. Der Leib als Möglichkeit der Freiheit
15.4 Der versteinerte Augenblick
§ 16 Die Welt
16.1 Hypostase und Bewußtsein
16.2 Intentionalität, Sinn, Form
a. Intentionalität
b. Sinn
c. Form
16.3 Die Suffizienz der Welt
16.4 Die Seinsvergessenheit
§ 17 Das Ende der Welt
17.1 Weltuntergang
17.2 Die Welt als Bild
17.3 Bild undWiderschein
17.4 Zeit, Melancholie, Materie
17.5 Die Auflösung des Subjekts
17.6 Musikalität
§ 18 Kunst und Moderne
18.1 Der Bruch der Formen
18.2 Die Moderne
18.3 Moderne und Ästhetizismus
18.4 Die Zweideutigkeit der Moderne
2.3 Vom Seienden zum anderen: der Eros
§ 19 Zweifache Transzendenz
§ 20 Der Tod und das Weibliche
20.1 Die Endlichkeit und das andere
20.2 Tod und Passivität
20.3 Tod und Hypostase
20.4 Tod und Zukunft
20.5 DasWeibliche
20.6 Der Eros
§21 Die Fruchtbarkeit
21.1 DasWeibliche als Bedingung der Zeit
21.2 Vater und Sohn
21.3 Das plurale Existieren
III. Die ethische Transzendenz
3.1 Die Revision des erotischen Ansatzes
§22 Verantwortung für den anderen
22.1 Existenz und ihre Rechtfertigung
22.2 Zum Begriff der Verantwortung
22.3 Gliederung
3.2 Das Leben
§23 Das Ich des Genusses
23.1 Das Lebendige
23.3 Der Genuß als Universalform
§24 Arbeit und Besitz; dasWeibliche
24.1 Die Endlichkeit des Lebendigen
24.2 Das Heidentum
24.3 Die Ökonomie
24.4 Die Arbeit
24.5 DasWeibliche
24.6 Schöpfung als contractio Dei
3.3 Die Sprache
3.3.1 Die Sprache überhaupt
§25 Der Begriff der Sprache
25.1 Ethik und Sprache
25.2 Die Sprache in der frühen Philosophie
25.3 Die linguistische Wende
25.4 Sprache und Sprachraum
25.5 Sprache und Zeit
§ 26 Die Sprachlosigkeit des natürlichen Lebens
26.1 Das natürliche Leben
26.2 Kritik an Merleau-Ponty
3.3.2 Die vorstellende Sprache
§ 27 Die Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand
27.1 Sprache und Vorstellung
27.2 Zum Begriff der Vorstellung
27.3 Die Zweideutigkeit der Vorstellung
27.4 Vorstellung und Philosophie
27.5 Die Vorstellung als Krise
27.6 Der platonische Idealismus
27.7 Der Nominalismus
27.8 Der phänomenologische Idealismus
27.9 Das Seinsdenken
§ 28 Der andere als Grund der Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand
28.1 Resümee
28.2 Die Offenbarung des anderen
28.3 Der Sinn der Phänomenalisierung derWelt
28.4 Nacktheit und Relativität der Bedeutung
28.5 Der andere als der Seiende
28.6 Das Zeichen als Gabe
3.3.3 Die Sprache vor der Sprache
§ 29 Das Antlitz
29.1 Bedeutung und Horizont
29.2 Das Wort vor der Sprache
29.3 Die Nacktheit des Antlitzes
29.4 Die Bedeutung des Antlitzes
29.5 Die Absolutheit des Antlitzes
§ 30 Das denkende Subjekt
30.1 Denken und Vorstellen
30.2 Die Frage nach dem Sein des Subjekts
30.3 Die Passivität des Denkens
30.4 Die Leiblichkeit des Denkens
30.5 Die Asymmetrie des Denkens
30.6 Vergleich mit Heidegger und Merleau-Ponty
30.7 Offene Fragen
3.4 Die Politik
§31 Problemstellung
§32 Die Endlichkeit des Subjekts
32.1 Die Gewalt
32.2 Der Umschlag der ethischen Asymmetrie in soziale Symmetrie
32.3 Die Leiblichkeit des Subjekts
32.4 Die Zeit des Subjekts
§33 Der Tod des Subjekts
33.1 Der Leib als primäre Entfremdung
33.2 Die anonyme Verantwortung
33.3 Verführung und Gewalt
33.4 Der Tod
33.5 Das Schweigen der Welt
33.6 Das System der Vernunft
§34 Die Rechtfertigung des Subjekts
34.1 Die Frage nach dem Ich
34.2 Die Zurückweisung der Sorge um das Ich
34.3 Das Ich als Sein für den anderen
3.5 Die Liebe
§35 Die erneuerte Zeit
35.1 Die Endlichkeit des Subjekts als Problem
35.2 Liebe und Profanation
35.3 Die Transsubstantiation
35.4 Der Tod als Erneuerung
Anmerkung zum Begriff des Todes und der Zeit
IV. Die meta-ontologische Transzendenz
§36 Charakteristik des neuen Ansatzes
36.1 Das Absolute als Entzug
36.2 Die Zeit
36.3 Das Subjekt
36.4 Die Politik
36.5 Gliederung
4.1 Bewußtsein und Ontologie
§ 37 Die Zeit des Bewußtseins
37.1 Die Frage nach der Zeit
37.2 Das innere Zeitbewußtsein
37.3 Zweifache Gegenwart
37.4 Die Identität des Bewußtseins
§ 38 Das Apriori des Bewußtseins
38.1 Das Kerygma
38.2 Die Idealität
38.3 Die bleibende Gegenwart
§ 39 Sein und Bewußtsein
39.1 Die Amphibologie von Sein und Seiendem
39.2 Bewußtsein als Seinsprozeß
§ 40 Sein und Logos
40.1 Das Sein als Logos
40.2 Die Sprache des Seins
40.3 Die Kunst
§ 41 Kritik der Ontologie
41.1 Die Rolle des Subjekts
41.2 Platon
41.3 Heidegger
41.4 Die Ironie des Seins
41.5 Subjektivismus
4.2 Subjektivität und Ethik
§ 42 Ontologie und Transzendenz
§ 43 Die Zeit des Subjekts
43.1 Die Sinnlichkeit des Subjekts
43.2 Die Zweideutigkeit der Empfindung
43.3 Die Zweideutigkeit der Urimpression
43.4 Die zwei Richtungen der Empfindung
43.5 Die Diachronie des Subjekts
§ 44 Die Nähe
44.1 Genuß und Schmerz
44.2 Die Poesie der Dinge
§ 45 Das Sagen des Subjekts
45.1 Das Sagen als Nähe
45.2 Das Sagen als Verantwortung
45.3 Das Sagen als Gabe
45.4 Die Passivität des Sagens
45.5 Die Struktur des Sagens
45.6 Die Einzigkeit des Subjekt
4.3 Das absolute Unendliche
§46 Gott
46.1 Vorbemerkung
46.2 Das Göttliche und der andere
46.3 Gott als Zeitentzug
46.4 Zeit des Genusses – Zeit des Schmerzes
46.5 Der Name Gottes
46.6 Gott als Grund der interpersonalen Ordnung
4.4 Die Politik
§47 Gerechtigkeit
47.1 Ontologie als ancilla ethicae
47.2 Der Dritte
47.3 Das Bewußtsein
47.4 Die Gerechtigkeit
47.5 Der liberale Staat
47.6 Zur Methode
Schluß
Verzeichnis der Sigel
Register
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Es ist nicht alles unerbittlich: Grundzüge der Philosophie Emmanuel Lévinas'
 9783495997062, 9783495481882, 3495481885

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Wolfgang Nikolaus Krewani

Es ist nicht alles unerbittlich Grundzüge der Philosophie Emmanuel Lévinas’

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997062

.

B

Wolfgang Nikolaus Krewani Es ist nicht alles unerbittlich

ALBER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495997062 .

Der Autor über sein Buch: Emmanuel Lévinas ist neben Derrida, Deleuze u. a. einer der Hauptvertreter der aktuellen französischen Philosophie. Im Zentrum seiner Reflexion steht die Frage nach dem Ursprung und dem Sinn des europäischen Denkens, nachdem das alte Europa in der Katastrophe des 20. Jahrhunderts untergegangen ist. Gemäß ihrem eigenen historischen Selbstverständnis fragt die Philosophie nach dem Sein. Das Sein kann nur fraglich werden, weil es sich entzogen hat. Den Grund für diesen Entzug sieht Lévinas im Anderen, der das naive Selbstverständnis und den naiven Besitz der Welt in Frage stellt. Für ihn sind wir verantwortlich; an ihm müssen sich unsere Seinsentwürfe, die Ontologie, ausrichten. Damit geht die Ethik der Ontologie voraus. Das Verhältnis zum Anderen wird nicht dem Sein untergeordnet; vielmehr hat das Seinsverständnis seinen kritischen Maßstab an der unaufhebbaren Verantwortung für den Anderen. Mit dieser neuen Interpretation des Seinsentzugs als Ursprung der Philosophie stellt sich Lévinas gegen das traditionelle Verständnis. Dieses sah in der Ontologie die erste Wissenschaft, ihm ging es darum, das Sein wiederzugewinnen. Philosophie ist Heimweh, Rückkehr aus der Zerrissenheit in die Einheit des Seins. Daher die Bereitschaft, den Anderen, den Einzelnen, dem zu opfern, was man für das Sein hielt. Mit seiner Umdeutung der Ontologie und ihrer ethischen Begründung übt Lévinas nicht nur Kritik am bisherigen europäischen Denken, sondern schafft ihm auch ein neues, eigentlicheres Selbstverständnis. Es wird nicht alles verworfen: »Trotz allem, was uns in diesem Jahrhundert begegnet ist«, gab und gibt es »europäische Großmut«, eine Tradition, die nicht nur immer schon Mut forderte, sondern auch für die Zukunft Mut macht. Das Buch knüpft an die Untersuchung »Lévinas. Denker des Anderen« aus dem Jahre 1992 an. Zunächst war nur eine Überarbeitung vorgesehen. Aus der Überarbeitung ist ein neues Buch geworden, wenn auch die Spuren des alten nicht restlos getilgt sind. Wolfgang Krewani, Dr. phil., Akademischer Oberrat a. D. für Philosophie der Universität Essen-Duisburg, Arbeitsgebiete: Phänomenologie; Sozialphilosophie; französische Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495997062 .

Wolfgang Nikolaus Krewani

Es ist nicht alles unerbittlich Grundzüge der Philosophie Emmanuel Lévinas’

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997062 .

2., verbesserte Auflage 2006 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2006 www.verlag-alber.de Einbandgestaltung und Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2006 ISBN-13: 978-3-495-48188-2 ISBN-10: 3-495-48188-5

https://doi.org/10.5771/9783495997062 .

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

§ 1 Die Seinsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Rosenzweig und die Philosophie der Existenz . . . 2.1 Der Zusammenbruch des Idealismus und das »neue Denken« . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Rosenzweig und Heidegger . . . . . . . . . 2.3 Die Existenz als Problem . . . . . . . . . . . § 3 Lévinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die jüdische Tradition . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . 3.4 Philosophie nach der Shoah . . . . . . . . . § 4 Die Absicht der Darstellung . . . . . . . . . . . .

I.

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21 24 26 29 29 30 35 37 43

Die Dialektik der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 5 Die Idee der Freiheit und das Denken . . . . . 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Gefangenschaft im Mythos . . . . . 5.3 Die Idee der Freiheit . . . . . . . . . . . 5.4 Die Rolle des Denkens . . . . . . . . . . § 6 Die Kritik am Denken: Der Nationalsozialismus 6.1 Die Krise Europas als Krise des Denkens . 6.2 Die Gefangenschaft in der Vorstellung . . 6.3 Die Bodenlosigkeit der Vorstellung . . . 6.4 Die Gesinnungslosigkeit der Vorstellung 6.5 Das ›germanische Ideal‹ . . . . . . . . . § 7 Die Kritik am Denken: Die Anthropologie . . . 7.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . .

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Es ist nicht alles unerbittlich https://doi.org/10.5771/9783495997062 .

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Inhaltsverzeichnis

7.2 Kritik der Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Die Auflösung des Subjekts . . . . . . . . . . . . 7.5 Anthropologie und Humanwissenschaften . . . . . § 8 Die Kritik am Denken: Die Phänomenologie . . . . . . . 8.1 Ausgang von der Vorstellung . . . . . . . . . . . 8.2 Vorstellung und Vergegenständlichung . . . . . . 8.3 Die Zeit als Sein des Subjekts . . . . . . . . . . . 8.4 Die Verheimlichung der Zeit im Objektivismus . . 8.5 Zwei Beziehungen: zum Sein (Existenz) und zum Objekt (Intentionalität) . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Die Analyse des Bedürfnisses . . . . . . . . . . . 8.7 Der Zusammenfall von Intentionalität und Existenz 8.8 Die Transitivität der Existenz . . . . . . . . . . . 8.9 Die Affektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9 Die Dialektik der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Die Zeit der Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Die Zeit der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Das Paradox der Gegenwart . . . . . . . . . . . . § 10 Eine andere Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Zeit des anderen . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58 59 60 62 63 63 64 65 67

Die erotische Transzendenz . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 11 Ontologische Differenz und Transzendenz . . . . . 11.1 Die ontologische Differenz . . . . . . . . . . a. Die ontologische Differenz . . . . . . . . b. Das Sein ohne Seiendes . . . . . . . . . . c. Das Seiende . . . . . . . . . . . . . . . . d. Die Einsamkeit des Seienden . . . . . . . e. Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Die Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . a. Das Problem der Transzendenz . . . . . . b. Der traditionelle Begriff der Transzendenz c. Die Polarität der Transzendenz . . . . . . d. Transzendenz und Ekstase . . . . . . . .

92 92 92 93 94 94 96 97 97 97 97 98

II.

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ALBER PHILOSOPHIE

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69 70 73 76 78 79 79 81 84 86 86 89

Wolfgang Nikolaus Krewani https://doi.org/10.5771/9783495997062 .

Inhaltsverzeichnis

e. Transzendenz und Theorie . . . . . . . . f. Die Ambivalenz der Begriffe . . . . . . . g. Der jüdische Begriff der Transzendenz oder Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit . . . . § 12 Transzendenz und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Zur Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 100 . . . 100 . . . .

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101 104 104 106

2.2 Vom Sein zum Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 § 13 Das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Das Sein ohne Seiendes . . . . . . . . . . . . . . a. Das traditionelle Seinsverständnis . . . . . . . b. Sein als Instanz der Entfremdung . . . . . . . . c. Die moderne Wiederkehr des Seins . . . . . . . d. Die Einklammerung der Welt . . . . . . . . . . 13.2 Die Anknüpfung des Seinsbegriffs an traditionelle Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zimzum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: »Jude sein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Die Erfahrbarkeit des Seins ohne Seiendes . . . . . a. Das Sein: kein Gegenstand der »Erfahrung« . . b. Seinserfahrung und Affektivität . . . . . . . . c. Ekel, Scham, Entsetzen, Langeweile . . . . . . 13.4 Der systematische Ort eines Seins ohne Seiendes . a. Das Sein als frühe Entwicklungsstufe . . . . . . b. Das Sein als bleibende Versuchung . . . . . . . c. Das Sein als Gegenstand einer Wahl . . . . . . d. Das Sein als Alternative zum Idealismus . . . . e. Die Wiederkehr des Seins als soziales Phänomen f. Zur Topographie des Seins . . . . . . . . . . . g. Die Stellung Europas . . . . . . . . . . . . . . § 14 Das Seiende oder die Hypostase . . . . . . . . . . . . . 14.1 Das Seiende als Hypostase . . . . . . . . . . . . . 14.2 Hypostase und Bewußtsein . . . . . . . . . . . . 14.3 Hypostase und Dasein . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Hypostase geht der Welt voraus . . . . . . b. Die Hypostase ist keine Ekstase . . . . . . . . .

108 108 108 109 111 112 113 113 114 115 117 123 123 124 124 125 125 126 127 128 129 130 132 132 132 135 135 135 137 A

Es ist nicht alles unerbittlich https://doi.org/10.5771/9783495997062 .

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Inhaltsverzeichnis

14.4 Hypostase und Leben . . . . . . . . . § 15 Hypostase und Zeit . . . . . . . . . . . . . . 15.1 Hypostase und Substanz . . . . . . . . 15.2 Hypostase und Augenblick . . . . . . . a. Hypostase – Augenblick – Zeit . . . b. Die Dialektik des Augenblicks . . . 15.3 Das Sich als Materie und Leib . . . . . a. Das Sich als Leib . . . . . . . . . . b. Der Leib als Möglichkeit der Freiheit 15.4 Der versteinerte Augenblick . . . . . . § 16 Die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Hypostase und Bewußtsein . . . . . . 16.2 Intentionalität, Sinn, Form . . . . . . . a. Intentionalität . . . . . . . . . . . . b. Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Form . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Die Suffizienz der Welt . . . . . . . . 16.4 Die Seinsvergessenheit . . . . . . . . . § 17 Das Ende der Welt . . . . . . . . . . . . . . 17.1 Weltuntergang . . . . . . . . . . . . . 17.2 Die Welt als Bild . . . . . . . . . . . . 17.3 Bild und Widerschein . . . . . . . . . 17.4 Zeit, Melancholie, Materie . . . . . . . 17.5 Die Auflösung des Subjekts . . . . . . 17.6 Musikalität . . . . . . . . . . . . . . . § 18 Kunst und Moderne . . . . . . . . . . . . . 18.1 Der Bruch der Formen . . . . . . . . . 18.2 Die Moderne . . . . . . . . . . . . . . 18.3 Moderne und Ästhetizismus . . . . . . 18.4 Die Zweideutigkeit der Moderne . . . .

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2.3 Vom Seienden zum anderen: der Eros . . . . . . . . . . 178 § 19 Zweifache Transzendenz . . . . . . § 20 Der Tod und das Weibliche . . . . . 20.1 Die Endlichkeit und das andere 20.2 Tod und Passivität . . . . . . 20.3 Tod und Hypostase . . . . . . 20.4 Tod und Zukunft . . . . . . .

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ALBER PHILOSOPHIE

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20.5 Das Weibliche . . . . . . . . . . . . 20.6 Der Eros . . . . . . . . . . . . . . . § 21 Die Fruchtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . 21.1 Das Weibliche als Bedingung der Zeit 21.2 Vater und Sohn . . . . . . . . . . . . 21.3 Das plurale Existieren . . . . . . . .

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184 185 187 187 188 189

III. Die ethische Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . 191 3.1 Die Revision des erotischen Ansatzes . . . . . . . . . . 192 § 22 Verantwortung für den anderen . . . . 22.1 Existenz und ihre Rechtfertigung 22.2 Zum Begriff der Verantwortung . 22.3 Gliederung . . . . . . . . . . . .

3.2 Das Leben

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192 192 193 197

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§ 23 Das Ich des Genusses . . . . . . . . . . . . . . 23.1 Das Lebendige . . . . . . . . . . . . . . 23.2 Die transitive Intentionalität des Genusses 23.3 Der Genuß als Universalform . . . . . . § 24 Arbeit und Besitz; das Weibliche . . . . . . . . 24.1 Die Endlichkeit des Lebendigen . . . . . 24.2 Das Heidentum . . . . . . . . . . . . . . 24.3 Die Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . 24.4 Die Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 24.5 Das Weibliche . . . . . . . . . . . . . . 24.6 Schöpfung als contractio Dei . . . . . . .

3.3

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201 201 202 204 205 205 205 206 207 208 208

Die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

3.3.1 Die Sprache überhaupt . . . . . . . . . . . § 25 Der Begriff der Sprache . . . . . . . . . . . 25.1 Ethik und Sprache . . . . . . . . . . 25.2 Die Sprache in der frühen Philosophie 25.3 Die linguistische Wende . . . . . . . 25.4 Sprache und Sprachraum . . . . . . . 25.5 Sprache und Zeit . . . . . . . . . . .

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211 211 211 212 213 214 215

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§ 26 Die Sprachlosigkeit des natürlichen Lebens . . . . . . . 216 26.1 Das natürliche Leben . . . . . . . . . . . . . . . 216 26.2 Kritik an Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . 219

10

3.3.2 Die vorstellende Sprache . . . . . . . . . . . . . . . § 27 Die Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand 27.1 Sprache und Vorstellung . . . . . . . . . . . . 27.2 Zum Begriff der Vorstellung . . . . . . . . . . 27.3 Die Zweideutigkeit der Vorstellung . . . . . . . 27.4 Vorstellung und Philosophie . . . . . . . . . . 27.5 Die Vorstellung als Krise . . . . . . . . . . . . 27.6 Der platonische Idealismus . . . . . . . . . . . 27.7 Der Nominalismus . . . . . . . . . . . . . . . 27.8 Der phänomenologische Idealismus . . . . . . 27.9 Das Seinsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . § 28 Der andere als Grund der Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand . . . . . . . . . . . . . 28.1 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28.2 Die Offenbarung des anderen . . . . . . . . . . 28.3 Der Sinn der Phänomenalisierung der Welt . . 28.4 Nacktheit und Relativität der Bedeutung . . . . 28.5 Der andere als der Seiende . . . . . . . . . . . 28.6 Das Zeichen als Gabe . . . . . . . . . . . . . .

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221 221 221 221 222 223 225 226 227 228 230

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231 231 232 233 234 235 236

3.3.3 Die Sprache vor der Sprache . . . . . . . . . . . § 29 Das Antlitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1 Bedeutung und Horizont . . . . . . . . . . 29.2 Das Wort vor der Sprache . . . . . . . . . . 29.3 Die Nacktheit des Antlitzes . . . . . . . . . 29.4 Die Bedeutung des Antlitzes . . . . . . . . 29.5 Die Absolutheit des Antlitzes . . . . . . . . § 30 Das denkende Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . 30.1 Denken und Vorstellen . . . . . . . . . . . 30.2 Die Frage nach dem Sein des Subjekts . . . 30.3 Die Passivität des Denkens . . . . . . . . . 30.4 Die Leiblichkeit des Denkens . . . . . . . . 30.5 Die Asymmetrie des Denkens . . . . . . . 30.6 Vergleich mit Heidegger und Merleau-Ponty 30.7 Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . .

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237 237 237 239 243 244 245 246 246 248 250 252 253 254 256

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3.4

Die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

§ 31 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 32 Die Endlichkeit des Subjekts . . . . . . . . . . . 32.1 Die Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 32.2 Der Umschlag der ethischen Asymmetrie in soziale Symmetrie . . . . . . . . . . . . . 32.3 Die Leiblichkeit des Subjekts . . . . . . . . 32.4 Die Zeit des Subjekts . . . . . . . . . . . . § 33 Der Tod des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . 33.1 Der Leib als primäre Entfremdung . . . . . 33.2 Die anonyme Verantwortung . . . . . . . . 33.3 Verführung und Gewalt . . . . . . . . . . 33.4 Der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33.5 Das Schweigen der Welt . . . . . . . . . . 33.6 Das System der Vernunft . . . . . . . . . . § 34 Die Rechtfertigung des Subjekts . . . . . . . . . 34.1 Die Frage nach dem Ich . . . . . . . . . . . 34.2 Die Zurückweisung der Sorge um das Ich . 34.3 Das Ich als Sein für den anderen . . . . . .

3.5

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262 264 265 267 267 267 268 269 270 271 273 273 273 274

Die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

§ 35 Die erneuerte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 35.1 Die Endlichkeit des Subjekts als Problem 35.2 Liebe und Profanation . . . . . . . . . 35.3 Die Transsubstantiation . . . . . . . . . 35.4 Der Tod als Erneuerung . . . . . . . . . Anmerkung zum Begriff des Todes und der Zeit . .

IV.

. . . 258 . . . 260 . . . 260

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276 276 277 277 279 280

. . . . . . . 283

Die meta-ontologische Transzendenz

§ 36 Charakteristik des neuen Ansatzes 36.1 Das Absolute als Entzug . . 36.2 Die Zeit . . . . . . . . . . . 36.3 Das Subjekt . . . . . . . . . 36.4 Die Politik . . . . . . . . . . 36.5 Gliederung . . . . . . . . .

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4.1

Bewußtsein und Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . 290

§ 37 Die Zeit des Bewußtseins . . . . . . . . . . . . 37.1 Die Frage nach der Zeit . . . . . . . . . . 37.2 Das innere Zeitbewußtsein . . . . . . . . 37.3 Zweifache Gegenwart . . . . . . . . . . . 37.4 Die Identität des Bewußtseins . . . . . . § 38 Das Apriori des Bewußtseins . . . . . . . . . . 38.1 Das Kerygma . . . . . . . . . . . . . . . 38.2 Die Idealität . . . . . . . . . . . . . . . . 38.3 Die bleibende Gegenwart . . . . . . . . . § 39 Sein und Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . 39.1 Die Amphibologie von Sein und Seiendem 39.2 Bewußtsein als Seinsprozeß . . . . . . . § 40 Sein und Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . 40.1 Das Sein als Logos . . . . . . . . . . . . 40.2 Die Sprache des Seins . . . . . . . . . . . 40.3 Die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . § 41 Kritik der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . 41.1 Die Rolle des Subjekts . . . . . . . . . . 41.2 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.3 Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.4 Die Ironie des Seins . . . . . . . . . . . . 41.5 Subjektivismus . . . . . . . . . . . . . .

4.2

Subjektivität und Ethik

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290 290 291 292 293 293 293 294 296 297 297 299 300 300 301 303 304 304 305 306 307 308

. . . . . . . . . . . . . . . . . 311

§ 42 Ontologie und Transzendenz . . . . . . . . § 43 Die Zeit des Subjekts . . . . . . . . . . . . 43.1 Die Sinnlichkeit des Subjekts . . . . . 43.2 Die Zweideutigkeit der Empfindung . 43.3 Die Zweideutigkeit der Urimpression . 43.4 Die zwei Richtungen der Empfindung 43.5 Die Diachronie des Subjekts . . . . . § 44 Die Nähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.1 Genuß und Schmerz . . . . . . . . . 44.2 Die Poesie der Dinge . . . . . . . . . § 45 Das Sagen des Subjekts . . . . . . . . . . . 45.1 Das Sagen als Nähe . . . . . . . . . . 45.2 Das Sagen als Verantwortung . . . . . 12

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45.3 45.4 45.5 45.6

4.3

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Das absolute Unendliche . . . . . . . . . . . . . . . . 330

§ 46 Gott 46.1 46.2 46.3 46.4 46.5 46.6

4.4

Das Sagen als Gabe . . . . Die Passivität des Sagens . Die Struktur des Sagens . Die Einzigkeit des Subjekts

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Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . Das Göttliche und der andere . . . . . . . . Gott als Zeitentzug . . . . . . . . . . . . . Zeit des Genusses – Zeit des Schmerzes . . Der Name Gottes . . . . . . . . . . . . . . Gott als Grund der interpersonalen Ordnung

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330 330 330 331 333 333 336

Die Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

§ 47 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . 47.1 Ontologie als ancilla ethicae 47.2 Der Dritte . . . . . . . . . 47.3 Das Bewußtsein . . . . . . 47.4 Die Gerechtigkeit . . . . . 47.5 Der liberale Staat . . . . . 47.6 Zur Methode . . . . . . .

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338 338 338 339 341 342 343

Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Verzeichnis der Sigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

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Vorwort

Philosophie ist nicht nur eine Theorie, sondern vor allem anderen der vitale Akt eines Menschen, der sein eigenes Leben verstehen möchte. In einer Philosophie finden wir daher zuerst einen Menschen wieder. Das gilt in ganz besonderem Maße von einer so persönlich gefärbten Philosophie wie der des 1995 verstorbenen Philosophen Emmanuel Lévinas. Seine Gedanken kreisen je länger umso intensiver um die Katastrophe des 20. Jahrhunderts, deren Zeuge und auch Opfer er war. Aber nicht das persönliche Schicksal interessiert ihn, sondern die Frage, wie dergleichen möglich war. Es geht um das Schicksal Europas, seine Vergangenheit und seine künftigen Möglichkeiten. Die Geschichte Europas wird maßgeblich geprägt durch die Philosophie, deren Entstehung der Ursprungsakt Europas ist. Hier kommt die Vernunft nicht nur zu sich selbst in Gestalt der Wissenschaft, sondern erobert und durchdringt alle Lebensbereiche. Aber was ist das für eine Vernunft, wenn sie so mörderische Resultate hervorbringt? Seit dem 20. Jahrhundert hat die europäische Vernunft keinen Anlaß mehr, über andere zu richten. Vielmehr steht sie selbst vor Gericht und wir, als ihre Agenten, mit ihr. Die Frage, die zur Verhandlung steht, lautet: Ist die philosophische Vernunft, ja vielleicht die Philosophie überhaupt, in Wahrheit ein Organ der Gewalt, inspiriert vom Willen zur Gewalt? Lévinas gibt uns auf diese Frage eine differenzierte Antwort. Das europäische Denken findet sich in einem fundamentalen Widerspruch: Es setzt gleichzeitig auf das Gute und auf das Wahre. Das Gute fordert die Beziehung zum anderen und die Rücksicht auf ihn. Die Wahrheit dagegen fordert die Unterordnung des anderen unter ein abstraktes Gesetz. Das europäische Denken hat sich in der Regel für die Unterordnung der Individuen unter das allgemeine Gesetz entschieden. Aber, so Lévinas, woher schöpft das Allgemeine, die Wahrheit, seine Legitimation? War es nicht schon immer so, daß die Unbedingtheit der Wahrheit nur behauptet wurde, ohne wirkliche BeA

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Vorwort

gründung? War die Unterordnung unter die Wahrheit nicht schon immer eine Forderung nackter Gewalt, auch wenn sie mit dem Schein des Unbedingten einherging? Wenn das so ist, dann bringt das 20. Jahrhundert nichts im Grundsatz Neues, außer, daß es die Wahrheit über die »Wahrheit« ans Licht bringt: ihre Willkür und Grundlosigkeit. Dem setzt Lévinas ein anderes Verhältnis von gut und wahr entgegen. An der Stelle der Alternative: entweder gut oder wahr hält er an beidem fest: gut und wahr. Aber das Wahre, Objektive und Allgemeine gründet nicht mehr in sich selbst, sondern hat Richtschnur und Maßstab am Guten. Das meint die programmatische Rede von der Ethik, die der Ontologie vorausgeht. Freilich kann sich die Ontologie von ihrem ethischen Fundament losreißen und sich absolut setzen. Sie wird dann zur Willkür. Aber sie kann die Rede des anderen nicht endgültig zum Schweigen bringen.«Die Gewalt ist nicht das Ende der Rede; es ist nicht alles unerbittlich.« 1 Es ist nicht alles unerbittlich! Wenn Philosophie mehr ist als eine bloße Theorie, wenn wir in ihr den Menschen in seiner Not und seinen Hoffnungen wiederfinden, dann klingt auch dieser Satz auf verschiedene Weise: als philosophische Aussage, als Geste der Versöhnung an unsere Adresse als Europäer und Deutsche und nicht zuletzt als Beschwörung der Zukunft.

TI 216/TU 351; für die Abkürzungen vgl. das Sigelverzeichnis im Anhang. Die Übersetzung der Zitate kann gelegentlich von der veröffentlichten deutschen Version abweichen. Im übrigen sind, soweit deutsche Übersetzungen vorliegen, die entsprechenden Referenzen angegeben.

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Einleitung

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Einleitung

§ 1 Die Seinsfrage Im Zentrum von Lévinas’ Philosophie stehen der andere und die Transzendenz zu ihm. Daher gilt seine Kritik allen Theorien, die den anderen dadurch ausschließen, daß sie das Ganze des Seienden zu einer Einheit oder Totalität zusammenfassen. Für Lévinas kommt alles darauf an, die Totalität, diesen Raum des Selben, die Verschlossenheit und Gefangenschaft in ihm, zugunsten des Anderen aufzubrechen. »Totalität und Unendlichkeit«, »Jenseits des Seins«, »Anders als zu sein«, das sind Titel, die auf eine Dualität hinweisen, im Gegensatz zur traditionellen Philosophie. Diese steht seit Parmenides unter dem Bann der Einheit. Sie fragt nach dem Sein als der umfassenden Instanz, in der alles geborgen ist. Die Philosophie ist die Seinsfrage. Was haben wir unter der Seinsfrage zu verstehen? Fragen fallen nicht unversehens vom Himmel. Wie Heidegger gezeigt hat 1 , sind uns die Dinge zunächst in einer selbstverständlichen und fraglosen Dienstbarkeit zur Hand, »zuhanden«. Nichts ist schwieriger, als die Selbstverständlichkeiten des Alltags aufzubrechen. Fragen entstehen erst, wenn der Funktionszusammenhang an einer Stelle zusammenbricht, wenn sich die Dinge dem gewohnten Dienst versagen und sich unseren Erwartungen und Auffassungen entziehen. Das Fragen beruht auf dem Entzug der Dinge und drückt die Ratlosigkeit aus, in die uns der Entzug stürzt. Nun ist nicht jedes Fragen gleich Philosophie. Auch der Alltag ist durchsetzt von Fragen und Ungewißheiten. Das hindert nicht, daß die Welt insgesamt fraglos bleibt. Dem einzelnen mag das eine oder andere fraglich erscheinen; aber wenn er nicht weiß, dann weiß er doch, daß ein anderer sich darin auskennt; und diese Gewißheit, die alle Menschen und alle Dinge einbezieht, berechtigt zu der Überzeugung, daß die Welt an sich ohne Rätsel ist. Im Alltag stellt sich nicht die Frage nach dem Sein im ganzen. Sie ist ihm unverständlich. Die Frage nach dem Sein im ganzen kann erst entstehen, wenn sich das Sein im ganzen entzogen hat, wenn die Welt insgesamt fraglich geworden ist. Die in der alten mythischen Welt lebenden Zeitgenossen des Sokrates wissen. Aber Sokrates weiß, daß er nichts weiß. Er hat die Gewißheiten verloren. Die Seinsfrage, d. h. die Philosophie, tritt von Anfang an auf als Frage nach dem Seienden im Ganzen, Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, §§ 15–18; für die näheren Angaben zu den zitierten Büchern vgl. das Literaturverzeichnis.

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§ 1 Die Seinsfrage

nach der »Alleinheit alles Seienden« 2 , wie Husserl sagt. Das heißt: Voraussetzung für die Seinsfrage ist der Zusammenbruch der bisherigen Welt, eine Krise, die das Leben insgesamt ergreift. So haben auch Platon 3 und Aristoteles 4 den Anfang der Philosophie beschrieben. Als der junge Theaitetos im Kreuzfeuer der Argumente nicht mehr aus noch ein weiß, sagt er: »Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere [jaum€zw] mich ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hinsehe, schwindelt mir ordentlich [skotodini].« 5 Auf die Rede des Theaitetos antwortet Sokrates: »Gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja, es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.« 6 Und bei Husserl, gewiß ein trockener Sachmensch, der nicht zur Übertreibung neigte, lesen wir: »Man muß erst die Welt … verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen.« 7 Die Philosophie beginnt also mit dem Weltentzug. Nun muß eine Philosophie, die sich über ihre eigenen Motive verständigen will, sich darüber klar werden, worin dieser Weltentzug besteht, was ihn auslöst. Die Philosophie kann nicht bei der Seinsfrage stehen bleiben, sondern muß der Frage selbst auf den Grund gehen. Dabei stößt sie auf den anderen. Was die Welt erschüttert und ihr die Wahrheit zu rauben droht, ist die Erfahrung des anderen. Wir müssen uns gegenwärtig halten, daß in der naiven Lebenswelt unsere Vorstellung von der Welt selbstverständlich mit der Welt an sich zusammenfällt. Die vorgestellte Welt ist die wirkliche Welt. Dieses Bewußtsein wird erschüttert, wenn wir erfahren, daß andere Kulturen, andere Gruppen, andere Menschen, andere Vorstellungen von der Welt und den Dingen haben als wir sie gewöhnt sind. Dann dämmert uns, daß die von uns vorgestellte Welt nicht unbedingt identisch ist mit der Welt selbst, daß wir unsere Vorstellung von der WirklichE. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie, Hrsg. Walter Biemel, Den Haag 1954, Husserliana Bd VI, 321. Im Folgenden wird Husserl zitiert unter dem Sigel Hua und der jeweiligen Bandzahl. 3 Platon, Theaitetos, 155 d. 4 Aristoteles, Metaphysik, Buch I, 982 b 12. 5 Der Ausdruck skotodini setzt sich zusammen aus den beiden Wörtern skto@ und dinffw. skto@ ist die Finsternis, Ohnmacht, das Todesdunkel, und dinffw heißt »im Kreis herumwirbeln«. Hegel hat sicher an diesen Ausdruck gedacht, als er sagte, die Philosophie beginne damit, daß einem »Hören und Sehen« vergangen sei. 6 Platon, Theaitetos, 155 d. 7 Hua I, 183. 2

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Einleitung

keit unterscheiden müssen. Der Wirklichkeitsgehalt unserer Vorstellung muß zunächst in der Schwebe bleiben, die »Generalthesis der natürlichen Einstellung« wird eingeklammert. Das Sein im Ganzen kann nur fraglich werden, weil eine andere Welt aufgetaucht ist, die, wie bisher nur die eigene, von sich behauptet, die wahre und wirkliche zu sein. Wenn der naive Mensch zunächst seine Welt für die Welt schlechthin hält, so wie er seine Sprache für die Sprache schlechthin hält, also einen Unterschied zwischen seiner subjektiven Weltvorstellung und der Welt an sich, zwischen seiner Sprache und dem objektiven Sinn der Dinge nicht macht, so erfährt er in der Begegnung mit anderen Welten die Relativität seiner Welt. Die Ankunft des anderen bewirkt, daß das, was zunächst die Welt selbst war, nun »zu einer Erscheinung von einer bestimmten objektiven Welt« 8 wird. Es entsteht der Unterschied zwischen Schein und Sein, bloßer Vorstellung und Wirklichkeit, doxa und episteme. Der griechische Vorsokratiker Xenophanes hat der Einsicht in die Scheinhaftigkeit der subjektiven Welten drastischen Ausdruck verliehen: Wider die Einsicht, daß »ein einziger Gott [ist] … weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken« 9 , behaupten »die Äthiopier, ihre Götter seien schwarz und stumpfnasig, die Thraker blauäuig und rothaarig.« 10 Der Mensch wird gewahr, daß er sich bisher bloß eine Vorstellung von der Welt gemacht hat, die nicht von allen Menschen geteilt wird. Den Menschen wird bewußt, daß es – zumindest subjektiv – nicht nur eine einzige Welt gibt, sondern viele Welten. Ein solches Bewußtsein der Pluralität der Welten hat auch Heidegger den Griechen zugeschrieben.« ›kosmos houtos‹«, so sagt er, »bezeichnet … nicht diesen Bezirk von Seiendem in Abgrenzung gegen einen anderen, sondern diese ›Welt‹ des Seienden im Unterschied von einer anderen ›Welt‹ desselben Seienden.« 11 Zugleich verweist die Pluralität auf ein zugrundeliegendes Seiendes, das für alle »dasselbe Seiende« ist. In diesen Unterscheidungen ist die Vielfalt der Vorstellungen und die Einheit des Seins vorgezeichnet. Vorstellung und Wirklichkeit, Begriff und Gegenstand treten auseinander. Dieses Geschehen beobachten wir in der Antike, am Übergang zur Neuzeit und wiederum am Beginn der Moderne. Und jedesmal löst dieses Geschehen eine geistige und weltanschauliche Krise aus. Hua I, 137. H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd I, 62, fr. 23. 10 L. c., 61, fr. 16. 11 M. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, 241 (Gesamtausgabe 27). 8 9

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§ 2 Rosenzweig und die Philosophie der Existenz

Was bedeutet angesichts dieser Voraussetzungen die Frage nach dem Sein? Sie kann sich in drei Richtungen entfalten. Zunächst wird die Philosophie nach dem einen Sein fragen, das allen Vorstellungen und subjektiven Meinungen als das Eine und Wirkliche zugrundeliegt. So fragen auch heute noch die Wissenschaften, wenn sie die subjektiven Vorstellungen für irrelevant erklären und an ihre Stelle die objektive Erkenntnis setzen wollen. Aber damit ist der Bereich der Fraglichkeit nicht erschöpft; denn noch ist ungeklärt, worin das Sein des Fragens besteht. Philosophie beginnt ja mit dem Nichtwissen. Das Nichtwissen ist ein Mangel. Worin aber besteht das Sein eines Mangels, also eines Nichtseienden? Nur wenn auch das Nichtseiende ist, ist Philosophie. Aber was ist das Sein des Nichtseienden, was das Sein der Philosophie oder, umfassender, das Sein des bloß Subjektiven? Von hier aus schließlich drittens die allgemeine Frage: Was verstehen wir überhaupt unter Sein, wenn einerseits die seienden Dinge sind, anderseits aber auch dem nichtseienden Nichtwissen Sein zugeschrieben wird? In diesen drei Fragerichtungen zeichnen sich auch schon die Antworten ab, die die Hauptströmungen der Philosophiegeschichte kennzeichnen: Zunächst Idealismus wie Realismus, die beide versuchen, je aus ihrer einseitigen Perspektive, die Kluft zwischen dem Subjekt und dem Objekt zu überbrücken und die verlorene Einheit wiederherzustellen. Eine dritte Variante, die Einheit zu retten, besteht in dem Gedanken eines Seins jenseits von Subjekt und Objekt, das die Differenz erst aus sich entläßt. So verschieden die Ansätze auch sind, immer geht es darum, die verlorene Einheit wieder zu gewinnen, den Riß, der durch die Welt geht, zu heilen.

§ 2 Rosenzweig und die Philosophie der Existenz 2.1 Es ist vor allem dieses allein auf Einheit gerichtete Denken, gegen das Lévinas polemisch angeht; denn aus seiner Sicht vernichtet es die Jenseitigkeit und die Transzendenz. Er stützt sich dabei vor allem auf den jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig. Rosenzweig trat die europäische Philosophie vor allem in der Gestalt des hegelschen absoluten Idealismus, den er eingehend studiert hatte, 12 entgegen. 12

Vgl. F. Rosenzweig, Hegel und der Staat. A

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Ein zentraler Einwand von seiten Rosenzweigs gegen den Idealismus war die Feststellung, daß im Idealismus der individuelle Einzelne zugunsten allgemeiner Begriffe und Gesetze aufgehoben wird. Ausgangspunkt für Rosenzweig sind nicht mehr die allgemeinen Begriffe, sondern die konkrete sinnliche Situation des philosophierenden Menschen. Der sinnliche, vor allem fehlbare Mensch wird vom Idealismus im Allgemeinen aufgehoben und verschwindet. Dagegen lautet der erste Satz von Rosenzweigs epochalem Werk »Der Stern der Erlösung«: »Vom Tode, von der Furcht vor dem Tode hebt alles Erkennen des Alls an.« 13 Wenn aber die Philosophie dazu da ist, die Angst des Todes zu überwinden, dann hat sie ihren Ursprung in eben dieser Angst. Damit vollzieht Rosenzweig eine wahre Revolution in der Philosophie. Wenn gemäß der idealistischen Philosophie das eigentliche Sein im Bereich der Ideen und des Intelligiblen liegt, wenn der Zugang zum Sein allein dem Denken vorbehalten ist, dann zeigt sich nun, daß das Denken in der ganz gewöhnlichen sinnlichen Existenz des Menschen wurzelt, vor allem in seiner Angst vor dem Tod. Das Erkennen wird der Existenz nachgeordnet. Es kommt nicht mehr darauf an, die empirische Existenz unter ideale Kategorien zu bringen, um so einen Zugang zum Unbedingten zu gewinnen; vielmehr ist die Existenz das Erste und der Boden, von dem auszugehen ist. Das Denken und die Vernunft gründen in der Existenz. Man hat diese »Existenzphilosophie«, wenn man in Bezug auf Rosenzweig davon sprechen darf, auch auf die Erfahrungen zurückgeführt, die seine Generation im ersten Weltkrieg gemacht hat. »Die unmittelbare Drohung des Todes, der willkürlich zuschlägt, weit davon entfernt, das Individuum über sich selbst zu erheben, wirft es zurück auf die elementarste Bejahung seiner physischen Existenz.« 14 So St. Mosès. Weiter schreibt Mosès, ein hervorragender Kenner des Rosenzweigschen Werks: »Die Schlachtfelder von 1914–1918 markieren für ihn nicht nur das Ende der alten politischen Ordnung, sondern zugleich den Untergang einer ganzen Zivilisation, die seit den Griechen in dem Glauben gründete, der Logos vermöchte die letztgültige Vernünftigkeit des Wirklichen aufzuklären.« 15 Man verweist insbesondere auf den Umstand, daß Rosenzweig das Manu13 14 15

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F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 3. S. Mosès, Rosenzweig et Lévinas: Au-delà de la guerre, 790. S. Mosès, Rosenzweig et Lévinas: Au-delà de la guerre, 785.

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skript zu seinem Buch in den Schützengräben des Balkan begonnen hat: Er schrieb seinen Text auf Feldpostkarten, die er an seine Mutter in Kassel schickte, die ihrerseits die Texte auf der Schreibmaschine ins Reine übertrug. Aber in Wahrheit war der deutsche Idealismus, dem auch Kant zuzuordnen ist, schon lange vor Rosenzweig am Ende. Er war dem vereinigten Naturalismus und Historismus des 19. Jahrhunderts erlegen. Gegen den Idealismus der alten Schule setzte Rosenzweig das, was er »das neue Denken« nannte. Das neue Denken läßt sich als Denken bezeichnen, das vom subjektiven und individuellen Standpunkt des Philosophen ausgeht. Die »Eigentümlichkeiten des neuen Philosophiebegriffs, der doch mindestens das Verdienst hat, nach Hegel überhaupt noch ein Philosophieren möglich zu machen, sammeln sich nun in der einen, daß an Stelle des alten, berufsmäßig unpersönlichen Philosophentyps, der nur ein angestellter Statthalter der, natürlich eindimensionalen, Philosophiegeschichte ist, ein höchst persönlicher, der des Weltanschauungs-, ja des Standpunktphilosophen tritt.« 16 An anderer Stelle heißt es: »Daß die Philosophie, wenn sie wahr sein soll, vom wirklichen Standpunkt des Philosophierenden aus erphilosophiert werden muß, meine ich ja wirklich. Es gibt da keine andere Möglichkeit, objektiv zu sein, als daß man ehrlich von seiner Subjektivität ausgeht. Die Objektivitätspflicht verlangt nur, daß man wirklich den ganzen Horizont besieht, nicht aber daß man von einem anderen Standpunkt aus sieht als auf dem man steht, oder gar ›von gar keinem Standpunkt‹. Die eigenen Augen sind gewiß nur die eigenen Augen; es wäre aber schildbürgerhaft zu glauben, daß man sie sich ausreißen muß, um richtig zu sehen.« 17 Betrachtet man das gesamte geistige Umfeld der Zeit, so ist Franz Rosenzweig nicht der einzige, der die Philosophie auf eine neue Basis stellen will. In dieselbe Richtung gehen die Bemühungen dessen, was man unter dem allgemeinen Namen der Lebensphilosophie sammelt, in Deutschland insbesondere Nietzsche und Dilthey, in Frankreich Bergson. In Deutschland wird vor allem der Begriff des Erlebens zum Schlüsselbegriff. Landgrebe charakterisiert die Situation der Philosophie im 20. Jahrhundert mit den Worten: »Es bleibt offenbar nichts als diese Fragwürdigkeit unseres Daseins … So ist der F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 117. F. Rosenzweig, Brief an R. Stahl vom 2. 6. 1927, zitiert in: Der Stern der Erlösung, Einführung, XXI.

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Mensch mit seinen Fragen, die er an sich und die Welt stellt, zurückgeworfen auf dieses nächste ›Daß‹ seiner Existenz als Ausgangspunkt jeder Besinnung.« 18 2.2 Rosenzweigs neues Denken fand nun eine unerwartete Schützenhilfe in Martin Heidegger. In seinem Kantbuch von 1929 hat Heidegger Kant in die Perspektive seiner sog. Fundamentalontologie gestellt. 19 »Die Fundamentalontologie ist die zur Ermöglichung der Metaphysik notwendig geforderte Metaphysik des menschlichen Daseins.« 20 Damit ist zunächst eine Umkehrung der traditionellen Positionen vollzogen. Dasein ist in der traditionellen Philosophie der deutsche Ausdruck für Existenz. Die Existenz aber definiert sich durch ihren Gegensatz zur Essenz oder zum Wesen. Im Wesen faßte man die überzeitliche Struktur und Gesetzmäßigkeit des Existierenden. Die Ontologie hatte es mit dem Wesen zu tun. Die Heideggersche Umkehrung ist eine Umkehrung des Begründungszusammenhanges. Nicht mehr gründet das menschliche Dasein in überzeitlichen ontologischen Strukturgesetzen, sondern umgekehrt: Alle Rede von Wesen, Metaphysik und Ontologie ist in ihrer Möglichkeit bedingt durch das Dasein. »Von der Universalität der Theorie ist Heidegger herabgestiegen zum existierenden Faktum« 21 , wird Lévinas schreiben. Die Untersuchung des Daseins geht also der Ontologie voraus, ist »fundamentaler«. Daher nennt Heidegger sie die Fundamentalontologie. Die Rückführung der Vernunft auf ihre Quellen im Dasein verlangt einen Perspektivwechsel, der die Vernunft zunächst einklammert. Die Vernunft ist ja das zu Erklärende und darf daher nicht als unbedingt geltend vorausgesetzt werden. Sie wird ihrer seit Platon unangefochtenen Stellung beraubt und insofern »destruiert«. Der Sinn dieser Destruktion ist es, sie von einer neuen Basis aus neu zu verstehen. Unter dem Titel »Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie« spricht Heidegger von der »Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken« – und aller späteren – »Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortL. Landgrebe, Philosophie der Gegenwart, 17. Heidegger kann allerdings Kant für sein eigenes Anliegen nur in Anspruch nehmen, indem er die ethische Transzendenz ganz ausblendet – worauf Cassirer in Davos ausdrücklich hinweist. 20 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 13. 21 HO 430. 18 19

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an leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden.« 22 Es gilt also, die traditionelle Metaphysik auf »die ursprünglichen Erfahrungen«, die das Dasein macht, zurückzuleiten. Daher hat die Destruktion durchaus nicht den »negativen Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition. Sie soll umgekehrt diese in ihren positiven Möglichkeiten, und das besagt immer, in ihren Grenzen abstekken.« 23 So ist die Kampfansage zu verstehen, die er in Davos seinem philosophischen Widerpart entgegenschleudert: »Der Ansatz [der Philosophie] in der Vernunft ist gesprengt worden«. Die neue Position »besagt Zerstörung der bisherigen Grundlagen der abendländischen Metaphysik (Geist, Logos, Vernunft).« 24 Diese Umkehr hat man plakativ als Existenzialismus bezeichnet, Charakteristik, die Heidegger mit Grund für sich ablehnt. Soll der traditionellen Ontologie eine Fundamentalontologie, eine Analyse des Daseins, untergeschoben werden, so muß der Begriff des Daseins neu gefaßt werden. Das Dasein oder die Existenz im Heideggerschen Sinne ist charakterisiert durch die Erschlossenheit oder das Verstehen. »Der Begriff des Verstehens«, schreibt Lévinas, »ist der Drehund Angelpunkt seiner« – Heideggers – »ganzen Philosophie.« 25 Dieses Verstehen, das Heidegger in alle Dimensionen entfaltet, verweist am Ende auf die Zeit. Die Zeit ist der Horizont des Seinsverständnisses. Die Endlichkeit des Menschen verweist auf die Endlichkeit der Zeit. »Die ursprüngliche Zeit ist endlich.« 26 Die Fundamentalontologie übernimmt die Aufgabe, das Seinsverstehen, also die Ontologie, aus der endlichen Zeit des menschlichen Lebens zu entwickeln. Eben diese Neuorientierung ist es, die Rosenzweig begrüßt und in der er seine eigenen Intentionen wiedererkennt. Rosenzweig hatte durch die Zeitungen Kenntnis von den Davoser Hochschulgesprächen bekommen, die Martin Heidegger und Ernst Cassirer einander entgegensetzten. Die Gespräche brachten vor allem eine Konfrontation zwischen Heideggers neuer Philosophie und dem Neukantianismus, den der Marburger Philosoph Hermann Cohen begründet hatte. Beide, sowohl Martin Heidegger als auch Ernst Cassirer, hatten zu Cohen einen engen Bezug. Martin Heidegger war Hermann Cohen 22 23 24 25 26

M. Heidegger, Sein und Zeit, 22. M. Heidegger, Sein und Zeit, 22. Zitiert nach J. Seidengart, Ernst Cassirer, 91. DEHH 78. M. Heidegger, Sein und Zeit, 331. A

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auf dem Philosophielehrstuhl an der Universität Marburg nach dessen Emeritierung gefolgt, während Ernst Cassirer nach Cohens Tod als sein nächster Schüler und Hauptrepräsentant des Neukantianismus, der sog. Marburger Schule, galt. Dabei war Heidegger als scharfer Kritiker des Marburger Neukantianismus bekannt. Man muß hinzufügen, daß nach Rosenzweig Hermann Cohen in seinem letzten, erst posthum veröffentlichten Werk »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« den Neukantianismus bereits hinter sich gelassen hatte. Nach dem Verständnis Rosenzweigs übernimmt Heidegger in Davos das letzte Erbe Cohens, wohingegen er in Cassirer den traditionellen Neukantianismus vertreten sieht. In Davos, so Rosenzweig, »hat nun Heidegger, der Husserlschüler, der Aristotelesscholastiker, dessen Innehaben des Cohenschen Katheders von jedem ›alten Marburger‹ nur als eine Ironie der Geistesgeschichte empfunden werden kann, gegen Cassirer eine philosophische Haltung, eben die Haltung unseres, des neuen Denkens vertreten, die ganz in der Linie liegt, die vom ›letzten Cohen‹ ausgeht. Denn was ist es anderes, wenn Heidegger gegen Cassirer der Philosophie die Aufgabe gibt, dem Menschen, dem ›spezifisch endlichen Wesen‹, seine eigene, ›bei aller Freiheit Nichtigkeit‹ zu offenbaren und ›aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, zurückzurufen in die Härte seines Schicksals‹ …« 27 Das neue Denken Rosenzweigs und die Fundamentalontologie stimmten also darin überein, daß sie nicht mehr von den fertigen »Werken des Geistes« ausgingen, sondern vom Menschen in seiner Bedürftigkeit und Endlichkeit, um erst aus ihnen die kulturellen Erwerbe zu entwickeln. Das endliche Leben war der Nährboden, auf dem die Werke des Geistes wuchsen und aus dem sie entstanden, statt daß umgekehrt das endliche Leben immer schon unter dem Primat der Ideen stand. 2.3 Aber die Reduktion auf die Existenz stellt keine Lösung dar, keine Befreiung; sie raubt dem Menschen die Orientierung, wirft ihn in den Strom der Zeit, nimmt ihm alle festen Haltepunkte. Mit dem Verlust des bisherigen geistigen Überbaus bricht auch die Welt insgesamt zusammen. Der Zusammenbruch der bisherigen Welt – der Beginn der Moderne – im Unterschied zur mit Descartes beginnenden vernunftorientierten Neuzeit – wurde von verschiedener Seiten verschieden aufgenommen. Die Reduktion des bisherigen Lebens auf 27

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F. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 356.

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die Existenz ist selbst, entgegen dem ersten Anschein, nichts Einfaches. Einerseits bedeutet sie den Entzug des schützenden, weil Sinn gebenden Überbaus. Der Mensch weiß sich »zurückgeworfen auf dieses nächste ›Daß‹ seiner Existenz«. Was bleibt, ist das bloße Faktum seiner Existenz. Der bisherige geistige Besitz, alle Werte, sind in Frage gestellt, »eingeklammert«. Anderseits wurde der Zusammenbruch der bisherigen bourgeoisen Welt als die Morgenröte einer neuen, freieren Zukunft gefeiert. Den Ausbruch des ersten Weltkriegs konnte man verstehen als die Gewalt, die das Alte fortfegen und für das Neue Platz schaffen würde. Das Abgestorbene und Tote mußte endlich zugrundegehen, um dem neuen Leben die Bahn zu öffnen. Leben und Erleben wurden nun zu Zentralbegriffen. Das Leben als Leben erfährt eine neue Wertschätzung. »Der Einfluß dieses Begriffs«, wird Lévinas schreiben, »dem die Entwicklung der biologischen Wissenschaften des XIX. Jahrhunderts zu Ansehen verholfen hat, auf die gesamte zeitgenössische Philosophie ist unermesslich.« 28 Von nun an kann die bloße Existenz zum Ziel werden, wird das Leben selbst etwas Kostbares, »das bloße und einfache Sein« 29 . In diesem Sinne spricht Mosès von der »elementarsten Bejahung … [der] physischen Existenz«30 . Das Leben selbst wird der oberste Wert, der »Kampf ums Leben« 31 eine zentrale Metapher. Alles richtet sich auf die möglichste Potenzierung, Erhöhung, Verdichtung des Lebens. Aber was ist das, das Leben? Ist es wirklich so etwas wie eine einheitliche Substanz oder Gestalt, ist es nicht im Gegenteil sehr vielfältig, mit Höhen und Tiefen, Gutem und Schlechtem, insgesamt mit tiefgreifenden Differenzen und Widersprüchen? Muß man nicht auch innerhalb des Lebens wiederum eine Wahl treffen, welchem Leben man den Vorzug gibt? Dazu aber werden Kriterien verlangt, Maßstäbe, nach denen das gute und werte Leben vom schlechten und unwerten unterschieden werden kann, Maßstäbe, die nicht von Außen verordnet werden, sondern aus dem Leben selbst kommen sollen. Das Leben muß in sich selbst die Werte tragen, die es lebenswert EE 29/VS 25; aber vielleicht ist auch das Umgekehrte richtig: Erst der Zusammenbruch des Idealismus hat der biologischen Wissenschaft den neuen Anstoß gegeben. 29 EE 29/VS 25. 30 Vgl. oben Anm. 14. 31 EE 29/VS 25. 28

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machen und ihm einen Sinn geben. Das mögen individuelle Erlebnisse sein, die das Leben des Einzelnen gestalten, oder auch allgemeine Kategorien wie Kultur, Blut, Landschaft. Ja, im Kampf um das Leben oder um einen seiner Werte kann der Kampf selbst als die höchste Form des Lebens gesehen werden. Der Versuch, neue Orientierungen aus dem Leben selbst oder aus der Existenz zu gewinnen, findet im Begriff des Lebens nicht den einfachen und einheitlichen Grund, aus dem sich die Vielfalt entwickeln ließe. Menschliches Leben und menschliche Existenz sind selbst etwas Vielfältiges. Daher wundert es nicht, daß die Theorien, die sich auf das Leben oder die Existenz als legitimierende Grundlage berufen, untereinander sehr verschieden waren. Man denke an so entgegengesetzte Auffassungen vom Leben wie die Nietzsches, Bergsons oder des Nationalsozialismus. Der Bezug auf die Existenz ist also durchaus nichts Eindeutiges. Wie die Existenz sich jeweils selbst versteht, das ist mit dem Ausgangspunkt nicht festgelegt. »Existenzphilosophie«, schreibt Janke, »zeigt sich uns … als vielstämmiger Aufbruch eines nachmetaphysischen Denkens.« 32 Der Rückgang auf die Existenz ist mehr Ausdruck einer Verlegenheit oder sogar Verlassenheit als neue Orientierung. Zwar bleibt als letzter Bezugspunkt das empirische Ich; aber die bloße Existenz gibt dem Menschen keinen Halt. Für diese Unsicherheit ist es nur ein blasser Ausdruck, wenn Rosenzweig schreibt: »Im ›natürlichen‹ Raum und in der natürlichen Zeit ist die Mitte immer der Punkt, wo ich gerade bin (anthropos metron panton).« 33 Für Rosenzweig bedarf gerade das natürliche, bloß faktische Ich eines Grundes außerhalb seiner selbst. Es kann nicht Grund seiner selbst sein noch kann es seine Aufgabe sein, »existierend das Grundsein zu übernehmen« 34 . Das Leben verlangt einen unabhängigen Bezugspunkt, auf den hin und von dem her es sich verstehen kann. Gefragt ist nach einer Mitte der Zeit. Eine solche Orientierung muß in der Zeit entspringen und doch von Außen kommen. Sie muß mehr sein als eine subjektive Projektion. Eine solche Orientierung sieht Rosenzweig in der Offenbarung. »Offenbarung ist Orientierung. Nach der Offenbarung gibt es ein wirkliches, nicht mehr zu relativierendes Oben und Unten in der 32 33 34

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W. Janke, Existenzphilosophie, 6. F. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 358. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 58, 284.

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Natur – ›Himmel‹ und ›Erde‹ – (…) und ein wirkliches festes Früher und Später in der Zeit. Also: [und nun folgt der Passus, den wir oben schon angeführt haben] Im ›natürlichen‹ Raum und in der natürlichen Zeit ist die Mitte immer der Punkt, wo ich gerade bin (anthropos metron panton); in der offenbarten Raum-Zeit-Welt ist die Mitte ein unbeweglich fixierter Punkt, den ich nicht verschiebe, wenn ich mich selbst verändere oder fortbewege.« 35 Die Offenbarung ist das zentrale Ereignis, das nach Rosenzweig die Einsamkeit des endlichen, auf sich zurückgeworfenen und in sich verschlossenen Menschen aufbricht. Die Orientierung schafft sich nicht der Mensch selbst. Sie kommt von Draußen, von einem anderen. Sie bricht von Außen ein. Rosenzweig gibt damit das Thema des anderen vor. So ist die Aufgabe, die sich dem Philosophen Lévinas stellt, umrissen: Ausgehend vom einzelnen Individuum stellt sich die Frage nach der Transzendenz zum anderen.

§ 3 Lvinas 3.1. Lévinas wurde im ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts 36 in Kaunas, Litauen, geboren. Nach dem Abitur nahm er in Straßburg das Studium der Philosophie auf und erwarb 1931 die französische Staatsbürgerschaft. Das hat seiner Person die Verfolgung durch die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten erspart. Er wurde zu Beginn des Krieges als Soldat eingezogen, geriet bald in Gefangenschaft und verbrachte die meiste Zeit des Krieges in Deutschland in Kriegsgefangenschaft. 37 Dagegen fiel die Familie, soweit sie in Litauen lebte – die Eltern und die beiden Brüder – dem Terror zum Opfer 38. Seine Frau und die Tochter konnten sich den Verfolgungen der Juden in

F. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 358. Am 30. Dezember 1905 gemäß dem julianischen Kalender, der im Zarenreich galt, am 12. Januar 1906 gemäß dem gregorianischen Kalender. Zu den Lebensdaten Lévinas’ vgl. M.-A. Lescourret, Emmanuel Lévinas. 37 Lévinas war zunächst in einem sog. Frontstalag (Stalag = Abkürzung für Stammlager; die Stalags dienten den Deutschen während des 2. Weltkriegs zur Aufnahme der Kriegsgefangenen) in der Bretagne interniert, sodann in Deutschland in einem Ort namens Ostenholz nahe Hannover. 38 Die Mutter von Lévinas’ Frau Raissa wurde im Winter 1943 von Paris deportiert. Seither gibt es keine Nachricht von ihr (Malka fr. 240/Malka d. 221). 35 36

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Frankreich mit Hilfe des Dichters Maurice Blanchot sowie katholischer Nonnen, die sie versteckten, entziehen. 39 Fragt man über die zeitgeschichtlichen Bedingungen hinaus nach dem biographischen Rahmen, in dem sich die Philosophie Lévinas’ entwickelt, so sind hier drei Momente zu nennen: die Beziehung zum osteuropäischen Judentum, zur Phänomenologie und die Shoah. Man soll die Frage nicht so verstehen, als wollten wir nun die Einflüsse aufzählen, aus denen sich seine Philosophie erklären ließe. Welche Einflüsse eine Philosophie aufnimmt oder abwehrt, hängt von ihren zentralen Gedanken ab. Nicht bestimmen die Einflüsse eine Philosophie, sondern eine Philosophie sucht sich ihre Einflüsse. Daraus folgt aber anderseits, daß die Frage nach den Quellen, auf die eine Philosophie zurückgreift, nicht bloß ein biographisches Detail betrifft. Sie gibt vielmehr Auskunft über das zentrale Anliegen einer Philosophie. Zunächst also das Judentum! 3.2 Es sind drei Bewegungen, die das jüdische Denken seit dem 18. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa bestimmen: einerseits die jüdische Aufklärung (Haskala), anderseits der Chassidismus, eine Form der jüdischen Mystik, und zwischen beiden, eine mittlere Position einnehmend, die Mitnaggdim. Die jüdische Aufklärung nimmt ihren Ausgang im 18. Jahrhundert in Berlin und strahlt von da aus in den Osten Europas. Sie wird im wesentlichen ausgelöst durch die Schriften und das Leben des Moses Mendelssohn. 40 Sie fordert und fördert die Anpassung der Juden an die umgebende Kultur und mündet tendenziell in die Assimilation. In ihrer Folge führt sie zur Auflösung der bisher bestehenden jüdischen Gemeinden und ihrer relativen Autonomie, die sie, unter dem Schutz eines Fürsten, besaßen, und zur Auflösung der jüdischen Identität überhaupt. Die Haskala setzte auf die universale Vernunft und die Aufklärung. Ihr entgegengesetzt war der Chassidismus, eine osteuropäische Form der jüdischen Mystik. 41 Für ihn waren das unmittelbare Erlebnis und die Ekstase die höchste Form der Frömmigkeit. Zwischen diesen beiden als den Extremen einer einerseits wesentlich rationalen, andererseits stark emotionalen LebensorientieVgl. dazu Poirié 84 sq.; M.-A. Lescourret, Emmanuel Lévinas, 122; Malka fr. 94/Malka d. 90. 40 Vgl. dazu M. Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. 41 Vgl. G. Scholem, 356 ff. 39

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rung stehen die Mitnaggdim. Sie akzeptieren den rationalen Anspruch der Haskala, halten aber dennoch an der jüdischen Eigenart, insbesondere der religiösen Lebensform, fest; gegenüber dem Chassidismus, der in seinen Praktiken vor allem »eine Zurückweisung der zentralen Werte der rabbinischen Kultur – nämlich des Studiums« 42 , bedeutet, betonen sie die Rolle der Vernunft. Weil er die Notwendigkeit des Studiums bestreitet, wird der Chassidismus von dem Haupt der Rabbinerschule von Wilna, dem Zentrum der Bewegung der Mitnaggdim, 1772 mit dem Bann belegt. Der entscheidende Punkt aber für die doppelte Frontstellung der Mitnaggdim gegen Haskala und Chassidismus ist die Differenz in der Auffassung des Göttlichen: Haskala und Chassidismus ist gemeinsam eine Nähe zum Immanentismus und Pantheismus. Die Mitnaggdim dagegen bestehen auf der unbedingten Transzendenz Gottes. Die Haskala ist ein Kind der Aufklärung. Sie ist mit dem Gedanken assoziiert, daß sich das Ganze des Seienden den philosophischen Begriffen erschließt und in die Einheit eines Systems gebracht werden kann. Die Aufklärung als Teil der europäischen Philosophie gipfelt in der Philosophie Hegels. Sie rückt damit in die Nähe eben jenes Denkens, dem die Kritik von Rosenzweig galt. Aber auch der Chassidismus hält nicht an der absoluten Transzendenz des Anderen fest. Vielmehr bot er, »indem er die Immanenz Gottes in der Welt betonte, die Möglichkeit einer beständigen Zuwendung zum Göttlichen im Alltagsleben« 43 . Scholem spricht vom »Enthousiasmus der unmittelbaren Begegnung mit dem Göttlichen, der in seiner radikalen Betonung von der Immanenz Gottes in allen Dingen seine Begründung ebenso sehr wie seinen Ausdruck fand.« 44 Diese Immanenz wird in der Magie des Gebets und der Ekstase erfahrbar. Die Ablehnung der Ekstase sowie der theoretische und distanzierte Charakter des Studiums, das die Mitnaggdim fordern, sind dagegen die angemessene Haltung zu einem absolut transzendenten und bildlosen Gott. Die philosophisch-theoretische Einstellung entspricht dem Gedanken der Transzendenz Gottes. Dieses Verhältnis zum Absoluten ist nüchterner Art; es ist das Gegenteil von enthou42 43 44

N. de Lange, 252. N. de Lange, 251. G. Scholem, 368. A

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siatischer Entrückung und Einswerdungsphantasie. Die Nüchternheit widerspricht dem Wunsch nach Erfüllung und Erlebnisdichte. Darum ist sie auch die Sache nur weniger. »Was ist das Geheimnis … [des] ungeheuren Erfolgs der jüdischen Mystik im jüdischen Volk?«, fragt Scholem. »Warum gelang es ihr, ein entscheidender historischer Faktor in seiner Geschichte zu werden, das Leben weiter Kreise Jahrhunderte hindurch von Grund auf zu bestimmen, während es der Parallelbewegung zur Mystik, der rationalen jüdischen Philosophie, nicht gelungen ist, ihren Anspruch auf Herrschaft im Volke durchzusetzen?« 45 Der Grund liegt in der verschiedenen Nähe und Ferne zu Gott. »Die klassische jüdische Theologie des Mittelalters und der Neuzeit«, schreibt Scholem, »wie sie in Saadja, Maimonides und H. Cohen ihren Ausdruck fand, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Antithesen gegen den Pantheismus und gegen den Mythos aufzustellen, ja, sie zu widerlegen. Und in diesem Geschäft sind sie unermüdlich gewesen.« 46 Der jüdischen Philosophie ging es darum, gegen jede vermeintliche Gottnähe, gegen Pantheismus und Immanentismus, die Unbegreiflichkeit Gottes und seine Bilderlosigkeit, kurz seine Transzendenz, zu betonen. Die jüdische Philosophie des Mittelalters (Maimonides) und der Neuzeit (Cohen und Rosenzweig) hielten unnachgiebig an der absoluten Transzendenz Gottes fest. Den mystischen Bewegungen des Judentums kommt es dagegen »darauf an, ohne die Grundlage des Monotheismus zu verlassen, dennoch zu verstehen, daß irgendetwas an ihnen« – am Pantheismus und am Mythos – »ist, und dieses etwas näher zu bestimmen.« 47 Was Scholem damit meint, erläutert er folgendermaßen: Es ist »der Kabbala gelungen, eine Verbindung mit gewissen elementaren Impulsen des Volksglaubens herzustellen. Sie hat die primitiven Schichten des menschlichen Lebens nicht verachtet …« 48 Die unbedingte Jenseitigkeit des anderen, die Kritik an der Neigung der Mystik zu Pantheismus und Mythos ist auch für Lévinas der Grund für seine grundsätzlich philosophische und rationale Einstellung. Lévinas hat an seiner Treue zum jüdischen Glauben und zu den jüdischen Geboten einerseits und an seinem gleichzeitigen WilG. Scholem, 25. G. Scholem, 41. 47 G. Scholem, 41. 48 G. Scholem, 38. Was Scholem hier als klassische jüdische Theologie bezeichnet, wird bei Guttmann unter dem Titel der jüdischen Philosophie abgehandelt. Vgl. J. Guttmann, Philosophie des Judentums. 45 46

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len zur philosophischen Durchdringung dieses Glaubens andererseits keinen Zweifel gelassen. Insofern bewegt er sich in der Tradition der Mitnaggdim, die vor allem in Litauen zu Hause waren. War die absolute Transzendenz Gottes zunächst nur Gegenstand des Glaubens, so mußte sie doch auch der philosophischen Reflexion standhalten. Dafür fand Lévinas schon bei Maimonides die Argumente. Stein des Anstoßes für die mittelalterlichen Rezipienten der Philosophie des Aristoteles in der jüdischen wie christlichen Theologie war seine These von der Unerschaffenheit und Ewigkeit der Welt. Für Aristoteles ist die Welt ewig und Gott kein Schöpfer. Beides widerspricht der Bibel: Nach ihr ist Gott der Schöpfer der Welt und hat die Welt einen Anfang. Maimonides antwortet dem Aristoteles mit einem Argument, das die kantische Kritik der reinen Vernunft vorwegnimmt: Die Begriffe, mittels derer wir uns die Welt verständlich machen, verlieren ihre Geltung, wenn es um das Absolute, das Vor- und Außerweltliche, geht. Nun ist Gott für das Judentum außerhalb der Welt, und seine Schöpfungstat läßt keinen Vergleich mit einem innerweltlichen Geschehen zu. Die Handlung Gottes – der Schöpfungsakt – »hat mit der Handlung im Diesseits nur die Gemeinsamkeit des Namens. Sie sind einer vom anderen durch den ganzen Abgrund getrennt, der die Schöpfung von der Herstellung (fabrication) unterscheidet.« Sodann fährt Lévinas fort: »Die Tragweite dieser Entdeckung ist unkalkulierbar. Zum ersten Mal und mit einer genialen Hellsichtigkeit hat Maimonides die Gesetze eines Denkens, das die Welt zum Gegenstand hat, unterschieden von den Prinzipien eines Denkens, das Bezug hat auf die Bedingungen der Welt. Zum ersten Mal hat er den Elan der Vernunft gebremst, welche die Begriffe, die der Welt entnommen sind, auf das anwandte, was jenseits der Welt ist. Zum ersten Mal hatte er eine Idee von dem, was man sechs Jahrhunderte später die Kritik der reinen Vernunft nennen wird.« 49 Es ist dieser Gedanke der Geschöpflichkeit der Welt und der Transzendenz Gottes, an dem sich für Lévinas Heidentum und Judentum scheiden. Daher er denn fortfährt: »… die Bestimmtheit dieser Unterscheidung zwischen dem Denken, das die Welt denkt, und dem Denken, das über sie hinausgeht, macht den endgültigen Sieg des Judentums über das Heidentum aus … Weder negiert das Heidentum den Geist noch ist es die Unkenntnis eines einzigen Gottes. Die Sen49

Herne 144. A

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dung des Judentums wäre ohne Bedeutung, wenn sie sich darauf beschränkte, die Völker der Erde den Monotheismus zu lehren … Das Heidentum ist das radikale Unvermögen, aus der Welt herauszutreten.« 50 Aus der Perspektive des Heiden ist sich die Welt selbst genug. Der Jude hingegen erlebt die Welt als Schöpfung, die über sich hinausweist. Für den Juden gilt, daß »er inmitten des vollständigsten Vertrauens, das er den Dingen entgegenbringt, von einer heimlichen Unruhe zerfressen wird. So unerschütterlich die Welt denen erscheinen mag, die man als gesunden Geistes bezeichnet, für den Juden hat sie die Spur des Provisorischen und des Geschaffenen.« 51 Der Monotheismus allein schützt nicht vor dem Heidentum. Judentum meint nicht nur den Monotheismus, sondern darüber hinaus die Geschöpflichkeit der Welt und die Trennung von Gott und Welt. Darin liegt zugleich die Nähe des Judentums zur kantischen Transzendentalphilosophie, die bei Hermann Cohen zu einer Amalgamierung geführt hatte. Die radikale Abwehr jeglicher Form von Pantheismus und mythischem Glauben durchzieht das ganze Werk Lévinas’. 52 Pantheismus ist für ihn synonym mit Heidentum und Materialismus, Verschossenheit in die Welt und Verschlossenheit in der Welt, Totalität im Gegensatz zu Offenbarung und Transzendenz. Noch in seinem Spätwerk kennzeichnet Lévinas das Leben in der Welt und in der Immanenz mit einem Ausdruck, der der Philosophie des Pantheisten Spinoza entnommen ist: conatus essendi. Dem steht die Offenbarung entgegen, die die Immanenz aufbricht. 53

Herne 144. Herne 144. 52 Vgl. auch Herne 150: »L’attachement au monde, qu’elle« – la croyance judéochrétienne – »refuse n’est pas forcément le sensualisme jouisseur dénoncé par toutes les doctrines de la vertu, qu’elles soient juives, chrétiennes ou grecques. Cet attachement est déterminé par une façon d’être installé dans la réalité qui donne le ton à toutes les péripeties d’une vie, de se complaire dans la condition naturelle, d’être de plain-pied avec les choses. Ce qui distingue en fin de compte le judéo-christianisme du paganisme, c’est, plus qu’une certaine morale ou une certaine métaphysique, un sentiment immédiat de la contingence et de l’insécurité du monde, une inquiétude de ne pas être chez soi et la force d’en sortir.« 53 Schon diese kurze vorausschauende Skizze macht die Aporie deutlich, innerhalb derer sich die Philosophie Lévinas’ ständig bewegen wird: Das Jenseits bleibt den Vernunftbegriffen verschlossen, dennoch bewegt sich die Theorie in rationalen Kategorien. Die Offenbarung kann nur passiv rezipiert werden; dennoch liegt ein Verdikt über Affektivität und Ekstase. 50 51

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3.3 Neben dem Judentum ist es vor allem die deutsche Philosophie in Gestalt der Phänomenologie Husserls und Heideggers, die von Lévinas aufgenommen wurde. Ich sage wohl: die deutsche Philosophie; denn für Lévinas stand die Philosophie in engster Beziehung zu Deutschland. Das galt schon für Franz Rosenzweig. Deutschland war dasjenige Land gewesen, in dem die kulturelle Emanzipation am weitesten fortgeschritten war und dessen bürgerliche Welt den Juden am meisten entgegenkam, nämlich jenem »emanzipierten Judentum des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, das an eine interkonfessionelle Gesellschaft glaubte; das die Universität kannte und sie vielleicht mehr als alles andere geschätzt hat, den freien und kritischen Geist des rationalistischen Abendlandes.« 54 Dieser freie Geist, der Geist des Idealismus, wie er von den Professoren auf den Universitätskathedern verkündet wurde, war deutscher Geist. Franz Rosenzweig nennt den deutschen Professor den »bestellten und verantwortlichen Wächter über die Seele der Nation, [er ist] gewissermaßen der ›Philosoph-König‹ der platonischen Politie.« 55 Dennoch stellt der deutsche Idealismus mehr dar als eine nationale Doktrin: Er besaß universale Geltung: »Was man den deutschen Idealismus nennt, [begründet] Deutschlands Rechtstitel auf die geistige Vorherrschaft, die es tatsächlich das neunzehnte Jahrhundert lang ausgeübt hat.« 56 Das Organ dieser Vorherrschaft war die Philosophie. Diese Umstände empfahlen dem litauischen Studenten für ein Philosophiestudium zunächst die deutschen Universitäten. Hinzu kam die Nähe Deutschlands zur Heimat. Daher bewarb sich Lévinas an verschiedenen deutschen Universitäten: in Königsberg, in Berlin, im Rheinland. Er wurde nicht angenommen, »weil ihnen« – den Universitäten – »der Unterricht in einem jüdischen Gymnasium in Litauen kein ausreichendes Niveau zu haben schien« 57 . Darauf schrieb er sich in Straßburg ein. 58 Später erwies sich die Nähe von Straßburg zu Freiburg, dem Zentrum der deutschen Phänomenologie, als bestimmend für Lévinas’ weiteren philosophischen Gang. Dort trat er während seines Aufenthaltes im Sommersemester 1928 und im Wintersemester 1928/29 dank der Vermittlung seines straßburger Leh54 55 56 57 58

HS 74/AS 99. F. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 300. F. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 301. M.-A. Lescourret, 51. S. Malka schreibt dazu (39): »Pourquoi Strasbourg? A cause du prestige du français.« A

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rers Jean Hering in persönliche Beziehung zu Husserl 59 . Weiter besuchte er nicht nur die Veranstaltungen Heideggers, sondern nahm auch an den berühmten Davoser Gesprächen zwischen Heidegger und Cassirer teil. Es sind vor allem diese Begegnungen, insbesondere aber die mit Heidegger und mit dessen ein Jahr zuvor erschienenem Werk »Sein und Zeit«, die über das philosophische Denken Lévinas’ entschieden. »Ich ging zu Husserl«, sagt Lévinas später, »und ich fand Heidegger.« 60 Um sich ein Bild von dem Jubel zu machen, mit dem Lévinas »Sein und Zeit« aufnahm, von der Begeisterung, die die Philosophie Heideggers in ihm weckte, lese man den Artikel, den der 25-jährige über »Freiburg, Husserl und die Phänomenologie« schreibt. Der Artikel schließt mit einem wahren Panegyrikos: »Ich kam in dem Augenblick, wo der Meister« – gemeint ist Husserl – »soeben aufgehört hatte, regelmäßig zu lehren, um sich der Veröffentlichung seiner zahlreichen Manuskripte zu widmen. Ich hatte das Glück, bei einigen Vorträgen, die er vor einem immer voll besetzten Auditorium hielt, dabei zu sein. Seinen Lehrstuhl besetzt nun Martin Heidegger, sein originellster Schüler, dessen Name jetzt den Ruhm Deutschlands ausmacht. Seine Lehre und seine Werke, von außergewöhnlicher intellektueller Kraft, liefern den besten Nachweis für die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Methode. Schon beweist sein beachtlicher Erfolg sein außerordentliches Ansehen: Um mir in seiner Vorlesung, die um 5 Uhr am Nachmittag in einem der größten Hörsäle der Universität stattfand, einen Platz zu sichern, mußte ich spätestens um 10 Uhr morgens einen Platz reservieren. Im Seminar, zu dem nur die Privilegiertesten zugelassen waren, waren alle Nationen, zumeist durch Universitätsprofessoren, vertreten: die Vereinigten Staaten und Argentinien, Japan und England, Ungarn und Spanien, Italien und Rußland, sogar Australien. Angesichts dieser glänzenden Versammlung verstand ich jenen deutschen Studenten, den ich auf der Reise nach Freiburg im Schnellzug BerlinBasel getroffen hatte. Auf die Frage, wohin er fahre, antwortete er, ohne mit der Wimper zu zucken: ›Ich fahre zum größten Philosophen der Welt.‹« 61 Auch später hat Lévinas nie einen Zweifel daran gelasVgl. DEHH 125/SpA 121. Poirié 74. 61 E. Lévinas, Fribourg, Husserl et la phénoménologie, 414. Man vergleiche dazu die Eingangssätze aus dem ein Jahr später erschienenen Aufsatz »Heidegger und die Ontologie«: »Der Ruhm Heideggers und der Einfluß seines Denkens auf die deutsche Philosophie ist eine neue Phase – und ein Höhepunkt – der phänomenologischen Bewegung 59 60

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sen, daß er »Sein und Zeit« für eines der ganz großen Werke nicht nur der gegenwärtigen Philosophie, sondern der Philosophie überhaupt hielt. 62 Später, wenn Lévinas von der zeitgenössischen Ontologie sprach, meinte er Heidegger, als gäbe es keine andere. Man darf also annehmen, daß Rosenzweigs Urteil über die Rolle der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts für Lévinas auch im 20. Jahrhundert Geltung behielt. Deutschland blieb die Heimat der Philosophie. In diesem Sinne konnte Lévinas auch später noch sagen: Wer in der Philosophie Erfolg haben will, muß in Deutschland Erfolg haben. 63 3.4 Das hindert nicht, daß Lévinas später zur Philosophie Heideggers sowie zur Philosophie überhaupt ein ganz neues Verhältnis haben wird. Es sind die »années hitlériennes«, die »années terribles« 64 , die ein Umdenken erzwingen: ein Umdenken in Bezug auf Deutschland, auf Heidegger und auf die Rolle der Philosophie im abendländischen Kontext überhaupt. Nach dem Krieg hat Lévinas das Gelübde getan, deutschen Boden nicht mehr zu betreten. Er hat sich an dieses Gelübde gehalten. Dennoch hat er seit den siebziger Jahren enge wissenschaftliche sowie freundschaftliche Beziehungen zu deutschen Philosophen und Theologen unterhalten. Gemeinsame Tagungen fanden freilich immer im benachbarten Ausland statt. Was Heidegger betrifft, so wird Lévinas ihm gegenüber nach … Auf die Jungen übt sie« – Heideggers neue Lehre – »eine wahre Faszination aus. Und schon überschreitet sie die Grenzen des Erlaubten, indem sie Eingang findet in die Salons. Zufällig hat sich der Ruhm nicht getäuscht und kommt, gegen alle Gewohnheiten, nicht zu spät. Wer auch immer sich mit Philosophie beschäftigt hat, kann angesichts des Werks von Heidegger nicht umhin festzustellen, daß die Originalität und die Kraft seiner Arbeit, die das Genie verraten, verbunden sind mit einer gewissenhaften, ins Einzelne gehenden und soliden Ausarbeitung, mit jener Vorgehensweise des geduldigen Arbeitens, die den schönen Stolz der Phänomenologen ausmacht.« (HO 395) Diese Sätze sind in dem späteren Abdruck des Aufsatzes im Rahmen der Sammlung »En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger« ausgelassen. Von Gandillac, der ebenso wie Lévinas von französischer Seite den Gesprächen in Davos beiwohnte, schreibt Malka: »Für Gandillac besteht kein Zweifel, daß sich Lévinas damals als leidenschaftlichen Schüler des schwäbischen Philosophen betrachtete.« (Malka fr. 65/Malka d. 62). 62 Vgl. Poirié 74: »Ich wußte sogleich: Er ist einer der größten Philosophen der Geschichte.« Vgl. zum Ganzen auch Poirié ibid. 63 »Arriver en philosophie, c’est arriver en Allemagne« – Äußerung im Laufe eines Gesprächs im Februar 1979. 64 Poirié 78. A

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1933 stets ein gespaltenes Verhältnis haben. Der Grund hierfür scheint nicht so sehr der vermutete oder wirkliche Antisemitismus Heideggers zu sein, sondern die Stellungnahme zugunsten des Nationalsozialismus. Nach Aussagen Lévinas’ 65 waren die Pariser Philosophen schon seit 1930 durch Alexandre Koyré über Heideggers Gesinnung unterrichtet. Darüber hinaus hat die Tochter Lévinas’, Simone, gegenüber dem Biographen Malka versichert: »Lévinas hat Heidegger immer für einen Antisemiten gehalten.« 66 Es scheint also so zu sein, daß die Annahme eines heideggerschen Antisemitismus der Verehrung ihm gegenüber keinen Abbruch tat. Ähnlich hatte ja auch die Freundschaft mit Blanchot Bestand. Diese Situation änderte sich mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Besaßen der Antisemitismus vor und nach 1933 und das Judentum vor und nach 1933 eine verschiedene Bedeutung? Für viele Juden ist bezeugt, daß erst der systematische, zur Staatsdoktrin erhobene Antisemitismus und die ihm folgende Ausgrenzung der Juden ihnen ihr Judentum ausdrücklich bewußt machte und damit das Gefühl einer Zusammengehörigkeit und Solidarität schuf, das es vorher so nicht gab. So hat der Nationalsozialismus ohne Zweifel zur Schaffung einer spezifischen, alle Juden umfassenden Identität beigetragen. Dies mag auch auf Lévinas zugetroffen sein. Danach würde sein Judentum vor 1933 keine Rolle gespielt haben. Erst nach 1933 würde er sich seines Judentums und damit seiner Sonderstellung bewußt geworden sein. Diese Vermutung würde uns erklären, warum der angenommene Antisemitismus Heideggers vor 1933 keine Rolle spielte, das politische Engagement hingegen den Philosophen diskreditierte. 67 Im Laufe einer Tagung im Jahr 1989 in Queeste, Holland. Malka fr. 65/Malka d. 63. 67 Nicht unerwähnt bleiben soll ein Hinweis, der vermuten läßt, daß Lévinas darüber hinaus zunächst in Heidegger etwas hineinlas, das er später darin nicht mehr fand. Dies legt zumindest der Aufsatz »Heidegger und die Ontologie« aus dem Jahre 1933 nahe. Für diesen Gedanken scheinen mir zwei Hinweise zu sprechen. Zuvor muß man allerdings wissen, daß Lévinas von eben diesem Aufsatz zwei Fassungen veröffentlicht hat, die erste, wie berichtet, im Jahr 1933, und eine zweite, leicht veränderte im Rahmen der Aufsatzsammlung »En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger« im Jahr 1949. Die zweite Fassung enthält nun gegenüber der ersten wenigstens zwei auffällige Veränderungen. Den Aufsatz selbst kündigte Lévinas in der Originalfassung als die ersten Kapitel einer Monographie über Heidegger an. Am Ende des Aufsatzes skizzierte Lévinas die weitere Perspektive von Heideggers Philosophie: »Das Phänomen der Angst sowie die Einheit 65 66

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Was nun den Nationalsozialismus angeht, so hat Lévinas ihn schon sehr früh als Rückfall in das vorjüdische und vorchristliche Heidentum gebrandmarkt. »Die jüdisch-christliche Zivilisation«, heißt es 1935, »wird infrage gestellt durch ein anmaßendes Barbarentum, das sich im Herzen Europas eingerichtet hat. Mit einer bisher unbekannten Frechheit erhebt das Heidentum sein Haupt, stürzt die Werte um, verwischt die elementaren Unterscheidungen, der Sorge, die uns in der Angst offenbar wurde, sind die ersten Etappen auf dem Wege einer ontologischen Beschreibung der Existenz. Von hier aus wird die Auslegung vorstoßen zur einheitlichen Quelle der Sorge. Dort werden wir die Wurzel der Persönlichkeit und der Freiheit finden. Aus ihr werden wir das Phänomen der theoretischen Erkenntnis ableiten. Auf dem Grunde des Ganzen werden wir die Zeit finden.« (HO 430) Lévinas sieht also zum damaligen Zeitpunkt in der Heideggerschen Philosophie oder erwartet noch von ihr eine Theorie der Persönlichkeit und der Freiheit. Der Text ist nicht ganz eindeutig: Sieht er diese Theorie in Heideggers Philosophie schon vorliegen oder erwartet er sie noch? Man darf nicht vergessen, daß der veröffentlichte Text von »Sein und Zeit« jahrelang nur als die erste Hälfte galt. Nach dem »Aufriß der Abhandlung« sollte »Sein und Zeit« in zwei Teile zerfallen, davon der erste Teil wiederum drei Abschnitte enthalten sollte, von denen der veröffentlichte Teil nur die beiden ersten darstellte. »Sein und Zeit« eröffnete also einen über das Veröffentlichte weit hinausgehenden Horizont, der eine Theorie der Persönlichkeit und der Freiheit einschließsen konnte. In der zweiten Fassung des Aufsatzes (DEHH 53 ff.) ist von Persönlichkeit und Freiheit nicht mehr die Rede: Der bisherige Passus wird unterdrückt. Von der Philosophie Heideggers wird keine Theorie der Persönlichkeit und der Freiheit mehr erwartet. Ein zweites Indiz für eine veränderte Auffassung von Heideggers Philosophie bildet die Übersetzung des Heideggerschen Terminus der »Sorge«. In der frühen Fassung wird »Sorge« übersetzt mit »sollicitude«, in der späteren wird »sollicitude« ersetzt durch »souci«. Worin liegt der Unterschied? Das französische »sollicitude« ebenso wie »la sollicitation« leiten sich ab vom lateinischen »sollicitare«, »stark erregen, erschüttern, in Bewegung setzen«. Die Substantive »sollicitation« und »sollicitude« bezeichnen das eine die Aktion des Bewegens, das andere die Passion des Bewegtwerdens. Die sollicitude als Sorge, Erschütterung, verweist also auf eine sollicitation, ein Bewegen, das von Außen kommt. Die Passivität des Bewegtwerdens setzt ein Außen voraus. Gerade diese Passivität verschwindet, wenn Sorge mit »souci« übersetzt wird. Zwar leiten sich auch »souci« und »se soucier« als eine ältere Bildung von »sollicitare« ab. Aber das Verb »soucier« wird vornehmlich im reflexiven Sinne gebraucht, »se soucier«, »sich sorgen«. Der Unterschied in der Übersetzung von Sorge durch »sollicitude« oder »souci« besteht also darin, daß beim ersten der Verweis auf eine äußere Instanz, die »sollicitation«, mitgedacht ist, beim zweiten aber die Sorge allein Sache des Subjekts ist, das »sich sorgt«. Diese Hinweise legen den Gedanken nahe, daß Lévinas in Heidegger etwas hineinlas, das er später nicht mehr wiederfand, nämlich jene Transzendenz, die Heideggers Philosophie über den Paganismus hinausgehoben hätte. Oder hatte sich der Leser verändert? Im Jahr 1935 lernte Lévinas von Rosenzweig »Der Stern der Erlösung« kennen (vgl. Malka fr. 60, 77/Malka d. 57, 75). Hier konnte er finden, was er fortan bei Heidegger vermißte. A

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löscht die Grenzen zwischen profan und heilig, löst selbst die Grundsätze auf, die bisher erlaubten, die Ordnung herzustellen.« 68 Dank seiner Stellungnahme im Sinne des Nationalsozialismus trat Heideggers Philosophie in einen politischen Kontext, dessen Entwicklung die allerschlimmsten Befürchtungen weit übertraf. Hier ging es am Ende nicht mehr um einen einzelnen Philosophen. Indem die bedeutendste Philosophie des Jahrhunderts sich gemein machte mit der Ideologie des Nationalsozialismus 69, wenn auch nur zeitweilig oder partiell, stellte sich die Frage, welchen Anteil die Philosophie überhaupt an den Ereignissen der »années terribles« hatte. Die Philosophie insgesamt und mit ihr das europäische Denken stand und steht vor Gericht. Nun ist die Rede von einem Gerichtshof, vor dem die philosophische Vernunft zu erscheinen hat, nicht neu. Schon Kant sieht sein ganzes Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft in Analogie zu einem Gerichtsverfahren. 70 In der »Kritik der reinen Vernunft« hatte die Vernunft selbst gegen sich geklagt; denn sobald sie das Unbedingte zu denken sich anschickte, verwickelte sie sich in unlösbare Widersprüche. Auch Rosenzweig klagt gegen die Vernunft, allerdings nicht die reine, sondern die historische Vernunft. Er klagt im Namen des endlichen Ich und seiner Angst. Die Philosophie behauptet, die Angst zu überwinden; denn sie verspricht der Seele dank ihrer Verwandtschaft mit den zeitlosen Ideen Ewigkeit, mag darüber auch der Leib zerfallen. Daß aber »die Angst des Todes von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, daß sie Ich Ich Ich brüllt und von Ableitung der Angst auf einen bloßen ›Leib‹ nichts wissen will – was schert das die Philosophie!« 71 Es ist das endliche, sterbliche Ich, das Anklage erhebt gegen die philosophische Vernunft. Bei Lévinas aber steht das Ich selbst unter Anklage. Der Kläger ist jetzt der abwesende andere. Die Klage richtet sich nicht mehr gegen das Unrecht, das die abstrakte und allein das Universale berücksichtigende Philosophie mir und meinem Ich tut; sie richtet sich Herne 142, vgl. auch den Aufsatz »Quelques réflexions sur la philosophie de l’hitlérisme« von 1934 (Herne 155 ff., inzwischen auch in einer eigenen Veröffentlichung). 69 Vgl. Malka fr. 171/Malka d. 154, wo Lévinas zitiert wird: »Que voulez-vous? Le nihilisme, c’est cela. Le plus grand philosophe du siècle, c’est Heidegger. Et Heidegger avait sa carte au parti nazi.« 70 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XI. 71 F. Rosenzweig, Stern der Erlösung, 3. 68

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gegen das Unrecht, das dem anderen geschieht, und zwar durch ein Ich, das, soweit es seine Gründe aus der Philosophie nimmt, sich auf die Vernunft beruft. Anders gesagt: Nicht mehr klagt ein endliches und sterbliches Ich gegen die Philosophie, sondern die Klage geschieht im Namen des anderen gegen eine Philosophie, in deren Zentrum das Ich und der nackte Lebenswille steht. Das Ich muß sich für seine Existenz rechtfertigen. 72 Das macht den Unterschied einer Kritik der Philosophie vor und nach der Shoah aus. 73 Auch für Rosenzweig erfüllt sich das Leben des Ich erst im Bewußtsein, Geschöpf zu sein, in der Liebe Gottes und des Nächsten. Aber den Ausgang nimmt seine Philosophie von einem Ich, das den Zusammenbruch des Idealismus überlebt hat. Nach der Shoah dagegen steht die Philosophie vor der alten Frage, die Gott an Kain richtet: Wo ist dein Bruder Abel? Wo sind die Brüder, die du umgebracht oder deren Mord du legitimiert oder mit Schweigen zugedeckt hast? Das Gericht beurteilt die Philosophie weder am Maßstab ihrer Kohärenz und Widerspruchsfreiheit noch der Ichidentität, sondern am Maßstab der Brüderlichkeit. Dies ist der Maßstab, den Lévinas anlegt. Er ist zugleich das Kriterium, an dem sich das Judentum vom Heidentum scheidet. Nach der Shoah ist es nicht mehr möglich, daß der Einzelne sein Heil im einsamen tête-à-tête mit Gott findet. Gott verlangt nicht die Hingabe des Lebens im Dienst an ihm. Vielmehr macht er uns die Sorge um den anderen, um den Nächsten, zur Pflicht. Das Reich Gottes ist ein Reich des universalen Friedens. Gott ist gegenwärtig im Gebot der Brüderlichkeit. Der Bereich der Transzendenz ist der Bereich des anderen. Das Neue daran macht man sich klar, wenn man es mit der traditionellen Denkweise konfrontiert. Das traditionelle Denken orientiert sich an dem Gegensatz von Allgemeinem und Individuum. Das Göttliche hat vor allem die Form eines aus dem Jenseits kommenden Gebots, dem sich alles Einzelne zu unterwerfen hat. Dem Verstoß gegen das Gebot folgt der Ausstoß aus der Gemeinschaft. Das Gegenteil davon ist der moderne Individualismus. Er vergöttert den Einzelnen und stellt das Allgemeine in den Dienst des Das ist der Zusammenhang, in dem der Begriff der Apologie steht: vgl. TI 217 ff./TU 352. 73 So zumindest verstehen wir die zentrale These des Aufsatzes von S. Mosès, Rosenzweig et Lévinas: Au-delà de la guerre. 72

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Einzelnen. Entweder wird der Einzelne dem Allgemeinen subsumiert oder das Allgemeine dem Einzelnen geopfert. Für Lévinas hingegen entfaltet sich die Transzendenz als ein Verhältnis der Einzelnen untereinander. Sie spannt nicht mehr den Gegensatz Oben und Unten auf, sondern bewegt sich in der Horizontalen. Damit hält Lévinas an dem jüdischen Dualismus von Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz fest, verwandelt aber dieses Verhältnis zu einer Beziehung zwischen dem Subjekt und dem anderen. Als Quelle dieses Verständnisses nennt Lévinas das Judentum und die Rücksicht, die der andere nach dem Gesetz fordert. Die Alternative zum Judentum ist das Heidentum. Das Heidentum leugnet die Transzendenz des anderen; denn es stellt die Welt allein unter den Gesichtspunkt der Einheit und Totalität. Was den Kategorien, die die Totalität beherrschen, nicht gehorcht, wird entweder gleichgemacht oder ausgeschieden. Die Totalität kennt keine Andersheit, die gegen das Gesetz der Totalität eine Chance hätte. Das Andere der Totalität würde die Totalität in Frage stellen und ihren Anspruch auf Unbedingtheit aufheben. Dieser fundamentale Gegensatz zwischen Heidentum und Judentum, zwischen einem totalitären und einem die Transzendenz respektierenden Denken findet sich nun auch in der Philosophie wieder. Es ist der Gegensatz von Ontologie und Ethik. Ontologisch ist für Lévinas eine Philosophie, für die die Einheit mit dem Sein absoluten Vorrang hat und die dieser Einheit alles unterordnet. Die Ethik hingegen geht von der uneinholbaren Transzendenz des anderen aus. Wir können uns diese Unterscheidung historisch plausibel machen, indem wir auf die oben angestellten Überlegungen über den Anfang der Philosophie zurückkommen und daran anknüpfen. Die Philosophie beginnt mit dem Weltenzug. Darin offenbart sich der andere. Es entsteht die Forderung nach einer gemeinsamen, einer geteilten Welt, nach einer Welt, die den anderen nicht länger aus sich ausschließt. Das Ich muß seinen Platz räumen. Diesen Schock nimmt die Philosophie auf. Es sind zwei Wege, die ihr offenstehen. Der eine sucht den Verlust wieder gutzumachen, das Verlorene wiederzugewinnen. Die Philosophie, die entsteht, weil sich ihr das Sein entzogen hat, sucht sich im Sein wieder heimisch zu machen und die Fremdheit des anderen aufzuheben. Sie ist die wie auch immer zu verstehende Seinsfrage, Sorge um das Sein. Als solche ist sie Ontologie. Die andere Richtung hält an der Andersheit des anderen fest. Die Präsenz 42

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des anderen erlaubt ihr keine Totalisierung, keinen systematischen Abschluß und Ausschluß. Die Brüderlichkeit fordert die fundamentale Dualität des Selben und des anderen, die Endlichkeit des Selben, die Transzendenz des anderen. Dieser Philosophie geht es nicht um die Rückkehr ins Sein, sondern sie ist in Sorge um den anderen. Als Sorge um den anderen ist sie Ethik. So erläutern sich die Begriffspaare Immanenz – Transzendenz, Heidentum – Judentum, Ontologie – Ethik gegenseitig und bilden den Raum, in dem sich für Lévinas die europäische Philosophie bewegt und entwickelt. Der Rückfall in die Immanenz, in das Heidentum und in die mythische Existenz ist eine Bedrohung, die immer präsent war, der aber das 20. Jahrhundert nicht widerstanden hat.

§ 4 Die Absicht der Darstellung Die folgende Darstellung der Philosophie Lévinas’ in ihren Grundzügen hat bereits einen Vorgänger, nämlich das Buch »Emmanuel Lévinas. Denker des anderen« aus dem Jahre 1992. Zunächst war an eine Neuauflage des alten Buches gedacht und eine leichte Überarbeitung. Aber eine leichte Überarbeitung ist kaum möglich. So ist denn ein neues Buch daraus geworden. Der Grundriß des Buches wird nach wie vor bestimmt von der Einsicht, daß Lévinas’ Philosophie einer Entwicklung unterliegt. Daher hält auch das neue Buch vor allem an der Unterscheidung verschiedener Phasen im Denken Lévinas’ fest. Diese Entwicklung wird bestimmt durch den Umstand, daß der andere Mensch und die Verantwortung für ihn erst in einem zweiten Schritt ins Zentrum rücken. Wenn in seiner Philosophie das andere und die Transzendenz immer im Mittelpunkt standen, so hat Lévinas diese Transzendenz nicht immer als einen ethischen Überschritt verstanden. Ebenso unterliegen die Liebe sowie das Verständnis der Affektion bedeutenden Veränderungen. Das führt dazu, daß die Aussagen und Thesen jeweils nur in ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext zu lesen und aus ihm zu verstehen sind. Aber eine Neubearbeitung ist vor allem nötig geworden, weil sich der Schwerpunkt des Verständnisses verlagert hat. Lévinas’ Philosophie gehört nicht der Kategorie der philosophia perennis an, sondern verlangt den Blick auf die persönlichen und historischen Umständen, denen sich diese Philosophie verdankt. Gewiß ist die philosophia perennis ebenso unrealistisch wie die Rede von ewigen A

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Wahrheiten. Und ebenso gewiß muß jede Philosophie aus dem Kontext der Zeit und endlich auch aus der Situation des Philosophen verstanden werden. Für Lévinas aber gilt das in besonderem Maße. Seine Philosophie ist geprägt von den Erfahrungen der Juden im 20. Jahrhundert. Hat sich nicht Europa und ganz besonders Deutschland moralisch deklassiert und vernichtet? Wie ist nach der Verwüstung, geistig gesprochen, ein Weiterleben möglich? Nach welchen Leitlinien, welchen Standards? Das Buch sucht dem gerecht zu werden, indem es sich bemüht, den jüdischen Hintergrund von Lévinas’ Philosophie wenigstens sichtbar zu machen und sein Denken aus der Nähe zu den politischen Ereignissen zu interpretieren. Lévinas’ Philosophie bewegt sich durchaus im Rahmen der traditionnellen philosophischen Begriffswelt, so sehr, daß seine Texte – zumindest was die philosophischen betrifft – den Ruf haben, sehr sperrig zu sein. Aber sie sind nicht nur deswegen schwierig, weil sie sich auf hohem Abstraktionsniveau bewegen, sondern weil sich hinter ihnen etwas verbirgt, das sie sich scheuen auszusprechen. Das ist einerseits der jüdische Hintergrund. Lévinas hat die jüdischen und die philosophischen Schriften streng getrennt. In seinen philosophischen Arbeiten, die der folgenden Interpretation zugrundegelegt werden, bemüht er sich um eine rein philosophische Argumentation. Dennoch gewinnen sie ihre Bedeutung häufig erst, wenn man die jüdische Tradition mit bedenkt. Aber es ist noch etwas anderes, was unausgesprochen dahinter steht: nämlich die Shoah, die so tief verletzt hat, daß sie zwar in den Texten präsent ist und sich doch der direkten Darstellung widersetzt. Das verleiht den Texten die persönliche Aura und den großen Ernst, der von ihnen ausgeht. Der Respekt vor den traumatischen Erfahrungen, die in ihnen sichtbar werden, verbietet es im Prinzip, mit ihnen wie mit beliebigen anderen Texten umzugehen, über die diskutiert wird und die in Frage gestellt werden können. Das wird im übrigen auch durch den persönlichen Eindruck, den Lévinas vermittelte, bestätigt. Er diskutierte nicht. Er erklärte auch seine Thesen nicht, wenn man sie nicht verstand. Er war kein Mensch des Dialogs. Tritt man einer solchen Philosophie nicht zu nahe, wenn man sie aus diesem traumatischen Kontext herauslöst und radikal entpersonifiziert? Wenn Lévinas’ philosophische Texte – wie übrigens die auch noch anderer jüdischer Autoren – sich aus der Verständlichkeit verabschieden, so mag das die angeführten Gründe haben. Über die traumatischen Erfahrungen des Holokaust hinaus hat dieser Ab44

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§ 4 Die Absicht der Darstellung

schied sicher seine Ursache auch in der Unredlichkeit der heutigen öffentlichen Sprache und in ihrem manipulativen Charakter. Aber der Abschied aus der Verständlichkeit widerspricht dem Ethos der Philosophie. Die Philosophie hat eine öffentliche Aufgabe. Sie muß sagen, was ist. Sie ist nicht eine Wissenschaft wie die Physik, der es genügt, wenn ein paar Kompetente ihre Argumente einsehen. Die Philosophie muß auch verstanden werden. Als hermetische Wissenschaft verfehlt sie ihren aufklärerischen Beruf. Das ist die Überzeugung, die diese Interpretation leitet. Sie folgt dabei nur der Devise von Lévinas selbst. Denn es ist seine eigene Forderung, auch das Jenseits, das Unaussprechliche, auf Griechisch, in der Sprache der Philosophie, auszudrücken. 74 Die philosophische Sprache sieht sich zwei Gefahren ausgesetzt. Die eine besteht in der Entwicklung einer Fachsprache, die nur noch Initiierten zugänglich ist. Eine solche Philosophie droht in der Selbstbezüglichkeit zu ersticken. Die andere Gefahr ist die Verflachung und der Missbrauch zu Zwecken der Manipulation. Zwischen beiden hat die Philosophie eine Mitte zu halten.

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Vgl. Verset 232. A

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I. Die Dialektik der Zeit

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I. Die Dialektik der Zeit

§ 5 Die Idee der Freiheit und das Denken 5.1. Ausgangspunkt für Lévinas’ Philosophie ist die Krise Europas oder die Krise derjenigen Rationalität, die das Abendland seit der griechischen Antike beherrscht hat. Auf diese Krise sucht bereits das Heideggersche Denken eine Antwort im Begriff des Daseins und der Existenz, eine Antwort freilich, die Lévinas für unzulänglich hält; denn sie bleibt nach seiner Auffassung den traditionellen Kategorien und Denkweisen verhaftet. Daher erkennt Lévinas in Heidegger den Zeugen »einer Epoche und einer Welt, über die hinauszugehen uns vielleicht morgen möglich sein wird« 1 . So kommt es in diesem ersten Kapitel nicht nur darauf an, die Krise Europas und ihre Ausprägungen in politischer, wissenschaftlicher und philosophischer Form aus der Sicht Lévinas darzustellen, sondern zugleich den Ansatz für Lévinas eigene frühe Philosophie zu skizzieren. 5.2 In einem frühen Aufsatz aus dem Jahre 1934 2 hat Lévinas sich mit der geistigen und politischen Situation seiner Zeit auseinandergesetzt. Die alles beherrschende Erscheinung ist das Aufkommen des Nationalsozialismus. Er tritt die bis dahin herrschenden Ideale Europas mit Füßen. Was macht das geistige Europa aus? Worin unterscheidet sich seine Kultur von anderen Kulturen? Es ist die Idee der Befreiung des Subjekts aus den mythischen Zwängen, der Transzendenz über die geschlossene mythische Welt hinaus. Das mythische Leben kennt kein Subjekt, weil es keine Autonomie kennt. Es kennt keine Autonomie, weil es den Menschen nicht als eigenen Ursprung versteht, sondern ihn aus seiner Vergangenheit und seinem Schicksal deutet. Der mythische Mensch ist unfrei, weil er an das Gewesene, aus dessen Verstrickungen er sich nicht zu lösen vermag, gefesselt bleibt. Die Vergangenheit, »die Geschichte«, sagt Lévinas »ist die tiefste Beschränkung, die fundamentale Beschränkung« 3 . Diese Unfreiheit ist geknüpft an die Erfahrung der Unumkehrbarkeit der Zeit. Die Zeit fesselt den Menschen an die vergangenen Gegenwarten, die nicht rückgängig gemacht werden können, sondern als unausweichliches Schicksal gegenwärtig bleiben. Weil die Vergangenheit Macht hat über die Gegenwart, steht dem Menschen 1 2 3

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DEHH 89. Quelques réflexions sur la philosophie de l’Hitlérisme, Herne 154–160. Herne 154.

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§ 5 Die Idee der Freiheit und das Denken

keine wirkliche Zukunft, keine Hoffnung der Erneuerung offen. Die mythische Zeit wälzt sich fort als ewige Wiederkehr desselben, als der Schein einer Bewegung, die in Wahrheit auf der Stelle tritt. Die Ohnmacht vor der Zeit macht die Schwermut des menschlichen Lebens aus; sie verfolgt die Griechen als »das Tragische der Moira«, als die »Fessel einer Vergangenheit, die fremd und brutal ist wie ein Fluch« 4 . »Hinter der Melancholie des ewigen Strömens der Dinge, der illusorischen Gegenwart des Heraklit, verbirgt sich die Tragödie der Unbeweglichkeit einer nicht auszulöschenden Vergangenheit, die das neue Tun dazu verurteilt, nur Fortsetzung zu sein.« 5 Zeit im eigentlichen Sinne kennt die mythische Welt nicht; denn sie kennt keine wirkliche Erneuerung. 5.3 Der tragischen Fesselung an die Vergangenheit stellt der Europäer die Idee der Freiheit entgegen. Der Mensch ist in der Lage, sich über den Strom der Ereignisse und der Zeit zu erheben. Er läßt sich nicht mehr von dem Geschehen bestimmen, sondern übernimmt für sich selbst die Verantwortung. Damit wird er auch Herr über die Geschichte. Er ist nicht mehr an das Geschehen gefesselt, sondern steht jenseits der Geschichte. »Absolut gesprochen hat der Mensch keine Geschichte.« 6 Diese Idee der Freiheit, die sowohl dem Judentum als auch der griechischen Philosophie eigen ist, wird vom Christentum aufgenommen und weitergetragen. Sie spiegelt sich in dem philosophischen wie christlichen Gedanken der Trennung der Seele vom Leib. Die Seele ist das Organ der Freiheit; sie bricht das Gefängnis des Leibes auf. »Der christliche Begriff der Seele« entspringt der »unendlichen Freiheit von jeder Fessel« 7 . Die Seele ist das Vermögen, sich von allem, »was gewesen ist« 8 , abzulösen. Sie steht damit im Gegensatz zum Leib als der Unmittelbarkeit des Sinnlichen und »der elementaren Gefühle« 9 . Auch in der Neuzeit pflanzt sich der Gedanke der Freiheit fort. Der Liberalismus spricht dem Menschen kraft seiner Natur und nicht mehr allein als geschichtlichen Erwerb die Freiheit zu. Für ihn ist die Freiheit unverlierbarer Teil seines Wesens; er verkennt den Kampf, den die historische Menschheit hat kämpfen 4 5 6 7 8 9

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müssen und den jeder Mensch erneut zu bestehen hat, um den Mythos in sich zu überwinden. »Der Liberalismus verbirgt sich den dramatischen Aspekt dieser Befreiung.« 10 Dennoch bewahrt er von der konstitutiven Idee Europas »das wesentliche Element in Gestalt der souveränen Freiheit der Vernunft« 11 . Sogar der neuzeitliche Materialismus bleibt dieser Tradition treu, mag es zunächst auch so scheinen, als bestehe zwischen der Idee der Freiheit und dem Prinzip des Materialismus ein Widerspruch. Was den mechanistischen Materialismus der Franzosen des 18. Jahrhunderts betrifft, so hebt ihn bereits seine rationalistische Intention auf. »Was bleibt vom Materialismus, wenn die Materie ganz von Vernunft durchdrungen ist?« 12 Marx seinerseits bemüht sich, den Menschen ihre soziale Situation ins Bewußtsein zu heben, um sie von dem »Fatalismus, der mit ihr gegeben ist,« 13 zu befreien. In den Augen Husserls schließlich »erscheint die Philosophie … ebenso unabhängig von der historischen Situation, wie die Theorie, die alles sub specie aeternitatis zu betrachten sucht« 14 . 5.4 Wie aber gelingt dem europäischen Menschen die Befreiung aus der Abhängigkeit der Zeit? Lévinas verfügt zunächst noch nicht über eine einheitliche Theorie zur Beantwortung dieser Frage. Gemäß dem Aufsatz von 1934 geschieht die Befreiung als Erlösung aus der Schuld. »Die wahre Freiheit«, schreibt Lévinas, »der wahre Anfang würde eine wahre Gegenwart verlangen, die, immer auf dem höchsten Punkt eines Geschicks, dieses immer neu beginnen würde.« Sodann fährt der Text fort: »Diese großartige Botschaft bringt das Judentum. Der Gewissensbiß – der schmerzliche Ausdruck der radikalen Unfähigkeit, das Irreparable wieder gutzumachen – kündigt die Reue an, die ihrerseits die wiedergutmachende Vergebung erzeugt.« 15 Es ist die Vergebung, die den Menschen aus der mythischen Gefangenschaft befreit. Sie liegt freilich nicht in der Macht des Schuldigen, sondern wird ihm von Außen gewährt. Es ist kein anonymes Schicksal, das den Menschen gefangen hält; Gefangenschaft meint vielmehr die Verlassenheit im Zustand der Sünde, aus dem es 10 11 12 13 14 15

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Herne 155. Herne 155. Herne 156. Herne 156. ThI 220. Herne 155.

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§ 5 Die Idee der Freiheit und das Denken

keine Befreiung aus eigener Kraft gibt. Es sind religiöse Kategorien, die das Verständnis der Gefangenschaft im Mythos und die Befreiung aus ihr leiten. Die Freiheit des Menschen hat ihren Grund in der Beziehung zu einem anderen. Anders als in dem angeführten Aufsatz aus dem Jahre 1934 treten in der frühen Nachkriegszeit die religiösen Kategorien nahezu vollständig zurück zugunsten säkularer Begriffe. Nun sind es vor allem philosophische Theorie und Wissenschaft, denen ein autonomes Subjekt seine Befreiung verdankt. Nichts anderes macht den Sinn von Philosophie und Wissenschaft aus als die Befreiung des Subjekts aus der Geschichte. Die Wissenschaft macht frei; denn sie »garantiert die absolute Äußerlichkeit des Menschen im Verhältnis zu sich selbst«. 16 Indem die Theorie das Subjekt aus der Verhaftung im Unmittelbaren und damit aus der Abhängigkeit vom Sinnlichen entläßt, schafft sie überhaupt erst ein Subjekt, das, vom Wandel unberührt, auch in der Veränderung es selbst bleiben kann. Der Sammelbegriff für diese Bewegung der Befreiung ist der Idealismus, seine philosophischen Hauptrepräsentanten sind Platon und Descartes. Platon ist der Entdecker des Gegensatzes von sinnlicher und idealer Welt. Die sinnliche, dem Werden unterworfene Welt ist nur, was sie ist, weil sich in ihr Muster und Gesetze, die sog. Ideen, abbilden, die selbst nicht sinnlicher Natur sind. Sie können allein mit einem nichtsinnlichen Organ, nämlich der Vernunft und dem Denken, erfaßt werden. Die Philosophie, die ihr Interesse vor allem den Ideen zuwendet, verlangt vom Menschen, daß er sich aus der Welt der Sinne und der Körper verabschiedet, um »aufzusteigen« zu den ewigen und unveränderlichen Ideen. Platon ist im Bereich der Philosophie der Begründer eines Dualismus, der später in Beziehung gesetzt werden konnte zu dem religiösen jüdisch-christlichen Dualismus von geschöpflicher Welt und Schöpfungstat. Die Trennlinie zwischen sinnlicher Welt und Welt der Ideen spaltet nicht nur die vormals eine mythische Welt in zwei Bereiche, sondern geht auch mitten durch den Menschen hindurch. Der Mensch ist ein Kompositum aus Leib und Seele, aus Sinnlichkeit und übersinnlicher Vernunft. Aber erst die Erkenntnis der Idealität der Ideen und ihrer Unabhängigkeit vom Materiellen öffnet dem Menschen die Augen über seine eigene Dualität. Im Menschen ist etwas, was den Ideen verwandt ist und ihm Zugang zu ihnen ver16

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schafft. Es ist die Vernunft, die Fähigkeit zu denken. Im Denken gewinnt der Mensch nicht nur Zugang zu den Ideen, sondern erhebt sich über die eigene materielle Existenz. Er wird sich selbst zum Objekt einer theoretischen Betrachtung. In diesem Sinne spricht Lévinas von dem »alten« – idealistischen – »Begriff des Denkens – wie er seit Platon die Philosophie beherrscht – Denken als Bestimmung des endlichen Seienden im Verhältnis zum Unendlichen oder zum Vollkommenen« 17 . Es ist eine und dieselbe Bewegung, die dem Menschen das Unbedingte oder absolut Vollkommene erschließt und ihn sich selbst in seiner materiellen Endlichkeit begreifen läßt. Nur aus einer Perspektive jenseits seiner Endlichkeit – also aus der der Unendlichkeit – vermag der Mensch seiner Endlichkeit inne zu werden. »Der Gedanke des Endlichen ist schon der Gedanke des Unendlichen«, schreibt Lévinas. »Descartes hat Recht.« 18 Die Philosophie als Bewegung der Transzendenz über die endliche Bedingtheit hinaus mit dem Blick auf das Unendliche ist für den jungen Lévinas idealistisch. Der Idealismus seinerseits »ist im tiefsten platonisch und cartesisch … Der Mensch geht über sich hinaus (l’homme se domine) in dem Maße, in dem er sich selbst in ein Verhältnis zum Vollkommenen setzt.« 19 Dies ist der Hintergrund, vor dem auch die cartesische Formel vom Menschen als res cogitans neu interpretiert wird. Descartes’ Philosophie hebt mit einem radikalen Zweifel an. Am Ende stellt Descartes sich selbst die Frage: »Was also bin ich denn?« Und er gibt sich die Antwort: »Eine Sache, die denkt.« 20 Heidegger hat später diese Dualität von Sein und Denken kritisiert: Das Sein, so versteht ihn Lévinas, fällt mit dem Denken zusammen. Lévinas hingegen hält an dieser Dualität fest; für ihn verknüpft sie sich mit der Dualität von endlicher Existenz und Denken des Unendlichen. Descartes weiß sich als Geschöpf Gottes, dem der Schöpfer sein eigenes Bild, die Idee des Unendlichen, eingeprägt hat, wie der Töpfer einem Produkt sein Sigel aufdrückt. »Schon aus dem einzigen Umstand, daß Gott mich geschaffen hat, ist sehr glaubhaft, daß er mich gewissermaßen nach seinem Bild und Gleichnis hergestellt hat, und ich begreife diese Ähnlichkeit (in der die Idee Gottes enthalten ist) durch dieselbe Fä17 18 19 20

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DEHH 105/SpA 77. DEHH 101–2/SpA 71. DEHH 96/SpA 62. R. Descartes, 278 (2. Meditation).

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§ 6 Die Kritik am Denken: Der Nationalsozialismus

higkeit, durch die ich auch mich selbst begreife.« 21 Der Unterschied zwischen der endlichen Existenz und dem Unendlichen begründet den Unterschied von res und cogitare. »Die Bedingung der Existenz« – das im cogitare berührte Unendliche – »unterscheidet sich von der Existenz selbst. Das eine ist unendlich, das andere endlich … Das Entscheidende ist, daß das Denken, das die ganze Existenz des cogito ausmacht, doch zu dieser Existenz hinzutritt, indem es sie an das Absolute bindet. Dadurch ist die menschliche Existenz nicht Denken, sondern eine Sache, die denkt.« 22 Der Vorrang, den Lévinas der dualistischen Philosophie von Platon und Descartes einräumt, wird verständlich vor dem Hintergrund einer religiösen Überzeugung, die die Welt als bloßes Geschöpf von der göttlichen Offenbarung unterscheidet, die also eine radikale Differenz zwischen dem Geschöpf und dem Schöpfer sieht. Diesseits und Jenseits sind letzte Gegebenheiten, die nicht miteinander vermittelt oder gar zu einer Einheit gebracht werden können.

§ 6 Die Kritik am Denken: Der Nationalsozialismus 6.1 Die Idee der Freiheit vom Sein kraft des Denkens, wie sie sich im Idealismus manifestiert, zeigt sich im 20. Jahrhundert als eine Sackgasse. In der Tat erweist sich der Anspruch der Theorie, das Medium der Transzendenz und Befreiung zu sein, als uneingelöst. Das 20. Jahrhundert macht »die Erfahrung der Ohnmacht des Denkens über die Existenz, des Unvermögens der Vernunft über die Seele, des Scheiterns des Anspruchs des Phaidon, über die Todesangst zu triumphieren« 23 . Lévinas wiederholt damit eine Erfahrung, von der schon Rosenzweig ausgegangen war und die als der Zusammenbruch des Idealismus bezeichnet wird. Worin aber liegt die Ursache für dieses Scheitern? Was hat es mit dem Denken auf sich, daß es zunächst die Hoffnung auf eine Befreiung, gar die Illusion der vollendeten Freiheit nähren kann, um schließlich die Erwartungen nur umso herber zu enttäuschen? Wenn die europäische Identität an das Vertrauen in die Kraft des Denkens geknüpft ist, so muß sich der Zweifel an den

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R. Descartes, 300, teilweise zitiert bei Lévinas DEHH 97. DEHH 98/SpA 65. DEHH 106/SpA 79. A

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Möglichkeiten des Denkens als eine Krise Europas auswirken. Die Analyse der Krise Europas fordert daher eine Analyse des Denkens. Für Lévinas ist das Scheitern der leitenden europäischen Ideale vor allem in drei Formen sichtbar: politisch im Nationalsozialismus, wissenschaftlich in der Ethnologie und philosophisch in der Phänomenologie. Ihnen wenden wir uns nacheinander zu. 6.2 Das Denken gerät in eine Krise, weil es den Menschen vom unmittelbaren Leben und von der Geschichte abkoppelt. Die wesentliche Aufgabe des Denkens ist es, das Sein sichtbar zu machen, es als Gegenstand vor uns zu bringen, es vorzustellen. Allein, dadurch schafft das Denken auch eine Distanz zwischen dem Menschen und dem Sein. Da die Vorstellung Sein nur als Objekt zuläßt und das Objekt dem Subjekt in einer theoretischen Distanz gegenübersteht, hört das Subjekt auf, selbst ein Vollzug des Seins zu sein. Von dem Sein, dem es gegenübersteht, weiß es sich ausgeschlossen. Das Philosophieren selbst steht im Gegensatz zum Sein; es ist grund- und bodenlos, da ihm das Sein nur noch in der Verwandlung durch die theoretische Distanz zugänglich ist. Das theoretische Subjekt hat alles Sein in sich und seinem Denken aufgehoben; es ist selbst nicht mehr Vollzug des Seins. Zugleich bleibt das Subjekt gefangen im Bannkreis des Denkens und seiner Kategorien, in die nichts anderes eindringt. Der Mensch schafft sich sein eigenes Gefängnis. Das Gefühl der Ohnmacht vollendet sich in der Elimination der Zeit. Die Zeitlosigkeit des Denkens, das es nur mit zeitlosen Begriffen zu tun hat, wird zum ohnmächtigen Auf-der-Stelle-Treten, zur mühlenartigen Wiederholung desselben, die das Neue a priori ausschließt. Damit entwickelt sich das Denken zum Widerpart des Lebens, zu einem Mechanismus, der das Leben austreibt; der Geist wird, nach einem bekannten Titel, zum »Widersacher der Seele«. Zum neuen Zauberwort wird nun der Begriff des Lebens; gesucht wird das Erlebnis, das je anders, je neu, je überraschend zu sein vermag. Zum Leben gehört nicht nur die Gefahr, der Tod, kurz die Zeit, das anders und anders; vielmehr ist es uns auch nicht mehr im Denken gegeben, sondern in der erlebten Unmittelbarkeit; im Affekt, in Gefühl und Emotion haben wir es voll. Im Denken sind wir einsam, ausgeschlossen aus dem Sein; das erlebte Leben gibt uns dem Sein zurück. Die Flucht vor der Einsamkeit erfindet sich eine neue Devise: Zurück ins Sein! Die Teilhabe am Sein soll das Gefängnis der Subjektivität auf54

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§ 6 Die Kritik am Denken: Der Nationalsozialismus

brechen. Das Grundproblem für das europäische Denken ist nicht länger die Frage, wie das Subjekt über das Sein hinausgelange, sondern wie es zum Sein zurückfinde. 6.3 Zu der Abschnürung des Subjekts vom Sein als zeitlichem Leben kommt der Mangel an Orientierung und die Bodenlosigkeit des theoretischen Subjekts. Der anfänglichen Intention nach hebt die Freiheit den Menschen aus der mythischen Totalität der Gesellschaft heraus; sie stellt ihn auf sich selbst. Aber weil sie ihn vereinzelt, nötigt sie ihn auch zur Übernahme der Verantwortung. »Der Mensch ist frei und einsam vor dieser Welt.« 24 »Diese Freiheit macht die ganze Würde des Denkens aus, aber«, so fährt Lévinas fort, »darin verbirgt sich auch die Gefahr für sie« 25 ; denn wenn das denkende Subjekt sich aus der Unmittelbarkeit des Sinnlichen losmacht, so verliert es mit der Unmittelbarkeit Halt und Orientierung. Hatte es sich bisher immer schon ausgekannt in der Welt, hatte es »gefühlsmäßig« und »instinktiv« das Richtige zu tun gewußt, so wird es nun in der Orientierungslosigkeit von einem Schwindel ergriffen, der ihm Hören und Sehen vergehen läßt. Er tappt umher, wie ein Mensch, der »einsam und in der Finsternis« 26 seinen Weg verloren hat. 6.4 Zugleich kann der Abstand zum Sein, dem das Subjekt sich verdankt, zum Spielraum für die bloße Willkür werden, zur Fassade, hinter der das Subjekt sich versteckt. Indem das Subjekt aus dem Sein heraustritt, hat es keine eindeutige Identität mehr. Vielmehr hat es die Freiheit der Wahl; es entscheidet sich selbst, dieses oder jenes zu sein. Der Rückzug des Subjekts aus dem Sein hat eine zweifache Bedeutung: Einerseits verliert das Subjekt den Halt am Sein, seine Identität; anderseits aber kann sein Verschwinden auch der letzte Ausweg zu seiner Rettung sein. So verwandelt seine List den Odysseus in Niemand und läßt ihn aus der Höhle des Polyphem entkommen. 27 Der Mensch ist nicht mehr einfach, was er ist, sondern er kann auswählen, als was er erscheinen will. Er kann sein Sein manipulieren. Die Welt wird ihm zum Feld beliebiger Möglichkeiten. Daß es Herne 158. Herne 158. 26 R. Descartes, 136. 27 Homer, Odyssee 366; vgl. dazu Horkheimer/Adorno, Die Dialektik der Aufklärung, 75. 24 25

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keine Verbindlichkeit mehr gibt, hält man am Ende für die Freiheit selbst, die man gegen jede Verpflichtung glaubt verteidigen zu müssen: »Der Mensch gefällt sich in seiner Freiheit und identifiziert sich mit keiner Wahrheit endgültig. Seine Fähigkeit zu zweifeln verwandelt er in Gesinnungslosigkeit. Keiner Wahrheit verpflichtet zu sein, führt dazu, daß er sich weigert, seine Person in der Schöpfung der geistigen Werte einzusetzen.« 28 Die Menschen genießen die kulturellen Errungenschaften, die ihnen zu Selbstverständlichkeiten werden, ohne Verständnis für die harten Kämpfe, in denen sie errungen wurden. Wenn der Liberalismus die Freiheit für eine natürliche Ausstattung des Menschen hält, so ignoriert er, daß es sich um einen historischen Sieg handelt, der der Natur abgetrotzt werden mußte. Niemand mehr ist er selbst, jede Entscheidung gilt nur für den Augenblick und ist revozierbar. »Die unmöglich gewordene Aufrichtigkeit setzt auch jedem Heldentum ein Ende. Die Zivilisation ist durchdrungen von allem, was nicht eigentlich ist, sie ist durchdrungen von Scheinproblemen und Lösungen, die den Interessen und der Mode unterworfen sind.« 29 6.5 Damit zeigt sich, daß in dem Maße, in dem das Denken als bloßer Intellekt sich aus der Wirklichkeit herausstiehlt und zu ihr auf Distanz geht, an der theoretischen Einstellung die negativen Seiten hervortreten: die Beliebigkeit und Unverbindlichkeit, der Mangel an festen Orientierungen, die Möglichkeit des Mißbrauchs für sachfremde Interessen, kurz das, was man mit einem negativen Akzent als Intellektualismus kritisiert. Dem gegenüber entsteht die Forderung nach Aufhebung des Scheins, nach »Aufrichtigkeit und Eigentlichkeit« 30 , nach einer neuen Verwurzelung im Sein und im Wirklichen. In diesem Willen zur Rückkehr ins Sein erkennt Lévinas eine »Konzeption, die in der Tat dem europäischen Begriff des Menschen entgegengesetzt« 31 ist. Geht die europäische Idee des Menschen um der Möglichkeit der Transzendenz willen, wie bei Platon, von einer Dualität im Menschen aus, von der Trennung von Leib und Seele, oder gar, wie im Idealismus, vom unbedingten Vorrang des Geistes 28 29 30 31

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§ 6 Die Kritik am Denken: Der Nationalsozialismus

vor dem Körper, so kann dem, was Lévinas das »germanische Ideal des Menschen« 32 nennt, nur Genüge geschehen, wenn das Denken in das Sein des Menschen hineingenommen wird und mit ihm zusammenfällt. Sein und Denken dürfen nicht zweierlei sein, das Sein darf nichts dem Denken Äußerliches bleiben, sondern muß den einigen Grund des Menschen ausmachen. 33 Der Mensch ist sein Denken, und das Denken ist nur ein Modus seines Seins. Im germanischen Ideal geht die Idee der Freiheit, der Transzendenz über das Sein hinaus, unter. Zu der Identifikation des Menschen mit seinem Sein gehört, daß nicht nur das Denken ins Sein eingelassen wird, sondern auch das Sein das Denken bestimmt. Nur um den Preis des Verzichts auf die Freiheit gewinnt der Mensch das Sein zurück. Dasjenige aber, was der Mensch immer schon ist und wovon er sich nicht freimachen kann, ist sein Leib. So sehr die Tradition auf der Trennung der Seele vom Leib bestand und jene höher achtete als diesen, so sehr finden wir doch auch in uns »das Gefühl der Identität« 34 mit ihm. Mit dem Leib verbindet uns eine »Zugehörigkeit, der man nicht entkommt und es gibt keine Metapher, die uns diese Zugehörigkeit mit der Gegenwart eines äußeren Gegenstandes verwechseln ließe: Das ist eine Einheit, deren tragischen Geschmack der Endgültigkeit nichts mildern kann.« 35 Wenn nun das Sein des Menschen am meisten faßbar wird an seiner leiblichen Existenz und den damit gegebenen Abhängigkeiten, verlangt die Rückführung des Denkens auf das Sein die Bindung an den Leib. Daher muß gelten: »In der Fesselung an den Leib besteht das ganze Wesen des Geistes. Ihn von den konkreten Formen, in die er schon eh und je eingegangen ist, zu trennen, bedeutet Verrat an der Ursprünglichkeit des Gefühls, von dem man auszugehen hat.« 36 Die Philosophie des Hitlerismus sieht in dieser Bindung nicht eine Fessel; für sie handelt es sich vielmehr darum, diese Bedingung zu bejahen und in ihr das Prinzip des eigenen Lebens zu sehen. »Wahrhaft man selbst zu sein … heißt, diese Fesselung zu akzeptieren.« 37 Umgekehrt, eine Existenz unabhängig von den leiblichen Bindungen und dem Erbe des Blutes zu fordern, wird zum Verrat an 32 33 34 35 36 37

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der eigenen Bestimmung. Es kommt darauf an, die »geheimnisvollen Stimmen des Blutes, den Anruf des Erbes und der Vergangenheit« 38 zu vernehmen. Die Einheit der Gesellschaft beruht nicht mehr auf der Übereinkunft Freier, sondern auf der Gemeinsamkeit des Blutes. 39 Statt der Trennung von Leib und Seele verschmelzen beide zu einem solchen Amalgam, daß das Denken nichts anderes ist als der Vollzug des Seins. Diese Identifikation der Seele mit dem Leib, des Denkens mit dem Sein, ist die Antwort auf die Probleme der Vorstellung sowie eines Denkens, das sich autonom dünkt.

§ 7 Die Kritik am Denken: Die Anthropologie 7.1. Der Hitlerismus ist ein deutsches Phänomen. Daher bringt er es auch nicht zu einem universalen, sondern allein zu einem germanischen Ideal, einem Ideal germanischen Urprungs für die neuen Germanen. Philosophie des Hitlerismus? Liegt darin nicht der Widerspruch, einer Ideologie den Rang der Philosophie zuzubilligen? Dieser Einwand jedenfalls ist gegen den Titel erhoben worden. Aber nicht nur die Ideologie des Hitlerismus reduziert den Menschen auf sein perspektiv- und transzendenzloses, auf sein physisches Dasein. In die gleiche Richtung geht die empirische Wissenschaft in Gestalt gewisser Strömungen der Ethnologie. Seit E. Durkheim ist die französische Soziologie auf das engste mit der Ethnologie verbunden und zielt auf eine umfassende Anthropologie. Daher ist es konsequent, wenn Lévi-Strauss nach amerikanischem Vorbild für sich den Titel eines Anthropologen in Anspruch nimmt. Für die Richtung, auf die sich Lévinas bezieht, ist vor allem L. Lévy-Bruhl und seine Theorie der »mentalité primitive« repräsentativ. 40 7.2. Die Darstellung der Mentalität der Primitiven stellt eine Tradition infrage, die von Aristoteles bis zu Hegel unbestrittene Geltung besaß. Die Philosophie richtete sich immer auf die Frage nach dem, was ein Seiendes ausmacht, also nach dem, was wir voraussetzen, wenn wir ein Seiendes als ein Seiendes ansprechen. Diese allHerne 157. Herne 158. 40 Vgl. den Aufsatz »Lévy-Bruhl et la philosophie contemporaine«, in: EN 53 sq./ZU 56 ff.; von Lévy-Bruhl vgl. La mentalité primitive. 38 39

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§ 7 Die Kritik am Denken: Die Anthropologie

gemeinsten Voraussetzungen wurden als Kategorien bezeichnet. Zu den wesentlichen Voraussetzungen eines Seienden gehört nicht nur, daß es in Raum und Zeit lokalisierbar ist, sondern in sich selbst eine gewisse Abgeschlossenheit und Beständigkeit hat und zugleich in Kausal- und Wechselbeziehungen mit anderen Seienden steht. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Beständigkeit oder Substanzialität. Der Gedanke eines beständigen, in sich ruhenden und von anderen unabhängigen Seins wird durch die distanzierende Vorstellung möglich. Die Distanz besteht vor allem darin, daß das Subjekt die Weise, wie das Ding den Menschen unmittelbar sinnlich anspricht, nicht für das Ding selbst hält. Das Ding an sich selbst einerseits und seine Weisen zu erscheinen anderseits werden unterschieden. Das Ding selbst ist die Substanz, die im Wechsel der Erscheinungen konstant bleibt. Ebenso läßt die Vorstellung das Subjekt hinter die unmittelbaren emotionalen Bezügen zurücktreten und begründet so den Gedanken des Subjekts als eines Identischen, das, selbst unverändert, allen Veränderungen zugrundeliegt. Die Substanz ist der Träger des Seins 41. »Unter der Vorstellung hat man die theoretische, betrachtende Einstellung zu verstehen.« 42 Der theoretische Charakter der Vorstellung impliziert, daß ihr sowohl das Fühlen als auch der Wille nachgeordnet sind. Ich muß einen Gegenstand erst vorstellen, bevor er eine positive oder negative Gefühlsreaktion evozieren kann; der Wille kommt erst zu einem Entschuß, wenn er sich über seinen Gegenstand Klarheit verschafft hat. 43 Vom Subjekt selbst und seinem vorgestellten Korrelat heißt es, es sei »ein gesetztes, festes Seiendes, das unabhängig ist vom Anblick, den es bietet.« 44 7.3. Dieser nahezu zweieinhalbtausendjährigen durch die Philosophie sanktionierten Tradition wird nun ein neues Seinsverständnis entgegengesetzt, das Lévinas mit dem Terminus »Partizipation« bezeichnet. Diesen Ausdruck entnimmt er der Theorie Lévy-Bruhls, der damit die Verfassung der »primitiven Seele« charakterisiert. Die Partizipation ist die neu entdeckte »Verbindung« des »Subjekts« zum EN 54/ZU 57–58: »… la représentation qui fondait toute la vie psychologique et … la substance qui supportait l’être …«; »Vorstellung« übersetzt den französischen Ausdruck »représentation«. 42 EN 56/ZU 59. 43 Vgl. EN 56/ZU 59. 44 EN 56/ZU 59. 41

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»Objekt«. Auf der Seite des ehemaligen Subjekts tritt an die Stelle der Vorstellung das Gefühl, der Affekt, und zwar eine Affektivität, die nicht mehr getragen wird von einer Vorstellung, sondern gewissermaßen reiner Affekt ist. Damit ändert sich auch der vormalige »Gegenstand«. Das Korrelat des reinen Affekts ist nicht mehr ein Ding, ein Seiendes, sondern etwas Atmosphärisches, Numinöses. Unter der Voraussetzung der Partizipation ist es nicht mehr so, daß wir zunächst zu Seienden in Kontakt treten, die dann diese oder jene Gefühle in uns auslösen und bestimmte Anmutungscharaktere zeigen. Vielmehr wird die Partizipation zur fundamentalen Beziehung und geht der Subjekt-Objekt-Beziehung voraus. Wir gehen nicht mehr davon aus, »›daß die Seienden zunächst gegeben sind und darauf in Partizipationen eintreten‹. Für das Individuum ›ist die Partizipation eine Bedingung seiner Existenz, vielleicht die wichtigste, die wesentlichste … Für diese Mentalität heißt existieren, an einer Kraft, an einer Wesenheit, an einer mystischen Wirklichkeit teilhaben …‹.« 45 Und schließlich: »›Sein heißt teilhaben.‹« 46 Das Entscheidende an der Teilhabe ist der Verlust des Abstandes, der das vorstellende Subjekt vom vorgestellten Gegenstand trennt. Dieser Abstand garantiert dem Subjekt eine gewisse Autonomie und Freiheit vom Sein und zugleich eine Herrschaft über es. Denn zwischen das Subjekt und das Sein tritt der Begriff, dem das Sein untergeordnet wird. Von der Affektivität hingegen, die die Teilnahme kennzeichnet, heißt es: »Das Fühlen … ist eine Art, einer Macht zu unterliegen … Keinerlei kontemplatives Bild schiebt sich zwischen diese Macht und den Menschen.« 47 7.4 Diese Teilhabe erfüllt nun nichts anderes als den Begriff der Existenz. »Wenn die erste Erfahrung des Seins auf der Ebene der Emotion stattfindet, so ist das äußere Seiende der Form« – des Begriffs oder des kontemplativen Bildes – »entkleidet; die Form sicherte dem Denken die Vertrautheit mit dem Seienden. So findet sich das Subjekt vor einem Äußeren, dem es ausgeliefert ist; denn das Äußere ist absolut fremd, d. h. unvorhersehbar und damit einzig. So ist der Charakter der Einzigkeit, der Gattungslosigkeit der Situationen und Augenblicke, ihre nackte Existenz das große Thema der Modernen. 45 46 47

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EN 59/ZU 62. EN 59/ZU 62. EN 62/ZU 65.

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§ 7 Die Kritik am Denken: Die Anthropologie

Das Ich seinerseits, das so dem Sein ausgeliefert ist, wird aus sich herausgeworfen in ein ewiges Exil; es verliert die Herrschaft über sich, ist von seinem Sein selbst überflutet. Es wird zur Beute von Ereignissen, die es schon eh und je bestimmt haben.« 48 Die Auflösung der Substanz im Sein, die Aufhebung der Differenz von verharrender Substanz und Akzidenz, ist zugleich das Ende des Subjekts im traditionellen Verstand. Wenn die Subjektivität an die Substanzialität gebunden ist und diese sich nur als verharrende Einheit in der Überwindung der Zeit bildet, löst sich mit dem Aufgehen des Denkens in das Sein qua Zeit das Subjekt auf. Die Auflösung des Subjekts vollzieht sich als die Ablösung von einer Tradition, die bis Kant in Geltung war. Auf die Einsamkeit des theoretischen Subjekts, das allein auf sich und seine Freiheit gestellt ist, reagiert das Denken des 20. Jahrhunderts mit der Rückkehr zu mythischen Lebensformen: »Die Erneuerung der Mythologie, die Erhebung des Mythos in den Rang eines überlegenen Denkens seitens der Laiendenker, der Kampf auf dem Gebiet der Religion gegen das, was man einst die Spiritualisierung des Dogmas und der Moral genannt hat, verrät mehr als nur eine Erweiterung der Vernunft: nämlich die schlichte und einfache Rückkehr zur Mentalität der Primitiven.« 49 Im Begriff der Mentalität – wie übrigens schon in Husserls Begriff der Einstellung – zeigt sich eine eigentümliche Bivalenz des menschlichen Geistes. Hielt noch Kant daran fest, daß die Formen der Anschauung und die Kategorien des Denkens für jedes menschliche Weltverhalten Geltung haben, so zeigt der Begriff der Mentalität an, daß es Alternativen gibt. »Der Begriff der Mentalität besteht in der Behauptung, daß der menschliche Geist nicht nur von einer äußeren Situation – Klima, Rasse … – abhängt, sondern daß er in sich selbst Abhängigkeit ist, daß er aus der ambivalenten Möglichkeit auftaucht, sich den begrifflichen Beziehungen zuzuwenden oder in den Beziehungen der Teilhabe zu verharren.« 50 In welchen Seinsverhältnissen der Mensch lebt, ist seinem eigenen Vermögen anheimgestellt. In der Gegenwart fällt diese Entscheidung zugunsten des Mythos aus.

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EN 62/ZU 66. EN 67/ZU 71. EN 65–6/ZU 69; kursiv von mir. A

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7.5 Wir haben uns in der Darstellung im wesentlichen an dem Aufsatz über Lévy-Bruhl orientiert. Aber das Ergebnis will durchaus als allgemeines verstanden und auf die wesentlichen Strömungen in der Ethnologie bzw. Anthropologie bezogen werden. Wenn Emile Durkheim in seinem Epoche machenden Werk über »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« die Grundlagen allen religiösen Lebens überhaupt am Beispiel der primitiven Religionen beschreibt, antwortet ihm Lévinas: »Die Unpersönlichkeit des Sakralen in den primitiven Religionen, das für Durkheim der ›noch‹ unpersönliche Gott ist, aus dem eines Tages der Gott der entwickelten Religionen entstehen wird, – diese Unpersönlichkeit beschreibt ganz im Gegenteil eine Welt, in der nichts das Erscheinen eines Gottes vorbereitet … Die Primitiven sind absolut vor der Offenbarung, vor dem Licht.« 51 Ein – aus seiner Perspektive – geradezu vernichtendes Urteil fällt Lévinas über den großen zeitgenössischen französischen Anthropologen Lévi-Strauss. Zentraler Angriffspunkt ist Lévi-Strauss’ Hypothese, »daß alle Zivilisationen gleichviel wert sind.« Lévinas fährt nun fort: »Der moderne Atheismus, das ist nicht die Verneinung Gottes. Das ist der unbedingte Indifferentismus der Traurigen Tropen 52 . Meines Erachtens ist dieses Buch das am meisten atheistische Buch, das in unseren Tagen geschrieben wurde, das absolut desorientierte und desorientierendste Buch.« 53 In »Humanismus des anderen Menschen« kommt Lévinas auf Lévi-Strauss zurück: »Die neueste Ethnographie, die zugleich die kühnste und einflußreichste ist … ist vielleicht der moderne Ausdruck des Atheismus.« 54 Wenn Lévy-Bruhl noch einen Unterschied zwischen der Mentalität der Primitiven und dem europäischen Denken zuläßt, so reduziert der Strukturalismus Cl. Lévi-Strauss’ alles Denken überhaupt auf eine gemeinsame Struktur. Unterschiede sind nur scheinbar. Am Ende wird der Kreis noch einmal erweitert. Das Verdikt trifft nicht allein die Ethnologie, sondern die Humanwissenschaften überhaupt. »Im zeitgenössischen Denken gibt es eine bedeutsame Konvergenz zwischen der Infragestellung der Subjektivität durch die Humanwissenschaften und dem einflußreichsten philosophischen Denken dieses Jahrhunderts, einem Denken, das sich bereits EE 99/VS 73–74. Vgl. C. Lévi-Strauss, Tristes tropiques. 53 DL 259/SF 153; das hindert Lévinas nicht, die Bedeutung von Lévi-Strauss anzuerkennen: »Certainement l’esprit le plus éminent du siècle est Lévi-Strauss« (Poirié 114). 54 HAH 33/HAM 25. 51 52

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als post-philosophisches versteht.« 55 Philosophie und Humanwissenschaften konvergieren beide darin, daß sie den Tod des Subjekts verkünden. »Mit dem 20. Jahrhundert«, schreibt Lévinas, »hätte dann das Ende der Subjektivität begonnen. Die Humanwissenschaften und Heidegger enden entweder im Triumph der mathematischen Intelligibilität, indem sie das Subjekt, die Person, seine Einzigkeit und seine Erwähltheit als ideologisch verwerfen, oder in der Einwurzelung des Menschen im Sein, dessen Bote und Dichter er ist.« 56 Zu den Humanwissenschaften zählt Lévinas sicher wiederum LéviStrauss; denn es war ja Lévi-Strauss’ Auffassung, im Strukturalismus eine alle Humanwissenschaften umfassende Methodologie zu besitzen; andererseits aber zielt diese Bemerkung gewiß auch auf M. Foucault und seine These vom Ende des Menschen 57 .

§ 8 Die Kritik am Denken: Die Phnomenologie 8.1 Aber nicht nur der Hitlerismus einerseits und die Humanwissenschaften andererseits greifen die Stellung des Menschen qua Subjekt an, sondern auch die Philosophie. Nicht erst die letzten Zitate, sondern schon der Aufsatz über Lévy-Bruhl bringt die Ethnologie mit der Philosophie in Verbindung. Unter der »zeitgenössischen Philosophie« versteht Lévinas die Philosophie Heideggers. In der Zeit, in der in Frankreich Lévy-Bruhl dem rationalen Denken die »Mentalität der Primitiven«, die im Begriff der Partizipation gipfelt, entgegenstellt, vollzieht in Deutschland die Phänomenologie die Rückführung des vorstellenden Subjekts auf die Existenz. Wir kommen also zu der Frage, in welcher Weise auch die Phänomenologie die Reduktion des Subjekts auf die Ebene der transzendenzlosen Existenz betreibt. Zugleich geht es um ein wesentliches Stück des Weges von Husserl zu Heidegger. Für Husserl besitzt die Vorstellung noch einen bevorzugten Rang. »Wenn Husserl auch zu Beginn des Jahrhunderts in den ›Logischen Untersuchungen‹ den Untergang der Vorstellung vorbereitete, HAH 89/HaM 90. HAH 90/HaM 91. 57 Vgl. M. Foucault, Les mots et les choses, 398: »L’homme est une invention, dont l’archéologie de notre pensée montre aisément la date récente. Et peut-être la fin prochaine.« 55 56

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so hielt er doch an der These fest, der gemäß jedes psychologische Geschehen entweder Vorstellung ist oder auf einer Vorstellung beruht.« 58 Bei Heidegger hingegen hat die Vorstellung ihre Vormachtstellung eingebüßt. Heidegger ist es, der den Primat der Vorstellung ausdrücklich bricht und damit den Weg öffnet für ein vorbegriffliches Seinsverständnis, die Existenz. 59 Diesen Weg nachzuzeichnen, ist das Ziel der Aufsätze, die unter dem Titel »En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger« (Die Entdeckung der Existenz mit Husserl und Heidegger) 1947 veröffentlicht wurden. 8.2 Für die Analyse der Vorstellung durch Husserl muß a limine daran erinnert werden, daß Husserl nicht mehr von der Vorstellung qua vorgestelltem Gegenstand, wie es dem naiven Bewußtsein entspricht, ausgeht. Für das naive Bewußtsein ist das Modell aller Vorstellung die Rezeption eines äußeren Gegenstandes. Husserl dagegen steht von Anfang an auf einem transzendental-philosophischen Standpunkt. Er geht davon aus, daß der Gegenstand der Vorstellung sich in subjektiven Akten bildet oder konstituiert. Daher wird an der Vorstellung zunächst die Seite des subjektiven Tuns, des Vorstellens, thematisiert, und nicht die objektive Seite des Vorgestellten. Eine eingehende Analyse von Husserls Konzept der Vorstellung gibt Lévinas schon in seiner Doktorarbeit »La théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl«. Das Vorstellen ist für Husserl identisch mit dem, was er auch objektivierenden Akt nennt. 60 Der objektivierende Akt faßt das Mannigfaltige zur gegenständlichen Einheit, die durch ein Nomen (Substantiv) bezeichnet werden kann, zusammen. Deswegen spricht Husserl auch von Akten der Nominalisierung. 61 Das Nomen ist die bevorzugte grammatische Form, in der wir ein Ding als Ding ansprechen. Die Sphäre der Akte der Nominalisierung ist indes nicht auf den Bereich der Substantive im grammatischen Sinne eingeschränkt. Sie erstreckt sich darüber hinaus, indem sie auch Akte der Wahrnehmung etwa oder des Urteilens umfaßt. 62 Die Vorstellung wird von Husserl auf folgende Weise gekennzeichnet: »Wir können nämlich 58 59 60 61 62

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EN 55/ZU 59. Vgl. ThI 216 sq., insbesondere 221; HO sowie DEHH 53 ff. ThI 97. ThI 95. ThI 95.

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unter dem Titel Vorstellung jeden Akt befassen, in welchem uns etwas in einem gewissen engeren Sinne gegenständlich wird …« 63 Vorstellung und objektivierender Akt fallen zusammen. 64 Also gilt auch von der Vorstellung, was Husserl über den objektivierenden Akt sagt: »Jedes intentionale Erlebnis ist entweder ein objektivierender Akt oder hat einen solchen zur Grundlage.« 65 Intentionalität ist für Husserl weitgehend mit Vorstellung und Vorstellung mit Vergegenständlichung identisch. Nun betrifft die Dominanz der Vorstellung oder des gegenständlichen Denkens nicht bloß eine Detailfrage auf dem eingeschränkten Gebiet der Erkenntnistheorie. Sie bestimmt vielmehr unter dem Titel Subjekt-Objekt eine allgemeine Einstellung zur Wirklichkeit und zur Welt. Wenn Gegenstandsein die universale Form des Seins ist, dann muß auch das Subjekt sich als einen unabhängigen Gegenstand, als eine Substanz verstehen. Die Substanz ist gekennzeichnet durch Selbstgenügsamkeit. Dies charakterisiert dann auch die Menschen, die ihr Leben am Subjekt-Objekt-Verhältnis ausrichten: Für Lévinas sind dies die Menschen der sog. bürgerlichen Gesellschaft. Die Einheit mit sich selbst, die Selbstgenügsamkeit, ist eines der Kennzeichen des bürgerlichen Geistes und seiner Philosophie. »Der Bürger gesteht keinen inneren Zwiespalt, und ein Mangel an Vertrauen in sich selbst wäre für ihn eine Schande.« 66 Das bürgerliche Subjekt ist mit sich eins, es ruht in sich selbst. Es kennt keine innere Zerrissenheit und bedarf keiner Versöhnung. 8.3 Diese Selbstgewißheit des Ich gerät ins Wanken, wenn der Begriff der Substanz im Strom der Zeit aufgelöst und dadurch das Sein des Subjekts erneut in Frage gestellt wird. Sein heißt Gegenstandsein. Nur was vergegenständlicht werden kann, ist wahrhaft. Soweit nun das Subjekt dem Objekt entgegensteht, also nicht selbst Objekt ist, muß vom Subjekt gelten, daß es nicht ist; denn nur das Objekt ist. Dennoch soll gerade das Subjekt in höchstem Maße sein, da es für alles andere das Maß abgibt. Wir stehen also vor der »paradoxen Tatsache, daß es etwas ist, was nicht

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E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd II/1, 459; zitiert in ThI 94. ThI 97. E. Husserl, Logische Untersuchungen II,1 493; zitiert in ThI 97. E 68. A

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ist« 67 . Das Subjekt, um zu sein, muß sich zum Gegenstand machen. Indes ist die Frage, ob eine solche vollständige Objektivierung dem Subjekt überhaupt möglich ist. Aber gelänge sie auch, so würde sich doch die Frage wiederholen; denn hinter dem objektivierten Subjekt stünde ein neues Subjekt, dasjenige Subjekt, das die Objektivierung vollzieht, und die Frage nach dem Sein würde sich endlos wiederholen. Es bleibt also bei der Frage: Was ist das Sein desjenigen Ich, das hinter aller Vergegenständlichung liegt? 68 Nun liegt hinter dem gegenständlichen Bewußtsein nicht in unendlicher Iteration immer wieder ein neues Bewußtseins, sondern, wie Husserl sich ausdrückt, der Strom der Zeit oder das Bewußtsein als strömendes Bewußtsein. Das allem Gegenstandsbewußtsein vorausliegende Primäre ist also eine Bewegung, hinter die wir nicht zurücktreten können; denn sie liegt aller Reflexion voraus. Daher kann die Philosophie nicht mehr von einem in sich identischen und substanziellen Kern ausgehen, sondern sie muß zeigen, wie Identität überhaupt erst im unaufhörlichen Strom der Zeit zustandekommt. Identität und Substanzialität können nicht länger vorausgesetzt werden; sie sind vielmehr bereits Resultate eines ursprünglicheren Lebens, das sich uns als die Zeit zeigt. Die Zeit liegt nicht nur aller Vergegenständlichung zugrunde, sondern entzieht sich auch einer letzten Vergegenständlichung; denn alle Vergegenständlichung geschieht in der Zeit und setzt die Zeit voraus. Der Mensch kann nicht hinter die Zeit zurücktreten. Diese Unhintergehbarkeit der Zeit, der Umstand, daß die Zeit der letzte »Grund« ist, auf dem alles »ruht«, rechtfertigt die heideggersche These: Das Sein des Subjekts – Heidegger nennt das Subjekt das Dasein – besteht in seiner Zeitlichkeit. Freilich ist diese ursprüngliche Zeit nicht die objektivierte Zeit der Uhren und Fahrpläne. Zwar kann man nicht schlechthin sagen, daß Zeit sich nicht objektivieren lasse. Das Gegenteil ist der Fall, wenn wir an die Uhren und das Zeitmanagement, an das ganze Zwangskorsett denken, das uns keinen Augenblick ruhen läßt. Aber alle Objektivierung beruht auf einem ursprünglichen Zeitgeschehen, das sich seinerseits definitiv der Objektivierung entzieht. Daher gibt es auch kein Subjekt und kein DaDEHH 53. Das ist die zentrale Frage, die Heidegger in »Sein und Zeit« stellt. Vgl. dazu W. Biemel, Husserls Encyclopedia Britannica Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd I, 200.

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sein hinter der ursprünglichen Zeit. Schon für Husserl handelt es sich bei der Konstitution der Zeit nicht mehr um theoretische Akte in der Weise der Gegenstandskonstitution 69 . Lévinas spricht von einer »Koinzidenz mit dem Ursprung«70 , also einer Einheit, die der Dualität von hylé und morphé vorausgeht. Auch für Heidegger ist die ursprüngliche Zeit das Geschehen des Subjekts selbst. Das unterscheidet Heidegger von Kant. Es gibt aber auch keine ursprüngliche Zeit außerhalb des Geschehens des Daseins. Das Dasein ist der »Ort«, an dem die Zeit geschieht. Die Zeit ist »kein Kennzeichen des Wesens des Wirklichen, kein Etwas, keine Eigenschaft; sie ist der Ausdruck der Tatsache zu sein, oder vielmehr selber die Tatsache des Seins. Sie ist in gewisser Weise die eigentliche Dimension, in der das Sein des Seienden [l’existence de l’être] geschieht. Sein heißt, sich temporalisieren. Die Zeit in ihrer Spezifizität verstehen heißt also, sich mit der eigentlichen Bedeutung des Wortes ›sein‹ befassen, das die traditionelle Philosophie als ein ›transcendentale‹ vom Gebiet der Forschung ausgeschlossen hat. Demnach ist die Theorie der Zeit Ontologie, aber Ontologie im starken Sinne des Wortes.« 71 8.4 Gerade jene unmögliche Reduktion der Zeit auf ein Objekt versucht aber die vom Primat der Vorstellung bestimmte traditionelle Philosophie; denn sie begreift das Sein als Objekt. Auch die beiden ständigen Kontrahenten, deren Konflikt die Geschichte der Philosophie seit Platon durchzieht, nämlich der Idealismus und der Realismus, unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht. Beide huldigen dem Prinzip, daß Sein Objekt-sein heißt 72 . Der Idealismus, so sehr Lévinas mit seiner Intention auch sympathisiert 73 , verkennt sich selbst als Vollzug des Seins. 74 Der Realismus möchte den Seinscharakter des Subjekts retten; aber da er als Sein nur das Objekt anerkennt, das Objekt sich aber als Konstitut erweist, »kehrt der Idealismus siegreich zurück« 75 . Das Sein, soweit es nur Gegenstand des Denkens ist, kann nicht zugleich Quelle und Ursprung des Denkens sein. Vgl. dazu E. Husserl, Hua X, 318/9; dazu den Kommentar des Herausgebers R. Böhm, XL. 70 DEHH 97/ SpA 62. 71 HO 398/DEHH. 72 DEHH 142/SpA 149. 73 Vgl. E 391; DEHH 95/SpA 61. 74 Vgl. HO 398: »Escamotage du temps«; HO 399. 75 DEHH 142/SpA 149. 69

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Das vergegenständlichte Sein besitzt die Einheit und Beständigkeit, die der Zeit selbst fehlt: Es ist Substanz. So wird das Sein zum unveränderlichen und bleibenden Fundament, das, selbst der Zeit entzogen, die Zeit beherrscht, so daß sich Veränderung und Wandel nur an ihm und auf der Grundlage seiner Einheit vollziehen können. Wenn nun die Autonomie des Subjekts darin besteht, sich nicht vom Wandel der Zeit mitreißen zu lassen, das Sein und die Zeit nicht passiv zu erdulden, sondern beide in die gegenständliche Einheit einzuschließen, dann dürfen Theorie und Vorstellung als die eigentlichen Promotoren in der Konstitution des vermeintlich unabhängigen Subjekts gelten. Die Kritik am Objektivismus trifft gemäß Lévinas auch Husserl. Sie trifft ihn nicht nur wegen der Rolle, die die Vorstellung immer noch bei ihm spielt, sondern wegen der Geschichtslosigkeit seines Denkens 76. Für Husserl beginnt die Philosophie mit der phänomenologischen Reduktion. Aber die Möglichkeit der Reduktion als eines historischen Ereignisses wird von Husserl nicht erörtert. Sie zu erörtern würde verlangen, die Reduktion als ein geschichtliches, also im weiteren Sinne zeitliches Geschehen zu thematisieren. Aber die transzendentale Reduktion sistiert gerade die Geschichte, tritt aus der Geschichte heraus, stellt sich hinter das geschichtliche Subjekt. »Husserl stellt nicht die Frage, wie diese ›Neutralisierung‹ unseres Lebens, die doch ein Akt dieses Lebens ist, in diesem Leben begründet sein mag. Der Mensch in der natürlichen Einstellung, aufgehend in der Welt, der Mensch, dieser ›geborene Dogmatist‹ 77 , wie wird er sich plötzlich seiner Naivität bewußt? Liegt hier ein Akt der Freiheit vor, der metaphysisch für das Wesen unseres Lebens Bedeutung hätte?« 78 Warum stellt Husserl die Frage nach dem Grunde der Theorie nicht? Weil sich sein Denken vom Vorrang der Theorie bestimmen läßt! »Es sieht so aus, als ob der Mensch, dessen natürliche Einstellung nicht eine rein kontemplative Haltung ist, für den die Welt nicht nur GeLévinas bezieht sich hier allein auf die bis 1933 veröffentlichten Arbeiten von Husserl. Interessant ist, daß auch Husserl sich in der Folge sehr intensiv mit den Arbeiten von Lévy-Bruhl auseinandergesetzt und auch den Beginn der philosophischen Reflexion als ein historisches Ereignis gesehen hat. Vgl. hierzu den Brief von Husserl an LévyBruhl vom 11. 03. 1935, teilweise abgedruckt in: H. R. Sepp (Hrsg.), Edmund Husserl und die phänomenologische Bewegung, 396–7, sowie die Abhandlung »Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie«, in: Hua VI, 314 ff. 77 Hua III, 147. 78 ThI 222. 76

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genstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist – es sieht so aus, als ob der Mensch plötzlich die phänomenologische Reduktion, einen rein theoretischen Akt, vollzöge, indem er zur Reflexion über das Leben übergeht; es liegt hier eine Umkehr vor, deren Erklärung Husserl schuldig bleibt und die nicht einmal zum Problem wird. Das metaphysische Problem der Situation des homo philosophicus wird von Husserl nicht gestellt.« 79 Der Grund für die Geschichtslosigkeit dieses Denkens ist der fortwährende Primat der Vorstellung. »Die Vorstellung als Basis aller Akte des Bewußtseins – das ist es, was die Geschichtlichkeit des Bewußtseins kompromittiert.« 80 Dank der Vorstellung ist die Geschichte immer schon vergegenständlicht und neutralisiert. Sie wird nicht als wirkende Macht erfahren, sondern allein als Objekt, das dem Subjekt entgegensteht. Der Mensch ist immer schon Herr über seine Geschichte. Die traditionelle Philosophie konnte dem Subjekt seine starke Stellung nur zuweisen, weil sie die Zeit übersprang. Lévinas spricht von der »Destruktion der Zeit durch die Idealisten« 81 : »In der Indifferenz hinsichtlich der Zeit, die die Subjekt-Objekt-Beziehung beherrscht, liegt so etwas wie eine Verneinung des ontologischen Charakters der Erkenntnis« 82 . 8.5 Gegen den Objektivismus der Tradition, die bis zu Parmenides zurückreicht 83 , setzt Heidegger die Abhängigkeit des Menschen vom Sein in Gestalt der Zeitlichkeit. In seiner Darstellung der Philosophie Heideggers unterscheidet Lévinas zunächst zwei Bezüge, in denen das Subjekt steht: den Bezug zum Sein einerseits, zum Objekt andererseits. Als zeitlicher Vorgang vollzieht das Subjekt die Existenz und ist selbst der Bezug zur Existenz. 84 Existenz – oder Sein – und Zeitlichkeit lassen sich nicht voneinander trennen. 85 »Die Zeit ist nicht ihrerseits eine Art Seiendes oder Form eines Seienden – sie ist selbst die Bewegung, die Dynamik (das Wort trifft hier zu) dieser Beziehung ThI 203. ThI 221. 81 DEHH 53. 82 DEHH 53–4. 83 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 21, 100. 84 Das Dasein ist ineins der zeitliche Vollzug des Seins und der Bezug zu diesem Vollzug. 85 Zum Folgenden vgl. HO und DEHH 53 ff. 79 80

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des Seienden zum Sein … Die ursprüngliche Zeit erstreckt sich nicht zwischen Objekten oder psychologischen Augenblicken, sondern zwischen dem Menschen und seinem Sein, zwischen dem Seienden und dem Sein.« 86 Sein heißt Zeitlichsein. Neben die Zeit tritt für Lévinas als zweite Beziehung die zum Objekt. »Diese Beziehung zum Objekt ist nicht als solche ein Zeitgeschehen, das dem Subjekt sozusagen widerfahren würde. Sie offenbart eine Richtung, in der das bewußte Leben in jedem Augenblick seines Fließens engagiert ist, aber in der es nicht dauert.« 87 Lévinas unterscheidet also am vorstellenden Subjekt das Verhältnis zum Objekt und das Zeitverhältnis. In diesem Sinne spricht er von der »Linie der Subjekt-Objekt-Struktur und der Linie der Zeit«. 88 Die Unterscheidung der beiden Linien ist die Weise, in der Lévinas Heideggers Rede von der ontologischen Differenz versteht. »Die Infragestellung des Begriffs des Seins sowie seine Beziehung zur Zeit, die wir oben angezeigt haben, ist das fundamentale Problem der heideggerschen Philosophie – das ontologische Problem … Heidegger unterscheidet eingangs zwischen dem, was ist, dem Seienden, und dem Sein des Seienden. Was ist, das Seiende – deckt sich mit allen Gegenständen, in gewissem Sinne allen Personen, selbst Gott. Das Sein des Seienden – das ist die Tatsache, daß alle diese Gegenstände und alle diese Personen sind. Es ist mit keinem dieser Seienden identisch, nicht einmal mit der Idee des Seienden im allgemeinen. In einem gewissen Sinne ist es nicht; wäre es, so wäre es seinerseits seiend, wohingegen es in gewisser Weise gerade das Geschehen des Seins aller ›Seienden‹ ist.« 89 Während wir in der Beziehung zum Objekt die husserlsche Intentionalität wiedererkennen, entfaltet sich die zeitliche Linie als Existenz. 8.6 Diese Unterscheidung findet sich auch im ersten Ansatz einer eigenen Philosophie, nämlich in dem Aufsatz »Über den Ausbruch« 90 . Das traditionelle Subjekt stand im Widerspruch gegen die Welt, das Objekt. Die Spaltung trennt das Subjekt und das Objekt; das Subjekt selbst ist einfach und mit sich identisch. Dagegen hat 86 87 88 89 90

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DEHH 88. HO 398. HO 408; vgl. auch HO 404. DEHH 56. »De l’évasion«.

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das zeitgenössische Bewußtsein die Einfachheit verloren. Es entdeckt, daß seine Identität selbst etwas Zusammengesetztes, eine Beziehung ist. Hören wir, wie Lévinas die Identität beschreibt: »Die Existenz ist ein Absolutes, das sich ohne Bezug auf irgend etwas anderes behauptet. Das ist die Identität. Indes, in diesem Bezug auf sich selbst unterscheidet der Mensch eine Art Dualität. Seine Identität mit sich verliert den Charakter einer logischen oder tautologischen Form; sie nimmt eine dramatische Form an. In der Identität des Ich offenbart die Identität des Seins ihr Wesen als Fessel; denn sie erscheint unter der Form des Leidens und fordert zum Ausbruch auf. So ist der Ausbruch das Bedürfnis, aus sich selbst herauszukommen, d. h. die radikalsten, die unverzeihlichsten Fessel zu zerbrechen, nämlich die Tatsache, daß das Ich es selbst ist.« 91 In dieser Dualität innerhalb des Ich finden wir die ontologische Differenz des Seins und des Seienden wieder, die Heidegger in die zeitgenössische Philosophie eingeführt hat. Das seiende Ich weiß sich an ein anonymes Sein gefesselt. Aber das Seiende bezieht sich nicht nur auf das Sein, sondern hat, davon verschieden, intentionale Bezüge. Diese Dualität legt Lévinas in einer Analyse des Bedürfnisses frei. Das Bedürfnis bewegt sich zwischen den beiden Polen der Befriedigung 92 und dessen, was als Mangel interpretiert wird. Lévinas nennt es die Malaise. Das Bedürfnis kann nun zunächst im Sinne der Intentionalität als Subjekt-Objekt-Verhältnis verstanden werden. Das bedürftige Seiende ist ein Mängelwesen, dem es an Sein fehlt. Die Befriedigung ist die Erfüllung eines Seinsbedürfnisses. Die Richtung des Bedürfnisses auf Gegenstände, die seinem Mangel abhelfen können, gehorcht der Logik der Subjekt-Objekt-Beziehung. Sie beruht auf den traditionellen Denkschemata, nämlich einem »Denken, das nicht das Sein und das Seiende zu unterscheiden vermochte« 93 . Lévinas entdeckt aber im Bedürfnis einen zweiten Bezug, nämlich den des Seienden zu seinem Sein. Gewiß ist das Bedürfnis auch ein »Gegenstandsbewußtsein; es setzt unser Sein unter die Vorherrschaft dessen, was Außen ist. Das ganze Problem [aber] besteht darin zu wissen, ob das fundamentale Interesse des Bedürfnisses in dieser 91 92 93

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Rechnung aufgeht, ob die Befriedigung des Bedürfnisses exakt der Unruhe der Malaise entspricht. Nun, das Leiden des Bedürfnisses verweist keineswegs auf einen zu erfüllenden Mangel.« 94 Vielmehr drückt sich im Leiden des Bedürfnisses, in der Malaise, das Unbehagen an der Bedürfnisabhängigkeit überhaupt aus. Gerade darin sieht Lévinas die Abhängigkeit vom Sein im Unterschied zu den Seienden. Es geht in der Malaise nicht um die Erfüllung dieses oder jenes Bedürfnisses, das gezielt befriedigt werden könnte, sondern um einen Affekt gegen die Bedürftigkeit überhaupt. Daher wäre das Gegenteil der Malaise gerade nicht die Erfüllung, sondern die Unabhängigkeit vom Bedürfnis schlechthin. Dieses Bedürfnis nach Unabhängigkeit aus dem Sein nennt Lévinas auch »das Bedürfnis des Ausbruchs« 95 Seiner Tendenz nach richtet sich der Ausbruch auf die Verweigerung der Bedürfnisse und hat insofern eine Nähe zur Askese. Lévinas spricht von der »Rechtfertigung gewisser Tendenzen des Asketismus. Die Abtötung durch das Fasten ist nicht nur gottgefällig; sie nähert uns einer Situation, die das fundamentale Geschehen unseres Seins ist: das Bedürfnis des Ausbruchs.« 96 In ihm geht es nicht um »die Sehnsucht nach dem Sein«, sondern um »die Befreiung vom Sein« 97 . Machen wir diese schwierige Unterscheidung noch einmal auf andere Weise deutlich: Der Mensch gemäß der abendländischen Tradition kennt Bedürfnisse. All sein Streben, sein Ausgreifen auf die Welt, sein Imperialismus dient der Befriedigung dieser Bedürfnisse, in denen er sich vollendet. Der Mensch der Moderne hingegen empfindet, daß sein Streben nach Totalität und Vollendung insgesamt abhängig ist von einer Instanz, die sich der Auflösung in einen Gegenstand der Befriedigung verweigert. Das Bewußtsein der Abhängigkeit von dieser Instanz, vom Sein, hat nicht mehr den Charakter des Mangels, sondern der Malaise. Im Bedürfnismangel wird das identische Subjekt vorausgesetzt; die Malaise dagegen spaltet das Subjekt in seiner Identität. 98 Das Bedürfnis des Ausbruchs kann sich erst regen, wenn das Subjekt sich der Fesselung an das Sein bewußt geworden ist. Das E 78–9. E 79. 96 E 79. 97 E 83. 98 Die Unterscheidung von Malaise und Bedürfnismangel antizipiert die spätere Unterscheidung von Hypostase und Bewußtsein in der Welt (vgl. unten §§ 14 – 16). 94 95

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bürgerliche Bewußtsein lebt in einfacher Identität mit sich. Es kennt nicht das Bedürfnis des Ausbruchs. Erst die Moderne 99 wird von diesem Bedürfnis heimgesucht. Die »traditionelle Philosophie« 100 hingegen glaubt, den Schritt aus dem Sein heraus schon getan zu haben. Das macht ihren Idealismus aus; die Moderne beginnt mit dem Zusammenbruch dieses Idealismus. »Gemäß seiner ursprünglichen Inspiration sucht der Idealismus, über das Sein hinauszukommen.« 101 In dieser Bestrebung liegt das Positive des Idealismus, das zugleich »unbestreitbar den Wert der europäischen Kultur ausmacht« 102 ; damit steht die europäische Kultur im Gegensatz zu einer Kultur, die das Leben in der Versunkenheit im Sein »akzeptiert« 103 . Lévinas verwirft nicht mit dem Scheitern der europäischen Ideale, das sich in der Moderne abzeichnet, diese Ideale selbst. Vielmehr gilt es, an den Idealen gegen die mythische Alternative festzuhalten, aber nach der Ausweglosigkeit der bisherigen Schritte einen neuen Weg zu finden, die alten Ideale zu realisieren. Die bisherigen Versuche waren gekennzeichnet »durch die Kraftlosigkeit des Handelns und des Denkens … Es geht darum, auf einem neuen Weg aus dem Sein herauszukommen.« 104 Lévinas betont die Dualität der beiden Bezüge, weil sie konstitutiv sind für zwei Weisen des Verhaltens zum Sein. In der SubjektObjekt-Beziehung, in der Intentionalität, drückt sich ein legitimes Anliegen der Menschheit aus, das idealistische Bedürfnis nach Freiheit aus dem Sein, so wenig die Intentionalität auch geeignet ist, dieses Bedürfnis zu erfüllen. Wenn Lévinas die Unterscheidung der beiden Beziehungen zunächst unterstreicht, so um an dem Anliegen festzuhalten; es gilt nun, für die Realisierung dieses Anliegens neue Wege zu finden. 8.7 Beide Bezüge miteinander verschmolzen oder im Begriff der Existenz den Objektbezug auf den Seinsbezug reduziert zu haben, charakterisiert in Lévinas’ Augen die Philosophie Heideggers. 105 DieE 69: »la sensibilité moderne«. E 67. 101 E 98. 102 E 98. 103 E 98. 104 E 99. 105 Vgl. zum Folgenden vor allem den Aufsatz: Von der Beschreibung zur Existenz DEHH 91–107/SpA 53–80. 99

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se Reduktion ergibt sich aus der Definition des Daseins; das Sein des Daseins besteht nämlich darin, das Sein zu verstehen. Lévinas erörtert diesen Gedanken im Ausgang von der Phänomenologie Husserls. Zu den zentralen Verdiensten der Phänomenologie in den Augen der Zeitgenossen gehört der Umstand, daß sie schon von ihrem Ansatz her die Trennung von Subjekt und Objekt überwindet. Während die Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts immer noch von einem Innen – einem abgeschlossenen Subjekt – ausgeht und die Frage stellt, wie das Außen in das Innere des Subjekts hineinkommt oder umgekehrt, lautet die Grundthese der Phänomenologie: Es gibt nicht zunächst ein Außen und davon getrennt ein Innen, sondern in jedem Moment ist das Bewußtsein Bewußtsein von einem Gegenstand. Bewußtsein – das Subjekt – und Gegenstand – das Objekt – sind immer schon in einer untrennbaren Korrelation. Diese Einsicht ist der Grundansatz für Husserls Begriff der Intentionalität. Dennoch hat bereits die husserlsche Phänomenologie, so sehr Husserl andererseits am Primat der Vorstellung festhält, die Vorarbeit für den heideggerschen Begriff der Existenz geleistet. Lévinas’ Buch über die »Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl« hat zum zentralen Thema Husserls Theorie der Wahrheit. Seine These lautet: Die Methode der Intuition, die die Phänomenologie beherrscht, kann von dem, »was man die Ontologie Husserls nennen könnte« 106 , nicht getrennt werden. »Die Intuition ist nicht nur eine Erkenntnisweise unter anderen Weisen der Erkenntnis, sondern das ursprüngliche Phänomen, das die Wahrheit selbst möglich macht.« 107 Der Grund für diese These liegt in der Verwandlung, welche die Phänomenologie mit dem Begriff des Seins oder der Existenz vornimmt. Während Existenz und Nichtexistenz der Dinge sich jeweils zurückführen lassen auf den spezifischen Bezug zum Bewußtsein, die Dinge also auf das Bewußtsein relativ sind, ist das Bewußtsein nur auf sich selbst bezogen und insofern absolut. Dieses absolute Bewußtsein fällt nicht zusammen mit dem Subjekt-Objekt-Verhältnis, sondern ist ein »primäres Seinsphänomen, das erst das Subjekt und das Objekt der traditionellen Philosophie möglich macht« 108 . Daher ist es auch nicht dasselbe wie die Gewißheit, die in der Reflexion 106 107 108

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ThI 13. ThI 19. ThI 50.

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erreicht wird. »Der Sinn seiner Existenz besteht gerade darin, nicht nur als Objekt der Reflexion zu existieren. Das bewußte Leben ist, mag auch die Reflexion es nicht als Objekt nehmen. ›Das in ihr‹ – in der Reflexion –, wahrnehmungsmäßig Erfaßte charakterisiert sich prinzipiell als etwas, das nicht nur ist und innerhalb des wahrnehmenden Blickes dauert, sondern schon war, ehe dieser Blick sich ihm zuwendete.« 109 Hier zeigt das Sein des Bewußtseins seine Unabhängigkeit gegenüber der immanenten Wahrnehmung, im Gegensatz zum äußeren Ding, dessen eigentliches Sein auf das Bewußtsein zurückverweist. Hier macht nicht mehr die Reflexion über das Bewußtsein die Existenz des Bewußtseins aus, sondern die Reflexion wird durch die Existenz möglich gemacht.« 110 Dieses von der ausdrücklichen Reflexion unabhängig sich vollziehende Bewußtsein ist aber darum nicht unbewußt, sondern »wahrnehmungsbereit« 111 . Das wahrnehmungsbereite Bewußtsein ist das Bewußtsein auf der Ebene der Erlebnisse. Von ihnen ist das Bewußtsein nicht zu trennen, so wie umgekehrt »das Bewußtsein das eigentliche Sein der Erlebnisse ausmacht« 112 . In diesem Sinne versteht Lévinas auch Husserls Kritik an der cartesischen Konzeption der res cogitans: »Wenn Husserl bestreitet, daß man sagen könne, das Bewußtsein existiere zuerst und tendiere dann auf seinen Gegenstand, so behauptet er damit in Wirklichkeit, daß das Existieren des Bewußtseins in seinem Denken selbst liegt. Das Denken hat keine ontologische Bedingung; das Denken ist selbst die Ontologie. Die husserlschen Einwände gegen den cartesischen Übergang vom Cogito zur Idee der ›Sache, die denkt‹ entstammen daher nicht einzig dem Bemühen, die ›Naturalisierung‹ und die ›Verdinglichung‹ des Bewußtseins zu vermeiden. Es geht auch hinsichtlich der ontologischen Struktur des Bewußtseins darum, den Verweis auf ein Fundament, den Verweis auf irgendeinen Kern, der der Intention als Gerüst dienen könnte, zu bestreiten; das Bewußtsein soll nicht als Substantiv gedacht werden.« 113 Damit erweist sich der heideggersche Begriff der Existenz als Erbe des Begriffs der Intentionalität. Er entfaltet das, was die Urzelle der Intentionalität ausmacht: das Erlebnis. »Die Idee, die für die zu 109 110 111 112 113

Hua III, 104. ThI 54 f. Hua III, 104; zitiert ThI 55. ThI 57. DEHH 98/SpA 66; vgl. auch DEHH 100/SpA 69. A

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dem vollen Bewußtsein ihrer selbst gelangte Phänomenologie – wie wir sie in den ›Ideen‹ haben – zentral wird, ist die Idee, daß das Sein das Erlebnis (le vécu) ist und daß die an sich seiende Wirklichkeit stets das ist, was sie in all ihrem Reichtum an Modifikationen für das Leben ist.« 114 Die Ebene der Existenz, in der das Sein vom Verstehen nicht zu trennen ist und die der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt vorausgeht und sie begründet, ist die Ebene des Erlebnisses, des Lebens, oder das immanente Zeitbewußtsein als lebendige Gegenwart. Im Begriff der Intentionalität vollzieht sich eine Transformation des Begriffs des Seins: Das Sein ist nicht Substanz, sondern Subjektivität 115 . Und weiter: »Die phänomenologische Konzeption der Intentionalität besteht im wesentlichen darin, daß sie Denken und Existenz identifiziert. Dem Bewußtsein kommt nicht das Denken als wesentliches Attribut zu, es ist keine Sache, die denkt, es ist Denken sozusagen seiner Substanz nach. Sein Seinsakt besteht im Denken.« 116 Dieses Ineinanderblenden von Sein und Denken gibt dem neuen Seinsbegriffs qua Existenz sein besonderes Gepräge: Lévinas spricht von der Transitivität des Seins. 8.8 Die traditionelle Philosophie hat an den Dingen das Vorkommen, die Existenz, einerseits und das Wesen, die Essenz, andererseits unterschieden. Diese Dualität wird von Heidegger aufgehoben, indem er die Substanz in einen zeitlichen Vollzug auflöst und das Denken (Verstehen) als Weise dieses Vollzugs deutet. Daher spricht Lévinas von einer »Identifikation von Essenz und Existenz« 117 . »Alle Wesensbestimmungen des Menschen sind allein seine Weisen zu existieren.« 118 An derselben Stelle heißt es: »Der Mensch ist ein Seiendes, das das Sein versteht. Andererseits aber ist dieses Seinsverständnis selbst das Sein – es ist kein Attribut, sondern die Seinsweise des Menschen.« 119 Eine solche Beziehung zwischen dem Wesen (essence) und dem Sein (existence) »ist nur möglich unter der Voraussetzung eines neuen Seinstyps, der die Tatsache des Menschen kennzeichnet. Und die Möglichkeit einer solchen Beziehung ist gerade das fundamentale Kennzeichen des Seins des Menschen. Für diesen 114 115 116 117 118 119

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ThI 98. ThI 63. DEHH 98/SpA 65; vgl. auch ThI 70. HO 405. HO 405. HO 405.

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Seinstyp reserviert Heidegger den Ausdruck Existenz – den wir von nun an in diesem Sinne verwenden werden.« 120 Dies ist denn auch die Bedeutung, die dem Terminus in einem anderen Buchtitel aus der frühen Philosophie Lévinas’ zukommt, nämlich in »En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger« (»Die Entdeckung der Existenz mit Husserl und Heidegger«). Den Begriff eines transitiven Seins in die Philosophie eingeführt zu haben, ist nach Lévinas’ Auffassung »der große Beitrag zur Philosophie seitens der phänomenologischen und existenzialistischen Philosophie im weiten Sinne des Wortes …« 121 Diese Feststellung gewinnt ihr ganzes Gewicht aber erst, wenn man die Transitivität der Existenz in Beziehung setzt zum Leben der Primitiven, wie es Lévy-Bruhl darstellt; denn Transitivität und Partizipation meinen dasselbe. »In der Mentalität der Primitiven erscheinen sowohl das Subjekt als auch das Verb ›sein‹ als aktiv und transitiv. Dem Primitiven ist die Welt nie gegeben, sondern wie eine anonyme Sphäre, die eher der Angst erzeugenden Anonymität der Existenz ähnelt, die noch von keinem Subjekt übernommen ist.« 122 Wenn der Schlüsselbegriff für die Welt der Primitiven die Teilhabe (participation) ist, so zeigt sich nun, daß Transitivität und Partizipation auf dasselbe zielen. In der Tat haben beide denselben Bezug zum Sein. »Die Teilhabe eines Terms an einem anderen beruht nicht auf der Gemeinsamkeit eines Attributs. Ein Terminus ist der andere. Die private Existenz eines jeden Terminus, die von den seienden Subjekten beherrscht wird, verliert diesen privaten Charakter, kehrt in einen Grund ohne Unterschiede zurück. Das Sein des einen überflutet den anderen und ist eben darin nicht mehr das Sein des einen. In diesem Sein erkennen wir das Es-gibt.« 123 HO 405. DEHH 100/SpA 69); vgl. auch ibid: »Auf der Ebene der Kategorien scheint uns die Neuheit der Philosophie der Existenz in der Entdeckung des transitiven Charakters des Verbs ›existieren‹ zu liegen.« Und DEHH 98/SpA 65: »Die phänomenologische Konzeption der Intentionalität besteht im wesentlichen darin, daß sie Denken und Existieren identifiziert … Sein ist Denken. Von nun an charakterisiert die transitive Struktur des Denkens den Seinsakt. Wie das Denken immer Denken von etwas ist, so hat das Verb ›sein‹ immer ein Akkusativobjekt: ich bin mein Schmerz, ich bin meine Vergangenheit, ich bin meine Welt.« 122 EN 64/ZU 67. 123 EE 99/VS 73. Dieser Text aus dem Jahre 1947 antizipiert bereits den späteren Artikel über Lévy-Bruhl aus dem Jahre 1957. Er belegt, welch zentrale Bedeutung der Aufsatz über Lévy-Bruhl für Lévinas besitzt. 120 121

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8.9 Indem Essenz und Existenz zusammenfallen, ergeben sich neue Bestimmungen für das Verstehen und für den Begriff des Sinnes. Das Verstehen als Vollzug der Existenz kann nicht mit dem Denken zusammenfallen, wenn wir als Denken das Vorstellen bezeichnen. Verstehen und Vorstellen treten in einen Gegensatz. Gemäß der traditionellen Deutung hat das Verstehen den Sinn zum Korrelat. Der Sinn aber hat den Charakter eines Gegenständlichen, eines Seienden im allgemeinsten Verstand. Lalande schreibt: »Verstehen: einen Gegenstand des Denkens als bestimmt setzen.« 124 Das Verstehen in diesem Sinne ist identisch mit dem Begreifen. Man versteht etwas, indem man sich einen Begriff davon macht. Verstehen oder Begreifen fällt also mit dem Vorstellen oder Denken, wie Lévinas es bisher definiert hat, zusammen. Es weiß sich vom Sein befreit; es steht dem Sein gegenüber, da es das Sein vergegenständlicht hat. Zugleich weist der Vorrang der Vorstellung sowohl der Affektivität als auch dem Willen nur einen zweiten Rang zu. »Bevor man handelt, bevor man empfindet, muß man sich das Seiende, dem die Handlung gilt oder das das Gefühl hervorruft, vorstellen. Durch sich selbst umfaßt die Affektivität nur innere Zustände. Sie offenbart uns nichts von der Welt.« 125 Der traditionellen Philosophie gelten die Emotionen als subjektive Befindlichkeiten, die von Individuum zu Individuum verschieden sind. Schon wegen dieser Relativität offenbart sich in ihnen nichts über das Sein; das Sein ist allgemein und für alle dasselbe. Dagegen führt die Kritik der Vorstellung zu einer neuen Bewertung der Affektivität. Wenn das Denken und die Vorstellung ihrem Wesen nach das Sein eskamotieren, dann bedarf es für den Zugang zum Sein eines anderen Organs als des vergegenständlichenden Denkens. Dieses Organ wird eine Affektivität, die der Vorstellung vorausgeht und dennoch als ein Verstehen zu deuten ist. Allerdings drängt schon bei Husserl die »›Intentionalität‹ des Gefühls« 126 – ungeachtet Husserls Objektivismus’ – in eine eigenständige Rolle. Aber erst Heidegger befreit die Affektivität ganz von der Herrschaft der Vorstellung. Für Heidegger ist das Organ, in dem sich das Sein offenbar macht, nicht mehr das Denken oder die Vorstellung, sondern eine A. Lalande, Vocabulaire technique et critique de la philosophie, art. »comprendre«. EN 56/ZU 59; vgl. l. c. 58/61: »Gemäß der klassischen Psychologie schließt die Emotion uns in uns selbst ein.« 126 HO 407. 124 125

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zentrale Emotion, die Angst. Heidegger unterscheidet ausdrücklich zwischen der Furcht und der Angst. Die Furcht gehört noch in den Bereich des gegenständlichen Vorstellens: Sie hat ein Objekt, vor dem sie sich fürchtet. Die Angst hingegen hat keinen Gegenstand mehr: Was sich ihr offenbart, ist das bloße Sein, kein Seiendes. Daher sagen wir, wenn die Angst vorüber ist: Es war nichts, nämlich nichts Seiendes, aber das Sein. 127 Ähnlich wird auch bei Lévinas das reine Sein erfahren in emotionalen Zuständen, denen das Subjekt ausgeliefert ist: etwa in der Scham und im Ekel 128 oder im Grauen 129 . Die Emotion kann der Vorstellung hinsichtlich der Seinsnähe den Rang ablaufen, weil sie als eine fundamentalere Weise des Seinsverstehens betrachtet wird. Die Relation kehrt sich um: Das urspüngliche Verstehen geschieht in den Affekten und Emotionen, unter denen die Angst eine Vorzugsstellung einnimmt. Die Bedeutung der Angst erlaubt zugleich, die bisherige Rolle der Vorstellung und des distanzierenden Denkens abzuleiten: Die Vorstellung hat die Aufgabe, die Angst und damit die Unmittelbarkeit der Erfahrung des eigenen Seins zu verdrängen. Indem wir Herr werden über das Sein, es in Bildern und Begriffen fassen, ihm Form und Gestalt geben, entziehen wir uns der ursprünglichen Angst. Auch hier wiederum konkurriert das Heideggersche Denken mit der zeitgenössischen Ethnologie, die Lévinas in Lévy-Bruhl repräsentiert findet. Die »metaphysische Welt … beruht auf einer Emotion, die von Vorstellungen nicht abhängig ist und dennoch sich auf das Sein hin öffnet. Es ist ein Begriff von Emotion, der Lévy-Bruhl und den zeitgenössischen Metaphysikern gemeinsam ist.« 130 Die transitive Existenz vollzieht sich primär im Bereich der Emotionen und Gefühle.

§ 9 Die Dialektik der Gegenwart 9.1 Die Kritik der Vorstellung verlangt ein neues Verhältnis zur Zeit. In einer gewissen Weise nämlich hebt die Vorstellung die Zeit M. Heidegger, Sein und Zeit, § 40. »honte« und »nausée«: vgl. E 85 ff. 89 ff. 129 »horreur«: vgl. EE 98 ff./VS 72 ff. 130 EN 58–9/ZU 62; eine Seite weiter ist die Rede von der »Beförderung der von der Vorstellung befreiten affektiven Erfahrung in der modernen Philosophie«. 127 128

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auf und sammelt alles in einer idealen Gegenwart. Die Vorstellung negiert die Zeit. Das bedeutet nicht, daß sie gegen alle Evidenz keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft anerkenne. Die theoretische Einstellung bestreitet nicht, daß der Gegenwart eine Vergangenheit vorausliegt und eine Zukunft auf sie wartet. Aufhebung der Zeit bedeutet, daß auch die Vergangenheit und die Zukunft in die Gegenwart geholt werden. Die Gegenwart hört auf, nur eine Mitte zwischen Vergangenheit und Zukunft zu sein; statt dessen konzipiert das Denken eine ideale Gegenwart, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig sind. Lévinas hat später für diese Zeitauffassung den Ausdruck eines »synchronisierenden« Denkens geschaffen. Das synchronisierende Denken wird sowohl von der Wissenschaft als auch von der christlichen Religion praktiziert. Die Wissenschaft hat es vor allem mit den idealen Gesetzen des Wandels zu tun. Die Kenntnis der Gesetze erlaubt uns, die Vergangenheit zu rekonstruieren und die Zukunft zu antizipieren. Wer die idealen Gesetze kennt, ist wie Gott, der die Welt nach seinen Gesetzen regiert. Wenn wir das »Programm« eines Geschehens oder Verlaufs kennen, sind die Verlaufsphasen virtuell gleichzeitig. Diesen Umstand nutzt die Technik, um alles Unvorhergesehene aus der Zukunft zu eliminieren. Es ist die »Idee des Gesetzes, die uns erlaubt, das in der Wahrnehmung verlorene Ganze wiederzufinden« 131 . Generell tendiert die technische Anwendung der Wissenschaften, wie sie seit der Neuzeit gehandhabt wird, dazu, sowohl räumliche wie zeitliche Differenzen und Abstände einzuebnen; sie richtet eine Welt ein, in der alles an jedem Ort zu jeder Zeit zur Verfügung steht. Aber nicht nur die Wissenschaft, auch die christliche Religion ist seit langem auf diesem Weg. Der jüdische Gott ist ein jenseitiger Gott, ein Gott, dem nichts in der Gegenwart vergleichbar ist, ein Gott ohne Namen. Er ist nicht unseresgleichen, sondern hat die Autorität des Vaters und Schöpfers, der zwar für jede Gegenwart vorausgesetzt, dennoch in keiner ist. Das Christentum dagegen hat seinen Namen von Christus, der mit uns das irdische Leben geteilt hat. »Gewiß ist das Christentum in einem sehr hohen Maße Judentum; aber nicht dem Judentum verdankt es seinen Erfolg. Seine Originalität bestand darin, jenen Vater, an den der Jude geklammert ist wie an seine Vergangenheit, in den Hintergrund zu verbannen und zum Vater nur 131

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Vgl. EJ 102/Jus 68.

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über den Fleisch gewordenen Sohn zu gelangen, d. h. über eine Gegenwart, über seine Gegenwart unter uns … Gott ist dem Menschen Bruder, d. h. er ist ihm zeitgenössisch.« 132 Das europäische Denken hebt die Zeit in der Gegenwart auf. Für Europa ist das wahre Sein nicht der empirische Verlauf der Ereignisse, sondern die idealen Gesetze, die dem Geschehen zugrundeliegen und es steuern. Der Glaube an die Unbedingtheit des Idealen kommt ins Wanken in dem Augenblick, in dem das Ideale als Produkt unserer Tätigkeit durchschaut und entlarvt wird. Was wir für das Reale hielten, ist es nur dank unserer Projektionen, Konstitutionen und Gemächte. Das Denken und die Vorstellung offenbaren uns nicht das Wirkliche, sondern verstellen es uns. Alle Kritik der Vorstellung läßt sich in der These zusammenfassen: Sie schließt uns in die selbst gemachten Begriffe ein und damit von der Wirklichkeit aus. Das Wirkliche aber ist zuunterst die Zeitlichkeit des Subjekts. Die Frage nach der faktischen Existenz und nach den Leitlinien des Lebens, die sowohl Rosenzweig als auch Heidegger bewegt, erweist sich somit als Frage nach der Zeit. 9.2 Die Frage ist, ob die faktische Existenz dem Menschen Anhaltspunkte bietet, an denen er sein Leben ausrichten kann. Lévinas erörtert zwei Antworten auf diese Frage: die Sartres und die Heideggers. Für Sartre bietet die faktische Situation, in der der Mensch sich je findet, nichts Bindendes, nichts Verpflichtendes. Bindung und Verpflichtung haben ihre Quelle allein in der menschlichen Freiheit. Allein kraft einer Entscheidung entsteht eine Verpflichtung. Die faktische Situation als solche ist radikal indifferent. Seiner Faktizität nach ist der Mensch zunächst nichts als »nackte Existenz« 133 . Was der Mensch sein kann und sein will, muß er aus Eigenem bestimmen. Die nackte Existenz ist nichts als eine Anzahl von Fakten, die sind, was sie sind, ohne Grund und ohne Ursprung. Gerade die Orientierungslosigkeit liefert einem Subjekt, das handeln und daher sich entscheiden muß, das Motiv, »den Ursprung durch die Freiheit zu ersetzen« 134 . Als nackte Existenz ist der Mensch nichts als »die Freiheit, sich ein Wesen (essence) zu schaffen« 135 EJ 102/Jus 68–9. EJ 103/Jus 70. 134 EJ 102/Jus 68. 135 EJ 103/Jus 70. Den Grund für die Nacktheit der Existenz, für ihre Unverbindlichkeit, sieht der Artikel in der Reduktion der Zeit auf die Gegenwart, wie sie das nicht-jüdische Denken Europas charakterisiere. Während das Faktum des Judentums seinen Grund und 132 133

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Aber diese Freiheit führt den Menschen nicht über sich hinaus. Sie ist selbst nur der letzte Ausweg aus seiner Orientierungs- und Hilflosigkeit und ihr Ausdruck. Das Wesen, die ideale Essenz, die sich der Mensch gibt, ist kraftlos und relativ. Heideggers Philosophie unterscheidet sich auch für Lévinas seine Verbindlichkeit aus der jüdischen Vergangenheit beziehe, nämlich aus der göttlichen Offenbarung und dem Bezug zum Schöpfergott, habe die griechisch-christliche Welt allen Bezug zur Vergangenheit abgebrochen, indem alles in die Gegenwart gehoben werde. Die jüdische Welt ist dominiert durch die Beziehung Gottes zu seinem Volk, die »Beziehung des Vaters zu seinen Kindern« (EJ 105/Jus 71), wohingegen die Originalität des Christentums darin bestand, »jenen Vater … in den Hintergrund zu verbannen …« (EJ 102/Jus 68–69). Das entscheidende Merkmal der nicht-jüdischen Welt besteht demnach darin, daß sie die Gegenwart von ihrer Vergangenheit, das gegenwärtige Faktum von seinem Ursprung löst. Die Philosophie der Existenz entnimmt ihren »Begriff des Faktums einer Welt ohne Ursprung, einer bloß gegenwärtigen Welt … Das Faktum so von seinem Ursprung zu lösen, das genau heißt, in der modernen Welt zu sein, die in ihrer Wissenschaft auf die Suche nach dem Ursprung verzichtet hat und in ihrer Religion die Gegenwart verherrlicht« (EJ 104/Jus 79). Mit einem Wort: Der Begriff der Faktizität, wie er in der Philosophie der Existenz verwendet wird, hat seinen Grund in der Reduktion aller Zeit auf die Gegenwart. Diese Erklärung steht nun im Gegensatz zu Lévinas’ eigener Theorie und, wie uns scheint, zu den Fakten. Die Schaffung einer umfassenden Präsenz und die gleichzeitige Erhebung allen Seins in die Idealität ist das Werk der theoretischen Einstellung. Solange diese geistige Welt Geltung und Bestand hat, ist auch die Frage nach dem Ursprung geklärt. Es sind die Ideen selber und die idealen Gesetze, die am Ursprung der empirischen, der existierenden Welt sind. Der Mythos sieht den Ursprung der Welt in göttlichen Handlungen, die Gegenstand von Geschichten und Erzählungen sind. Die Wissenschaft hingegen sucht den Grund für die faktische Existenz zunächst in idealen Verhältnissen und Gesetzen. Für einen objektiven Idealismus, wie ihn etwa Platon vertreten hat, sind die Dinge weder grund- noch orientierungslos. Erst der Zusammenbruch des Idealismus, d. h. der objektiven und von uns unabhängigen Geltung der Ideenwelt beraubt die faktische Existenz ihrer bisherigen Gründe. Unter dem Zusammenbruch des Idealismus verstehen wir den Umstand, daß die Ideen, die bislang unbedingte Geltung hatten und als das Absolute selbst angesehen wurden, als Produkte des menschlichen Geistes durchschaut werden, als Begriffe, die uns dazu dienen, das Mannigfaltige zu ordnen und das Chaos zu bändigen. Dieser Zusammenbruch beginnt bereits mit Kant. »Begreifen ist beherrschen«, schreibt der junge Hegel (Werke in 20 Bänden, Bd I, »Frühe Schriften«, 242) Die Relativierung unserer Begriffe und Vorstellungen ist der Grund für den sog. Zusammenbruch des Idealismus. Was übrigbleibt, ist die »nackte Existenz«. An sie, an das faktische Leben, richten sich nun die Fragen, die eine neue Orientierung suchen. Damit kommt freilich auch und gerade die Geschichte neu in den Blick. Während der Glaube an eine historische Offenbarung mit den Prämissen des Rationalismus in Widerspruch steht, mag er, unter den Bedingungen der Moderne, paradigmatischen Charakter gewinnen. Aber erst der Zusammenbruch des Idealismus beraubt das faktische Leben seines Grundes und kann so die Idee eines

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merklich von der Sartres. Aber sie wird von Lévinas nicht günstiger beurteilt. Heidegger hat mit einer unvergleichlichen Radikalität die letzten Reste der alten Metaphysik destruiert, indem er alle Idealität auf die Zeitigung des Seins zurückführt. Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit charakterisieren die Existenz. Aber anders als bei Sartre, bleibt der Entwurf an die geschichtliche Situation zurückgebunden. Der Entwurf ist nicht freier Entwurf, sondern geworfen. Aus dem Entwurf auf die Zukunft kommt uns das Gewesene entgegen. Aber aus der Perspektive Lévinas’ ist gerade diese Bindung an das Gewesene, an die Geschichte, an die historischen Möglichkeiten, der Rückfall in die mythische Seinsweise. Heidegger bleibt gefangen in der Alternative oder dem Widerspruch von mythischer und logischer Welt. Die Dialektik von Mythos und Logos bietet keine Alternative. Das Seiende kann sich von der Fessel des Seins nicht befreien. Im Begriff des Daseins bleibt der Widerspruch erhalten: Die Existenz als Beziehung des Menschen zum Sein ist »Herrschaft des Seins über uns inmitten unserer Herrschaft über das Sein« 136 . Mit Heidegger kommt die Philosophie am Ende ihrer Geschichte wieder an ihren historischen Anfang zurück. Sie hebt an als der Kampf gegen die mythische Existenz. Sie sucht den Menschen zu befreien aus der Gefangenschaft im Sein: »Entstand nicht die Philosophie auf griechischem Boden, um die Meinung zu entthronen, in der alle Tyrannei droht und lauert? Vermittelst der Meinung sikkert in die Seele das subtilste und perfideste Gift, das die Seele in ihrem Grunde ändert, das aus ihr ein Anderes macht. Die Seele, die ›vom anderen aufgegessen wird‹, wie Monsieur Teste 137 sagen würde, spürt ihre eigene Veränderung nicht und setzt sich gerade dadurch sich selbst setzenden, »von nichts her kommenden« (EJ 102/Jus 68) Subjekts hervorbringen. Auch mit Lévinas’ eigenen Voraussetzungen stimmt die Herleitung der Faktizität nicht überein. Sie übergeht die Unterscheidung zwischen Bürgertum und Moderne, wie wir sie in »De l’évasion« finden (vgl. 18,2). Wir haben zu zeigen versucht, daß die Welt der Vorstellung nach ihrem eigenen Verständnis eine Welt mit festen Größen und Orientierungen ist. Sie ist die Welt der Substanzen und der zweifelsfreien Selbstgewißheit. Erst der Bruch mit der Vorstellung und dem theoretischen Denken bringt das Sein in den Blick samt den Möglichkeiten, die Zeit des Seins zu verstehen. 136 DEHH 106/SpA 80. Auffallend ist, daß Lévinas für Dasein gelegentlich den Ausdruck »ici-bas« verwendet. Für ihn ist das Dasein das Diesseits, das irdische oder weltliche Leben, das Heidentum, das das Jenseits ignoriert; vgl. HO 405: »le terme Dasein (l’être ici-bas), le terme Daseiendes (l’étant ici-bas)«. 137 Vgl. von Paul Valéry den Roman »Monsieur Teste« in: Œuvres, t. II. A

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aller Gewalt aus. Aber diese Durchdringung und dieser Zauber der Meinung setzen ein Stadium mythischen Seins voraus, in dem die Seelen aneinander teilhaben im Sinne Lévy-Bruhls. Gegen diese verwirrende und trübe Teilhabe wollte die Philosophie die Trennung der Seelen und, in einem gewissen Sinne, ihre Undurchdringlichkeit.« 138 Die Existenz gerät unter die Herrschaft des Subjekts; sie wird Existenz eines Seienden. In diesem Sinne kann Lévinas von der »Einsamkeit des Existierens« 139 sprechen: »Ich bin nicht der andere. Ich bin völlig allein. Es ist also das Sein in mir, die Tatsache, daß ich existiere, mein Existieren, welches das absolut intransitive Element, etwas ohne Intentionalität, etwas ohne Bezug ausmacht.« 140 Der Preis der Freiheit ist die Einsamkeit und die Verschlossenheit, eine neue Gefangenschaft. Indem sich die Philosophie des vorstellenden Denkens bedient, hat sie das Subjekt vom Leben ausgeschlossen und zugleich in das Gefängnis der eigenen Identifikationen eingeschlossen. Der Ausweg aus diesem selbstgemachten Gefängnis scheint daher die Rückkehr zum Sein zu verlangen, zu einem Denken, das der Theorie vorausgeht und den Verzicht auf die Autonomie des Subjekts einschließt. So führt die Entwicklung des Logos selbst in den Mythos zurück. Das aporetische Verhältnis von Mythos und Logos bestimmt die Philosophie von Anfang an. Mythos ist der Name für die Auflösung des Subjekts im anderen, Logos der Name für die Auflösung des anderen im Subjekt. In der frühen griechischen Philosophie sind sie repräsentiert durch den Gegensatz von Heraklit und Parmenides. In der Vorlesung über »Die Zeit und der Andere« hat das mythische Sein die Gestalt des heraklitischen Flusses, in den der Mensch nicht zweimal steigt, weil sich in ihm keine Identität bilden und bewahren kann. 141 Ihm stellt Lévinas die Einheit des parmenideischen Seins entgegen, das in unveränderter Identität mit sich verharrt und alles andere aus sich ausschließt 9.3 Mythos und Logos verhalten sich zueinander wie das unaufhörliche, alle Identität auflösende Werden und die unveränderlich verharrende Gegenwart. Daher beruht die Alternative von Mythos und 138 139 140 141

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DEHH 166/SpA 187. TA 21/ZA 20. TA 21/ZA 20; kursiv von mir. TA 28/ZA 24.

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§ 9 Die Dialektik der Gegenwart

Logos am Ende auf einem zeitlichen Verhältnis, nämlich der Dialektik der Zeit oder der Gegenwart. Einerseits ist der gegenwärtige Augenblick selbst nichts; denn er löst sich im Werden auf. Er ist nur die ausdehnungslose Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. »Wir haben keine Gegenwart. Sie zerrinnt uns zwischen den Fingern.« 142 Andererseits ist das Sein des Subjekts wie Sein überhaupt Gegenwärtigsein. »Wir sind in der Gegenwart, in der Gegenwart können wir Vergangenheit und Zukunft haben. Dieses Paradox der Gegenwart – alles und nichts – ist alt wie das menschliche Denken.« 143 Die Gegenwart ist nichts zwischen Vergangenheit und Zukunft, und sie ist alles. Das macht ihr Paradox aus. Damit hat sich die Alternative des Subjekts, in der Zeit aufzugehen oder die Zeit zu beherrschen, als dialektisches Verhältnis der Gegenwart erwiesen. Die Konstitution des identischen Seienden führt zum Narzismus 144, zur Totalität des Selben, die Kritik am Narzismus zur Auflösung des Subjekts im Strom des Seins. Das Subjekt ist nur Subjekt, indem es den heraklitischen Fluß zum Stehen bringt. Aber die parmenideische Einheit vernichtet ihrerseits allen Bezug zum Sein, indem sie das Subjekt in sich einschließt und entwirklicht. So ist das alte Problem des Gegensatzes und der Einheit von stasis und kinesis, wie Platon es im »Sophistes« in Bezug auf das Sein formuliert hat, aus Lévinas’ Perspektive der Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses: der alternativen Herrschaft des Seins über den Menschen oder des Menschen über das Sein. Kann man den Menschen auf den Antagonismus, gleichzeitig Herr und Knecht des Seins zu sein, reduzieren? »Unterhält der Mensch nicht … eine andere Beziehung zum Sein als die der Herrschaft über es oder der Knechtschaft, des Tuns oder des Erleidens?« 145 Dies ist die alles leitende Frage in der Philosophie Lévinas’. Mit ihr schließt der Aufsatz, in dem Lévinas den Weg von Husserl zu Heidegger darlegt, den Weg »von der Beschreibung zur Existenz«. Ist der Kampf um das Sein das letzte Wort?

142 143 144 145

EE 167/VS 120. EE 167/VS 120. DEHH 167 ff./SpA 188 ff. DEHH 107/SpA 80. A

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§ 10 Eine andere Zeit 10.1 Für Lévinas ist die entscheidende Frage, ob es jenseits der nackten Existenz, jenseits des materiellen Lebens und seiner Imperative eine Instanz gibt, die über das Leben hinausgeht und ihm eine neue Orientierung geben kann, eine Orientierung, die die Perspektive auf einen Frieden eröffnet. Wer von Jenseits spricht, von Transzendenz, denkt zunächst an die Welt der Ideale und Werte. Aber diese hat abgewirtschaftet. Es kann keine Rede davon sein, zu dem alten Idealismus zurückzukehren. Es gibt keinen »Ausweg in Richtung auf eine Philosophie, die als vor-heideggerisch zu qualifizieren wäre« 146 . Gesucht wird ein »neuer Weg« 147 . Diesen neuen Weg finden wir bei Lévinas von Anfang an angedeutet. Für den europäischen Gedanken der Freiheit nennt Lévinas einen zweifachen Ursprung: den Bezug auf eine jenseitige Instanz, die dem Menschen Vergebung und damit Erneuerung der Zeit gewährt, und das Denken als das philosophische Instrument der Befreiung. Nachdem das Denken und der Bezug auf eine ideale Welt sich als ohnmächtig erwiesen haben, sucht Lévinas eine Lösung im Bezug auf eine äußere Instanz, die sich in der Existenz »manifestiert«. Das Jenseits der Existenz muß sich in der Existenz selbst offenbaren. Gesucht wird ein »Ereignis, das im Vollzug der Existenz selbst diese Existenz aufbricht« 148 . Das Jenseits wird also selbst den Charakter der Zeit haben. Ein solches Jenseits findet Lévinas vor allem in den beiden Dimensionen der Zukunft und der Vergangenheit. Zukunft und Vergangenheit haben hier allerdings einen neuen Sinn. Im Vollzug des mythischen Seins gehen Zukunft und Vergangenheit ineinander über. Es ist nicht nur der Unterschied zwischen Sein und Seiendem eingeebnet, da das Seiende ins Sein zurücksinkt; sondern auch die Zeitdimensionen gehen ineinander über. Der Mensch ist seine Möglichkeiten, seine Zukunft, und zugleich schöpfen sie ihre Geltung aus der Vergangenheit. Die mythische Zeit ist die Zeit des Tragischen.

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EE 19/VS 20. E 99. E 99.

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§ 10 Eine andere Zeit

Aber auch die Vorstellung kennt keine eigentliche Zeit, da sie Zukunft und Vergangenheit in die Gegenwart hineinholt. Gegen die Zeit des Seins und die Zeit der Vorstellung setzt Lévinas eine absolute Vergangenheit und eine absolute Zukunft. Der Begriff des »Absoluten« ist hier wörtlich zu nehmen. Eine Vergangenheit ist absolut, wenn sie von der Gegenwart und die Gegenwart von ihr losgelöst ist. Sie ist von der Gegenwart losgelöst, wenn sie nicht in der Gegenwart aufgehen kann, und wenn zugleich die Gegenwart nicht in der Vergangenheit zurückbehalten bleibt. Die tragische Vergangenheit ist ebenso wenig absolut wie die bloß vorgestellte. Beide verneinen den unbedingten Charakter der Vergangenheit. Dabei geht es in Lévinas’ Zeitkonzeption nicht um unser subjektives Zeitverständnis, sondern um eine Ontologie der Zeit. »Es handelt sich nicht um unsere Idee von der Zeit, sondern um die Zeit selbst.« 149 Dasselbe gilt auch für die Zukunft. Lévinas sieht drei Möglichkeiten einer absoluten Zeit: eine absolute Vergangenheit, eine absolute Zukunft und endlich auch eine absolute Gegenwart. Wir haben gehört, daß er die Frage stellt: »Unterhält der Mensch nicht … eine andere Beziehung zum Sein als die der Herrschaft über es oder der Knechtschaft, des Tuns oder des Erleidens?« 150 Als Kreatur ist der Mensch auf eine unvordenkliche Vergangenheit bezogen. Die absolute Vergangenheit knüpft sich an die Schöpfung einerseits und die Offenbarung andererseits. Die Schöpfung entläßt den Menschen in die Selbständigkeit. Sie stellt ihn auf eigene Füße, macht ihn zu einem unabhängigen Seienden. Auch die Autonomie des Menschen kann über den Charakter der Kreatürlichkeit nicht hinwegtäuschen. »Wir alle behaupten ja, daß die menschliche Autonomie auf einer obersten Heteronomie beruht, und daß die Kraft, die solch wunderbare Wirkungen zeitigt, die Kraft, welche die Kraft, [nämlich] die zivilisatorische Kraft, begründet, Gott heißt.« 151 Der Mensch ist unabhängig und selbständig; aber die Selbständigkeit ist ihm in der Schöpfung verliehen. In anderer Weise ist auch der Akt der Offenbarung Gottes ein Akt der Schöpfung. Die Offenbarung löst den Menschen aus der Fessel an das mythische Sein und erhebt ihn über die bloß animalische Natürlichkeit hinaus. Die Offenbarung Gottes vollzieht sich als Akt 149 150 151

TA 17/ZA 17. DEHH 107/SpA 80. DL 25/SF 21. A

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der Transzendenz des Menschen über die nackte Existenz, sein natürliches Sein, hinaus. Eine dritte Form absoluter Vergangenheit findet Lévinas in der Diachronie als der unvordenklichen »Gegenwart« des anderen. Diese Themen klingen bei Lévinas schon in seinen frühesten Aufsätzen an. Schon 1934 schreibt er: »Das schneidende Gefühl der Ohnmacht des Menschen angesichts der Zeit macht die ganze Tragik der griechischen Moira aus.« Dagegen bringt die Religion des Judentums die Idee der Verzeihung: »Der Mensch findet in der Gegenwart die Mittel, die Vergangenheit zu verändern, auszulöschen.« Damit aber steht ihm die Möglichkeit der ewigen Erneuerung offen: »Die wahre Freiheit, der wahre Anfang … [fordert] eine wahre Gegenwart, die, immer auf der Spitze einer Bestimmung, diese ewig erneuern würde.« 152 Die Befreiung aus dem Sein wäre nicht das Werk eines autonomen Subjekts, sondern eines Geschehens, einer Offenbarung, die der Mensch passiv empfängt. Das andere kann nur von außen kommen; es trifft den Menschen in unbedingter Passivität. Der Bezug zum anderen wird die Voraussetzung für die Befreiung aus dem Sein. Aber Lévinas erwägt auch eine zweite Möglichkeit: nämlich den Ausbruch aus der Gegenwart dank einer nicht zu antizipierenden Zukunft. Dieser Gedanke knüpft nicht mehr an die Kreatürlichkeit, sondern an die Geschlechtlichkeit des Menschen an und wird vor allem in den Vorträgen unter dem Titel »Le temps et l’autre« entwikkelt. Hier lautet die These: Die Zukunft ist die Zeitdimension oder besser das Zeitgeschehen des anderen in der Form des Weiblichen. Diese Konstruktion erlaubt zugleich, den drei Zeitdimensionen drei Seinsweisen zuordnen: der Vergangenheit die mythische Welt, der Gegenwart das Subjekt-Objekt-Verhältnis und der Zukunft schließlich das andere. Endlich hat Lévinas auch in der Gegenwart die Zeit des anderen gesehen: In »Totalität und Unendlichkeit« wird die Gegenwart die Dimension, in der der andere, das Antlitz, mich unmittelbar anspricht. Die Frage, welcher Deutung er den Vorzug gibt, ob das andere aus der Zukunft, aus der Vergangenheit oder aus der Gegenwart kommt, ob die verschiedenen Lösungsansätze miteinander kompatibel sind oder sich gegenseitig ausschliessen, hat Lévinas nicht ein für 152

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Alle Zitate Herne 154/5.

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allemal entschieden. Vielmehr verfügt Lévinas über ein gewisses begriffliches Instrumentarium, das immer wiederkommt und insofern von Anfang an eine Art Material darstellt, das aber, ähnlich wie in einem Laboratorium, in immer neuen Zusammensetzungen erprobt wird. In diesem Sinne gibt es nicht die Philosophie von Lévinas, sondern mehrere Ansätze. Es ist eine Untertreibung, wenn B.-H. Lévy erstaunt fragt: »Gibt es einen Lévinas und dann noch einen anderen?« 153 Anderseits lassen sich verschiedene Phasen im Denken Lévinas’ unterscheiden, in denen er durch eine je andere Kombination von den zentralen Begriffen einen je anderen Gebrauch macht. Dabei hat jeder neue Ansatz in sich Stimmigkeit. Wer diese Unterschiede nicht beachtet, wer so tut, als würden dieselben Worte immer dieselben Begriffe bezeichnen, der wird gewisse Mehrdeutigkeiten nicht klären können. 10.2 Die Offenbarung eines anderen, und zwar als ein zeitliches Geschehen, das ist der Grundgedanke der Lévinas’schen Philosophie. Insofern kommt den Vorträgen unter dem Titel »Die Zeit und der Andere« eine programmatische und bis ans Ende durchgehaltene Bedeutung zu. Wie aber dieser Gedanke im einzelnen durchgeführt wird, das unterliegt einer Entwicklung, die die Unterscheidung verschiedener Ansätze notwendig macht. 154 In der frühen Philosophie tritt das Andere vor allem als die Geliebte auf. Dieser Ansatz, den man den erotischen nennen kann, ist vor allem in den Schriften »Vom Sein zum Seienden« und »Die Zeit und der Andere« entwikkelt. Die späte Philosophie von Lévinas dagegen lehnt die erotische Liebe ab; sie sucht die Transzendenz in der Verantwortung und in dem Für-den-Anderen. Dabei ist der andere nur in einer unvordenklichen Vergangenheit »gegenwärtig«. Diesen ethischen Ansatz hat Lévinas vor allem in dem Werk »Jenseits des Seins« ausgeführt. Cahiers I, 128. Die Rede vom »Ansatz« sollte nicht auf die Goldwaage gelegt werden. Es geht in der Darstellung darum, die Einheit und Beständigkeit der Intention mit dem Wandel in der konkreten Ausgestaltung zu vereinbaren. Unter einem neuen Ansatz soll eine Reorganisation des Ganzen verstanden werden, die zu einer merklich veränderten Anordnung der wesentlichen Elemente führt. Man hätte ebenso gut von verschiedenen Entwürfen oder, mit anderer Betonung, von verschiedenen Phasen sprechen können. Es liegt nichts am Ausdruck, alles am konkreten Aufweis von Lévinas’ Denkbewegung. Wie man die Bewegung nennt, bleibt am Ende sekundär. 153 154

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Schließlich finden wir in einer Übergangsphase eine Verknüpfung von ethischer und erotischer Transzendenz. Für diesen ethico-erotischen Ansatz – den ich in der Folge abkürzend den »ethischen Ansatz« nenne – steht repräsentativ das Buch »Totalität und Unendlichkeit«. Daher teilt sich die weitere Untersuchung in die Abschnitte: II. Die erotische Transzendenz, III. Die ethische Transzendenz und IV. Die meta-ontologische Transzendenz.

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§ 11 Ontologische Differenz und Transzendenz 11.1 a. Seinen eigenen philosophischen Weg hat Lévinas beschrieben als »Weg, der vom Sein zum Seienden führt und vom Seienden zum anderen« 1 . Bevor wir auf die Einzelheiten eingehen, wollen wir zunächst die Route vorzeichnen, der wir dann folgen werden. Ausgangspunkt ist für Lévinas die Differenz des Seins und des Seienden, also das, was Heidegger als die ontologische Differenz bezeichnet. »Kommen wir noch einmal auf Heidegger zurück«, so lesen wir. »Seine Unterscheidung von Sein und Seiendem – … – kennen Sie sehr wohl, doch aus Gründen des besseren Klangs ziehe ich es vor, durch Existieren und Existierende 2 zu übersetzen … Heidegger unterscheidet die Subjekte und Objekte – die Seienden, die sind, die Existierenden – von ihrem Werk zu sein als solchem. Die einen lassen sich durch Substantive oder substantivierte Partizipien übersetzen, das andere durch ein Verb … Diese Unterscheidung Heideggers ist für mich das Tiefste in Sein und Zeit. Doch bei Heidegger gibt es nur Unterscheidung, keine Trennung … Ich glaube nicht, daß Heidegger ein Sein ohne Seiendes zugestehen könnte. Das würde ihm absurd erscheinen.« 3 Heidegger unterscheidet zwar das Sein vom Seienden, aber es gibt kein Sein ohne Seiendes. Der Prozeß des Seins ist das Aufgehen im Seienden. In diesem Sinne ist das Dasein als das Da des Seins

DL 375. Exister und existant. Über die Schwierigkeit, das Wort »Seiendes« in angemessenes Französisch zu übersetzen, berichtet W. Biemel, der zusammen mit A. de Waelhens Heideggers »Vom Wesen der Wahrheit« übersetzt hat (vgl. W. Biemel, Gesammelte Schriften, Bd I, 490): »Ich erinnere mich beispielsweise an den Widerstand von D. Waelhens, ›Seiendes‹ mit ›étant‹ zu übersetzen. ›Stellen Sie sich vor, jemand liest das laut vor, dann wimmelt es plötzlich von Teichen (étangs)‹.« 3 TA 24/ZA 21-2. 1 2

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ineins »Verb und Substantiv« 4 : »Niemals darf man diese Ambiguität vergessen.« 5 Darin liegt der »amphibische Charakter des substantivischen Verbs« 6 . Dagegen erkennt Lévinas im bloßen Sein ohne Seiendes eine eigene Instanz, die er auch »es gibt« 7 nennt. Das ›es gibt‹ ist der Name für das Sein ohne Seiendes. Das Sein ohne Seiendes wird nicht nur für das Denken vom Seienden unterschieden, sondern als eine unabhängige Seinsform vorgestellt. Lévinas löst damit die Einheit, die die ontologische Differenz auch bildet, auf. b. Das Sein ohne Seiendes ist der bloße Zeitfluß, der jede Identität unmöglich macht. Für Lévinas verbindet er sich mit dem Namen des Heraklit und des Kratylos. Nach dem Bericht des Aristoteles war für Kratylos das Sein ganz und gar unsagbar: »Da sie« – nämlich diejenigen, die das Sinnliche für das Wahre hielten – »sahen, daß sich diese Natur in ihrem ganzen Umfang verändere und es von dem in Veränderung Begriffenen keine wahre Aussage gebe, so meinten sie, daß sich über dies auf alle Weise durchaus in Veränderung Befindliche nichts mit Wahrheit sagen lasse. Aus dieser Annahme ging die überspannteste unter den erwähnten Ansichten hervor, derer nämlich, die sich Anhänger des Herakleitos nennen, und des Kratylos, der zuletzt glaubte, gar nichts mehr sagen zu dürfen, sondern nur den Finger zum Zeigen bewegte und dem Herakleitos Vorwürfe darüber machte, daß er erklärt, man könne nicht zweimal in denselben Fluß einsteigen; denn er selbst« – Kratylos – »meinte vielmehr, man könne auch nicht einmal einsteigen.« 8 Auf diese Stelle bezieht sich Lévinas, um das bloße Es-gibt zu charakterisieren. »Wenn man … den Begriff des Es-gibt mit einem der großen Themen der klassischen Philosophie vergleichen müßte, würde ich an Heraklit denken. Nicht an den Mythos vom Fluß, in dem man nicht zweimal baden kann, sondern an die Version des Kratylos, nämlich die eines Flusses, in dem man nicht einmal ein einziges Mal baden kann; in dem nicht einmal die Beständigkeit der Einheit, der Form jedes Seienden, sich bilden kann; Fluß, in dem das letzte Element von Beständigkeit ver-

DEHH 81. DEHH 81. 6 DEHH 81; später wird Lévinas von der »amphibologie de l’être et de l’étant« sprechen, die er als »essence« der »diachronie« entgegensetzt. 7 il y a 8 Aristoteles, Met. 1010a, 7. 4 5

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schwindet, in Bezug auf das sich das Werden versteht.« 9 Einem Sein, das allein Bewegung kennt, fehlt jede Bestimmtheit; wird sie aber an es herangetragen, löst sie sich im Strom auf. Da eine Bestimmung etwas von etwas anderem unterscheidet, ist das Sein als Fluß ohne bleibenden Unterschied, bloße Indifferenz, weder positiv noch negativ, sondern das beständige Übergehen jeder Bestimmung in ihr Gegenteil. c. Dem Sein steht das Seiende entgegen wie das Bestimmte dem Unbestimmten. Das vorzügliche Seiende ist der Mensch, der Mensch, wie er Gegenstand der phänomenologischen Beschreibung ist, das Subjekt. Im Gegensatz zur Anonymität des Seins vereinzelt sich das Sein im Seienden. Das Grundprinzip des Seienden ist die Einheit, die Identität mit sich selbst. Was bedeutet diese Einheit unter der Voraussetzung der ontologischen Differenz, d. h. der Unterscheidung des Seins vom Seienden? Das Sein ist kein Seiendes; denn in ihm gibt es weder Einheit noch Vielheit, kein Selbes und kein anderes. Es ist »ohne Grenzen« 10 , das, was die Griechen das Apeiron 11 nannten. Das Seiende dagegen ist eines: Omne ens est unum. Mit dem Seienden wird das grenzenlose Sein in die Einheit gesammelt und der Einheit unterworfen. Das Werden und der Wechsel finden nun an einem Seienden statt. Diese Einheit ist also in Wahrheit eine Relation. Darum spricht Lévinas auch hinsichtlich des Seienden von der Identität: Das Seiende wird zum Träger des Wandels, zum Träger im doppelten Sinne: als bleibendes nunc stans und als Substanz. d. Aber diese Identität macht auch die Einsamkeit des Subjekts aus. Sie schließt das Subjekt in sich ein und macht es zu seinem eigenen Gefangenen. Auf dieser Stufe kann das Sein nicht geteilt werden. Es mag andere Subjekte geben, zu denen ich intentionale Beziehungen unterhalte, das Sein mag sich in eine Pluralität von Seienden zerstreut haben. Aber die Seienden können ihr jeweiliges individuelles Sein nicht teilen. Unser Denken, schreibt Lévinas, »beruht in der Tat auf der unlösbaren Verbindung zwischen dem Einen und dem Sein … Das Sein ist für uns Monade. Der Pluralismus zeigt sich in der abendländischen Philosophie nur als Pluralität der Subjekte, die sind. NieTA 28 / ZA 24. TA 29/ZA 25. 11 TI 115, 132/TU 201, 228. 9

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mals zeigte er sich im Sein dieser Seienden. Der Plural ist dem Sein dieser Seienden äußerlich.« 12 Man versteht dies erst richtig, wenn man am Seienden zwischen der Ebene des Seins und der Ebene der Intentionalität unterscheidet. Auf der Ebene des Seins kennt das abendländische Denken durchaus die Pluralität als Vielfalt der Subjekte. Aber die Subjekte bleiben jedes für sich in die Einheit eingeschlossen. Damit behauptet Lévinas nicht gegen allen Anschein, daß die Subjekte nicht miteinander kommunizierten. Das tun sie gewiß. »Es ist banal zu sagen, daß wir niemals im Singular existieren. Wir sind umgeben von Seienden und Dingen, zu denen wir Beziehungen unterhalten. Durch das Sehen, durch das Berühren, durch die Sympathie, durch die gemeinsame Arbeit sind wir mit den anderen. Alle diese Beziehungen sind transitiv; ich berühre einen Gegenstand, ich sehe den anderen. Aber«, so fährt Lévinas nun fort, »ich bin nicht der andere.« 13 Alle transitiven Beziehungen finden auf der Ebene der Intentionalität statt, auf der Ebene der Vergegenständlichung. Sie erlaubt nur Aneignung, keine Gemeinsamkeit, die in die Tiefe der Substanz hineinreichte. Kommunikation meint hier vor allem die Bündelung gemeinsamer Interessen. »Der Kontakt kommt zustande über eine Beteiligung an etwas Gemeinsamem, an einer Idee, an einem Werk, an einer Mahlzeit, an einem ›Dritten‹. Die Personen sind nicht einfach einander gegenüber, sie sind um etwas herum.« 14 Das gilt auch für das Heideggersche Miteinandersein: Auch hier handelt es sich um eine »Verbindung des einen neben dem anderen, um etwas herum, um einen gemeinsamen Bezugspunkt und, speziell bei Heidegger, um die Wahrheit herum.« 15 Diese Ebene der Kommunikation ist zu unterscheiden von der Ebene des Seins. Im Rahmen der so definierten Kommunikation »trägt jeder zu jener Beziehung alles bei außer der privaten Tatsache seiner Existenz« 16 . Die Einheit der Existenz bleibt unangefochten, intransitiv. Hier findet kein Übergang, keine Transzendenz statt. Um jene Transzendenz aber geht es Lévinas, um eine Transzendenz auf der Ebene des Seins, der Existenz, der Substanz. Mit der Unterscheidung der beiden Ebenen nimmt Lévinas ein 12 13 14 15 16

TI 251/TU 401. TA 21/ZA 19–20. EE 62/VS 48. E 62/VS 48; vgl. EE 161–2/VS 117. Ibid. A

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Motiv auf, dem wir schon zuvor unter dem Titel der beiden Richtungen des Subjekts begegnet sind. Hier artikuliert sie ein Bewußtsein und ein Unbehagen an der Doppelbödigkeit des bürgerlichen Daseins. Die Gemeinsamkeit des Lebens findet nur an der Oberfläche statt. Sie erreicht nicht die Tiefe der Existenz. Lévinas dagegen fordert eine Transzendenz in der Tiefe des Seins. Es sind im übrigen die Analysen der Phänomenologie selbst, die die Erfahrung der Einsamkeit bestätigen. Lévinas hatte noch in Straßburg Husserls »Cartesianische Meditationen« zusammen mit Gabrielle Peiffer aus dem Deutschen ins Französische übersetzt. 17 Die fünfte Untersuchung hat Husserl dem Problem der Intersubjektivität gewidmet. Sie hat Lévinas nicht überzeugen können. Daß die Begegnung mit dem anderen in den Kategorien der intentionalen Analyse beschrieben werden sollte, mußte ihm als ein widersprüchliches Unterfangen erscheinen. Sie zeigt, daß der wirklich andere mit den Mitteln, die die Phänomenologie am Werk sieht, nicht erreicht werden kann. Für Lévinas lautet das Resümee: »Ich bin nicht der andere. Ich bin völlig allein. Es ist also das Sein in mir, die Tatsache, daß ich existiere, mein Existieren, welches das absolut intransitive Element, etwas ohne Intentionalität, etwas ohne Bezug konstituiert … In diesem Sinne heißt Sein, sich durch das Existieren isolieren.« 18 Das Sein ist »das Allerprivateste in mir« 19 . Wenn hier vom Sein die Rede ist, so ist das Sein des Seienden gemeint, das Sein unter der Herrschaft der Einheit. e. Diese Einheit des Seins steht auch historisch am Beginn der Philosophie als Ontologie. Parmenides hat als erster die These von der Einheit des Seins ausgesprochen. Wer die Einsamkeit des Subjekts aufbrechen will, muß sich mit Lévinas »auf den Weg machen hin zu einem Pluralismus, der nicht in einer Einheit fusioniert; wir möchten«, so Lévinas, »wenn dies gewagt werden darf, mit Parmenides brechen.« 20 Damit kommt Lévinas zu seinem zentralen Anliegen. Das Sein

Vgl. E. Husserl, Méditations cartésiennes, Paris 1931. TA 19/ZA 18. 19 Ibid.; die Beziehung mit dem Sein des Seienden nennt Lévinas auch die »innere Beziehung schlechthin« (»relation intérieure par excellence«, TA 21/ZA 20), die es von der äußeren zum anderen zu unterscheiden gilt. 20 TA 20/ZA 19. 17 18

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soll nicht in die Einheit eingeschlossen bleiben, es soll sich einem pluralen Existieren öffnen. 11.2 a. Wie sieht diese Transzendenz aus? Die Forderungen, die an sie gestellt werden, scheinen sie unmöglich zu machen; denn sie heben sich gegenseitig auf. Lévinas hat das Problem sehr deutlich gemacht: »Gemäß der klassischen Konzeption widerspricht sich die Idee der Transzendenz. Das Subjekt, das transzendiert, nimmt sich in seiner Transzendenz mit. Es transzendiert sich nicht. Wenn die Transzendenz, statt sich auf einen Wechsel von Eigenschaften, des Klimas oder des Niveaus zu reduzieren, die eigentliche Identität des Subjekts angehen würde, würden wir den Tod seiner Substanz erleben.« 21 Nun soll aber in der Transzendenz das Subjekt einerseits es selbst bleiben, anderseits doch zum anderen hinübergehen. »Kann das Seiende in das Verhältnis zum anderen eintreten, ohne durch das andere sein Sich-selbst auslöschen zu lassen?« 22 Das zentrale Problem der Transzendenz ist die Frage, »wie sich das Ich im Transzendieren bewahren läßt.« 23 b. Der Begriff der Transzendenz, den Lévinas hier zur Geltung zu bringen sucht, entspricht nicht ganz dem, was die Philosophie am ehesten darunter verstand. Der traditionelle Begriff der Transzendenz steht im Zusammenhang mit dem Gegensatzpaar Diesseits – Jenseits. Das Diesseits weiß sich mit Unvollkommenheit und Endlichkeit geschlagen. Das Transzendente hingegen, das Metaphysische oder Unbedingte, ist das Vollkommene und Absolute. Die Transzendenz verlangt den Übergang des unvollkommenen Diesseits in das Jenseits oder in umgekehrter Richtung die Realisierung des Vollkommenen und Unbedingten im Diesseits. Immer aber heißt Transzendenz Angleichung und Einswerdung. Nach diesem Verständnis zielt die Transzendenz auf die Überwindung der Trennung, die Aufhebung der Dualität, die Wiederherstellung einer alten, ursprünglichen Einheit. c. Für den Juden Lévinas hingegen öffnet sich zwischen Diesseits und Jenseits ein solcher Abgrund, daß er weder überwunden werden 21 22 23

TI 251/TU 400. TA 65/ZA 49. TA 66/ZA 49. A

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kann noch eingeebnet werden soll. Die Transzendenz hebt die Dualität nicht auf. Sie zielt auf eine Beziehung mit dem anderen, aber in der Weise, daß weder das Subjekt im anderen verschwindet noch das andere im Subjekt. Darum darf die Überwindung der Einsamkeit des Seienden, seine Transzendenz zum anderen, »kein Erkennen [sein], denn durch das Erkennen wird das Objekt, ob man will oder nicht, ganz vom Subjekt vereinnahmt und die Dualität verschwindet. Sie ist keine Ekstase, denn in der Ekstase wird das Subjekt vom Objekt vereinnahmt und befindet sich somit wiederum in seiner Einheit. Alle diese Beziehungen laufen auf das Verschwinden des anderen hinaus.« 24 Nach dieser Vorgabe darf auch das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Seienden nicht als Transzendenz verstanden werden. Das Hinausgehen des Seienden, das sich aus dem Sein heraushebt, zielt auf die Herstellung der Identität des Seienden, das heißt auf das Aufgehen des Seins in der Einheit des Seienden. Aber auch wenn in umgekehrter Richtung das getrennte Seiende sich mit dem All des Seins zu vereinigen begehrt, transdiert es nicht; denn in der Vereinigung mit dem Sein gibt es seine Identität auf. So sind das Sein und das Seiende einander komplementär. Mystik und Ekstase tendieren zur Auslöschung des Seienden und zu seiner Auflösung im Sein; das seiende Subjekt hingegen läßt das andere in seiner Einheit verschwinden. Damit kommen wir auf die Frage zurück: Was bedeutet Transzendenz, wenn sie weder Ekstase noch Erkenntnis ist? In dieser Frage verbirgt sich eine Schwierigkeit, die die ganze Philosophie Lévinas bis ans Ende begleitet. Die Transzendenz steht unter einer doppelten Forderung: Sie muß die Dualität und damit das Seiende bewahren, und zugleich soll das Seiende nicht es selbst bleiben, sondern zum anderen übergehen. Eben das ist gemeint, wenn es heißt, sie sei weder Ekstase (Übergang des Selben ins andere) noch Erkenntnis (Integration des anderen ins Selbe). Fragen wir zunächst, was es bedeutet, daß die Transzendenz keine Ekstase ist. d. Die Transzendenz kann nicht darin bestehen, daß sich das Seiende dem anderen in die Arme wirft und darin aufgeht. Mit der Wiederherstellung der Einheit wäre die Dualität des Einen und des ande24

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ren vernichtet. Eben das ist die Kritik Lévinas’ an dem Rückfall in die mythische Seinsweise: Er hebt die Differenz auf. Das Begehren, mit dem anderen zu verschmelzen und eins zu werden, das auch die Mystik und die jüdische Kabbala beseelt, läßt die Transzendenz in der Einheit erstarren. Daher die Wendung Lévinas’ gegen jede Form religiösen Obskurantismus’. Dies hat vor allem C. Chalier hervorgehoben: »Der einzigartige Beitrag Lévinas’ zur Tradition der biblischen und talmudischen Lektüre verlangt die Treue zum litauischen Judentum, im Gegensatz zu den ›Exzessen‹ des Chassidismus und zu aller Frömmigkeit, die das Studium der Herzensglut unterordnet. Er distanziert sich deutlich von der Kabbale, von ihrer Theosophie und ihrer Rehabilitation des Mythos; er gesteht seine Bewunderung für Maimonides und sein Mißtrauen gegenüber denjenigen, welche den Begriffen die Bilder vorziehen.« 25 Das andere bleibt nur das Andere, solange auch das Selbe es selbst bleibt, solange also die Dualität Bestand hat. Die Transzendenz darf die Identität des Selben nicht zunichte machen. Daher auf Seiten Lévinas eine enge Beziehung zum Intellektualismus. Der theoretische Abstand, der Begriff ist es, der das Seiende auf sich selbst stellt und ihm Abstand zum Sein verschafft. Damit steht er im Gegensatz zur Affektivität oder Sinnlichkeit, die den primären Zugang zum gestaltlosen Sein öffnen. So heißt es in Bezug auf die Partizipation: »Das Empfinden, das bei Lévy-Bruhl die Partizipation kennzeichnet, ist nicht bloß eine unmittelbare und noch unsichere Beziehung zu einer Form« – Form gleich Begriff –. »Das Empfinden ist nicht ein verkrüppeltes Denken und eine Abkürzung – es geht in eine andere Richtung. Es ist eine Weise, einer Gewalt zu unterliegen … Das Empfinden ist nicht eine leere Form der Erkenntnis, sondern ein Verhextwerden, … [Es ist die] Gegenwärtigkeit in der Nacht des Seins, das lauert und erschreckt, und nicht die Gegenwart angesichts der Dinge.« 26 Gefühl und Ekstase gehören in den Bereich der Partizipation; sie sind das Gegenteil zur Theorie und zum Begriff. Der Begriff befreit das Subjekt aus dem Sein; die Affektivität läßt es mit dem Sein verschmelzen. Das ist der Grund für Lévinas’ Nähe zum begrifflichen Denken, zum Intellektualismus und für die Distanz zur Affektivität. Die Transzendenz ist keine Ekstase. Einerseits! 25 26

C. Chalier 1993, 28; vgl. auch DL 18/9. EN 62/ZU 65. A

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e. Anderseits aber ist die Transzendenz auch kein theoretisches Verhalten. »In unserer Beziehung mit dem anderen affiziert uns der andere nicht dank eines Begriffs« 27 , den wir von ihm hätten. Der Begriff und das Verstehen sind vielmehr Formen der Aneignung und Integration in einen Welt- und Lebenszusammenhang, der von dem Begreifenden dominiert wird und sich an seinen Interessen und Bedürfnissen ausrichtet. Der Idealismus, der alle Seinsbezüge auf das Subjekt zurückführt, vollendet das Verstehen: »Der Idealismus ist das totale Verstehen.« 28 Wenn daher Lévinas einerseits der theoretischen Einstellung nahesteht, so muß er doch zugleich auch auf Distanz gehen. Die Transzendenz zum anderen muß sich auf der Ebene der Affektivität vollziehen. Affektivität meint das Vermögen, von etwas anderem berührt zu werden. Insofern ist es konsequent, wenn Lévinas die Transzendenz in einer Form der Sinnlichkeit sucht, nämlich, wie etwa der frühe Lévinas, in der Liebe. »Die Sinnlichkeit«, so heißt es später, »ist die Ausgesetztheit gegenüber dem anderen.« 29 f. Damit zeigt sich eine tiefgehende Ambivalenz zentraler Begriffe. Die Affektivität öffnet einerseits dem Subjekt den Weg zum anderen, anderseits aber vernichtet sie als Ekstase das Subjekt. 30 Eine ähnliche Ambivalenz finden wir bei der theoretischen Haltung. Die theoretische Einstellung schließt das andere aus, wird aber zugleich als Moment der Transzendenz gefordert. In diesen Zusammenhang gehört auch die Analyse der Vorstellung, die Lévinas zweimal jeweils unter dem Titel »La ruine de la représentation« vornimmt, aber jeweils mit entgegengesetztem Ergebnis. Einmal führt der Untergang der Vorstellung zum Verlust der Subjektivität und zum Eintauchen in die mythische Welt 31 , ein andermal ist der Untergang der Vorstellung das Tor zum anderen 32 . Ein weiteres Beispiel für diese Ambivalenz bietet Lévinas’ Konzeption der Sprache. Seit dem Aufsatz »La transcendance des mots« EN 18/SpA 110. DEHH 106/SpA 79. 29 AE 94/JS 168. 30 EE 121/VS 86: »Die Antithese zur Setzung [des Ich als eines Seienden] ist nicht die Freiheit eines in der Luft schwebenden Subjekts, sondern die Zerstörung des Subjekts, die Desintegration der Hypostase. Sie kündet sich in der Emotion an. Die Emotion wirft um.« 31 Vgl. EN 55–59/ZU 59–62. 32 Vgl. DEHH 125 ff./SpA 120 ff. 27 28

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aus dem Jahre 1949 33 gewinnt die Sprache als Medium der Beziehung zum anderen an Bedeutung. Aber auch hier wiederum finden wir die beiden Seiten: Einerseits ist die Sprache als konkretes Begriffssystem eine Form der Aneignung und Manipulation der Dinge, anderseits aber soll sie der bevorzugte Zugang zum anderen sein. Daher wird Lévinas zwei Sprachen unterscheiden: die begriffliche Sprache und eine Sprache vor der Sprache, ein Gesagtes und ein Sagen. 34 g. Man kann die doppelte Forderung an die Transzendenz auch noch anders darstellen, nämlich in den Begriffen von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit. Lévinas teilt mit aller Philosophie der Existenz die Kritik, die diese an der ausschließlich begrifflichen Vermittlung aller Lebensbezüge übt. Bis hin zu Kant glaubte die Philosophie an die objektive Realität der leitenden Begriffe und Ideen. Kant zeigt, daß unsere Kategorien bloß subjektive Formen der Manipulation der Wirklichkeit sind. Daher nach dem Zerfall des Idealismus, der mit Kant einsetzt, die Suche nach dem Unmittelbaren hinter den Begriffen. Das theoretische Verhalten verstellt uns die Wirklichkeit; im unmittelbaren Erleben dagegen, das den Begriffen vorausgeht, suchen wir die unverstellte Wirklichkeit. Den Zugang zu ihr aber scheint die Affektivität, scheinen Emotion und Gefühl zu bieten. Die Wirklichkeit des Lebens »erlebt« man daher am reinsten in den starken Affekten und Emotionen, die uns mitreißen. Die mächtigsten Affekte aber setzt die Todesgefahr frei. Daher geht die Kritik am theoretischen Verhalten zusammen mit der Vorliebe für extreme Situationen, vorzüglich Krieg und Tod. Aber diese einfache Dualität von theoretischem und affektbestimmtem Verhalten kann ein jüdisches Gewissen, das in der TraNeu abgedruckt in HS 213 ff. Es ist diese Situation, die eine Anzahl von Begriffen in ein zweideutiges Licht taucht. Das andere oder der andere ist dem Subjekt nahe wie im Affekt und doch fern. Er ist nahe, sofern er unmittelbar zugänglich ist, ohne Vermittlung eines Begriffs. Er ist fern, sofern das Subjekt seiner nicht habhaft wird. Dies ist der Grund, warum die Abgrenzung zwischen den Erfahrungen des Il y a einerseits und des anderen anderseits Schwierigkeiten macht. Insofern scheint es konsequent, wenn in der späteren Philosophie das, was zunächst das Il y a war, als die allem vorausgehende Beziehung zum anderen gedeutet wird. An die Stelle des dreistufigen Modells tritt dann ein zweistufiges: Diachronie vs. Synchronie, Nähe vs. Sein. Das Subjekt seinerseits geht aus sich heraus zum anderen in der Affektivität, bleibt aber zugleich in sich zurück in einer unüberbrückbaren Distanz. Endlich ist die Beziehung zwischen beiden sowohl theoretisch als auch nicht theoretisch, affektiv und nicht affektiv.

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dition Litauens groß geworden ist, nicht akzeptieren. Für den Juden ist Gott der Inbegriff allen Seins und Lebens und zugleich in keiner Immanenz anzutreffen. Zu Gott besteht nur ein mittelbares, gebrochenes Verhältnis. Gott ist der absolut andere. Daher ist Gott gewiß nicht der Gott der Theorie und der theologischen Konstruktionen. Insofern teilt das Judentum die kantische Kritik am Begriffsfetischismus. Aber Gott als das andere ist auch nicht das Ziel der Inbrunst des »Erlebens« oder des »En-thousiasmus«. Ganz im Gegenteil: Der Erlebnisfetischismus muß als Rückfall in die Immanenz, in Naturalismus und Pantheismus und endlich als Rückfall in Mythos und Heidentum erscheinen. Soweit die Unmittelbarkeit der Affekte an die Stelle von Theorie und Vernunft trat, konnte Lévinas diese Entwicklung nur als Rückfall in überwunden geglaubte Verhältnisse ansehen. Anderseits konnte auch das begriffliche Wesen nicht ohne weiteres übernommen werde, mag sich mit dem Universalismus auch die Hoffnung auf einen universalen Frieden verbinden. Gerade dieser Bruch der Unmittelbarkeit zeichnet aber das jüdische Verhältnis zu Gott als dem anderen aus. Daher das Bilderverbot und das Verbot, Gott einen Namen zu geben. So ist auch das angemessene Verhältnis zu Gott nicht die göttliche Begeisterung, nicht der Enthousiasmus, sondern das Studium. Gott ist allein dem Geist zugänglich. Der Geist aber hat sich aus den sinnlichen Affekten schon gelöst. Sein Medium sind Sprache und Schrift. »Das Heidentum, das ist die Verwurzelung, fast im etymologischen Sinne des Wortes. Das Aufkommen der Schrift ist nicht die Unterordnung des Geistes unter einen Buchstaben; vielmehr tritt der Buchstabe an die Stelle des Bodens. Im Buchstaben ist der Geist frei und gefesselt ist er in der Wurzel. Auf den dürren Boden der Wüste, an dem sich nichts festmacht, ist der wahre Geist in Gestalt eines Textes herabgestiegen, um sich universal zu verwirklichen.« 35 Denselben Bruch der Unmittelbarkeit schreibt Lévinas der jüdischen Ritualisierung des Lebens zu. »Man muß das Gute von ganzem Herzen begehren und es doch nicht einfach begehren in einem naiven Elan des Herzens. Diesen Elan beizubehalten und gleichzeitig zu brechen – vielleicht besteht darin der jüdische Ritus. Die Leidenschaft, die ihrem Pathos mißtraut, indem sie wieder und wieder Bewußtsein wird! Die Zugehörigkeit zum Judentum setzt den Ritus

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§ 11 Ontologische Differenz und Transzendenz

und die Wissenschaft voraus. Dem Ignoranten ist die Gerechtigkeit unmöglich. Das Judentum ist ein extremes Bewußtsein.« 36 Es ist die Brechung der Unmittelbarkeit, die Distanz, die das Verhältnis nicht nur zu Gott, sondern zum anderen überhaupt bestimmt. Das begriffliche Verhalten verfällt damit der Kritik nur insoweit, als der Begriff und die Theorie an die Stelle des anderen treten. Etwas Ähnliches gilt nun vom Affekt. Eine Beziehung zum anderen haben wir nur, wenn wir passiv affiziert werden. Insofern muß Transzendenz notwendig den Charakter des Affektes haben. Zugleich aber soll das Subjekt nicht ekstatisch im anderen aufgehen. Demnach ist die Transzendenz weder begrifflicher noch affektiver Natur und doch beides. Das ist nur auf folgende Weise möglich. Am begrifflichen Wesen unterscheidet Lévinas die Distanz und die Aneignung, an der Affektivität die Unmittelbarkeit und die Ekstase. Nun nimmt die Transzendenz vom Begriff die Distanz und verwirft die Aneignung; ebenso nimmt sie vom Affekt die Unmittelbarkeit und verwirft die Ekstase. So ist die Transzendenz eine Unmittelbarkeit auf Distanz. Lévinas sieht in der Transzendenz eine dritte Möglichkeit, die über die Alternative von Freiheit und Unfreiheit hinausgeht. Für die traditionelle Logik ist das Subjekt entweder frei oder nicht frei, so wie ein Gegenstand nicht gleichzeitig und aus derselben Perspektive grün und nicht grün sein kann. Tertium non datur – ein altes logisches Prinzip. Die Nähe zum Nächsten aber, wie Lévinas die Transzendenz später nennt, vereint die Gegensätze in sich: Sie ist das Dritte, das die formale Logik auszuschließen sucht. 37 Solange unsere Kategorien der Logik gehorchen, sind sie unfähig, die Transzendenz zu fassen. Neu an dieser Kategorie ist freilich nicht das Zwischen. ÄhnDL 118–19/SF 14. Vgl. eine ähnliche Aussage, die bei S. Malka zitiert ist: »Überall tritt zwischen uns und die Wirklichkeit der Ritus. Sie unterbricht die Handlung … Die Nahrung ist nicht nur eine Sache zum Verzehr, sondern ›koscher‹ oder ›taref‹. Bevor er seine religiöse Bewegung in Worte kleidet, sucht der Jude nach Worten in seinem Gebetbuch; mögen ihm die Worte auch auf natürliche Weise kommen, so scheinen sie doch nicht alle dieselbe Wirkung zu besitzen … Vor der so elementaren Geste des Essens macht der Jude eine Pause, um einen Segen zu sprechen. Vor dem Eintritt in das Haus hält er inne, um die ›Mesusa‹ zu begrüßen …« (Malka fr. 247/Malka d. 229). 37 Vgl. dazu die spätere Rede vom tiers exclus in AE 17, 108, 124, 229, 231; freilich taucht die Rede vom tiers exclus schon früher auf (vgl. EI 38/EU 35); hier bezeichnet sie aber das Il y a. 36

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liche Gedanken finden wir ausdrücklich bei Schelling 38 sowie bei Hegel. Hegels Dialektik versteht sich ja ausdrücklich als Versöhnung von Gegensätzen. Dennoch grenzt Lévinas seinen Ansatz von der Hegelschen Philosophie ab: »Was diese Ausführungen möglicherweise an Dialektischem enthalten,« schreibt Lévinas, »ist auf keinen Fall im Sinne Hegels zu verstehen.« 39 Gegen Hegels Dialektik hat Lévinas einzuwenden, daß sie sich im Medium des Begriffs bewegt und daß sie auf Vereinigung der Gegensätze zielt. So »führt der Widerspruch von Sein und Nichts eines zum anderen hin, läßt keinen Platz für die Distanz. Das Nichts verwandelt sich in Sein.« 40 Der Beginn von Hegels Großer Logik wäre ein Beispiel dafür. Aber gerade diese Einheit möchte Lévinas aufbrechen. Daher ist das Dritte, das er sucht, weder ein Begriff noch überhaupt eine Synthese.

§ 12 Transzendenz und Zeit 12.1 Lévinas bezeichnet seine Philosophie als den Weg vom Sein zum Seienden und vom Seienden zum anderen. Er fügt hinzu, es sei »der Weg, den die Zeit selbst vorzeichnet« 41 . Dazu verweist er auf die Vorträge »Die Zeit und der andere«. Zur Charakteristik des erotischen Ansatzes fehlt uns also die Erörterung des Zusammenhanges mit der Zeit. Nach seinem eigenen Verständnis spricht der junge Lévinas in den Vorträgen als Ontologe. »Die Analysen, die wir anstellen werden, sind keine anthropologischen, sondern ontologische. Wir glauben in der Tat an die Existenz ontologischer Probleme und Strukturen.« 42 Hier vernehmen wir den Schüler Heideggers. Auch diesem ging es, wie Lévinas ausdrücklich betont, in der Analyse des Daseins nicht um Anthropologie, sondern um die Frage nach dem Sinn von Sein. 43 So versteht auch Lévinas die verschiedenen Stufen der Exi-

Etwa der Begriff der intellektuellen Anschauung, vgl. System der Transzendentalphilosophie. 39 TA 20/ZA 19. 40 TA 78/ZA 56. 41 DL 375. 42 TA 18/ZA 17. 43 DEHH 81: »Was heißt sein … das Problem der Ontologie … das einzige, das Heidegger beschäftigt.« 38

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stenz – Sein, Seiendes, anderer – als Manifestationen oder Realisationen des Seins. Das ursprüngliche Zeitgeschehen realisiert sich für Lévinas ineins mit der Entstehung des Seienden aus dem Sein. Dieses versteht Lévinas als das Auftauchen des gegenwärtigen Augenblicks. Das bloße Seiende ohne Sein hat noch keine Zeit. Vielmehr fließen die verschiedenen Zeitpunkte ungegliedert und unterschiedslos ineinander. Im Sein (Es-Gibt) »geht die Zeit von nirgendwo aus, nichts entfernt sich oder verschwimmt.« 44 Weder verschwindet das Alte noch meldet sich etwas Neues; diese Zeitlosigkeit hat den Charakter der »Ewigkeit …, da das Sein ohne Seiendes keinen Ausgangspunkt hat« 45 . Mit dem Seienden dagegen taucht im Sein ein Fixpunkt auf, eine Grenze zwischen Vorher und Nachher, eine Perspektive. Dieser Grenzpunkt ist die Gegenwart. 46 Mit dem Seienden konstituiert sich die Gegenwart. Aber erst mit der Gegenwart hebt die Zeit an, wenn zur Zeit die Entfaltung der drei »Dimensionen« der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft gehört. Vergangenheit und Zukunft werden erst von der Gegenwart her sichtbar. Es kommt also alles darauf an, die Gegenwart als ein Ursprungsgeschehen zu sehen, als Geburtsakt des Seienden. »Es handelt sich nicht«, so warnt Lévinas ausdrücklich, »um eine Gegenwart, die aus einer immer schon konstituierten Zeit herausgeschnitten wird, nicht um ein Element der Zeit«. 47 Der gegenwärtige Augenblick ist nicht Moment einer Zeit; erst von ihm her gibt es Zeit. Insofern ist der gegenwärtige Augenblick Ursprung und Anfang. Er kommt von sich her. Das Seiende beginnt, und dieser Beginn ist die Gegenwart, der gegenwärtige Augenblick. Mit dem Beginn ist ein Fixpunkt gesetzt, von dem aus der Blick sowohl zurück als auch nach vorne geht, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Das Sein erscheint als das Vergangene, an das das Seiende gefesselt ist und von dem es sich befreien möchte. Aus der Zukunft hingegen kommt dem Seienden das andere entgegen. Erst die Eröffnung einer wirklichen Zukunft in Gestalt des anderen, die BeDEHH 93/SpA 57: »Die Philosophie Heideggers beschäftigt sich nicht mit dem Menschen um seiner selbst willen. Sie ist ursprünglich am Sein interessiert.« 44 TA 28/ZA 24. 45 TA 28/ZA 24. 46 »présent«, im Gegensatz zur unterschiedslosen »présence« (Gegenwärtigkeit) 47 TA 32/ZA 27. A

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ziehung zum anderen, vermag das Subjekt aus der Bindung an das Sein zu befreien. Damit stehen das augenblicklich präsente Seiende, das Lévinas auch mit dem Ausdruck Hypostase bezeichnet, und mit ihm die Gegenwart in der Mitte zwischen dem Sein, in das es zurückzufallen droht, und dem anderen, von dem die Kraft der Erlösung ausgeht. Darum bilden die Hypostase und der gegenwärtige Augenblick die zentralen Begriffe des erotischen Ansatzes. Die Hypostase entfaltet sich in zwei Phasen: Die erste Phase ist die Befreiung des Subjekts aus dem Sein oder die Position des Augenblicks; die zweite ist die Transzendenz des Augenblicks über sich selbst hinaus zum nächsten Augenblick, die Entfaltung einer produktiven Zeit. Die Hypostase umfaßt also das Ganze dessen, was wir als vorsynthetische Zeit bezeichnen: in einem ersten Schritt die Position des Augenblicks, in einem zweiten die Pluralisierung der Zeit in eine Vielfalt von Augenblicken. In diesem Sinne schreibt Lévinas: »Die Hypostase der Gegenwart ist … nur ein Moment der Hypostase; die Zeit kann eine andere Beziehung zwischen dem Sein und dem Seienden anzeigen. Diese Zeit wird uns später als das eigentliche Ereignis unseres Verhältnisses zum Anderen erscheinen und uns daher erlauben, zu einer pluralistischen Existenz« – einem pluralen Sein und damit einer pluralen Zeit – »zu gelangen, die die monistische Hypostase der Gegenwart überschreitet.« 48 Zur Terminologie ist allerdings zu sagen, daß Lévinas, von der soeben zitierten Passage abgesehen, im Rahmen des ersten Ansatzes den Terminus Hypostase allein für die Position des solipsistischen Augenblicks reserviert und an keiner anderen Stelle zur Bezeichnung der Transzendenz zum Anderen den Ausdruck Hypostase verwendet. Die zwei Momente der Hypostase entsprechen den beiden Schritten, in denen sich seine Philosophie zunächst resümiert: vom Sein zum Seienden und vom Seienden zum Anderen. 12.2 Lévinas hat diesen Weg zweimal dargestellt, und zwar zunächst in dem Buch »Vom Sein zum Seienden« und wenig später in den Vorlesungen über »Die Zeit und der Andere«. »Vom Sein zum Seienden« gliedert sich in vier Abschnitte mit den Titeln 1. »Der Bezug zum Sein und der Augenblick«, 2. »Die Welt«, 3. »Sein ohne Welt«, 4. »Die Hypostase«. Der erste Abschnitt behandelt den Zu48

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§ 12 Transzendenz und Zeit

sammenhang zwischen der Hypostase und dem gegenwärtigen Augenblick, der zweite und dritte die Extreme einer Welt ohne Sein (2. Abschnitt) und eines Seins ohne Welt (3. Abschnitt), der vierte die Hypostase als Seiendes und als Transzendenz zum Anderen. Dabei wiederholt der vierte Abschnitt noch einmal die Bewegung des seienden Subjekts von der »Schlaflosigkeit« 49 zur »Position« 50 und gibt darüber hinaus eine Vorzeichnung der Bewegung von der Position hin zur Zeit als Transzendenz 51 . Der Schritt »Vom Sein zum Seienden« für sich allein umfaßt also die Darstellung der Hypostase sowie der beiden Extreme der Welt ohne Sein und des Seins ohne Welt. Diese Gliederung wiederholt sich in den Vorlesungen über »Die Zeit und der Andere«. Hier hat Lévinas den vier Abschnitten keine Titel beigegeben. Dennoch erkennen wir unschwer die Entsprechungen zu »Vom Sein zum Seienden«. Der erste Abschnitt behandelt die Entstehung der Hypostase aus dem Sein, der zweite die Welt, der dritte den Weltuntergang, der vierte schließlich die Transzendenz zum Anderen. Die folgenden Ausführungen orientieren sich zunächst an der Zweiteilung 1. Vom Sein zum Seienden, 2. Vom Seienden zum anderen. Der Schritt »Vom Sein zum Seienden« verlangt seinerseits die Erörterung des Seins ohne Seiendes, der Hypostase, der Welt sowie des Weltuntergangs. Damit ist die Gliederung dieses Abschnittes vorgezeichnet.

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EE 109 ff./VS 79 ff. EE 115 ff./VS 82 ff. »Hin zur Zeit«, EE 147 ff./VS 105 ff. A

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2.2 Vom Sein zum Seienden

§ 13 Das Sein 13.1 a. Was Lévinas mit Sein meint, hat mit dem traditionellen Seinsverständnis wenig zu tun. Wenn Heidegger vom Sein spricht, meint er damit eine Instanz der Rettung, der Befreiung aus einer tiefen Entfremdung. Der Bann, der über der abendländischen Philosophie liegt, heißt »Seinsvergessenheit«. Nicht als ob die Philosophen, beginnend mit der platonischen Verfälschung der Wahrheit in Richtigkeit 1 , dafür die Verantwortung zu übernehmen hätten! Nein, das Seinsvergessen ist selbst ein Seinsgeschehen, eine Schickung des Seins: Das Sein selbst hat sich entzogen. Die Einsicht in den Entzug, die Heidegger von uns fordert, ist der erste Schritt zur Rettung: »Wir blicken in die Gefahr und erblicken das Wachstum des Rettenden.« 2 Denn »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« 3 ! Heideggers Hoffnung richtet sich auf die Wiederkunft des Seins. Aber nicht erst Heidegger fordert die Rückkehr zum Sein. Dasselbe gilt vom Christentum. Es hat das Sein mit der höchsten Instanz überhaupt identifiziert, nämlich mit Gott. Vom Sein, wodurch alles Seiende ist, vom Sein vor dem Seienden und ohne das Seiende, »gleitet das Denken unmerklich … zur Idee einer Ursache des Seins, eines ›Seienden überhaupt‹, eines Gottes, dessen Wesen im strengen Sinne nichts als das Sein zum Inhalt hat.« 4 Gott ist der Inbegriff des Seins. Eine Verfehlung gegen Gott kommt einer Minderung des Seins gleich. Nachdem die Menschen mit der ersten Sünde von Gott als dem höchsten Sein abgefallen sind, führt der Weg des Heils allein zu Gott und dem Sein zurück.

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Vgl. M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. M. Heidegger, Die Frage nach der Technik, Vorträge und Aufsätze, 37. Ibid. EE 15/VS 17.

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§ 13 Das Sein

b. Ein solches Seinsverständnis ist dem Lévinas’schen Seinsbegriff entgegengesetzt. Um die Bedeutung von Lévinas’ Seinsbegriff zu verstehen, ist es erforderlich, zuvor noch einmal an die Rolle zu erinnern, die in seinen Augen der ontologischen Differenz zukommt; denn mit ihr steht der Begriff eines Seins ohne Seiendes in engstem Zusammenhang. Die ontologische Differenz ist in gewisser Weise die Korrektur der Differenz, die in der Tradition als die Differenz von Subjekt und Objekt bezeichnet wird. Ihr gemäß tritt das Subjekt hinter das Sein zurück und macht sich selbst und die Dinge zum Gegenstand. Das, was ist – die Dinge, der Leib –, das Sein auf der einen Seite und das Denken der Dinge auf der anderen Seite, treten auseinander. Dieses Auseinander wird zuerst als Differenz von Leib und Seele thematisiert. Sie gehört, seit sie erstmals von Platon philosophisch fixiert wurde, zu den bleibenden Problemen der Philosophie. Nicht nur ist unklar, wie Leib und Seele sich zueinander verhalten, sondern auch der Sinn dieser Unterscheidung ist nicht eindeutig. So sieht insbesondere die Gegenwart, die sich zum traditionellen Vorrang des Geistigen vor dem Leiblichen und Körperlichen eher skeptisch verhält, in dieser Trennung mehr ein proton pseudos als einen Gewinn; denn mit dem Leib verfällt die ganze Sphäre der Sinnlichkeit und der materiellen Natur einem Verdikt. Daher kommt es für die Gegenwart eher darauf an, diesen Dualismus zu überwinden, weil sie den Menschen in der Entfaltung seiner sinnlichen Natur behindert und so sich selbst entfremdet. Hinzu kommt, daß das Ideale und Geistige, dem die Tradition den größeren Seinsgehalt zuschrieb, in der Moderne sein Prestige verloren hat. Die Trennung von Leib und Seele, von Subjekt und Objekt, hat keine letzte Gültigkeit. Es kommt darauf an, beide in ihrer Abkünftigkeit zu verstehen. Dieser Tendenz kommt die ontologische Differenz entgegen, wenn sie das Auseinander von Subjekt und Objekt als die Entfaltung eines ursprünglichen Seins versteht. Gegen diese Tendenz sieht Lévinas in der Trennung von Leib und Seele gerade die Perspektive einer Befreiung des Menschen. Daher wendet er sich mit Leidenschaft gegen Versuche, diese Differenz einzuebnen und auf eine indifferente Instanz – heiße sie nun Sein oder Natur oder Existenz – zurückzuführen. Ihrer Natur nach sind die Menschen verschieden: physiologisch, biologisch, sprachlich, historisch, geographisch etc. Diese natürlichen Differenzen wirken sich zunächst als Trennungen und Barrieren aus. Es sind natürliche und A

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zugleich zufällige Unterschiede, die über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder über den Ausschluß entscheiden: solche der Sprache, Rasse, Hautfarbe, Kultur etc. Von ihnen hängt ab, welches Schicksal einem Menschen im Leben zuteil wird, ja sogar Leben und Tod bestimmen sie. Insofern ist das bloße Sein eine Sphäre der Zufälligkeiten. Da der Zufall aber über Annahme und Ablehnung, Leben und Tod entscheidet, ist das bloße Sein auch eine Sphäre der Gewalt. Die Gewalt richtet sich gegen alles, was anders ist. Anderssein wird zur Schuld. Schuld und Unschuld messen sich nicht an den Absichten, an dem guten oder bösen Willen, sondern an den Zufällen der materiellen Existenz. Gegen diese Abhängigkeit wandte sich die Philosophie 5. Sie entdeckte in der Seele einen Zugang zu einem Bereich, der über das sinnliche Hier und Jetzt, über die Natur, hinausgeht und den Charakter der Universalität hat. Das Neue an der Philosophie ist nicht, daß sie die sogenannte Seele entdeckt. Der Begriff der Seele wird schon in der Theorie der Seelenwanderung, die eine weite Verbreitung nicht nur unter den Naturvölkern findet, vorausgesetzt. Neu am philosophischen Seelenbegriff ist die Idealität der Seele: Sie ist kein Ding, sie ist nicht körperlich, nicht an Raum und Zeit gebunden, sondern teilt ihre Wesensart mit Ideen, die universal gelten. Mensch ist alles, was Seele besitzt, oder Geist oder Vernunft, alles, was Zugang zu den ewigen Ideen hat. Damit werden die natürlichen Grenzen, die die Menschen bisher trennten, aufgehoben. Menschsein heißt, den Logos besitzen. Unter dem »Logos« ist nicht mehr eine partikulare Sprache zu verstehen, sondern dasjenige geistige Gesetz, das allen individuellen Sprachen vorausliegt und macht, daß die Sprachen ineinander übersetzbar sind. Damit wird auch die primitive Gemeinschaft mit den Tieren aufgehoben. Der Logos scheidet die Menschen von den Tieren. Umgekehrt ist es die Sterblichkeit, die der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat, die ihn aber von den Göttern trennt. So sind die Menschen diejenigen, die einerseits den Logos besitzen, anderseits aber sterblich sind. Sterblichkeit und Vernunft machen die »Definition« des Menschen aus: Ebenso das Judentum: »Auch das Judentum ruft nach einer Menschheit ohne Mythos. Nicht darum, weil seiner blutleeren Seele das Wunderbare widerstreben würde, sondern weil der Mythos, auch der sublime, der Seele jenes trübe Element, jenes unreine Element von Magie und Zauberei und jenen Rausch von Weihe und Krieg einflößt, die im zivilisierten Menschen das Tier überdauern lassen.« (DL 72).

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§ 13 Das Sein

weder Tier noch Gott. Es ist der universale Menschenbegriff, der durch diesen Umsturz möglich wird, ein Begriff, der den Menschen von der naturalen Unterwelt ebenso abgrenzt wie von der göttlichen Überwelt. Nicht länger gilt nur der Stammesbruder als Mensch. Indem nun alle Menschen unter den Begriff des Menschen fallen, als Menschen anerkannt werden, genießen sie auch den Schutz, der dem Menschen schon immer gewährt wird: Jeder andere ist meinesgleichen und verdient darum Achtung. Insofern bedeutet die Seele, das Organ des Logos, das den Menschen aus der Natur heraushebt, eine Befreiung. Der Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geist, entfremdet nicht den Menschen von sich selbst, sondern läßt ihn erst seines eigentlichen Menschseins innewerden. 6 c. Das bloße Sein dagegen meint nach Lévinas’ Verständnis den Naturzustand. Naturzustand meint eine Seinsweise, eine Weise, das Sein zu verstehen, im Sein zu sein und mit dem Sein umzugehen. Es ist das Seinsverständnis, das Lévinas auch als Partizipation charakterisiert und mit der Lebensweise der Naturvölker in Verbindung gebracht hat. 7 Nun macht aber die Gegenwart die tragische Erfahrung einer Wiederkehr des Seins. Die Wiederkehr des Seins fällt zusammen mit dem Untergang der Welt. Welt ist nicht das physische All der Dinge, sondern die geistige und soziale Welt, in der Europa bisher lebte. Die Welt ist ein Synonym für das umfassende Ganze, das vom Menschen dominiert wird. Die Welt ist das, was der Mensch versteht und was er sich, indem er es begreift, angeeignet hat. Vor allem aber ist »in der Welt zu sein« eine Seinsweise, in der der Mensch aus dem Sein befreit ist. »In der Welt zu sein, das heißt gerade, sich aus den letzten Verstrickungen in den Seinsinstinkt sowie aus allen AbgrünDie Forderung, sich aus der animalischen Natur zu befreien, nimmt in dem Aufsatz »De l’évasion« so radikale Züge an, daß ihre Nichterfüllung eine neue Schuld begründet: Die unabdingbare Leiblichkeit des Menschen und seine Bedürftigkeit werden zur Schuld, derer er sich in der Scham (honte) bewußt wird. »Die Verfehlung besteht nicht darin, gegen die Sitten verstoßen zu haben, sondern beinahe in der Tatsache, einen Körper zu haben, da zu sein« (E 91). J. Rolland hat diese Schuld in Verbindung gebracht mit der späteren Theorie der Verantwortung für den anderen: Im Angesicht des anderen ist der Mensch immer schon schuldig (vgl. E 112). Dagegen betont Lévinas in »De l’évasion« den unbezüglichen Charakter der Scham. Diese Scham hat ausdrücklich nichts mit einem sozialen Phänomen zu tun (E 91). 7 Unausgesprochen spielt auch der Unterschied von Heidentum und Religion oder Offenbarung eine Rolle. 6

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den des Ich loszureißen.« 8 Zerfällt hingegen die Welt, so stürzt das Subjekt in das bloße Sein zurück. Diesen Zerfall diagnostiziert Lévinas als das gegenwärtige Geschehen. »Ausdrücke wie ›zerfallene Welt‹ oder ›umgestürzte Welt‹, so geläufig und banal sie auch geworden sein mögen, drücken dennoch ein authentisches Gefühl aus. Die Diskrepanz zwischen den Ereignissen und der vernünftigen Ordnung, die gegenseitige Undurchdringlichkeit der Geister, die dicht sind wie die Materie, die Vermehrung der Logiken, die füreinander absurd sind, die Unmöglichkeit für das Ich, das Du zu erreichen und folglich die Ungeeignetheit der Intelligenz für das, was ihre wesentliche Funktion sein sollte – dies alles sind Feststellungen, die in der Weltdämmerung die uralte Obsession des Endes der Welt wachrufen. Dieser Ausdruck, frei von jedem mythologischen Beigeschmack, drückt ein Moment des menschlichen Schicksals aus, dessen Bedeutung die Analyse freilegen kann. Grenzaugenblick, der eben darum besonders lehrreich ist. Denn da, wo das immerwährende Spiel unserer Beziehungen zur Welt unterbrochen ist, findet man nicht, wie man zu Unrecht denken würde, den Tod und auch nicht das ›reine Ich‹, sondern die anonyme Tatsache des Seins.« 9 Die Erfahrung des Seins führt nicht in eine verlorene Heimat zurück, sondern stürzt den Menschen in Absurdität und Sinnlosigkeit. Das Geschehen des Seins vollzieht sich nicht nur ohne unser Zutun; es gehorcht auch nicht mehr unserer Sinnerwartung, dem Apriori der Vernunft; die Vernunft hat sich aus den Ereignissen zurückgezogen; diese zeigen sich in ihrer nackten Faktizität; die Vernunft wird zur leer laufenden Projektion auf eine Wirklichkeit, die ihr widersteht. Dieses Sein hat nichts mit Versöhnung zu tun, sondern alles mit der traumatischen Erfahrung des Absurden. Es ist das Absurde 10, wie A. Camus es etwa zur selben Zeit im »Mythos von Sisyphus« beschrieben hat. d. Das Es-gibt wird sichtbar, wenn alle Beziehungen zur Welt unterbrochen sind, wenn die Reflexion oder die »Erfahrung« hinter die Welt zurückgeht.

EE 68/VS 52. EE 25/VS 22. 10 Vgl. TA 29/ZA 25: »Man ist über nichts mehr Herr, das heißt, man ist im Absurden. Der Selbstmord erscheint als die letzte Zuflucht gegen das Absurde.« 8 9

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§ 13 Das Sein

Nun ist das Thema des Rückganges hinter die Welt keine Erfindung Lévinas’, sondern hat eine lange Tradition. Aber in der Regel brachte der Rückgang etwas anderes zutage als das Es-gibt. Die Forderung, die Beziehung zur Welt zu unterbrechen, kennen wir zunächst aus dem religiösen Bereich: Der Mönch stirbt für die Welt. Die Welt gilt als Ort der Fremde, als Exil. Die Forderung, hinter die Welt zurückzugehen, fragt nach dem Ursprung der Welt. In diesem Sinne ist »der Tod für die Welt« die Wiedervereinigung mit dem göttlichen Ursprung. Das Motiv des Rückgangs hinter die Welt hat sich trotz der Säkularisierung und dem Tode Gottes in der Philosophie erhalten: in der Phänomenologie tritt es auf als die Forderung, die Welt einzuklammern und einer transzendentalen Reduktion zu unterziehen. Aber der Philosoph stirbt nicht, um im Jenseits Gott zu begegnen, sondern findet jenseits der Welt sein Ich, das reine Ich. Dieser Bewegung aller Philosophie, die auf den Ursprung zurückgeht, schließt sich Lévinas an. Aber er entdeckt am Ursprung nicht ein unentfremdetes, reines Ich, sondern das Chaos. Das Ich in seiner Aktivität ist etwas Abgeleitetes 11. Das bedeutet nicht, daß das Ich – oder die rudimentäre Form des Ich: die Hypostase – nicht der Welt vorausginge und auch unabhängig von der Welt Bestand haben könnte. Aber es ist nichts Erstes, sondern ein Zweites. Der Ursprung ist das Chaos des Es-gibt, das Sein ohne Seiendes. 13.2 a. Lévinas gibt nicht nur eine Beschreibung des bloßen Seins, sondern sucht es auch an traditionelle Begriffe der Philosophie anzuknüpfen. Erwähnt wurden schon Heraklit und die ihm zugeschriebene Flußtheorie. Lévinas spricht von Heraklit, er zielt aber auch auf die Phänomenologie und ihre These von der Zeitlichkeit des Bewußtseins. Die Verwandtschaft zwischen der heraklitischen Flußtheorie und der phänomenologischen Rede vom Strom des Bewußtseins erlaubt Lévinas, sich auch auf Heidegger als Zeugen seines Seinsbegriffs zu stützen. Zwar glaubt Lévinas nicht, »daß Heidegger ein Sein ohne Seiendes zugestehen könnte; das würde ihm absurd erscheinen. Dennoch hat er einen Begriff, die Geworfenheit 12 – … – den man ge-

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Vgl. den Begriff des Aktes, etwa EE 45, 49/VS 36, 39. auf deutsch im Original A

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wöhnlich durch ›déréliction‹ oder ›délaissement‹ 13 übersetzt. Man insistiert damit auf einer Konsequenz der Geworfenheit. Man muß Geworfenheit mit ›le fait-d’être-jeté-dans … l’existence‹ übersetzen. So als ob das Seiende nur in einem Sein, das ihm vorangeht, erschiene; so als ob das Sein unabhängig vom Seienden wäre und als ob das Seiende, das sich in das Sein geworfen findet, niemals über das Sein Herr werden könnte. Genau deswegen gibt es das Ausgesetztsein und die Verlassenheit. So entsteht die Idee eines Seins, das sich ohne uns, ohne Subjekt vollzieht, eines Seins ohne Seiendes.« 14 b. Der Gegensatz zwischen dem Sein und dem Seienden, ihre Unvereinbarkeit, scheint eine Stütze auch in der Philosophie Sartres zu finden, so wenig Lévinas sich auch in dieser Hinsicht auf Sartre beruft. 15 Das zentrale Interesse Sartres richtet sich auf die Freiheit des Menschen. Sie besteht darin, daß er sich in jedem Augenblick von seinem faktischen Zustand löst und in die Zukunft ausgreift. Schon das einfache Beispiel eines Menschen, der ins Café geht, um dort seinen Freund zu treffen, zeigt die Struktur der Freiheit. Im Geiste ist er über seine materielle Gegenwart hinaus, schon im Café; dieses Ziel bestimmt ihn und macht sein Sein aus. Damit überschreitet er auch den gegenwärtigen Zustand – etwa zu Hause zu sitzen -; er verneint ihn. Im Augenblick ist er materiell zwar noch zu Hause, aber mit all seinen Gedanken, intentional, schon im Café. Demnach ist er schon nicht mehr, was er materiell noch ist. Er hat seine Gegenwart verneint zugunsten des in der Zukunft liegenden Ziels. Er ist in Wahrheit, was er erst sein wird: bei seinem Freund im Café. Aber wiederum ist dieses Ziel, das Sein bei dem Freund, noch keine Wirklichkeit; es ist noch nicht. Insofern ist er etwas, das noch nicht ist. Dieses Sein, was er noch nicht ist, ist die Folge der Zeitlichkeit allen Bewußtseins. Der Mensch eilt sich immer voraus. Da die Zeit die Grundform allen menschlichen Lebens ist, kann Sartre das Ergebnis verallgemeinern und sagen: Das Subjekt ist ein Seiendes, das nicht ist, was es ist, und das ist, was es nicht ist. Die Freiheit des beides: Verlassenheit TA 24–25/ZA 22. In der Tat kennt Heidegger keine Geworfenheit ohne Entwurf. Ein Antagonismus zwischen dem Sein und dem Seienden ist ihm fremd. Die Unterscheidung von Sein und Seiendem spiegelt nicht das Verhältnis von Knechtschaft oder Herrschaft wider. 15 Das muß nichts besagen, da Lévinas hinsichtlich der Quellen seiner Inspiration grundsätzlich äußerste Diskretion bewahrt. 13 14

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Subjekts besteht darin, sich von dem faktischen Sein zu distanzieren und zu ihm Stellung zu nehmen. Ein solches Seiendes nennt Sartre das Für-sich. Vom Für-sich radikal verschieden ist das Ansich, das Sein der Dinge. Die Dinge haben kein Verhältnis zu sich selbst, kein Bewußtsein. Sie sind nicht »für sich«. Weder können sie zu sich selbst bejahend oder verneinend Stellung nehmen noch die Welt aus dem Gesichtspunkt von Möglichkeiten betrachten, die geeignet sind, die faktische Gegenwart umzukrempeln. Die Dinge kennen kein Ja und kein Nein; sie sind einfach. Diese Einfachheit nennt Sartre die Positivität des Ansich. 16 Positivität meint hier nicht Affirmation im Gegensatz zur Negation, sondern einen Zustand, der entweder beide umfaßt oder beiden vorausgeht. Eine »Welt« ohne Negation ist eine »Welt« ohne Abgrenzung, ohne Unterschiede und insofern gerade keine Welt. Das Sein ohne Seiendes, das wir bei Lévinas finden, hat dieselben Merkmale wie das Sein an sich bei Sartre: Es kennt keine Negativität. »Dieses Sein« – das Es-gibt – »kann nicht schlicht und einfach bejaht werden, weil man immer nur ein Seiendes bejaht;« 17 denn in allem Bejahen wird etwas im Unterschied zu einem anderen gesetzt. Das Bejahen setzt den Unterschied und die Verneinung voraus. Vom bloßen Sein aber heißt es weiter: »Es drängt sich auf, weil man es nicht verneinen kann.« 18 Wie das sartresche Sein an sich, so kennt auch das Es-gibt weder Ja noch Nein, sondern liegt beiden voraus: »als Feld für alle Bejahung und Verneinung« 19 . c. Einen dritten Anknüpfungspunkt für das Sein ohne Seiendes hat C. Chalier genannt: die Bibel. »Die Welt der Formen«, schreibt Lévinas, »öffnet sich wie ein bodenloser Abgrund. Der Kosmos bricht auseinander, um dem gähnenden Chaos, das heißt, dem Abgrund, der Abwesenheit von Ort, dem Es-gibt Platz zu machen.« 20 Es ist, so kommentiert Chalier diese Stelle, »als erlebte er von Panik ergriffen die Wiederholung des ersten Weltanfangs: ›Die Erde war J.-P. Sartre, L’Etre et le néant, 33. TA 26/ZA 23. 18 Ibid.; vgl. auch TA 29/ZA 25: »Das Sein ist das Übel nicht weil es endlich, sondern weil es ohne Grenzen ist.« 19 Ibid.; vgl. auch EE 105/VS 78: Das Es-gibt steht »über dem Widerspruch; es umgreift und beherrscht, was ihm kontradiktorisch entgegengesetzt ist«. 20 EE 121/VS 86–7. 16 17

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wüst und leer und Finsternis lag über dem Abgrund.‹ 21 Die Erfahrung des Es- gibt ließe also an diesen ursprünglichen Augenblick des Seins denken, an den Augenblick, der gemäß der Bibel dem Wort und dem Licht vorausgeht. Beginnt die Schöpfung nicht in Finsternis und Schweigen? Das Entsetzen des Es-gibt wäre dann durch das plötzliche Eindringen des ursprünglichen Tohuwabohu in die Existenz verursacht; denn nach der Etymologie, die Rachi nahelegt 22 , bedeutet tohu Staunen, Verblüffung, und bohu Leere und Einsamkeit.« 23 Das Tohuwabohu, das der Welt vorausgeht, findet in der jüdischen Mystik eine weitere Erklärung im Zusammenhang mit der Schöpfung der Welt aus nichts. 24 Die Welt wird dadurch möglich, daß Gott sich aus einem Teil des Seins zurückzieht und so eine Leere schafft, die der Entstehung der Welt vorausgeht. Das Tohuwabohu ist eine Folge der Kontraktion Gottes. Die Kontraktion Gottes, sein Rückzug in ein inneres »Exil« 25 , läßt in den frei gewordenen gottesfernen Raum Finsternis und Schweigen einbrechen, Finsternis und Schweigen, noch bevor das Wort und das Licht eine menschliche Welt schaffen. Lévinas gibt in seinem ersten Ansatz keinen Hinweis auf jüdische Quellen des Begriffs des Es-gibt. Das ändert sich in »Totalität und Unendlichkeit«, wo für das Erscheinen der Welt der Rückzug Gottes vorausgesetzt wird. Hier heißt es ausdrücklich: »Das Unendliche ereignet sich, indem es in einer Kontraktion auf die Ausbreitung zu einer Totalität verzichtet und damit dem getrennten Seienden« – der Welt – »einen Platz läßt.« 26 Wenn Lévinas später das moralische Bewußtsein als Kontraktion bezeichnet 27 , so weil der Mensch gerade darin eine Nachahmung, ein Bild des Göttlichen wird. Der Begriff einer – menschlichen – Kontraktion findet sich allerdings schon im erotischen Ansatz, wenn auch nicht unter diesem Genesis 1,2. Pentateuque avec Rachi, Fondation S. et O. Lévy, Paris éd. 1979, t. I, p. 3 et p. 5. 23 C. Chalier 1993, 42; vgl. vor allem von derselben Autorin den Artikel »Ontologie et mal«, in: J. Greisch et J. Rolland (éd.), E. Lévinas. L’éthique comme philosophie première. 24 Vgl. dazu G. Scholem, 267 ff. 25 G. Scholem, 286. 26 TI 77/TU 148. 27 DL 378: »In der Tat ist das ethische Bewußtsein nicht eine besonders empfehlenswerte Variante von Bewußtsein, sondern die Kontraktion, der Rückzug in sich, die Systole des Bewußtseins überhaupt.« 21 22

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Namen. Vielmehr spricht Lévinas hier von einem »Zusammenkrampfen«. 28 Das erlaubt uns, die kabbalistische Theorie des Zimzum – denn das ist die Theorie von der Schöpfung dank einer contractio Dei – auch schon für die frühe Philosophie vorauszusetzen. Wenn Lévinas diesen Bezug nicht ausdrücklich macht, so wohl deswegen, weil er hier als Phänomenologe spricht, als jemand, dem es darauf ankommt, seine Begriffe in der Erfahrung auszuweisen. Was dem Gedanken einer Weltverfinsterung eine konkrete Aktualität gibt, ist der Umstand, daß diese Theorie in einer Epoche der Judenverfolgung entstanden ist. Mit dem Jahr 1492 wurden die spanischen Juden, »einer der wichtigsten Zweige des jüdischen Volkes« 29 , aus ihrer seit langem angestammten Heimat vertrieben. »Eine Katastrophe von solchem Ausmaß … mußte auf allen Gebieten des jüdischen Lebens und Fühlens tiefsten Eindruck hinterlassen.« 30 Die Theorie der Verfinsterung der Welt, aus der sich Gott zurückgezogen hatte, ist also auch vor dem damaligen konkreten politischen und sozialen Hintergrund zu lesen. Um wieviel mehr gilt das für das jüdische Denken vor dem Hintergrund der Katastrophe im Jahrhundert Lévinas’! *

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Exkurs: »Jude sein« Bevor wir fortfahren, muß noch einmal auf Sartre, den wir eben als mögliche Quelle für Lévinas’ Seinsverständnis genannt haben, zurückgekommen werden. Im Zusammenhang mit seinem Seinsbegriff hat Lévinas Sartre nicht genannt. Ob also ein Einfluß von Sartre auf Lévinas stattgefunden hat, muß offen bleiben. Tatsächlich setzt ja schon der Aufsatz »De l’évasion« einen negativen Begriff vom Sein voraus. Vielleicht hat die Lektüre von Sartres »Das Sein und das Nichts« zu einer Schärfung seines Seinsbegriffs beigetragen. Einen ausdrücklichen Bezug auf Sartre gibt es in dieser Sache nicht. crispation, TA 64/ZA 48: »Zusammenkrampfen«, und TA 86/ZA 62: »Schrumpfung«. An letzterer Stelle wird die »crispation und die Isolierung der Subjektivität« als »unerläßliches Moment unserer Dialektik« bezeichnet. Es kommt also der »crispation« eine systematische Bedeutung zu. 29 G. Scholem, 267. 30 G. Scholem, 267. 28

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Das ist anders im Hinblick auf Sartres »Betrachtungen zur Judenfrage«. Sie nimmt Lévinas zum Anlaß für einen Aufsatz über die jüdische Identität, den er 1947 unter dem Titel »Jude sein« 31 veröffentlicht. Wir müssen an dieser Stelle auf diesen Versuch eingehen, weil Lévinas hier einen Begriff vom Sein und von der Faktizität entwickelt, der dem Grundriß des ersten Ansatzes zuwiderläuft und in gewisser Weise Motive der späteren Philosophie vorausnimmt. Weil sich dieser Versuch der Systematik, die den philosophischen Texten, auf die wir uns beziehen, zugrundeliegt, nicht integrieren läßt, behandeln wir ihn im Rahmen eines Exkurses. In Anschluß an Sartre nimmt Lévinas die Frage auf, worin das Wesen des Judentums besteht. Sartre hatte die These vertreten, daß erst der Antisemitismus sich seinen Gegenstand schafft: den Juden, den er hassen kann. In Wahrheit gäbe es kein jüdisches Wesen und keine spezifisch jüdische Natur. Vielleicht, so nimmt Lévinas diesen Gedanken auf, hat Sartre »Recht, dem Juden ein eigenes Wesen abzusprechen. Aber wenn Sartre ihm wie jedem anderen Sterblichen eine nackte Existenz und die Freiheit, sich ein Wesen zu schaffen, zuspricht – sei es, indem er die ihm gemachte Situation flieht, sei es, indem er sie auf sich nimmt –, so hat man das Recht, sich zu fragen, ob diese nackte Existenz gar keine Differenzierung zuläßt. Die jüdische ›Faktizität‹ – ist sie nicht anders als die ›Faktizität‹ einer Welt, die sich von der Gegenwart her versteht?« 32 Faktizität meint hier die faktische Situation, in die der Mensch »geworfen« ist und in der er sich ohne sein Zutun vorfindet. Lévinas’ These ist nun, daß diese faktische Situation für den Juden nicht dieselbe ist wie für »eine Welt, die sich von der Gegenwart her versteht« 33 . Letztere ist die Welt der europäischen Tradition. Was bedeutet eine Welt, die sich von der Gegenwart her versteht? 34 Eine Welt versteht sich von der Gegenwart her, die sich sowohl der Zukunft als auch der Vergangenheit, also der Transzendenz, beraubt hat, indem sie alle Zeitdifferenz aufhebt. Das tut in erster Linie Etre juif. Der Titel »Etre juif« ist zweideutig; er kann heißen »Jude sein« oder »Jüdisches Sein«. Die zweite Übersetzung ist für unseren Zusammenhang, wo es um die Definition des Seins geht, die interessantere, wenn auch nicht die richtigere; denn beide sind gleich möglich. Sie ist die interessantere, weil sie eine Antwort auf die Frage verspricht, ob es neben dem allgemeinen ein spezifisches jüdisches Seinsverständnis gibt. 32 EJ 103/Jus 70. 33 EJ 101/Jus 67. 34 Vgl. oben 9.1 31

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die Wissenschaft; sie konzentriert sich auf das Gesetz in seiner zeitlosen Idealität. Das Gesetz hat eine universale, ort- und zeitunabhängige Geltung. Aber auch das Christentum ebnet die Zeitdifferenzen ein, indem Gott nicht mehr allein als der Vater, der Gott einer unvordenklichen Schöpfung und der Offenbarung, sondern in Christus als der Mensch gewordene Sohn verehrt wird. Ja, die Originalität des Christentums »bestand darin, jenen Vater, an den der Jude geklammert ist wie an eine Vergangenheit, in den Hintergrund zu verbannen und zum Vater nur über den Fleisch gewordenen Sohn zu gelangen, das heißt, über eine Gegenwart, über seine Gegenwart unter uns … Gott ist dem Menschen Bruder, das heißt, er ist ihm zeitgenössisch.« 35 Mit diesem Zitat wird deutlich, daß die Einebnung der Zeit zugleich die Einebnung der Transzendenz ist. Indem die Vergangenheit der Gegenwart integriert wird, wird die göttliche Transzendenz in die Welt zurückgenommen. Das meint die Rede von einer Welt, die sich von der Gegenwart her versteht. Unter dieser Voraussetzung versteht man auch, wenn Lévinas schon zuvor die Verwandtschaft zwischen der »heidnischen Poesie der Georgica« und den »religiösen Gesängen eines Péguy, eines Jammes, eines Claudel« 36 betont. Heidentum und Christentum gehen eine Vermählung ein, in der Diesseits und Jenseits untrennbar werden. »Vielleicht kann das erstaunlichste Charaktermerkmal des Christentums in dessen Fähigkeit erkannt werden, Staatsreligion zu werden und dies nach der Trennung von Kirche und Staat zu bleiben; dem Staat nicht nur seine gesetzlichen Feiertage zu liefern, sondern auch den ganzen Zusammenhang des alltäglichen Lebens.« 37 Das profane Leben hat das Göttliche ganz in sich aufgesogen. Wir erkennen darin eine verkappte Form des von der jüdischen Philosophie bekämpften Pantheismus. Was bedeutet nun Faktizität in einer solchen Welt? »In der Gegenwart sein, das heißt uns selbst so zu behandeln, wie man die Menschen behandelt, die einen umgeben, deren Biographie einem unbekannt ist, die, aus ihrer Familie, aus ihrer Umwelt, aus ihrer EJ 102/Jus 68–9; der Begriff der Gegenwart und des Zeitgenössischen nimmt schon hier das spätere wichtige Thema der Synchronie vorweg. 36 EJ 101/Jus 67. 37 EJ 101/Jus 67; es gibt aber bei Lévinas auch die entgegengesetzte Betrachtungsweise, eine solche nämlich, die nicht die Religion im Staat aufgehen läßt, sondern den Staat in der Religion. Vom israelischen Staat heißt es: »Justice comme raison d’être de l’Etat – voilà la religion« (DL 283). 35

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Innerlichkeit herausgerissen, alle von ›unbekanntem Vater‹ sind, abstrakt in gewisser Weise, doch, genau deshalb, unmittelbar gegeben.« 38 Die Reduktion auf die Gegenwart löst die Dinge von ihrem Ursprung und ihrer Umgebung ab. Wird die Welt auf die reine Gegenwart reduziert, dann wird alles einander gleichgeordnet und hat keinen anderen Anspruch mehr als den des bloßen Vorkommens, der Faktizität. Das Faktum hat jede Art von Notwendigkeit verloren. Es gibt keinen Grund, warum die Fakten so sind, wie sie sind, sie könnten genau so gut anders sein. In der Faktizität liegt also keinerlei verpflichtender Charakter. Soll es eine Verpflichtung geben, so kann sie nur dem Subjekt und seiner Freiheit entspringen. Wenn daher ein Mensch seine faktische Situation passiv hinnimmt, dann nicht, weil die Dinge oder die faktische Situation ihn dazu verpflichten, sondern aus seiner freien Entscheidung, mag er sich darüber im Klaren sein oder nicht. »Sich nicht zu verpflichten, das wäre immer noch sich verpflichten; nicht zu wählen, wäre immer noch wählen.« 39 Das ist die These Sartres. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Aber, so Lévinas, diese Freiheit ist das Korrelat einer bestimmten Auffassung von der Faktizität: nämlich einer Welt, die sich allein von der Gegenwart her versteht, einer »Welt ohne Ursprung« 40 , die alle Transzendenz, die ihr von ihrem Ursprung herkäme, eingeebnet hat. Die Philosophie Sartres wird hier verstanden als Reaktion auf einen Zustand der Desorientierung. Diese Desorientierung aber folgt dem Verlust oder der Verdrängung des Ursprungs, d. h. des Vaters. 41 Dieser modernen Faktizität einer Welt, die sich von der Gegenwart her versteht, setzt Lévinas einen jüdischen Begriff von Faktizität entgegen, nämlich einer Faktizität, die für den Menschen Verpflichtung und Orientierung sein kann. Der Jude ist Jude dank einer göttlichen Offenbarung und Berufung, die er nicht abzuschütteln vermag, an die er endgültig gefesselt ist. Es ist diese VerganEJ 102/Jus 68. EJ 104/Jus 70. 40 EJ 105/Jus 72. 41 Dieses Grundmuster erlaubt es Mattern in einem sehr interessanten Artikel, »Lévinas’ Sicht auf Monotheismus und Säkularisierung mit derjenigen von Sigmund Freud zu konfrontieren« (Mattern 56): Auch nach Lévinas entspringe die europäische Kultur einer Gewalt gegen den Vater (vgl. J. Mattern »Abendländische Wirklichkeit zwischen ›Vaterschaft‹ und ›Vatermord‹ und die anamnetische Frage nach dem Verhältnis von Gnosis und Moderne«, in: Mattern 15–64). 38 39

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genheit, die das Judesein ausmacht. »Die Vergangenheit, die die Schöpfung und die Erwählung in die Ökonomie des Seins einführen, darf nicht mit der Fatalität einer Geschichte ohne absoluten Ursprung verwechselt werden.« 42 Im Gegensatz also zur grundund ursprunglosen Faktizität im Sinne der Philosophie der Existenz, die aus Not das Wesen des Menschen ganz in die Freiheit legt, hat die jüdische Faktizität in der Beziehung auf den Gott der Offenbarung und der Schöpfung eine Orientierung und einen historischen Grund. Vergleichen wir den Text von »Jude sein« mit den gleichzeitigen philosophischen Texten, die wir der Erörterung des erotischen Ansatzes zugrundelegen, so werden wir Benny Lévy zustimmen, der sein Erstaunen nicht zurückhält: »Dieser Artikel von 1947 scheint jeden Satz, den er im selben Jahr in den philosophischen Texten vorgetragen hat, zu dekonstruieren.« 43 Dieses Erstaunen hat zumindest zwei Gründe. Zunächst kehrt Lévinas die zeitliche Perspektive radikal um. Während er gemäß »Die Zeit und der andere« das Heil aus der Zukunft erwartet, also in der Zukunft den Bereich der Transzendenz zum anderen sieht, wird hier die Vergangenheit zur Dimension des anderen. Daraus folgt aber zweitens eine Veränderung nicht nur des Begriffs der Vergangenheit, sondern des Seins überhaupt, wie wir es bisher vorgestellt haben. Gemäß dem erotischen Ansatz wird das Esgibt zur Vergangenheit in dem Augenblick, in dem sich das Seiende konstituiert. Das Es-gibt wird die Vergangenheit, von der das Seiende sich befreit hat. Hier dagegen ist von einer verpflichtenden Vergangenheit die Rede, die es nicht gilt loszuwerden, sondern die das ganze Wesen des Menschen ausmacht. Die Geworfenheit, die Fesselung an das Sein, ist nicht nur die Katastrophe, das unbedingt Absurde, sondern wird hier im Gegenteil als Verpflichtung zu einem bestimmten Leben, zu einem jüdischen Leben nach dem Gesetz, verstanden. Wir erleben in diesem Aufsatz, wie der bisherige Begriff der Geworfenheit, der Faktizität und des namenlosen Seins aufgebrochen wird, wie Lévinas andere Möglichkeiten erprobt, ihn zu verstehen. Der Begriff der Geworfenheit, des »etre rivé«, wird nicht nur mehrdeutig, sonEJ 104/Jus 71. Cahiers I, 107. Der Ausdruck »dekonstruieren« scheint mir ein Euphemismus für »widersprechen« zu sein.

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dern kann eine positive ebenso wie eine negative Bedeutung erhalten. Wenn es daher heißt: »Der Jude ist unausweichlich an sein Judentum gefesselt« 44 , so wird auch diese Rede zweideutig. Sie kann die »Erniedrigung« 45 geißeln, die den Kern des Rassismus ausmacht. »Das … Schicksal, Jude zu sein, wird zu einer Fatalität.« 46 Das Judesein wird »auf das Niveau eines rein natürlichen Faktums« 47 reduziert. Faktizität kann aber auch verstanden werden als der Bezug zu einer historischen Offenbarung, zur Auserwählung, zur Transzendenz. Hier bereitet sich in der frühen Philosophie schon vor, was die spätere Philosophie dominieren wird: der Gedanke einer unnennbaren, immer schon vergangenen Vergangenheit, aus der dem Menschen eine Verpflichtung erwächst. Engagement oder Verhaftung im Sein bedeutet also nicht notwendig das Versinken in der Anonymität einer gestaltlosen Materie. Das gilt für das Judentum, das konzediert Lévinas aber auch Sartre. »Die allgemeine Philosophie Sartres ist nichts als der Versuch, den Menschen so zu denken, daß in seiner Spiritualität auch die historische, die wirtschaftliche und soziale Situation mitgefaßt ist, ohne aus ihnen ein bloßes Objekt des Denkens zu machen. Sie sieht den Geist in Verpflichtungen, die nicht gewußt werden. Verpflichtungen, die keine Gedanken sind – das ist der Existenzialismus!« 48 Aber, so fährt Lévinas nun fort: Diese Bindungen dürfen nicht verstanden werden als Bindungen an die Materie. 49 Im Gegenteil: Das Besondere von Sartres Existenzialismus sieht Lévinas darin, daß er die Begriffe von Sein und Existenz nicht auf die materielle oder biologische Existenz reduziert. Vielleicht ist es das, was Lévinas meint, wenn er von Sartre schreibt: »In der Philosophie Sartres ist ich weiß nicht was für eine engelhafte Gegenwart.« 50 Fassen wir für den Augenblick die Erörterungen dieses Exkurses zusammen, so werden wir sagen: Lévinas konzipiert schon hier als Alternative zur Transzendenz der Zukunft eine Transzendenz der Vergangenheit. Zum zweiten weitet sich der Begriff der Existenz: Wenn es die Aufgabe einer Philosophie der Existenz ist, anders als 44 45 46 47 48 49 50

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Herne 144 (»Le juif est inéluctablement rivé à son judaisme«). Herne 144. Herne 144. EJ 99/Jus 65. IH 122. IH 123: »comprendre ces engagements autrement que comme une matérialité«. TA 44: »présent angélique«/ZA 35.

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der Idealismus, die Spiritualität des Menschen aus seiner Existenz zu entwickeln, so wird hier unter Existenz nicht mehr allein das bloß materielle Leben, der Leib, die biologische und zeitliche Existenz verstanden, sondern eine Geschichtlichkeit, die das Absolute nicht ausschließt.51 *

*

*

13.3 a. Wir haben zunächst die Erfahrung, die das Subjekt mit dem Sein macht, zu beschreiben und dann zu zeigen versucht, in welcher Weise Lévinas diese Erfahrung mit traditionellen Begriffen der Philosophie und Theologie verbindet. Aber, so lautet nun die Frage, kann es überhaupt eine Erfahrung des Seins ohne Seiendes geben? Solange das grenzenlose Sein herrscht, ist es nicht im eigentlichen Sinne erfahrbar; denn die Erfahrung setzt ein erfahrendes Subjekt voraus, also ein Seiendes. Demnach kann das Sein ohne Seiendes weder erfahren noch thematisiert werden. Darum versagt dem Kratylos, auf den Lévinas sich bezieht, auch die Sprache. Nun spricht aber das Subjekt über das Sein ohne Seiendes. Und allein ein Subjekt, das schon außerhalb des Seins steht, kann das Sein zum Thema machen. Aber was es thematisiert, ist schon nicht mehr das Sein. Zwar wird das Sein erst sichtbar dem, der es schon verlassen hat – wie ja auch die mythische Welt als mythische erst vom Logos her erscheint –; zugleich aber ist das, was erscheint, schon nicht mehr das Sein ohne Seiendes. Sein Erscheinen ist zugleich sein Verschwinden. Lévinas hat sich diese paradoxe Situation nicht verhehlt. »Es ist wie ein Schwindel für das Denken«, schreibt er, »sich über die Leere des Verbs sein zu beugen, von dem man, wie es scheint, nichts sagen kann und das nur in seinem Partizip – das Seiende –, in dem, was ist, intelligibel wird.« 52 Eine »Erfahrung« des Seins kann es dann nicht geben, wenn Erfahrung, wie etwa bei Kant, als Verstehen von etwas genommen wird oder wenn jedes Bewußtsein gegenständliches Bewußtsein ist. Das Begreifen von etwas bringt immer schon die Intentionalität ins Spiel, also ein Seiendes, das die Muster, nach denen es versteht, mitbringt.

51 52

Vgl. auch Anmerkung 135, 81. EE 15–6/VS 17. A

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b. Aber dem Verstehen in diesem Sinne ist die Emotion vorgelagert; diese ist es, die den Zugang zum Sein eröffnet. Soll auch hier von Erfahrung die Rede sein, dann nur in einem uneigentlichen oder sehr allgemeinen Sinne. Die Zerstörung des Subjekts, schreibt Lévinas, kündigt sich in der Emotion an. »Die Emotion wirft um. Die physiologische Psychologie, die im Ausgang von der Emotion qua Schock die Emotionen im allgemeinen als einen Bruch des Gleichgewichts darstellte, scheint uns in diesem Punkt – … – zuverlässiger als die phänomenologischen Analysen, die der Affektivität trotz allem einen Charakter des Verstehens und folglich des Begreifens bewahren (Heidegger), die von emotionaler Erfahrung und einem mit neuen Eigenschaften versehenen Objekt sprechen.« 53 Was das Subjekt in der Emotion »erfährt«, ist weniger ein Gegenstand als ein Prozeß, nämlich die Vernichtung seiner selbst, die Vernichtung des Seienden. Den Punkt seiner Vernichtung kann das Subjekt nicht erleben, wohl aber seine Nichtigkeit als Prozeß. Die Erfahrung der Vernichtung, in der das Subjekt an die Grenze seiner selbst gelangt, weil das Bewußtsein sich nicht mehr gegen das Sein und durch den Unterschied zu ihm definiert, in der vielmehr seine Seiendheit nur noch im Bewußtsein der Nichtigkeit seiner Seiendheit besteht, im Bewußtsein der Aufhebung seiner selbst, nennt Lévinas mit einem Jasperschen Ausdruck »Grenzsituation« 54 . Das Es-gibt wird erfahrbar in der Grenzsituation, die in ihrem Extrem die Vernichtung des Subjekts ist. c. In welchen affektiven Erlebnissen das Sein an uns herantritt, steht für Lévinas nicht unmittelbar fest. Immer heißt das Sein das Übel 55 ; es ruft eine Malaise 56 hervor 57. Aber die nähere Bestimmung dieser Malaise ändert sich von der Vor- zur Nachkriegszeit. In »De l’évasion« ist die Rede von Ekel 58 , von Malaise 59, von Scham 60 . In EE 121/VS 86. E 90, EE 112/VS 81; vgl. Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 20. 55 le mal 56 malaise 57 Etwa EE 19/VS 20, TA 29/ZA 25. 58 Nausée. Das Wort meint eigentlich das Bedürfnis, sich zu übergeben, bezeichnet also nur einen inneren Zustand. Der Ekel dagegen ist die Reaktion auf einen Ekel erregenden Gegenstand, verlangt daher nach einem Objekt; demnach gibt nausée die Selbstreferenz des mal d’être treffender wieder als der deutsche Ausdruck Ekel. 59 E 78. 60 Honte; E 85. 53 54

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der Scham enthüllt sich das Sein. 61 Die Nachkriegsphilosophie spricht nicht mehr von Scham und Ekel. An ihre Stelle tritt das Bild von Nacht, Finsternis und Schlaflosigkeit, die in ihrem »Schweigen« 62 eine »stumme, unbedingte Bedrohung« 63 darstellen und »Entsetzen« 64 hervorrufen. »Das Entsetzen ist gewissermaßen eine Bewegung, in der das Bewußtsein seiner Subjektivität selbst beraubt wird.« 65 Und: »Das Entsetzen ist die Partizipation am Es-gibt.« 66 Zugleich verlieren auch die Dinge den Charakter der Gegenständlichkeit und Substanzialität. Im nächtlichen Dunkel löst sich die räumliche Ordnung auf, die »Dinge« sind unmittelbar nahe und doch unfaßbar, die Wahrnehmung verliert den Abstand, der für die Gegenstände konstitutiv ist. »In dieser anonymen Wache, in der ich dem Sein ganz ausgesetzt bin, hängen alle Gedanken, die meine Schlaflosigkeit erfüllen, an Nichts. Sie sind ohne Träger.« 67 Im Fluß lösen sich die Dinge auf. Wie sich das Subjekt aufgelöst hat, so verschwinden auch die Objekte. Es gibt keine Objekte mehr, an denen sich Veränderungen vollziehen würden, es gibt kein distanziertes Subjekt als Beobachter dieser Veränderungen. »Die Schlaflosigkeit«, so faßt Lévinas seine Analyse zusammen, »bringt uns also in eine Situation, in der der Bruch mit der Kategorie des Substantivs nicht nur das Verschwinden eines jeden Objekts, sondern auch die Auslöschung des Subjekts ist.« 68 Indem die Termini des Subjekt-ObjektVerhältnisses verschwinden, verschwindet dieser Gegensatz selbst. Im Es-gibt verschmelzen subjektive und objektive Existenz ineinander. 13.4 a. Das Sein ohne Seiendes steht am Ursprung der Welt als das Chaos, das sich zur Ordnung bildet. In der Rekonstruktion des Seinsgeschehens, die Lévinas unternimmt und die ihn vom Sein zum Seienden und vom Seienden zum anderen führt, ist es die erste Station. Zugleich aber steht das Sein ohne Seiendes als Resultat am Ende einer Entwicklung; denn Lévinas entwickelt diesen Begriff auch 61 62 63 64 65 66 67 68

E 87. EE 98/VS 72. EE 96/VS 71. EE 98, 102/VS 72, 75. EE 98/VS 72. EE 100/VS 74. EE 111/VS 81. EE 114/VS 81–2. A

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als das Ergebnis des Weltuntergangs. Wo also ist der systematische Ort des Seins ohne Seiendes? Welche Stellung nimmt der Begriff eines Seins ohne Seiendes im Ganzen des ersten Ansatzes ein? Welche Position kommt ihm im Verhältnis zu den anderen Seinsformen – Seiendes und plurales Sein – zu? Das Sein ohne Seiendes nimmt sich zwar wie ein Anfang oder Ursprung aus. Die Kennzeichnung als Chaos und der Bezug auf das biblische Tohuwabohu weisen in diese Richtung. Entstand nicht auch gemäß der griechischen Mythologie der Kosmos aus dem Chaos? Die Schöpfung einer Welt, die Scheidung des Lichtes von der Finsternis, die Stabilisierung der Differenzen zu bleibenden Gestalten wäre erst sekundär. In diesem Sinne geht ein Schritt »vom Sein zum Seienden«. Nun haben wir diesen Schritt vom Sein zum Seienden in Beziehung gesetzt mit dem Übergang vom Mythos zum Logos. Das Sein ohne Seiendes gibt die partizipative Seinsweise des Mythos wieder, die wir heute noch bei den Naturvölkern finden. Die europäische Kultur hat den Schritt vom Mythos hinter sich: Der europäische Geist entsteht aus der Mythenkritik und der Philosophie. Erst jetzt kann der Begriff eines mythischen Seins, eines Seins ohne Seiendes, entstehen, und zwar als Gegensatz zur eigenen rationalen Seinsweise. Indem wir den Schritt vom Sein zum Seienden mit dem Übergang vom Mythos zum Logos identifizieren und in diesem Übergang – zumindest für Europa – ein historisches Geschehen sehen, wird auch der Schritt vom Sein zum Seienden zu einem historischen Ereignis, nämlich zur Geburtsstunde Europas aus dem Geist der Philosophie. Diese Historisierung legt uns nahe, das Sein als eine anfängliche Stufe in der Entwícklung der Menschheit zu sehen, der als nächste Stufe die Konstitution des Seienden folgen wird. Damit scheint Lévinas ein Schema zu wiederholen, das wir von Hegel und Auguste Comte kennen: Die historische Entwicklung der Menschheit geht über verschiedene Stufen; davon ist eine der Übergang vom Mythos zum Logos oder zu Philosophie und Wissenschaft. b. Dieser Konzeption könnte Lévinas aus zwei Gründen nicht zustimmen. Zunächst wird er der von Hegel und Comte behaupteten Gesetzmäßigkeit widersprechen. Die Welt und das Seiende folgen nicht mit Notwendigkeit auf das Sein ohne Seiendes. Aber auch die 126

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Idee einer Folge ist ungenügend; denn es gibt nicht nur den Übergang vom Sein zum Seienden, sondern auch den umgekehrten Weg vom Seienden zum Sein. Das gerade macht den Umsturz und die Katastrophe des 20. Jahrhunderts aus, daß die europäische Zivilisation in Gestalt des Hitlerismus in das bloße Sein zurückzufallen droht. Das Es-gibt ist nicht eine ferne Vergangenheit, sondern die Gegenwart der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Sein, das die Seienden vernichtet, kann wiederkommen. Das Es-gibt »bedeutet nicht einen überwundenen Zustand der Welt, sondern eine ihrer beständigen Möglichkeiten, ja eine ihrer dramatischsten Versuchungen,« 69 so C. Chalier. Es gibt also nicht nur den Aufgang vom Sein zum Seienden, sondern auch den Rückfall vom Seienden in das gestaltlose Sein. c. Wenn aber beides möglich ist, dann stellt sich die Frage, wovon es abhängt, daß entweder das eine oder das andere geschieht. Lévinas hat diese Frage nirgends ausführlich behandelt. Es gibt aber doch einige Bemerkungen, die uns eine Antwort nahelegen. So schreibt er im Hinblick auf den Übergang vom Sein zum Seienden und zum vorstellenden Denken: »Die Vorstellung ist nicht die ursprüngliche Geste der menschlichen Seele, sondern eine Wahl.« 70 Der Übergang vollzieht sich also weder schicksalhaft noch kraft einer höheren Gesetzmäßigkeit, sondern verlangt von den Menschen eine Entscheidung. Ebenso ist der Rückfall in den Mythos kein neutrales Geschehen; es bedarf seitens der Menschen oder seitens einer Kultur einer Akzeptanz des gestaltlosen Seins. 71 Im ganzen gilt: »Im Hinblick auf sein Sein ist der Mensch in der Tat in der Lage, eine Haltung (atttitude) einzunehmen.« 72 Die Wiederkehr des bloßen Seins ist nicht ausgeschlossen. Mit solchen Äußerungen widerspricht Lévinas der heideggerschen Auffassung vom Sein. Auch für Martin Heidegger zeigt sich das Sein in verschiedenen Weisen. Daher gibt es eine Geschichte des Seins. Aber für Heidegger ist es das Sein selbst, das sich uns zuschickt, zeigt oder verbirgt. Wie und als was uns das Sein erscheint, 69 70 71 72

C. Chalier 1993, 42. EN 65/ZU 69. Vgl. E 98. EE 29/VS 24. A

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ist Sache nicht unserer Entscheidung, sondern des Seins selbst. Lévinas dagegen scheint sich auf die Seite Husserls zu schlagen, für den die Änderung der Einstellung – etwa von der natürlichen zur philosophischen – in die Freiheit des Menschen gestellt ist. Damit scheint Lévinas auch die Kritik, die er zunächst an Husserl geübt hatte, zurückzunehmen. Husserl sah den Grund für die Möglichkeit einer veränderten Einstellung zum Sein in der Freiheit des philosophierenden Subjekts. Dagegen hatte Lévinas eingewandt, daß dieser Akt ein Geschehen des Lebens ist und aus dem Leben begründet werden müsse. 73 . Nun heißt es dagegen: Der Mensch ist fähig, zu seinem Sein eine Einstellung 74 einzunehmen; er besitzt die Fähigkeit der Wahl. Die Frage also, wie das Sein geschieht, ob als Sein ohne Seiendes oder als Seiendes, weiter die Frage nach dem Übergang von einem Seinsverständnis zum anderen, weist zurück auf den Menschen. 75 d. Nun spricht Chalier nicht nur von der »beständigen Möglichkeit der Wiederkunft des Seins«, sondern nennt diese Möglichkeit »eine der dramatischsten Versuchungen«. Der Mensch ist »versucht«, in das Sein zurückzukehren; er hat ein Motiv. Chalier gibt für diese Behauptung keine weitere Erklärung. Sie kann sich damit aber auf Lévinas’ Kritik am Idealismus stützen. Die Herrschaft des Subjekts – das Seiende – führt in eine ebenso ausweglose Situation wie die Herrschaft des Seins. Der Idealismus endet in der Einsamkeit des Subjekts. Einsamkeit nicht im Sinne der »Psychologie, wie das Bedürfnis, das man nach einem anderen haben kann« 76 . Einsamkeit besagt vielmehr die Gefangenschaft in den eigenen Produkten, in der von uns selbst entworfenen und konstituierten Welt. Einsamkeit meint dann auch den Umstand, daß es für den Menschen keine objektiven Orientierungen mehr gibt, sondern nur die ungeschützte Willkür seiner Subjektivität. Einsamkeit im Sinne

ThI 222. Lévinas gebraucht das Wort »attitude«, das die gebräuchliche Übersetzung für den Husserlschen Ausdruck »Einstellung« ist. 75 Insofern könnte Lévinas der Kritik Habermas’ an Heidegger zustimmen. Wenn »Heidegger den Faschismus zum … ›Seinsgeschick‹ stilisiert habe«, so sehe er darin den Versuch, die Verantwortung für die politische Stellungnahme im Nationalsozialismus auf das Sein abzuwälzen (vgl. J. Habermas, Ansprache zum 11. 11. 2004 in Kyoto). 76 TA 18/ZA 17. 73 74

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einer »Kategorie des Seins« 77 bezeichnet die Grund- und Haltlosigkeit eines sich selbst überlassenen Subjekts. Was aber liegt dem solcherart Einsamen näher als die Flucht zurück ins Sein? Hier glaubt er den Grund zu finden, den er schmerzlich vermißt. Die Rückkehr zum Sein wird zur großen Versuchung für den Menschen, der sich der Halt- und Sinnlosigkeit seiner Existenz bewußt geworden ist. Die Rückkehr in das Sein öffnet sich als eine mögliche Alternative nach dem Zusammenbruch des Idealismus. 78 e. Hier stellt sich nun abermals eine Frage, auf die Lévinas nur mittelbar eine Antwort gibt. Will Lévinas sagen, daß jeder für sich entscheidet, was ihm das Sein bedeutet? Ganz offensichtlich nicht! Denn die Juden sind zwar die Opfer des Rückfalls in die Barbarei einer mythischen Existenz, aber sie sind es nicht, weil sie sich dafür entschieden hätten. Wer aber ist es dann, der durch seine Einstellung dem mythischen Sein zur Herrschaft verhilft? Offenbar die Mehrheit! Gewiß hat der Einzelne die Freiheit, eine Einstellung zu wählen. Aber seine Wahl bleibt ohnmächtig unter dem Zwang der Allgemeinheit. Die allgemeine Einstellung, d. h. die Einstellung der Mehrheit, bleibt nicht auf ein theoretisches Seinsverständnis beschränkt. Vielmehr diktiert es auch den praktischen Umgang mit den Dingen und Menschen. Es unterwirft sich die Seienden physisch und psychisch. Psychisch, sofern die Individuen dem allgemeinen Meinungsdruck nicht widerstehen können. Gehört zu der Versuchung nicht auch das Bedürfnis, um jeden Preis, koste es was es wolle, in Übereinstimmung mit den anderen zu sein und der Gemeinschaft anzugehören? Die Meinung entfaltet ihre Herrschaft unter der Voraussetzung des mythischen Seins. Aber das mythische Sein kommt seinerseits nur zur Herrschaft dank des umfassenden Ibid. Freilich kann die Freiheit der Wahl nicht Lévinas’ letzte Auskunft in dieser Sache sein. Sie mag als Erklärung gelten für den Übergang vom Mythos zum Logos. Aber die Begegnung mit dem anderen, das plurale Existieren, muß seinen Grund im anderen selbst haben. Ein Subjekt ist frei, soweit es von sich aus, spontan, aus eigenem Vermögen etwas hervorbringt. Insofern ist das aus Eigenem Hervorgebrachte auch nur das Eigene, nicht das andere. Die Freiheit des Subjekts und das andere scheinen unvereinbar miteinander. Daher finden wir bei Lévinas zwar einerseits die These von der Wahl des Seinsverständnisses, anderseits aber auch die mit allem Nachdruck vertretene These von der radikalen Passivität des Subjekts in der Begegnung mit dem anderen.

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Konsensus, also kraft der Meinung. Die Herrschaft der Meinung ist selbst das Sein ohne Seiendes. 79 Aber auch derjenige, der die Kraft hat, sich dem Meinungsdruck zu entziehen, erfährt das Sein ohne Seiendes als Gewalt, nämlich als physische Gewalt; denn das Verhalten zu den Dingen und Menschen wird vom Seinsverständnis diktiert. Ein Seinsverständnis, das sich ausschließlich an der Natur orientiert, hat kein Verständnis für Seiende, die als Träger einer universalen Vernunft die Natur transzendieren und insofern negieren. Die Differenz, die jemand in sich selbst – gewissermaßen privat – erkennt zwischen seiner Naturhaftigkeit – Rasse, Sprache, Kultur etc. – und seinem Menschsein wird von der Meinung eingeebnet. Das Es-gibt fesselt den Menschen an seine materielle Bedingung. Daraus folgt aber nun, daß das Es-gibt kein neutrales Geschehen ist, sondern von sozialen Verhältnissen abhängt. Im Es-gibt resümiert sich die soziale Gewalt der mythischen Gesellschaft. Man ist gewöhnt, die Philosophie Lévinas’ mit einer Philosophie der Sorge und der Verantwortung für den anderen zu identifizieren. Man übersieht, daß die frühe Philosophie der Gewalt durch den anderen einen bedeutenden Platz einräumt. Der Name für diese Gewalt lautet Sein ohne Seiendes oder Es-gibt. Im Jahre 1935 lesen wir bei Lévinas: »Jede Kultur, die das Sein akzeptiert, die tragische Verzweiflung, die es mit sich bringt und die Verbrechen, die es legitimiert, verdient den Namen der Barbarei.« 80 Nach dem Krieg heißt es: »Es-gibt – unpersönlich – wie es regnet oder es ist Nacht. Keinerlei Freigebigkeit, wie sie der dem il-y-a entsprechende deutsche Ausdruck es gibt enthält, manifestierte sich im Es-gibt zwischen 1933 und 1945.« 81 Hier wird nicht nur klar, wo Lévinas die Herrschaft des Es-gibt sieht, sondern auch, daß ihre Gewalt kein neutrales Geschick ist, sondern von anderen Menschen, vom anderen ausgeht. In einem radikaleren Sinne noch als Sartre könnte Lévinas sagen: L’enfer c’est les autres. f. Die vorstehenden Erörterungen erlauben uns nun eine nähere Bestimmung des systematischen Ortes des Es-gibt, die wir in drei Punkten zusammenfassen. Soweit mit dem Il y a die Meinung gemeint ist, scheint es mit dem heideggerschen »man« zusammenzufallen. 80 E 98. 81 DL 375. 79

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Zunächst: Das Es-gibt ist zweideutig insofern, als es auftritt wie eine letzte Instanz, hinter die nicht zurückgegangen werden kann und doch aus einer Einstellung der Menschen abgeleitet werden kann. Einerseits nennt Lévinas seine Untersuchungen ontologisch; hier beruft er sich auf philosophische Begriffe eines fundamentalen Geschehens, das dem Menschen entzogen ist; anderseits aber weist der Begriff eines Seins ohne Seiendes auf eine Einstellung zurück, die uns zur Wahl steht. Einerseits meint das Sein eine letzte, nicht zu hintergehende Gegebenheit, anderseits gründet sie ihrerseits in einem menschlichen Verhalten. In der letzteren Hinsicht ist Lévinas Husserl näher als Heidegger – aber mit einem charakteristischen Unterschied! Husserls Analyse führt ihn zurück auf ein letztes autonomes Ich. Lévinas dagegen stößt zunächst auf das chaotische Sein ohne Seiendes. Die weitere Analyse weist dann auch bei Lévinas auf ein konstituierendes Subjekt; aber dieses Subjekt ist kein Ich mehr, sondern ein Kollektiv, das alles andere und jedes Individuelle, das nicht in ihm aufgeht, vernichtet. Wenn es bei Husserl die Psychologie ist, die in die Transzendentalphilosophie und endlich in die Ontologie umkippt, so bei Lévinas die Soziologie. Damit bleibt auch Lévinas, zumindest hier, in der Tradition einer idealistischen Philosophie, die die Frage nach einem konstituierenden Subjekt beantwortet. Aber dieses transzendentale Subjekt – das Kollektiv – ist nicht nur das Chaos, sondern verbreitet Terror und Tod. Sodann: Das Sein geht nicht nur dem Seienden voraus, sondern ist ihm auch korrelativ. Die systematische Stellung des Seins ohne Seiendes definiert sich auch durch seinen Gegensatz zum Seienden oder zum Idealismus. Sein und Seiendes sind zwei Seinsweisen des Menschen, die zwar einander ausschließen, aber doch aufeinander angewiesen sind und aufeinander verweisen. Sie schließen sich gegenseitig aus wie Herrschaft und Knechtschaft und können doch voneinander nicht lassen. Das Seiende übt mittels der Vorstellung die Herrschaft über das Sein aus; das Sein hingegen läßt in der Einebnung der Differenz das Seiende verschwinden. Sie bilden zusammen eine ausweglose Alternative: Herrschaft über das Sein oder Knechtschaft unter ihm. Somit stellt das Sein ohne Seiendes eines der Extreme dar, die beide zusammen die aporetische Situation der Gegenwart definieren. 82 Diese Alternative erinnert an das, was Sartre in »Das Sein und das Nichts« als »Die konkreten Beziehungen mit dem anderen« darstellt.

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Endlich: Sein, Seiendes, plurales Sein sind nicht Stufen einer historischen Entwicklung. Der Geist kennt keinen notwendigen Weg, der ihn aus der Versunkenheit in die Geschichte zur Befreiung durch den anderen führen würde. Wenn Lévinas dennoch diese drei Formen in einer Folge anordnet, so weil er eine Wertabstufung vornimmt. Im Rahmen des erotischen Ansatzes kennt Lévinas drei Formen von Kultur, die von einem je anderen Seinsverständnis belebt werden: mythische, logische, pluralistische Kultur. g. Dem Mythos überlegen ist eine Kultur, die sich aus dem Abstand zum Sein entwickelt. Darin unterscheidet sich Lévinas von Autoren, die Europa des Europäozentrismus anklagen und in der europäischen Kultur nur eine unter vielen gleichrangigen sehen. Für Lévinas besteht zwischen der abendländischen Kultur und anderen Kulturen ein wesentlicher, ein qualitativer Unterschied. Er beruht auf der idealistischen Tendenz des europäischen Denkens: »Der Wert der europäischen Zivilisation beruht unzweifelhaft auf den Bestrebungen des Idealismus.« 83 Der Unterschied zwischen einem Leben, welches das bloße Sein akzeptiert, und einem anderen, das sich über das Sein erhoben hat, ist der Unterschied zwischen Barbarei und Zivilisation. 84 Hinzu kommt, daß nur das Seiende Beziehung zu einem anderen haben kann; im Sein ohne Seiendes gibt es weder Identität noch Andersheit. Insofern ist das Seiende eine Vorstufe der Beziehung zum anderen und dem anderen näher als das bloße Sein. Es gibt also eine Werteordnung der Seinsweisen, aber keine notwendige geschichtliche Folge. In keinem Augenblick ist eine gegebene Kultur oder die Menschheit insgesamt vor der Barbarei gefeit. Das Ziel der Geschichte ist der Friede: »Der wahre Gegenstand der Hoffnung ist der Messias oder das Heil.« 85 Seine Realisierung indes ist nicht unabhängig von der Haltung, die die Menschen einnehmen.

§ 14 Das Seiende oder die Hypostase 14.1 Im Sein liegt der Anfang; das Sein ist der Ursprung. Das Sein ist nicht selbst der Anfang, da es in ihm weder Anfang noch Ende 83 84 85

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E 98. Vgl. ibid. EE 156/VS 112.

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§ 14 Das Seiende oder die Hypostase

gibt. Aber was anfängt, muß in ihm anfangen. Da nun das Seiende einen Anfang hat, stellt sich die Frage, wie es aus dem Sein entstehen kann. Das Seiende zeichnet sich vor dem bloßen Sein dadurch aus, daß es identisch ist. In gewisser Weise sind alle Dinge und Personen, alle Seienden, identisch. Sonst könnten wir nicht in einer geordneten Welt leben und die Dinge und Personen beim Namen nennen. Aber die Dinge sind nicht für sich selbst identisch, sondern nur für jemand, der sie identisch setzt. Allein das Subjekt, das sich auf sich selbst und sein Sein bezieht, dessen Wesen in diesem Bezug besteht, ist im eigentlichen Sinne identisch. Identität ist ein innerer Bezug, ein Verhältnis zu sich selbst. »Die Existenz ist ein Absolutes, das sich behauptet, ohne sich auf irgendetwas anderes zu beziehen. Das ist die Identität.« 86 Dieses Verhältnis finden wir nur beim Subjekt. Nur in Bezug auf das Subjekt – und zwar nur aus der eigenen Erfahrung qua Subjekte – können wir von Identität in diesem Sinne sprechen. Den Dingen kommt eine Identität nur zu, soweit sie ihnen von uns verliehen wird. Daher wird die Frage nach dem Seienden für Lévinas zur Frage nach dem Subjekt, also nach einem Seienden, dessen Identität darin besteht, sich selbst identisch zu setzen. Dabei muß die Identität als Beziehung zum Sein unterschieden werden von den intentionalen Beziehungen als Beziehung zu den anderen Seienden. Für Lévinas ist die Identität als Beziehung zum Sein die innere Beziehung par excellence. Dem Seienden, das in der Identifikation entsteht, gibt Lévinas einen in der alten Philosophie gebräuchlichen Namen: Er spricht weder von Bewußtsein noch von Dasein, sondern von der Hypostase. »Wir haben«, so wird Lévinas am Ende sagen, »das Erscheinen selbst des Substantivs gesucht. Und um dieses Erscheinen anzuzeigen, haben wir den Terminus der Hypostase wiederaufgegriffen, der in der Geschichte der Philosophie jenes Ereignis bezeichnet, durch das der in einem Verb ausgedrückte Akt zu einem Seienden wird, das man mit einem Substantiv bezeichnet.« 87 Lévinas beruft sich zwar auf die Geschichte der Philosophie, um diesen Ausdruck zu legitimieren, E 73. EE 140–1/VS 101–2; vgl. auch TA 22–3/ZA 21: »Ich nenne Hypostase das Geschehen, durch das ein Seiendes sein Sein zusammenzieht (contracte).« Contracter kann heißen: 1. zusammenziehen, 2. einen Vertrag abschließen, 3. sich zuziehen (etwa eine Krankheit).

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aber er verschafft ihm damit keine Eindeutigkeit. Am bekanntesten ist die Verwendung dieses Ausdrucks im Zusammenhang der neuplatonischen Philosophie. Hier diente er dazu, den Umschlag einer höheren Stufe innerhalb der Hierarchie des Seins in eine niedrigere zu bezeichnen. Der unbedingte Ursprung von allem, was ist, liegt in dem namenlosen Einen, das aller Bestimmung vorausgeht. Aus ihm geht als erste Stufe die Intelligenz hervor, ein Seiendes, das sich selbst begreift und zu sich ein Verhältnis hat. Die Intelligenz ist die Hypostase des Einen. Das Sein bei Lévinas teilt mit dem neuplatonischen Einen die Unbestimmbarkeit und Unnennbarkeit. Aber die Entstehung der Hypostase aus dem Sein ist, anders als im Neuplatonismus, keine Bewegung der Degradation, also abwärts, sondern aufwärts. Wenn das plurale Sein das Ziel ist, auf das die Philosophie Lévinas’ hinstrebt, dann ist mit dem identischen Seienden ein erster Schritt hin auf dieses Ziel getan. Dabei kommt es Lévinas darauf an, das Seiende nicht neben das Sein zu setzen, sondern es in statu nascendi zu erfassen. Gegen Heidegger wendet Lévinas ein, er setze »das Seiende lediglich durch eine Unterscheidung neben des Sein« 88 . Lévinas hingegen macht sich zur Aufgabe, die ontologische Bedeutung des Seienden in der allgemeinen Ökonomie des Seins abzuleiten. 89 Er kommt damit auf ein zentrales und altes Problem der Philosophie überhaupt zurück. Für die Griechen ist es das Problem des apeiron oder der gestaltlosen Materie. Soll das Seiende aus dem Sein »abgeleitet« werden, so darf ihr Verhältnis nicht nach dem Modell von Form und Materie gedacht werden. Form und Materie sind zwei Prinzipien, die von Anfang getrennt sind, wobei die Form, das Bestimmte oder, wie Platon sagt, die Grenze, von außen an die Materie, an das Unbestimmte oder das Apeiron herantritt und ihm eine Gestalt aufprägt. Statt dessen soll das Seiende aus dem Sein entstehen. Die Differenz von Sein und Seiendem muß aus dem Sein selbst hervorgehen. Aus diesem Grunde ist das Wort Beziehung »hier nicht ganz genau. Es setzt Termini voraus, also Substantive. Es setzt voraus, daß sie einander nebengeordnet, aber auch unabhängig voneinander sind. Die Beziehung zum Sein ähnelt einer solchen Beziehung nur von Ferne. Beziehung ist sie durch Analogie. Denn das Sein … ist weder eine Person noch ein Ding und auch nicht die Totalität der 88 89

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EE 140/VS 102. EE 140/VS 102.

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§ 14 Das Seiende oder die Hypostase

Personen und Dinge. Es ist die Tatsache, daß man ist, die Tatsache des Es-gibt. Wer oder was ist, tritt nicht mit seinem Sein in Kommunikation aufgrund einer Entscheidung, die vor dem Drama, vor dem ›Vorhang hoch‹ getroffen wäre. Es nimmt dieses Sein nur auf sich, indem es schon ist.« 90 Insofern kann vom »paradoxen Charakter« der Beziehung des Seienden zum Sein die Rede sein. 91 Das Seiende kommt »zu sich« zurück, ohne vorher da, wohin es zurückkommt, gewesen zu sein. Die Bewegung hin zum Seienden ist eine Bewegung des Seins selbst. Entscheidend ist, daß das Seiende nicht als fertiges Seiendes, sondern an dem Punkte des Umschlags vom Sein in Seiendes begriffen wird. Die Forderung lautet: »Man muß das Ich in seinem amphibologischen Umschlag aus einem Geschehen in ein Seiendes ergreifen und nicht in seiner Objektivität.« 92 14.2 Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Hypostase und das Bewußtsein zwei verschiedene Weisen sind, in denen sich das Seiende realisiert. Das Bewußtsein wird vor allem dem idealistischen Weltverhältnis zugeordnet. Der Idealismus ordnet das Sein in seiner Totalität dem Subjekt unter 93. »Das Subjekt«, so sagt Lévinas über die Hypostase, »das sich aus der anonymen Wache des Es-gibt losreißt, wurde nicht als Denken oder als Bewußtsein oder als Geist aufgesucht. Unsere Untersuchung ging nicht von dem uralten Gegensatz von Ich und Welt aus.« 94 Die Hypostase hat es also noch nicht mit dem Sein als Welt zu tun, sondern allein mit dem Sein als Esgibt. »Die Beziehung mit einer Welt ist nicht synonym mit der Existenz. Diese ist früher als die Welt.« 95 Die Hypostase geht dem Verhältnis Bewußtsein – Welt voraus. 14.3 a. Die Hypostase geht dem Verhältnis Ich – Welt voraus. Insofern unterscheidet sie sich nicht nur vom Bewußtsein oder von dem Subjekt in der Korrelation Subjekt-Objekt, sondern auch vom Dasein, wie Heidegger es definiert. Das Sein des Daseins ist das Seinsverständnis; das Seinsver90 91 92 93 94 95

EE 27/VS 23. EE 130/VS 94. EE 136/VS 98. Vgl. DEHH 87. EE 140/VS 101. EE 26/VS 22; vgl. auch EE 55/VS 43 und 173/VS 124. A

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ständnis hat die Form des In-der-Welt-seins. Während die SubjektObjekt-Spaltung nach allgemeinem Verständnis die Frage aufwirft, wie das Subjekt aus sich heraus zum Objekt gelangt, nimmt Heidegger für sich in Anspruch, vor diese Spaltung zurückzugehen. Das ursprüngliche Phänomen ist die Einheit von Mensch und Welt, das Dasein oder das In-der-Welt-sein. Der Mensch hat von der Welt und dem Sein immer schon – a priori – ein Verständnis. »Seinsverständnis«, so erläutert Lévinas diesen Gedanken, »heißt sein in der Weise des Sich-sorgens um das eigene Sein. Verstehen heißt Sorge tragen. Wie dieses Verstehen, wie diese Sorge näher bestimmen? Das Phänomen der Welt oder, genauer, die Struktur des In-der-Welt-seins stellt die genaue Form dar, in der sich dieses Seinsverstehen realisiert.« 96 Für Heidegger also entfaltet sich der Seinsbezug zum In-derWelt-sein. Dagegen geht die Hypostase sowohl dem Weltverhältnis als auch dem Verstehen voraus. Den Grund haben wir schon genannt: nämlich die Unterscheidung des Seinsbezugs vom intentionalen Bezug. Diese Unterscheidung gewinnt in der Philosophie Lévinas’ eine zentrale und systematische Funktion, über die wir uns hier vorläufig verständigen müssen. Im bloßen Sein verschwindet das Seiende. Das Seiende in der Form des Bewußtseins hingegen bringt das Sein unter seine Herrschaft. Diese Herrschaft vollendet sich in der Korrelation von intentionalem Subjekt und Welt. Die Menschen stehen also vor der Alternative von Herrschaft oder Knechtschaft. Diese Aporie löst sich im pluralen Sein oder in der Transzendenz des Seienden zum anderen. Nun beschreibt die Welt den Zustand der Herrschaft des Seienden und seiner Verschlossenheit in sich. Die Welt schließt den anderen gerade aus. Daher verlangt die Transzendenz zum anderen den vorherigen Untergang der Welt. Der Weltuntergang ist eine Bedingung für die Transzendenz zum anderen. Sofern nun, wie bei Heidegger, das Seiende als Dasein und In-der-Welt-sein definiert wird, bedeutet der Untergang der Welt zugleich den Untergang des Seienden und den Rückfall in die mythische Existenz. Gerade diese Alternative kennzeichnet ja die Aporie der Gegenwart, aus der Lévinas einen Ausweg sucht. Die Lösung besteht für Lévinas darin, daß es ein identisches Seiendes gibt, dessen Bestand nicht an den Bestand der Welt gebunden ist, das besteht, auch wenn die Welt zugrundegeht. Dieses Seiende ist die Hypostase. Sie trotzt dem Weltuntergang 96

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§ 14 Das Seiende oder die Hypostase

und kann dadurch zum »Brückenkopf« für die Transzendenz zum anderen werden. Die Weltunabhängigkeit der Hypostase ist die Bedingung für ein plurales Sein. Das ganze Unternehmen Lévinas gemäß dem ersten Ansatz hängt also an dieser Unterscheidung von Dasein und Hypostase. Der Vorbehalt gegen Heideggers Philosophie nährt sich hier von den systematischen Forderungen des eigenen Ansatzes. »Das Hier des Bewußtseins …« – die Hypostase – »unterscheidet sich radikal vom Da, das im heideggerschen Dasein impliziert ist. Das Dasein impliziert schon die Welt. Das Hier, von dem wir ausgehen, das Hier der Position, geht allem Verstehen, allem Horizont und aller Zeit voraus.« 97 Aber auch davon unabhängig erfüllt Heidegger nach Lévinas seinen Anspruch, die Ontologie auf ein neues Fundament zu stellen, nicht. In der Weltlichkeit des Daseins ist die Grundstruktur, die auch das Subjekt-Objekt-Verhältnis bestimmt, vorgezeichnet. Die Sorge als das Sein des Daseins enthält »eine Erleuchtung (illumination), die aus ihr ein Verstehen und Denken macht. Dadurch findet sich die Dualität von Außen und Innen mitten im Dasein wieder; so ist das Dasein solidarisch mit der gesamten traditionellen Ontologie, die die Existenz von der Welt her angeht.« 98 Das Sein von der Welt her angehen ist aber nichts anderes als es »in die Einheit einschließen« 99 . Die Welt ist zwar kein Seiendes, empfängt aber doch vom seienden Subjekt her ihre Einheit als »Totalität« 100 . Sie ist ein tendenziell geschlossener Kreis 101. Diese Einheit hat die Welt, weil sie die Einheit des Verstandenen ist. »In dem verstandenen Universum bin ich allein, d. h. eingeschlossen in eine Existenz, die definitiv eine ist.« 102 Darin wiederholt sich die Kritik am eleatischen Seinsbegriff sowie auch indirekt der Einwand gegen Heidegger, dieser halte – entgegen seinem Selbstverständnis in »Sein und Zeit« – an Parmenides fest. b. Der zweite Punkt, in dem sich die Hypostase vom Dasein unterscheidet, hängt mit dem ersten eng zusammen und ist bereits berührt worden. Es ist die ekstatische Grundstruktur des Daseins. Die Zeitlichkeit des Daseins nämlich ist »bei Heidegger eine Ekstase, das ›AuEE 121/VS 87. EE 74/VS 57. 99 TA 22/ZA 21. 100 EE 76/VS 58. 101 EE 68/VS 53. 102 EE 144/VS 104. 97 98

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ßer-sich-sein‹« 103 . »Die Originalität dieser Konzeption besteht darin, in jener Ekstase mehr zu sehen als eine beliebige Eigenschaft der Seele, nämlich das, wodurch die Existenz existiert. Sie ist Beziehung nicht zu einem Objekt, sondern zu dem Verb sein, zu der Handlung zu sein. Durch die Ekstase übernimmt der Mensch sein Sein. Die Ekstase ist also das Geschehen selbst der Existenz. Unter dieser Voraussetzung aber ist die Existenz ›Zeitgenosse‹ der Welt und des Lichts.« Lévinas stellt dann die Frage, »ob die Beziehung, die man gewöhnlich Beziehung zwischen dem Ich und dem Sein nennt, eine Bewegung nach Außen ist, ob das ex die hauptsächliche Wurzel des Verbs existieren ist.« 104 Für Lévinas jedenfalls definiert sich die Hypostase nicht durch die Ekstase, sondern durch das In-sich-stehen, die In-stanz (instant). Er spricht auch von der »stance de l’instant« 105 . Noch bevor diesem Ausdruck eine zeitliche Bedeutung zukommt 106 , bezeichnet er eine Bewegung der Hypostase, nämlich das In-sich-Stehen, die der Ekstase entgegengesetzt ist. »Dem Begriff der Existenz – bei dem der Akzent auf der ersten Silbe liegt – setzen wir den Begriff eines Seienden entgegen, dessen eigentliche Ankunft ein Rückzug in sich ist, das entgegen dem Ekstatismus des zeitgenössischen Denkens in gewisser Weise eine Substanz ist.« 107 In der Phänomenologie wird das Sein dank der Identifikation mit dem Denken transitiv. Lévinas hingegen besteht auf der Intransitivität des Seins. Die Beziehung zum Sein ist eine »innere Relation«, eine »Beziehung, die man Intimität nennt« 108 oder ein »innerer Abstand« 109 . Vom Beginn des Seienden sagt Lévinas: »Der Beginn ist nicht nur, er besitzt sich in einer Rückkehr zu sich selbst.« 110 Nur so ist er Beginn. 14.4 Die Herrschaft des Seienden über das Sein ist aber auch das Kennzeichen des Lebens. Das Leben ist ein Grundbegriff für die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. In ihm kündigt sich ein neues Seinsverständnis an, das sich vor allem im Begriff des »Kampfes um 103 104 105 106 107 108 109 110

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EE 139/VS 100. EE 139/VS 100–1. EE 171/VS 123. L’instant ist der Augenblick. EE 138/VS 100. EE 38/VS 31. EE 131/VS 94. EE 35–6/VS 30.

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§ 15 Hypostase und Zeit

das Leben« ausdrückt. Die neue und fundamentale Idee ist nun, daß die Existenz in einem Kampf erworben werden muß, und daß dieser Kampf das Leben selbst ist.« 111 Lévinas sieht hier einen Bruch der Tradition. »Von nun an erscheint das Leben als der Prototyp der Beziehung zwischen Seiendem und Sein.« 112 »Nimmt man diesen Kampf«, so sagt Lévinas weiter, »auf der Ebene der ökonomischen« – auf Gegenseitigkeit beruhenden – »Zeit, wo er in der Regel gesehen wird, so erscheint er als Kampf um die Zukunft, als Sorge, die sich das Seiende um seinen Bestand und seine Erhaltung macht.« 113 Aber das Lebendige, das um sein Leben kämpft, ist nicht die Hypostase; denn es ist der »Kampf des schon existierenden Seienden um die Verlängerung dieser Existenz und nicht kontinuierliche Geburt, verstanden als [vom Kampf] verschiedener Vorgang, durch den das Sein sein Sein ergreift (l’existence s’empare de son existence), unabhängig von jeder Technik der Erhaltung« 114 . »Der Kampf ums Dasein (lutte pour l’existence) … gestattet nicht, die Beziehung des Seienden zu seinem Sein in der Tiefe zu erfassen, die uns interessiert.« 115

§ 15 Hypostase und Zeit 15.1 Wir haben die Hypostase bisher vor allem gegen andere verwandte Begriffe abgegrenzt. Nun kommt es darauf an, sie in ihrer eigenen Struktur sichtbar zu machen. Die Hypostase ist nicht einfach, atomar, sondern in sich gespalten. »Der Augenblick ist nicht aus einem Stück gemacht, er ist artikuliert.« 116 Das unterscheidet die Hypostase vom Begriff der Substanz, deren Stelle sie bei Lévinas einnimmt. Lévinas bezeichnet sie gelegentlich geradezu als Substanz. Wenn Lévinas die Hypostase an die Stelle der traditionellen Substanz setzt, wenn er sogar sagen kann, »gegen den Ekstatismus des zeitgenössischen Denkens« sei die Hypostase »in gewisser Weise eine Substanz« 117 , so liegt darin auch eine Kritik und eine Korrektur 111 112 113 114 115 116 117

EE 29/VS 25. EE 29/VS 25. EE 29/VS 25. EE 30/VS 25. EE 29/VS 25. EE 17/VS 18. EE 138/VS 100. A

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des traditionellen Begriffs. Seit Boëthius’ Übersetzung der griechischen Autoren wird das Sein (o'sffla) als Substanz bezeichnet. Sie ist das, was dem Werden, den Veränderungen und der Zeit zugrundeliegt. Sie ist das Sein der Seienden. Dieses Sein war unproblematisch; denn bis in die Moderne wurden Sein und Seiendes nicht unterschieden; vielmehr »gehörte dem Seienden das Sein … auf quasi unmerkliche und natürliche Weise an« 118 . Der Konflikt, den die traditionelle Philosophie ausficht und beizulegen sucht, »sieht den Menschen im Gegensatz zur Welt und nicht im Gegensatz zu sich selbst« 119 , zu seinem Sein. Dieses unproblematische Verhältnis zu sich nennt Lévinas auch die »suffisance à soi« 120 , das Sich-selbst-genügen. Er wiederholt damit indirekt die cartesische Definition der Substanz als eines »Seienden, das so ist, daß es, um zu sein, keines anderen Seienden bedarf« 121 . Diese Einheit mit sich selbst ist es, die in der Moderne zerbricht. Die Seiendheit und damit der Besitz des Seins ist nichts Selbstverständliches, sondern muß erworben oder erkämpft werden; es muß einem unartikulierten Sein, einem Sein ohne Seiendes, abgerungen werden. Die Moderne zeichnet sich vor der ihr vorausliegenden Tradition dadurch aus, daß das Seiende sich seines Grundes, und das heißt, seines Seins nicht mehr sicher ist. Damit ist ihr die Frage aufgegeben, wie sie aus einem Sein ohne Seiendes entstehen kann. Aufgabe der Philosophie ist es, diesen Ursprung freizulegen, »die Verbindung zwischen dem Seienden und seinem Sein auf die Probe zu stellen« 122 . Die »Ableitung« der Hypostase, wie Lévinas es anderswo nennt 123 , wird keine »Ursache« namhaft machen, deren »Wirkung« die Hypostase wäre: »Natürlich können wir nicht erklären, warum sich das vollzieht: Es gibt keine Physik in der Metaphysik. Wir können lediglich zeigen, was die Bedeutung der Hypostase ist.« 124

EE 29/VS 25. E 67. 120 E 67. 121 R. Descartes, Principia philosophiae 51, zitiert in der Übersetzung durch M. Heidegger, Sein und Zeit, 90. 122 TA 22/ZA 21. 123 EE 141/VS 102. 124 TA 31/ZA 26. 118 119

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15.2 a. Die Hypostase ist das erste Seiende im Sein, ein erster fester, identischer Punkt. Damit erhält der Strom der Zeit eine Orientierung, einen Mittelpunkt. Diesen Fixpunkt nennt Lévinas die Gegenwart 125 . Die Hypostase konstituiert sich als der Augenblick der Gegenwart. Das bedeutet, daß mit der Hypostase die Zeit ins Spiel kommt. Die Hypostase ist nicht nur der Anfang des Seienden, sondern auch der Zeit in Gestalt des gegenwärtigen Augenblicks. Damit tritt der Augenblick als der Vollzugsmodus der Hypostase in den Mittelpunkt der Analyse: »Den Augenblick zu durchmustern, seine Dialektik, die in einer bisher noch unvermuteten Dimension liegt, zu untersuchen, das ist … das wesentliche Prinzip der Methode, die wir anwenden.« 126 Wenn nun der Augenblick Ursprung ist, also das Entstehen von etwas Neuem, das im Alten nicht enthalten ist, und wenn in diesem Ursprung das Seiende und die Zeit einen Anfang nehmen, dann darf der gegenwärtige Augenblick nicht als einer unter anderen in einer Reihe von Augenblicken betrachtet werden. Das Sein ohne Seiendes kennt noch keine Zeit im Sinne einer Ordnung der Geschehnisse, kein Vorher und Nachher, weder Anfang noch Ende. Wenn sich in der Nacht des Es-gibt ein fester Punkt zeigen soll, so ist er der erste Ursprung aller Orientierung und Identifikation und nicht selbst schon bestimmt durch die Position in einer Reihe. Es kommt also darauf an, den Augenblick nicht von einer schon konstituierten Zeit her zu bestimmen. »Die Unterordnung des Augenblicks unter die Zeit liegt an der Tatsache, daß der Augenblick an beliebiger Stelle im ›Zeitraum‹ aufgenommen wird, wobei die verschiedenen Punkte des Zeitraums sich nur durch ihre Ordnung voneinander unterscheiden, innerhalb des Zeitraums aber einander gleichwertig sind.« 127 Die entfaltete Zeit einerseits und der Augenblick als Ursprung der Zeit anderseits müssen voneinander unterschieden werden: »Die Hypostase als Gegenwart setzen heißt nicht, die Zeit in das Sein einführen.« 128 Zur Zeit im vollen Sinne gehören Vergangenheit und Zukunft. Diesem Verhältnis eignet eine eigene Dialektik, wie Heidegger etwa sie als den hermeneutischen Zirkel entfaltet hat, da dem Dasein das 125 126 127 128

le présent, im Unterschied zur présence des il y a EE 42/VS 34. EE 129/VS 93. TA 32/ZA 27. A

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Gewesene als Möglichkeit aus der Zukunft entgegenkommt. Aber diese Dialektik der Zeit ist verschieden von der inneren Artikulation des hypostatischen Augenblicks. Unabhängig von der Zeit hat der Augenblick eine eigene Dialektik. Nun läßt sich der Augenblick von der Zeit im Ganzen nur absondern, sofern man von einer diskreten Zeit ausgeht. In der Tat übernimmt Lévinas von Descartes und Malebranche die Theorie einer diskreten Zeit, einer Zeit also, in der der einzelne Augenblick nicht aus eigener Kraft den nächsten hervorruft oder in ihn übergeht. 129 Damit stellt sich Lévinas auch gegen den Begriff einer produktiven Dauer, wie er die Philosophie Bergsons charakterisiert. Eines seiner zentralen Probleme ist vielmehr die Frage, wie es möglich ist, daß der eine Augenblick zum anderen transzendiert. 130 Wo Descartes und Malebranche sich auf den Schöpfergott berufen, da wird Lévinas das andere Weibliche bemühen. Im Zusammenhang mit der Hypostase kommt es für Lévinas zunächst darauf an, den Augenblick der Gegenwart in seiner Isoliertheit zu betrachten. So wenig der Augenblick auf die Zukunft vorgreift, so wenig besitzt er eine Vergangenheit. Man stelle sich vor, der gegenwärtige Augenblick griffe auf die Zukunft vor und entließe sie aus sich. Dann wäre der neue Augenblick, wenn er eintritt und die neue Gegenwart wird, das Erzeugnis des Augenblicks, der ihm vorausgeht. Er wurzelte in einer Vergangenheit. Er würde nicht mehr von sich ausgehen, wäre nicht länger Ursprung. Der Augenblick, soll er Ursprung sein, kann keine Vergangenheit haben, sondern entspringend vergeht er, »dauernde Geburt« 131 . Wenn die Gegenwart »dauerte, würde sie sich weiter vererben. Sie bezöge ihr Sein schon aus einer Erbschaft und nicht aus sich selber. Sie kann also keinerlei Kontinuität haben.« 132 Der dauernden Geburt entspricht ein dauerndes Erlöschen 133 . Der Augenblick als Ursprung und als Erlöschen bedingen sich gegenseitig. »Man mag sich … fragen, ob nicht das Erlöschen der Gegenwart die einzige Möglichkeit für ein Subjekt ist, im anonymen Sein aufzutauchen …« 134 Der Augenblick kann nur anfangen, weil er schon erlischt. Das Vergehen selbst ist die Gegenwart: »Das Erlöschen des 129 130 131 132 133 134

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EE 128–9/VS 92. TA 72/ZA 53. EE 30/VS 25, EE 143/VS 104. EE 125/VS 89. TA 32 f./ZA 27; EE 170/VS 122. EE 124/VS 89.

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Augenblicks konstituiert seine eigentliche Gegenwart; es bedingt die Fülle einer Berührung mit dem Sein, die in nichts Gewohnheit, die nicht Erbe einer Vergangenheit, die eben Gegenwart ist.« 135 In der These, daß der Augenblick seine eigene von einer Dialektik der Zeit unabhängige Dialektik besitze, und in der Aufgabe, diese Dialektik freizulegen, darin sieht Lévinas das Neue seiner eigenen Philosophie der Hypostase. »Die moderne Philosophie bezeugt eine Verachtung für den Augenblick, in dem sie nur die Illusion der wissenschaftlichen Zeit sieht, die jede Dynamik, jedes Werden verloren hat. Der Augenblick, reine Abstraktion, scheint für sie nur an der Grenze zwischen zwei Zeiten zu bestehen … Tatsächlich ging die Philosophie im Laufe ihrer gesamten Geschichte für das Verständnis des Augenblicks von der Zeit aus. Nicht daß sie die vulgäre Vorstellung gehabt hätte, die Zeit sei aus Augenblicken zusammengesetzt. Weder Platon noch Aristoteles und noch weniger Hamelin, Bergson und Heidegger haben diesen Fehler begangen. Aber … in der ganzen modernen Philosophie entlehnt der Augenblick seine Bedeutung der Dialektik der Zeit; er besitzt keine eigene Dialektik.« 136 Diese eigene Dialektik, die zugleich die Dialektik der Hypostase ist, gilt es zu zeigen. b. Die Position des Hier und des Leibes erlaubt dem Subjekt, das Sein und das dramatische Verhältnis zu ihm zu vergessen. Das geschieht im Schlaf, aber auch dadurch, daß das Sein und seine Tragik ins Unterbewußte oder Unbewußte abgedrängt wird. Aber der Genuß, der Schlaf und die Verdrängung, ja auch das Opfer und die Askese bringen keine endgültige Loslösung von der Materialität des Seienden. Vielmehr sind sie auch die Fessel, die das Subjekt dem Sein unterwirft. Diese Unfähigkeit, sich aus der Materie freizumachen, hängt für Lévinas mit der Struktur der Identifikation zusammen, des näheren mit der Zeitstruktur des hypostatischen Augenblicks. Im Akt der Konstitution des Seienden kommt das Seiende auf sich zurück. Dieser Akt ist der Grund oder der Anfang des Seienden. Ohne einen solchen Akt kann kein Seiendes entstehen. Solange alles, was ist, in reiner Passivität verharrt, entsteht kein Seiendes, sondern dauert die Herrschaft des Seins ohne Seiendes. Der Akt ist also das Erste. »Handeln (agir) heißt, eine Gegenwart auf sich nehmen. Was 135 136

EE 132/VS 95. EE 126–7/VS 90–1. A

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nicht darauf hinausläuft zu wiederholen, daß die Gegenwart das Aktuelle ist, sondern was besagt, daß die Gegenwart in dem anonymen Rauschen des Seins das Hervortreten eines Subjekts ist, das mit diesem Sein ringt, das eine Beziehung zu ihm hat, das es auf sich nimmt. Der Akt ist diese Übernahme.« 137 Der Akt ist also das Erste. Dank dieses Aktes wird das Subjekt sich selbst zum »Gegenstand«. Es ergreift sich. Zwar wird immer wieder unterstrichen, daß das Sich, als das das Subjekt sich ergreift, kein intentionaler Gegenstand ist, ja daß es sich – in der Folge von Heideggers Begriff der Befindlichkeit – um ein affektives Verhältnis handelt 138 . Aber bei aller Bemühung, die Unmittelbarkeit der Leiblichkeit zu betonen, bleibt eine Dualität. Den gegenwärtigen Augenblick beherrscht ein innerer Abstand: »Der Augenblick ist von sich aus ein Verhältnis, eine Eroberung« 139 . Aber damit ist der zeitliche Sinn des Sich nicht erschöpft. Das Sich ist nicht nur die Folge und das Resultat eines Aktes der Eroberung, sondern geht dem Akt auch zeitlich voraus. Denn der Akt besteht darin, auf sich zurückzukommen. Der Akt kann aber nur auf etwas zurückkommen, das ihm vorausliegt. Das Seiende hat seinen Anfang also nicht erst in dem Akt, sondern in dem Sich, auf das der Akt zurückkommt. Dies ist das eigentliche Paradox des Augenblicks. Im Augenblick wird eine Herrschaft über das Sein ausgeübt, aber diese Herrschaft ist selbst ein Seinsgeschehen. »Der Augenblick«, so lesen wir, »ist eine Beziehung eigener Art, eine Beziehung mit dem Sein, eine Initiation ins Sein. Beziehung, deren paradoxer Charakter in die Augen springt. Dasjenige, was zu sein beginnt, ist nicht, bevor es angefangen hat. Und dennoch muß das, was nicht existiert, zu sich geboren werden kraft seines Anfangs.« 140 Daraus folgt eine aus logischer Perspektive verwirrende Situation. Das Sich ist ein Seiendes und ist kein Seiendes. Es geht dem Anfang voraus und folgt ihm nach. Der Anfang ist Anfang und ist kein Anfang. Indem er Anfang ist, erweist er sich, nicht der Anfang zu sein, da ihm das Sich vorausgeht. An der Dialektik des Augenblicks scheinen die Regeln der Widerspruchsfreiheit zu scheitern. EE 48–9/VS 39. … ein Verhältnis, das uns in Zuständen wie der Müdigkeit, der Faulheit und der Langeweile präsent wird. 139 EE 130/VS 93. 140 EE 130/VS 94. 137 138

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Mit ihrer Analyse bewegt sich Lévinas »auf einer Ebene, von der aus das Prinzip der Widerspruchsfreiheit gilt (A ist nicht im selben Augenblick Nicht-A), für deren Konstitution es aber noch keine Geltung hat.« 141 Die Dialektik des Augenblicks macht, daß der Anfang nur Anfang ist, indem er sich an ein vorausgehendes Sich, an das Sein zurückbindet. Das macht die Unfreiheit der Hypostase aus. Der Leib, an den das Subjekt gekettet ist, ist Teil der Identität des Subjekts und zugleich Element des anonymen Seins, das der Vergegenständlichung konstitutiv vorausgeht und sich ihr also entzieht. Der Anfang des Subjekts, die Befreiung aus dem Sein und die Rückkehr zu ihm vollziehen sich im selben Akt: Das Subjekt ist »für immer gefesselt an das Sein, das es übernommen hat. Diese Unmöglichkeit für das Ich, nicht es selbst zu sein (de ne pas être soi), kennzeichnet die grundlegende Tragik des Ich, die Tatsache, daß es an sein Sein gefesselt ist.« 142 Lévinas kann diese Situation tragisch 143 nennen, weil die Hypostase in der Übernahme des Seins die Verantwortung für sich übernimmt: »Ich bin nicht ohne Verantwortung.« 144 Das Seiende übernimmt die Verantwortung für ein Sein, das ihm vorausgeht und sich seinem Einfluß, seinem Handlungsspielraum, grundsätzlich entzieht, für etwas, das es zwar ist und das seine Identität ausmacht, das aber dennoch »vor« seiner Zeit war. »Die Tragik entsteht nicht aus einem Kampf zwischen Freiheit und Schicksal, sondern aus dem Umschlag der Freiheit in Schicksal, aus der Verantwortung.« 145 15.3 a. Damit ist das Ich an sich selbst, an sein Sein gefesselt. Es ist die »Solidarität mit unserem Sein, die uns verpflichtet, die Verantwortung für uns zu übernehmen« 146 . Was besagt dieses Sich, von dem das Seiende nicht loskommt, weil es für es verantwortlich ist? Es ist der Leib. Die Konstitution des Seienden findet nicht außerhalb des EE 131/VS 94. EE 143/VS 103. 143 Vgl. etwa E 98; EE 21/VS 21, EE 101/VS 75, EE 134/VS97, EE 136/VS 98, EE 143/VS 103; TA38 / ZA 31; IH 139. 144 TA 37/ZA 31; ich weise noch einmal darauf hin, daß es sich bei dieser Verantwortung um die Beziehung des einsamen Subjekts zum Sein, und nicht um eine Beziehung zum anderen handelt. 145 EE 136/VS 98. 146 E 85. 141 142

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Seins statt, sondern als Position im Sein. Dabei muß man den Ausdruck »Position« durchaus im räumlichen Sinne als »Hier« verstehen. »Das Denken, das außerhalb des Raumes anzusiedeln der Idealismus uns beigebracht hat, ist – seinem Wesen nach und nicht als Folge eines Sturzes oder einer Erniedrigung – hier.« 147 Es gibt kein Denken, keine Seele, kein identisches Seiendes ohne Bindung an einen Ort, an eine Materie, an einen Leib. Der Leib ist »die eigentliche Ankunft des Bewußtseins … Er ist die Tatsache selbst der Lokalisierung, die in das anonyme Sein einbricht.« 148 Die Materialität des Seienden drückt »nicht den zufälligen Fall des Geistes in das Grab oder das Gefängnis eines Leibes aus. Sie begleitet – notwendigerweise – das Sich-Erheben des Subjekts in seiner Freiheit des Seienden.« 149 Lévinas begreift den Leib von dem »konkreten Ereignis der Beziehung zwischen Ich und Sich« 150 . In ihm vollzieht sich »der eigentliche Umschlag vom Geschehen zum Seienden« 151 . Der Leib ist offensichtlich die erste Besitznahme des Subjekts, das Terrain, von dem aus das Seiende sich das Sein unterwirft. Wenn es heißt: »Der Anfang ist belastet mit sich selbst« 152 , so ist das Sich der Leib. Es wäre freilich falsch, das Hier der Position als Inbesitznahme eines gegebenen Raumes zu verstehen. Vor der Position der Hypostase gibt es so wenig einen gegliederten Raum wie es eine gegliederte Zeit gibt. Ein orientierter Raum kann erst vom Nullpunkt der Orientierung her beginnen, nämlich dem leiblichen Hier. »Das Denken«, heißt es, »hat einen Ausgangspunkt. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Bewußtsein der Lokalisierung, sondern um eine Lokalisierung des Bewußtseins, die ihrerseits nicht wiederum in Bewußtsein und Wissen aufgeht … Lokalisierung, die nicht den Raum voraussetzt.« 153 Und an anderer Stelle lesen wir: »Bevor er geometrischer Ort, bevor er die konkrete Umwelt der heideggerschen Welt ist, ist der Ort eine Grundlage.« Lévinas fährt sodann fort: »Dadurch ist der Leib die eigentliche Ankunft des Bewußtseins.« 154 Mit dem Begriff der Position vollzieht Lévinas eine Erweiterung 147 148 149 150 151 152 153 154

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EE 117/VS 83. EE 122/VS 87. TA 37/ZA 31. TA 37/ZA 31. EE 123/VS 88. TA 36/ZA 30. EE 117/VS 83–4. EE 122/VS 87.

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des Begriffs der Hypostase. Die Hypostase ist nicht nur das ursprüngliche Jetzt, sondern auch der ebenso ursprüngliche »Vollzug des Hier. Die grundlegende Tätigkeit des Ruhens (re-pos), die Grundlegung (fondement), das Grundgeben (conditionnement) … erscheint als die Hypostase. Diese ganze Arbeit« – die Untersuchungen unter dem Titel »Vom Sein zum Seienden« – »hat sich vorgenommen, allein die Implikationen dieser grundlegenden Situation zu explizieren.« 155 Gegenstand der Untersuchung ist »der Begriff der Gegenwart und der Setzung« 156 In der Hypostase kommen ein zeitliches und ein räumliches Element zusammen. Sie sind es, zwischen denen sich die Dialektik des Augenblicks oder der Hypostase entwickelt. 157 Das Hier steht für den Leib und die Materialität der Existenz. 158 Es ist die Fessel des Leibes, die den Elan der Freiheit in das Sein zurückfallen läßt. b. Der Leib besitzt für den Menschen eine fundamentale Zweideutigkeit: Einerseits befreit er den Menschen aus dem Sein, anderseits aber ist gerade der Leib auch die unlösbare Fessel an das Sein. Lévinas hat zwei Formen genannt, in denen diese Herrschaft sichtbar wird: EE 52/VS 41. EE 18/VS 19. 157 Lévinas scheint hier Elemente der Philosophie Bergsons aufzunehmen. Bergon stellt einer mechanischen Zeitauffassung, die räumliche Verhältnisse auf die Zeit überträgt, eine produktive Zeit entgegen. Dieser Gegensatz wiederholt sich bei Lévinas, wenn er der Transzendenz des Raumes (vgl. TA 48/ZA 39), die er auch die Transzendenz des Lichtes nennt (TA 47/ZA 37), eine Transzendenz der Zeit entgegenstellt. Insofern kann Lévinas Bergsons Konzept einer schöpferischen Zeit übernehmen. Aber anders als Bergson, für den der gegenwärtige Augenblick selbst schöpferisch ist, sieht Lévinas den Grund für die schöpferische Kraft in der Begegnung mit dem Geheimnis: »Bergsons Auffassung der Freiheit durch die Dauer … bewahrt der Gegenwart ein Vermögen über die Zukunft: Die Dauer ist Schöpfung … Es handelt sich darum, zu zeigen, daß die Schöpfung selbst eine Öffnung auf ein Geheimnis voraussetzt« (TA 72/ZA 52). 158 Schon in »De l’évasion« wird die Fesselung an das Sein als Bindung an den Leib gedeutet: »Das Vergehen besteht nicht darin, gegen die Anstandsregeln verstoßen zu haben, sondern fast in der Tatsache, einen Leib zu haben, da zu sein« (E 91). Jacques Rolland, dem nicht nur das Verdienst der Neuherausgabe zukommt, der darüber hinaus dem Text eine kenntnisreiche Einleitung vorausschickt und ihn darüber hinaus kommentiert, hat auf die strukturelle Verwandtschaft dieser Stelle mit der späteren ethischen Interpretation hingewiesen. Aber es ist auch wichtig zu bemerken, daß die Rede von Fehler und Verantwortung in dieser Phase von Lévinas’ Denken nichts mit einer Verantwortung für den anderen zu tun hat. Nicht nur besitzt die Scham (la honte) ihren eigentlichen Sinn erst in der Einsamkeit; vielmehr muß das Subjekt, um zum anderen zu gelangen, zuvor alle Verantwortung abgelegt haben. 155 156

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den Genuß und den Schlaf. Zur näheren Bestimmung des Genusses müssen wir auf die Analyse des Bedürfnisses zurückkommen. Das Bedürfnis entwickelt sich zwischen den Extremen der Malaise und der Befriedigung oder des Genusses. In der Malaise erfährt das Subjekt seine Abhängigkeit vom Sein. Im Genuß hingegen wird momentan die Herrschaft über das Sein hergestellt, die das Quälende der Abhängigkeit vergessen macht. Im Genuß ist die innere Entzweiung des Subjekts mit sich selbst für einen Augenblick überwunden. Zwar unterscheidet Lévinas zwischen dem Genuß als Form der Affektivität einerseits und dem intentionalen Verhalten anderseits; denn die intentionale Beziehung des Ich zum Gegenstand »bewahrt gegenüber dem Gegenstand eine Distanz und eine Zurückhaltung, die gerade die Intention vom Genuß unterscheidet« 159 . Aber an anderer Stelle wird der Genuß als Form des intentionalen Lebens beschrieben, das dem Subjekt in der Welt zukommt. 160 Der Genuß ist schon ein Sich-Vergessen, eine erste Distanzierung vom Sein, in diesem Sinne »une première abnégation« 161 . Daß das Ich sich vergessen kann, daß der Hiatus zwischen dem Ich und dem Sich verschwindet und damit die Dialektik der Hypostase für einen Augenblick zur Ruhe kommt, verdankt das Subjekt der leiblichen Befriedigung. Eine andere Form der Befreiung aus dem Sein ist der Schlaf. Das Es-gibt wird von Lévinas am Phänomen der Schlaflosigkeit (insomnie) oder der Wache (veille) verdeutlicht. Das anonyme nächtliche Wachen, das uns keinen Schlaf finden läßt, ist eine der Grenzsituationen, die uns das Es-gibt nahebringt. »Die Schlaflosigkeit versetzt uns in eine Situation, in der der Bruch mit der Kategorie des Substantivs nicht nur das Verschwinden eines jeden Objekts ist, sondern die Auslöschung des Subjekts.« 162 Dagegen ist das Bewußtsein »das Vermögen zu schlafen« 163 : »Das Bewußtsein schien sich abzusetzen EE 72/VS 55. Vgl. TA 46/ZA 36. Hier wird eine Unschärfe und Fraglichkeit der Lévinas’schen Analyse sichtbar. Unscharf ist die Abgrenzung zwischen der Partizipation, der Hypostase und dem intentionalen, auf Welt bezogenen Bewußtsein. Geht man davon aus, daß die Hypostase dem (Welt-)Bewußtsein vorausgeht, dann stellt sich die Frage, welche neuen Wege von der Hypostase zur Welt führen. Lévinas scheint eine bündige Antwort auf diese Frage schuldig zu bleiben. 161 TA 46/ZA 37. 162 EE 112–3/VS 81. 163 TA 30/ZA 26. 159 160

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vom Es-gibt dank seiner Möglichkeit, es zu vergessen und auszusetzen – dank seiner Möglichkeit zu schlafen.« 164 Nur ein Subjekt, das die Auseinandersetzung mit dem Sein in den Hintergrund drängen und für eine Zeit vergessen kann, vermag zu schlafen. Es überläßt sich seinem Leib. Das Es-gibt tritt ins Unbewußte zurück: Es wird vergessen. So ist das Unbewußte nichts anderes als das suspendierte Sein 165 . Somit beruht das Vermögen, sich auszuruhen (re-pos), das Vermögen zu schlafen, auf der Position des Hier und des Leibes. Das Hier bedeutet gegenüber dem Es-gibt die Einschränkung auf einen Ort, auf den Leib. Aber diese Einschränkung schafft zugleich die erste Verläßlichkeit, ein Fundament, von dem aus der Flug der Intentionen und des Geistes anheben kann. 15.4 Der gegenwärtige Augenblick in seiner Dualität ist ein Aufbruch und ineins das Ende des Aufbruchs, eine Befreiung, die in Knechtschaft umschlägt, eine versuchte Transzendenz, die in der Immanenz erstickt, eine Bewegung, die nicht von der Stelle kommt. Daß er auf der Stelle tritt, macht die Ewigkeit des Augenblicks aus. Wenn die Materie das Symbol für die Unfähigkeit zur Transzendenz ist, wenn sich im Stein die Melancholie des immer Gleichen darstellt, dann ist der hypostatische Augenblick der versteinerte Augenblick. Das Paradox des Augenblicks hat Lévinas als Phänomen der Anstrengung (effort), der Arbeit (travail) und der Müdigkeit (fatigue) und der Faulheit (paresse) beschrieben. »Sich selbst und der Gegenwart voraus, in der Ekstase des Elans, der antizipierend die Gegenwart überspringt, bezeichnet die Müdigkeit eine Verzögerung gegenüber sich selbst und gegen die Gegenwart. Das Moment, kraft dessen der Elan über sich hinaus ist, ist bedingt durch die Tatsache, daß er hinter sich zurück ist. Was man die Dynamik des Elans nennt, besteht aus diesen beiden Momenten gleichzeitig und beruht nicht auf der Antizipation der Zukunft, wie es die klassischen Analysen wollen, die das Phänomen der Müdigkeit vernachlässigen.« 166 Anstrengung und Müdigkeit haben mit Protention und Retention nichts zu tun. »Die Anstrengung ist eine Anstrengung der Gegenwart in einer Verzögerung gegen die Gegenwart.« 167 Wenn die Hypostase die Zeit öffnet, 164 165 166 167

EE 115/VS 82. Vgl. EE 43/VS 34. EE 44 f./VS 36. EE 45/VS 36. A

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so ist sie zugleich unfähig, in der Zeit fortzuschreiten. Sie ist eine Zeit, die stagniert – Ewigkeit. Die Anstrengung des Augenblicks »ist die Unmöglichkeit, sich von dieser Ewigkeit zu lösen, auf die hin sie sich öffnet … Von daher die tiefe Meditation Baudelaires über das Skelett als Ackermann 168 . Die Existenz scheint ihm zugleich als unheilbar ewig und der Qual verfallen. Ewig, leider! werden wir vielleicht in einem unbekannten Land die spröde Erde pflügen und einen schweren Spaten unter unseren blutigen und nackten Füßen stoßen.« 169 Es ist die Erfahrung einer ohnmächtigen, unfruchtbaren und stillstehenden Zeit, die Lévinas in der Beschreibung des Augenblicks zu fassen sucht und für die er sich im übrigen auf die Erfahrung der Dichter beruft. 170 In dieser Paradoxie liegt die Tragik der Hypostase, die Lévinas nicht aufhört hervorzuheben. Tragik – und nicht Antinomie oder Widerspruch171 !

§ 16 Die Welt 16.1 Während wir es bisher mit der Hypostase im Verhältnis zum Sein zu tun hatten, treten wir nun in eine neue Phase der Entwicklung des Subjekts ein: Wir kommen zum Verhältnis des Bewußtseins zur Welt. Versucht man, Hypostase und Bewußtsein gegeneinander abzusondern, so scheint es keine scharfe Grenze zwischen ihnen zu geben, sondern eher einen fließenden Übergang. »Zwar haben wir die Hypostase gesucht und nicht das Bewußtsein, aber wir haben das Bewußtsein gefunden.« 172 Dennoch fallen sie nicht ineins. »Der auffälligste Unterschied hängt mit der Tatsache zusammen, daß wir es in der Welt mit Objekten zu tun haben.« 173 Nun ist auch die Hypostase ein Prozeß der Objektivierung; aber 168 Vgl. dazu von Ch. Baudelaire das Gedicht »Le squelette laboureur« aus »Tableaux parisiens«. 169 EE 49/VS 39. 170 Gontscharow und Rimbaud EE 39/VS 32, P. Valéry EE 37/VS 31 und IH 142. An der letztgenannten Stelle ist der Ausruf »Zénon, cruel Zénon … Cette flèche …« ein Zitat aus Valérys »Cimetière marin«. 171 Vgl. IH 140. 172 EE 141/VS 102; vgl. auch EE 142/VS 103: »Das Licht, das Wissen, das Bewußtsein scheinen das Ereignis der Hypostase selbst auszumachen.« 173 EE 55/VS 43.

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er situiert sich am Übergang vom Sein zum Seienden. »Bewußtsein, Setzung, Gegenwart, ›Ich‹ sind anfangs keine Seienden – wenn sie es auch endlich sind. Sie sind Ereignisse, kraft deren das unnennbare Verb sein sich in ein Substantiv verwandelt. Sie sind die Hypostase.« 174 Es gibt also für den Prozeß der Objektivierung einen Anfang und ein Ende. Den Anfang macht die Grenzsituation der Entstehung des Seienden. Auch das Ende muß als Grenzsituation 175 angesehen werden: als die vollendete Vergegenständlichung des Seins, das vollständige Zurücktreten des Subjekts hinter das Sein. Darum wird das Subjekt qua Bewußtsein auch als »Freiheit gegenüber jedem Objekt« 176 bezeichnet: »Das Subjekt ist das Vermögen des unendlichen Rückzugs, das Vermögen, sich immer hinter dem zu befinden, was ihm geschieht.« 177 Das Mittel dazu ist die Objektivierung. In dem Maße, in dem es das Sein zu seinem Objekt macht, zu seiner Welt, in dem Maße tritt das Bewußtsein hinter das Sein zurück. Aber die Objektivierung des Seins gelingt doch nur annähernd; die vollendete Objektivierung wäre ihrerseits eine neue Grenzsituation, die der Grenzsituation der Hypostase entgegengesetzt ist. Zwischen der Hypostase und dem Bewußtsein besteht derselbe Gegensatz, der auch das Sein als Geschehen und Verb und das Sein als Objekt unterscheidet. Zwischen ihnen liegt ein kontinuierliches Übergangsfeld zunehmender oder – je nach der Perspektive – abnehmender Objektivierung. Der Übergang vom Sein zur Welt, die Passage vom Sein zum Seienden, meint also den Prozeß der fortschreitenden Vergegenständlichung des Seins. Ineins mit ihm vollzieht sich der Umschlag der Herrschaft des Seins über das Subjekt in die Herrschaft des Subjekts über das Sein. 16.2 Fragt man nun weiter, wie im einzelnen die Aneignung des Seins durch das Bewußtsein vonstattengeht, so verweist Lévinas auf die Intentionalität des Bewußtseins. Die Intentionalität ist der zentrale Begriff in Husserls phänomenologischen Bewußtseinsanalysen. Der Prozeß der Vergegenständlichung, in dem die Welt für uns entsteht, wird als intentionale Leistung des transzendentalen Bewußtseins beschrieben. EE 141–2/VS 102. Vgl. EE 143/VS 103: »Das Ich tritt hinter sein Objekt, hinter sich selbst zurück, aber diese Befreiung von sich erscheint als eine unendliche Aufgabe.« 176 EE 78/VS 59. 177 EE 78–9/VS 59. 174 175

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a. Die Intentionalität des Bewußtseins ist diejenige Leistung, kraft derer wir das Chaos der Sinneseindrücke ordnen und es nun nicht mehr mit einem gestaltlosen Sein zu tun haben, sondern mit Dingen und einer geordneten Welt. Dabei handelt es sich nicht um ein passives Betrachten, sondern um ein Geschehen, das angetrieben wird von der Begierde (désir) des Bewußtseins. Man muß den Begriff der Intention »weniger in dem neutralisierten und körperlosen Sinne nehmen, den er in der mittelalterlichen Philosophie und bei Husserl hat als vielmehr in seinem geläufigen Sinn mit dem Stachel des Begehrens, der ihn animiert.« 178 . Die Intentionen sind zugleich Weisen, sich des Seins zu bemächtigen. Das Korrelat der Intention ist das Gegebene. Das Gegebene wird von zwei Seiten her eingegrenzt. Einerseits ist etwas gegeben, sofern es schon im voraus dem Bereich des Subjekts, der Sphäre seiner Begierde, angehört. Es ist gegeben aber auch insofern, als es dennoch außerhalb bleibt und das Subjekt zu ihm hingehen muß. »Das Objekt ist für mich bestimmt, es ist für mich. Das Begehren als Verhältnis zur Welt enthält eine Distanz zwischen mir und dem Begehrenswerten und folglich eine Zeit, die vor mir liegt – gleichzeitig einen Besitz des Begehrenswerten, der dem Begehren vorausgeht. Diese Stellung des Begehrenswerten vor und nach dem Begehren ist die Tatsache, daß es gegeben ist. Und die Tatsache, gegeben zu sein – das ist die Welt.« 179 Das Begehren des Gegenstandes vereinigt also in sich die Theorie mit der Praxis 180 sowie das Apriori mit dem Aposteriori. Das intentionale Subjekt ist frei von den Dingen und hat sie doch zu seiner Verfügung. So zieht sich auch das Ich in der Welt von den Dingen zurück, während es sie gleichzeitig beherrscht. Es ist Innerlichkeit. Das Ich hat in der Welt ein Innen und Außen. Dieses Verhältnis bestimmt auch den Unterschied der Begierde zum Bedürfnis. Zwar sind beide eng miteinander verwandt 181 ; aber doch hat das Begehren ein neues Verhältnis zum Sein: Weil ihm das Sein in Gestalt des Gegebenen zur Verfügung steht und doch auf Abstand bleibt, kann Lévinas sagen, es »unterscheiden sich das Begehren oder der Appetit radikal vom immer unruhigen BedürfEE 56/VS 43. EE 59/VS 46. 180 EE 71/VS 54–5. Im Gegebenen kommen Theorie und Praxis zusammen: »Die Betrachtung richtet sich auf den Gegenstand. Daher ist sie mehr als ›reine Betrachtung‹, sie ist schon Element einer Handlung.« 181 Vgl. EE 68–9/VS 53. 178 179

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nis« 182 . Diese Sphäre nun, in der das Seiende für die Begierde des Subjekts gegeben ist, nennt Lévinas auch den Sinn: »Wir drücken die Intentionalität nur auf andere Weise aus, wenn wir sagen, sie sei der eigentliche Ursprung von Sinn.« 183 b. Der Begriff des Sinnes führt uns auf den Grund, der Subjekt und Objekt gemeinsam ist. Der gemeine Verstand ist geneigt, unter Sinn das zu verstehen, worauf etwas verweist oder worauf es zurückgeführt werden kann: Sinn ist »Reduzierbarkeit eines Begriffes oder einer Wahrnehmung auf ein Prinzip oder ein Konzept« 184 . Wäre dies der Sinn, so wäre das letzte nicht weiter zurückführbare Prinzip ohne Sinn. Daher wird Sinn anders definiert: »Der Sinn ist das, wodurch ein Außen schon angepaßt ist und sich auf das Innere bezieht.« 185 Der Sinn ist nicht ein Drittes, das zwischen den beiden bestehenden Termini vermitteln würde; er ist der Bezug, der sie in ihrer Korrelation erst konstituiert. Was Lévinas in seiner frühen Arbeit über den husserlschen Begriff der Intentionalität gesagt hatte, das gilt nun vom Sinn: »Die Intentionalität des Bewußtseins kann nicht als eine Eigenschaft des Bewußtseins aufgefaßt werden, d. h. als ein Merkmal, das der Seinsweise des Bewußtseins gleichgültig wäre, als eine bloße Modalität der Inhalte des Bewußtseins. Gerade jene Seinsweise selbst will der Begriff der Intentionalität kennzeichnen.« 186 Das Bewußtsein muß nicht aus sich wie aus einem verschlossenen Inneren heraus und hin zu den Dingen gehen; vielmehr besteht sein Sein darin, bei den Dingen zu sein. Daher konnte der Begriff des intentionalen Bewußtseins »in einer Zeit, in der das Ich sich als außerhalb der Welt dachte … als Entdeckung unserer Präsenz in der Welt« 187 gefeiert werden. Jedes Bewußtsein, so sagt die Phänomenologie, ist Bewußtsein von etwas. Dennoch »muß man darauf hinweisen, daß dank der Intention unsere Gegenwart in der Welt durch einen Abstand vermittelt ist« 188 , daß Intentionalität beides impliziert: das Sein beim Objekt und den Abstand zu ihm. Den Sinn bezeichnet Lévinas metaphorisch auch als Licht; das 182 183 184 185 186 187 188

EE 59/VS 46. EE 73–4/VS 56. EE 74/VS 56. EE 74/VS 56. ThI 70. EE 72/VS 55. EE 72/VS 55. A

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Organ der Intentionalität ist das Sehen 189 . In der Tat wird seit Platon das Verstehen mit der Metapher des Sehens belegt, und Sinn als Ermöglichung des Verstehens oder als Verstehbarkeit ist sinnliches oder geistiges Licht. »Das Wunder des Lichts ist das Wesen des Denkens. So sehr das Objekt von Außen kommt, so ist es doch kraft des Lichts in dem Horizont, der ihm vorausgeht, schon unser.« 190 »Das Sehen«, schreibt Lévinas weiter, »[ist] der Sinn schlechthin. Das Sehen ergreift und situiert. Mit dem Objekt selbst ist zugleich die Beziehung des Objekts zum Subjekt gegeben. Schon ist ein Horizont eröffnet. Die Dunkelheit der anderen Empfindungen liegt an der Abwesenheit des Horizontes in ihnen …« 191 Das Licht ist es, das einerseits den Abstand zu den Dingen schafft, ihn aber andererseits auch immer schon überbrückt hat. 192 Dabei versteht sich, daß dieses Licht nicht das Licht im sinnlichen Verstand ist, so wenig wie das Il y a die bloß sinnliche Finsternis oder Nacht. Von letzterem heißt es: »So kann man von Nächten am hellen Tage sprechen.« 193 Solche Nacht ist die Irrealität der Gegenstände, ihre Sinnlosigkeit oder »Nacktheit«, wie Lévinas auch sagt. Analog begründet das Licht Sinnhaftigkeit qua Gegenständlichkeit überhaupt, und zwar auf der Ebene der Sinnlichkeit wie der des Denkens. c. Im Licht nehmen die Dinge Gestalt an. Diese Gestalt nennt Lévinas die Form. Schon die griechische Philosophie hat die Form als ein konstitutives Stück alles Seienden hervorgehoben. »Seit Aristoteles«, schreibt Lévinas, »denken wir die Welt im Phänomen der Form.« 194 Das erste Moment, das Lévinas an der Form herausstellt, ist ihre Subjektbezogenheit. Dieser Gedanke ist bereits in dem Apriori des Welthorizontes beschlossen. Die Dinge sind für ein Subjekt, weil sie von Anfang an auf eine subjektive Perspektive bezogen sind. Lévinas knüpft hier an die Heideggersche Beschreibung des Seienden als des Zuhandenen an. Ein Ding zeigt sein eigentliches Wesen gerade nicht, wenn man es aus dem Zusammenhang herauslöst und für sich selbst betrachtet, sondern im täglichen Umgang mit ihm: dann nämlich, 189 190 191 192 193 194

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EE 74/VS 56. EE 76/VS 58. EE 75–6/VS 57–8. EE 80/VS 61. EE 97/VS 71. EE 63/VS 49.

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wenn man den vorgesehenen Gebrauch von ihm macht und es in diesem Gebrauch gewissermaßen aufgeht. Freilich wehrt sich Lévinas gegen eine bloß instrumentalistische Interpretation des Lebenszusammenhanges. »Seit Heidegger sind wir gewohnt, die Welt als ein Gesamt von Werkzeugen zu betrachten … Was Heidegger entgangen zu sein scheint – wenn es stimmt, daß Heidegger in diesen Dingen überhaupt etwas entgehen konnte – ist dies, daß die Welt, bevor sie ein System von Werkzeugen ist, eine Sammlung von Nahrungsmitteln ist … Es ist vielleicht nicht richtig zu sagen, wir leben um zu essen, aber es ist auch nicht richtiger zu sagen, daß wir essen, um zu leben.« 195 Die Dinge haben nicht nur eine Funktion für den Erhalt unseres Lebens; vielmehr gibt es in der Welt eine »Beziehung zum Gegenstand, die man durch das Genießen charakterisieren kann« 196 . Die Integration der Dinge in einen systematischen Horizont, das Apriori der Gegenstände, erlaubt Lévinas aber auch eine Unterscheidung, die Heidegger in dieser Form nicht kennt: nämlich den Unterschied von Form und Materie. Dank der Horizontprojektion wissen wir immer schon, was wir von den Dingen zu erwarten haben und wie wir mit ihnen umgehen müssen. Unter ihrer Form verschwinden die Dinge selbst, wenn man sich so ausdrücken darf. »Indem wir auf den Schalter im Badezimmer drücken, öffnen wir das ontologische Problem in seiner ganzen Dimension.« 197 Denn alles Handeln wird durch die Sorge bestimmt, der es in ihrem Sein um eben dieses Sein geht. Aber in dieser Bewegung, das Licht anzumachen, ist der Schalter schon ein übergangenes und verschwindendes Element, da die Aufmerksamkeit sich schon auf die nächsten Dinge richtet, die ihrerseits verschwinden werden. Daß der Schalter auch etwas an sich selbst ist, außerhalb der Funktion, bleibt ohne Beachtung. Diese Dualität der beiden Ebenen, der formalen und der materialen, der Umstand, daß die Form nur eine »Kleidung« ist, die eine dahinter stehende Wirklichkeit verdeckt, wird besonders im sozialen Umgang empfindlich; denn mehr als bei allen anderen Gegenständen geht beim Menschen das Eigene über die soziale Rolle, die er im System spielt, hinaus. Aber auch der Mensch verschwindet hinter 195 196 197

TA 45/ZA 36. TA 45/ZA 36. TA 45/ZA 36. A

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seiner Form: »Wir haben es mit bekleideten Wesen zu tun. Der Mensch hat sich schon elementar um seine äußere Pflege gekümmert. Er hat sich im Spiegel betrachtet und gesehen. Er hat sich gewaschen, hat die Nacht aus seinen Augen gewischt und sich von den Spuren seiner instinktiven Permanenz gereinigt – er ist sauber und abstrakt.« 198 In ihrer weltlichen Form sind die Gegenstände abstrakt, weil wir sie auf ihre Systemstelle reduzieren und alles, was darüber hinausgeht, eliminieren: »Was sich den Formen widersetzt, wird aus der Welt ausgeschieden.« 199 So erstreckt sich hinter dem Tage der Welt, »hinter der Lichthaftigkeit der Formen, durch die die Seienden sich schon auf unser ›Innen‹ beziehen,« 200 das Dunkel und die Nacht der Materie. Die Welt der Formen befreit das Subjekt von der Materie, erlöst es aus der Tragik der Hypostase. Zeitlich bedeutet diese Freiheit die Konstitution einer Gegenwart, die den Strom des Es-gibt in die Unterwelt des Vergessens verbannt hat. Die Welt hat ein eigenes Zeitverständnis. Der Gegensatz von Form und Materie und die Frage nach ihrem gegenseitigen Verhältnis gehört zu den frühen und bleibenden Problemen in der Philosophie. Dabei hat die Form immer einen Vorrang vor der Materie gehabt; denn allein die Form macht die Dinge zugänglich und faßbar, sie gibt ihnen Beständigkeit. Aus diesem Grunde hat Platon in den Formen – den Ideen – das eigentlich Seiende gesehen, das für alle sinnlichen, d. h. wandelbaren Gegenstände die Grundmuster abgibt. Damit hat er die Grundlage für den Idealismus geschaffen. 201 Die spezifische Eigenschaft der Formen, eine in der Zeit dauernde Gegenwart zu schaffen, hat zu der Entgegensetzung von sinnlicher Welt des Wandels und bleibender Welt der Ideen, die vom Wandel unberührt ist, beigetragen. In den Formen gelingt etwas, was schon die Hypostase anstrebt: die Schaffung einer Gegenwart, die das gestaltlose Es-gibt unter sich hat und beherrscht. Die Form ist das begriffliche Element an den Dingen, kraft dessen wir sie verstehen und sie uns zugänglich sind. Sofern auch die Welt des Alltags eine feste und verbindliche Struktur hat, sistiert EE 60/VS 47. EE 60/VS 47. 200 EE 92/VS 68–9. 201 TA 88/ZA 64: »Platon … bildet eine Philosophie aus einer Welt des Lichtes, aus einer Welt ohne Zeit.« 198 199

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auch das sinnliche Leben des Alltags die Zeit und schafft eine überzeitliche Gegenwart. Welt ist synonym mit bleibender Gegenwart. 16.3 In der Beschreibung der Welt dominieren die Begriffe der Intentionalität oder des Lichtes als des Mediums des Erscheinens. Daher ist die Beschreibung der Welt die Beschreibung des Bereichs des Lichtes, und diese ist die Phänomenologie. Von der phänomenologischen Beschreibung heißt es: »Insofern sie Phänomenologie ist, bleibt sie in der Welt des Lichts.« 202 Welt, Licht und Phänomen gehören wesentlich zusammen. Anders aber als für Husserl und den jungen Heidegger ist diese Phänomenologie, die unter dem Titel »Die Welt« steht, nicht mehr das Ganze der Philosophie, sondern nurmehr Teil einer umfassenden philosophischen Konzeption, der sie integriert ist. Im Rahmen der Lévinas’schen Philosophie erhält die Welt ihre Bedeutung von dem, was ihr vorausgeht und von dem, was ihr folgt, nämlich den Bereichen der Nacht des Il y a und des künftigen Eros. Beide fordern die These von der Suffizienz des weltlichen Lebens und seiner Aufrichtigkeit. »Was das Sein in der Welt charakterisiert, ist die Aufrichtigkeit der Intention, das Genügen (suffisance) der Welt und die Zufriedenheit.« 203 Das Sein in der Welt ist in sich abgeschlossen zumindest seiner Tendenz nach. »In dem Zirkel, der nach Heidegger jeden Augenblick unserer Existenz vor die Aufgabe stellt zu sein …, beschreibt das Bewußtsein einen geschlossenen Kreis, in dem es verharrt, während es jede weitergehende Finalität auslöscht – einen Kreis, in dem es Befriedigung und Bekenntnis geben kann. Dieser Kreis ist die Welt. In ihm ist die Verbindung mit der Sorge wenigstens gelockert.« 204 In der Welt lebend realisiert das Subjekt eine Einheit mit sich, die absolut aufrichtig ist, d. h. ohne abgründige Hintergedanken. Die Suffizienz der Welt entspricht ihrer besonderen Stellung als mittleres Glied zwischen der Hypostase und dem Bezug zum ande-

202 EE 145/VS 105; vgl. auch EE 76/VS 58: »Die Welt, deren Existenz durch das Licht gekennzeichnet ist …«. 203 EE 63/VS 49. 204 EE 68/VS 53.

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ren. Der Gegensatz zur Hypostase verlangt die – wenn auch nur immer befristete – Loslösung aus dem Bedürfnis 205 und dem Sein. In der Welt ist die Tragik der Hypostase überwunden. Aber auch die Möglichkeit einer künftigen Beziehung zum anderen fordert die Suffizienz der Welt. Die Transzendenz über die Welt hinaus und das Verhältnis zum Anderen dürfen weder durch das Bedürfnis noch durch das Begehren bestimmt sein; denn als Korrelat eines begehrenden Bewußtseins hat das Andere schon seine Andersheit verloren. Der Andere bewahrt seine Exteriorität nur, wenn das Bewußtsein auch unabhängig vom Anderen ein in sich erfülltes Leben führen kann. Das Leben, das sich mit sich selbst zirkulär zusammenschließt, ist der Transzendenz des Eros entgegengesetzt ist. Der »Sinn der ›natürlichen Einstellung‹« 206 liegt in der Befriedigung, die durch kein schlechtes Gewissen, keine mauvaise foi und keine Uneigentlichkeit sich selbst entfremdet wird. Die Sorge charakterisiert die Hypostase, nicht das Bewußtsein in der Welt. 16.4 Aber diese Suffizienz hat eine Bedingung: das Vergessen des Seins. In der Welt ist der Kampf der Hypostase mit dem Sein und dem Sich vergessen: »Unser tägliches Leben … enthält schon ein Vergessen seiner selbst (oubli de soi).« 207 Damit nimmt Lévinas Heideggers These von der Seinsvergessenheit auf. Nach Heideggers Analyse in »Sein und Zeit« ist die »Frage nach dem Sinn von Sein … heute in Vergessenheit gekommen.« 208 Um diese Frage wieder in Gang zu bringen, muß zunächst nach dem Sein des menschlichen Daseins gefragt werden; denn nur ihm manifestiert sich das Sein. Nun zeigt die Daseinsanalyse die Endlichkeit des Menschen. Sein Sein ist Sorge, und die Grundbefindlichkeit, die ihm das eigene endliche Sein offenbart, ist die Angst. Freilich, zunächst und zumeist überspielt das Dasein seine Endlichkeit, indem es sich als eine unbedürftige Substanz begreift, als ein Seiendes, das sich selbst genügt. Auf diese Weise gelingt es ihm, seiner Angst auszuweichen. Heidegger unterscheidet zwei Seinsweisen des Menschen: die Eigentlichkeit und die Uneigentlichkeit. Eigentlich begreift sich der Mensch als Sorge; seine 205 Lévinas hat in EE das Bedürfnis (besoin) vom Begehren (désir) unterschieden. Das Bedürfnis ist die vorweltliche Abhängigkeit vom Sein, das Begehren richtet sich auf die Objekte in der Welt. Vgl. EE 59/VS 46 und 68/VS 53. 206 EE 64/VS 50. 207 TA 46/ZA 37. 208 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 1.

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Grundbefindlichkeit ist die Angst. Zumeist und im Alltag aber lebt er in der Uneigentlichkeit: auf der Flucht vor dem eigentlichen Selbstsein. Es ist also die Uneigentlichkeit, die durch Seinsvergessenheit geprägt ist. Lévinas nimmt die Unterscheidung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit zum Anlaß, um an ihr seine eigene Konzeption und den Unterschied zu Heidegger deutlich zu machen. Die Differenz zu Heidegger in diesem Zusammenhang betrifft drei Punkte: die Definition des Daseins, die Bestimmung des Affekts und endlich die Beurteilung der Uneigentlichkeit. Was die Definition des Daseins angeht, so vermischt Heidegger zwei Formen der Subjektivität, nämlich die vorweltliche Hypostase und das Bewußtsein in der Welt. Der Zusammenbruch der Welt begräbt nicht unter ihren Trümmern alle Subjektivität. Das Subjekt hat Bestand auch vor der Welt und nach ihr – als Hypostase. Der Affekt, der die Hypostase ergreift, ist nicht die Angst vor dem Nichts, sondern das Grauen vor dem Aufgehen in einem unpersönlichen Sein. Nicht vom Nichtsein weiß sich die Hypostase bedroht, sondern von der Unheimlichkeit eines Seins, in dem nichts mehr es selbst ist. Es ist das Bewußtsein der Doppelbödigkeit einer Existenz, die dem Subjekt ihre Identität entzieht. Die erste Ausgabe von »Vom Sein zum Seienden« trug nach Lévinas’ Wille eine Banderole, die das Buch als eins ankündigte, »wo nicht von Angst die Rede ist« 209 . Daraus folgt schließlich eine andere Beurteilung des Seinsvergessens. Für Heidegger kommt es darauf an, daß das Dasein dem eigenen Sein, der Angst und der Gewißheit des Todes, nicht ausweicht. Das Überspielen der Angst ist die Uneigentlichkeit. Zwar betont Heidegger wiederholt, es handle sich nicht um moralische Bestimmungen, sondern um existenzial-ontologische Begriffe; aber schon die Wortwahl enthält eine Bewertung. Für Lévinas hingegen stellt das Seinsvergessen eine Stufe in der Befreiung des Subjekts aus dem Sein dar, mag diese Freiheit auch zuerst den Bereich der materiellen Existenz und der Ökonomie betreffen. Die ökonomische Existenz ist eine erste Form der Freiheit. In der ökonomischen Welt ist die partizipative Teilnahme am Sein ersetzt durch das Tauschverhältnis. Die Dinge werden Waren und lösen sich so aus den substanziellen Bindungen an die Personen. Die Ökonomie und der Markt befreien den Menschen aus der Verwurzelung in der 209

Poirié 91. A

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materiellen »Welt«. Wenn es vom Bewußtsein heißt: »Ein Bewußtsein zu haben heißt, daß man sich aus dem Es-gibt losgerissen hat« 210 , so ist das zuerst ein ökonomischer Sachverhalt. 211 Die Rückführung der Freiheit in der Welt auf eine ökonomische Basis besagt zugleich, daß die Möglichkeit von Subjektivität und Freiheit die mögliche Verfügung über die Güter voraussetzt. Wem der Zugang und die Verfügung über die Güter entzogen ist, der ist auch in seinem Selbstsein bedroht. Der Mensch, dem die Verfügung über die Güter verweigert wird, wird auch in seiner Geistigkeit verletzt. Die Geistigkeit des Menschen, die ihn über die Materie erhebt, gründet in der Verwandlung des Seins in allen zugängliche Tauschobjekte. Nun beruht diese Welt auf dem Vergessen des Seins. Daher kann Lévinas auch Heidegger nicht zustimmen, wenn dieser das Seinsvergessen als Uneigentlichkeit und Verfallen brandmarkt. »Wer die Welt alltäglich nennt und sie als uneigentlich verurteilt, verkennt die Aufrichtigkeit von Hunger und Durst; unter dem Vorwand, die durch die Dinge kompromitierte Würde des Menschen zu retten, schließt er die Augen vor den Lügen eines kapitalistischen Idealismus, vor den Ausflüchten in die Rhetorik und vor dem Opium, das er anbietet. Die große Kraft der marxistischen Philosophie, die vom ökonomischen Menschen ausgeht, liegt in ihrer Fähigkeit, sich radikal der Heuchelei der Predigt zu versagen.« 212 So ist das Vergessen des Seins konstitutiv für das Bewußtsein. Sofern das vergessene Sein in einen Bereich jenseits des Bewußtseins fällt, heißt es das Unbewußte. Mit diesem Ausdruck findet Lévinas Anschluß an die Theorie Freuds. Ohne das Unbewußte kein Bewußtsein! Das Bewußtsein wird bezeichnet als das »Vermögen, das Sein dank des Schlafs und des Unbewußten ›auszusetzen‹« 213 . »Das Paradox«, sagt Lévinas, »besteht darin, das Bewußtsein durch das Unbewußte zu definieren. Sie fallen nicht ineins.« 214 Die Entdekkung des Unbewußten, jene »beachtliche intellektuelle Erschütterung« 215 , gehört für Lévinas zu den Ereignissen, die die Suffizienz EE 68/VS 72. Vgl. auch EE 68/VS 52: »In der Welt zu sein, das heißt gerade, sich aus den letzten Verstrickungen in den Seinsinstinkt … loszureißen.« 212 EE 69/VS 53–4. 213 EE 43/VS 34. 214 EE 115/VS 82. 215 EE 57/VS 44. 210 211

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§ 17 Das Ende der Welt

des bürgerlichen Selbstverständnisses angreifen, am Ende ruinieren und zum Übergang von der Neuzeit in die Moderne beitragen. Aber gegen die Maxime »Wo es war, muß ich werden«, gegen die Denunziation des Weltverhaltens als Heuchelei und Uneigentlichkeit verteidigt Lévinas das weltliche Leben. Es ist »in der zeitgenössischen Philosophie eine bedauernswerte Verwechselung, wenn sie Geschehnisse, die unter dem bloß negativen Namen des Unbewußten entdeckt zu haben ihr unbestreitbares Verdienst ist, innerhalb der Welt lokalisiert und als Heuchelei, Verfallen, ›Bourgeoisie‹ oder Flucht vor dem Wesentlichen ein Verhalten in der Welt denunziert, dessen Laizismus und Zufriedenheit nur die Bestimmung der Welt übersetzen.« 216

§ 17 Das Ende der Welt 17.1 Das Subjekt sucht, sich vom Sein, von der tragischen Verstrikkung in eine Verantwortung, die es übernehmen muß und der es doch wesensmäßig nicht gewachsen ist, frei zu machen. Dieser Versuch hat den Titel »Welt«. Die Welt gipfelt in einem idealen Reich der überzeitlichen Ideen und Formen, die den Menschen von der unmittelbaren materiellen Last befreien. Dieser idealen Welt gilt seither die Leidenschaft der Denker und Philosophen. Aber der Versuch scheitert. Wir machen »die Erfahrung der Ohnmacht des Denkens über die Existenz« 217 . Die geistige Welt, in der Europa bisher lebte, bricht zusammen. Das Subjekt wird auf sich und seine Materialität, seine nackte Existenz, zurückgeworfen. Mit diesem Zusammenbruch hebt die Moderne an. Leider findet sich bei Lévinas nirgends eine systematische und ausgearbeitete Unterscheidung zwischen einem vormodernen europäischen Denken und der Moderne. Eher ist das Gegenteil der Fall: Der Unterschied wird eingeebnet. So, wenn er den sartreschen Existenzialismus auf eine Ebene hebt mit dem Christentum und der Idealität der Wissenschaften 218 . Oder wenn er die Kontinuität der Philosophie von Platon bis Heidegger betont. Aber ohne diese Unterscheidung bleibt der Begriff der Form, wie Lévinas ihn verwendet, 216 217 218

EE 63–4/VS 49. DEHH 106/SpA 79. Vgl. den Aufsatz »Jude sein«. A

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widersprüchlich und ungeklärt. Wir werden zwar erst im nächsten Paragraphen darauf eingehen, warum der Begriff der Moderne für das Verständnis von Lévinas unverzichtbar ist, setzen ihn aber schon jetzt voraus. Unter der Moderne verstehen wir eine historische Epoche, die die Erfahrung des Weltuntergangs macht: die gegenwärtige. Das hindert nicht, daß die Vernichtung der Welt eine Drohung ist, die in allen Zeiten und Epochen gegenwärtig war, eine »uralte Obsession« 219 . Nicht nur weiß die Bibel von einem Gott zu berichten, der mehrmals versucht war, der Welt ein Ende zu setzen; sie erzählt auch von einer tatsächlichen Zerstörung und dem Neuanfang nach der Sintflut. In eine universalgeschichtliche Perspektive gerückt, ist der Untergang der europäischen Welt kein einzigartiges Schicksal. Der Untergang der Welt ist weder mit dem Aufgang des Nichts noch mit dem Tod identisch. Ebenso wenig aber bleibt nach dem Untergang der Welt das reine Ich übrig, wie Husserl annahm, sondern »die anonyme Tatsache des Seins« 220 , in die das Subjekt zurückgeworfen ist. Übrigbleibt, wie Lévinas nicht aufhört zu betonen, das Es-gibt, das Sein ohne Seiendes. 17.2 Was bedeutet nun des näheren der Zusammenbruch der europäischen Welt? Auf eine Formel gebracht, besagt er: Die Welt ist zum bloßen Bild geworden. Die Welt, die unsere ist, wird nicht mehr als die Realität erfahren, sondern als ein Bild, das unseren Projektionen entspringt. Die Wirklichkeit hat sich aus den Bildern zurückgezogen. Der Zusammenbruch der Welt ist der Entzug der Wirklichkeit. Es ist der subjektive Charakter der Welt, der sie ihrer Geltung beraubt. An dem Nachweis der Subjektivität hat gerade die Phänomenologie einen bedeutenden Anteil. Husserl sieht ihre Hauptaufgabe darin, das Feld der transzendentalen Subjektivität zu öffnen und die subjektiven Leistungen zu untersuchen, in denen Welt und Weltbewußtsein entstehen. Die Einsicht in die Subjektivität der Welt hat Husserl zu einer Methode entwickelt: Um das Bilden des Subjekts in den Blick zu bekommen, muß von der objektiven Realität der Dinge abgesehen und müssen die Dinge als bloße Erscheinungen betrachtet werden. Diese Urteilsenthaltung nennt Husserl die Epoché. In der Epoché wird die naive Seinssetzung auf219 220

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EE 25/VS 22. EE 26/VS 22.

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§ 17 Das Ende der Welt

gehoben, neutralisiert. Aber anders als Husserl, für den die Epoché nur ein methodischer Schritt ist, sieht Lévinas in ihr den Ausdruck eines verwandelten Seins- oder Realitätsverständnisses: »Das Bild bedeutet nicht die einfache Neutralisierung der [Seins-]These, wie Husserl möchte, sondern eine Veränderung des Seins selbst des Gegenstandes.« 221 Diese Veränderung hat den Charakter der Entrealisierung oder Entsubstantialisierung. Da die Kunst es mit Bildern zu tun hat, kann an ihrem Paradigma der Vorgang der Entrealisierung der Welt und ihrer Verbildlichung aufgezeigt werden; denn »die elementare Funktion der Kunst, die man in ihren primitiven Erscheinungen wiederfindet, besteht darin, an der Stelle des Gegenstandes selbst ein Bild zu liefern.« 222 Das Bild ist zwar auf Wirkliches bezogen, aber es ist nicht selbst das Wirkliche, sondern der Repräsentant; das Wirkliche ist abwesend. »Das Bewußtsein der Abwesenheit des Objekts … charakterisiert das Bild«, sagt Lévinas. 223 Was meint dieses Bewußtsein der Abwesenheit des Objekts? Betrachten wir das Sinnliche, wie es in der alltäglichen Welt auftritt! »In der Wahrnehmung ist uns eine Welt gegeben. Die Töne, die Farben, die Worte beziehen sich auf die Objekte und bekleiden (recouvrent) sie in gewisser Weise. Der Ton ist Geräusch eines Gegenstandes, die Farbe klebt an der Oberfläche fester Körper, das Wort bietet einen Sinn, nennt ein Objekt.« 224 Im Rahmen der Welt ist das mannigfaltige Sinnliche immer schon auf einheitliche Gegenstände bezogen, ist Zeichen der Sache und nicht ihr Bild. Das Bild verlangt, »daß das Denken beim Bild selbst stehenbleibt; es setzt demzufolge eine gewisse Opakheit des Bildes voraus. Das Zeichen dagegen ist reine Transparenz, es zählt überhaupt nicht für sich.« 225 Weil das Zeichen nicht für sich zählt, sondern reine Transparenz auf die Sache oder die Sichtbarkeit der Sache selbst ist, hat das Bewußtsein in der Welt kein Bildbewußtsein, sondern ist immer schon über das Bewußtsein und die Vermittlung hinaus bei den Sachen selbst. Der wesentliche Unterschied zwischen Dingbewußtsein und Bildbewußtsein ist also, daß im Bild das Sinnliche nicht mehr ausschließlich auf die 221 222 223 224 225

IH 134. EE 83/VS 62. IH 134. EE 85/VS 63. IH 133. A

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Sache bezogen ist, in ihr gewissermaßen verschwindet, sondern die Aufmerksamkeit auf sich selbst, die eigene Materialität, lenkt. Sofern das Sinnliche als Zeichen auf die Gegenstände bezogen ist, geht es in der Welt auf. Als Bild tritt es aus diesem Bezug heraus und hört auf, zur Welt zu gehören. Es wird zu einem »Exotischen« 226 . Verwandlung ins Bild meint also, daß das Sinnliche nicht mehr allein als Konstituens und Gegenwart eines Gegenstandes aufgefaßt wird, sondern daß das Materielle in seiner von der Abbildfunktion unabhängigen Existenz in den Blick kommt. Es ist wie bei den Bildern von Cézanne: In gehörigem Abstand sehen wir Gegenstände, Landschaften, Stilleben. Treten wir aber näher heran, so haben wir es nicht mehr mit Gegenständen zu tun, sondern mit den materiellen Mitteln, die der Darstellung dienen und ihr vorausliegen: mit Leinwand, Farbtupfern, Linien, Volumina etc. Verwandlung der Welt ins Bild meint, daß nun das Materielle, das wir sonst im Gegenstandsbewußtsein aufgehen lassen, für sich gesondert hervortritt. Dieser Vorgang bedeutet aber eine Entwirklichung, weil sich nun herausstellt, daß die Leinwand, die Farbe, die Kreide das Wirkliche ist und nicht der dargestellte Gegenstand. Zum Bild gehört wesentlich die Unwirklichkeit des Gegenstandes. Die Verwandlung der Welt ins Bild ist etwas, was nicht allein dieses oder jenes betrifft, ein Zweifel, der sich nach genauerer Betrachtung wieder auflöst, sondern eine Irrealisierung, die sich auf das Ganze des bisherigen Wirklichen erstreckt. Die Bildhaftigkeit ist nicht ein Vorkommnis in der Welt, sondern die das Ganze betreffende Sonderung von Sein und Schein. »Das Ganze unserer Welt mit seinen sowohl elementar als auch intellektuell elaborierten Gegebenheiten … kann Bild werden.« 227 Das Bild als »Bewußtsein der Abwesenheit des Gegenstandes« hat Verwandtschaft mit dem, was Lévinas später als Phänomen beschreiben wird, nämlich »eine Manifestation in Abwesenheit des Seins« 228 . Weiter heißt es dort: »Die Phänomenalität, um die es geht, bedeutet nicht eine Relativität der Erkenntnis, sondern eine Seinsweise, in der nichts endgültig, in der alles Zeichen« – in einem anderen als dem eben genannten Sinne – »ist, Gegenwart, die aus ihrer Gegenwart abwesend und in diesem Sinne

226 227 228

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Vgl. EE 83 ff./VS 62 ff. IH 130. TI 153/TU 258.

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§ 17 Das Ende der Welt

Traum ist.« 229 Aber Bildbewußtsein ist nicht unmittelbar Traumbewußtsein, sondern Bewußtsein zu träumen und insofern das Bewußtsein der Auflösung der Wirklichkeit. Wie sehr die Bildhaftigkeit der Welt ins allgemeine und öffentliche Bewußtsein getreten ist, läßt sich an der Verbreitung von Ausdrücken wie »Weltanschauung«, »Weltbegriff«, »Weltsicht« ablesen. Nicht nur gibt es viele Weltanschauungen; vielmehr weist die Anschauung auch zurück auf ein anschauendes Subjekt. Die Trennung von Bild und Wirklichkeit kann auch als Trennung von Form und Inhalt beschrieben werden. Für Aristoteles ist die Form das Seinsprinzip des Gegenstandes als eines Seienden 230 . Sofern die Form konstitutives Moment des Objekts ist und das Objekt zur Welt gehört, gehört die Form der Welt an. »Die Welt, die der Intention gegeben ist, läßt dem Ich eine Freiheit in Bezug auf die Welt … Die Exteriorität der Dinge liegt an dem Umstand, daß wir zu ihnen einen Zugang haben, daß wir zu ihnen hinkommen müssen – daß das Objekt sich gibt, aber auf uns wartet. Darin besteht der vollständige Begriff der Form. Sie ist das, wodurch das Ding sich zeigt und den Zugriff ermöglicht; sie ist, was im Ding erhellt ist und ergriffen werden kann und was das Ding hält (ce qui la soutient).« 231 Sofern die Form die Identität des Objekts stiftet, indem sie das Mannigfaltige in einer bleibenden Einheit sammelt und so dem Subjekt zugänglich macht, wird mit der Trennung von Form und Materie jedes dieser Momente an sich selbst sichtbar. Die Form ist das an der Sache, wodurch sie sich uns ausliefert, sie schafft die Vertrautheit des Subjekts mit der Sache, sie ist der Stempel der subjektiven Herrschaft. Die Materie hingegen ist das an den Dingen Fremde, das sich uns entzieht. In der Trennung von Form und Materie zeigt sich daher einerseits die Subjektivität und Scheinhaftigkeit des Zugriffs auf die Dinge, die Tatsache, daß die Einheit der Dinge und der Welt nicht im Wirklichen selbst gründet, sondern ein Machwerk unserer spontanen Vermögen ist. Anderseits wird die Materie in ihrer Eigenart sichtbar. 17.3 Den Vorgang der Trennung von Bild und Wirklichkeit, Form und Materie, nennt Lévinas die »ressemblance«. »Ressemblance« übersetzen wir mit Widerschein. Der Ausdruck ist gebildet aus dem 229 230 231

TI 153/TU 258. Vgl. EE 63/VS 49. EE 73/VS 55–6. A

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Verb »sembler« (scheinen) und der Vorsilbe »re« für die Wiederholung und wäre vielleicht sogar angemessen übersetzt mit »Wiederschein«. Er steht für die griechische »mimesis« oder die lateinische »imitatio«. Was liegt der Abbildlichkeit der Wirklichkeit zugrunde? Lévinas beruft sich nicht auf die realistische These, es gebe zunächst eine Vorstellung, deren Übereinstimmung mit der Realität nachzuweisen wäre. Vielmehr versteht er den Bruch, den das Bild in die Wirklichkeit einführt, als ein Geschehen im Sein und des Seins selbst. »Das Seiende«, so lesen wir, »ist nicht nur es selbst, es zieht sich auch aus sich zurück (il s’échappe)« 232 , es entflieht sich. »Das Seiende«, heißt es an anderer Stelle, »ist, was es ist und als was es sich in seiner Wahrheit offenbart, und gleichzeitig ist es sich ähnlich, ist es sein eigenes Bild. Das Original gibt sich, als habe es Abstand zu sich, als ziehe es sich zurück, so als ob etwas im Seienden sich im Verhältnis zu sich selbst verzögere.« 233 Es genügt also nicht, die Differenz von Bild und Objekt gemäß der üblichen logischen Unterscheidung von Bedeutung oder Begriff und Gegenstand zu verstehen. Die Lévinas’sche Unterscheidung geht über diesen Dualismus hinaus und zielt auf die ontologische Differenz von Sein und Seiendem, auf das, was Lévinas auch als einen »Riß (fêlure) im Sein zwischen dem Sein und seinem Wesen« 234 bezeichnet. Das Wesen (essence) – hier noch verstanden als Eidos – ist nicht untrennbar mit dem Sein verbunden, es maskiert und verrät es. 235 Der »Gegenstand« bleibt also nicht hinter dem Bild intakt, sondern löst sich im Sein auf und verschwindet. Das Wirkliche ist die gestaltlose Materie. Das Bild hat seinen Grund in einem Abstand des Seienden zu sich selbst. Der Abstand des Wirklichen zu sich selbst aber ist nichts anderes als der Einbruch des Augenblicks, seine gegenwendige Bewegung, die aufhebt, was sie konstituiert. Die Ressemblance ist kein Abbildverhältnis im wörtlichen Sinne, sondern ein zeitliches Geschehen. Die Wirklichkeit zerfällt nicht deshalb, weil dahinter eine andere Wirklichkeit aufscheint, sondern dank eines zeitlichen Prozesses, in dem sich vielleicht eine Transzendenz ankündigt, aber keine Tran232 233 234 235

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IH 133. IH 134. IH 137. Ibid.

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szendenz zu einer idealen, in der sinnlichen Welt sich spiegelnden Wirklichkeit. Daher ist »ressemblance« zwar die Übersetzung von Mimesis und doch keine Mimesis. Zwar erinnert sie an die platonische Lehre von der Nachahmung: Das Sinnliche ist bloß das Bild und insofern das Wirklichkeitsleere. Dennoch handelt es sich nicht um eine Nachahmung, sondern um die Bewegung einer Rückkehr, die sich entzieht. Das Zeitgeschehen, durch das das Sinnliche zum Schein wird, zur »semblance«, ist nichts anderes als das Zurückbleiben des Augenblicks hinter sich selbst, das sich in der Vorsilbe »re« ausdrückt. Das grundlegende Geschehen, in dem sich das Bildbewußtsein konstituiert, ist also das Zurücksinken des Augenblicks, der Entzug der Zeit, die Flucht des Wirklichen, die das Bild ohnmächtig ist zu verhindern. Vom Wirklichen getrennt, sinkt das Bild, das doch in einer Bewegung der Transzendenz das Jenseitige festhalten wollte, in sich zusammen. Abermals sind wir beim Augenblick, der auf der Stelle tritt, einer Bewegung ohne Bewegung, einer Zeit, die sich selbst vernichtet. Im Gegensatz zu diesem in sich stagnierenden Augenblick vollzöge sich die wahre Zeit nicht als das ohnmächtige Festhalten des Jetzt, sondern als Fortgang von einem Augenblick zum anderen, als lebendige Zeit. Gegenüber der lebendigen Zeit vollzieht das Bild »die Bewegung des Falls ins Diesseits der Zeit, ins Geschick«, 236 in die Ewigkeit der Scheintranszendenz. Im Ästhetischen machen wir die Erfahrung einer Bewegung, die, indem sie anhebt, in sich zurückfällt; im Bild manifestiert sich das »Paradox« des Augenblicks, nämlich »daß der Augenblick stehenbleiben kann«. 237 »Der Augenblick dauert ohne Ende: Ewig wird Laokoon gefangen sein in der Umklammerung der Schlangen, ewig wird Mona Lisa lächeln.« 238 Das Was-sein trennt sich vom Daß-sein, die Bestimmtheit des Seienden vom unbestimmten Sein. Die Bilder und Formen werden rissig; es wird manifest, daß sie nur eine vordergründige Wirklichkeit widerspiegeln, hinter der die gestaltlose Materie wieder zum Vorschein kommt. »Hinter der Lichthaftigkeit der Formen, durch die die Seienden sich schon auf unser ›Innen‹ beziehen, ist die Materie die eigentliche Tatsache des Es-gibt.« 239 Im Bild impliziert ist der Zerfall der Welt. 236 237 238 239

IH 140. IH 142. IH 138. EE 92/VS 69. A

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17.4 Die Verwandlung der Welt ins Bild ist zugleich der Entzug der Wirklichkeit; dieser geht einher mit dem Stillstand der Zeit. Mit dem Begriff einer stehenden Zeit nimmt Lévinas ein Thema auf, das in der Philosophie und Literatur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts präsent ist: die Langeweile und die Melancholie. Baudelaire insbesondere nennt die Langeweile von allen Ungeheuern das häßlichste, das böseste, das unreinste. 240 Aber nicht nur bei Baudelaire, den Lévinas gelegentlich nennt 241 , sondern auch bei Rimbaud 242 und insbesondere bei P. Valéry 243 findet er das Thema der Monotonie der Zeit. Die Langeweile ist nichts anderes als die Melancholie: Sie fesselt den Menschen, der unfähig zur Transzendenz ist, an den Boden (être rivé). Während eine produktive Zeit sich auf das Neue und andere richtet, fällt die ressemblance als stehende Zeit auf sich zurück und kennt allein die beständige Wiederkehr des Gleichen. Soweit die ressemblance als stehende Zeit das Thema der Melancholie aufnimmt, reicht sie nicht nur weit in die Geschichte dieses Phänomens zurück, sondern erinnert auch an die alte Verwandtschaft von Melancholie und Materie. Die Melancholie hat Beziehung zur Milz (englisch: spleen) einerseits und zur Erde, zum Stein, zum Mineralischen anderseits. 244 So wie dem Stein alle Kraft fehlt, sich aus eigenem Vermögen zu Höherem zu erheben, so fehlt auch dem Melancholischen die Kraft zur Transzendenz. Das Mittelalter hat dieses Unvermögen als Sünde – acedia – betrachtet. Dieser Hintergrund leuchtet auf, wenn die Welt zum Bild wird und im Augenblick erstarrt. Zugleich aber findet bei Lévinas eine Umkehr der traditionellen Vorstellung statt. Nicht ist es eine zugrundeliegende Materie, die zum Aufschwung unfähig macht und darum der Grund für die Monotonie der Zeit und die Versteinerung des Augenblicks ist, sondern umgekehrt: Die Monotonie der Zeit ist der Grund und das Prinzip dessen, was Lévinas als Materialität bezeichnet. Die Rede von einer der Form entgegengesetzten Materie darf nicht zu der Annahme führen, es gebe vor den Formen und unabhängig von den Formen eine 240 »Zwar schreit es nicht und scheint sich kaum zu regen, doch würd’ es gern die Welt in Trümmer legen und schlänge gähnend sie in sich hinein.« Au lecteur, in: Les fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, Übersetzung von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart 1998. 241 Vgl. EE 32, 49/VS 27, 39. 242 EE 33, 39, 97/VS 28, 32, 72. 243 IH 142. 244 Vgl. Artikel Melancholie, in HWPh.

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Materie. Es gibt, solange wir von Welt und Vorwelt sprechen, nur eine Wirklichkeit: diejenige, die uns durch die Sinne vermittelt wird. Aber diese Wirklichkeit erscheint uns in zwei verschiedenen Zeitmodi: einmal als eine Gegenwart, die alles Sein in sich absorbiert hat, und einmal als der sich verzögernde Augenblick, der in sich und seinen Schatten auseinandertritt. Die Materialität definiert sich also als eine Zeitmodalität des Wirklichen. 17.5 Das Zurücksinken in die Materialität hat Lévinas zugleich als Verlust der Subjektivität, als Auflösung der bleibenden »Substanz« beschrieben. Seit Platon wird die Aisthesis, die Empfindung, als etwas bloß Subjektives beschrieben, das sich vom Denken und dem Bezug zum Seienden abhebt. Für Lévinas kommt es nun darauf an, die Empfindung aus dieser Korrelation herauszudrehen und das Ästhetische unabhängig von und vor allem Denken zu erfassen. Außerhalb des Gegensatzes zum Denken entfällt die Qualifikation des Ästhetischen als eines bloß Subjektiven. Indem in der Empfindung Subjekt und Objekt insofern aufgehoben sind, als sie ineinander übergehen, ist die Empfindung weder subjektiv noch objektiv. Das Ästhetische ist nicht nur eine gegenüber der objektivierenden Sinnlichkeit eigene Seinsweise, sondern setzt auch ein »Subjekt« voraus, dessen Subjektivität nicht mehr im Vorstellen besteht. Genauer: So wie sich im Ästhetischen das Objekt auflöst, so auch das Subjekt. Gegenüber dem vorgestellten Gegenstand bewahrt das Subjekt eine Distanz, die ihm die eigene Substanzialität und Identität sichert. In der ästhetischen Erfahrung dagegen löst sich die Substanz des Subjekts in dem Maße auf, in dem das Subjekt zum »Gegenstand« den Abstand verliert und das Verhältnis zum »Gegenstand« sowie dieser selbst eine Seinsweise wird. 17.6 Um die Empfindung, die weder Gegenstand für ein Subjekt ist noch Qualität an einem Gegenstand, allgemein zu charakterisieren, spricht Lévinas von ihrer Musikalität. Der Begriff der Musikalität ist besonders interessant deswegen, weil Lévinas am Beispiel der Musik die Begriffslosigkeit des Sinnlichen verdeutlichen kann. Die Musikalität der Empfindung setzt die Auflösung sowohl des Gegenstandes wie des Subjekts voraus. Dank der Musikalität gibt es zwischen der Empfindung und dem Empfundenen keinen Abstand mehr. Dazu schreibt Lévinas: »Im Gegensatz zu den wirklichen Seienden ist von der Musik keine Reproduktion möglich, die nicht mit ihrer Dauer A

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und ihren Rhythmus die Realität selbst wäre … Es gibt kein mentales Bild von der Melodie. Sie zu reproduzieren heißt, sie im Geiste wieder zu spielen.« 245 Solange wir Abstand von den Gegenständen haben, ist er bedingt durch das »mentale Bild«, das uns von der sinnlichen Gegenwart des Gegenstandes unabhängig macht. Das mentale Bild oder der Begriff erlaubt uns, den Gegenstand allein im Geiste gegenwärtig zu haben auch ohne seine materielle Präsenz. Eben dies geschieht im bloßen Denken. Im Denken stehen uns die Dinge in gewisser Weise zur Verfügung, ohne daß sie selbst anwesend wären. Das schließt ein, daß im Begriff auch immer schon ein Vorgriff auf die Dinge liegt: Das Sinnliche oder Ästhetische im weiten Sinne ordnet sich dem Begriff unter. Dieses mentale Bild ist der Begriff oder, allgemeiner, die Form. Das mentale Bild oder der Begriff wappnet uns gegen den Überfall des Sinnlichen; der Begriff läßt es in die Form eingehen, die uns angemessen ist. Von der Musik dagegen, so Lévinas, gibt es keinen Begriff. Was nun von der Begriffslosigkeit der Musik gilt, das überträgt Lévinas auf die gestaltlose Empfindung überhaupt. Ihr kommt der Charakter der Musikalität zu. »Die Weise, wie in der Kunst die sinnlichen Qualitäten, die den Gegenstand konstituieren, gleichzeitig zu keinem Gegenstand führen und an sich sind, ist das Geschehen der Empfindung als Empfindung, das heißt, das ästhetische Geschehen. Man kann es auch die Musikalität der Empfindung nennen.« 246 In der Empfindung sind wir ergriffen von einer Wirklichkeit, die nicht mehr Welt ist: »Die Wirklichkeit erscheint hier in ihrer exotischen Nacktheit als Wirklichkeit ohne Welt, aus einer zusammengebrochenen Welt emportauchend.« 247

§ 18 Kunst und Moderne 18.1 Nach dem Zusammenbruch der Welt kann es für die Kunst, soweit sie es mit dem Wirklichen oder Wahren zu tun hat, nicht mehr darum gehen, die Gegenstände, die zu bloßen Bildern depotenziert sind, als solche darzustellen, sondern das, was sich hinter den Gegenständen verbirgt: Sie wird gegenstandslose Kunst. In diesem 245 246 247

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EE 47/VS 37. EE 86/VS 64. EE 88/VS 66.

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§ 18 Kunst und Moderne

Sinne verstehen wir, wenn Lévinas schreibt: »Die Versuche der modernen Malerei kommen in ihrem Protest gegen den Realismus aus diesem Gefühl eines Weltendes, aus der Destruktion der Vorstellung …« 248 Da die Kunst das Wirkliche darstellen will, wird sie auch auf subjektive Projektionen, also auf alle subjektiven Bedeutungszuschreibungen, verzichten. Die traditionelle Kunst hat die Gegenstände zu Trägern subjektiven Ausdrucks gemacht. »Eine Landschaft, hat man gesagt, ist ein Seelenzustand. Unabhängig von dieser Seele der Gegenstände drückt das Kunstwerk in seiner Ganzheit aus, was man die Welt des Künstlers nennt. Es existiert eine Welt von Delacroix, wie es eine Welt von Victor Hugo gibt.« 249 Nach dem Zusammenbruch der Welt erweisen sich diese »Welten« als unwirklich. Die Wirklichkeit ist subjektlos. »So versteht man die Versuche der Malerei und der modernen Poesie; sie bemühen sich …, diese Seele, die sich die sichtbaren Formen unterwirft, zu verbannen, den dargestellten Gegenständen die sklavische Bestimmung, als Ausdruck zu dienen, zu nehmen. Von daher« – auch in der modernen Kunst – »der Kampf gegen das Subjekt …« 250 . Und so wie sich die Philosophie der Existenz von der idealistischen Philosophie unterscheidet, unterscheidet sich die Kunst der Moderne von der traditionellen Kunst. Diese kann bezeichnet werden als die »Kunst der idealen Formen« 251 ; sie »korrigiert die Karikatur des Seins – die krumme Nase, die Geste ohne Geschmeidigkeit. Die Schönheit – das ist das Sein, das seine Karikatur verbirgt, seinen Schatten zudeckt und aufzehrt.« 252 Jene dagegen sucht die Materie in ihrer Nacktheit vor aller Form. Daher spricht Lévinas von der »Materialität in gewissen Formen der modernen Kunst … : Diese ist das Dichte, das Grobe, das Massive, das Elende. Das, was Festigkeit hat, Gewicht, Absurdität, brutale aber unempfindliche Gegenwart; aber auch Demut, Nacktheit, Häßlichkeit.« 253 Die moderne Kunst flieht das Schöne und Gefällige, das Eingängige. In ihr findet auch die Karikatur, das Groteske, Häßliche, Brutale einen Platz. »Die modernen Werke verlangen danach, reine Musik, EE 90/VS 67. EE 89/VS 66. 250 EE 89/VS 67. 251 IH 137. 252 IH 137; vgl. auch EE 61/VS 47: »Die Schönheit – die vollkommene Form – ist die Form schlechthin – und die Statuen der Antike sind niemals wirklich nackt.« 253 EE 91–2/VS 68. 248 249

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reine Malerei, reine Poesie zu sein, … mit dem Anspruch, die Vorstellung zu zerbrechen.« 254 Lévinas nennt »die nackte Existenz das große Thema der Modernen« 255 . Hinter der Gegenstandsform kommt nicht allein die nackte sinnliche Materie zum Vorschein; vielmehr schwindet mit dem Bruch der Formen auch der Abstand, der dem Subjekt die unabhängige Identität sicherte. »Das In-der-Welt-Sein ist eine Existenz mit Begriffen.« 256 Gelegentlich spricht Lévinas auch von der Form oder gar dem Bild: »Die Form sicherte dem Denken eine Vertrautheit« 257 mit dem Seienden. Dagegen ist das reine »Fühlen … eine Weise, einer Macht zu unterliegen … Keinerlei theoretisches Bild (image contemplée) vermittelt zwischen dieser Macht und dem Menschen.« 258 Wir würden diesen Bruch der Formen (Begriffe, Vorstellungen, Bilder) freilich falsch verstehen, wenn wir ihn als Verlust unserer faktischen Macht über das Seiende, als Einbusse unserer technischen Möglichkeiten deuten würden. In der Tat hört die menschliche Herrschaft über die Welt auch nach dem Bruch der Formen nicht auf, Fortschritte zu machen. Der Bruch der Formen raubt ihnen ihre objektive Geltung und damit ihre Wahrheit. Die Zentralperspektive etwa in der Malerei wird aufgegeben, weil sie als eine spezifisch europäische und dazu neuzeitliche Rekonstruktion des Raumes durchschaut ist, die keine universale Wahrheit für sich in Anspruch nehmen kann. Sie ist bloß subjektiv, relativ. Die Begriffe und Formen, mit denen wir die Wirklichkeit zu fassen suchen, sind offenbar bloß von uns konstituiert. Bruch der Formen meint also Verlust der objektiven Geltung. Gegenüber den Formen ist die Materie das Wirkliche, das Sein. Aus der Perspektive Lévinas’ liefert uns der Bruch der Formen dem gestaltlosen Sein aus. 18.2 Der Zerfall der Gegenstandsform und das Hervortreten der Materie sind Ereignisse, die in jüngster Zeit geschehen sind und die wir als die Moderne bezeichnen. Freilich verwendet Lévinas diesen Ausdruck nicht systematisch zur Bezeichnung jener Epoche, die die 254 255 256 257 258

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IH 131. EN 62/ZU 66. IH 130. EN 62/ZU 66. EN 62/ZU 65.

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§ 18 Kunst und Moderne

Neuzeit ablöst. Dennoch aber scheint diese Unterscheidung nicht nur aus Gründen der historischen Objektivität, sondern auch zum Verständnis und zur angemessenen Situierung des Werks von Lévinas unerläßlich. Überdies macht Lévinas selbst von dieser Epocheneinteilung gelegentlich Gebrauch, ohne ihr allerdings eine durchgehende systematische Bedeutung zuzuerkennen. Zunächst haben wir schon die »moderne Sensibilität« 259 zitiert, die sich absetzt vom substanzgestützten bürgerlichen Bewußtsein. Sodann ist später die Rede von »modern« im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Kunst. Allerdings ist die Kunst nur ein Paradigma, an dem das Auseinander von Bild und Wirklichkeit sinnenfällig wird. Aber gerade weil die Kunst für das Ganze unseres Weltverständnisses steht, darf auch die Zeit, in der dieses Weltverständnis waltet, als modern gelten. In einem anderen Text aus der Nachkriegszeit endlich beschreibt Lévinas die Differenz folgendermaßen: Gemäß der jüdisch-christlichen Tradition, die noch im Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts wach ist, ist »die menschliche Person unabhängig von ihrem Milieu, ihrer Geburt, ihrer Religion, ihrem sozialen Stand« 260 . Bedingung dieser Freiheit ist das distanzierende Denken: »Von allem, was mir geschieht, habe ich ein Bewußtsein, und dadurch bin ich schon außerhalb dessen, was mir geschieht.« 261 »Dem stellt die moderne Welt ein zutiefst anti-cartesisches und anti-spinozistisches Gefühl entgegen. Das menschliche Denken arbeitet sich empor aus historischen, sozialen und wirtschaftlichen Phänomenen. Wir wurzeln in ihnen, aber unsere Wurzeln sind keine Gedanken.« 262 In der Philosophie ist die Thematisierung dieses Zusammenbruchs wesentlich mit dem Namen M. Heidegger verbunden. Zwischen Heidegger und der vorheideggerschen Philosophie sieht Lévinas einen Hiatus. Als Ausgangspunkt für seine eigene Philosophie nennt Lévinas »gewisse Positionen der zeitgenössischen Ontologie, die die philosophische Problematik zu erneuern erlaubt hat« 263 . Diese Erneuerung geht von Heidegger aus. Lévinas faßt sie mit den Worten zusammen: »Heideggers Philosophie ist … der Versuch, die Person – 259 260 261 262 263

E 69; vgl. in demselben Sinne IH 121. IH 120. IH 121. IH 121. EE 18/VS 19. A

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als Ort, an dem sich das Seinsverständnis vollzieht – ohne jeden Halt im Ewigen zu verstehen.« 264 Nun ist die Annahme einer Ewigkeit, eines idealen Bereichs jenseits der Zeit, die ganze raison d’être des Idealismus. Also steht die Heideggersche Philosophie nicht mehr in der Tradition des Idealismus, sondern beendet sie. 265 18.3 Lévinas begreift die Moderne als eine Krise, die nach einem Ausweg verlangt. Einen solchen Ausweg bietet die Ästhetik. Unter dem Ästhetischen im weiten Sinne verstanden wir das Sinnliche oder die Materialität. Aber das Ästhetische im weiteren Sinne läßt wiederum zwei Einstellungen zu: diejenige der modernen Kunst, soweit sie die Nacktheit der Materie herausstellt, die »Risse«, die das Universum aufbrechen 266 , die »nackten, bloßen, losgelösten Elemente, Blasen oder Abszesse des Seins« 267 einerseits, und diejenige des »ästhetischen Genusses« 268 andererseits. Dabei spielt es für die ästhetische Einstellung keine Rolle, ob es sich um ein Schwelgen in bloßen Farben und Formen handelt oder um die ästhetische Überhöhung der Gegenstandswelt. Die ästhetische Einstellung oder der Ästhetizismus ist offenbar ein Phänomen, dem der Weltzerfall Vorschub geleistet hat, das also in einem engen Zusammenhang mit der Moderne steht; Lévinas bemerkt »die krankhafte Aufblähung der Kunst in unserer Epoche, die sie fast durchgehend mit dem geistigen Leben identisch setzt.« 269 Diese Aufblähung ist ein moderne Erscheinung. Sie kann verstanden werden als der Versuch, im sinnlichen Leben selbst und auf seiner Grundlage eine neue Orientierung zu finden. Die Kritik Lévinas am ästhetischen Leben richtet sich gegen drei Punkte. Sie trifft zunächst die Ohnmacht des Ästhetischen. Die Chansons, die die Mächtigen lächerlich machen, die Romane, die eine schlechte Welt denunzieren, bewegen nichts. Sie bleiben im Symbolischen hängen. »Als ob das Lächerliche töten könnte, als ob dank DEHH 89. Wir insistieren auf diesem Begriff der Moderne und seinem Unterschied zum vormodernen europäischen Denken, weil Lévinas an anderer Stelle – in »Jude sein« – den Begriff der Faktizität bei Sartre aus der christlichen und idealistischen Tradition ableitet und einen Hiatus in der Entwicklung nicht kennt. Die Erörterung der Kunst erlaubt es, auch bei Lévinas eine Periodisierung nachzuweisen, die de facto für sein Werk fundamental ist, die er aber im allgemeinen ignoriert. 266 Vgl. EE 90/VS 68. 267 EE 91/VS 68. 268 IH 145. 269 IH 146. 264 265

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der Lieder alles« – nämlich das Schlechte – »wirklich aufhören könnte.« 270 Es kommt darauf an, die Wirklichkeit selbst zu verändern, nicht allein ihr Bild. Zum zweiten aber ist die ästhetische Einstellung verwerflich. Bei der Distanz, die die Kunstbetrachtung fordert, handelt es sich »nicht um die Uninteressiertheit der Kontemplation, sondern um Verantwortungslosigkeit« 271 . In einer Situation der allgemeinen Not gilt: »Es ist etwas Bösartiges und Egoistisches und Feiges im künstlerischen Genuß. Es gibt Zeiten, da man sich dessen schämen kann, als feierte man Feste inmitten der Pest.« 272 Drittens endlich wird man diese Einschätzung Lévinas’ im Zusammenhang mit der Kritik lesen, die er sehr frühe an der Vergötterung des Sinnlichen und des Leibes geübt hat. Wir finden hier wieder, was Lévinas schon in dem frühen Aufsatz über den Hitlerismus geschrieben hat: »Für eine Gesellschaft, die den lebendigen Kontakt zu seinem wahren Ideal der Freiheit verloren hat« 273 , für eine Gesellschaft, deren Wertetafeln zerbrochen sind und deren Maßstäbe sich als Projektionen erwiesen haben, bietet sich die Rückkehr zur unmittelbaren Sinnlichkeit, die Verherrlichung der Leiblichkeit als neuer Anker. Das Organ des Ästhetischen ist nicht das Denken, sondern der sinnliche Leib. Aufwertung des Ästhetischen meint zugleich eine Aufwertung des Leibes. So verstehen wir, wenn Lévinas weiter schreibt: »Die Bedeutung, die diesem Gefühl des Leibes zugesprochen wird, mit dem der abendländische Geist sich nie zufrieden geben wollte, ist die Grundlage für einen neuen Begriff des Menschen. Das Biologische, mit allem, was es an Fatalität mit sich bringt, wird mehr als ein Objekt des geistigen Lebens: Es wird zu seinem Herzen. Die geheimnisvollen Stimmen des Blutes, der Ruf des Erbes und der Vergangenheit, die der Leib auf rätselhafte Weise mit sich führt, verlieren den Charakter von Problemen, deren Lösung einem souverän freien Ich obliegt.« 274 An die Stelle rationaler Verhältnisse tritt der Appell an Affekte und Emotionen. 18.4 Wenn diese Deutung richtig ist, dann ist der Nationalsozialismus nicht das unmittelbare Ergebnis einer vom Idealismus geprägten 270 271 272 273 274

IH 146. IH 146. IH 146 (geschrieben 1948). Herne 158. Herne 157. A

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europäischen Geschichte, sondern die Reaktion auf ihren Zusammenbruch, die Folge des Orientierungsverlustes, der mit dem Zusammenbruch des Idealismus einhergeht. Warum aber bricht der Idealismus zusammen? Es ist eine fundamentale Zweideutigkeit, die dazu führt und deretwegen Lévinas den Idealismus einerseits hochhält, anderseits auch verurteilt. »Alle Philosophie«, so lesen wir, »sucht die Wahrheit … In der Wahrheit unterhält der Denker eine Beziehung zu einer Wirklichkeit, die von ihm verschieden ist, anders als er.« 275 Die Philosophie sucht das Wirkliche zu verstehen. Aber das Verstehen ist auch eine Form der Aneignung. Insofern übt die Philosophie eine – wenn auch nur symbolische – Gewalt gegen das andere aus und bereitet vielleicht der wirklichen Gewalt den Weg. Hält die Philosophie dogmatisch an ihrem Wahrheitsanspruch fest, so fällt sie in die Mythologie zurück, der sie sich gerade entwunden hatte und als deren Kritik sie entstand. Dogmatismus ist nicht besser als Mythologie. Aber die Frage nach der Wahrheit kann sich auch gegen die Wahrheitssuche selbst wenden und sie kritisch untersuchen. Dabei wird sie den Dogmatismus durchschauen und wird so zur Kritik des Wahrheitsanspruches. Die Wahrheit unserer Wahrheitssuche ist, daß wir uns Bilder von der Welt machen, die wir für die Wirklichkeit selbst halten. Die Philosophie, auf sich selbst angewandt, führt also zu einer rückhaltlosen Kritik der Philosophie, zur Kritik des Begriffs und der Vorstellung. Der Idealismus entfaltet sich also zwischen zwei Extremen: dem Dogmatismus einerseits und dem Skeptizismus oder gar Nihilismus andererseits. Aber auch der Skeptizismus, die Moderne und der damit einhergehende Verlust an Orientierung ist nicht eindeutig. Die Konsequenz aus dem Zusammenbruch des Idealismus kann sein die neuerliche Vergöttlichung der vitalen Prinzipien, zuoberst des Kampfes um das Dasein, um darin eine neue titanische Identität zu finden und in der Rückkehr zum Mythos eine antibürgerliche, d. h. antiidealistische Position zu beziehen. Die Konsequenz kann aber auch sein, daß die Erkenntnis, angesichts ihrer Ohnmacht, zum Wirklichen zu gelangen, dennoch an dem alten Ideal der Transzendenz zum anderen festhält, aber nun diese Transzendenz auf neuen Wegen sucht. Die Ohnmacht des Denkens muß also nicht notwendig zur neuen Herrschaft der erdhaften und vitalen Triebe führen, sondern kann als Bedingung 275

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DEHH 165/SpA 185.

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§ 18 Kunst und Moderne

für den Anfang einer neuen Philosophie, einer neuen Erfahrung des anderen verstanden werden. Damit greifen wir schon vor auf den nächsten Abschnitt. Was aber die Kunst angeht, so ist – um dies noch nachzutragen – die Verurteilung des künstlerischen und ästhetischen Genusses nicht Lévinas’ letztes Wort. Denn in einer rationalen Gesellschaft, die sich nicht der Rückkehr zu Mythos und Magie verschrieben hat, hat die Kunst insgesamt ihren magischen Charakter eingebüßt. Der Künstler ist nicht Priester und nicht Magier, sondern ein Arbeiter wie alle anderen. Das Kunstwerk gilt nicht mehr als göttliche Offenbarung, sondern zeigt eine Möglichkeit unter anderen ebenso gültigen. Zudem mißt die »philosophische Exegese den Abstand, der den Mythos vom wirklichen Sein trennt« 276 . Indem sie die Kunst als Bild versteht und so nimmt, ist sie schon aus dem magischen Kreis und der in ihm wirkenden Macht herausgetreten und tritt in kritischer Unbefangenheit dem Werk gegenüber.

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IH 147. A

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2.3 Vom Seienden zum anderen: der Eros

§ 19 Zweifache Transzendenz Die zentrale Frage der frühen Philosophie Lévinas’ lautet: Wie ist es dem Seienden möglich, die tragische Verstrickung ins Sein zu überwinden? Die erste Antwort findet das Seiende im Idealismus und der Konstitution der Welt. Aber die Welt bedeutet nicht nur die Herrschaft des Seienden über das Sein, sondern auch die Gefangenschaft des Seienden in den eigenen Produkten. Das Subjekt kommt aus sich nicht heraus. Das meint der Begriff des Endgültigen, Definitiven bei Lévinas. Das Definitive bezeichnet die Unfähigkeit zur Erneuerung, die Unfähigkeit zur Transzendenz. »Die Welt … ist die Möglichkeit … einer Freiheit. Aber diese Freiheit reißt mich nicht aus dem Endgültigen (définitif) meiner Existenz heraus, aus der Tatsache, daß ich auf immer mit mir selbst bin. Und diese Endgültigkeit ist die Einsamkeit.« 1 Einsamkeit wird nicht als ein psychologischer Zustand, sondern als eine ontologische Situation verstanden. »Es geht darum … daß Einsamkeit und Kollektivität nicht einfach Begriffe der Psychologie sind, wie das Bedürfnis, das man nach einem anderen haben kann oder wie ein Vorwissen oder eine Vorahnung oder eine Vorwegnahme des anderen, die in diesem Bedürfnis enthalten sind. Wir möchten die Einsamkeit als eine Kategorie des Seins darstellen.« 2 Somit stellen Sein und Seiendes die beiden Extreme einer Aporie dar: entweder die Herrschaft des Seins über das Seiende oder die Herrschaft des Seienden über das Sein; entweder Knechtschaft unter dem Sein oder Herrschaft über es. Jede der beiden Positionen verbindet sich mit einer der Gründerfiguren der europäischen Philosophie: das Sein und seine Auflösungstendenz mit Heraklit 3 , das Seiende und seine Einsamkeit mit Parmenides und der von ihm proklamier1 2 3

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EE 144/VS 104. TA 18/ZA 17. TA 28/ZA 24.

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§ 19 Zweifache Transzendenz

ten »Einheit des Seins« 4 . Soll am Ende der bisherigen europäischen Geschichte die Alternative von Herrschaft und Knechtschaft überwunden, soll das Gefängnis der Welt aufgebrochen und der Mensch in die wirkliche Freiheit der Erneuerung entlassen werden, muß Parmenides von seinem Thron, muß der Vatermord, den Platon vergeblich versucht hat 5 , vollendet werden. Aber die Forderung geht nicht auf eine einfache Pluralisierung des Seins in der Weise, daß das Sein in mehrere Teile auseinanderträte. Die Pluralisierung des Seins soll die Identität des Subjekts nicht beschädigen. Anders gesagt: Das Seiende tritt zu einem anderen hinüber, aber in diesem Übertritt bewahrt es seine Identität. Die Transzendenz verlangt vom Subjekt, ein anderer zu werden und doch es selbst zu bleiben: »Wie kann das Seiende als sterblich existieren und dennoch in seiner ›Persönlichkeit‹ beharren, seine Eroberung des anonymen ›Es-gibt‹, seine Herrschaft des Subjekts, seine Eroberung der Subjektivität bewahren? Kann das Seiende in das Verhältnis zum anderen eintreten, ohne durch das andere sein Sich-selbst auslöschen zu lassen? Diese Frage muß gestellt werden; denn sie ist genau das Problem, wie sich das Ich im Transzendieren bewahren läßt.« 6 Diese Forderung entspricht ganz und gar der dialektischen Bewegung des Begriffs bei Hegel. Aber Hegels Dialektik ist gefangen in den traditionellen Kategorien des Begreifens und Vorstellens. Darum bleibt sie beherrscht vom parmenideischen Prinzip der Einheit. »Wir möchten uns dagegen auf den Weg machen auf einen Pluralismus zu, der nicht in einer Einheit fusioniert.« 7 Diese Pluralität des Seins findet Lévinas in der Generationenfolge: Der Vater transzendiert sich im Sohn; der Sohn ist ein anderer und doch in gewisser Weise der erneuerte Vater. Aber damit ist das Problem der Transzendenz für Lévinas nicht gelöst. Die Analyse der Welt hatte die Einsamkeit des Seienden zu Tage gefördert. Aber die Einsamkeit wird nicht vom Subjekt frei gewählt; vielmehr folgt sie aus der Ohnmacht des Subjekts, aus eigenem Vermögen, über sich hinauszugelangen. In sich selbst hat das Subjekt nicht die Kraft zur Transzendenz. Vielmehr bedarf es dazu TA 78/ZA 56. Vgl. TA 22/ZA 21; zu Platon vgl. Sophistes, 241d. 6 TA 65/ZA 49; vgl. auch TA 66/ZA 50: »Es gibt im Tod Lukrezens Versuchung des Nichts und Pascals Verlangen nach Ewigkeit. Das sind nicht zwei verschiedene Haltungen: Wir wollen zugleich sterben und sein.« 7 TA 20/ZA 19. 4 5

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eines anderen, von dem die Fähigkeit, sich zu transzendieren, dem Subjekt zukommt. Dieses andere ist das Weibliche. In gewisser Weise spaltet sich hier der Begriff der Transzendenz: Es bedarf der Transzendenz zum Weiblichen, damit das Seiende sich selbst im Sohn zu transzendieren vermag. Damit ist zugleich der weitere Weg vorgezeichnet. Zunächst geht es darum, den Zusammenhang zwischen der Ohnmacht und dem Weiblichen darzustellen (§ 21: Der Tod und das Weibliche). Sodann wird unter dem Titel »Die Fruchtbarkeit« (§ 22) der Begriff eines pluralen Existierens entwickelt.

§ 20 Der Tod und das Weibliche 20.1 Indem sich die Welt ins Bild, ins Weltbild, verwandelt, erfährt das Subjekt seine Gefangenschaft in den eigenen Produkten und den Entzug der Wirklichkeit. Die Gegenwart zerfällt in die Monotonie des ewig Gleichen. Das Subjekt wird sich selbst zur Last, von der es sich befreien möchte. Indes: In dem Bewußtsein der eigenen Existenz als Last erfährt das Subjekt nicht nur seine Endlichkeit, sondern es öffnet sich auch die Perspektive einer Befreiung, es taucht der Gedanke eines anderen Lebens auf. »Dieser Gedanke, der nur die Hoffnung auf Freiheit und nicht selbst die Freiheit von der Verstrickung ist, pocht gleichwohl an die verschlossenen Türen einer anderen Dimension: Er ahnt eine Seinsweise, in der nichts endgültig ist und die sich von der endgültigen Subjektivität des ›Ich‹ unterscheidet.« 8 Im Untergang der Welt keimt die Hoffnung auf eine Erneuerung aus anderen Quellen. Aber der Untergang der Welt, die Ohnmacht des Subjekts, von sich loszukommen, die Unfähigkeit, aus eigener Kraft das Neue zu erschließen, ist zugleich die notwendige Bedingung für jede Ankunft eines anderen. Das andere in seiner Andersheit verlangt eine fundamentale Passivität des Subjekts. Solange alles Verstehen und Erkennen nicht als passives Hinnehmen, sondern als intentionales Tun beschrieben wird, und solange Intentionalität immer subjektive Konstitution meint, muß das andere in den intentionalen Synthesen verschwinden. Das intentionale Subjekt ist ein Ich, das kann, ein Ichkann. Die Welt verdankt sich seinem Können. Soll das andere an das 8

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EE 152/VS 110.

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§ 20 Der Tod und das Weibliche

Seiende herantreten, so muß das Seiende zuvor alles Können abgelegt haben. Dieses Ende des Könnens bezeichnet Lévinas als den Tod des intentionalen Subjekts. Der Tod ist zwar das Ende des Könnens des Seienden, aber gerade darum auch der Weg der Transzendenz über die subjektive Verschlossenheit hinaus zum Anderen. Für Lévinas tritt der Tod unter den Gesichtspunkt der Beziehung zum radikal Anderen. 20.2 Lévinas beschreibt den Tod nicht als das Ende des Seins – er ist im Gegenteil die »Unmöglichkeit des Nichts« 9 –, sondern als unbedingte Passivität; er kennzeichnet ihn also durch den Gegensatz zum intentionalen oder weltlichen Subjekt und zur räumlichen Transzendenz. Intentionalität und Passivität müssen selbst als Seinsmodi oder als Verhältnisse des Seienden zum Sein verstanden werden. Wenn das Subjekt eine Beziehung zum Anderen haben soll, so setzt sie seine Passivität voraus. Das passive Subjekt aber fällt wieder in die Unmittelbarkeit zum Sein zurück. Dieser Rückfall ist der Tod. »Der Tod, das ist die Unmöglichkeit, einen Entwurf zu haben.« 10 Die Passivität des Todes, die im Gegensatz zur Aktivität des Könnens steht, begründet die Abstandslosigkeit: »Im Leiden, innerhalb dessen wir diese Nachbarschaft zum Tode erfaßt haben – … – gibt es diese Umkehrung der Aktivität des Subjekts in Passivität. Nicht in demjenigen Augenblick des Leidens, in dem ich, mit dem Rücken zum Sein, es noch ergreife, in dem ich noch Subjekt des Leidens bin, sondern im Weinen und Schluchzen, in die das Leid sich wandelt. Dort, wo das Leiden zu seiner reinen Form gelangt, wo es nichts mehr zwischen uns und ihm« – keinen Abstand mehr – »gibt, dort schlägt die höchste Verantwortlichkeit dieser äußersten Übernahme in höchste Verantwortungslosigkeit, in Kindlichkeit um. Dies ist das Schluchzen, und genau dadurch kündigt es den Tod an. Sterben heißt, in einen Zustand der Verantwortungslosigkeit zurückkehren, heißt, wie ein Kind vom Schluchzen geschüttelt sein.« 11 Aus diesem Grunde kann der Tod auch nicht mehr wie bei Heidegger als Möglichkeit der Unmöglichkeit definiert werden. Auch für Heidegger spielt der Tod eine zentrale Rolle. Aber: »Das Sein zum Tode ist in der eigentlichen Existenz bei Heidegger eine höchste HellTA 56/ZA 43. TA 62 f./ZA 47. 11 TA 59 f./ZA 45. 9

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sichtigkeit und eben dadurch eine höchste Mannhaftigkeit. Es ist die Übernahme der äußersten Möglichkeit der Existenz durch das Dasein, die erst alle anderen Möglichkeiten möglich macht … Der Tod bei Heidegger ist Ereignis der Freiheit.« 12 Für Heidegger bleibt der Tod eine Möglichkeit, nämlich die »Möglichkeit der Unmöglichkeit« 13 , das Dasein vermag seinen Tod. Für Lévinas hingegen ist der Tod die Unmöglichkeit der Möglichkeit, das nicht können Können. 20.3 Aber die Rückkehr zur Verantwortungslosigkeit der Kindheit ist mehr als nur der Nullpunkt der Verantwortung, des Könnens, des Entwurfs: Sie ist positiv die Wiedereröffnung einer Dimension, die das intentionale Subjekt verloren hat, nämlich die Wiederaufnahme der hypostatischen Beziehung zum Sein. Der Begriff der Passivität ist zweideutig. Unter ihr kann die Privation der Aktivität verstanden werden. Beide, Aktivität und Passivität, sind dann Extreme einer zugrundeliegenden Dimension, nämlich des Könnens, so wie warm und kalt Extreme der Temperatur sind. Das Subjekt ist selbst da noch vermögend, »wo es von seiner eigenen Natur überwältigt worden war, jedoch seine Möglichkeit bewahrte, seinen faktischen Status zu übernehmen« 14 . Auch wo das Können des Subjekts gegen die Gewalten der Welt versagt, bleibt es in einem allgemeinen Sinne vermögend oder Subjekt eines Könnens überhaupt. Ganz anderer Natur ist die Passivität des Todes. Die Sterblichkeit des Menschen bedeutet nicht nur, daß er nichts gegen den Tod vermag, daß der Tod stärker ist, sondern die Einführung oder Rückführung in eine Dimension, die in der Welt überspielt, abgeblendet, verdrängt oder vergessen wird, eine Dimension, die hinter dem Können überhaupt steht. »Was wichtig ist im Nahen des Todes, ist dies, daß wir von einem bestimmten Moment an nicht mehr können können; genau darin verliert das Subjekt seine eigentliche Herrschaft als Subjekt.« 15 Nicht zu können ist die Negation des Könnens und bewegt sich auf seiner Ebene. Das Können überhaupt nicht zu können verweist auf einen Bereich, der jenseits des Könnens liegt und mit den Begriffen von Können und Nichtkönnen nicht zu fassen ist. Damit verweist die absolute Passivität, die über die relative Pas12 13 14 15

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TA 57/ZA 44. TA 92 Anm. 5/ZA 44 Anm. 6. TA 57/ZA 43. TA 62/ZA 47.

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§ 20 Der Tod und das Weibliche

sivität hinausgeht, zurück in den Bereich der Hypostase – sie ist nicht Beziehung zur Welt, sondern zum Sein. Im Tod ist »das Subjekt in Beziehung … zu dem, was nicht von ihm kommt« 16 . 20.4 Was ist nun dasjenige, wozu der Tod die Beziehung herstellt? Es ist offensichtlich das Sein, wenn die bisherige Deutung richtig war, aber das Sein weder als Es-gibt noch als Gegenstand oder Nichts, sondern als das Andere. Der Gegenstand und das Nichts gehören in den Bereich der räumlichen Transzendenz. Aber auch als Es-gibt wird das Sein im Tod nicht mehr erfahren, sondern als Andersheit. Für diesen sonderbaren Umschwung in der Bewertung des Seins – einmal das grauenvolle Es-gibt, einmal das geliebte Andere – gibt Lévinas keine explizite Begründung. Daß Lévinas selbst mit dem Begriff des Seins als Es-gibt in der Form des ersten Ansatzes unzufrieden war, darauf verweist der Umstand, daß er ihn in der Folge ganz neu interpretiert hat. Die Andersheit des Seins, die im Tode sichtbar wird, folgt für Lévinas aus der besonderen Zeitlichkeit des Todes. Der Tod selbst kann dem Seienden nie präsent sein in der Form eines Gegenstandes. Die Präsenz des Todes und das Seiende schließen einander aus. Aber der Tod ist andererseits auch nicht einfach abwesend. Im Sterben vielmehr strebt der Abstand zwischen dem Seienden und seinem Tod unendlich nach Null. Der Tod ist unmittelbar präsent und doch unaufhebbar abwesend. Diese Zeitlichkeit des Todes nennt Lévinas die Zukunft. Wiederum muß hier darauf geachtet werden, daß diese unbedingte Zukunft nicht mit der Antizipation der synthetischen Zeit verwechselt wird. Lévinas unterscheidet zwei Formen der Transzendenz auf die Zukunft: eine räumliche und eine zeitliche. Der Bereich des Raumes ist die Welt; auch die Welt ist nicht ohne jede Art von Zukunft. Wie vermöchten wir zu planen und die Gegenwart zu sichern, wenn wir nicht in die Zukunft schauen und die Zukunft vorwegnehmen könnten! Aber von dieser vergegenwärtigten Zukunft unterscheidet sich die authentische Zukunft. Von ihr sagt Lévinas: »Das, was in keiner Weise ergriffen wird, ist die Zukunft; das Außerhalbsein der Zukunft ist genau durch die Tatsache, daß die Zukunft absolut überraschend ist, vom räumlichen Außerhalb verschieden. Die Vorwegnahme der Zukunft, das Entwerfen der Zukunft, durch 16

TA 56/ZA 43. A

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alle Theorien von Bergson bis Sartre als das Wesentliche der Zeit glaubhaft gemacht, sind nur die Gegenwart der Zukunft und nicht die authentische Zukunft; die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt.« 17 Diese Zukunft, die sich im Tod der Intentionalität öffnet, nennt Lévinas nun das Weibliche. Die Beziehung zu ihm ist die Liebe. Damit zeigt sich die Liebe als der eigentliche Horizont, der das Verständnis des Todes leitet. Der Übergang vom Tod zur Liebe ist möglich, weil auch die Liebe passive Beziehung zum Anderen ist. Sie ist der positive Ausdruck dessen, was der Tod nur negativ zu sein scheint. 20.5 Das Weibliche ist kein Seiendes 18. Dieser Umstand darf indes nicht nur negativ gesehen werden. Vielmehr liegt gerade darin der positive Charakter des Weiblichen: Seine Seinsweise ist es, »sich dem Lichte zu entziehen … Die Existenzweise des Weiblichen besteht darin, sich zu verbergen, und diese Tatsache des Sich-Verbergens ist die Schamhaftigkeit.« 19 Das Weibliche ist das Diskrete: Es ist das Andere, das mit dem Subjekt kein Kontinuum bildet; gerade darin besteht seine Andersheit, daß es sich diskret zurückzieht. Die Liebe ist zwar ein unendliches Begehren, ein Streben, das nicht erfüllt wird und an kein Ziel gelangt. Aber: »Was man als Mißlingen der Kommunikation in der Liebe ausgibt, stellt gerade die Positivität des Verhältnisses dar; diese Abwesenheit des Anderen ist gerade seine Anwesenheit als Anderer.« 20 In Wahrheit ist daher das Weibliche nicht ein Terminus, sondern eine Atmosphäre, eine Dimension, ein Horizont. »Das Verhältnis zum Anderen ist die Abwesenheit des Anderen; nicht bloße und einfache Abwesenheit, nicht Abwesenheit des reinen Nichts, sondern Abwesenheit in einem Horizont der Zukunft, eine Abwesenheit, die die Zeit ist. Ein Horizont, in dem sich inmitten des transzendierenden Ereignisses ein persönliches Leben konstituieren kann, das, was wir vorhin den Sieg über den Tod genannt haben.« 21

17 18 19 20 21

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TA 64/ZA 48. TA 80 f./ZA 59. TA 79/ZA 58. TA 89/ZA 65. TA 83 f./ZA 61.

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§ 20 Der Tod und das Weibliche

20.6 Darin, daß das Weibliche ungegenständlich ist, ist es dem bloßen Sein verwandt. Das Subjekt fällt in eine gegenstandslose Vorwelt oder Nachwelt zurück. Schon das Sterben vernichtet alles Können des Subjekts und stößt es zurück in die reine Passivität, in eine Sinnlichkeit, die keinen Halt mehr bietet. Im Sterben löst sich das Subjekt wieder auf in die Materialität des Seins. Während aber das Sein ohne Seiendes, diese nackte Materialität, das Subjekt beschämt, anekelt oder langweilt, wird in der Erotik das Sinnliche zur Dimension der Präsenz des Weiblichen; es ist durchwirkt von der Liebe. Lévinas ergreift hier die Existenz auf einer Ebene, die Heidegger nie angesprochen hat: auf der Ebene des sinnlichen Leibes und der Sexualität. Dabei stehen Sexualität und Erotik, da sie das ganze sinnliche Leben durchwalten, für die Sinnlichkeit überhaupt. Lévinas kann sich dafür auf Freud und seine Theorie der Libido berufen. Freud »hat die Universalität der Tatsache der Sexualität sowie die erotischen Implikationen auch der indifferentesten menschlichen Ereignisse gezeigt.« 22 Mit der Thematisierung des erotischen Lebens folgt Lévinas einer Bewegung, die im Begriff einer Philosophie der Existenz und in dem Gegensatz zum Idealismus angelegt ist. Während dieser den Menschen aus der Perspektive eines mundus intelligibilis betrachtet, sieht jene sich vor der Aufgabe, die Transzendenz des Menschen aus den Quellen der sinnlichen Existenz zu erklären. »Seit der Antike präsentiert man das Verhältnis zwischen dem Physischen und dem Moralischen nach dem Bilde eines Hauses, in dem die Fundamente, die in der Erde vergraben sind, die hellen Räume der oberen Geschosse stützen, aber nur stützen. Die sinnliche Begierde – ein Tribut an die tierische Natur – hat keinen Anteil an dem geistigen Leben. So versteht man kaum, daß das moralische Leben des Menschen hingegen in seinen Beziehungen zu den anderen besteht, daß es sich in der materiellen Gabe äußert – in der Gabe des Brotes für den Hungernden, der Kleidung für solche, die nackt sind.« 23 Hier spricht sich zugleich eine zentrale Überzeugung von Lévinas aus: Das Denken vereinzelt den Menschen; der Ort der Beziehung zum anderen dagegen ist das Sinnliche. Wie in der Philosophie nur Merleau-Ponty zur

22 23

E. Lévinas, »En marge d’une enquête: L’érotisme ne ravale pas l’esprit« Ibid. A

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selben Zeit 24 sucht Lévinas auf den Grund der Sinnlichkeit zu gelangen, um dort den Ursprung einer Bewegung zu lokalisieren, die das Subjekt über sich hinauszutragen fähig ist, ohne es zugleich zu vernichten. Aber das Erotische ist Teil jenes Bereichs, der als die Nachtseite des Lebens aus der »Welt« ausgeschieden ist. »Das gesellschaftliche Leben ist dezent. Die heikelsten sozialen Beziehungen vollziehen sich in den Formen; sie bewahren den Schein, der allen Mehrdeutigkeiten einen Mantel von Aufrichtigkeit verleiht und sie zum Teil der Welt macht. Was sich den Formen widersetzt, wird aus der Welt ausgeschieden. Der Skandal verbirgt sich in der Nacht, in den Häusern, zu Hause – in dem, was in der Welt den Status der Exterritorialität genießt.« 25 Der Mensch lebt auf zwei Ebenen: in der Welt und auf der Ebene der Existenz. Die Welt schirmt sich gegen die Existenz ab. Dies ist besonders »sichtbar« am Status des Erotischen. Die Erotik und die Sexualität haben in der bürgerlichen Welt 26 keinen anerkannten Aufenthalt. Wenn sie in der bürgerlichen Welt dennoch anwesend sind, so nur in verkappter Form: in Gestalt gezielter Verletzung von Konventionen, in zweideutigen Witzen und Zoten, als Unterwelt. Dieser Dualismus setzt sich bis in die Sprache hinein fort: »Die gehobene Sprache, die hinter sich die ganze Geheimniskrämerei der Geschichte herschleppt, hat die zweideutige Tatsache der Erotik nur entdeckt, um sogleich ihre Nacktheit wieder zuzudecken.« 27 Zeigen konnte sich die Erotik nur in der Sprache der Gosse, im Straßenjargon. Woher die Angst, woher das Bedürfnis, die Existenz zu verstekken? Weil die Erotik den Menschen in seiner Nacktheit und Gefährdung entdeckt. Als nackter ist der Mensch ohne Gegenwehr. »Befreit von den poetischen Mystifikationen, präsentiert die Sexualität sich als eine Tatsache der menschlichen Nacktheit; aber als eine Tatsache, die sich gerade nicht in der Indifferenz des Positiven, des Physiologischen darbietet, in der sich nicht schlicht und einfach das Gesetz der Natur vollzieht. Armselige und traurige Nacktheit, so als liefe sie blau an in dem kalten Licht, Nacktheit, die sich zusammenkauert in Vgl. das Kapitel »Der Leib als geschlichtliches Seiendes«, in: M. Merleau-Ponty, Die Phänomenologie der Wahrnehmung. 25 EE 60/VS 47. 26 in der Welt von 1949 27 »En marge d’une enquête« 24

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§ 21 Die Fruchtbarkeit

einer Bewegung der Scham … Die Erotik bewegt sich immer an den Abgründen entlang … Das menschliche Existieren ist ein gefährliches Spiel, ein Spiel für Erwachsene.« 28 So versteht man, warum die Menschen ihre Existenz bekleiden, warum sie sich in Formen einhüllen, die sie schützen und aus denen sie sich jederzeit unbeschadet zurückziehen können. »Die Sozialität in der Welt kennt nicht jenen beunruhigenden Charakter eines Seienden gegenüber einem anderen Seienden, gegenüber der Alterität … ; die grundlegende Schüchternheit vor der eigentlichen Andersheit des anderen ist, da sie wie eine Krankheit behandelt wird, aus der Welt verbannt.« 29 Die Welt ist doppelbödig nicht allein deswegen, weil hinter der Fassade der Formen die Gewalt des Es-gibt lauert und drängt, sondern auch weil die Passivität gegenüber dem anderen, dem der Mensch sich in der Erotik ausliefert, den Menschen verwundbar macht und darum sich im Geheimnis der Nacht verbirgt. »Neben der Nacht im Sinne des anonymen Brausens des Es-gibt erstreckt sich die Nacht des Erotischen« 30 , wird Lévinas später sagen. Aber – und das zeichnet sie aus – die Nacktheit und die Erotik bieten die Chance der Begegnung mit dem anderen. »Die Beziehung zur Nacktheit [ist] die wirkliche Erfahrung der Andersheit des anderen Menschen«. 31 Darin liegt »die Gleichzeitigkeit der Größe und des Elends« 32 des Menschen. Der nackte Mensch ist gefährdet. Aber allein der nackte Mensch findet in der erotischen Beziehung den Weg zum anderen. Der Weg zum anderen ist aber auch der Weg in die Erneuerung der Zeit, in die Zukunft.

§ 21 Die Fruchtbarkeit 21.1 »Die Zukunft, das ist das Andere«, sagt Lévinas 33. Aber die Zukunft ist noch nicht die synthetische schöpferische Zeit, die den Tod überwindet 34 . Der Tod ist erst dann besiegt, wenn der gegenwärtige Augenblick selbst erneuert wird, wenn der Augenblick weder 28 29 30 31 32 33 34

Ibid. EE 61/VS 48. TI 236/TU 377. EE 61/VS 48–9. »En marge d’une enquête« TA 64/ZA 48. TA 68/ZA 51. A

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dem unbestimmten Sein noch der offenen Zukunft anheimfällt, sondern einen neuen Augenblick aus sich gebiert. Die Zeit vollzieht sich als Fruchtbarkeit des Augenblicks. Aber der Bezug auf die Zukunft ist die Bedingung für die Fruchtbarkeit des Augenblicks. Nicht aus sich selbst kann sich der Augenblick erneuern, sondern nur dank des metaphysischen Prinzips des Weiblichen. Daher auch Lévinas’ Kritik am Bergson’schen Begriff der durée und der évolution créatrice. Es genügt Lévinas nicht, die phänomenologische Zeit von der genuin schöpferischen zu unterscheiden; denn mit der Unterscheidung entsteht die weitere Frage, wie der Augenblick es fertigbringt, aus sich herauszukommen, woher er die Kausalität nimmt, einen anderen Augenblick aus sich zu zeugen. Schließt man den Augenblick in sich selbst ein, so bedarf es einer zusätzlichen Erklärung für die Schöpferkraft des Augenblicks. Dabei ist der Begriff des Lebens nur der Ausdruck einer Verlegenheit; denn dieses Leben gilt es gerade zu erklären. »Es handelt sich nicht darum, die Tatsache der Vorwegnahme [des nächsten Augenblicks] zu bestreiten, an die Bergsons Beschreibungen uns gewöhnt haben; es handelt sich darum, ihre ontologische Bedingung zu zeigen.« 35 Diese ontologische Bedingung ist nun entdeckt: Sie ist das Weibliche. 21.2 Das Weibliche ist die Zukunft. Die Öffnung ihres Horizontes öffnet die Reihe der mannigfaltigen Augenblicke, die sich gegenseitig hervorbringen und erzeugen. Das Weibliche ist die ontologische Bedingung dessen, was Bergson als die Dauer thematisiert: die Fruchtbarkeit der Zeit. Diese Fruchtbarkeit hat ihr Bild an der biologischen Generationenfolge oder am Verhältnis des Vaters zum Sohn. In der Fruchtbarkeit realisiert sich eine Transzendenz, die über die Einheit des parmenideischen Seins hinausgeht. Einerseits ist der Sohn nicht der Vater; vielmehr hat er eine gesonderte Existenz, ist er im Verhältnis zum Vater ein Anderer. Insofern ist die Vaterschaft die Beziehung mit einem Fremden 36 . Andererseits aber lebt der Vater im Kind fort, ja, man kann sagen: Der Vater ist das Kind 37 . Was hat es mit diesem »ist«, mit diesem Sein, auf sich? Der Sohn hat nicht das Sein des Vaters; er ist auch nicht ein Prädikat am väterlichen Sein wie etwa

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TA 72/ZA 53. TA 85/ZA 62. TA 86/ZA 62.

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§ 21 Die Fruchtbarkeit

die Trauer oder das Leid. »Er ist ein Ich, er ist eine Person.« 38 Und doch ist der Sohn der Vater, zwischen Vater und Sohn waltet eine Transitivität. »Wie kann das Ich für sich selbst anders werden? Dies kann nur auf eine einzige Weise geschehen: durch die Vaterschaft. Die Vaterschaft ist die Beziehung zu einem Fremden, der ich bin, obwohl er ein Anderer ist … Ich habe nicht mein Kind; ich bin auf gewisse Weise mein Kind. Nur haben die Worte ›ich bin‹ hier eine von der eleatischen oder platonischen verschiedene Bedeutung.« 39 Mit diesen Worten kommt das Problem der Transzendenz als ontologisches Thema nicht nur zum Abschluß; sie nehmen vielmehr ausdrücklich auf den Anfang der Untersuchungen von »Die Zeit und der Andere« Bezug und zeigen den Weg, der zurückgelegt worden ist. Am Eingang hat Lévinas die traditionelle Auffassung wiedergegeben: »Ich bin nicht der Andere.« 40 Das intransitive Sein resultiert aus der »unlösbaren Einheit zwischen dem Existierenden und seinem Werk zu existieren« 41 . Nun taucht das ›Ich bin‹ abermals auf, aber in veränderter Form: ›Ich bin mein Sohn‹ – das Sein, die Existenz, ist transitiv, ohne daß die Termini miteinander verschmelzen würden. In den beiden ›Ich bin‹ fassen wir also den Ausgangspunkt der Untersuchung, den Zielpunkt und die Verwandlung, die das Sein auf dem Wege durchgemacht hat. »Es gibt eine Vielfalt und ein Transzendieren in diesem Verb ›existieren‹, ein Transzendieren, das selbst den kühnsten existenzialistischen Analysen entgeht.« 42 Das Vater-SohnVerhältnis realisiert die Transitivität des Existierens. »Die Vaterschaft ist nicht einfachhin die Erneuerung des Vaters im Sohn und seine Verschmelzung mit ihm, sie ist auch das Außerhalbsein des Vaters in Bezug auf den Sohn, ein plurales Existieren.« 43 21.3 Somit löst sich das Sein des Subjekts, aus der zwanghaften Einheit entlassen, in eine Pluralität des Existierens auf, die ihm eine beständige Erneuerung bedeutet. Das Spezifische des Subjekts ist das »Vermögen« der Erneuerung, der Wiedergeburt, die Produktivität der Zeit, die ihm aus der Dimension des Weiblichen kommt. Dies ist die Lösung des Problems, das mit dem tragischen Charakter des Sub38 39 40 41 42 43

TA 86/ZA 62. TA 85 f./ZA 61 f. TA 21/ZA 20. TA 22/ZA 20 f. TA 86/ZA 62. TA 87/ZA 62. A

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jekts gegeben ist. Die Lösung aus der Einheit des Seins vollzieht sich als Ablösung von der Vergangenheit, deren Gefangener das tragische Subjekt war; sie ist die Möglichkeit der beständigen Erneuerung, die, wie der cartesische Gott der Welt, so das Weibliche dem Subjekt gewährt. »Also kann dem Ich dank der vom Eros eröffneten Zukunftsperspektive die Rückkehr zu sich selbst erlassen werden. Statt diese Erlösung (rémission) [vom Sich] durch die unmögliche Auflösung der Hypostase zu erlangen, vollzieht man sie durch den Sohn. Nicht nach der Kategorie der Ursache, sondern nach der Kategorie des Vaters geschieht also die Freiheit und vollzieht sich die Zeit.« 44

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III. Die ethische Transzendenz

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3.1 Die Revision des erotischen Ansatzes

§ 22 Die Verantwortung fr den anderen 22.1 Der neue Ansatz unterscheidet sich vom vorhergehenden in einem entscheidenden Stück: Die Kritik an der Totalität wird nicht mehr im Namen des eigenen Heils, der eigenen Befreiung geführt, sondern im Namen des anderen. Das Neue an dem Werk »Totalität und Unendlichkeit« ist die These der Verantwortung für den anderen und die radikale Nachrangigkeit des Selbst: »Nicht ich bin es, der sich dem System verweigert, wie Kierkegaard dachte, sondern der andere.« 1 Der andere Mensch tritt in den Mittelpunkt aller Erörterung und allein von ihm her empfängt auch das Leben des Einzelnen seinen Sinn und seine Rechtfertigung. Das ist ein ganz neuer Ton in der Philosophie. Diese Wende ist die Folge der Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der intendierten Vernichtung des jüdischen Volkes. Das Leben der Juden war immer ein Leben auf Abruf: »Der Jude hat nicht in der Welt das endgültige Fundament, das der Heide besitzt. Noch inmitten des vollkommensten Vertrauens, das er den Dingen entgegenbringt, wird er zerfressen von einer dumpfen Unruhe. So unerschütterlich die Welt auch denjenigen erscheinen mag, die man als gesunde Geister bezeichnet, der Jude bewahrt von ihr den Eindruck des Provisorischen …« 2 Der Nationalsozialismus bringt in dieser Hinsicht nichts unbedingt Neues. Neu ist allein die Radikalität und der prinzipielle Charakter, mit der er die Existenz der Juden verneint. Dem Juden wird grundsätzlich das Recht auf Existenz bestritten. In eben diesem Sinne spricht Finkielkraut vom »Fehler, überlebt zu haben« 3 . »Überlebender« zu sein bedeutet, sein Leben TI 10/TU 46–7. Herne 144. 3 Cahiers I, 126; vgl. dazu in der NZZ vom 16. 02. 2005 den Bericht über ein Buch, das von der ersten Zeit unmittelbar nach der deutschen Niederlage in Berlin handelt: »Doch 1 2

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§ 22 Die Verantwortung fr den anderen

einem Zufall zu verdanken, einem Fehler im Getriebe. Der Überlebende hat nicht a priori ein Recht auf Leben. Er muß es rechtfertigen. 4 Die Existenz des Überlebenden ist nur dann zu rechtfertigen, wenn der Tod der anderen ein Unrecht war. Nur in der Insistenz auf dem Unrecht, das den Opfern geschehen ist, in der Solidarität mit ihnen, ist die Existenz des Überlebenden gerechtfertigt. Zwischen der Solidarität für die Opfer und der Rechtfertigung der eigenen Existenz besteht eine Korrelation. Lévinas erhebt diese Beziehung zum Opfer zum universellen Prinzip. Damit übt er implizit eine durchgreifende Kritik an unserer traditionellen Vorstellung vom Menschen. Spätestens seit Rousseau gilt, daß der Mensch aufgrund seiner Natur frei ist. Kant gründet auf diese Freiheit die Würde eines jeden Menschen. Die Würde kommt ihm von Geburt her zu, kraft der bloßen Existenz als Mensch. Diese Theorie wird aber durch den Überlebenden in Frage gestellt. Dem Überlebenden genügt es nicht, am Leben zu sein, zu existieren. Vielmehr bedarf es über die faktische Existenz hinaus einer Legitimation. Sie kommt ihm von seinem Einsatz für den Nächsten. Gilt dies exemplarisch vom Überlebenden, so erweitert Lévinas die Forderung nach Legitimation der Existenz auf alle Menschen überhaupt. Daher die scharfe Trennung zwischen der natürlichen Existenz der Menschen und der ethischen. 5 22.2 Damit verläßt Lévinas nicht nur die Bahnen der traditionellen Philosophie, sondern vollzieht auch einen Bruch mit seinem eigenen bisherigen Denken. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Problemstellung und -lösung des erotischen Ansatzes, um dem neuen Ansatz das gehörige Profil zu geben. Die Not, aus der das Subjekt nach Erlösung ruft, ist das Sein nicht alle finden sich zurecht in den neuen Verhältnissen, die in manchem den alten nicht wenig ähneln. So hofft das Ehepaar Kronfeld vergeblich auf Gerechtigkeit. Die Wohnung, aus der sie vertrieben wurden, erhalten sie nicht zurück. Die Nazis bleiben in der Wohnung und die Juden in der Dachkammer. Dort findet sich später nach dem Selbstmord des Ehepaares ein Zettel: ›Wir holen unseren Tod nach, weil wir einsehen, daß wir ihn zu Unrecht überlebt haben‹.« 4 Sofern die jüdische Existenz häufig unter einem Rechfertigungszwang stand, gehört es vielleicht zum Schicksal der Juden überhaupt, »Überlebende« zu sein. 5 Vgl. dazu Totalität und Unendlichkeit II: Innerlichkeit und Ökonomie, und III: Das Antlitz und die Exteriorität. A

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III. Die ethische Transzendenz · Die Revision des erotischen Ansatzes

ohne Seiendes, das Es-gibt. Es-gibt ist der Name für die Desorientierung des modernen Menschen, der einer Existenz verhaftet ist, die er nicht gewählt hat und die ihn zu vernichten droht. »Man ist über nichts mehr Herr, d. h. man ist im Absurden. Der Selbstmord erscheint als die letzte Zuflucht gegen das Absurde.« 6 Gegenüber dieser Fesselung erkennt Lévinas im Gedanken der Freiheit und im Versuch, ihn zu realisieren, den zentralen Kern des europäischen Denkens. Dieser Versuch führt zur Entdeckung der idealen Welt, die den Menschen über die bloße Existenz hinaushebt. Aber die Moderne erfährt das Scheitern dieses Versuchs. Gegen die zeitgenössische Ontologie, die zur Verwurzelung im Sein zurückkehrt, hält Lévinas zwar an der Forderung der Freiheit und der Ablösung aus der Vergangenheit fest. Aber der Weg zu diesem Ziel führt ihn nicht mehr über das Denken, sondern über die Transzendenz zum Weiblichen. Das Weibliche ist es, das in ihm die Kraft zur Ablösung von der Vergangenheit und zur Erneuerung der Gegenwart in Gestalt des Sohnes oder des Kindes verleiht. Was dem Subjekt aus eigener Kraft versagt ist, erfüllt sich ihm kraft der Beziehung zum anderen. Gegenüber diesem ersten Ansatz kennzeichnet den zweiten Ansatz ein neues Verständnis der Verantwortung. Auch im erotischen Ansatz spielt die Verantwortung eine Rolle. Aber sie ist erstens keine Verantwortung vor dem anderen und für ihn – ich nenne sie die mythische Verantwortung –, und zum zweiten wird das Subjekt durch den anderen von dieser Verantwortung gerade befreit. Die Verantwortung, die das Subjekt gemäß der erotischen Transzendenz für sich übernehmen muß, hat das Eigentümliche, daß sie nicht Verantwortung vor einem anderen oder für einen anderen, sondern allein ein internes Verhältnis ist. Schuld, Scham und Ekel setzen keine Beziehung auf etwas Äußeres voraus. »Man stellt an der Scham den sozialen Gesichtspunkt in den Vordergrund, man vergißt, daß sie in ihren tiefsten Erscheinungsformen eine streng persönliche Angelegenheit ist.« 7 Der Ekel läßt den solipsistischen Charakter der Scham hervortreten. »Im Ekel erscheint die Scham gereinigt von jeder Vermischung mit einer kollektiven Vorstellung. Wird die Scham in der Einsamkeit empfunden, so tritt der kompromittierende Charakter, weit davon entfernt, sich zu verwischen, erst in seiner ganzen Eigenart hervor. Der allein gelassene Kranke, dem 6 7

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›übel geworden ist‹ und der sich nur noch übergeben konnte, ist noch sich selbst ein ›Skandal‹. Man wünscht sich sogar in gewissem Maß die Gegenwart eines anderen; denn sie erlaubt, den Skandal des Ekels auf die Ebene einer ›Krankheit‹ zu reduzieren, einer sozial akzeptierten Krankheit, die man behandeln und der gegenüber man folglich eine objektive Haltung einnehmen kann. Das Phänomen der Scham über sich selbst vor sich selbst … ist identisch mit dem Ekel.« 8 Also ist auch die tragische Schuld, die der Scham zugrundeliegt, eine Verstrickung in die eigene Existenz, aber keine Schuld vor einem anderen. Die Erlösung aus der Verstrickung erlöst auch von der Verantwortung. Da die Verantwortung im Rahmen des erotischen Ansatzes als ein Können verstanden wird, geht die Entlastung von der Verantwortung mit dem Ende des Könnens einher. Das Ende des Könnens, das Sterben als Bedingung für die Transzendenz zum anderen, befreit das Subjekt auch von der Last der Verantwortung: »Sterben heißt, in diesen Zustand der Verantwortungslosigkeit zurückkehren.« 9 Der neue Ansatz in »Totalität und Unendlichkeit« führt einen neuen Begriff der Verantwortung ein. Zunächst wird die Verantwortung zu einer sozialen Kategorie. Vor allem aber: Es ist die Übernahme der Verantwortung, die das Subjekt aus dem Sein heraus- und über die Welt hinaushebt. Die Transzendenz befreit nicht mehr von der Verantwortung, sondern die Verantwortung befreit zur Transzendenz. Gegenüber dem ersten Ansatz ergibt sich nun eine »ganz andere Bewegung: Um aus dem Es-gibt herauszukommen, darf man sich nicht« – wie es die Hypostase tut – »setzen, sondern muß sich absetzen, eine Absetzung vollziehen in dem Sinne, wie man von der Absetzung von Königen spricht. Diese Absetzung von der Herrschaft des Ich, das ist die soziale Beziehung mit dem anderen Menschen, die des-inter-essierte Beziehung … Fortan schien mir, daß es die Verantwortung für den anderen, das Sein für den anderen ist, was dem anonymen und unsinnigen Brausen des Seins Einhalt gebietet. Die Befreiung aus dem Es-gibt nahm für mich die Gestalt dieser Beziehung an. Seit sich mir das aufgedrängt hat und ich in meinem Geist Klarheit über diesen Punkt habe, habe ich in meinen Büchern kaum mehr über das Es-gibt um seiner selbst willen gesprochen.« 10 E 91. TA 60/ZA 45. 10 EI 42–3/EU 39. 8 9

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Aber der alte Begriff der anonymen oder mythischen Verantwortung, die das Subjekt sich selbst entfremdet, entfällt nicht ganz, sondern wird neu interpretiert. Der andere, mit dem das Subjekt zu tun hat, ist nämlich nicht immer der Bedürftige, die Witwe, die Waise, sondern ebenso häufig der Gewalttätige, der Gegner, der seine Interessen verfolgt und das Subjekt seinem Egoismus unterordnet und ggf. opfert. Eine Gesellschaft, in der der andere vergessen oder übergangen wird, in der der Egoismus herrscht, der sich allein auf sein Ich-kann verläßt ohne Rücksicht auf den und die anderen, bedroht die Subjektivität. Die Forderung an das Subjekt, sich einem fremden Willen unterzuordnen, tritt ja zunächst als moralische Forderung an das Subjekt heran, bevor sie mit Gewalt durchgesetzt wird. Der Anwendung der Gewalt geht in der Regel eine Schuldzuschreibung voraus: Das Opfer ist der Schuldige. Auf diese Weise kehrt die mythische Schuld zurück; aber sie wird nun aus sozialen Kontexten und aus sozialer Gewalt erklärt. Da nun die mythische Schuld und Verantwortung aus ihrem sozialen Zusammenhang aufgeklärt ist, verliert auch der Begriff des Es-gibt seine Bedeutung. 11 Das Absurde ist nicht das allem vorausDem scheint zu widersprechen, wenn Lévinas im Vorwort zur zweiten Auflage von »De l’existence à l’existant« schreibt: »Der Begriff des Es-gibt, den dieses dreißig Jahre alte Buch entwickelt, scheint uns sein widerstandsfähigstes Stück zu sein« (EE 10/VS 12). Beide Thesen sind dann nicht einander widersprechend, wenn der Begriff in der Zeit zwischen den beiden Äußerungen einen Bedeutungswandel erfahren hat. Eine weitere Bemerkung möchte ich hier anschließen. Mir scheint – und damit gebe ich als Vermutung zu Protokoll, die, wenn überhaupt, nur durch eine biographische Untersuchung erhärtet werden kann – mir scheint, daß sich mit der Klärung des Begriffs der Verantwortung auch eine theoretische Klärung von Lévinas’ Verhältnis zum Judentum ergeben hat. Es fällt dem Leser auf, daß Lévinas das Verhältnis des Menschen zur Existenz mit denselben Worten charakterisiert wie das Verhältnis des Juden zum Judentum. Das Es-gibt vermittelt das »sentiment aigu d’être rivé« (E 70) à l’existence; »Le Dasein est rivé à ses possibilités … livré à son propre destin« (HO 417). Und für den Juden ist diese Existenz, dieses destin das Judentum: »Le juif est inévitablement rivé à son judaisme« (Herne 144). Wenn wir diese Fessel nach dem Modell des Es-gibt interpretieren, dann umfaßt sie einerseits die Treue zum Judentum, anderseits aber auch die Flucht vor ihm. Diese Zweideutigkeit hängt mit dem fundamentalen Anliegen Lévinas’ überhaupt zusammen: nämlich die Identität des Menschen – also auch des jüdischen Menschen – an die Existenz anzubinden und aus der Existenz zu entwickeln. Das macht Lévinas’ Existenzialismus aus. Im Strom der Existenz selbst muß der feste Punkt gefunden werden, von dem aus sich eine Identität gewinnen läßt. Nun ist die Existenz selbst ein Mannigfaltiges und unbestimmt. Das zeigt die Vielfalt von Philosophien der Existenz (vgl. oben). Die existentielle Situation des Juden ist gewiß das Judentum. Was aber meint Judentum? Marek Halter schreibt dazu: »Mein ganzes Leben hindurch habe ich

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gehende Sein ohne Seiendes, sondern Resultat sozialer Verhältnisse. Durch seine materielle Existenz ist das Ich dem anderen ausgeliefert; dieser kann von der Erscheinung des Ich, von seinem öffentlichen Auftreten, den Gebrauch machen, der ihm nutzt und der ihm sinnvoll scheint. Das kann nicht nur die ursprüngliche Intention vollkommen verdrehen, sondern für den Betroffenen zu absurden Konsequenzen führen. Indes: »Das Absurde hat einen Sinn für jemanden.« 12 22.3 Das neue Verhältnis zum anderen macht den Kern von »Totalität und Unendlichkeit« aus. Lévinas sucht nun, dieses neue Element der alten Gliederung zu integrieren. Die Gliederung des erotischen Ansatzes sah drei Stufen vor: das Es-gibt, die Welt, die Transzendenz zum anderen. Das Es-gibt repräsentiert den mythischen Bereich der Teilhabe, die Welt entfaltet sich in der distanzierten Vorstellung und in den sinnhaften Bezügen, der andere ist präsent in der affektiven Beziehung zum Weiblichen und in der Fruchtbarkeit. Die neue Einsicht über den anderen betrifft in erster Linie die bisherige Definition der Welt. Für den erotischen Ansatz entsteht die vielfach erfahren und festgestellt, daß die Tatsache, sich als Juden zu bekennen, nicht zugleich bedeutet, daß man auch weiß, was das sei, das Judentum. Oder warum man ihm angehörte« (M. Halter, Alles beginnt mit Abraham, 14). Hinzu kommt, dass die Frage nach der jüdischen Identität zu einer Frage auf Leben und Tod geworden war: Zur Zeit des europaweiten Faschismus bedeutete die jüdische Existenz eine tödliche Bedrohung. Eben dies ist die Situation des Es-gibt: Solidarität mit etwas, aus dem man zugleich ausbrechen möchte. Ich denke, daß man »De l’évasion« auch aus dieser Perspektive lesen muß. Dieser Krampf löst sich – nun auch theoretisch – in dem Augenblick, in dem an der Verantwortung die beiden Formen unterschieden werden: eine Pflicht zur Solidarität einerseits und eine aufgezwungene Identität, die ich nur als Gewalt erfahre und gegen die sich zu wehren legitim ist. Für den besonderen Fall des Judentums bedeutet das: Judesein hat eine doppelte Bedeutung: Einmal sind es, genau wie Sartre beschrieben hat, die anderen, die die Juden an die äußeren und materiellen Bedingungen ihrer Existenz fesseln: etwa an die Ethnie. Eine solche auferlegte Identität hat den Charakter des sozialen Zwanges, gegen den man sich zu wehren hat. Dagegen gibt es aber ein anderes Judentum: dasjenige, das sich auf die Offenbarung bezieht und auf die Forderung: Du sollst nicht töten! Für Lévinas spricht das göttliche Gebot im Antlitz des anderen. Für Lévinas ist es der Gehorsam gegen dieses Gebot, der die jüdische Identität ausmacht. Vielleicht hat André Neher dafür eine Formel gefunden, wenn er sagt: »Ich bin nicht Jude, wie mich die anderen sehen. Ich bin Jude, wie ich von Gott gesehen werde« (zitiert in: A. Neher, Jüdische Identität 190). Gott aber sieht den Juden im Antlitz des anderen an. Dazu wäre zu vergleichen, was Lévinas über das Gottesurteil sagt (vgl. TI 222 ff./TU 358 ff.). Demnach ist das Judentum eine innere Berufung, die nichts mit der äußeren Erscheinung zu tun hat. 12 TI 204/TU 332. A

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Welt aus den intentionalen Leistungen des Subjekts. Nun hingegen stellt sich heraus, daß die Distanz zu den Dingen das Ergebnis der Begegnung mit dem anderen ist, der den Anspruch macht, sie mit mir zu teilen. Die Gemeinsamkeit artikuliert sich in der Sprache. Die Eröffnung gemeinsamer Sinnbezüge und der begrifflichen Distanz ist also nicht mehr das Werk eines einsamen Subjekts, sondern eine Form des Verzichts zugunsten des anderen. Wie die Konstitution der Welt, so setzt auch ihr Untergang den anderen voraus. Der erste Ansatz fordert den Tod aus einem systemimmanenten Grund: Soll das Subjekt Zugang zum anderen haben, muß es zuvor sein Können aufgeben. Nun hingegen sind es die anderen, die das Subjekt des Spielraums seiner Existenz berauben. Weltaufgang wie Weltuntergang zeigen sich also als das Ergebnis intersubjektiver Verhältnisse, so daß nun an ihre Stelle unter dem Titel »Das Antlitz des anderen« je ein Abschnitt über die Ethik (»Antlitz und Ethik«) und über die Politik (»Die ethische Beziehung und die Zeit«) treten. Wird das Kapitel über die Welt durch ein Kapitel über das Antlitz ersetzt, so zieht dies eine Rückwirkung auf den ersten Teil nach sich. Im erotischen Ansatz behandelte der erste Teil das Sein ohne Seienden. Aus ihm befreite sich das Subjekt durch die Setzung der Hypostase. Nun steht an der Stelle der Hypostase und des Bewußtseins die Erfahrung des anderen. Daraus ergibt sich eine Konsequenz für die Beschaffenheit des Seienden, das zum anderen transzendiert. Die Transzendenz zum anderen verlangt nicht nur ein Subjekt, das in der Transzendenz identisch und vom anderen getrennt bleibt, vielmehr darf der andere von Anfang an nicht das bloße Korrelat des Selben sein. Das hatte sich schon im erotischen Ansatz beim Übergang von der Welt zum Weiblichen gezeigt. Der substanzielle und selbstgenügsame Charakter des Subjekts in der Welt war erforderlich, weil Subjektivität und Andersheit sich nicht allein durch ihren – beide relativierenden – Gegensatz definieren durften. Ein anderes, das nur anders ist im Verhältnis zu einem identischen Subjekt, hat nicht die Andersheit an sich selbst. In einer solchen Korrelation wäre auch das Subjekt anders im Verhältnis zu seinem anderen und das andere das Selbe oder Identische. Damit würde der Versuch des Subjekts, einen Punkt absoluter Orientierung zu finden, gescheitert. Eine absolute Orientierung kann nur ein absolutes anderes geben. Diese Überlegung führt dazu, daß auch das Subjekt seine Identität nicht aus der Beziehung zum anderen, als relative Identität be198

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zieht. Es muß vielmehr in sich selbst gesättigt sein und des anderen zu dieser Genügsamkeit nicht bedürfen. Aus diesem Grunde beharrt schon der erotische Ansatz auf der unbedingten Einsamkeit des Subjekts. Diese Einsamkeit ist eine ontologische, keine psychologische Bestimmung. Der ethische Ansatz vertieft diesen wichtigen Gesichtspunkt unter dem Titel der Trennung, des Atheismus und der Asymmetrie. Die Forderung, daß das Subjekt seine Identität nicht aus dem Gegensatz zum anderen, sondern aus sich selbst hat, macht aus ihm ein »getrenntes« Seiendes: Noch bevor das Subjekt die Transzendenz erfährt, noch vor der Beziehung zum anderen, genügt das Subjekt sich selbst. Und auch später steht ihm die Möglichkeit eines Lebens ohne den anderen, die Möglichkeit, den anderen zu vergessen, offen. Lévinas spricht von einer »Trennung, die so tief ist, daß die Idee des Unendlichen dem Vergessen anheimfallen kann. Das Vergessen der Transzendenz ereignet sich nicht wie ein Zufall in einem getrennten Seienden, die Möglichkeit dieses Vergessen ist für die Trennung notwendig.« 13 Daher geht im systematischen Aufbau von »Totalität und Unendlichkeit« der Analyse der Transzendenz die Darstellung der Trennung voraus. Während die Begegnung mit dem anderen beim Subjekt einen Prozeß der Reflexion einleitet, kann das getrennte Leben als Leben geradehin, als naive und unreflektierte Existenz beschrieben werden. Das erlaubt, die beiden Abschnitte mit dem zu vergleichen, was Husserl in der Phänomenologie die Einstellung des Geradehin und anderseits die reflexive Einstellung, die nach dem Grunde fragt, genannt hat. Damit bezeichnet das Es-gibt nicht länger den tragischen Ursprung des Menschen. Zugleich vollzieht sich eine Wende gegen die bisherige Orientierung an Heidegger. In der frühen Phase erschien Lévinas die Geworfenheit in das Es-gibt die Ausgangssituation des Menschen. Diese »Belastung der Existenz war die Form, in der ich die berühmte heideggersche ›Sorge‹ aufnahm.« 14 Daher die Nähe des Es-gibt zu Heideggers Begriff der Geworfenheit. Diese Nähe hört nun auf. Die ursprüngliche, die natürliche Existenz ist nicht geworfen, sondern genießt in animalischer Weise das Glück des Lebens. 15 Geworfenheit meint nun entweder die materielle Not 16 oder die soziale und politische Gewalt. 13 14 15 16

TI 156/TU 263. EI 42/EU 39. Vgl. TI 114–6/TU 200–3. TI 120/TU 209. A

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Der dritte Abschnitt über den Eros kann im wesentlichen beibehalten werden. Auch im ethischen Ansatz läuft ja der zweite Abschnitt auf die Vernichtung des Subjekts hinaus. Im Eros findet Lévinas auch jetzt die Perspektive einer Erneuerung. Daraus ergibt sich die Gliederung des ethischen Ansatzes, wie er in »Totalität und Unendlichkeit« dargestellt ist. Unter dem Titel »Innerlichkeit und Ökonomie« geht es um die Genese des naiven Seienden, das vom anderen noch nichts weiß und in der Selbstgenügsamkeit lebt. Der Begegnung mit dem anderen in den beiden Phasen der Verantwortung für den anderen und der Entfremdung durch den anderen gilt der Abschnitt »Das Antlitz und die Exteriorität«. »Jenseits des Antlitzes« endlich finden wir den Bereich des Eros und der Familie. Das Eingangskapitel unter dem Titel »Das Selbe und das andere« und das abschließende Kapitel »Schlußfolgerungen« sind als Rahmen der eigentlichen Analysen der Kapitel II bis IV zu verstehen, als Einführung und Zusammenfassung. Wir behandeln im Folgenden die Genese des naiven Seienden in dem Kapitel »Das Leben« (3.2); die beiden Abschnitte »Die Sprache« (3.3) und »Die Politik« (3.4) gelten den beiden Formen der Beziehung zum anderen; »Die Liebe« (3.5) endlich betrifft den Bereich jenseits des Antlitzes.

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3.2 Das Leben

§ 23 Das Ich des Genusses 23.1 Das zentrale Merkmal des Lebens ist die animalische Verschlossenheit des Lebendigen in sich selbst, seine Weltlosigkeit. Wie die Hypostase geht das Lebendige, anders als das Dasein, der Welt voraus. Es hat noch keine Welt im menschlichen Sinne, auf die es sich als das andere beziehen könnte; vielmehr fällt es in seiner Verschlossenheit unmittelbar mit der Totalität zusammen. »Das bloß Lebendige kennt die äußere Welt nicht. Nicht in der Weise eines Nichtwissens, das an das Bekannte angrenzt, sondern in einem unbedingten Nichtwissen; denn es denkt nicht.« 1 Den Bezug zur Welt wird ihm erst das Weibliche und der andere öffnen. Daher unterscheidet Lévinas das bloße Bewußtsein vom Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein ist nicht allein Bewußtsein des Ich, sondern ineins damit »Bewußtsein der Exteriorität« 2 , also des Objektes und der anderen. Das Lebendige dagegen hat zur Totalität kein eigenes Verhältnis, weder des Abstandes noch der Zugehörigkeit, sondern fällt mit ihr zusammen. Das bloß Lebendige ist sich selbst in unreflektierter Weise die Totalität. Im Genuß ist das Ich absolut für sich: »Egoistisch ohne Bezug auf andere – bin ich allein ohne Einsamkeit, unschuldig egoistisch und allein. Kein ›Gegen die anderen‹, kein ›Was mich betrifft‹ – sondern vollständig taub für andere, außerhalb aller Kommunikation und aller Verweigerung von Kommunikation, ohne Ohren wie ein hungriger Bauch.« 3 Daher ist das Lebendige auch ohne Bewußtsein der Endlichkeit. Für den Menschen im vollen Sinne hebt sich seine Endlichkeit von der »Erfahrung« der Unendlichkeit ab. Das bloß Le-

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EN 25/ZU 24. EN 27/ZU 26. TI 107/TU 190. A

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bendige hingegen ist »endlich ohne Unendliches« 4 .Es ist sich selbst genug und glücklich. Nun ist aber das Glück des Lebens nicht ein Zustand, sondern ein Vollzug und zwar das individuierende Prinzip des Lebendigen. Der Genuß ist nicht Prädikat des bestehenden Subjekts, nicht ist »das Ich der Träger des Genusses« 5 . Auch ist der Genuß »kein psychischer Zustand unter anderen, keine affektive Gestimmtheit der empiristischen Psychologie, sondern das eigentliche Erbeben (le frisson même) des Ich« 6 . Er ist derjenige Vollzug des Seins, kraft dessen sich das Seiende konstituiert. »Die Subjektivität nimmt ihren Ursprung in der Unabhängigkeit und in der Herrschaft des Genusses.« 7 Der Bruch mit dem anonymen Sein, den die Genese des lebendigen Seienden vollzieht und kraft dessen sich das Seiende aus dem Sein heraushebt, hat daher nicht mehr die Gestalt der tragischen hypostatischen Position, sondern geschieht als Glück und Genuß. »Im Genuß halten wir uns immer auf der zweiten Stufe« – nicht auf der Stufe des Seins, sondern des über das Sein erhobenen Seienden –, »die indes noch nicht die der Reflexion ist. Denn das Glück, in dem wir uns schon dank der einfachen Tatsache des Lebens bewegen, ist immer jenseits des Seins.« 8 23.2 Das Seiende ist das Lebendige; es hat zum Prinzip seiner Bildung den Genuß. Der Genuß seinerseits, die Grundform des Lebens, wird von Lévinas als transitive Intentionalität beschrieben. »Man lebt sein Leben. Leben ist wie ein transitives Verb, das die Inhalte des Lebens zu Akkusativobjekten hat. Und der Akt des Erlebens dieser Inhalte ist ipso facto Inhalt des Lebens. Die Beziehung mit dem Akkusativobjekt des Verbs ›existieren‹, das (seit den Existenzphilosophen) transitiv geworden ist, ähnelt in Wirklichkeit der Beziehung zur Nahrung; hier liegt eine Beziehung zum Gegenstand und gleichzeitig eine Beziehung zu dieser Beziehung vor, die ihrerseits ebenso das Leben ernährt und erfüllt. Man existiert nicht nur seinen Schmerz und seine Freude, man existiert aus Schmerzen und Freu-

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TI 108/TU 192. TI 91/TU 165. TI 85/TU 156. TI 86/TU 158. TI 86/TU 156.

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§ 23 Das Ich des Genusses

den. Genau diese Weise des Aktes, sich von seiner Aktivität selbst zu ernähren, ist der Genuß.« 9 Hat es die objektivierende Intentionalität mit Dingen, mit Objekten zu tun, so bewegt sich die transitive Intentionalität des Genusses im »Elementalen« 10 . »Die seinem Wesen angemessene Beziehung entdeckt [der Genuß] gerade als Milieu: Man badet in ihm. Im Verhältnis zum Elementalen bin ich immer innen.« 11 . Als das ganz Grenzenlose ist das Elementale kein Ding, sondern reine Qualität. »Die reine Qualität hängt sich an keine Substanz, die sie tragen« 12 würde. Lévinas nennt sie auch das »Apeiron, das vom Unendlichen verschieden ist« 13 , »undurchsichtige Dichte ohne Ursprung, schlechtes Unendliches oder Endloses« 14 . Die Unverfügbarkeit des Elementalen hindert nicht den Genuß; aber das genießende Ich übt auch keine Herrschaft über das Elementale aus: Es bleibt von ihm abhängig. Der Genuß ist eine Abhängigkeit in der Unabhängigkeit oder umgekehrt, »inmitten der Kontinuität [des grenzenlosen Seins] die Unabhängigkeit von der Kontinuität« 15 . Diese Zweideutigkeit macht die Leiblichkeit des Subjekts aus. Im Leib zeigt sich die Einheit beider Momente: Freiheit und Abhängigkeit. »Leib sein, das heißt einerseits, sich halten, Herr seiner selbst sein, und andererseits, sich auf der Erde halten, im anderen sein und dadurch mit seinem Leib belastet sein.« 16 .

TI 83/TU 153 f. TI 104/TU 185. 11 TI 104/TU 185 f. 12 TI 105/TU 186. 13 TI 115/TU 201. 14 TI 132/TU 228. Wir sehen hier, wie der Begriff des Il y a sich differenziert. In EE/VS ist das Es-gibt identisch mit der frei flottierenden Qualität und wird beschrieben als das »Entsetzen« der Nacht (»horreur de la nuit«, EE 102/VS 75). Inzwischen aber hat sich seine Bedeutung verschoben. Der Akzent liegt auf dem Genuß als erster Form der Identifikation und des Widerstandes gegen das bloße Sein. Zwar heißt es noch immer: »Gegen das anonyme Es-gibt, das Grauen, Erzittern und Schwindel ist, das das Ich, das nicht mit sich eins ist, erschüttert, bestätigt das Ich des Genusses das Ich …« (TI 117/TU 204). Nun aber ist es der Genuß, der sich in der objektlosen Empfindung bewegt, in einer vorgegenständlichen Sinnlichkeit, die zuvor mit dem Il y a identisch war. Dies ist nur der erste Schritt einer Uminterpretation. Am Ende wird sich der Bereich der vorgegenständlichen Sinnlichkeit aus der Nacht des Grauens und des Schwindels in die diachrone Erfahrung des anderen verwandelt haben. 15 TI 86/TU 157. 16 TI 138/TU 237. 9

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23.3 Der Genuß, wie Lévinas, ihn hier darstellt, wird dem konkreten Leben, dessen erste Stufe er ist, nicht gerecht. Die bisherige Beschreibung gibt »kein Bild vom konkreten Menschen. In Wirklichkeit hat der Mensch schon die Idee des Unendlichen, d. h. er lebt in Gesellschaft und stellt sich die Dinge vor.« 17 Anderseits bleibt der Genuß nicht nur die alles umfassende Grundform des menschlichen Lebens, auf der die anderen aufbauen, sondern bietet dem Menschen die beständige Möglichkeit, zu ihm zurückzukehren. Die Grundform des menschlichen Lebens ist nicht das Ich denke, sondern das ›leben von …‹. »Der Genuß ist das äußerste Bewußtsein aller Inhalte, die mein Leben erfüllen – er umfaßt sie alle.« 18 Lévinas wendet sich damit gegen die Husserlsche These vom Primat der objektivierenden Intentionalität: Er erkennt nicht nur neben der Intentionalität des »Ich denke« eine zweite nicht-objektivierende Intentionalität; vielmehr hat diese auch entgegen Husserls Auffassung den Vorrang vor jener. Auf seinem Grunde ist alles Bewußtsein zunächst nicht vorstellend, sondern nicht-objektivierende Intentionalität. Diese Präsenz des Sinnlichen unterhalb der Ebene der Vorstellung kann nun auch für den Menschen Anlaß werden, in dem Sinnlichen die Orientierung für das Leben überhaupt zu suchen. Das konkrete Leben kann sich aus der distanzierten Vorstellung der Gegenstände auf das Moment des Genusses an ihnen legen und ist dann – auch auf der Ebene fortgeschrittener Kultur – sinnlich genießendes oder ästhetisierendes Leben. »Die ästhetische Orientierung, die der Mensch dem Gesamt seiner Welt gibt, stellt auf einer höheren Ebene eine Rückkehr zum Genuß und zum Elementalen dar. Die Welt der Dinge verlangt nach der Kunst; hier wandelt sich der intellektuelle Zugang zum Sein in Genuß, hier ist das Unendliche der Idee im endlichen aber genügenden Bild Idol. Alle Kunst ist plastisch. Die Werkzeuge und die Gebrauchsgegenstände, die selbst den Genuß voraussetzen, bieten sich ihrerseits dem Genuß. Sie sind Spielzeuge: das schöne Feuerzeug, das schöne Auto. Sie schmücken sich mit dekorativen Künsten, sie tauchen ein ins Schöne, in dem alles, was über den Genuß hinausgeht, zum Genuß zurückkehrt.« 19

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TI 112/TU 198. TI 83/TU 154. TI 114/TU 200.

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§ 24 Arbeit und Besitz; das Weibliche

§ 24 Arbeit und Besitz; das Weibliche 24.1 Wie vollzieht sich der Übergang von der Unmittelbarkeit des Genusses zur Distanz der Vorstellung? Diesen Übergang ermöglicht die Zweideutigkeit des Lebens. Es ist verschlossen und in sich genügsam, aber doch abhängig, weil das Elementale nicht verfügbar ist. Der Entzug der Nahrung öffnet das Lebendige für die Welt und das Denken. Dinge sind verfügbar, das Element nicht. Das Elementale hat keinen Bestand; es »gibt sich, indem es sich entzieht« 20 . Indem sich das unberechenbare Element entzieht, bringt es das Lebendige in Not. Insbesondere aber erfährt das Lebendige im Entzug des Genusses seine eigene Subjektivität. Der Genuß wird gestört, wenn die Erwartung des Genießenden enttäuscht wird. Dann treten die elementale Realität und die subjektive Begierde auseinander und beweisen ihre Heterogeneität. Die Begierde zeigt sich als etwas Subjektives, dem keine Realität entspricht. Das Ich erfährt sich selbst als etwas »bloß Innerliches«, Subjektives. »Die Ungewißheiten der Zukunft«, schreibt Lévinas, »die den Genuß verderben, erinnern den Genuß daran, daß seine Unabhängigkeit eine Abhängigkeit impliziert. Dem Glück gelingt es nicht, diesen Riß in seiner Herrschaft zu verheimlichen – die Herrschaft verrät sich als bloß ›subjektiv‹ ›seelisch‹ und bloß innerlich.« 21 Der Einbruch des anonymen Es-gibt erregt daher »Grauen, Zittern, Schwindel« 22 . Die Erfahrung des Es-gibt ist die Krise und der Schwindel, die das Subjekt zu sich selbst erwecken. Dieser Bedrohung kann das Subjekt auf zwei Weisen begegnen: Es kann den Bruch auf mythisch-magische Weise heilen oder es kann das Elementale kraft der Arbeit unter seine Herrschaft zwingen. Das eine nennt Lévinas Heidentum, das andere Ökonomie. 24.2 Die Begegnung mit dem Es-gibt und die Erfahrung der eigenen ohnmächtigen Innerlichkeit heben die selbstverständliche Geltung der Verhaltensweisen, die das naive Leben lenken, auf. Das Ich, dem schwindelt, erfährt seine Abhängigkeit von einem anderen, dem Sinnlichen, und stattet es mit göttlichen Kräften aus. Der Gehorsam gegen dieses Göttliche scheint ihm geeignet, den Bruch zwischen 20 21 22

TI 115/TU 201. TI 117/TU 204 f. TI 117/TU 204. A

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III. Die ethische Transzendenz · Das Leben

dem Subjekt und dem Elementalen zu hellen. Die Ungewißheit und »Zukunft des Elements wird konkret gelebt als mythische Gottheit des Elements. Götter ohne Antlitz, unpersönliche Götter, mit denen man nicht spricht.« 23 Das Leben in der Abhängigkeit von den heidnischen Mächten wird zur »mystischen Beziehung«; die Rede dient der »Beschwörung«; die »Arbeit« wird ersetzt durch »Ritus und Liturgie« 24 . Indem die Natur mit göttlichen Kräften ausgestattet wird und der Mensch in ihr das Heilige (le sacré) verehrt, entsteht die Idee einer natürlichen Religion – »natürlich« sofern sie einerseits zur vermeintlichen Natur des Menschen gehört und zugleich die Verehrung der Natur zum Gegenstand hat. Aber: »Es gibt keine natürliche Religion.« 25 Gehörte die Religion zur Natur des Menschen wie ein Bedürfnis, dann wäre sie nicht mehr die Erfahrung des absolut anderen, sondern nur die eines notwendigen Komplements. Die unbedingte Andersheit aber besitzt die Natur im materiellen Verstand gerade nicht, weil sie sich als ohnmächtig erweist gegenüber der menschlichen Arbeit. 24.3 Das Ich kann aber auch die Zeitspanne, die ihm die Eröffnung der Zukunft einräumt, benutzen, um arbeitend der Sorge um den nächsten Tag zu begegnen. »Die Sorge um das Danach ist der Aufschein des ursprünglichen Phänomens der wesentlich unsicheren Zukunft der Sinnlichkeit. Wenn diese Zukunft in ihrer Bedeutung als Vertagung und Frist sichtbar werden soll …, so muß das getrennte Seiende sich sammeln und Vorstellungen haben können. Die Sammlung und die Vorstellung ereignen sich konkret als Wohnen in einer Bleibe oder in einem Haus.« 26 Die Begriffe des Bleibens und des Wohnens, der Sammlung, der Arbeit und des Besitzes kennzeichnen eine neue Stufe der Entwicklung der Menschheit. Der Mensch hört auf, im Augenblick zu leben, um statt dessen die Zeit zu nutzen und kraft der Planung sein Leben auf Dauer zu sichern. Die Sicherung des Lebens verlangt Arbeit und Verzicht auf unmittelbare Befriedigung zugunsten der Vorratshaltung; sie verlangt ein Minimum an Organisation, Vorausschau, und somit auch eine größere Stabilität der Verhältnisse, als es das umherschweifende, aber gerade darum abhängige 23 24 25 26

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TI 115/TU 202. TI 177/TU 291. TI 33, 89/TU 81, 163. TI 124/TU 215.

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§ 24 Arbeit und Besitz; das Weibliche

Leben bietet. Diese Stabilität bietet der Oikos, das Haus, oder das Anwesen, die ousia. Das Haus wiederum setzt Landnahme, Seßhaftigkeit und Bodenbearbeitung voraus. 24.4 Die Arbeit ist der Tod der heidnischen Götter. Sie hat zwar manches mit dem Kult gemein. Der wesentliche Unterschied aber liegt darin, daß der magische Kult die Unterwerfung des Lebendigen unter die göttlichen Mächte verlangt, die Arbeit hingegen den magischen Zauber bricht. Der Arbeiter steht auf gegen die heidnischen Götter. Wie »Prometheus, der vom Himmel das Feuer stahl« 27 , ist der Arbeiter unfromm und ein Bilderstürmer. Sofern der Paganismus in der sinnlichen Materie selbst das Göttliche sucht, ist er materialistisch. 28 Die Arbeit führt den Beweis der Substanzlosigkeit der sinnlichen Materie; die Materie ist an sich selbst »namenlos« 29 , anonym; ihre Unendlichkeit ist nur die »Unendlichkeit ihres Nichts« 30 . Dem Sinnlichen auf dieser Stufe kommt es nicht zu, positive Unendlichkeit zu sein. Es ist nur end- und grenzenlos, »schlechtes Unendliches oder Indefinites … Apeiron« 31 . Daher besteht auch zwischen der Arbeit als Wirken im Sinnlichen und dem Denken als Idee des Unendlichen ein unüberbrückbarer Unterschied: »Der Zugriff auf das Endlose in der Arbeit hat keine Ähnlichkeit mit der Idee des Unendlichen.« 32 Aus demselben Grunde kann auch die Arbeit »nicht Gewalt heißen. Sie wird auf das angewandt, was kein Antlitz hat, auf den Widerstand des Nichts … Sie greift nur das Gesichtslose der heidnischen Götter an, deren Nichtigkeit sie von nun an offenkundig macht.« 33 Die Materie als Material der Arbeit hat nicht in sich selbst das Maß und das Wesen, sondern empfängt sie vom arbeitenden Menschen. Weil das sinnliche Material nicht Substanz ist und kein eigenes Selbstsein hat, kann es schließlich zu Ware und Geld werden. Indem es nur noch Ware ist, tritt am Sinnlichen vollends die bloße Phänomenalität hervor 34. TI 134/TU 230. Vgl. dazu Lévinas’ Urteil über Heidegger TI 17,275/TU 56, 433, und DEHH 171/SpA 195. 29 TI 134/TU 230. 30 TI 134/TU 230. 31 TI 132/TU 228. 32 TI 133/TU 229. 33 TI 134/TU 230. 34 TI 136/TU 234. 27 28

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24.5 Die Nichtigkeit des Sinnlichen bedeutet nicht, daß ihm für die Beziehung des Menschen zu Gott oder zum anderen Menschen keine Bedeutung zukäme. Vielmehr ist das Sinnliche dasjenige, das gegeben und empfangen wird. Der gibt und der empfängt, sind dem Sinnlichen transzendent. Der empfängt, ist das Subjekt, das sich in die Innerlichkeit des Hauses zurückgezogen hat und von hier aus seine Herrschaft ausübt. Aber was empfangen wird, ist die Gabe eines anderen, der im Empfang vorausgesetzt wird. Dieser Empfang geschieht als Konstitution der Welt in der Arbeit. In der Arbeit wird die Welt angeeignet und zugleich entmythisiert. In der Arbeit erweist sich die Welt aber auch in ihrer Vertrautheit und Konvenienz. »Diese Vertrautheit ist nicht nur das Resultat von Gewohnheiten« 35 , sondern setzt die Nähe zu einem anderen voraus, dem die Vertrautheit zu verdanken ist, der sich aber schon zurückgezogen hat. Der andere, »dessen Anwesenheit auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist« 36 , ist das Weibliche. »Diese Gleichzeitigkeit [von Anwesenheit und Abwesenheit] ist nicht eine abstrakte Konstruktion der Dialektik, sondern das eigentliche Wesen der Diskretion. Und der andere, dessen Anwesenheit auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist … ist die Frau.« 37 Das Weibliche wird somit zum Gegenbegriff des Mythischen. Es unterscheidet sich von diesem gerade dadurch, daß es die Dinge nicht mit magischer Macht besetzt hält, sondern für den Menschen freiläßt und zur Verfügung stellt. Das Weibliche gibt, indem es sich zurückzieht. Sein Rückzug ist der Grund für die Säkularisierung der Welt. Erst in der säkularisierten Welt ist der Mensch aus der Unmittelbarkeit des sinnlichen Genusses entlassen. Erst hier steht er wahrhaft auf sich selbst, indem er ein bleibendes Ich ausbildet, das hinter die Vielfalt seiner sinnlichen Bezüge zurücktritt. 24.6 Arbeit und Besitz, die Konstitution der Dinge und die Eroberung der Welt, werden in »Totalität und Unendlichkeit« nicht als Usurpation, Imperialismus oder Gewalt beschrieben. Den Raum, den sie einnehmen, hat ihnen das Unendliche zur Verfügung gestellt. In Arbeit und Besitz vollzieht sich die Übernahme eines Raumes, aus dem Gott sich zurückgezogen hat, um dem getrennten Seienden und 35 36 37

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TI 128/TU 221. TI 128/TU 222. TI 128/TU 222.

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§ 24 Arbeit und Besitz; das Weibliche

seiner Welt einen Platz einzuräumen. Daher stehen die menschliche Arbeit und die Besitznahme der Welt, die die Diskretion des Weiblichen voraussetzen, unter dem Titel der contractio Dei. Wenn der Mensch wahrhaft autonom und nicht nur zum Scheine ein unabhängiges Subjekt sein soll, so darf das Göttliche und Unbedingte, das Unendliche, nicht als Totalität existieren. Das Ich kann nur darum ein getrenntes und autonomes Leben führen, weil sich das Absolute zuvor zurückgezogen hat. In Wahrheit also entsteht das Subjekt nicht so sehr aus eigner Kraft und weil es von sich ausgeht, sondern weil es dazu freigesetzt ist, von sich auszugehen. Gott schafft den Menschen nicht dadurch, daß er einen Klumpen Erde formt und ihm Leben einhaucht, sondern dadurch, daß er sich selbst beschränkt. »Das Unendliche ereignet sich, indem es in einer Kontraktion auf die Ausbreitung zu einer Totalität verzichtet und damit dem getrennten Seienden einen Platz läßt … Ein Unendliches, das sich nicht kreisförmig mit sich zusammenschließt, sondern sich aus dem ontologischen Raum zurückzieht, um einem getrennten Seienden Platz zu lassen, existiert göttlich.« 38 Dieser Gedanke einer contractio Dei weist zurück auf die Mystik des Isaak Luria. 39 Für Lévinas erklärt sich damit auch das Nichts im Begriff der Schöpfung aus Nichts. »Die große Kraft der Idee der Schöpfung, wie sie der Monotheismus hervorgebracht hat, besteht darin, daß diese Schöpfung ex nihilo ist; nicht weil dies ein wunderbareres Werk darstellt als die demiurgische Gestaltung der Materie, sondern weil dadurch das Seiende, das getrennt und geschaffen ist, nicht bloß aus dem Vater hervorgegangen, sondern ihm gegenüber ein absolut anderer ist.« 40 Es ist der Schöpfer selbst, der den Zusammenhang zwischen sich und dem Geschöpf zerreißt. Der Gedanke einer Schöpfung aus dem Nichts stellt »die vorgängige Gemeinschaft aller Dinge im Schoß der Ewigkeit in Frage« 41 . Die Idee der Schöpfung kraft einer Kontraktion Gottes einerseits und die Theorie der Diskretion des Weiblichen anderseits konvergieren; sie entsprechen einem Muster, das sich bei Lévinas noch einmal

38 39 40 41

TI 77/TU 148. Vgl. oben § 13 (13.2). TI 35/TU 84. TI 269/TU 424. A

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als die ethische Beziehung zum anderen wiederholt; denn der andere hat nur Platz, wenn das Subjekt sich aus der Welt zurückzieht. Nun ist das Subjekt nicht mit einem Schlag vollendet; vielmehr vollzieht sich seine Genese in mehreren Schüben: als Befreiung aus dem Sein ohne Seiendes, als Konstitution des Hauses, als Transzendenz zum anderen. Dabei kommt eine Schöpfung aus dem Nichts nur für die beiden ersten Phasen in Betracht. Lévinas läßt uns aber im Unklaren darüber, welche Phase er genau meint. Das legt den Gedanken nahe, daß die Kontraktion Gottes in verschiedenen Gestalten stattfindet: zunächst als Konstitution des Lebendigen, sodann in der Gestalt der Diskretion des Weiblichen. Ob freilich das diskrete Weibliche und der sich zurückziehende Gott miteinander identisch oder zwei verschiedene Instanzen sind, bleibt offen.

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3.3 Die Sprache

3.3.1 Die Sprache berhaupt § 25 Der Begriff der Sprache 25.1 Subjekt und Objekt, der Mensch und seine Welt, soweit man bisher schon von Welt sprechen kann, bilden ein Ganzes. Das andere ist zwar an das Lebendige herangetreten, aber nur als das dingliche andere oder die Materie. Die Krise, in die das Subjekt durch die Erfahrung der Andersheit der elementalen Materie geraten ist, hat es gemeistert, indem es sich das andere angeeignet und in Besitz genommen hat. Genuß und Arbeit sind die beiden Stufen, über die das Seiende seine Selbständigkeit errungen hat. Die Arbeit hat die Natur entmythologisiert; nun steht sie dem Menschen zur Verfügung. Der Mensch schaut voraus, plant, nimmt die Zukunft vorweg; er läßt die Dinge nicht mehr unmittelbar auf sich zukommen, sondern hat sich in das Haus zurückgezogen; von hier aus übt er seine Herrschaft. Das Haus und die Innerlichkeit schaffen den Abstand vom unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit. Dieser Abstand, der die Herrschaft über die Wirklichkeit begründet, vollendet die Trennung aus dem Sein. Das Leben, in dem alle Bedürfnisse befriedigt werden und das sich in sich selbst rundet, nennt Lévinas die Ökonomie. Der Ausdruck hat hier noch die alte Bedeutung, die er bei den Griechen hatte: Gesetz (nomos) des Hauses (oikos). Dabei kann »Haus« hier ebenso als genitivus subiectivus wie als genitivus obiectivus genommen werden. An dieses selbstgenügsame Subjekt tritt nun abermals ein anderes heran. Zwar befriedigt die Welt alle Bedürfnisse, aber das Begehren des Subjekts geht über sie hinaus: Der Mensch begehrt das andere. Der Gedanke eines anderen ist es, der die Welt infrage stellt. Dieses andere zeigt sich in Gestalt des anderen Menschen. Der andere Mensch ist nicht endlich und beherrschbar wie die Dinge, sondern entzieht sich unendlich. Das Verhältnis zu ihm ist die Ethik. Der A

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ethische Anspruch hat nicht die Gestalt objektiver Regeln oder Vorschriften, die das Miteinander organisieren und denen sich die Subjekte zu unterwerfen hätten. Vielmehr realisiert sich die Ethik in der Unmittelbarkeit des Anspruchs, mit dem der andere auftritt. Diese unmittelbare Beziehung ist die Sprache. Die Lévinas’sche Konzeption der Ethik verlangt daher vor allem eine nähere Bestimmung der Sprache. 25.2 Wie die Ethik, so steht auch die Sprache nicht von Anfang an im Zentrum von Lévinas’ Interesse. In »Die Zeit und der andere« schreibt Lévinas der Sprache nur eine sekundäre Bedeutung zu. Sie stellt nicht die ursprüngliche Beziehung zum anderen dar, sondern bildet eine nachgeordnete Stufe 1. Wenn auch im Ausdruck (expression) eine Transzendenz liegt, so handelt es sich doch nur um ein »räumliches Transzendieren oder [ein Transzendieren] des Ausdrucks, die [beide] auf das Licht zugehen« 2 , also grundsätzlich den Charakter der Vergegenständlichung haben. Die Sprache tritt erstmals in den Vordergrund in dem Aufsatz »Ist die Ontologie fundamental?« 3 . Hier zeigt Lévinas in der Auseinandersetzung mit Heidegger, daß der andere nicht von einem allgemeinen Seins- und Weltverständnis her zugänglich ist, sondern daß angesichts des anderen das Verstehen immer zugleich ein Ansprechen und Sprechen ist, in dem der andere in seiner Partikularität auftritt. Den zweiten Schritt in der Analyse der Sprache tut Lévinas in dem Aufsatz »Liberté et commandement« 4 . Er entwickelt dort den Gedanken einer Sprache, die der Sprache im alltäglichen Sinne, einer Vernunft, die der Vernunft im gewöhnlichen Verstand vorausgeht. 5 Damit gewinnt Lévinas seinen eigenen Sprachbegriff: nämlich den der Sprache als Zugang zum anderen im Unterschied zur Sprache als Bestimmung des Gegenstandes. In »Le moi et la totalité« 6 schließlich wird der Ursprung der Sprache als ein Ereignis betrachtet, das alle natürlichen Bezüge in Frage stellt und gegenüber dem natürlichen Leben eine wahrhafte 1 2 3 4 5 6

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TA 74/ZA 54. TA 79/ZA 57 f. EN 13 ff./SpA 103 ff. Vgl. LC, 27–48. LC 36: »raison avant la raison«, LC 37: »discours avant le discours«. EN 25 ff./ZU 24 ff.

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§ 25 Der Begriff der Sprache

Konversion bedeutet. Sprechen ist ein ethisches Geschehen. Die Sprache als Anruf und Anspruch des anderen stellt das Subjekt in Frage und führt zu einer Neuorientierung des Lebens. Indem das Subjekt diesem Anspruch nachkommt und die Welt mit dem anderen teilt, entsteht Sprache als System objektiver Bestimmungen. Waren die Objekte bisher auf das Subjekt, an dem die Welt ihren Mittelpunkt hatte, ausgerichtet, so löst sich nun das Subjekt von ihnen und bietet sie dem anderen an: Aus der zentripetalen Bewegung des Lebendigen 7 wird die zentrifugale Bewegung des Ethischen. 25.3 Das bedeutet, daß die Sprache als Objektivation und Verallgemeinerung auf einen ethischen Impuls zurückgeführt wird. Das ethische Verhältnis ist nicht bloß immateriell. Es konkretisiert sich darin, daß die Welt objektiv, d. h. intersubjektiv wird. Die Welt wird gemeinsame, geteilte Welt, sie wird Gegenstand der Mitteilung. Auf der Grundlage der ethischen Beziehung kann ein System intersubjektiver Vermittlung entstehen, eine allgemeinverbindliche und kohärente Sprache, Sprache als System und Totalität. Der Sinn der gegenständlichen Sprache oder der Sprache als System der Vernunft ist die konkrete Verständigung über Sachen. Die Sprecher bleiben der Totalität transzendent. Die Sprache ist zwar der Logos, die Laut gewordene Vernunft, aber nicht in der Weise, wie der Idealismus meint. »Für den Idealismus stellt das Intelligible ein System idealer kohärenter Beziehungen dar.« 8 Für das Subjekt kommt es darauf an, die idealen Beziehungen, die Gesetze, einzusehen und sein Leben ihnen unterzuordnen. Die Vernunft bildet ein Apriori. »Im System [der Vernunft] spielen wir die Rolle von Momenten und nicht die eines Ursprungs.« 9 Dagegen ist für Lévinas der Logos kein Apriori, kein den Subjekten vorgegebenes ideales System, keine der Pluralität der Subjekte vorhergehende geistige Einheit; vielmehr entspringt die Vernunft erst der Notwendigkeit der Kommunikation und Vereinheitlichung. Die ethische Beziehung schafft sich erst ihr Medium: den Logos und die Sprache. Der Mensch erfindet die Sprache als die Brücke zwischen dem Selben und dem anderen. Damit vollzieht Lévinas für sich das, was man in der Philosophie 7 8 9

TI 150/TU 254. TI 191–2/TU 313. TI 192/TU 314. A

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allgemein the linguistic turn genannt hat. Die Sprache ist nicht Ausdruck einer an sich bestehenden materiellen oder geistigen Welt, sondern umgekehrt: Die Sprache ist die Grundlage für die Ordnung der materiellen Welt und der Quell für eine geistige Welt von Bedeutungen. 25.4 Dennoch ist die Stoßrichtung seiner Sprachphilosophie eine ganz andere als die der zeitgenössischen Philosophie nach der linguistischen Wende. Sowohl die Sprachpragmatik als auch die philosophische Hermeneutik setzen in gewisser Weise die Tradition der Transzendentalphilosophie fort. In Deutschland war es ein Neukantianer, nämlich E. Cassirer, der mit der »Philosophie der symbolischen Formen« als erster diese Wende vollzogen hat. An die Stelle des kantischen Systems apriorischer Begriffe und Anschauungen tritt die Sprache, entweder als Apriori der Kommunikationsgemeinschaft oder in der Form der jeweiligen historischen Sprache. In der Sprache fassen wir die Prinzipien der Welt- und Ichkonstitution. Die Sprache bildet ein den Subjekten vorgegebenes System. Nach Lévinas’ Auffassung greift diese Beschreibung zu kurz. Er sucht zum Ursprung der Sprache zu gelangen, wo sie weder Apriori noch System ist. Lévinas unterscheidet zwischen dem Anruf oder dem Anspruch des anderen, der damit überhaupt erst so etwas wie einen Sprachraum oder einen »Begriffsraum« öffnet, und der Sprache als ausgebildetem syntaktisch-semantischem System. Das System mag sich zur Totalität zusammenschließen; das hindert nicht, daß Sprecher und Hörer außerhalb des Systems bleiben. Sie sind nicht dem System untergeordnet, sondern das System wird von ihnen hervorgebracht. Wo die Individuen dem System untergeordnet werden, wo eine universale Vernunft sich alle Bezüge der Individuen untereinander unterwirft, da versiegt das ursprüngliche Sprechen. Eben darum ist die Sprache auch kein Apriori, in keinem Sinne. Zunächst hebt die Sprache die Transzendenz oder die Exteriorität des anderen nicht auf. Wäre die Beziehung zum anderen ein Apriori, dann würde sie zum Wesen des Subjekts gehören und der andere seine Andersheit verlieren. Statt dessen ist die Begegnung mit dem anderen ein radikal »empirisches« Ereignis 10. Was die objektivierende Sprache, die Sprache als System, angeht, so hat sie die Tendenz, sich zu einer Totalität zusammen10

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Lévinas spricht von einem »radikalen Empirismus«: TI 170/TU 280.

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§ 25 Der Begriff der Sprache

zuschließen und als solche auch dem Selben und dem anderen die Regel vorzuschreiben. Aber ein solches Apriori, dem sich die Menschen unterstellen, bleibt immer nur ein Apriori auf Abruf, solange die grundsätzliche Transzendenz der Subjekte erhalten bleibt. Daher kommt alles darauf an, die Totalität der objektiven und kohärenten Sprache beständig auf ihr Jenseits, nämlich den ethischen Sinn, die ethische Differenz zum anderen, zurückzubeziehen. Die Sprache als System von Bedeutungen ist der Sprache als Begegnung mit dem anderen nachgeordnet. »Was man sagt, der kommunizierte Inhalt, ist nur möglich dank des Verhältnisses von Angesicht zu Angesicht.« 11 Dieser Punkt bildet ein wichtiges Stück der Erörterungen in »Totalität und Unendlichkeit«. »Man kann«, schreibt Lévinas im Vorwort, »von der Erfahrung der Totalität auf eine Situation zurückgehen, in der die Totalität zerbricht, während diese Situation die Totalität selbst bedingt.« 12 Man muß auf die Erfahrung des Antlitzes zurückgehen. An anderer Stelle sagt Lévinas über das Buch »Totalität und Unendlichkeit«: »Die Unterscheidung der Objektivität und der Transzendenz wird als allgemeiner Index für alle Analysen dieser Arbeit dienen.« 13 In Termini der Sprache ausgedrückt besagt das: Es gibt eine objektive Sprache und eine den Sprachraum überhaupt erst eröffnende Begegnung mit dem anderen. Letztere nennt Lévinas auch eine Sprache vor der Sprache. 25.5 Von zentraler Bedeutung ist endlich das Verhältnis von Sprache und Zeit. Ohne eine Erklärung darüber bleibt nämlich die Gliederung des Abschnittes III mit den Kapiteln B und C, denen eine zentrale Bedeutung zukommt, undurchsichtig. Lévinas nämlich begreift die wachsende Distanz des Subjekts zur Welt und zu den Dingen als Zeit. So heißt es: »Ein Seiendes hat sich von der Welt losgemacht, obwohl es sich von ihr nährt. Der Teil des Seins, der sich von dem Ganzen, in dem es verwurzelt war, losgemacht hat, verfügt über sein Sein, und hinfort ist sein Bezug zur Welt nur Bedürfnis … Es hat Abstand. Dieser Abstand kann sich in Zeit verwandeln … und dem befreiten aber bedürftigen Seienden eine Welt unterordnen.« 14 Dieser Abstand vollendet sich in der Sprache, in der Beziehung 11 12 13 14

DL 21/SF 17. TI XIII/TU 25. TI 20/TU 61; Hervorhebung bei Lévinas. TI 188–9/TU 161–2. A

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zum anderen: »… die Zeit setzt die Beziehung zu einem anderen voraus … die Beziehung zu dem anderen Menschen, zum Unendlichen, die Metaphysik.« 15 In eben diesem Sinne wird auch der Abstand zur eigenen Existenz, der Abstand zum Leib, als Zeit angesprochen. »Das Bewußtsein fällt nicht in einen Leib – es wird nicht verleiblicht; es ist eine Entleiblichung – oder genauer: ein Aufschub der Leiblichkeit des Leibes …« 16 Der Entstehung dieses Abstandes, der Zeit ist, ist das Kapitel »B: Antlitz und Ethik« gewidmet. Daraus folgt aber auch die umgekehrte These, daß da, wo nicht gesprochen wird, wo Gewalt oder Politik herrschen, die Zeit schwindet. Dieser Sachverhalt wird in Kapitel »C: Die ethische Beziehung und die Zeit« dargelegt. Hier ist zugleich der Ort für die Behandlung der menschlichen Endlichkeit und des Todes. Es sind also vorab zwei Punkte, die der näheren Erklärung bedürfen: erstens die objektivierende Sprache, die das Subjekt über das Sein erhebt, und zweitens die Sprache vor der Sprache als Offenbarung des Antlitzes. Zugleich ergibt sich, daß das natürliche Leben, weil es den anderen noch nicht kennt, keine Sprache hat. Diese drei Punkte: die Sprachlosigkeit des natürlichen Lebens (§ 26) die objektivierende Sprache (§§ 27, 28) sowie die Sprache als unmittelbare Beziehung zum anderen (§§ 29, 30) gilt es nun, im einzelnen zu erörtern.

§ 26 Die Sprachlosigkeit des natrlichen Lebens 26.1 Das natürliche Leben, da es ichzentriert ist, kennt keine Sprache im Lévinas’schen Sinne. Daraus folgt nicht, daß es ohne alle Bedeutung auskäme. Wie sollte das naive Leben bestehen können, wenn es in ihm keine festen Positionen gäbe, wenn es nicht seine eigenen Bedeutungen hätte! Leben als solches ist auf Verweisungen angewiesen und darauf, auch das Abwesende gegenwärtig zu haben. Indem die Dinge aufeinander verweisen, gewinnen sie aus dem KonTI 140/TU 240. TI 140/TU 239; vgl. auch TI 185/TU 303: »Das Bewußtsein des Gegenstandes – die Thematisierung – beruht auf dem Abstand zu sich, der nur Zeit sein kann; oder, wenn man lieber will: Er beruht auf dem Selbstbewußtsein, sofern man den ›Abstand des Selbst zu sich‹ im Selbstbewußtsein als Zeit gelten läßt.«

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§ 26 Die Sprachlosigkeit des natrlichen Lebens

text eine »laterale Bedeutung« 17 . Des weiteren kennt auch das in sich verschlossene sinnliche Leben Differenzen hinsichtlich der Vergegenständlichung der Bedeutung, nämlich den Unterschied von Genuß und Arbeit. Beide gehören dem Leben an, aber auf unterschiedlichen Stufen. Der Genuß gerät in eine Krise, wenn sich das Element als das andere der Verfügung entzieht. Im Entzug der Elemente »scheitert« der Genuß. Das Ich wird sich der Subjektivität der Bedürfnisse und des Entwurfs bewußt. Auf verwandte Weise hat Heidegger in »Sein und Zeit« das Auftreten der Bedeutung erklärt. Das Bewußtsein der Bedeutung und des Verweisungszusammenhanges, in dem das Phänomen der Welt als der ursprünglichen »Bedeutung« sichtbar wird, entsteht »aus einer Hemmung des Gebrauchs« 18 des Zeugs. Das »berühmte Innehalten des Aktes« 19 , das die Spontaneität inhibiert, weil sich das Zuhandene dem Entwurf nicht fügt, stellt Subjekt und Objekt einander gegenüber. Lévinas anerkennt also eine gegenständliche Bedeutung schon auf der Stufe der Arbeit, und das heißt, im Bereich des Lebens. Dennoch sieht er einen wesentlichen Unterschied zwischen der Konstitution der Objektivität in der Arbeit und der Objektivierung der Welt dank der Begegnung mit dem anderen Menschen. »In ihrer ersten Intention ist die Arbeit … Erwerb, … Bewegung auf sich zu. Sie ist keine Transzendenz.« 20 Wenn der natürliche Reichtum der Umwelt erschöpft ist und sie nicht mehr von sich aus zur Verfügung stellt, was zum Erhalt des Lebens gebraucht wird, so daß die Menschen zu Planung und Arbeit übergehen, weiß sich die Spontaneität zwar de facto in Frage gestellt; aber ihren Anspruch auf Selbstbestimmung gibt sie darum nicht auf. Die Vorstellung, die Theorie, der Abstand von den Dingen sind gemäß dieser Auffassung der Umweg, den der Lebenswille gehen muß, um seine Ansprüche letztlich doch, wenn auch nur mittelbar, durchzusetzen. Hier gibt es also Bedeutungen, vielleicht sogar eine Kommunikation unter den gemeinsam Arbeitenden; aber diese Kommunikation ist bestenfalls Abrichtung, Dressur, aber keine Sprache im Sinne Lévinas’. Der Objektivität kraft Arbeit setzt Lévinas die Objektivität kraft TI 165/TU 274. TI 184/TU 302. 19 TI 54/TU 113. 20 TI 133/TU 229; vgl. hierzu besonders TI 54 ff./TU 113 ff., wo Lévinas zwei Formen der Selbstkritik unterscheidet: ein »Bewußtsein des Scheiterns« an den faktischen Widerständen und ein »Bewußtsein der Schuld« vor dem anderen. 17 18

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Intersubjektivität entgegen. »Die hier vorgestellte These besteht darin«, so schreibt Lévinas »radikal Sprache und Aktivität, Ausdruck (expression) und Arbeit zu trennen, unbeschadet des ganzen praktischen Aspekts der Sprache, dessen Bedeutung man nicht hoch genug einschätzen kann.« 21 Aus Lévinas’ Sprachkonzeption folgt des weiteren, daß das einseitige Verstehen nicht dem Sprachverhalten zuzuordnen ist. Den Nachbarn, der im Sommer den Garten umgräbt oder im Winter Holz spaltet, verstehe ich sehr gut. Aber dieses Verstehen gehört nicht in den Bereich der Sprache; ihm fehlt die Gegenseitigkeit. Gewiß manifestiert sich der Mensch in seiner Arbeit und wird so für den anderen verstehbar. Aber die Manifestation des Menschen in seiner Arbeit oder seinem Werk setzt nicht die Sprache voraus. Das gilt natürlich ganz besonders dann, wenn der andere, während er selber abwesend ist, aus seinem Werk erschlossen wird. Gewiß verstehen wir viele Dinge als Zeichen von fremdem menschlichen Leben. Die Zeugnisse früherer Generationen sind wie eine Sprache, in der die Vorfahren zu uns reden. Das Werk ist wie eine Schrift; es schafft uns einen Zugang zum Werker. Indes: »Wir haben ihn wie einen prähistorischen Menschen verstanden, der Beile und Zeichnungen hinterlassen hat, aber keine Worte.« 22 Das Wort unterscheidet sich vom Werk dadurch, daß es sich ausdrücklich und bewußt an den Gesprächspartner wendet. Ferner kann auch die dichterische Sprache nicht als Sprache und Rede im engeren Sinne gelten. Es fehlt dem Poeten der Abstand zu sich selbst und die vollständige Transparenz und Gegenwärtigkeit seines inspirierten Sprechens. »In der Tätigkeit des Dichtens, mag sie auch bewußt sein, tauchen ohne unser Wissen Einflüsse auf, die sie einnebeln und wie ein Rhythmus wiegen; in der dichterischen Tätigkeit wird das Tun durch das Werk selbst, das von ihm hervorgerufen wurde, getragen, hier wird der Künstler, um mit Nietzsche zu sprechen, in dionysischer Weise zum Kunstwerk. Dieser poetischen Tätigkeit ist die Sprache entgegengesetzt … Die Sprache ist Prosa.« 23 Endlich aber gehören nicht einmal Schriften zur Kategorie der Sprache. Zwar sind Schriften verfaßt als Botschaften für Leser; sie 21 22 23

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TI 180/TU 295. TI 156/TU 264. TI 177/TU 292.

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§ 26 Die Sprachlosigkeit des natrlichen Lebens

wenden sich ausdrücklich an den oder die Adressaten. Insofern sind sie mehr als nur Werke. Aber es fehlt ihnen, um Sprache im Sinne des Lévinas von »Totalität und Unendlichkeit« zu sein, die Gleichzeitigkeit von Rede und Hören. Sprache im eigentlichen Sinne ist nur »das Wort eines Lebendigen, das zu einem Lebendigen spricht« 24 . Der »Vorrang des lebendigen Wortes, das bestimmt ist, gehört zu werden – sein Vorrang vor dem schon pittoresken Wort in Gestalt eines Bildes und Zeichens wird ebenso dann deutlich, wenn man den Vorgang des Ausdrucks betrachtet. Sich ausdrücken – heißt das, nur einen Gedanken in einem Zeichen äußern? Dieses Schema wird von den Schriften nahegelegt. Verunstaltete Worte, ›gefrorene Worte‹, die die Sprache schon in Urkunden und Spuren verwandelt! Das lebendige Wort kämpft gegen diesen Umschlag des Denkens in Spuren, es kämpft gegen den Buchstaben; der Buchstabe erscheint, wenn niemand da ist zu hören.« 25 Gewiß, dieser Text stammt schon aus dem Jahre 1949. Aber die Rede vom Kampf des lebendigen Wortes gegen den toten Buchstaben hat auch in »Totalität und Unendlichkeit« noch Geltung; die Gegenwart des lebendigen Wortes besteht darin, daß es sich beständig wiederaufnimmt und erneuert: »Als ob die Gegenwart des Sprechenden die unvermeidliche Bewegung umkehren würde, die das gesprochene Wort in die Vergangenheit des geschriebenen Wortes führt.« 26 Denn: »Die mündliche Rede ist die Fülle der Rede.« 27 26.2 Aus diesem Grunde lehnt Lévinas auch die Sprachtheorie Merleau-Pontys ab. Merleau-Ponty entwickelt seinen Sprachbegriff in der Auseinandersetzung mit dem Behaviourismus einerseits und dem Intellektualismus andererseits. Die Widerlegung des Behaviourismus führt nicht notwendig zur Bejahung des Intellektualismus. Die Sprache als System von Zeichen ist nicht bloß der indifferente HS 220. HS 221. 26 TI 41/TU 93. In einer Diskussion über Lévinas äußert B.-H. Lévy: »Vorrang des Wortes vor der Schrift, und zwar Vorrang umso mehr bestätigt, als das Wort das Antlitz ist, das sind die Augen, das ist der Ausdruck … Und Lévinas kommt dazu, den Vorrang der Schrift zu behaupten … Also habe ich folgende Frage: Gibt es einen Lévinas und dann einen anderen?« (Cahiers I, 128) Ja, es gibt in der Tat zwei Lévinas, und das nicht nur nacheinander, sondern, wie die Zitate, die C. Chalier anführt, belegen, zur selben Zeit (vgl. C. Chalier 1993, Chapître premier: Ontologie du livre). 27 TI 69/TU 136. 24 25

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Ausdruck einer vorgegebenen Vernunft. Vielmehr kommt die Vernunft erst in der sinnlichen Äußerung zu sich selbst. »Merleau-Ponty … hat gezeigt, daß das unleibliche Denken … ein Mythos war. Schon das Denken ist ein Gestalten im System der Zeichen …, um von dieser Operation selbst die Bedeutung zu empfangen. Die Bedeutung überrascht selbst das Denken, das sie gedacht hat.« 28 Für Merleau-Ponty gilt, daß die Vermittlung durch das Zeichen für die Bedeutung konstitutiv ist 29 . Dieser Kritik des Intellektualismus, der äußeres Zeichen und immanente Bedeutung trennt, kann Lévinas zustimmen. Die Bedeutung läßt sich vom Zeichen nicht trennen; erst in der Zeichengebung wird die Bedeutung eines Objektes für uns gegenständlich. Aber die Theorie der Leiblichkeit der Sprache überwindet nicht wahrhaft den Immanentismus, sofern dieser mit der Intentionalität einhergeht; sie zeigt nur, daß es nicht genügt, den Ursprung der Konstitution allein in den theoretischen Vermögen zu suchen, daß sie vielmehr ihren ursprünglichen Ort in dem Geschehen des Leibes hat. Aber, so fragt Lévinas, genügt die Leiblichkeit der Sprache, um die Gegenständlichkeit der Bedeutung zu erklären? Warum kann es nicht bei den in aller »Intentionalität des Leibes« 30 impliziten und unthematischen Bedeutungen bleiben? Gewiß ist für die Gegenständlichkeit der Bedeutung das sinnliche Zeichen oder der leibliche Vollzug die notwendige Bedingung, aber auch die ausreichende? Für Lévinas jedenfalls nicht! Er sieht den Zeichengebrauch im Dienste einer Vergegenständlichung, die durch die Erfahrung des anderen gefordert wird. »Das ursprüngliche Wesen der Sprache« liegt hinter den Zeichen und hinter den durch sie vermittelten konkreten Bedeutungen in dem »ursprünglichen Geschehen des Von-Angesicht-zu-Angesicht« 31 . Der andere als das ursprüngliche Bedeuten »macht die Funktion des Zeichens möglich« 32 und notwendig. Aus der Sicht Lévinas’ ignoriert Merleau-Ponty den qualitativen Unterschied zwischen den gelebten Bedeutungen einerseits und ihrer Objektivierung oder begrifflichen Fassung andererseits. »Der Übergang von der Wahrnehmung zum Begriff« 33 bleibt bei ihm rät28 29 30 31 32 33

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TI 180 f./TU 296 f. TI 181/TU 297. TI 181/TU 296. TI 181/TU 296. TI 181/TU 298. TI 48/TU 104.

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§ 27 Die Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand

selhaft. Es genügt nicht, »der Wahrnehmung eine Intention auf Idealität zuzuschreiben, durch die hindurch sich das einsame Sein des … Subjekts auf die transzendente Welt der Ideen richtet« 34 . Das Leben objektiviert sich nicht von selbst, sondern erst durch den Hinzutritt des anderen: »Die Konzeptualisierung des Sinnlichen … hängt damit zusammen, daß mein Eigentum einem anderen zukommt.« 35

3.3.2 Die vorstellende Sprache § 27 Die Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand 27.1 Die Sprache ist der Empfang des anderen. Sie bricht die Verschlossenheit des Lebendigen auf und setzt es in eine Beziehung mit dem anderen. Erst dank der Sprache wird aus dem Lebendigen wahrhaft das Subjekt, aus dem Bewußtsein das Selbstbewußtsein 36 . Die Beziehung zum anderen verwandelt auch das Verhältnis zur Welt und zu den Dingen. Die Sprache zerlegt sich also in die zwei Aspekte: Beziehung zu den Dingen und Beziehung zum anderen. Indem die Dinge dank des Verhältnisses zum anderen auch in dessen Verfügung eingehen, entziehen sie sich dem Subjekt. Das Subjekt definiert sich nicht mehr durch die Dinge; vielmehr legt sich zwischen es und die Dinge ein Abstand. Es entsteht das Verhältnis Subjekt-Objekt. Die Objektivierung ist ihrem Wesen nach ein Entzug des Seienden. Dank dieses Entzuges wird das Seiende Gegenstand der Vorstellung. Daher ist der erste Schritt in der Untersuchung der Sprache die erneute Analyse der Vorstellung. 27.2 Unter der Vorstellung versteht Lévinas nicht jeden beliebigen Bewußtseinsinhalt. Vielmehr definiert sich die Vorstellung durch den Gegensatz zu dem Weltverhältnis, das Lévinas als Partizipation bezeichnet. In der Partizipation versteht sich der Mensch aus den Dingen und aus seinem Verhältnis zu ihnen. Die Partizipation ist eine ekstatische Seinsweise. Die Vorstellung hingegen befreit den Menschen aus diesem Zusammenhang und macht nun erst aus dem 34 35 36

TI 48/TU 104. TI 48/TU 103. EN 27 ff./ZU 26. A

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Menschen das Subjekt im eigentlichen Sinne. Wie schon in »Vom Sein zum Seienden«, so gilt auch jetzt noch vom Subjekt, daß es das Vermögen des unendlichen Rückzugs ist. Das Subjekt ist dadurch Subjekt, daß es hinter sich zurücktreten kann. Hinter sich treten – das meint, daß das Subjekt nicht nur die Dinge vor sich hat, sondern daß es sich selbst und sein Verhältnis zu den Dingen thematisieren kann. Nur ein Subjekt kann von Vorstellung sprechen. Alle Menschen »stellen vor«; vielleicht könnte man sogar bei Tieren von »Vorstellung« sprechen. Schließlich muß auch der Löwe eine Gazelle von einem Nashorn unterscheiden können. Aber der Löwe kann sein eigenes »Vorstellen« nicht vorstellen. Das Subjekt hingegen stellt nicht nur vor, sondern kann das Vorstellen selbst zum Thema machen, kann das Begreifen begreifen, sich vom Begriff einen Begriff machen. Sofern nach der traditionellen Auffassung das Vorstellen ein seelischer Akt ist, gehört die Thematisierung der Vorstellung in den Bereich der Psychologie im weiten Sinne. So wenig die Tiere Psychologie betreiben, so wenig haben sie eine Ahnung von der Vorstellung. Eine Lebensweise, die diesen Rückzug hinter das eigene Ich noch nicht gemacht hat, die noch zu keinem Bewußtsein der Vorstellung in diesem Sinne gekommen ist, eine Welt, in der die Menschen noch keine Subjekte sind, noch nicht hinter die eigene Existenz getreten sind, eine solche Welt kennt auch nur Dinge oder Wirkliches. Das europäische Denken hingegen kennt nicht nur Dinge, sondern das Denken von Dingen, das Vorstellen, den Begriff. Alle Rede von Denken, Vorstellen, Begreifen, Verstehen, der Gebrauch all dieser Ausdrücke, die sich auf Subjektives beziehen, setzen ein Bewußtsein von dem fundamentalen Hiatus zwischen einem Subjektiven und einem Objektiven voraus. Ohne diese Voraussetzungen bleiben Lévinas’ Ausführungen zur Vorstellung unverständlich. 27.3 Lévinas hat der Vorstellung in »Totalität und Unendlichkeit« zwei Abschnitte gewidmet. Das entspricht der vermittelnden Stellung, die ihr zwischen Leben und Ethik zukommt. Sie ist einerseits der extreme Punkt der Trennung, der auf die Spitze getriebene transzendentale Idealismus, der das Subjekt absolut auf sich selbst stellt, und zugleich der Punkt, an dem die Autonomie in Heteronomie umschlägt. Daher wird die Vorstellung einmal im Zusammenhang mit der Lehre der transzendentalen Konstitution behandelt 37 , also als 37

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»Vorstellung und Konstitution«, TI 95 ff./TU 171 ff.

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Grundstück des Idealismus, und einmal als Vollzug der Gabe und der Entblößung für den anderen 38 . Diese wesentliche Zweideutigkeit der Vorstellung drückt sich auch darin aus, daß die Vorstellung im Rahmen der Gliederung des Werkes »Totalität und Unendlichkeit« die Schwelle bildet, die aus der Welt der Ökonomie zur Exteriorität des anderen geleitet. Die Vorstellung ist einerseits die Realisierung der Autonomie, andererseits aber stehen »die Möglichkeit der Vorstellung sowie die Versuchung zum Idealismus, die daraus entspringt, … bereits auf dem Boden der metaphysischen Beziehung und des Bezugs mit dem absolut anderen« 39 . Es ist nämlich Lévinas’ besondere These, daß der Abstand, den das theoretische oder vorstellende Denken von sich selbst und seinem besonderen Verhältnis zur Wirklichkeit gewinnt, auf den Einfluß des anderen zurückgeht, also in einem ethischen Bezug wurzelt. Folglich nennt Lévinas die autonome Vorstellung, wie sie Grundlage für den Idealismus geworden ist, die »entwurzelte Vorstellung« 40 , im Gegensatz zur Vorstellung im vollen Sinne, die auf den anderen verweist. In diesem Paragraphen geht es um die entwurzelte Vorstellung, also die Vorstellung gemäß der traditionellen Auffassung. 27.4 »Gewiß«, so schreibt Lévinas, »ist die Vorstellung nicht die ursprüngliche Beziehung mit dem Sein. Sie hat aber einen Vorrang; gerade sie bietet die Möglichkeit, sich die Trennung des Ich ins Gedächtnis zu rufen. Und eben darin besteht das unvergängliche Verdienst des ›wunderbaren Volks der Griechen‹ und die eigentliche Stiftung der Philosophie: nämlich an die Stelle der magischen Kommunion der Arten und der Vermischung getrennter Bereiche« – also an die Stelle der Partizipation – »eine spirituelle Beziehung gesetzt zu haben, in der die Seienden an ihrem Platz bleiben, aber untereinander kommunizieren.« 41 Die Philosophie sondert das Subjekt von »Die Freiheit der Vorstellung und das Geben«, TI 142 ff./TU 243 ff. TI 95/TU 171 f. 40 TI 95/TU 172. 41 TI 19/TU 59; Die Rede von der Trennung zielt in zwei Richtungen. Zunächst hebt sich das Seiende als ein bestimmtes aus dem Es-gibt heraus. Es entsteht eine in sich geschlossene und befriedigte Sphäre, die Sphäre des Lebendigen oder die Ökonomie. In einem zweiten Schritt gelangt das Lebendige in eine Beziehung zum anderen. Damit verliert es seine Autonomie zugunsten der ethischen Heteronomie. Aber darum verschmilzt es nicht mit dem anderen, sondern bleibt auch von ihm getrennt. Wollte man beide Richtungen auch terminologisch unterscheiden, so könnte man von einer autonomisierenden und einer ethischen Trennung sprechen. 38 39

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den Objekten und entdeckt zugleich die Spiritualität als die spezifische Seinsweise der Subjekte. Die Philosophie hebt an mit dem Nichtwissen. Sie fragt nach dem Ursprung der Welt und des Seienden überhaupt und nach ihren konstitutiven Elementen. Aber sie tut es nicht in der Weise des Mythos; denn von Anfang an lebt sie in der Unterscheidung des Subjektiven und des Objektiven. Dem Parmenides verheißt die Göttin: »So steht es dir an, alles zu erfahren, einerseits das unerschütterliche Herz der wohl gerundeten Wahrheit und andererseits die Meinung der Sterblichen, in denen keine Verläßlichkeit wohnt.« Damit wiederholt Parmenides eine für die vorsokratische Philosophie zentrale Unterscheidung: die zwischen subjektiver Meinung und wirklichem Wissen. Schon zuvor hatte Xenophanes die menschlichen Vorstellungen vom Göttlichen als anthropomorphe Projektionen angeprangert: »Die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten hellblaue Augen und rote Haare.« 42 Wenn aber jeder die Götter anders vorstellt, was sind sie dann wirklich? Was sind sie an sich selbst? Mit dieser Frage treten das Wissen und der Gegenstand auseinander. Das Sehen, das Ansprechen der Dinge auf der einen Seite, und die Dinge selbst auf der anderen sind nicht dasselbe; sie fallen auseinander. Die Sicht, bisher fest verankert in den Dingen als ihrem Grund, reißt sich los; der Boden weicht zurück ins Unergründliche. Das Wissen ist wie ein schwankendes Boot auf hoher See, ohne Halt und Orientierung. Aber darin wird auch das Denken als eigene Instanz entdeckt, als bloßes Denken, das seine eigenen Gesetze hat, und mit ihm die Sprache. Die Sprache fällt in den Bereich des Subjektiven: Weil die archaische Welt diesen Bereich nicht kennt, kann auch die Sprache nicht in ihrer Eigengesetzlichkeit erkannt werden. Erst die Philosophie entdeckt, daß die Rede über die Wirklichkeit und diese Wirklichkeit selbst verschiedenen Gesetzen folgen. Noch für die Sophisten bilden Sprache und Wirklichkeit eine Einheit. »In diesem Denktyp« – dem archaischen – »gibt es zwischen den Worten und den Dingen keinerlei Abstand.« 43 Erst die radikale Unterscheidung von Subjekt und Objekt macht die Sprache in ihrer Eigenart sichtbar.

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H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd I, fr. 16 (S. 61). M. Detienne, Les maîtres de vérité dans la Grèce antique, 178.

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27.5 Man kann sich die Erschütterung, welche in Gestalt der Entstehung der Philosophie zugleich die Geburtsstunde Europas ist, nicht groß genug vorstellen. Den Menschen und ihrem Leben wird der Boden unter den Füßen weggezogen; ihr Tun und Handeln gerät in ein bodenloses Schwanken und Taumeln, weil sich ihnen das Wirkliche entzogen hat. Der Zustand der beginnenden Philosophie wird beschrieben als ein »Schwindel in der Finsternis« 44 Das gilt für die Antike und wiederholt sich mit Descartes in der Neuzeit. Die Welt wird zum Phänomen, zur »Realität ohne Realität« 45 . Die Wirklichkeit hat ihre Substanzialität verloren. 46 Phänomen heißt bei Lévinas »Manifestation in Abwesenheit des Seins« 47 . »Das Phänomen ist das Sein, das erscheint, aber abwesend bleibt.« 48 Das Sein im vollen Sinne gründet in sich selbst. Es ist selbst, was es ist. In ihm fallen Sein und Erscheinen zusammen. Das Phänomen dagegen hat nur in einem anderen seinen Grund. Sofern es auf etwas anderes verweist, kann Lévinas in Bezug auf die phänomenale Existenz von der »Welt der Zeichen und Symbole« 49 sprechen. Während in der ökonomischen Welt des Genusses die Dinge selbst unmittelbar bedeutsam waren, wird im Zweifel die Bedeutung der Dinge schwankend. Der Zweifel entsteht ja aus dem Bewußtsein, daß man sich eventuell täuscht oder getäuscht wird. Täuschung meint, daß dasselbe Ding unter demselben Gesichtspunkt zugleich so und nicht so erscheint. Da die beiden Erscheinungen sich gegenseitig aufheben, erfährt das Bewußtsein in diesem Widerspruch seine Täuschung. Die einander widersprechenden Erscheinungen des Dings können ihren Grund nicht im Ding selbst haben; denn vom Ding gilt: Es ist eines und widerspruchsfrei. Somit treten in der Täuschung das Ding selbst und seine Erscheinungen auseinander: Das Ding selbst tritt hinter seine mehrdeutigen Erscheinungen zurück. So entsteht die Frage nach dem Sein und nach der Wahrheit. Die Platon, Theaitetos, 155d. Dies ist auch die Stunde der Demokratie. Es gibt keine Autorität mehr, deren Spruch unbedingte Wahrheit verbürgen würde. In dieser Not, da das Handeln nicht ausgesetzt werden kann, tritt die Entscheidung der Mehrheit an die Stelle der Wahrheit. 45 TI 36/TU 86. 46 Lévinas nimmt hier aus dem erotischen Ansatz das Thema der ressemblance wieder auf. 47 TI 153/TU 258. 48 TI 156/TU 263. 49 TI 158/TU 266. 44

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Unterscheidung von Vorstellung oder Denken und Wirklichkeit spiegelt den Entzug der Wirklichkeit und der Wahrheit; er wirft das Leben der Menschen in die Scheinhaftigkeit, er bedroht sie mit der Unwahrhaftigkeit. Die Frage nach dem Sein wird diktiert von dem Bedürfnis, das eigene Leben, das Reden und Tun, wieder an den Dingen zu orientieren, es wieder auf den festen Boden der Wirklichkeit zu stellen und so wieder wahr zu werden. Daher wird die Frage nach dem Sein auch als Frage nach dem Grund gestellt. Gesucht wird der Punkt, der die Gewißheit gibt, daß in ihm Denken und Sein zusammenfallen. Ersehnt wird die Wiederherstellung der alten Einheit, die Erlösung aus Exil und Unwahrheit. Wäre der verlorene Sohn nicht eine christliche Gestalt, so könnte man ihn für den Philosophen halten. Kulturbrüche, der Abriß von Traditionen, die Erschütterung und der Verlust überkommener Lebensformen finden sich in allen Kulturen. Der Einbruch der Philosophie, das Auseinanderbrechen von Subjekt und Objekt, ist eine solche Erschütterung. Was aber diese Erschütterung auszeichnet, ist der Umstand, daß sie nicht nur ein Anfang ist – der Anfang Europas –, sondern daß dieser Anfang fortdauert. Brüche heilen, Entzweiungen finden wieder zur Einheit, politisch und ideologisch. So hat auch der Bruch zwischen Subjekt und Objekt temporäre Lösungen gefunden. Aber er ist nicht nur immer wieder aufgebrochen, sondern immer wieder als die alte griechische Frage nach dem Sein begriffen worden. Die Geschichte Europas ist nicht nur wie jede Geschichte überhaupt eine Geschichte von Brüchen, sondern die wechselnde Geschichte eines einzigen Bruches, immer desselben, nämlich jenes Urbruches zwischen Subjekt und Objekt; sie ist die Geschichte des Kampfes um das Sein und die Wahrheit. Trotz aller Bemühungen vor allem der Herrschenden, die ihre Herrschaft stabilisieren wollten und darum sich gerne als Garanten der Wahrheit gebärdeten, ist doch der Verdacht der Unwahrheit, ist die Frage nach dem Grund und nach dem Sein nicht verstummt und hat als die immer selbe griechische Frage bis heute der europäischen Geschichte ihr besonderes Gepräge gegeben. 27.6 Die Frage nach dem Sein erhält eine erste bleibende Antwort in der Philosophie Platons. Im Zentrum seiner Philosophie steht die Idee. Die Idee ist das Eine, das einer Mannigfaltigkeit vorausliegt. Wir sagen z. B. von vielen räumlich und zeitlich getrennten Handlungen, hier habe jemand tugendhaft gehandelt. Wir geben also 226

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dem mannigfaltigen Verschiedenen einen und denselben Namen. Das tun wir, weil alle Handlungen in einem übereinstimmen: in der Tugend. Dieses Vorausliegende oder Vorausgesetzte ist die Idee, das Allgemeine. Wir können ein Ding nur als ein bestimmtes ansprechen, indem wir eine Idee zugrundelegen. Für alles Erkennen und Verstehen wird eine Idee oder ein Begriff vorausgesetzt. Die entscheidende Entdeckung Platons ist aber nun, daß die Ideen keine sinnlichen Gegenstände sind, keine wirklichen Dinge, wie sie unseren Alltag bevölkern. Die Dinge sind nach Raum und Zeit verschiedene, in Raum und Zeit zerstreut; aber der Begriff ist einer. Er kann einer nur sein, weil er das räumlich und zeitlich Zerstreute zur Einheit zusammenfaßt und daher selbst jenseits von Raum und Zeit steht. Dieser Status macht seine Idealität aus. Die platonische Philosophie teilt also die Welt in zwei Bereiche: den Bereich des mannigfaltigen Sinnlichen und den Bereich der idealen Begriffe. Diese Unterscheidung hat auch heute noch Geltung in Gestalt der Unterscheidung von Bedeutung und Gegenstand. Die Sprache, der Logos, gehört dem Bereich des Idealen an. Zwar verlangt sie für die Kommunikation sinnliche Zeichen; aber diese verweisen nicht auf die Dinge, sondern die Begriffe. Würden die Sprachzeichen unmittelbar auf die Dinge verweisen, dann bedürfte es so vieler Zeichen, wie es Dinge gibt, nämlich einer endlosen Zahl. Aber die Sprache ist nicht nur Teil des Idealen, sondern macht in Gestalt ihrer Bedeutungen den Bereich des Idealen selbst aus. Zugleich erklärt Platon den Bereich des Logos und des Idealen zum wahren Sein. Wissenschaft und Philosophie haben die Erforschung der idealen Formen und Gesetze zum Gegenstand. 27.7 Der Platonismus fällt in der Moderne dem Nominalismus zum Opfer. Er entdeckt, daß die Begriffe und Ideen subjektive Erzeugnisse sind, mit denen wir das Wirkliche für unsere Bedürfnisse ordnen. Statt das Sein in seiner reinsten und unabhängigsten Form darzustellen, erweisen sich die Ideen und Bedeutungen als bloß subjektive Formen der Wirklichkeitsbewältigung. Sie sind das Subjektive, mit dem wir an die Wirklichkeit herantreten, um sie uns faßbar und handhabbar zu machen. Damit wandelt sich aber auch die ganze Systematik. Wo früher eine Hierarchie waltete, die das Ideale dem Sinnlichen überordnete, entsteht nun der Gegensatz von Subjekt und Objekt. Es ist eine ungebührliche Banalisierung, wenn man das Subjekt-Objekt-VerhältA

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nis aus dem Gegenüber zweier Seiender ableitet. Das Subjekt-Objekt-Problem entsteht aus der Einsicht in die Subjektivität der Bedeutungen. Es ist ein Problem, weil das, was bisher als das unverbrüchliche Sein galt, die Ideen, sich nun als eine bloße Produktion, als Konstitution erweist. Was dagegen als Sein in Frage käme, die sinnliche Wirklichkeit, das entzieht sich den Begriffen, schon allein deswegen, weil wir in den Begriffen nur uns selbst spiegeln. Das neuzeitliche Subjekt-Objekt-Problem besteht nicht darin, daß Subjekt und Objekt einander gegenüberstehen und nun die Brücke vom einen zum anderen gesucht wird. Das Problem besteht vielmehr darin, daß die Wirklichkeit hinter den Begriffen verschwunden ist. Unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit sind Erfindungen, die in der Wirklichkeit keine Verankerung mehr haben. 27.8 In dieser Situation schien die Phänomenologie einen Ausweg zu bieten. Zunächst sieht es so aus, als biete sie eine neue Begründung des Realismus, eine Rehabilitation des Gegenstandes. Die Theorie der Sinngebung, wie Husserl sie entwickelt hat, setzt voraus, daß man an der Vorstellung den Vorstellungsakt vom Gegenstand der Vorstellung unterscheidet. »Der Gegenstand der Vorstellung unterscheidet sich vom Akt der Vorstellung – das ist die fundamentale und fruchtbarste These der Phänomenologie, der man sich beeilt, eine realistische Ausdeutung zu geben.« 50 Die Unterscheidung des Gegenstandes vom subjektiven Tun, durch die Husserl zunächst zum Realismus zurückzukehren scheint, hindert aber nicht, daß der Gegenstand der Vorstellung »in gewissem Sinne … im Bewußtsein« 51 bleibt. Das Korrelat der Vorstellung ist für die Phänomenologie das, was Descartes die »klare und deutliche Idee« 52 nennt. Der Gegenstand gewinnt erst vollständige Klarheit durch seine Erhebung in den Bereich der Idealität und Intelligibilität, d. h. aber durch seine Reduktion »auf das Noematische« 53 ; das Noema ist der Gegenstand als Ergebnis einer Sinnstiftung durch das Subjekt. Also kann Lévinas sagen: »Trotz seiner Unabhängigkeit fällt er« – der Gegenstand – »unter die Macht des Denkens.« 54 Folglich lautet die Bestimmung 50 51 52 53 54

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TI 96/TU 172. TI 96/TU 173. TI 96/TU 173. TI 96/TU 173. TI 96/TU 173.

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der von ihren Quellen losgelösten Vorstellung, wie sie der idealistischen Konzeption entspricht: »In der intentionalen Beziehung der Vorstellung ist das Selbe in einer Beziehung mit dem anderen, aber in der Weise, daß in dieser Relation das andere nicht das Selbe bestimmt, daß vielmehr das Selbe immer das andere bestimmt.« 55 Tatsächlich also kehrt die Phänomenologie nicht zum Realismus zurück, sondern sucht das ganze Subjekt-Objekt-Verhältnis im Subjekt, im Ich denke und Ich kann zu verankern. Sie versteht sich selbst als Antipoden zum krassen Realismus, sowohl zum Empirismus als auch zum Ideenrealismus à la Platon. Aber damit wird die Krise des Subjekt-Objekt-Denkens nicht überwunden. Die Subjektivierung aller Bedeutung, ihre Reduktion auf das Ego cogito, hebt den Entzug der Wirklichkeit nicht auf. Die Wirklichkeit wird nicht gesucht als Konstitut des Subjekts, sondern als das von der Subjektivität unabhängige Sein. Gerade einen solchen Zugang bietet die Phänomenologie nicht. Statt dessen schließt sie das Subjekt in seine eigene Welt, in seine eigene Produktion, ein. Daher das Gefühl der Gefangenschaft in einer selbst gemachten und technisch organisierten Welt, das die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert hat. Daher auch die Phänomenalisierung der Welt; denn die selbst gemachte Welt ist nicht die wirkliche Welt. Sie ist bestenfalls ein Bild von Welt, ja nicht einmal das, sondern nur ein eigenes Konstrukt. Insofern scheitert auch Husserls Versuch, der phänomenalen Welt im Ich denke ein Fundament zu geben. Das Cogito wäre dieses Fundament, wenn die Analyse hier an den Punkt käme, an dem Sein und Denken in der Tat zusammenfielen. Aber zu den Einsichten der Philosophie der Existenz gehört die Erfahrung, daß das Denken ein Seinsvollzug ist, der sich immer schon unheilbar vorausliegt. In einer neuen Reflexion kann das Denken sein eigenes Sein denken. Aber hier wiederholt sich nur die Vorgängigkeit des Seins: Immer ist das Sein dem Denken voraus. Die wiederholte Reflexion, der endlose Regreß, beschreibt, so Lévinas, »die Bewegung eines Abstiegs in einen Abgrund, der immer tiefer wird und den wir an anderer Stelle das Es-gibt genannt haben, das über die Affirmation und die Negation hinausliegt« 56 . Gegen Descartes und gegen Husserl bietet das Cogito nicht den Ankerpunkt, den das dahintreibende Subjekt sucht. »Des55 56

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cartes engagiert sich in einem endlosen negativen Tun; dieses Tun ist … das Tun … eines Subjekts, das (obgleich dank der Sinnlichkeit zum Genuß fähig) zu keiner Bejahung in der Lage ist.« 57 Der Zweifel würde erst da zur Ruhe kommen, wo die Bedeutung oder die Erscheinung mit dem Dinge selbst wieder zusammenfiele, wo die Zweideutigkeit der Phänomene im Sein selbst aufgehoben wäre. Dies wäre der Punkt der Bejahung 58 , ein neuer Anfang, ein von sich her Identisches, von dem her das Chaos der Erscheinungen neu geordnet werden könnte. Aber nicht in sich selbst findet das Subjekt diesen Punkt. Es ist der Mangel aller Reflexionsphilosophie, daß sie das Wissen in sich selbst zu gründen sucht. »Gewiß bezeichnet das Cogito den Anfang; denn es ist das Erwachen einer Existenz, die ihre eigene Bedingung ergreift.« 59 Aber der greift daneben, der »das Problem des Grundes mit dem Erkennen der Erkenntnis identifiziert« 60 . Die Erkenntnistheorie vermag den Zweifel nicht zu beruhigen. 27.9 Das Seinsproblem hat aber noch eine ganz andere Richtung als diejenige, die sich im objektiven und subjektiven Idealismus ausprägt. Die Philosophie ist ihrem Wesen nach nicht Wissen, sondern Liebe oder Verlangen nach Wissen: Sie ist Nichtwissen. Nun ist das Nichtwissen ein Mangel; es fehlt ihm nicht nur die Wirklichkeit, die sich entzogen hat; vielmehr ist es an sich selbst ein Mangel. Es ist die Seinsweise der Philosophie, ein Mangel zu sein und um diesen Mangel zu wissen. Daher kommt mit der Philosophie nicht nur die Frage nach dem Sein in die Welt; vielmehr ist die Philosophie selbst das Sein dieser Frage. Zwar stellt sich die Frage, wie denn ein Mangel, ein Nichtwissen und eine Frage sein können. Aber über diese Ungewißheit hinaus steht doch fest, daß nicht nur die Dinge sind, sondern auch das Fragen nach den Dingen und dem Sein, da es ja das Wesen des Menschen ausmacht. Die Philosophie ist selbst ein Seinsprozeß, nicht nur eine theoretische Betrachtung des Seins, die ihrem Gegenstand äußerlich bleibt. Daher kann es nicht mehr darum gehen, im Subjekt oder im Objekt das Sein zu suchen, sondern Subjekt und Objekt selbst als TI 66/TU 131. Lévinas versteht die objektivierende Reflexion wie Sartre als einen Akt der Verneinung. Das Ja würde dem endlosen Regreß ein Ende setzen. 59 TI 58/TU 118. 60 TI 58–9/TU 118. 57 58

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abkünftige Gestalten der Seinsfrage und ihrer Entwicklung zu verstehen. Aber wiederum liegt dieser Entwicklung – der historischen Philosophie – nicht ein absoluter Geist zugrunde; vielmehr kommt alles darauf an, die Philosophie als das Geschehen eines nichtwissenden, begrenzten, endlichen Wesens zu verstehen. Dies ist der Ausgangspunkt der neuen Ontologie Heideggers. Das Geschehen der Seinsfrage ist für ihn das Geschehen der menschlichen Existenz oder des Daseins. Heidegger hat diesen Ansatz in späteren Jahren durch die berühmte »Wende« ergänzt. Danach ist das historische Aufbrechen der Seinsfrage in Gestalt der Philosophie eine Weise, wie das Sein selbst aus seiner Verborgenheit heraustritt, sich uns offenbart und zuschickt.

§ 28 Der andere als Grund der Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand 28.1 Gegenüber diesen Versuchen, die Philosophie und die Seinsfrage zu verstehen, bietet Lévinas eine neue Interpretation der Vorstellung und damit des Beginns der Philosophie. Ausgangspunkt ist auch für ihn die Erfahrung eines Seinsentzugs. Den Seinsentzug, die Erschütterung der bis dahin geltenden Welt und die daran sich anschließende Neuorientierung im Weltverhältnis, also die Entstehung von Wissenschaft und Philosophie, hat die traditionelle Philosophie als den Übergang »Vom Mythos zum Logos« 61 oder als »Die Entdekkung des Geistes« 62 gefeiert. Philosophie wird erlebt als Rückkehr aus der Entfremdung, als Bemühung, die Entzweiung zu überwinden. Gewiß besteht keine Übereinstimmung unter den Philosophen über das, was das wahre Sein ist. Aber alle Philosophie scheint auf die Wiederherstellung der Einheit mit dem Sein gerichtet zu sein. Das gilt am Ende auch von Heidegger. Zwar hat er in einer radikalen Umkehr den Menschen und die menschliche Geschichte nicht mehr aus der Perspektive von Geist und Logos gedeutet, sondern umgekehrt Logos und Geist von der endlichen Existenzweise des Menschen her interpretiert 63 . Für ihn steht der Zusammenbruch der vorphilosophischen Welt und die Fraglichkeit des Seins im Vordergrund. Aber 61 62 63

Vgl. W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. A

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nachdem er das Aufbrechen der Frage nach dem Sein als ein Seinsgeschehen sieht, komme es in der gegenwärtigen Situation der Seinsverdüsterung und der Seinsvergessenheit darauf an, dem Sein in einem neuen Denken zu entsprechen. Insofern wird auch Heideggers Denken am Ende vom Gedanken der Rückkehr zum Sein bestimmt. Insgesamt wird die traditionelle Philosophie von der Bemühung getrieben, den Verlust wieder gutzumachen, den Menschen in seine alten Rechte und seine alte Heimat wiedereinzusetzen. 28.2 Diesem »Seinsdenken« setzt Lévinas das Denken des anderen (genitivus obiectivus) entgegen. Das bewegende Motiv für den Bruch mit der mythischen Welt liegt nicht – gewissermaßen als Zweckursache – im Logos oder im Geist noch kann darin eine schicksalhafte Seinsschickung gesehen werden. Der Grund für den Bruch mit der Welt des Mythos liegt in der Offenbarung des anderen. Dieser Gedanke wird glaubhaft, wenn Lévinas noch einmal an die Kennzeichen der theoretischen Einstellung und der Vorstellung erinnert. Das entscheidende Merkmal der Theorie, insbesondere der Theorie als wissenschaftlicher Einstellung, liegt darin, daß der Theoretiker sich aus dem Sein zurückzieht und zu den Dingen ebenso wie zu sich und seiner Beteiligung am Leben einen Abstand gewinnt. Theorie bedeutet Unbeteiligtheit, Uninteressiertheit, Verzicht. Der Anspruch, den die traditionelle Wissenschaft macht, das, was ist, in seiner Totalität zu begreifen, setzt zuvor den Rückzug des Subjekts aus allem Seienden voraus. Dasselbe gilt im übrigen für die Idee einer Erkenntnis der Dinge, wie sie an sich selbst sind. Darin liegt der Versuch der Überwindung aller Subjektivität, des Verzichts auf jedes partikulare Interesse und jede einseitige Perspektive, die den Blick auf das, was die Dinge von sich her sind, zu verstellen geeignet wäre. »Wenn es mir aber möglich sein soll«, so folgert Lévinas, »mich sogar vom Besitz (…) freizumachen, wenn es mir möglich sein soll, die Dinge an sich selbst zu sehen, d. h. sie mir vorzustellen, wenn es mir möglich sein soll, sowohl Genuß als auch Besitz abzulehnen, so muß ich geben können, was ich besitze. Nur so vermöchte ich einen Platz einzunehmen, der absolut über meiner Verhaftung im Nicht-Ich steht. Aber dazu muß ich dem indiskreten Antlitz des anderen begegnen, der mich in Frage stellt.« 64

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TI 145/TU 247.

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28.3 Diese Erklärung wirft auch ein neues Licht auf die Krise und die Phänomenalisierung der Welt. Verdankt sich die Vorstellung ihrem eigenen Sinn nach der Nötigung, meinen zentralen Platz in der Welt zu räumen und die Welt mit dem anderen zu teilen, dann kann die Aufgabe nicht darin bestehen, die Vorstellung zu überwinden, sondern allererst die Vorstellung aus ihrem ethischen Motiv richtig zu verstehen. Nicht die Vorstellung ist zu überwinden, sondern allein die bisherige Konzeption der Vorstellung, da sie die Vorstellung aus dem intersubjektiven Zusammenhang, der für sie konstitutiv ist, herausreißt. Als der Versuch, das Subjekt seinem eigenen Leben entgegenzustellen, bildet die Vorstellung den Gegenpol zu einer um das Subjekt zentrierten Welt, einer Welt, mit der sich das Subjekt naiv identifiziert. Daher erschüttert der Übergang zur Welt qua Vorstellung die selbstverständliche Geltung der bisher um das Ich zentrierten Welt. Die Ablösung der unmittelbaren Welthabe durch die Vorstellung vollzieht sich auf dem Wege einer Krise, die historisch als Sinnkrise auftritt und die von Lévinas unter dem Titel einer Phänomenalisierung der Welt und ihrer Sinngehalte beschrieben wird. Von hier aus können auch die Endlichkeit und der Mangel, als die wir die Philosophie definiert haben, neu verstanden werden. Für den mythischen Menschen, wie er uns von der Ethnographie beschrieben wird, ist der Mensch nicht konstitutiv mit einem Makel behaftet. Sünde, Krankheit, Tod sind Unfälle, die im Prinzip hätten vermieden werden können. Der Mensch ist nicht seiner Natur nach endlich und sterblich. Das ändert sich mit der Philosophie. Die Philosophie definiert den Menschen geradezu als Wesen, dem das Sein fehlt. Das macht seine Phänomenalität aus. Der Mangel beruht auf einem unerfüllten Begehren des anderen, auf der Transzendenz zu ihm. »Aufgrund der Gegenwart vor dem Antlitz des anderen … vermag er, im Unterschied zum Tier, die Differenz zwischen dem Sein und dem Phänomen zu erkennen, kann er seine Phänomenalität, den Mangel an seiner Fülle erkennen.« 65 Indem der andere an die bislang allein dem Subjekt geltende und auf es ausgerichtete Welt herantritt, verliert diese Welt ihre bisherige Orientierung. Wo das Subjekt bedeutende Dinge hatte, da löst sich die Bedeutung auf und wird zum bloßen Phänomen, während die Dinge nackt zurückbleiben. Dies macht die Phänomenalität der Welt aus. Die eigene Welt wird phä65

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nomenal, weil sie ihre Selbstverständlichkeit und substanzielle Einheit verliert. Sie verliert ihre Geltung, weil der andere an sie herantritt. Die phänomenale Welt ist – in den Ausdrücken Husserls – die Welt in der Phase des Übergangs aus der primordinalen in die objektive, allen geltende Welt. Sie hört auf, primordinale Welt zu sein, weil der andere empfindlich geworden ist. Sie ist noch nicht die objektive Welt, da der andere sich nicht als er selbst gezeigt hat, da er noch nicht, wie Lévinas sagt, spricht und dem Sinnlichen eine neue Orientierung gibt. »Dieser Augenblick, in dem das getrennte Seiende« – der andere – »sich zu erkennen gibt, ohne sich auszudrücken, indem es erscheint, aber in seiner Erscheinung abwesend ist, [entspricht] ziemlich genau dem …, was den Sinn des Phänomens ausmacht. Das Phänomen ist das Seiende, das erscheint, aber abwesend bleibt.« 66 Nicht der andere ist das Phänomen, sondern die bisher selbstgenügsamen und realitätsgesättigten Dinge werden zu bloßen Phänomenen. 28.4 Indem die Welt zum Phänomen wird, trennt sich die Erscheinung von dem, was erscheint, die Form vom Inhalt, die Bedeutung vom Gegenstand. Hinter ihrer Erscheinung werden die Dinge in ihrer bloßen Vorhandenheit oder ihrer bloßen, unbestimmten Existenz spürbar. Während das naive Leben in der unbefragten Gewißheit lebt, daß es in seinen Begriffen auch das Wirkliche faßt, daß also Begriff und Sache, Bedeutung und Gegenstand, zusammenfallen, treten sie nun auseinander. Die Dinge treten in ihrer Nacktheit hervor. Die Dinge sind nicht nackt, solange sie in der Erfüllung ihrer Funktion aufgehen. Erst wenn der Funktionszusammenhang zerbricht, treten die Dinge in ihrer Nacktheit hervor, als Dinge an sich. Sie sind dann »wie jene Industriestädte, in denen zwar alles auf ein Produktionsziel abgestimmt ist, die aber, verpestet, voller Schmutz und Trauer, auch für sich selbst existieren.« 67 Die Dinge selbst werden sinnlos und absurd. Es ist aber – gegen Heidegger – nicht der bloße Ausfall der Funktion, der die Welt der Absurdität überliefert, sondern die Relativierung und Subjektivierung der Bedeutungen. Die Dinge können in ihrer Nacktheit nur hervortreten, weil die Bedeutungen sich von 66 67

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TI 156/TU 263. TI 46/TU 101.

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§ 28 Der andere als Grund der Unterscheidung von Vorstellung und Gegenstand

ihnen trennen und zu Erscheinungen oder bloßen Meinungen depotenziert werden. Die Bedeutung, die den Dingen zunächst so inhärent zu sein schien, daß das Materielle in der Bedeutung aufgehoben wurde und darin verschwand, wird nun als Deutung verstanden, als eine Form, die gegenüber dem Inhalt variieren kann. Derselbe Gegenstand kann zur selben Zeit von verschiedenen Subjekten verschiedene Bedeutungszuschreibungen erfahren, so wie verschiedene Gegenstände unter derselben Bedeutung auftreten können. Die Auflösung der zuvor selbstverständlichen Einheit von Form und Inhalt, Bedeutung und Gegenstand, vollzieht sich als Einsicht in das Subjektive der Bedeutung. Damit wird sich das Subjekt seiner selbst als eines konstituierenden, d. h. Bilder und Zeichen produzierenden, bewußt. Daß die Form, die die entgleitende Materie zur Einheit des Gegenstandes bringt, Korrelat der Intentionalität und damit der Leistung des Bewußtseins ist, wird nun für das Bewußtsein selbst sichtbar. Das Subjekt erkennt, daß die Wirklichkeit, soweit sie geformte Wirklichkeit ist, der »Tyrannei« 68 des Begriffs und der Form unterworfen ist. Dieser Zugriff wird durch den anderen zum Phänomen depotenziert. Phänomenalität und Subjektivität gehen Hand in Hand. Die Phänomenalisierung der Welt, in der die Welt zum bloßen Bild wird, vollzieht sich ineins als die Sonderung der sinnlosen Dinge und der depotenzierten Bedeutungen. 28.5 Die traditionelle Philosophie hat versucht, diese Krise durch den Bezug auf die Sachen selbst zu überwinden. Wo aber sind die Sachen selbst, wo ist das Wirkliche, wenn alle Wirklichkeit nur in idealen Bedeutungen zugänglich ist und die Bedeutungen ihre Bestimmtheit nicht durch den Bezug auf die Sachen, sondern allein durch ihren strukturalen Zusammenhang haben? Verweisen nicht die Zeichen und Bedeutungen derart aufeinander, daß es dem fragenden Subjekt, das in einen endlosen Regreß hineingezogen ist, unmöglich ist, den Bereich der Zeichen und Symbole zu überschreiten? Der Kreislauf der Zeichen wird erst aufgebrochen, wenn die Zeichen auf den anderen Menschen bezogen werden. »Das Wort« – als Wort des anderen – »bringt in diese Anarchie ein Prinzip … Durch den Bezug auf das Wort erhält die Welt eine Orientierung.« 69 Der andere überwindet die Irrealität der Erscheinung. Denn der andere ist selbst 68 69

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Quelle von Bedeutung: Er gibt den Dingen eine Bedeutung und bedeutet an sich selbst. Seine eigene Bedeutung bezieht er nicht mehr aus dem Kontext, sondern aus sich selbst. »Die Bedeutung des Antlitzes liegt an der wesensmäßigen Koinzidenz des Seienden und des Signifikanten. Die Bedeutung kommt nicht zum Seienden hinzu.« 70 28.6 Dies ist der Zusammenhang, in dem der Lévinas’sche Begriff des Zeichens, soweit er in »Totalität und Unendlichkeit« verwandt wird, steht. Das Zeichen hat einen zweifachen Sinn. Zunächst ist das Zeichen nur Bild und Phänomen von etwas Abwesendem. 71 Zwischen Zeichen und Phänomen macht Lévinas keinen Unterschied: »Die Phänomenalität, um die es geht, bedeutet nicht bloß eine Relativität der Erkenntnis, sondern eine Seinsweise, in der nichts endgültig, in der alles Zeichen ist …, Traum.« 72 Aber die Sprache und das Zeichen gewinnen dank der Bedürftigkeit des anderen und der Verantwortung des Subjekts noch einen anderen Sinn: nämlich den der Gabe. Erst das Bildbewußtsein, das ausdrückliche Bewußtsein der Zeichenhaftigkeit, bewirkt, daß das Zeichen nicht einfach in der bezeichneten Realität aufgeht, mit ihr verschmilzt, sondern als Zeichen vor das Bewußtsein treten und thematisiert werden kann. Erst im Zeichenbewußtsein realisiert der Mensch sich selbst als einen Sprechenden. Wer ein Zeichen gibt, reagiert nicht wie ein Tier, sondern spricht; er zeigt nicht ein Verhalten (behaviour), sondern handelt. Diese Verfügbarkeit kann nun zunächst keine andere sein als über den eigenen Leib. Nur indem der Mensch von seinem Leib Distanz gewinnt, werden ihm die Zeichen verfügbar. Diesen Abstand schafft der andere. Die erste Wirkung des anderen ist eine Selbstentfremdung von solcher Tiefe, daß sie auch den Leib ergreift und das Subjekt aus seinem Leib heraussetzt. Da alles menschliche Weltverhalten durch die Sprache bestimmt ist, die Sprache aber in ihrer ursprünglichen Form als mündliche Sprache durch den Leib geht, läßt der Mensch mit den leiblichen Zeichen auch die Welt frei. Der Sinn dieser Verfügbarkeit aber ist, daß das Subjekt seine Welt und sich selbst dem anderen zur Verfügung stellt: Das Zeichen TI 239/TU 382 f. Den Unterschied zwischen Zeichen und Bild, wie Lévinas ihn im Zusammenhang mit dem Aufsatz »La réalité et son ombre« gemacht hatte, hält er hier nicht fest. 72 TI 153/TU 258; vgl. auch TI 156, 158/TU 263, 266. 70 71

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§ 29 Das Antlitz

wird zur Gabe. »Indem ich ein Ding bezeichne, bezeichne ich es einem anderen. Der Akt des Bezeichnens modifiziert die Beziehung, die ich als Genießender und Besitzender mit den Dingen habe … Der Gebrauch eines Zeichens beschränkt sich also nicht auf die Tatsache, daß ich an die Stelle der direkten Beziehung mit der Sache eine indirekte setze; er erlaubt mir vielmehr, die Dinge zum Gegenstand eines Anbietens zu machen, sie von meinem Gebrauch zu lösen, sie zu entfremden, sie äußerlich zu machen.« 73 Sprache nach dem Begriff, den Lévinas in »Totalität und Unendlichkeit« entwickelt, besteht daher nicht im Zeichengebrauch, sondern im Bewußtsein des Zeichengebrauchs, d. h. in der Vergegenständlichung nicht nur der objektiven Welt, sondern der subjektiven Welthabe. Das Bildbewußtsein löst das Subjekt aus der Unmittelbarkeit der Habe der Wirklichkeit ab, um sie als Gabe dem anderen zur Verfügung zu stellen. Sprache, Vorstellung und Idealität konstituieren sich im Entzug der Wirklichkeit; aber dieser Entzug geschieht im Namen des anderen. So verweist die Objektivität auf eine vor ihr liegende Instanz, nämlich ein Sprechen, das die Objektivierung möglich macht und motiviert, ohne selbst je im Objekt aufzugehen. Dieses letztere Sprechen ist die Sprache des Antlitzes, d. h. die Sprache des Unendlichen, dessen Erscheinung oder Offenbarung Ausdruck ist 74 . Wie haben wir das Antlitz und seinen Ausdruck zu verstehen?

3.3.3 Die Sprache vor der Sprache § 29 Das Antlitz 75 29.1 Der Theorie der Immanenz und Zirkularität der kontextuellen Bedeutungen setzt Lévinas die Theorie des Ausdrucks entgegen. Der Ausdruck ist die Manifestation des Antlitzes: »Das Antlitz (ist) der TI 184/TU 302. TI 22/TU 63. 75 Die Übersetzung des französischen Ausdrucks »visage« durch »Antlitz« hat zu vielfachen Bemerkungen und zu vermeintlich treffenderen Übersetzungen geführt. Sie wären wahrscheinlich unterblieben, wenn bekannt gewesen wäre, daß Lévinas selbst – der bekanntlich recht gut deutsch sprach – auf der Übersetzung durch diesen Ausdruck bestanden hat (am 31. März 1981 im Laufe einer Tagung im Husserl-Archiv in Löwen, die Fragen der Übersetzung von »Totalité et infini« gewidmet war). Dafür mochte er 73 74

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Ausdruck schlechthin.« 76 Aber Lévinas zielt nicht so sehr auf eine neue, mit den alten konkurrierende Sprachtheorie, sondern möchte die bisherigen Theorien ergänzen. Es gilt, die gegenständliche Bedeutung auf ihren nichtgegenständlichen Sinn zu beziehen. Die Phänomenologie hatte gezeigt, daß die konkreten Bedeutungen nicht aus sich selbst Bestand haben, sondern ihre Bestimmtheit allein aus dem Kontext gewinnen. Der Kontext seinerseits verliert sich ins OffenEndlose; er bildet einen Horizont, der für jedes konkrete Verständnis vorausgesetzt ist. Als vorgängiges Seinsverständnis weist der Horizont auf das intentionale Subjekt zurück. Die phänomenologische Analyse der Horizontintentionalität bewahrt eine idealistische Orientierung. »Die gesamte Phänomenologie, Husserl eingeschlossen, steht unter der Idee des Horizontes, der für sie die Rolle spielt, die im klassischen Idealismus der Begriff hatte; wie das Individuum vom Konzept, so erhebt sich das Seiende von einem Grunde, der über es hinausgeht.« 77 Mit dem Begriff des Horizontes verändert sich zwar der Begriff der Totalität: Sie hört auf, gegenständlich zu sein. Aber ihren Vorrang büßt die Totalität darum nicht ein. Das Verständnis des Einzelnen setzt stets den Horizont voraus. Dieses Bedingungsverhältnis definiert die Struktur einer jeden historischen Sprache oder Welt oder Kultur. Der »Horizont geht nicht aus einer Addition abwesender Gegebenheiten hervor, da jede Gegebenheit schon eines Horizontes bedürfte, um sich zu definieren und sich zu geben. Es ist dieser Begriff des Horizontes und der Welt, verstanden nach dem Modell eines Kontextes und schließlich nach dem Modell einer Sprache und einer Kultur …, der den Ort bildet, an dem die Bedeutung seitdem ihren Platz einnimmt.« 78 verschiedene Gründe haben. So bot das Deutsche die Möglichkeit eines Ausdrucks, der nicht vom Ursprung her mit der Nähe zum Sehen und zur Intentionalität kontaminiert war. Des weiteren verstand Lévinas unter Antlitz nicht das Gesicht im engeren Sinne: »Der ganze Leib, eine Hand oder die Rundung einer Schulter können ausdrücken wie das Gesicht« (TI 240/TU 383). Darüber hinaus drückt sich im Ant-litz eine Relation aus, das Gegenüber. Auch unterdrückt die Übersetzung durch »Gesicht« gerade das am Antlitz, was es vor allem auszeichnet: die Erhabenheit. Endlich aber entspricht der Ausdruck »Antlitz« ganz dem auch im Französischen sehr emphatischen Sprachgebrauch Lévinas’. Es scheint mir widersprüchlich, die Emphase an Lévinas’ Sprache als eine Besonderheit hervorzuheben, zugleich aber in der Übersetzung die Neutralisierung dieser Emphase zu fordern. 76 TI 152/TU 258. 77 TI 15/TU 53. 78 HAH 21/HaM 12.

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§ 29 Das Antlitz

Mit dieser Bemerkung zielt Lévinas nicht allein auf die Phänomenologie; er wendet sich auch gegen den Strukturalismus, der im Frankreich der 60er Jahre die intellektuelle Diskussion beherrscht. Hauptquelle für den Strukturalismus ist der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure. Seine radikale Kritik der Abbildtheorie der Sprache führte ihn dazu, die Bedeutungen (le signifié) aus der Anordnung und dem Kontext der Zeichen (le signifiant) zu erklären. Saussure vergleicht den symbolischen Zusammenhang von Zeichen und Bedeutung mit dem Geld. Auch das einzelne Geldstück ist Zeichen für etwas, nämlich Zeichen eines gewissen Wertes oder einer Kaufkraft. Aber die Kaufkraft der einzelnen Münze kann sich verändern: Sie hängt ab von der Geldmenge überhaupt. Sie ist groß, wenn wenig, klein dagegen, wenn – unter im übrigen gleichen Bedingungen – viel Geld da ist. Ähnlich verhält sich das System der sprachlichen Zeichen zu den Bedeutungen: Je reicher eine Sprache an Zeichen, umso differenzierter die dem einzelnen Zeichen zukommende Bedeutung und umgekehrt. Sowohl die Phänomenologie als auch der Strukturalismus laufen auf ein holistisches Sprach- und Denkkonzept hinaus, aus dem kein Entkommen ist. Ein Ausbruch aus dem System der Zeichen und Bedeutungen, eine Transzendenz über die Totalität hinaus, scheint nicht möglich. Dies gilt freilich in besonderem Maße vom Strukturalismus. Sein Gegenstand ist nicht die lebendige Erzeugung der Sprache im Munde des Sprechers, die parole, sondern die Sprache als ideales System, die langue. Claude Lévi-Strauss, der Promotor der strukturalen Anthropologie, geht noch einen Schritt weiter: Die Strukturen, die das System beherrschen, sind absolut ahistorisch. Es gibt keine historische Entwicklung. Demnach »hätten alle Zivilisationen denselben Wert« 79 . Wegen dieser Ausweglosigkeit spricht Lévinas auch vom »absoluten Indifferentismus des Buches ›Traurige Tropen‹ 80 . Ich denke, es ist das atheistischste Buch, das in unseren Tagen geschrieben wurde, ein absolut desorientiertes und höchst desorientierendes Buch.« 81 29.2 Das Verstehen ist grundsätzlich anders, ob es sich um ein Ding oder eine Person handelt. Die These, daß das Verstehen des anderen 79 80 81

DL 259. C. Lévi-Strauss, Tristes tropiques. Vgl. S. 62, Anm. 53. A

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mehr ist als das Verstehen einer Sache, nämlich Anruf und Anspruch, hat Lévinas in dem Aufsatz »Liberté et commandement« vertieft. 82 Hier geht er aus von dem Gedanken, daß der Umgang zwischen den Menschen gewissen Regeln unterworfen werden muß, wenn vermieden werden soll, daß die Subjekte in ihrer vitalen Freiheit sich gegenseitig vernichten. Um der Freiheit (liberté) willen muß sich das Subjekt einem für alle geltenden Befehl (commandement) beugen. Befehl, darunter versteht Lévinas das allgemein anerkannte Gesetz für den wechselseitigen Umgang, das den Charakter der Institution annimmt. Eine solche Institution ist auch die Sprache als geregelte Form der Einigung. Das System der »kohärenten Rede« 83 ist nicht nur widerspruchsfrei, sondern intersubjektiv. Die Regeln stehen nicht in der Macht dieses oder jenes Subjekts, vielmehr sind die Subjekte der Macht der Rede unterworfen. Insofern realisiert sich in der kohärenten Rede eine »unpersönliche Vernunft« (raison impersonnelle 84 ), ein Logos, der die Subjekte beherrscht. Aber der unpersönliche Logos vollzieht sich nicht wie ein Naturgesetz. Um mit dem anderen in ein Gespräch einzutreten, genügt es nicht, eine institutionelle Maschinerie von Sprachregeln in Gang zu setzen. Vielmehr kann das Subjekt sich der Gewalt der Regeln entziehen, indem es, statt zuzuhören, die Ohren verschließt. Der Unterwerfung unter die unpersönliche Vernunft geht also eine davon zunächst unabhängige »Entscheidung« voraus. Sie bestimmt darüber, ob jemand die unpersönlichen Regeln der Vernunft akzeptiert oder nicht. Diesen Gedanken deutet Platon am Eingang zur »Politeia« an. 85 Vergegenwärtigen wir uns die Gesprächssituation. Sokrates ist gemeinsam mit Glaukon auf dem Wege vom Piräus zurück in die Stadt. Beide werden von Polemarchos und einigen anderen eingeholt und gebeten, zu bleiben. Um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, droht Polemarchos, sie mit Gewalt festzuhalten. »Entweder überwältigt diese«, sagt er und zeigt auf seine Freunde, »oder bleibt«. Ob Sokrates bleibt oder nicht, ist für Polemarchos eine Sache der Gewalt. »Wie aber«, so fragt Sokrates, »wenn wir Euch davon überzeugten, daß Ihr uns gehen lassen müßt?« Damit stellt Sokrates der Gewalt als 82 83 84 85

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Vgl. zum folgenden LC und DL 232 ff. LC 36. LC 35. LC 36.

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Mittel der Entscheidung die vernünftige Rede entgegen; die Gewalt hat eine Alternative. Aber die Rede funktioniert ihrerseits nicht wie eine neue Gewalt; vielmehr bedarf es einer Überlegung und Entscheidung darüber, ob sich jemand der Rede öffnen will oder nicht. »Könnt Ihr auch wohl«, so fragt Polemarchos den Sokrates, »Leute überzeugen, die nicht hören wollen?« 86 Noch bevor Argumente ausgetauscht werden, muß der andere überzeugt werden, daß er in den Prozeß der argumentativen Auseinandersetzung überhaupt eintritt. Er muß bereit sein, überhaupt zuzuhören. Wie wird diese Bereitschaft geweckt? Nicht durch Argumente! Nicht durch eine vernünftige Rede! Sondern allein durch ein Ansprechen, das der vernünftigen Rede vorausgeht und ihr den Weg bahnt. Dieses Ansprechen, diese Überredung zum Eintritt in die Unterredung nennt Lévinas eine »Rede vor der Rede« 87 , eine »Vernunft vor der Vernunft« 88 . Sie vollzieht sich als Begegnung mit dem Antlitz. »Setzt die unpersönliche Rede nicht die Rede als diese Situation des Von-Angesicht-zuAngesicht voraus?« 89 In der Beziehung zum Antlitz des anderen liegt also schon ein wortloses Sagen und Verstehen, das freilich der Grund für das Verstehen im üblichen Sinne ist. Die Alternative zur Gewalt, nämlich die Rede, wird vom Antlitz eröffnet. Insofern waltet zwischen dem Antlitz und dem Subjekt eine Sprache vor der Sprache, ein Einverständnis, das der Grund für jede konkrete Kommunikation und Rede ist. Das Antlitz »wird in jedem Symbolismus vorausgesetzt; und zwar nicht nur, weil man sich über den Symbolismus verständigen muß, weil man die Konventionen aufstellen muß, die nach Platon im ›Kratylos‹ nicht willkürlich zustandekommen können. Diese Beziehung ist bereits erforderlich, damit eine Gegebenheit als Zeichen erscheinen kann, das einen Sprechenden signalisiert, welches im übrigen das Bezeichnete dieses Zeichens sei, und sei es auch auf immer unentzifferbar.« 90 Die strukturalistische Interpretation der Sprache als eines Spiels von Signifiant und Signifikat setzt die vorherige Eröffnung eines Sprachraums voraus, eben die Gewahrung des Antlitzes. Diese Beziehung zum anderen ist die metaphysische Beziehung; sie liegt der bejahenden oder verneinenden wie aller obPlaton, Polit. 327c. Ich habe hier die französische Version übersetzt; bei Schleiermacher heißt es: »Könnt ihr auch wohl überzeugen, die nicht hören?« 87 LC 37. 88 LC 36. 89 LC 36. 90 TI 65/TU 129; vgl. auch TI 151 ff., 157, 176, 272/TU 256 ff., 265, 289 f., 429. 86

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jektivierenden Rede voraus 91. Sie ist der nicht objektivierbare Grund der Objektivierung. Der Ausdruck (expression) in diesem Sinne ist das Auftreten des anderen. »Die Bedingung für Wahrheit und Irrtum im Bereich der Theorie«, schreibt Lévinas, »ist das Wort des anderen, sein Ausdruck … Aber der erste Inhalt dieses Ausdrucks ist dieser Ausdruck selbst.« 92 Was Lévinas »Ausdruck« nennt, ist also im Sinne der gewöhnlichen Sprache wortlos, sprachlos oder vorsprachlich. Es wird nichts Konkretes mitgeteilt, der Ausdruck ist an keine der historischen Sprachen gebunden. Dennoch vollzieht sich ein Sinngeschehen; denn das Subjekt versteht nicht nur die Andersheit des anderen, sein Erscheinen, als Eröffnung der Dimension konkreter Zeichen, sondern zugleich seinen Appell an die Gewaltlosigkeit. »Gibt es nicht das Wort«, fragt Lévinas, »kraft dessen sich von einer Freiheit zur anderen, von einem Individuum (particulier) zum anderen der Wille zu dem überträgt, was man kohärente Rede nennt?« 93 Das Wort, nach dem Lévinas fragt, ist das Antlitz des anderen. Es ist Sprache und Vernunft vor der Sprache und der Vernunft. Die zweifache Sprache – Ausdruck und kohärente Rede – hat Lévinas später als Sinn (sens) und Bedeutung (signification) oder als universale Grundlage aller Sprache und als die verschiedenen historisch gewordenen Sprachen, Kulturen und Welten unterschieden. 94 Daß der Gedanke eines wortlosen Wortes, eines Sinnes, der den Sprachraum überhaupt erst eröffnet, ohne schon konkrete Bedeutung zu sein, dem jüdischen Denken nicht fremd ist, geht – unabhängig von Lévinas – aus Scholems Diskussion der Kabbale hervor. Habermas schreibt dazu Folgendes: »G. Scholem berichtet von Diskussionen, die über die Frage entbrannt sind, ob alle zehn Gebote dem Volke Israel durch Moses unverfälscht überbracht worden seien. Einige Kabbalisten waren der Auffassung, daß nur die ersten beiden, den Monotheismus gleichsam konstituierenden Gebote, von Gott selbst stammen; andere bezweifelten sogar die Authentizität der ersten von Moses überlieferten Worte. Rabbi Mendel von Rymanow spitzt einen Gedanken des Maimonides noch weiter zu: ›Ihm zufolge stammen nicht einmal die ersten beiden Gebote aus einer unmittel91 92 93 94

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TI 12/TU 49. TI 22/TU 64. LC 36. Vgl. den Aufsatz »Die Bedeutung und der Sinn« in HAH 17 ff./HaM 9 ff.

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baren Offenbarung an die ganze Gemeinde Israel. Alles, was Israel hörte, war nichts als jenes Aleph, mit dem im hebräischen Text der Bibel das erste Gebot beginnt … Dies scheint mir‹, so fügt Scholem hinzu, ›in der Tat ein überaus bemerkenswerter und nachdenklich stimmender Satz. Der Konsonant Aleph stellt nämlich im Hebräischen nichts anderes dar als den laryngalen Stimmeinsatz, der einem Vokal am Wortanfang vorausgeht … Das Aleph zu hören ist eigentlich so gut wie nichts, es stellt den Übergang zu allen vernehmbaren Sprachen dar, und gewiß läßt sich nicht von ihm sagen, daß es in sich einen bestimmten Sinn vermittelt. Mit seinem kühnen Satz … reduziert also Rabbi Mendel die Offenbarung zu einer mystischen, d. h. zu einer Offenbarung, die in sich selbst zwar unendlich sinnerfüllt, aber doch ohne spezifischen Sinn war. Sie stellte etwas dar, das, um religiöse Autorität zu begründen, in menschliche Sprache übersetzt werden mußte; und das ist es, was im Sinne dieses Ausspruchs Moses tat. Jede Aussage, die Autorität begründet, wäre eine, wenn auch noch so gültige und hochrangige, aber immer noch menschliche Deutung von etwas, was sie transzendiert.‹« 95 Hierin liegt der Versuch, hinter der Vielfalt der Weltdeutungen doch etwas Allgemeines zu finden, das die Vielfalt nicht ausschließt. Aber es lassen sich zwei Wege unterscheiden: ein theologischer und ein humanistischer. Gemäß dem theologischen wird das Sprechen eröffnet durch Gott und seine – unbestimmte – Sinnstiftung. Gemäß dem humanistischen hingegen, den Lévinas einschlägt, ist die Eröffnung des Sprechens Sache des anderen. Dort findet das Gespräch zwischen Mensch und Gott statt, hier zwischen den Menschen. In diesem Sinne verstehen wir auch Lévinas’ These, das Antlitz sei »›actus purus‹ auf seine Weise« 96 . Die Sprache des Antlitzes ist nicht nur actus purus in dem herkömmlichen Sinne, daß sich in ihm keine Passivität findet, sondern auch reine Aktivität insofern, als es jedem spezifischen Akt, jeder konkreten Bedeutung vorausgeht, sich mit keiner identifiziert, doch jede erst möglich macht. 97 29.3 Das Antlitz hat zunächst den Charakter der Negativität: Mit ihm tritt etwas auf, was mit dem bisherigen solipsistischen Leben in keinem Zusammenhang steht, sondern die Einheit dieses Lebens auf95 96 97

J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 215/6. DEHH 173/SpA 199. Vgl. ibid. A

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bricht. Das Antlitz läßt sich nicht aus dem geltenden Horizont erklären, sondern ist ihm gegenüber ohne Bedeutung. Darum nennt Lévinas das Antlitz »nackt« 98 . Freilich können auch die Dinge nackt sein 99 . Dennoch sind Dinge und Antlitz nicht in der gleichen Weise nackt. »Die Beziehung mit einer Nacktheit ist die wahre Erfahrung der Andersheit des anderen – wenn der Ausdruck ›Erfahrung‹ nicht unmöglich ist in einer Beziehung, die über die Welt hinausgeht«, so heißt es schon in »Vom Sein zum Seienden« 100 . Der zentrale Unterschied, der die beiden Formen von Nacktheit trennt, liegt darin, daß das Antlitz sich nur darum der subjektiven Sinngebung entzieht, weil es – im Gegensatz zur nichtigen Materie – in sich selbst Sinn hat. Mit dem anderen reden heißt, »mit einer Nacktheit in Beziehung treten, die von aller Form entblößt ist, aber durch sich selbst einen Sinn hat, kath’hauto; noch bevor wir das Licht auf sie werfen, bedeutet sie; die Nacktheit erscheint nicht als Mangel vor dem Hintergrund einer Werteambivalenz – (…) – sondern als Wert, der immer positiv ist. Eine solche Nacktheit ist Antlitz … Das Antlitz hat sich mir zugewandt und eben dies ist nichts anderes als seine Nacktheit. Es ist durch sich selbst und keineswegs durch den Bezug auf ein System.« 101 Und weiter: »Das Antlitz ist Ausdruck, Existenz einer Substanz, eines Dinges an sich, kath’hauto.« 102 Die Nacktheit des anderen bedeutet nicht nur seine Jenseitigkeit im Verhältnis zur Welt, sondern ist in sich selbst bedeutend. Was aber sagt das Antlitz? 29.4 Die Positivität des anderen besteht darin, daß er der Freiheit des Menschen eine neue Orientierung gibt. Wenn das Lebendige seine naturhafte Freiheit dazu nutzt, sich das andere anzueignen, es also in seiner Andersheit zu negieren, dann bedeutet der ethische Widerstand, den der andere leistet, eine Negation der Negation. Dies faßt Lévinas in die Formel vom Verbot zu töten: »So ist das Von-Angesicht-zu-Angesicht eine Unmöglichkeit der Verneinung, eine Negation der Negation. Konkret bedeutet die doppelte Artikulation dieser Formel: Das ›Du wirst keinen Mord begehen‹ ist dem Antlitz einge-

TI 47 ff./TU 101 ff. TI 46/TU 100. 100 EE 61/VS 47–8. 101 TI 47/TU 101. 102 LC 42. 98 99

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schrieben und macht seine Andersheit aus.« 103 Indem das Subjekt den anderen versteht, kehrt sich seine vitale Freiheit, die keine moralische Bindung durch den anderen kennt, um in Verantwortung vor dem anderen und für ihn. Die Verantwortung für den anderen entzieht der bisherigen Welt ihr Fundament und läßt sie zusammenstürzen; zugleich aber ist sie das Prinzip einer neuen Orientierung. Daher bezeichnet Lévinas den Ausdruck des anderen als Prinzip 104. Das Antlitz als das ursprüngliche »Wort erzeugt den Anfang der Verstehbarkeit, sogar die Anfänglichkeit, das Prinzentum, die königliche Herrschaft, die unbedingt befiehlt. Das Prinzip kann nur ein Befehl sein.« 105 29.5 Der andere ist Prinzip der intersubjektiven Bedeutungen. Dennoch bleibt er jeder fixen Form transzendent, da er sich kontinuierlich aus allen Formen ablöst und in keiner verharrt. Darin besteht die Absolutheit des Antlitzes. Es ist nicht absolut in einem statischen Sinne; wäre es statisch oder verharrend, so könnte das absolute Antlitz mit dem Subjekt keine Beziehung eingehen; träte es dagegen in eine Beziehung ein, so büßte es seine Absolutheit und Andersheit ein. Das Antlitz kann in der Beziehung zum Subjekt nur absolut bleiben, sofern seine Absolutheit sich als Absolution, als ständige Ablösung aus der Enge der fixen Bedeutungen und Bilder vollzieht. »In einer Beziehung sein, indem man sich aus dieser Beziehung ablöst (en s’absolvant de la relation), heißt sprechen.« 106 Das Antlitz ist der Quell einer beständigen Erneuerung; es bildet keine Vergangenheit, sondern ist »lebendige Gegenwart« 107 . Darin liegt die Unendlichkeit des anderen: Er entzieht sich jedem Zugriff. »Der Umstand«, schreibt Lévinas, »daß das Antlitz in der Rede eine Beziehung mit mir unterhält, versetzt es nicht in das Selbe. Es bleibt in der Beziehung absolut.« Sodann fährt er fort: »Die Gegenwart eines Seienden, das nicht in die Sphäre des Selben eintritt, eine Gegenwart, die überfließt über diese Sphäre hinaus, fixiert den Status dieses Seienden als eines Unendlichen. Die Idee des Unendlichen, das unendlich Mehr, das im

103 104 105 106 107

EN 48/ZU 50; vgl. auch TI 59, 191/TU 120, 313. TI 64 ff./TU 128 ff. TI 176/TU 290; vgl. auch TI 64 f., 71, 179/TU 128 f., 138 f., 294 f. TI 190/TU 311. TI 37, 41/TU 87, 93. A

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Weniger enthalten ist, ereignet sich konkret in der Gestalt einer Beziehung mit dem Antlitz.« 108

§ 30 Das denkende Subjekt 30.1 Das Antlitz ist unendlich, weil es absolut ist. Es ist absolut, weil es in keinem Begriff, in keiner Vorstellung, in keinem Bild fixiert werden kann. Es entzieht sich der Vorstellung, weil es der unversiegbare, immer neue Quell von Bedeutung ist. Der Ort seiner Offenbarung ist das Subjekt, aber nicht das konstituierende Subjekt, sondern das Subjekt als das nicht objektivierbare Geschehen der Begegnung mit dem anderen. Das Subjekt, das das Unendliche denkt, das Subjekt als »die Idee des Unendlichen, ist die Seinsweise – die Unendlichung, die Infinition – des Unendlichen« 109 . Den Empfang des Unendlichen in Gestalt der Idee des Unendlichen nennt Lévinas auch das Denken. Im Unterschied zum Vorstellen, das sich auf die Dinge richtet, hat das Denken Beziehung zur Unendlichkeit des anderen. In der Tradition werden Vorstellen und Denken zwar nicht geradezu identifiziert, aber auch nicht radikal geschieden. Für Kant etwa ist die Vorstellung (repraesentatio) der allgemeine Oberbegriff, dem auch das Denken untergeordnet ist. 110 Descartes versteht unter dem cogitare jeden Bewußtseinsinhalt. Das Ich, eine Sache, die denkt, ist »eine Sache, die zweifelt, die begreift, die bejaht, die verneint, die will, die nicht will, die auch einbildet, die empfindet« 111 . Das Denken fällt mit dem Bewußtsein zusammen. Dieser unspezifische Begriff des Denkens kann Lévinas nicht genügen. Er würde den anderen auf den Rang eines beliebigen Gegenstandes erniedrigen. Dennoch ist es gerade Descartes, an den Lévinas anknüpft, um den Unterschied zwischen dem Vorstellen von Gegenständen und dem Denken des anderen plausibel zu machen. Für Descartes hat die Philosophie eine erste Gewißheit im Cogito ergo sum. Aber das Cogito verlangt seinerseits danach, begründet 108 109 110 111

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TI 169 f./TU 279 f. TI XV/TU 28. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft A, 320. R. Descartes, II. Meditation, in: Œuvres et Lettres, 278.

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§ 30 Das denkende Subjekt

zu werden. Die Frage nach dem eigenen Grund führt das Cogito hinter sich zurück auf die Idee des Unendlichen; das Ich in seiner Zweifelhaftigkeit und Ungewißheit, in seiner Endlichkeit, hat seinen Grund im Unbedingten und Unendlichen. Die Idee des Unendlichen erkennt Descartes als die Voraussetzung der eigenen Existenz und des eigenen Philosophierens. Das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit ist nicht ohne die Idee des Unendlichen. Woher aber diese Idee? Sie muß, so sagt Descartes, von außen in mich hineingelegt worden sein. Ihr Ursprung liegt in einem anderen, in etwas, das das Subjekt nicht aus sich selbst hervorbringen könnte. Lévinas erkennt darin eine Schrittfolge, die auch für seine Philosophie gilt. Wo Descartes als erste Phase des Selbstseins das Cogito sieht, da beschreibt Lévinas das autonome Ich in seinem Haus. Erst die zweite Phase führt auf die Frage nach dem Grunde. Dem Cogito offenbart sich die Idee des unendlichen Gottes, dem ökonomischen Menschen der unendliche andere. In der Idee des Unendlichen denkt das Subjekt »mehr als es denkt«. »Denken heißt, die Idee des Unendlichen besitzen oder unterwiesen werden.« 112 Damit wird das Denken deutlich vom Vorstellen abgegrenzt. Dennoch aber bleiben Denken und Vorstellen eng miteinander verbunden. Zwar ist das Denken nicht selbst das Vorstellen; aber beide hängen eng zusammen. Die Begegnung mit dem anderen verändert das Verhältnis zu den Dingen: Das Subjekt löst sich aus ihrem Zusammenhang und stellt sie auch dem anderen zur Verfügung. Vorstellen und Denken sind also zwei Richtungen desselben Subjekts. Es ist nicht so, daß ein zunächst vorstellendes Subjekt das Vorstellen aufgäbe, um in einem zweiten Akt zum Denken überzugehen. Vielmehr ist es ein Geschehen, das sich als Empfang des anderen und als Gabe an ihn entfaltet, als Einheit von Denken und Vorstellen. Daher sagt Lévinas von der Sprache, in der sich diese Einheit realisiert: »Die Sprache vollzieht das ursprüngliche Dem-anderen-zur-VerfügungStellen – das sich auf den Besitz bezieht und die Ökonomie voraussetzt.« 113 Der Sprecher oder das ethische Subjekt stellt vor und denkt ineins.

112 TI 179/TU 294; diese enge Bedeutung hat der Ausdruck nur im Umkreis von »Totalität und Unendlichkeit«. 113 TI 148/TU 252.

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30.2 Mit dieser Definition des ethischen Subjekts, das zugleich vorstellt und denkt, stellt sich erneut die Frage nach seinem Sein. Vom Idealismus bewahrt Lévinas das Konzept der distanzierten Betrachtung, der theoretischen Vorstellung. Aber der Idealismus scheitert gerade an der Frage nach dem Sein des theoretischen Subjekts. Für ihn definiert sich das Subjekt wesentlich als Korrelat der idealen Begriffe, des mundus intelligibilis jenseits von Zeit und Raum. Wenn aber Zeit und Raum die Grundformen des Seins sind, dann fragt sich, worin das Sein des idealen Subjekts besteht. Nun ist das ethische Subjekt mit dem bloß vorstellenden nicht identisch; denn das Subjekt definiert sich wesentlich durch den Bezug zum anderen. Aber beiden ist gemeinsam die Transzendenz über die sinnliche Welt hinaus. Indem das eigene Sein zum Gegenstand gemacht wird, tritt der Mensch seinem Sein gegenüber. Daher stellt sich auch für das ethische Subjekt die Frage: Ist es jenseits des Seins? Lévinas gewinnt hier eine große Nähe zur Philosophie Platons. Denn der Gedanke der Transzendenz über die sinnliche Welt hinaus ist platonisch, wenn Lévinas auch auf anderem Wege zu ihm gelangt. Aber wie für jeden Idealismus, so stellt sich auch für Lévinas die Frage nach dem Sein des Subjekts. Dabei scheint er vor eine aporetische Situation zu geraten. Entweder hält er an dem theoretischen Charakter des Subjekts, an seiner Befreiung aus dem Sein fest und riskiert damit, in den Idealismus zurückzufallen. Oder er schreibt dem Subjekt Sein zu, muß aber zum Preis auf die Vorstellung, also auf die Gabe und den ethischen Charakter insgesamt verzichten. Lévinas löst diese Aporie auf, indem er unter den Titeln »transitive Intentionalität« und »Inkarnation« einen neuen Seinsbegriff einführt bzw. den bisherigen neu interpretiert. Das zentrale Merkmal eines Denkens, dem auch Sein zugeschrieben wird, ist die Unhintergehbarkeit. Nach idealistischem Verständnis kann das Subjekt aus dem Sein heraustreten, um es zu seinem Gegenstand zu machen. Wenn dagegen dem theoretischen Akt selbst Sein zukommt, dann kann dieses Sein des Aktes nicht mehr ohne einen endlosen Regreß thematisiert werden. Eben dies gilt nun vom Denken. »Wir kennen diese Beziehung nur – und das macht sie bemerkenswert – in dem Maße, in dem wir sie ausführen.« 114 Im Lévinas’schen Begriff des Denkens wird das Denken als Akt 115 ver114 115

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TI 10/TU 45. TI XV/TU 29.

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standen, als ein Geschehen, das sich nicht in ein theoretisches und ein praktisches Moment zerlegen läßt. In der »metaphysischen Transzendenz« zum unendlichen anderen »wird«, so kündigt Lévinas im Vorwort zu »Totalität und Unendlichkeit« an, »der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis verschwinden« 116 . Etwas später heißt es: »Auf die Gefahr hin, Theorie und Praxis dem Anschein nach miteinander zu vermischen, behandeln wir die eine wie die andere als Modus der metaphysischen Transzendenz. Die scheinbare Verwirrung ist beabsichtigt und stellt eine der Thesen dieses Buches dar.« 117 Das Denken als das Geschehen der Beziehung zum unendlichen anderen ist daher in der Sprache der Tradition die Einheit von Sein und Denken, in der Sprache der Phänomenologie die Existenz. 118 Es liegt nahe, zur näheren Bestimmung des ethischen Subjekts auch diejenigen Arbeiten Lévinas’ zu konsultieren, die im zeitlichen Umfeld von »Totalität und Unendlichkeit« liegen. Das sind vor allem die 1959 veröffentlichten Studien zum Husserlschen Begriff der Intentionalität unter dem Titel »Der Untergang der Vorstellung« und »Intentionalität und Empfindung« 119 . In beiden Aufsätzen unterscheidet Lévinas zwei Formen der Intentionalität: einerseits eine objektivierende, andererseits eine »transitive Intentionalität« 120 . Die objektivierende Intentionalität hat ihr Modell an der Vorstellung, die transitive an der Kinästhese. Husserl bemüht in dem von Lévinas herangezogenen Text den Begriff der Kinästhese, um die Konstitution des Raumes zu erklären 121 . Könnte der Raum gemäß der objektivierenden Intentionalität konstituiert werden, so hätte das Subjekt die Mannigfaltigkeit der Raumpunkte zur Einheit des Raumes zusammenzufassen. Das Subjekt selbst würde dabei in unbewegter Identität verharren; denn die Konstitution durch objektivierende Intentionalität läßt das konstituierende Subjekt unverändert. Diese Idee eines in sich verharrenden Subjekts wird mit der Kinästhese verlassen. Die Kinästhese ist Raumempfindung, also Empfindung eines räumlichen Inhalts nur darum, weil sie selbst »Raum« – Bewegung ist. Indem sie vollzieht und selbst ist, was sie empfindet, fallen in der Kinästhese Auffassung 116 117 118 119 120 121

TI XVII/TU 32. TI XVII/TU 33. DEHH 91 ff./SpA 53 ff., sowie TI XVII und 239/TU 33 und 382. Vgl. DEHH und SpA. Etwa DEHH 142/SpA 148. DEHH 140 ff./SpA 146 ff. A

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und Inhalt, Subjekt und Objekt zusammen. Der Inhalt wird zum Sein der Empfindung, die Empfindung wandelt sich in ihren Inhalt. Die Intentionalität, die die Subjekt-Objekt-Trennung überwindet und die Lévinas hier die »transitive Intentionalität der Inkarnation« 122 nennt, bedeutet »vor allem, daß jeglicher Gegenstand das Bewußtsein, durch das er erstrahlt und eben dadurch erscheint, ruft und gewissermaßen hervorbringt. Die sinnliche Erfahrung«, so fährt Lévinas fort, »hat den Vorzug; denn diese Zweideutigkeit der Konstitution, in der das Noema die es konstituierende Noese bedingt und abschirmt, spielt sich in ihr ab.« 123 Husserl freilich glaubt, noch hinter die inkarnierte Intentionalität zurückgehen zu können auf das reine körperlose Ich. Für Lévinas hingegen ist die transitive Intentionalität nicht mehr gegenständlich zu machen. »Vielleicht«, suggeriert er, »teilt sich dieses Leben, das Sinn verleiht, anders mit und setzt für seine Offenbarung Beziehungen voraus, die nicht mehr Objektivation, sondern Gesellschaft sind! Man kann die Bedingung der Wahrheit in der Ethik suchen.« 124 Wenden wir diese Suggestion in eine These um, so lautet sie: Die Suche nach der Wahrheit gründet in einer sozialen Erfahrung. Diese soziale Erfahrung vollzieht sich nach dem Modell der transitiven Intentionalität der Inkarnation. Kurz, die metaphysische Transzendenz hat die Form der transitiven Intentionalität. 125 30.3 Die Beschreibung der metaphysischen Transzendenz als Ununterschiedenheit von Theorie und Praxis bleibt indes ungenügend, solange nicht die radikale Passivität hervorgehoben ist, als die sich das »Denken« vollzieht. Das Denken ist »praktisch«, sofern in ihm die theoretische Distanz überwunden wird und das Subjekt ins Sein hinabsteigt 126 ; aber darum ist es nicht spontan. Im Denken geschieht etwas mit dem Subjekt; dieses Geschehen ist die Unterweisung 127 . Was heißt »Unterweisung«? Nach der sokratischen Lehre vollzieht DEHH 143/SpA 150. DEHH 134/SpA 135 f. 124 DEHH 135/SpA 138. 125 In der frühen Philosophie kennzeichnete die Transitivität das mythische Leben. Hier dagegen tritt die Transitivität in einen ganz neuen Zusammenhang und mit ihr die der Vorstellung vorausgehende Sinnlichkeit. 126 TI XV/TU 29. 127 Enseignement; TI 179/TU 294. Es sei daran erinnert, daß auch das Wort »Thora« Unterweisung oder Lehre bedeutet. 122 123

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sich die Unterweisung als Geburtshilfe: Indem das Subjekt lernt, entfaltet es nur, was schon in ihm ist. »Das Ideal der sokratischen Wahrheit beruht … auf der essentiellen Genügsamkeit des Selben.« 128 Mit der Idee des Unendlichen in Gestalt des Antlitzes und seines Ausdrucks tritt dagegen etwas in das Subjekt ein, das zuvor nicht in ihm war und ohne Apriori ist: »Die Unterweisung ist eine Rede, in der der Meister dem Schüler beibringen kann, was der Schüler noch nicht weiß. Die Unterweisung verfährt nicht wie die Maieutik, sondern setzt fortwährend in mich die Idee des Unendlichen.« 129 Wenn die Ethik eine Umwendung des biologischen Subjekts bewirkt, so deswegen, weil in ihr das absolut andere an das Subjekt herantritt. Die Transzendenz ist zwar ein Tun, ein »Überschuß an Sein über das bloße Denken hinaus« 130 , aber doch kein Tun des Subjekts, kein Akt im Sinne der Spontaneität, sondern passiv. Daher nennt Lévinas das Denken auch »Empfang« (accueil). Im Denken empfängt das Subjekt den anderen und seine Weisung 131 . Subjektivität als Empfang ist das Thema von »Totalität und Unendlichkeit«: »Dieses Buch stellt die Subjektivität als etwas dar, das den anderen empfängt, es stellt sie als Gastlichkeit dar.« 132 Es dürfen also der Empfang des anderen und die Gastlichkeit nicht als Akte mißverstanden werden, zu denen sich das Subjekt entschließt oder denen gegenüber es sich auch verschließt. Für Lévinas gibt es vor dem Empfang des anderen kein sich aufschließendes oder verschließendes Subjekt. Vielmehr ist der Empfang des anderen für das Subjekt konstitutiv, solange wir jedenfalls als Subjekt nur das Seiende bezeichnen, das Sprache besitzt. Vor dem Subjekt gibt es ein Lebendiges. Aber erst der Empfang des anderen macht das Lebendige zum Subjekt, das animal brutum zum animal rationale. Das Subjekt gehört als Subjekt dem Unendlichen, es ist der Ort, an dem das andere sich offenbart, es ist die Unendlichung des Unendlichen 133 , das Zeugnis des anderen (le témoignage de l’autre). Da das Unendliche – der andere – kein Phänomen im eigentlichen Sinne ist, sondern aus der Perspektive der Phänomenologie unsichtbar, verstehen wir, daß Lévinas sagt: »Die Wahrheit des Unsichtbaren ereignet 128 129 130 131 132 133

TI 14/TU 53. TI 155/TU 262. TI XV/TU 29. Tl 178 f./TU 294. TI XV/TU 28. Infinition de l’infini, TI XV/TU 28. A

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sich ontologisch durch die Subjektivität, die sie sagt.« 134 Subjektsein heißt, das Sagen des Unendlichen sein. 30.4 Aus diesem Verhältnis leitet Lévinas einen neuen Begriff der Leiblichkeit des Subjekts ab. Ohne daß der sehr differenzierte Begriff des Leibes in alle Einzelheiten zerlegt werden soll, sind die gegenwärtigen Zusammenhänge doch geeignet, einige Bestimmungen zu klären. Das bloß Lebendige hat noch keinen Leib im eigentlichen Sinne; es fällt vielmehr mit seinem Leib zusammen. Der Leib des Lebendigen »ist noch außerhalb des Habens und Nicht-Habens. Wir verfügen über unseren Leib [nur] in dem Maße, in dem wir durch das Wohnen schon das Sein des Elements, in dem wir baden, aufgehoben haben.« 135 Einen Leib hat das Subjekt nur, soweit es sich von seiner materiellen Existenz zu befreien beginnt. Diese Distanz vollendet sich in der Vorstellung als das Ich denke oder als Selbstbewußtsein. Das Selbstbewußtsein entsteht erst, wenn die Identifikation mit dem Leib aufgelöst wird, wenn das Subjekt sich aus dem Sinnlichen und Leiblichen zurückzieht, um über es zu herrschen. Daher ist Bewußtsein »Entleiblichung« 136 . Aber gerade darin tritt nun eine neue Leiblichkeit (incarnation) auf: die Passivität des Subjekts angesichts des unendlichen anderen. Neben den Leib als Organ des Lebendigen einerseits und als distanzierten Gegenstand andererseits tritt der Leib als passiver Vollzug der ethischen Transzendenz. Das Subjekt steht dem anderen nicht betrachtend gegenüber, sondern vollzieht in seinem Sein die Offenbarung des Unendlichen. Indem das Unendliche im Subjekt Idee des Unendlichen wird, steigt es ins Sein hinab. »Das Bewußtsein erhält seine Bewegung von dem Umstand, daß jenseits der Adäquation das Ideatum« – das Unendliche – »die Idee« – die subjektive Erscheinung des Unendlichen – »überflutet; dieses Überflutetwerden ist die Idee des Unendlichen; und nur so ist die Inkarnation des Bewußtseins verständlich.« 137 Dieses Verhältnis des Subjekts zum anderen nennt Lévinas auch »die Einheit der Seele mit dem Leib« 138 . Wird der Leib aus dem Empfang des anderen, aus der Rezeptivität für das Unendliche abgeleitet, so steht das Subjekt diesem 134 135 136 137 138

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TI 221/TU 358. TI 135/TU 233. TI 140/TU 239. TI XV/TU 29 f. Etwa DEHH 143/SpA 150; vgl. auch DEHH 156–160/SpA 174–181.

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Leib nicht mehr gegenüber, es hat nicht mehr seinen Leib, sondern es ist sein Leib. Der Leib vollzieht die Beziehung zum anderen, oder deutlicher: Als passive sinnliche Beziehung zum anderen ist das Subjekt leiblich. Die Transzendenz ist unmöglich Sache eines unleiblichen Ich. 30.5 Mit dem Denken als Existenz, Passivität und Einheit von Leib und Seele ist schließlich auch das Merkmal verknüpft, ohne das es für Lévinas keine Moral gibt: die Asymmetrie. Die Asymmetrie ist die Tatsache, daß das Subjekt als ethisches seine Perspektive nicht verlassen kann zugunsten einer »objektiven« Überschau über das Verhältnis. Das ethische Verhältnis zum anderen ist grundsätzlich verschieden von einer objektivierenden Vorstellung des Verhältnisses. Daher spricht Lévinas von der »radikalen Unmöglichkeit, sich von außen zu sehen und von sich und den anderen in der gleichen Weise zu reden« 139 . »Diese Unterschiede zwischen dem anderen und mir … liegen an der Verbindung Ich-anderer, an der unvermeidlichen Orientierung des Seins ›von-sich-aus‹ hin zum ›anderen‹. Der Vorrang dieser Orientierung vor den Termini, die in ihr stehen und die im übrigen ohne diese Orientierung nicht entstehen können – macht den Kern der Thesen des hier vorliegenden Werks aus.« 140 Der andere tritt in zweifacher Gestalt auf. Er ist einerseits der Bedürftige, dem das Subjekt zu Hilfe kommen muß; er ist aber zugleich der, der die Hilfe gebietet. Ich bin für den anderen verantwortlich, zugleich aber auch vor ihm. Der andere ist nicht minder die herrschende als die bedürftige Instanz 141 . Ohne diese Herrschaft könnte sich die Verantwortung für den anderen über den Betroffenen hinwegsetzen und zu einer neuen Tyrannei werden. Ohne sie freilich wäre der andere auch nicht der andere; denn es bedürfte einer übergeordneten Instanz als des Maßstabes meiner Verantwortung für den anderen. Diesen Maßstab setzt der andere selbst in seiner Unendlichkeit. Aus der Orientiertheit des Verhältnisses folgt die Unaustauschbarkeit der Relata. Wenn zur ethischen Beziehung die Trennung – die »Absolution« – der Termini gehört, so hat doch die Absolution für jeden der getrennten Termini einen verschiedenen Sinn. »Der Metaphysiker ist nicht

139 140 141

TI 24/TU 67. TI 190/TU 312. Poirié 124. A

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im selben Sinne absolut wie das Metaphysische.« 142 Lévinas verwahrt sich dagegen, in Bezug auf das ethische Verhältnis von einer Korrelation zu sprechen 143 . Der Begriff der Asymmetrie »drängt sich der Betrachtung im Namen einer konkreten moralischen Erfahrung auf: Was ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom anderen zu fordern das Recht habe, nicht verglichen werden.« 144 Nun ist das Vorstellen gerade jenes Vergleichen und objektivierende in Beziehung Setzen. Also bleibt die Asymmetrie, in der sich alle Momente der Moral versammeln, an die Transitivität gebunden. Nach diesen Überlegungen kann das Denken als inkarnierter, passiver und asymmetrischer Vollzug der Beziehung zum anderen bestimmt werden. 30.6 Die letzten Erörterungen führen uns einerseits ins Zentrum der Philosophie Lévinas’. Hier macht Lévinas den Versuch, einen neuen Seinsbegriff einzuführen. Anderseits werfen seine Thesen auch neue Probleme auf; es stellt sich nämlich die Frage, wie dieser neue Seinsbegriff mit der früheren Philosophie vereinbar ist. Das Entscheidende ist, daß Lévinas das Denken, das er dem Vorstellen entgegensetzt, daß er die Idee des Unendlichen als Existenz, als ein Geschehen beschreibt. Dabei geht die Idee des Unendlichen dem Vorstellen voraus. Damit zerstört Lévinas den idealistischen Mythos eines zeitlosen Subjekts. Dieser Mythos konnte entstehen, weil das Denken als Vorstellen verstanden wurde und das Vorstellen einen Zugang zu den überzeitlichen Begriffen verschaffte. Nun wird man sagen, daß nicht erst Lévinas das Subjekt als zeitliches Geschehen definiert. Das haben vor ihm insbesondere auch Heidegger und in Frankreich Merleau-Ponty gemacht. Und bei beiden geschah es mit dem Argument, daß die theoretische Vorstellung und die wissenschaftliche Einstellung abkünftig sind. Insbesondere Merleau-Ponty hat diesen Gedanken vertieft und die Theorie in leiblichen Prozessen verankert. Die levinas’schen Begriffe der Inkarnation und der transitiven Intentionalität konvergieren mit Begriffen, die wir aus der Philosophie Merleau-Pontys kennen 145 . TI 195/TU 319. TI 24, 195/TU 67, 319. 144 TI 24/TU 67. 145 Vgl. dazu etwa M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 15, die Unterscheidung zwischen der Intentionalität der Akte und einer fungierenden Intentionalität. 142 143

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Aber der alles entscheidende Einwand sowohl gegen MerleauPonty als auch gegen Heidegger lautet: Beide sehen zwischen dem Denken und dem Vorstellen keinen qualitativen Unterschied. Zwar heißt es von Heidegger zunächst: »Es ist die Philosophie Heideggers, in der sich auf besonders deutliche Weise die Trennung des Begriffs des Sinnes von dem der Objektivität [der Vorstellung] vollzieht. Für ihn heißt ›einen Sinn verstehen‹ nicht soviel wie ›in der einen oder anderen Form ein Objekt intendieren‹. Verstehen heißt nicht, sich vorstellen.« 146 Das hindert gemäß Lévinas Heidegger nicht, beide doch wieder unter dem Oberbegriff des Verstehens zusammenzufassen und so einander nahezubringen: »Schließlich beschreibt Heidegger die Existenz in Termini des Verstehens … Dadurch kehrt Heidegger zur traditionellen Philosophie zurück … Am Sein teilnehmen heißt, es denken oder es verstehen.« 147 Ähnlich heißt es von Merleau-Ponty, er habe besser als andere gezeigt, daß das unleibliche Denken ein Mythos sei. 148 Stimmt Lévinas, was die Beschreibung der Leiblichkeit angeht, mit Merleau-Ponty überein, so ist doch die Deutung eine ganz andere. Wenn Lévinas vom »leiblichen Wesen« der Sprache 149 spricht, so erläutert er dies mit den Worten: »Die Idee des Unendlichen im Bewußtsein ist ein Überfließen dieses Bewußtseins, dessen Inkarnation einer Seele, die nicht länger paralysiert ist, neue Vermögen bietet, das Vermögen zu empfangen und zu geben, das Vermögen voller Hände, das Vermögen der Gastlichkeit.« 150 Lévinas fügt dann auch hinzu, wie die Leiblichkeit nicht verstanden werden darf: »Aber würde die Inkarnation der Sprache ohne Hinweis auf die ontologische Struktur, die sich in der Inkarnation realisiert, betrachtet, so würde die Sprache der Aktivität angeglichen, jener Verlängerung des Denkens in Leiblichkeit, des ›ich denke‹ in ›ich kann‹, die sicher als Prototyp gedient hat für die Kategorie des Leibes oder des inkarnierten Denkens, die zum Teil die gegenwärtige Philosophie beherrscht.«151 Für Lévinas also bedeutet die vorthematische Präsenz des Sinnes den Empfang des anderen; Merleau-Ponty hingegen sieht in der Leiblichkeit die ursprüngliche EntDEHH 51. DEHH 106/SpA 79. Denken ist hier im allgemeinen Sinne, nicht in der spezifisch Lévinas’schen Bedeutung zu verstehen. 148 TI 180–1/TU 296–7. 149 TI 179/TU 295. 150 TI 179/TU 295. 151 TI 179–80/TU 295. 146 147

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faltung eines ›ich kann‹, das dem ›ich denke‹ vorausgeht. MerleauPontys Begriff der Leiblichkeit und der fungierenden Intentionalität verläßt nach Lévinas nicht die egologische Sphäre. Das ›ich denke‹ hat im ›ich kann‹ einen Vorgänger; beide zielen auf Aneignung der Welt. 30.7 Es bleibt die Frage, wie dieser neue Seinsbegriff mit ähnlichen Beschreibungen des Seins aus der frühen Philosophie vereinbar ist. Insbesondere der Begriff der Transitivität dient in der frühen Philosophie zur Kennzeichnung einer Seinsverfassung, in der der Mensch im Sein gefangen bleibt. Sie ist das Gegenteil der Befreiung aus dem Sein. Die traditionelle Philosophie unterschied das Leben einerseits und das Denken als Bezug zum Unbedingten, der über das Leben hinausging. Denkend transzendierte der Mensch das Leben: »Primum vivere, deinde philosophari.« Der zentrale Gedanke sowohl der Phänomenologie als auch der Philosophie der Existenz ist die Rücknahme des Denkens in den Lebensprozeß: Der Anspruch des Denkens auf unmittelbaren Zugang zum Unbedingten wird zurückgewiesen. Das ist in seiner Substanz »der Begriff einer Existenz, die begriffen ist nach dem Modell der Transitivität des Denkens, welche nach unserer Auffassung den großen Beitrag zur Philosophie seitens der phänomenologischen und existenzialistischen Philosophie im weiten Sinne des Wortes bedeutet.« 152 Und an anderer Stelle: Der Begriff der Existenz »übernimmt vom Denken die Transitivität, er verwirft den Anspruch des Denkens auf das Unendliche – dies scheint uns der existenzialistische Begriff der Existenz zu sein.« 153 Diesem Seinsbegriff steht Lévinas von Anfang an mit Skepsis gegenüber. Er assoziiert ihn mit dem Seinsverständnis, das die Ethnologie den Naturvölkern zuschreibt. Insofern sieht er auch eine Beziehung zwischen diesem »primitiven« – sit venia verbo! – Denken und den Theorien gewisser moderner Philosophen, Heidegger inbegriffen. 154 Daher behandelt Lévinas in seinem Aufsatz über den Ethnologen Lévy-Bruhl konsequenterweise auch den »Untergang der Vorstellung« 155 . Die Nichtigkeit der Vorstellung bedeutet zugleich die Gefangenschaft im Sein. 152 153 154 155

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DEHH 100/SpA 69. DEHH 102/SpA 73. Vgl. EN 59/ZU 63. EN 55- 59/ZU 59–62; der Aufsatz ist auf das Jahr 1956 datiert.

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Drei Jahre später handelt Lévinas erneut vom »Untergang der Vorstellung« 156 . Hier wird der Begriff einer Leiblichkeit und transitiven Existenz entwickelt, die mit der Idee des Unendlichen zusammenfällt: »Wer die Koextension des Denkens« – im Sinne der Idee des Unendlichen – »und der Subjekt-Objekt-Beziehung aufhebt, öffnet den Blick für eine Beziehung mit dem anderen …« 157 Die Skepsis gegenüber dem Sinnlichen 158 , die freilich schon in der frühen Philosophie nicht ungebrochen war – man denke an die Rolle der Erotik! –, weicht nun einer neuen Einschätzung: Gerade die Ungreifbarkeit des Sinnlichen sowie ihre Unmittelbarkeit, die Überschwemmung des Menschen mit etwas, was sich seiner bewußten Kontrolle entzieht, lassen die Sinnlichkeit und den Leib als die bevorzugten Medien des anderen erscheinen. Für das Verständnis nicht nur des ethischen Ansatzes, sondern der weiteren philosophischen Entwicklung Lévinas kommt es entscheidend darauf an, daß man die beiden Begriffe von Sinnlichkeit auseinanderhält: Sinnlichkeit als Sein ohne Seiendes und Es-gibt einerseits und Sinnlichkeit als Idee des Unendlichen und Denken anderseits. Die erste könnte man behelfsweise als natürliche, die zweite als ethische Sinnlichkeit bezeichnen. Dabei gibt Lévinas uns – zumindest vorläufig – keine Antwort auf die Frage nach ihrem gegenseitigen Verhältnis. Haben wir es mit einer zweiten Form von Sinnlichkeit neben der ersten zu tun? Müssen wir annehmen, daß es sich um zwei verschiedene Stufen in der Entwicklung der Menschheit oder des Einzelnen handelt? Oder müssen wir davon ausgehen, daß die zweite Form der Sinnlichkeit die erste uminterpretiert und ersetzt, daß hier eine Revision zentraler Begriffe stattfindet? Die weitere Entwickung von Lévinas’ Philosophie, die das vorbegriffliche Leibliche zur fundamentalen ethischen Instanz macht, spricht für die zweite Möglichkeit.

Vgl. DEHH 125 sq./SpA 120 ff.; vgl. oben § 27, 3. DEHH 135/SpA 138. 158 Vgl. dazu noch einmal in TU den Abschnitt III.A: »Antlitz und Sinnlichkeit«, der noch einmal die Position der frühen Philosophie resümiert. 156 157

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3.4 Die Politik

§ 31 Problemstellung Die Entwicklung des ethischen Ansatzes, soweit wir ihn bisher verfolgt haben, kann zugleich als Rekonstruktion der traditionellen Subjekttheorie auf ethischer Basis verstanden werden. Lévinas hat immer wieder seine Nähe zum Idealismus betont, insbesondere zum Gedanken der Transzendenz über die sinnliche Welt hinaus. Allein, der Idealismus mißversteht sich selbst, solange er sich für die ultima ratio hält. Die Transzendenz über das Sinnliche hinaus, der Zugang zum übersinnlichen Allgemeinen, das in den sprachlichen Begriffen niedergelegt ist, verweist auf einen jenseitigen Grund. Nun hat auch Platon von einem Guten jenseits der Ideen gesprochen. Diese Rede nimmt Lévinas für sich in Anspruch, wenn er den Impuls für die Theorie und die theoretische Einstellung in der Praxis, nämlich im Guten und in den ethischen Forderungen, sieht. Erst die Ethik schafft die Allgemeinheit, die Platon den Ideen zuschreibt. Mit dieser ethischen Begründung der traditionellen Subjekttheorie überwindet Lévinas die Gefahr des Solipsismus und der Totalisierung des Seins, die dem Idealismus immanent ist: In der ethischen Beziehung, die Lévinas auch die metaphysische nennt, realisiert sich »ein mannigfaltiges Existieren, der Pluralismus« 1 . Dieser Pluralismus setzt voraus, daß die Termini sich aus der Totalität herausgelöst, sich »absolviert« haben, daß sie in diesem Sinne absolut sind. Sie stehen jenseits der Totalität. Freilich herrscht zwischen ihnen die Asymmetrie des Verpflichtenden und des Verpflichteten. Das hindert nicht, daß beide in ihrer Weise absolut, also jenseits des natürlichen Sinnlichen sind. Dank des Gedankens der Transzendenz bleibt Lévinas dem Platonismus sehr nahe. Diese Nähe wirft allerdings auch ein neues Problem auf. Aus der Jenseitigkeit der Seele hatte Platon auf ihre Unsterblichkeit geschlos1

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TI 195/TU 319.

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§ 31 Problemstellung

sen. Die Unterscheidung von Leib und Seele berechtigt zu der Hoffnung, daß der Tod des Leibes nicht auch die Seele in den Untergang reißt. Diese Hoffnung teilen wir nicht mehr. Dem Denken traut man nicht mehr zu, über den Tod zu triumphieren 2 : Der Mythos von der Unsterblichkeit der Seele hält der Todesangst und den Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht stand. Die Philosophie der Existenz hat den Menschen in seiner Endlichkeit und Kreatürlichkeit entdeckt. Von ihm ist auszugehen. Wie aber haben wir dann die Sterblichkeit eines Subjekts zu verstehen, dessen Bewußtsein als »Entleiblichung« bestimmt wird? Ist das Sterben nicht primär ein leiblicher Vorgang? Wie kann überhaupt ein Bewußtsein durch leibliche Vorgänge betroffen sein, wenn es sich durch die Distanz zum Leib definiert? Diese Frage wird auch nicht dadurch überflüssig, daß dem getrennten Bewußtsein seinerseits eine Form von Leiblichkeit zugesprochen wird. Sterblichkeit meint ja, daß der Abstand des Bewußtseins zu seinem eigenen Sein aufgehoben wird, daß das Subjekt auf seine Körperlichkeit reduziert wird und dort erlischt. Nun vollzieht das ethische Bewußtsein aber gerade die Trennung von sich selbst. Wie ist es möglich, daß das ethische Subjekt überhaupt stirbt? Ja, nicht erst der Tod wird unter den gegebenen Voraussetzungen fraglich, sondern die Möglichkeit von Gewalt unter absoluten Subjekten. »Wie vermöchten getrennte Seiende eine Beziehung zu unterhalten, und sei diese Beziehung Gewalt?« 3 Diese Frage trifft den Leser von »Totalität und Unendlichkeit« einigermaßen unvorbereitet; nichts im bisherigen Verlauf der Untersuchung schien auf sie hinzuweisen. Anderseits trägt sie der sozialen Wirklichkeit Rechnung, die auch Lévinas sich nicht verhehlt. Die soziale Wirklichkeit gehorcht nicht den Imperativen der Ethik, sondern der Politik. Die Politik hat ihr Prinzip nicht an der ethischen Beziehung, sondern am Kampf um Selbsterhaltung. Sie sieht ihre Aufgabe darin, den Kampf aller gegen alle wenigstens soweit zu bändigen, daß die Menschen sich nicht gegenseitig vernichten. Sie will zwar Gerechtigkeit; aber »die politische Theorie begründet die Gerechtigkeit mit dem selbstverständlichen Wert der Spontaneität.« 4 Subjekt der Politik ist der autonome Mensch; sein Anspruch geht auf Freiheit und Selbstverwirklichung. Darum ist die Politik, wie es 2 3 4

Vgl. DEHH 106/SpA 79. TI 198/TU 323. TI 55/TU 114. A

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III. Die ethische Transzendenz · Die Politik

in der Einleitung programmatisch heißt, »der Moral … entgegengesetzt« 5 . Die Frage, die sich angesichts der politischen Wirklichkeit stellt, hat Lévinas in den einleitenden Sätzen von »Totalität und Unendlichkeit« formuliert: Ist nicht die Moral angesichts der Politik ein Selbstbetrug? »Jeder wird uns ohne weiteres darin zustimmen, daß es höchst wichtig ist, zu wissen, ob wir nicht von der Moral zum Narren gehalten werden. Besteht die Hellsichtigkeit – die Öffnung des Geistes für das Wahre – nicht darin, die permanente Möglichkeit des Krieges im Auge zu behalten? Der Krieg … macht die Moral lächerlich. Daher ist man geneigt, in der Politik als der Kunst, den Krieg vorauszusehen und mit allen Mitteln zu gewinnen, den eigentlichen Vollzug der Vernunft zu sehen.« 6 Aber der Krieg ist für Lévinas nicht nur eine faktische Auseinandersetzung mit den Mitteln der Gewalt, sondern ein Seinsprinzip. Dies klingt schon an, wenn Politik und Vernunft identifiziert werden. Es bestätigt sich, wenn Lévinas schreibt: »Daß sich dem philosophischen Denken das Sein als Krieg zeigt, daß der Krieg als die offenkundigste Tatsache nicht nur mit dem Sein zu tun hat, sondern die eigentliche Offenbarkeit (patence) des Wirklichen – oder seine Wahrheit – ausmacht, dazu bedarf es keiner Beweise anhand dunkler heraklitischer Fragmente.« 7 Wenn aber das Sein sich in Krieg und Politik entfaltet, wie soll sich dann gegen dieses Sein die Ethik behaupten? Es sind also zwei Fragen, die eine Antwort fordern: 1. Wie ist angesichts der ethischen Transzendenz überhaupt Gewalt möglich? Und 2. Wenn Gewalt möglich ist, wie kann sich ihr gegenüber das ethische Subjekt behaupten?

§ 32 Die Endlichkeit des Subjekts 32.1 Was ist das Wesen der Gewalt und wie ist sie möglich? Sein Verständnis von Gewalt hat Lévinas schon sehr früh ausgeführt. 8 »Gewalt«, so heißt es, »steckt nicht nur in einer Billardkugel, die geTI IX/TU 19. TI IX/TU 19. 7 TI IX/TU 19. 8 Vgl. »Ethique et esprit« in: Evidences (1952) Nr. 27; aufgenommen in DL 15–24; vgl. insbesondere 19–21. 5 6

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gen die andere Kugel prallt, im Gewitter, das eine Ernte vernichtet, im Herrn, der den Knecht mißhandelt, in einem totalitären Staat, der seine Bürger erniedrigt, in der kriegerischen Eroberung, die Menschen knechtet: Gewaltsam ist jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man allein: als wäre der Rest des Universums nur dazu da, die Handlung in Empfang zu nehmen; gewaltsam ist folglich auch jede Handlung, die uns widerfährt, ohne daß wir in allen Punkten an ihr mitwirken.« 9 Pauschal gilt: »In diesem Sinne ist daher fast jede Kausalität gewaltsam; die Herstellung eines Dinges, die Befriedigung eines Bedürfnisses, das Begehren und selbst das Erkennen eines Gegenstandes.« 10 Diesen weiten Begriff der Gewalt hat Lévinas später revidiert, indem er Gewalt und Arbeit unterschied. Gewalt im eigentlichen Sinne richtet sich gegen Personen. Arbeit als Einwirkung auf Sachen, etwa die oben noch der Gewalt subsumierte »Herstellung einer Sache«, ist nicht mehr Gewalt. »Sie« – die Arbeit – »wird auf das angewandt, was kein Antlitz hat, auf den Widerstand des Nichts. Die Arbeit wirkt im Bereich des Phänomens.« 11 Gewalt dagegen richtet sich gegen ein transzendentes Seiendes; ein transzendentes Seiendes ist aber ein Seiendes, das seine Identität aus sich selbst hat: Nur der andere ist transzendent. Gewalt bedeutet den Zugriff auf eine Freiheit und nicht nur auf ein lebloses Seiendes 12. Dennoch ist diese Auskunft, die Arbeit und Gewalt grundsätzlich trennt, nicht endgültig. Ob Arbeit sich nur auf die Sachen richtet oder durch die Vermittlung der Sachen auf andere Freiheiten, das hängt im Rahmen der Lévinas’schen Philosophie vom systematischen Ort ab, wo wir sie betrachten. Wenn wir davon ausgehen, daß Gewalt immer ein interpersonales Verhältnis ist, so ist diejenige Arbeit, die Lévinas als das Geschehen der Identifikation des Selben noch vor der Begegnung mit dem anderen unter dem Titel »Innerlichkeit und Ökonomie« beschrieben hat, – auch wenn sie sich gegen einen »anderen« richtet – keine Gewalt; denn für das bloß Lebendige gibt es noch nicht den anderen. Anders dagegen verhält es sich nach der Begegnung mit dem anderen. Hier ist die Arbeit, wenn sie keine Rücksicht auf den anderen nimmt, in der Tat Gewalt. In der wirkDL 19 f./SF 15. DL 20/SF 15. 11 TI 134/TU 230. 12 TI 198/TU 323. 9

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lichen Welt sind die Dinge und Ereignisse derart miteinander verflochten, daß die materiellen Veränderungen, die das Ergebnis der Arbeit sind, nicht ohne Auswirkungen auf die anderen Menschen bleiben. Der Umgang mit den Dingen impliziert ein Verhältnis zu anderen Menschen. Für Lévinas gibt es keine herrenlosen Güter. Jede Inbesitznahme berührt die Interessen anderer. »Die Welt der Wahrnehmung zeigt ein Gesicht: Die Dinge affizieren uns als solche, die von anderen besessen werden.« 13 Damit erweist sich die Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen und Personen als hinfällig; wir kommen wieder auf die anfänglich von Lévinas gegebene Definition zurück: Gewalt liegt da vor, wo jemand so handelt, als sei er der einzige auf der Welt, d. h. wo er die Ansprüche der anderen und seine Verantwortung für sie mißachtet. Daraus folgt, daß Gewalt zwei Momente hat: Sie setzt einerseits den Pluralismus und den anderen voraus. Sie ist andererseits die Wiederkehr des bloß vitalen Prinzips der Einheit, des Egoismus des Ego. Gewalt ist Egoismus unter den Bedingungen des Pluralismus. Die Gewalt geht vom Recht des Ich aus und ist ihrer Tendenz nach totalitär. Da sie die Beziehung zum anderen voraussetzt, steht sie der Ethik entgegen und ist doch nicht ohne Ethik möglich. »Krieg und Handel setzen zuvor das Antlitz und die Transzendenz des Seienden, das im Antlitz erscheint, voraus.« 14 Gewalt ist die Verhaltensweise des Menschen, der die Erfahrung des anderen gemacht hat, aber sich dennoch ihm gegenüber in die naturhafte Verschlossenheit zurückzieht. Sie entspringt dem Sieg der Natur über die Gesellschaft. 32.2 Wenn die Ethik der Politik vorausgeht und in sie umschlagen kann, sind Politik und Gewalt nicht eine frühe Stufe der Menschheit, die in der Ethik überwunden wird, sondern umgekehrt: Die Verantwortung für den anderen und die Sprache können in Krieg und Sprachlosigkeit umschlagen. Was ist der Grund dafür, daß der andere zum Gegner wird? Zunächst gilt für Lévinas, daß die Ethik dem Krieg vorausgeht. Er wendet sich damit vor allem gegen die Theorie, die nach dem Vorgang von Hobbes den Kampf und die Konkurrenz für die erste und fundamentale Voraussetzung des sozialen Lebens hält. Nach ihr haben Staat und Politik die Aufgabe, diesen Kampf in gesetzliche Bah13 14

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EN 29/ZU 28–9. TI 197/TU 321; vgl. auch TI 200/TU 327.

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§ 32 Die Endlichkeit des Subjekts

nen zu lenken; sie sollen verhindern, daß die Menschen sich gegenseitig zerfleischen. Dabei geht Hobbes von einem ursprünglichen sozialen Atomismus aus, also einem Pluralismus; aber gerade er ist der Anlaß für die zunächst ungezügelte Konkurrenz um Lebenschancen. Dem setzt Lévinas seine These von der Vorgängigkeit der Ethik entgegen. Sie bedeutet nicht, daß zuerst ein konkretes ethisches Verhältnis zum anderen bestanden haben muß, das dann der Gewalt gewichen ist. Vielmehr muß die Ethik nur möglich gewesen sein: »Den Krieg«, schreibt Lévinas, »kann es nur geben, … wo die Rede möglich war. Die Rede trägt sogar den Krieg.« 15 Voraussetzung für den Krieg und für soziale Gewalt ist die Transzendenz des anderen, die Erfahrung des Antlitzes. Mit dieser Erfahrung verbinden sich zwei Momente: die Eröffnung der Dimension der Jenseitigkeit und ineins damit die Einschränkung der eigenen Freiheit oder eine ethische Forderung an das Subjekt. Die beiden Momente können auseinandertreten. Die Anerkennung der Transzendenz des Antlitzes zieht nicht mit Notwendigkeit auch die Anerkennung der ethischen Forderung nach sich. Vielmehr wird das Subjekt vor eine Entscheidung gestellt: Soll es dem ethischen Anspruch folgen oder nicht? »Der Wille ist frei, diese Verantwortung zu übernehmen, wie es ihm gefällt; … er hat nicht die Freiheit, die vernünftige Welt, in die ihn das Antlitz des anderen eingeführt hat, nicht zu kennen.« 16 Ähnliche Bemerkungen begleiten von Anfang an das Werk Lévinas’. So wie, gemäß der frühen Philosophie, der Mensch zum Sein verschiedene Haltungen einnehmen kann, also das Seinsverständnis nicht Frage einer Schickung des Seins ist, sondern einer Wahl des Menschen, so hat der Mensch auch die Entscheidung über Ethik oder Politik. Die Ablehnung des ethischen Anspruchs negiert die Forderung des anderen und die Dimension des Ethischen, nicht aber seine Transzendenz. Der andere bleibt in seiner Transzendenz anerkannt. Damit schlägt die Asymmetrie des ethischen Verhältnisses um in das symmetrische der Politik. »Die Beziehung, die den Krieg unterfängt, TI 200/TU 327. TI 194/TU 317; vgl. auch TI 191/TU 313: »Der Anruf läßt Raum für einen Seinsprozeß … der getrennt bleibt und in der Lage ist, sich dem Anruf selbst, der ihn hervorgerufen hat, zu verschließen.« TI 49/TU 105: »Ich bin frei zu geben oder zu verweigern.« TI 147/TU 250: »Aber das getrennte Seiende kann sich in seinen Egoismus … einschließen … Möglichkeit, die Transzendenz des anderen« – genau genommen: nicht die Transzendenz, sondern den ethischen Anspruch – »zu vergessen.«

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die asymmetrische Beziehung mit dem anderen, der als unendlicher die Zeit öffnet und die Subjektivität transzendiert und beherrscht (…), diese Beziehung kann den Charakter eines symmetrischen Verhältnisses annehmen.« 17 In der Symmetrie bleibt die Transzendenz des anderen gewahrt, der ethische Anspruch wird verneint. Das ist der Sinn der Rede, der Krieg setze die Ethik voraus. »Unter diesen Umständen können die Unabhängigkeit des Ich und seine Stellung gegenüber dem absolut anderen innerhalb einer Geschichte und einer Politik auftreten … die Asymmetrie der interpersonalen Beziehung« wird eingeebnet, Ich und der andere werden »austauschbar«. 18 »Die Politik tendiert zur gegenseitigen Anerkennung, d. h. zur Gleichheit; und das politische Gesetz vollendet und rechtfertigt den Kampf um die Anerkennung.« 19 Indem ich und der andere austauschbar werden, verliert der andere seine bevorzugte Stellung, die ihn zur Quelle der Bedeutung machte. Er wird mit meinem Ich vergleichbar und zu einem anderen Ich, zur Wiederholung meiner selbst. Mit dem ethischen Vorrang des anderen geht auch die Orientierung verloren, die das Subjekt bisher an dem anderen hatte; zurück bleibt eine Mehrzahl orientierungs- und sinnsuchender Subjekte. Die Austauschbarkeit führt zur Gleichwertigkeit aller Interessen und damit zu ihrer Konfrontation. Es entsteht eine neue Form des Pluralismus, die wir, um sie vom ethischen Pluralismus abzusetzen, den politischen oder naturalen Pluralismus der autonomen Subjekte nennen können. 32.3 Gewalt setzt die Transzendenz des anderen voraus. Damit wiederholt sich aber die Frage, wie ein transzendentes Seiendes überhaupt Opfer von Gewalt werden kann. Die Transzendenz meint zunächst, daß das Subjekt nicht mit seiner äußeren Erscheinung identisch ist. Die Tradition hat für diese Differenz eine Sprachregelung gefunden: Sie unterscheidet das Innere und das Äußere. Lévinas übernimmt diesen – metaphorischen – Sprachgebrauch: Das Subjekt ist »Innerlichkeit« oder »inneres Leben« 20 . Daneben nennt er das Subjekt in diesem Sinne auch »Psychismus« oder »Wille« – Wille deswegen, weil der Abstand vom 17 18 19 20

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TI 201/TU 328. TI 201/TU 328. TI 35/TU 84. Vgl. etwa TI 27, 28, 217/TU 72, 74, 372.

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§ 32 Die Endlichkeit des Subjekts

Sinnlichen das Sinnliche dem Subjekt zur Verfügung stellt. Doch trotz aller Nähe Lévinas’ zum Idealismus gibt es ein Moment, das seine Philosophie radikal von allem Platonismus abgrenzt: Die Subjektwerdung ist selbst ein leiblicher Vorgang. Für Platon fällt die Seele in den Körper und ist dort wie eine Gefangene. Für Lévinas hingegen ist der Ausgangspunkt auch für das Bewußtsein und das Denken der Leib. Wir zitieren noch einmal eine Passage, die bereits angeführt wurde und die vollständig lautet: »Das Bewußtsein fällt nicht in einen Leib – wird nicht verleiblicht; es ist eine Entleiblichung – oder, genauer: ein Aufschub der Leiblichkeit des Leibes.« 21 Durch dieses Zitat grenzt sich Lévinas bei aller Nähe zur Intention des Platonismus doch radikal von dem platonischen Dualismus ab. Es besagt, daß Leib und Seele nicht zwei getrennte Instanzen sind, die im Menschen zusammenkommen. Vielmehr nimmt der Prozeß der Scheidung der beiden Instanzen vom Leib seinen Anfang und ist selbst ein leiblicher Vorgang. Vom Leib aus bildet sich die Dualität im Subjekt. Die Entwicklung der Leiblichkeit hängt für Lévinas engstens mit der Genese des Subjekts und diese mit der Eröffnung der Zeit zusammen. Zunächst ist der Leib der Umschlag des Seins in ein Seiendes. Das animalische Ich ist Leib. Das ethische Geschehen fordert aber eine zweite Transzendenz: die über das eigene animalische oder natürliche Sein hinaus. Das denkende Subjekt trennt sich von seinem Sein (das zum Objekt wird); aber diese Trennung ist selbst ein leiblicher Vorgang. Dadurch ist der Leib eine mehrdeutige Sache: Er steht über dem Sein und ist doch im Sein verwurzelt; er distanziert sich von sich und bleibt doch an sich gebunden. Diese Zweideutigkeit des Leibes ist unaufhebbar: »Ein Seiendes hat sich von der Welt« – von der Totalität – »losgemacht, obwohl es sich von ihr nährt. Der Teil des Seins, der sich von dem Ganzen, in dem er verwurzelt war, losgemacht hat, verfügt über sein Sein … Er hat Abstand. Hier liegt eine Zweideutigkeit vor, deren eigentliche Artikulation der Leib ist.« 22 32.4 Nun hat Lévinas den verschiedenen Phasen der Leiblichkeit als ebensovielen Phasen der Subjektivität eine je verschiedene Zeitlichkeit zugeordnet. Das Sein ohne Seiendes – das freilich in dem ethi21 22

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schen Ansatz nicht mehr thematisiert wird – ist ohne Zeit. Zeit wird als ein von einer Gegenwart ausgehendes geordnetes Verhältnis von Vor und Nach verstanden. Das Es-gibt ist auch zeitlich das Chaos. Zeit beginnt erst mit der Konstitution des Seienden. Diese Zeit ist Gegenwart, aber noch nicht als Zeitbewußtsein, sondern als Sein in einer Gegenwart, die in dem ungegliederten Strom einen Nullpunkt markiert. Diese Zeit könnte man als animalische Zeit bezeichnen. Davon unterscheidet sich die Zeit, die sich dank der Beziehung zum anderen öffnet. Der Abstand, den das Subjekt von seinem Sein gewinnt, die Öffnung zwischen dem Subjekt und seiner Existenz, nennt Lévinas Zeit. »Bewußtsein haben, genau das heißt Zeit haben.« 23 Zeit ist der Abstand, den das Subjekt zu sich, d. h. zu seiner Existenz hat. Dieser Abstand, dieses »Nichts, das für die Zeit gebraucht wird – und dessen das Subjekt unfähig ist – kommt von der sozialen Beziehung.« 24 Schon die Absicht der Vorlesungen über »Die Zeit und der andere« besteht »darin zu zeigen, daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjekts, sondern das Verhältnis des Subjekts zum anderen ist« 25 Dieser zeitliche Spielraum, der die Verfügung über die Dinge erlaubt, ist zugleich ein Freiheitsraum. Gegen Sartre heißt es: Es »erklärt nicht die Freiheit die Transzendenz des anderen, die Transzendenz des anderen erklärt die Freiheit.« 26 Die Freiheit des Subjekts sich selbst gegenüber ist das Werk der Begegnung mit dem anderen auch dann, wenn das Antlitz vergessen und der Anspruch des anderen wie im naturalen Pluralismus verdrängt ist. Aber so wie die Sprache als Verhältnis zum anderen das Subjekt aus der Identifikation mit seinem Leib freimacht und gerade dadurch die Zeit öffnet, so wird die Verweigerung der Sprache die Zeit und ihren Freiraum bedrohen. Der gewalttätige andere droht, die Differenz zwischen dem Subjekt und seiner leiblichen Existenz wieder zu schließen und damit das Subjekt auf die bloße differenzlose Leiblichkeit zu reduzieren. Keine Zeit, keine Zukunft mehr zu haben, heißt aber für das Subjekt zu sterben. Der Tod kommt vom anderen. »Ein Seiendes, das zugleich unabhängig vom anderen ist und sich ihm dennoch darbietet, ist ein zeitliches Seiendes: Der unvermeidlichen 23 24 25 26

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TI 140/TU 239. EE 160/VS 116. TA 17/ZA 17. TI 200/TU 327.

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§ 33 Der Tod des Subjekts

Gewalt des Todes setzt es seine Zeit entgegen; die Zeit ist die eigentliche Vertagung« 27 . Zeit ist nur Aufschub.

§ 33 Der Tod des Subjekts 33.1 Alle Subjektivität, sei sie politisch oder ethisch, bleibt dem Sein verhaftet. Die Analyse der Leiblichkeit und der Zeit rekonstruiert noch einmal das Ausgangsproblem, das Lévinas’ frühe Philosophie bestimmt hatte. Die Tragik der menschlichen Existenz bestand darin, daß die Freiheit unmittelbar in Knechtschaft umkippt: »Dies ist das tiefste Paradox des Begriffs der Freiheit: ihre synthetische Verbindung mit ihrer eigenen Negation,« 28 d. h. mit der Unfreiheit und der Entfremdung. Alle Existenz schlechthin ist leiblich. Damit ist gesagt, daß sich der Grund des Seins der eigenen Verfügung entzieht. Die Distanz zum eigenen Sein, wie die Vorstellung sie erstrebt, ist selbst ein Seinsakt. Alle Existenz bleibt dem Sein verhaftet. »Die Leiblichkeit [ist] die ontologische Verfassung einer primären Selbstentfremdung.« 29 Primäre Selbstentfremdung meint, daß der Mensch etwas ist, was sich ihm entzieht und über das er keine Kontrolle hat. Dank seiner Leiblichkeit und der Zugehörigkeit zur materiellen Welt steht der Mensch in Zusammenhängen, die er nicht mehr zu überblicken vermag. Seine Äußerungen, Handlungen und Erzeugnisse lösen sich von ihm ab und führen eine eigene Existenz. Lévinas nennt diese sich verselbständigenden Manifestationen die Werke des Subjekts. Dank seiner Werke wirkt das Subjekt in die Welt hinein; dank seiner Werke wird der Mensch aber auch sich selbst entfremdet. Er spaltet sich auf in eine Innerlichkeit und eine äußere Erscheinung. Diese Entfremdung beschreibt Lévinas unter zwei Gesichtspunkten: dem einer anonymen Verantwortung und dem der Gewalt. 33.2 Einmal erfährt das Subjekt, daß es über seine Intentionen hinaus verantwortlich ist. Subjektiv will ich niemandem schaden. Aber ohne oder sogar gegen meine Absichten mögen meine Handlungen, 27 28 29

TI 199/TU 325. EE 135/VS 97. TI 202/TU 329. A

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vielleicht sogar meine bloße Existenz, Auswirkungen haben, die das Leben anderer beeinträchtigen. »Die objektive Bedeutung meiner Handlungen geht über ihre absichtliche Bedeutung hinaus.!« 30 Dennoch hat das Subjekt auch für die ungewollten Konsequenzen die Verantwortung, eine soziale Verantwortung. Zwar verliert das Subjekt hier die Herrschaft über sich, bleibt aber dennoch haftbar: »Ich bin nicht mehr ein Ich im eigentlichen Sinne, ich trage eine Schuld, die außerhalb meiner Absichten liegt.« 31 »Das soziale Vergehen (la faute sociale) wird ohne mein Wissen begangen.« 32 Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Totalität bringt das Ich in Widerspruch zu sich und löst seine Identität auf. Das Ich gehört nicht mehr sich selbst, sondern ist auch immer Teil einer Totalität. Das Subjekt betrügt sich selbst und andere, solange es sich auf das bloße Bewußtsein zurückzieht und alle Zugehörigkeit zur Totalität von sich weist. 33 33.3 Eine neue Qualität aber erhält die Entfremdung durch den Leib unter der Voraussetzung der politischen Gesellschaft. Wenn Politik und Krieg dem Geist des gegenseitigen Kampfes verpflichtet sind, und wenn dieser Geist vom Willen zur Herrschaft beseelt ist, dann kommt für das politische Subjekt alles darauf an, die Spielräume der anderen zu verringern, um damit den eigenen Herrschaftsbereich zu vergrößern. Dazu gehört die Integration des Tuns der anderen in die eigenen Projekte. Sartre hat diesen Vorgang als Transzendenz über die Transzendenz beschrieben. Lévinas nennt zwei Verfahren, durch die das Werk des Subjekts, seine Präsenz in der Welt, von anderen angeeignet werden kann. Ein wichtiges Verfahren besteht darin, den Willen des anderen mit Gewalt oder mit dem Mittel der Verführung zu unterwerfen. Der Leib macht den Menschen der Verführung zugänglich und bedroht die Freiheit des Subjekts. Daher Lévinas’ Verständnis für die Askese. Die Askese entspringt nicht unmittelbar einer Leibfeindschaft; sie antwortet vielmehr dem Bedürfnis, sich von sozialen Verführungen und Zwängen frei zu halten. Die Askese ist eine der Möglichkeiten, sich gegen die Entfremdung durch die anderen zur Wehr zu setzen. Aber auch der Wille, der sich nicht unterwirft, der seine Auto30 31 32 33

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EN 32/ZU 32. EN 32/ZU 32. EN 35/ZU 35. TI 230/TU 368: »Ich war betrügerisch, als ich in meinem Bewußtsein erschien.«

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§ 33 Der Tod des Subjekts

nomie nicht verrät, ist vor der Entfremdung durch den anderen nicht sicher. Was der Verführung nicht gelingt, mag die List schaffen. »Der souveräne und sich in sich selbst verschließende Wille bestätigt durch sein Werk den fremden Willen, den er ignorieren will; er wird durch den anderen überlistet.« 34 Ja, nicht einmal der freiwillige Tod entzieht das Subjekt der Macht des anderen: »In der Bemühung, dem anderen durch den Tod zu entkommen, erkennt der Wille den anderen an;« 35 denn die Gewalt ebenso wie die Verführung zielt ja auf die Einebnung der Differenz zwischen Wille und Sein, also auf den Tod des Subjekts. 33.4 In diesem sozialen Kontext wird der Tod von Lévinas nicht als der Zusammenbruch des Körpersystems beschrieben, sondern als die Erfahrung der Vernichtung aller Handlungs- und Spielräume, als die unbedingte Ohnmacht, als die Unterwerfung des Willens und des Ich-kann unter eine anonyme Materie, die einem anderen zu Willen ist. Der Tod als Vorgang und das Erlebnis des Sterbens steht im Vordergrund. Während dem Ich-kann die Zeit und das Leben offenstehen, ist der Tod »das Ersticken in der Unmöglichkeit des Möglichen« 36 : Dem Sterbenden haben sich alle Möglichkeiten verschlossen. Schon im erotischen Ansatz kam dem Tod eine zentrale Bedeutung zu. Die Ohnmacht des Sterbens war die Bedingung für den Empfang des anderen, des Weiblichen. Das andere konnte nicht Korrelat subjektiver Vermögen sein. Zugleich aber war der Tod kein Ende mehr, sondern der Übergang aus dem Solipsismus in eine interpersonale Ordnung. An der Interpersonalität des Todes hält Lévinas auch jetzt fest: Es ist ihm, »als ob die Annäherung des Todes eine der Modalitäten der Beziehung mit dem anderen wäre. Die Gewalt des Todes droht wie eine Tyrannei, als käme sie von einem fremden Willen.« 37 Mit solchen und ähnlichen Formulierungen bekundet Lévinas seine »Absicht, hinter der Drohung, die der Tod gegen den Willen richtet, seinen Bezug zu einer interpersonalen Ordnung aufzuzeigen« 38 TI 207/TU 337. TI 207/TU 337. 36 TI 27/TU 73. 37 TI 211/TU 342. 38 TI 211/TU 343; vgl. auch TI 210/TU 342: »Wie in der Denkweise der Primitiven, für die der Tod nach Lévy-Bruhl niemals natürlich ist, sondern eine magische Erklärung 34 35

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III. Die ethische Transzendenz · Die Politik

33.5 Aber diese Beziehung zum anderen ist gerade nicht die Sprache, sondern das Schweigen, die Verweigerung der Rede. Hinter den Dingen versteckt sich lauernd ein böser Geist, der seine wahren Absichten nicht kundtut. »Der böse Geist manifestiert sich nicht, um eine Lüge zu sagen; als möglicher bleibt er hinter den Dingen, die ganz den Anschein erwecken, als manifestierten sie sich grundlos.« 39 Die Welt wird doppelbödig und absurd; sie verliert ihre Verläßlichkeit und Vertrautheit, soweit sie sie zuvor besaß. »Der Zweifel, der aus dieser ständig erneuerten Zweideutigkeit entsteht … betrifft die Aufrichtigkeit dessen, was erscheint. Es ist, als ob in dieser schweigenden und unentschiedenen Erscheinung eine Lüge gelogen würde, als ob die Gefahr des Irrtums von einem Betrug herrührte, als ob das Schweigen nur die Modalität einer Rede wäre. Die schweigende Welt ist eine Welt, die ihre Herkunft aus einem anderen hat, und sei er böser Geist.« 40 Lévinas nimmt damit zwar die cartesische Idee eines betrügerischen Geistes auf, der all seinen Fleiß darauf wendet, den Menschen zu überlisten. Aber es handelt sich nicht allein um eine akademische Konstruktion, sondern um konkrete Erfahrungen. Die Welt ist unheimlich und doppelbödig, weil sich unter dem Schein der Vernunft und Rationalität Kräfte verbergen, die den Glauben an die Vernunft und die Direktheit der Rede untergraben. Das Unheimliche ist die Unfaßbarkeit des betrügerischen Geistes: »Seine Lüge ist jenseits aller Lüge. In der gewöhnlichen Lüge verbirgt sich der Redende, gewiß; aber er verbirgt sich kraft des verbergenden Wortes; er verläßt nicht den Bereich des Wortes und kann eben darum widerlegt werden.« 41 Dem bösen Geist dagegen ist mit den Mitteln der Sprache nicht beizukommen; er scheint die Regeln der Sprache zu akzeptieren; in Wahrheit hat er sich schon längst aus ihr verabschiedet. Aber diese Verweigerung der Rede entspringt nicht allein der kaltblütigen Ausübung der Gewalt, die die Gesetze des Ich-kann an verlangt – so bewahrt der Tod in seiner Absurdität eine interpersonale Ordnung, in der er eine Bedeutung anzunehmen strebt. Die Dinge, die mir den Tod geben, Dinge, die der Arbeit unterliegen und faßbar sind, mehr Hindernis als Drohung, verweisen auf eine feindliche Gesinnung; sie sind das Residuum eines bösen Wollens, das überrascht und auflauert. Der Tod bedroht mich aus dem Jenseits. Das Unbekannte, das Furcht erregt, das Schweigen der unendlichen Räume, das Schaudern macht, kommt vom anderen.« 39 TI 63/TU 127. 40 TI 64/TU 127. 41 TI 64/TU 128.

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§ 33 Der Tod des Subjekts

die Stelle des Ich-darf setzt; sie wird vielmehr vom Subjekt als Verspottung erlebt. »Die Kehrseite der Sprache ist wie ein Gelächter, das die Sprache zu zerstören trachtet, unendlich widerhallendes Gelächter, in dem die Mystifikation sich in der Mystifikation verbirgt, ohne jemals in einem wirklichen Wort zur Ruhe zu kommen.« 42 Der Bereich, den Lévinas anspricht, spielt in dem Zwischenbereich zwischen den beiden Ebenen Sprache und Gewalt, wie »Gyges … Das ist die Möglichkeit, die Sprachregeln zu akzeptieren, aber zu mogeln.« 43 33.6 Eine mögliche Versicherung gegen den Kampf aller gegen alle bietet der Versuch, den Konflikt durch die Unterordnung aller Individuen unter ein allgemeines Gesetz zur Versöhnung zu bringen. Diesem Versuch widmet Hegel seine »große Meditation über die Freiheit« 44 . Da sich die Menschen im »Naturzustand« gegenseitig vernichten, kann sich die Freiheit sprich Zeit außerhalb einer universalen Regel, die von allen anerkannt wird und sich zur Institution entwickelt, nicht behaupten. »Die Freiheit findet keine Wirklichkeit außerhalb der sozialen und politischen Institutionen; die sozialen und politischen Institutionen öffnen der Freiheit den Zugang zur frischen Luft, die notwendig ist für ihre Entfaltung, für ihren Atem und vielleicht sogar für ihr spontanes Entstehen.« 45 Lévinas läßt keinen Zweifel daran, daß die Zuflucht zur Vernunft in Gestalt der politischen Institutionen einem sittlichen Willen entspringt; denn es geht dem Subjekt zugleich um seine eigene Rechtfertigung und um das Recht der anderen. Das Subjekt findet eine Rechtfertigung, indem es sich einem allgemeinen Gesetz unterstellt. »Nach einer solchen Rechtfertigung scheint uns diejenige Philosophie zu streben, die, von Spinoza bis Hegel, Wille und Vernunft identifiziert; im Unterschied zu Descartes raubt sie der Wahrheit den Charakter eines freien Werks und plaziert sie dort, wo der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich erlischt, nämlich in einer unpersönlichen Vernunft.« 46 Die Institution schafft eine neue Ordnung und löst damit das Problem der Inkompatibilität der zahlreichen Freiheiten. Von nun an besteht die Wahrheit des subjektiven Willens darin, sich der unpersönlichen Vernunft zu unterwerfen und ihr konform zu werden. »So ist es eine 42 43 44 45 46

TI 64/TU 128. TI 148/TU 251. TI 218/TU 353. TI 218/TU 354. TI 59/TU 120 f. A

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III. Die ethische Transzendenz · Die Politik

politische und technische Existenz, die dem Willen seine Wahrheit verbürgt, ihm, wie man heute sagt, Objektivität verschafft.« 47 Mit der objektiven Ordnung aber haben sich zugleich die Parameter der Orientierung vollständig verschoben. Unter der Voraussetzung der Ethik hatte das Subjekt seine Orientierung am anderen. Die Ethik, zumindest in der in »Totalität und Unendlichkeit« dargestellten Form, läßt keine Gewalt gegen den anderen zu. Nun, da im naturalen Pluralismus alle Subjekte gleichgestellt sind, empfangen das Ich sowohl wie der andere ihre Orientierung von einem objektiven, und d. h. anonymen Vernunftsystem, dem alle in gleicher Weise unterworfen sind. Das Subjektive wird zum Unvernünftigen, das sich auf dem Weg der Bildung und Erziehung erst zur Vernunft erheben muß. Sofern hier noch weiter von Verantwortung die Rede sein sollte, besäße das Subjekt sie nicht mehr in erster Linie für den anderen, sondern für die Realisierung der objektiven Vernunft, und zwar auch gegen die wirkliche oder vermeintliche Unvernunft des anderen. Dem Opfer der Subjektivität und Partikularität, das das Subjekt auf dem Wege der Bildung und der Erhebung zum Allgemeinen bringt, winkt zwar im Augenblick der Lohn der allgemeinen Anerkennung und des Seins; denn die Überwindung der Partikularität ist Überwindung der Nichtigkeit und Teilhabe am Sein. Die allgemeine Vernunft ist der Markt, auf dem die Unterwerfung unter das Allgemeine mit dem Sein belohnt wird. Aber dieser Lohn wird erkauft um den Preis der Aufgabe der eigenen Individualität. Der Einzelne findet Anerkennung nur in dem Maße, in dem er sich der universalen Norm unterwirft und seiner Partikularität abschwört. Er muß als einzelner verschwinden, um als allgemeiner zu sein. Insofern gibt es »eine Tyrannei des Universalen und Unpersönlichen, eine unmenschliche, wenn auch vom Brutalen verschiedene Ordnung. Gegen diese Ordnung behauptet sich der Mensch als unbedingte Einzelheit, die außerhalb der Totalität, in die der Mensch eintritt, bleibt; diese Einzelheit sehnt sich nach einer religiösen Ordnung, in der die Anerkennung des Individuums es in seiner Einzelheit betrifft.« 48

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TI 219/TU 355; vgl. vor allem »Wille und Vernunft«, TI 191 ff./TU 313 ff. TI 219–20/TU 356.

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§ 34 Die Rechtfertigung des Subjekts

§ 34 Die Rechtfertigung des Subjekts 34.1 Die Leiblichkeit des Subjekts macht seine Sterblichkeit verständlich. Zugleich öffnet sie das Subjekt der Gewalt des anderen. In einer sprachlosen Gesellschaft hat das Subjekt den Tod durch den anderen zu gewärtigen. Die Zeit, die sich dem Subjekt geöffnet hat, wird sich schließen; das Subjekt wird in die Materialität zurückfallen. Was hat es unter diesen Umständen mit der Innerlichkeit auf sich? Es wiederholt sich die Frage, die Lévinas am Anfang seiner Untersuchung gestellt hat: Ist nicht der Krieg das umfassende und einzige Seinsprinzip? Ist die Innerlichkeit mehr als eine Luftblase, die an der Wirklichkeit zerschellt, mehr als ein »Epiphänomen« 49 ? Unter dem Druck einer Wirklichkeit, in die sie sich aufzulösen droht und die ihr folglich zu widersprechen scheint, sieht sich die Innerlichkeit genötigt, sich zu verteidigen und sich zu rechtfertigen. Wie kann sie bestehen, welche Gründe für sich anführen gegen eine erdrückende Wirklichkeit? Wieder stellt sich die Frage nach dem Grunde der Subjektivität. Sie erhebt sich neu, weil die geschichtliche Wirklichkeit selbst gegen die Innerlichkeit antritt und sie bestreitet. Aber der Grund für die Fraglichkeit des Subjekts ist nicht mehr die Verwandlung der Welt ins Phänomen, sondern die Phänomenalisierung des Subjekts. Spielt die Kränkung, die das Subjekt erfährt, im Seinskontext überhaupt eine Rolle? Muß sich das Subjekt nicht der Macht der politischen Verhältnisse und endlich der Geschichte, die über alles hinwegrollt, unterwerfen und auf seinen Anspruch, jenseits der Geschichte und außerhalb der sichtbaren Wirklichkeit zu existieren, verzichten? 34.2 Es kann, so Lévinas, nicht darum gehen, »den subjektiven Neigungen zu schmeicheln und das Subjekt über seinen Tod zu trösten« 50 . Das solipsistische Ich ist kein Absolutes. In diesem Sinne wendet sich Lévinas etwa gegen Kierkegaard. Lévinas teilt mit Kierkegaard die Absicht, das Subjekt gegen das Allgemeine zu verteidigen. Ihr gemeinsamer Gegner ist Hegel. Aber Kierkegaard geht es dabei, so Lévinas, um die Rettung der eigenen Seele. Unter dem Titel »Was mich an Kierkegaard stört« schreibt Lévinas: »Die ganze Polemik Kierkegaards gegen die spekulative Philosophie [Hegels] setzt 49 50

TI 217/TU 352. TI 224/TU 362. A

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III. Die ethische Transzendenz · Die Politik

eine Subjektivität voraus, die auf sich selbst ausgerichtet ist, setzt die Existenz als Sorge voraus, in der es einem Seienden um das eigene Sein geht und als Angst um sich selbst.« 51 Der Protest gegen den absoluten Idealismus Hegels hat seinen Grund in der Bemühung um die eigene Existenz. Das gilt am Ende auch von Franz Rosenzweig. Zwar lesen wir im Vorwort zu »Totalität und Unendlichkeit«: »Der Widerstand gegen die Idee der Totalität hat uns im ›Stern der Erlösung‹ von Franz Rosenzweig frappiert; diese Schrift ist zu häufig in diesem Buch gegenwärtig, um zitiert zu werden.« 52 Aber in einem zentralen Punkt widerspricht Lévinas Rosenzweig. Auch Rosenzweig übt wie Kierkegaard Kritik am Idealismus im Namen der unüberwindlichen Angst des Ich vor seinem Tod. Lévinas wendet sich gegen diese Zentrierung auf das Ich. Der Protest gegen das Allgemeine, gegen die endgültige Akzeptanz der Geschichte gründet nicht im selbstverständlichen Wert des Ich oder in der Würde der eigenen Person. Er gründet für Lévinas darin, daß das Ich und seine Verantwortung der einzige Ort sind, an dem der andere und das Unrecht, das ihm geschieht, erscheinen und präsent sein können. 34.3 Das Antlitz zeichnet sich vor allem anderen dadurch aus, daß es nicht Teil der Welt ist. Es »durchschlägt alle Hüllen und Allgemeinheiten des Seins« 53 . »Eben noch Ding unter Dingen, durchstößt [es] die Form, von der es gleichwohl eingegrenzt wird.« 54 Zwar »drückt sich [das Antlitz] im Sinnlichen aus« 55 ; aber dieser Ausdruck haftet nicht an einem bestimmten Körperteil, etwa dem Gesicht; denn »der ganze Leib, eine Hand oder eine Rundung der Schulter können ausdrücken wie das Gesicht« 56 . Die sinnliche Erscheinung wird zum Antlitz, wenn sie zum Ausdruck des anderen wird. Aber diese Öffnung der Transzendenz, diese Andersheit jenseits der Dinge vermag nur eine Subjektivität zu erkennen. »Damit die Geschichte nicht das Recht auf das letzte Wort behält, das notwendig ungerecht gegenüber der Subjektivität und unvermeidlich grausam 51 52 53 54 55 56

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NP 112–3/AS 75. TI XVI/TU 31. TI 22/TU 63. TI 172/TU 283. TI 172/TU 284. TI 240/TU 383.

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§ 34 Die Rechtfertigung des Subjekts

ist, muß sich das Unsichtbare manifestieren.« 57 Aber eine solche Manifestation, die Klage und das Leid, die Unterdrückung und die unsichtbare Kränkung werden nur dann gehört, wenn das Subjekt für die ethische Dimension und für die Verantwortung für den anderen offen ist. Es muß hinter dem naturhaften Zusammenhang der Dinge den anderen »erkannt« haben. So bedarf es der Subjektivität und des Ich nicht um ihrer selbst, sondern um des anderen willen. »Die Wahrheit des Unsichtbaren ereignet sich ontologisch durch die Subjektivität, die sie sagt.« 58 Darin liegt die Legitimation und Notwendigkeit des Ich. Nicht die eigene Kränkung rechtfertigt die Revolte, sondern die Verletzung der Rechte des anderen. Darin besteht denn auch das, was Lévinas das »Urteil Gottes« nennt: nicht im vertrauten têteà-tête mit dem liebenden Gott, der die Seele ob der Gewalt, die ihr hier widerfährt, trösten wird, sondern in der Erkenntnis der Gewalt und der Verantwortung für die Gewalt, die dem anderen geschieht: »Die Kränkung ereignet sich … als das eigentliche Urteil [Gottes], wenn sie mich im Antlitz des anderen anklagt – die eigentliche Epiphanie des anderen besteht aus dieser Kränkung, die er erlitten hat, sie besteht aus seinem Stand als Fremder, Witwe, Waise.« 59 In diesem Sinne ist das innere Leben nicht bloß »Epiphänomen oder Schein«, sondern Geschehen des Seins«, »Öffnung einer Dimension, die in der Ökonomie des Seins für das Ereignis des Unendlichen unerläßlich ist.« 60

57 58 59 60

TI 221/TU 357. TI 221/TU 358. TI 222/TU 359. Alle Zitate TI 217/TU 352. A

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3.5 Die Liebe

§ 35 Die erneuerte Zeit 35.1 Das Subjekt wird in der Ökonomie des Seins gebraucht, damit das Unendliche des anderen, das Antlitz, sich manifestieren kann. Aber die Zeit des Subjekts ist endlich. Der Mensch geht auf seinen Tod zu und mit ihm erlischt die Innerlichkeit. Das würde aber bedeuten, daß mit ihm die Dimension des anderen überhaupt sich wieder schlösse und das Ereignis des Unendlichen nicht mehr stattfände. »Ohne die Subjektivität vermöchte sich die Wahrheit [des Unendlichen] nicht zu ereignen … Bringt die Gewalt des Todes die Subjektivität nicht zum Schweigen?« 1 Lévinas löst diesen Widerspruch durch eine Erweiterung des Zeitbegriffs. Bisher wurde die Zeit begriffen als der Sprach- und der Spielraum, der sich im Subjekt öffnet dank der Manifestation des anderen. Dieser Raum ist zugleich der Raum des subjektiven Könnens, der Entscheidungen und Intentionen. Es ist der Raum, den die Phänomenologie als Bereich der Intentionalität beschreibt. Dieser Raum schließt sich mit dem Tod. Aber damit endet nicht alle Zeit. Vielmehr macht das Subjekt die Erfahrung einer anderen Zeit, einer Zeit, die sich in der Vaterschaft erneuert. Im Sohn steht der Vater wieder auf, setzt er eine neue Subjektivität in die Welt, lebt er ein neues Leben. »Der Tod – das Ersticken in der Unmöglichkeit des Möglichen – bahnt sich einen Weg hin zur Nachkommenschaft.« 2 Nachdem es schon im ersten Ansatz geheißen hatte: Der Vater ist in gewisser Weise der Sohn, obwohl der Sohn auch ein anderer ist, heißt es nun: »Das Ich ist sein Sohn.« 3 Aber der Sohn ist nicht Korrelat eines intentionalen Bewußtseins, nicht das Produkt eines Könnens: Er ist die Frucht der Liebe, 1 2 3

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TI 231/TU 370. TI 27/TU 73. TI 255/TU 406.

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§ 35 Die erneuerte Zeit

des Eros. Daher treten nun die Liebe, die Wollust, die Fruchtbarkeit, die Familie in den Vordergrund der Analyse. Alles kommt darauf an, sie in ihrer spezifischen Eigenart zu zeigen und von jeder anderen Form von Produktivität abzugrenzen. 35.2 Die Liebe zwischen Mann und Frau, der Austausch der Zärtlichkeiten, ist nicht mehr dasselbe wie das Gespräch, das zwei Menschen miteinander führen. Das distanzierte Verhältnis der Rede verschwindet in der Liebe zugunsten einer leiblichen Nähe und Unmittelbarkeit. Lévinas nennt diese Unmittelbarkeit das Fleischliche (le charnel). Die Beziehung zum Fleischlichen unterscheidet sich von jeder Intentionalität dadurch, daß das Fleischliche kein Gegenstand ist, sondern ein Geschehen oder eine Atmosphäre. Es wiederholt in gewisser Weise das Apeiron des Es-gibt, das Unbegrenzte. Daher spricht Lévinas auch von einem »höchsten Grad an Materialität« 4 . Zugleich aber entzieht sich das andere in der Zärtlichkeit unendlich; es wird nicht faßbar, sondern bleibt unendlich Zukunft und Erwartung. In der Liebe zeigt sich das andere in seiner unmittelbaren sinnlichen und materiellen Nacktheit und bleibt doch ungreifbar: Die erotische Liebe ist ihrem Wesen nach Profanation 5 . Neben der Nacht des Il y a gibt es »die Nacht des Versteckten, des Geheimnisvollen, das Vaterland des Jungfräulichen, das gleichzeitig vom Eros entdeckt ist und sich dem Eros verweigert – was eine andere Weise ist, die Profanation zu beschreiben.« 6 35.3 Dieses Verhältnis der Unmittelbarkeit und der Ferne überträgt sich je auf die Liebenden selbst. Lévinas spricht von der »Gemeinschaft des Empfindenden und des Empfundenen. Der andere ist nicht nur das Empfundene, sondern im Empfundenen bestätigt sich der Empfindende, so als sei mir und dem anderen ein selbes Gefühl der Substanz nach gemeinsam.« 7 Lévinas hat diesen Gedanken auch so ausgedrückt: »Ich liebe nur dann wirklich, wenn der andere mich liebt … weil meine Wollust sich an seiner Wollust erfreut.« 8 Das Empfundene meiner Lust ist also das Empfinden der Lust des ande4 5 6 7 8

TI 234/TU 373. Vgl. TI 234/TU 374. TI 236/TU 377. TI 243/TU 388. TI 244/TU 389. A

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III. Die ethische Transzendenz · Die Liebe

ren. »Die Wollust zielt … nicht auf den anderen, sondern auf seine Wollust, sie ist Wollust der Wollust, Liebe der Liebe des anderen.« 9 Der »Gegenstand« meines Empfindens – mein Empfundenes – ist das Empfinden des anderen. Daher wendet Lévinas auf dieses Verhältnis die alte aristotelische Definition der Empfindung an: In der Liebe realisiert sich die »gemeinsame Aktion des Empfindens und des Empfundenen« 10 . Lévinas begnügt sich nicht damit, hier von einer Identifikation zu sprechen: Er nennt diese »unvergleichliche Konstellation der ›Identifikation‹« 11 geradezu eine »Transsubstantiation« 12 . Das hindert indes nicht, daß in der Transsubstantiation die Trennung erhalten bleibt. »In der Wollust ist der andere ich und [er ist gleichzeitig] getrennt von mir. Die Trennung des anderen inmitten dieser Gemeinschaft des Empfindens macht die Schärfe der Wollust aus.« 13 In dieser doppelten Bestimmung setzt sich die zweideutige Struktur der Liebe überhaupt durch: Sie vereint in sich gleichzeitig Genuß und Transzendenz, Materialität und Antlitz. Im Genuß kehrt der Genießende zu sich zurück, eignet er sich etwas an; der Genuß ist eine Form der Verselbigung. Diese Beziehung konkretisiert sich im Kind. »Die Beziehung mit dem Kind – die Begierde nach dem Kind, das gleichzeitig anders ist und ich selbst bin – ist in der Wollust schon vorgezeichnet, um sich im Kind selbst zu erfüllen.« 14 Das Kind ist die »Transsubstantiation« 15 des Vaters: die Substanz des Vaters, aber erneuert, anders. Im Kind findet der Vater die Antwort auf die Frage nach der Zeit der Subjektivität. Die Zeit, die das Antlitz eröffnet als Sprach- und Handlungsraum fällt notwendig in das Sein zurück. Aber mit dieser Zeit erschöpft sich nicht die Zeit überhaupt. Hinter der Zeit des Ich kann, der Geduld und der Politik, steht die Zeit der Fruchtbarkeit und der Erneuerung. Der Tod ist kein absolutes Ende, sondern die BedinTI 244/TU 389. TI 243/TU 388; vgl. dazu Aristoteles, De an. III, 2, 425b, 26 ff. Genau genommen findet hier eine doppelte Identifikation statt. Zunächst ist im Empfinden jedes Einzelnen Identität zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen. Nun ist zugleich das Empfundene des einen das Empfinden des anderen. Insofern ist nicht nur jede Empfindung für sich identisch, sondern die Empfindung des einen ist identisch mit der Empfindung des anderen. 11 TI 244/TU 389. 12 Vgl. TI 244/TU 389 und 390. 13 TI 243/TU 389. 14 TI 244/TU 390. 15 TI 246/TU 394. 9

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§ 35 Die erneuerte Zeit

gung für die Erneuerung. Nur dank des Todes ist die Zeit diskontinuierlich, nur die Diskontinuität birgt die Möglichkeit der Erneuerung. 35.4 Unter dem Tod – dem »Definitiven eines unvermeidlichen Todes« 16 – versteht Lévinas das Zurückfallen in das anonyme Sein. Vom biologischen Tod ist nirgends die Rede. Aber man darf annehmen, daß er nur darum nicht erwähnt wird, weil er selbstverständlich ist. Der Rückfall in das anonyme Sein, die Materie, hat vor allem zwei Gründe: einerseits eine anonyme Verantwortung für mein Tun und andererseits die Gewalt durch den anderen. Verantwortung überhaupt hat bei Lévinas zwei Gesichter. Einmal entspringt die Verantwortung der Offenbarung des Antlitzes. Diese Verantwortung, weil sie auch die Zeit öffnet, ist das Gegenteil des Todes. Aber das Subjekt weiß sich auch verantwortlich für seine Taten über die Intentionen hinaus und gegen anonyme andere, die es vielleicht nie zu Gesicht bekommt. In der Innerlichkeit distanziert sich zwar das Subjekt von der Totalität, als leibliches gehört es ihr aber unvermeidlich an und trägt für dieses Sein die Verantwortung. 17 Dank dieser Verantwortung ist es Teil einer anonymen Totalität, aus der es sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. Am Ende erliegt das Subjekt einer »erdrückenden Verantwortung der Existenz, die in Schicksal umschlägt« 18 . Während also die Verantwortung für das Antlitz das Subjekt über das Sein hinaushebt, drückt die anonyme Verantwortung das Subjekt in das Sein zurück. Das Altern und der Tod sind Metaphern für den Rückfall ins Sein. Aber der Tod bedeutet nicht nur den Rückfall ins Sein, sondern ist auch die Bedingung für die Erneuerung der Zeit, die das Werk der Fruchtbarkeit ist. »Kraft ihrer Diskontinuität [siegt die Zeit] über das Alter und das Schicksal« 19 . Es geht darum, »der erdrückenden Verantwortung der Existenz, die in Schicksal umschlägt, zu entkommen; es geht darum, sich in dem Abenteuer der Existenz wieder aufzunehmen, um ins Unendliche zu sein.« 20 Im Kind, das anders ist als der Vater und doch identisch mit dem Vater, überwindet das Subjekt den 16 17 18 19 20

TI 258/TU 411. Hierzu vgl. vor allem den Aufsatz »Le moi et la totalité« in EN 25 ff./ZU 24 ff. TI 258/TU 411; vgl. oben 33.2. TI 258/TU 411–2. TI 258/TU 411. A

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Tod: Das Subjekt vollzieht eine »Transzendenz, in der das Ich sich nicht mitnimmt, da der Sohn nicht ich ist; und dennoch bin ich mein Sohn.« 21 Wie schon im ersten Ansatz werden also der Tod auf der einen Seite, der als Ende des Könnens verstanden wird, und das Kind auf der anderen Seite in einen Zusammenhang gebracht derart, daß der Tod zur Bedingung des Kindes wird. Im Kind aber erneuert sich der Vater. So wird der Tod geradezu zur Bedingung und zum Tor in ein ewiges Leben. »Das Ende des Todes nähert sich nicht wie ein Ende des Seins … Die Konstitution des Intervalles, das das Seiende von der Begrenzung durch das Schicksal befreit, fordert den Tod … Das zentrale Geschehen der Zeit ist die Wiederauferstehung. Es gibt also keine Kontinuität im Sein. Die Zeit ist diskontinuierlich.« 22 *

* *

Anmerkung zum Begriff des Todes und der Zeit Im Rückblick auf den ethischen Ansatz zeigt sich einerseits eine durchgehende Kontinuität und anderseits doch unterhalb der Durchführung des zentralen Themas eine Diskontinuität. Das zentrale Thema der Untersuchung »Totalität und Unendlichkeit«, auf die wir uns vor allem bezogen haben, ist die Zeit. Lévinas führt dieses Thema in drei Abschnitten durch. Der erste Abschnitt (»Innerlichkeit und Ökonomie«) gilt einem Seienden, das mit seinem Sein identisch ist. Wenn Zeit darin besteht, Abstand zu sich zu haben, wenn Zeit »Entleiblichung« 23 bedeutet, Aufschub der Unmittelbarkeit, dann kennt das ökonomische Leben noch keine Zeit; es ist gegenwärtig, weiß aber noch nichts von einer Zeit. Der zweite Abschnitt (»Das Antlitz und die Exteriorität«) ist der Öffnung und der Schließung der Bewußtseinszeit gewidmet. Der dritte Abschnitt endlich gilt der Zeit der Fruchtbarkeit. So ist die Zeit des Bewußtseins in eine Art Vorzeit und Nachzeit eingebettet, eine Vorzeit, aus der sich alles erhebt, und eine Nachzeit, in die alles mündet. Damit ist die Zeit das eigentliche Thema des Buches, bestimmt im gan-

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TI 254/TU 406. TI 260/TU 415. TI 140/TU 239.

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§ 35 Die erneuerte Zeit

zen seinen Aufbau und hält die verschiedenen Motive unter einem Dach zusammen. Das hindert nicht, daß unter diesem gemeinsamen Dach die Motive und Begriffe sich gegeneinander zu sperren scheinen. Es ist insbesondere der Zeitbegriff selbst, der Schwierigkeiten bereitet. Eine erste Schwierigkeit betrifft die Zeit der Arbeit. Bedarf es zur Arbeit nicht schon eines Minimums an zeitlicher Organisation und damit eines bewußten Verhältnisses zur Zeit? Lévinas umschifft diese Schwierigkeit, indem nach seiner These die hier geforderte Zeit schon vom anderen kommt. Aber wer ist dieser andere? Der andere Mensch oder der Schöpfergott? Und sollte der andere Mensch gemeint sein, wie kann er etwas bewirken, bevor sein Antlitz erscheint? Hier sind noch Fragen, die Lévinas nicht beantwortet. Problematisch ist ferner die Verknüpfung von Zeit und Vergebung. Das Wesen der Zeit und der Erneuerung, die sie bringt, wird von Lévinas in der Vergebung gesehen: Es ist die Rede von einer »Existenz, der vollständig vergeben ist … Dieser Neubeginn des Augenblicks, dieser Triumph der Zeit der Fruchtbarkeit über das Werden des sterblichen und alternden Seienden, ist die Vergebung, das eigentliche Werk der Zeit.« 24 Die Vergebung befreit von der Last der Vergangenheit und öffnet eine neue Zukunft. »Das Paradox der Vergebung der Schuld verweist auf die Vergebung als dasjenige, das die Zeit selbst konstituiert.« 25 Dieser Gedanke impliziert, daß der Verlust der Zeit, nämlich der Tod, die Folge einer Schuld ist. Aber wird dieser Begriff der Zeit von Lévinas konsequent durchgeführt? Zunächst wird man fragen: Was hat es mit dem natürlichen Tod auf sich? Gibt es auch hier eine Schuld, die zum Altern und zum Tode führt? Im Sinne Lévinas’ ließe sich diese Frage positiv beantworten. Heißt es nicht, man werde schuldig dank der bloßen Existenz? Schwierig ist sodann die Frage, welche Bedeutung dem Tod im Verhältnis des Subjekts zum Antlitz zukommt. Die Öffnung der Zeit ist das Gegenteil des Todes. Nun öffnet die Beziehung zum anderen die Zeit. Also ist die Beziehung zum anderen das Gegenteil des Todes. Der Tod des ethischen Subjekts kann nur ein anderer sein: der Tod nicht durch Rückfall in Sein, Leiblichkeit und Vergangenheit, sondern der Tod durch Aufgabe des Seins, durch Askese und Verzicht 24 25

TI 259/TU 413. TI 259/TU 413. A

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III. Die ethische Transzendenz · Die Liebe

auf das Sein zugunsten anderer. Aber ein Tod durch die vollständige Aufgabe des Seins für den anderen wird in »Totalität und Unendlichkeit« nicht thematisiert; hier heißt Sterben immer Verlust der Subjektivität und der Zeit als Aufgehen im Sein. Daher die für den Abschnitt »Ethik und Zeit« zentrale Frage: »Wie kann ein transzendentes Seiendes überhaupt Gewalt erleiden?« Solange also die Zeit ihren Grund im ethischen Verhältnis hat, kann der Tod an das ethische Subjekt nicht herantreten. Wie aber in Bezug auf die Gewalt? Solange Lévinas an der These festhält, die Zeit sei Vergebung und der Tod Verstrickung in Schuld, kann die Gewalt das Subjekt nur töten unter der Voraussetzung, sie sei Folge einer Schuld. Der Text von »Totalität und Unendlichkeit« sowie die Aufsätze, die ihm zeitlich nahe sind, lassen eine solche These nicht zu. Der Tod, den das Subjekt kraft der Gewalt durch den anderen erleidet, wirft das Subjekt ins Sein zurück und vernichtet seine Zeit, aber nicht wegen einer eigenen Schuld. Zwar wirft sich die Gewalt in der Regel ein moralisches Mäntelchen um, indem sie behauptet, die gerechte Strafe für ein vorher begangenes Unrecht zu sein. Sie möchte aus den Opfern der Gewalt die ursprünglich Schuldigen machen. Aber diese Verbrämung ist selbst Teil des Unrechts, das den Opfern geschieht. Man sieht also nicht, durch welche Schuld die Opfer den Tod verdient hätten. Das Grundkonzept Lévinas’ bestand von Anfang an darin, die Zeit aus ethischen Kategorien zu entwickeln: Schuld ist Verstrickung in die Vergangenheit, Vergebung Befreiung aus ihr. Aber dieses Konzept geht in »Totalität und Unendlichkeit« nicht auf. Wenn dieses Konzept konsequent durchgeführt würde, so wäre die Folge, daß die Verantwortung für den anderen Unsterblichkeit bringt, und daß anderseits das Opfer der Gewalt der eigentlich Schuldige wäre. Lévinas hat sich zu dieser Schwierigkeit nicht erklärt. Aber in »Jenseits des Seins« wird das Zeitkonzept radikal umgekehrt. Wenn es in »Totalität und Unendlichkeit« vom Bewußtsein als dem Träger der Verantwortung heißt: »Bewusstsein haben heißt Zeit haben« 26 , wird in »Jenseits des Seins« das verantwortliche Subjekt gerade dadurch definiert, daß es keine Zeit hat, weil es sich dem anderen opfert.

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TI 214/TU 348.

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IV. Die meta-ontologische Transzendenz

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IV. Die meta-ontologische Transzendenz

§ 36 Charakteristik des neuen Ansatzes 36.1 Im Zentrum von »Jenseits des Seins« steht ein neuer Begriff des Absoluten: Die Präsenz des Absoluten besteht allein darin, daß es sich entzieht. Es geht in keine Gegenwart ein, kann nicht genannt werden, ist namenlos. Wer die Poesie der Dinge feiert, die Schönheit der Natur, die Ordnung des Kosmos, wer in ihnen die Anwesenheit des Göttlichen im Sinnlichen sieht, ist in Gefahr, der Idolatrie zu verfallen. Jede Form von Immanentismus ist Lévinas fremd. Das verbindet ihn mit der negativen Theologie. Dennoch ist der Bezug zum Absoluten nicht nur negativ. Das Absolute ist präsent im anderen, den es unserer Verantwortung übergibt. Natürlich ist der andere nicht Gott, nicht selbst das Absolute und Unendliche. Aber er ist in der Spur des Absoluten, wie dieses ungreifbar und verschwindend. Der Mensch folgt dem Absoluten nur dadurch, daß er sich mitnehmen und mitreißen läßt in dieses Geschehen des Verschwindens und des Entzugs. Wenn der ursprüngliche Schöpfungsakt der Welt eine Vielheit – das heisst neben dem Absoluten ein Seiendes – entstehen läßt dank einer contractio Dei, dann hat auch eine soziale Vielheit ihr Vorbild in der Nachahmung der göttlichen Geste, nämlich im Rückzug aus dem Sein. Der Entzug wird konkret in der Verantwortung für den anderen, dem das Subjekt sein Sein opfert. Nicht in der Besitznahme des Seins liegt die Nachahmung des göttlichen Lebens, sondern im Verzicht und der Aufgabe für den Anderen: Die Ethik, die dem Menschen das Sein zugunsten des anderen entzieht, wird zum Widerschein des Göttlichen und zum Vorschein des Friedens. Den Gedanken eines Absoluten, das sich jeder Gegenwart entzieht, entnimmt Lévinas der jüdischen Tradition. Die Verknüpfung dieses Absoluten mit der Ethik macht die Originalität Lévinas’ aus. Wenn das Göttliche allein in der Spur präsent ist, dann ist das Antlitz Spur in der Spur. 36.2 Diese Seinsweise wird für Lévinas konkret in der Zeit. Damit kommt Lévinas auf ein fundamentales Thema der europäischen Philosophie seit Kant zurück. Nachdem Kant die Zeit zur Grundform aller Anschauung erklärt hatte, fundamentaler als der Raum, hatte Heidegger in »Sein und Zeit« die Zeit zu der Form erklärt, in der alles Seiende überhaupt sichtbar wird. Die Zeitigung ist das Geschehen des Hervortretens des Seins, ein Geschehen der Schöpfung, das nur 284

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§ 36 Charakteristik des neuen Ansatzes

deswegen nicht als Schöpfungsakt bezeichnet werden darf, weil das Sein, das sich in ihm manifestiert, hinter seinen Erscheinungen verborgen bleibt und nicht als ein persönlicher Gott anzusprechen ist. Das Sein ist Zeit – das ist die Grundthese, die Lévinas von Heidegger übernimmt. Eine erneute Reflexion über die Zeit kommt also einer Revision des Begriffs des Seins gleich. Eben darauf zielen im Kern die Überlegungen von »Jenseits des Seins« ab: Sie möchten dem, was Lévinas als das traditionelle Seinsverständnis ansieht und das in der Philosophie Hegels und Heideggers einen Abschluß findet, ein neues Zeitund damit Seinsverständnis entgegensetzen: Sein und Zeit sind nicht Versammlung des Mannigfaltigen in der Einheit, in der Einheit des Ich denke, in dem, was Kant die transzendentale Apperzeption nennt, sondern das Absolute, das Unendliche, das Gute, die Illeität – dies alles Ausdrücke des Absoluten, da Lévinas nicht mehr vom Sein spricht – ist nur präsent im Vorübergehen, im Verschwinden. Das Absolute ist Zeit nicht mehr im Sinne der Versammlung in einer Gegenwart dank der Vorwegnahme der Zukunft und der Wiederaufnahme in der Erinnerung, dank der Idealisierung, die alle zeitlichen Unterschiede aufhebt. Das Absolute ist Zeit im Sinne des Vorübergehens, im Sinne einer Zeit als Raub und Untergang. Die neue Reflexion über die Zeit geschieht also in der Absicht, der These: Sein ist Zeit, einen neuen Inhalt zu geben, und zwar einen solchen, der dem heideggerschen Verständnis des Zusammenhangs von Sein und Zeit genau entgegengesetzt ist. Das Sein oder, in Lévinas’scher Terminologie, das Gute, der Er, manifestiert sich im Vorübergehen der Zeit, in ihrem Entzug. Das führt dazu, daß »Jenseits des Seins« beherrscht wird von dem Gegensatz zwischen einer Seinsauffassung, die auf Einheit in einer umfassenden Gegenwart abzielt, und einer anderen, für die das Sein sich als die sich entziehende Zeit vollzieht. Diesen Gegensatz faßt Lévinas terminologisch als den Gegensatz zwischen der Synchronie und der Diachronie. Dabei fällt die Synchronie mit der traditionellen Ontologie zusammen, die Diachronie hingegen ist die Manifestationsweise des anderen und des Guten. Die Zeit als Entzug charakterisiert die Ethik, die Lévinas nicht länger als Seinsgeschehen bezeichnet. Die Opposition zwischen Ontologie und Synchronie einerseits sowie Ethik und Diachronie andererseits ist das beherrschende Thema von »Jenseits des Seins«. Lévinas selbst sieht das Neue in »Jenseits des Seins« in der strikten Durchführung dieser UnterscheiA

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IV. Die meta-ontologische Transzendenz

dung. So heißt es in dem Vorwort, das Lévinas der deutschen Übersetzung von »Totalität und Unendlichkeit« vorangeschickt hat, »Jenseits des Seins« vermeide »die ontologische – oder genauer: eidetische – Sprache, auf die sich ›Totalität und Unendlichkeit‹ noch durchwegs beruft« 1 . Die eidetische Sprache ist diejenige Sprache, die mittels der Idealisierung das Vergangene und Künftige in einer idealen Gegenwart sammelt. 36.3 In einer gewissen Weise vertieft Lévinas mit dem Begriff der Diachronie einen Gedanken, der schon in »Totalität und Unendlichkeit« eine zentrale Rolle spielte: den Gedanken, daß das Unendliche sich im Entzug manifestiert. Aber doch gewinnt dieser Gedanke in »Jenseits des Seins« eine Bedeutung, die ihm zuvor nicht zukam. Es gehörte zu den Schwierigkeiten von »Totalität und Unendlichkeit«, daß der Entzug hier auf zwei Weisen erklärt wurde: als Forderung, die der andere an das Subjekt stellt, und als die Gewalt, der das Subjekt im Kampf aller gegen alle unterliegt. Hinzu kommt, daß das Absolute das Subjekt endlich dank der Fruchtbarkeit in seiner Integrität wiederherstellt: »Das zentrale Geschehen der Zeit ist die Wiederauferstehung.«2 Gerade dieser Gedanke einer Rettung des Subjekts, einer endlichen Wiederherstellung, gehört jetzt eher in den Umkreis all der Bemühungen, die auf die Wiederherstellung der Einheit mit sich selbst, auf Rückkehr aus der Entfremdung abzielen, Bemühungen also, die nun der traditionellen Philosophie und Ontologie zugeschrieben werden. Sie sind mit einem Sein, das radikal als Entzug und Verschwinden gedacht ist, nicht vereinbar. Das ist der Grund, warum die Liebe und die Fruchtbarkeit in dem neuen Ansatz keinen Platz mehr haben. Die Erotik ist mit der Ethik nicht mehr vereinbar, sondern tritt zu ihr in Widerspruch. Daß sich Erotik und Ethik zumindest in einer Hinsicht ausschließen, wird offenkundig, sobald man an das Prinzip der Ethik, nämlich die Asymmetrie oder Nichtgegenseitigkeit, erinnert. Unter diesem Gesichtspunkt bildet die Ethik einen Gegensatz zur Erotik; denn die erotische Liebe untersteht nicht der unbedingten Asymmetrie, sondern sucht die gegenseitige Anerkennung und gehorcht dem Grundsatz des Tauschs. »Die Liebe«, so schreibt Lévinas, »ist das Ich, das im Du 1 2

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TU 8/EN 249. TI 260/TU 415.

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§ 36 Charakteristik des neuen Ansatzes

Erfüllung findet (le moi, satisfait de toi), das im Anderen die Rechtfertigung seines Seins ergreift.« 3 Lévinas spricht von der Erotik als einem »Verlangen« – aspiration, nicht mehr désir – »nach dem Anderen, das sich noch innerhalb des sein (essence) hält und von daher gerade sich darin gefällt zu verlangen …« 4 . Der Eros befreit das Ich von der Belastung mit sich selbst und überwindet so die Endlichkeit. Deutlicher noch zeigt der Bezug auf die eigene Zukunft die Interessiertheit und Wechselseitigkeit der Liebe. Als Fruchtbarkeit stellt der Eros eine Beziehung zur Zukunft her, die zugleich meine Zukunft ist. Die Fruchtbarkeit »bezeichnet meine Zukunft, die nicht die Zukunft des Selben ist. Sie bezeichnet nicht eine neue Verwandlung: Sie bezeichnet weder eine Geschichte noch Geschehnisse, die einem Residuum an Identität, einer an einem dünnen Faden hängenden Identität, einem Ich, das die Kontinuität der Verwandlungen gewährleisten würde, widerfahren können. Und gleichwohl noch mein Abenteuer, und folglich trotz der Diskontinuität in einem sehr neuen Sinne meine Zukunft.« 5 Zwei Jahre später dagegen heißt es: »Für den Handelnden besteht die Geduld nicht darin, seine Großmut zu hintergehen, indem er sich die Zeit einer persönlichen Unsterblichkeit einräumt.« 6 Statt dessen macht sich die Eschatologie frei von dem Gedanken an die eigene Zukunft; das Eschaton ist der Andere ohne Gegenseitigkeit, die Beziehung zum Anderen wird zur »Echatologie ohne Hoffnung« 7 . »Der Vorrang der Zukunft unter den ›Ekstasen‹ der Zeit«, heißt es nun, »konstituiert die Erkenntnis qua Seinsverständnis. Dieser Vorrang bezeugt die Angleichung des Seins an das Denken.« 8 Wegen der Gegenseitigkeit kann der Eros nicht die Beziehung zum unbedingten Anderen sein. Freilich spricht Lévinas auch nach »Totalität und Unendlichkeit« noch von Liebe. Aber wenn fürderhin von ihr die Rede ist 9 , so meint Lévinas nicht mehr die Liebe als Eros, sondern als agapé oder caritas, Liebe ohne Eros, Liebe als Verantwortung für den Anderen. »Die Passivität, in der das Gute ist, wird nicht zum Eros; in dieser Passivität unterdrückt nichts die Spur

3 4 5 6 7 8 9

EN 33/ZU 33. AE 224/JS 379. TI 245/TU 392. DEHH 192/SpA 217. DEHH 192/SpA 217; vgl. dazu auch HaM 136. DEHH 188/SpA 210. Vgl. etwa EI 117/EU 93; HAH 110 Anm. 8/HaM 96 Anm. 8; HaM 134. A

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IV. Die meta-ontologische Transzendenz

des Anderen in seiner Männlichkeit.« 10 Die Verantwortung für den Anderen wird nicht mehr, wie noch in »Totalität und Unendlichkeit«, von der Liebe zum Weiblichen unterfangen, weil sie auf diese Weise »das Andere auf dasselbe zurückführen« 11 würde. Das Jenseits wird in einer »unerotischen Öffnung« 12 gesucht. Von diesem Ausschluß der Erotik zeugt dann auch »Jenseits des Seins«. Eine erotische Liebe kommt hier nicht mehr vor. Vielmehr konzentriert sich das Werk auf den Gegensatz von Ontologie und Ethik. Die Bemühung, das Subjekt zu retten, es aus der Entfremdung zurückzuholen, gehört in den Bereich der Ontologie. Das Subjekt erwartet nicht alles Heil vom kommenden Messias, sondern muß selbst die Last des Messias auf sich nehmen, der sich, verantwortlich für den anderen, dem Frieden zum Opfer bringt. 36.4 Neben der systematischen Unterscheidung von Ontologie und Ethik, Synchronie und Diachronie, nennt Lévinas einen zweiten Punkt, der »Jenseits des Seins« von »Totalität und Unendlichkeit« scheidet: Die Ethik selber sondert sich in Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Die Nächstenliebe hat es mit dem einzelnen anderen zu tun. Aber in der sozialen Wirklichkeit stehen dem Subjekt immer viele andere gegenüber, für die in verschiedener Weise Verantwortung getragen werden muß. Diese Vielheit anderer verlangt, daß das Subjekt die jeweiligen Forderungen in Beziehung setzt, miteinander vergleicht, abwägt und letztlich auch Entscheidungen darüber trifft, wer dringender der Hilfe bedarf. Diese Aufgabe läßt sich nicht lösen, ohne daß das Subjekt aus der Unmittelbarkeit zum einzelnen Nächsten heraustritt und Maßstäbe für die Beurteilung entwickelt. Damit kehren die allgemeinen Begriffe und Gesetze, das ganze ideale Wesen, das bisher als ontologisch abgewiesen wurde, zurück. Dennoch hat es sich verändert: Ontologie ist nicht mehr der letzte Grund, sondern hat ihre Rechtfertigung allein aus einer ethischen Eingebung. Darum nennt Lévinas diese neue »Ontologie« auch Gerechtigkeit. Der Begriff der Ontologie – den Lévinas mit der traditionellen Philosophie gleichsetzt – ist also in »Jenseits des Seins« nicht mehr HAH 80/HaM 79. Wir übersetzen »virilité« mit »Männlichkeit« statt mit »Mannhaftigkeit«, weil mit der Männlichkeit des Anderen seine mögliche Weiblichkeit und damit der erotische Charakter des Verhältnisses zurückgewiesen ist. 11 HAH 80/HaM 79. 12 AE 224/JS 380. 10

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§ 36 Charakteristik des neuen Ansatzes

eindeutig. Die traditionelle Philosophie kann verstanden werden als Versuch des Bewußtseins, sich gegen alles andere immun zu machen und wird dann prima philosophia sein; oder sie macht den Versuch, die ethischen Ansprüche, die die vielen an das Subjekt stellen, miteinander zu vermitteln und abzugleichen. Im zweiten Fall gründet die Ontologie in der Ethik. Die traditionelle Philosophie kann also sowohl als Ausdruck eines Willens zur Herrschaft verstanden werden als auch als die Bemühung, eine gerechte Welt zu schaffen, die nicht nur den Nächsten berücksichtigt, sondern auch dem Fernsten Rechnung trägt. 36.5 Damit sind die Punkte genannt, auf denen in den Untersuchungen von »Jenseits des Seins« das Gewicht liegt und die dem Folgenden die Gliederung vorschreiben. Es kommt zunächst darauf an, die verschiedenen Weisen der Zeitigung zu beschreiben, die synchrone Zeit des Bewußtseins (4.1 Bewußtsein und Ontologie) und die diachrone Zeit des Subjekts (4.2 Subjektivität und Ethik). Aber hinsichtlich der Diachronie gilt es wiederum zu unterscheiden zwischen der Manifestation des anderen und des Absoluten (Gottes). Daher wird dem Absoluten ein eigener Abschnitt gewidmet (4.3 Das Absolute). Schließlich folgt aus den ethischen Forderungen selbst, wenn sie von jedermann gestellt werden, der Übergang der Verantwortung für den Nächsten zur Verantwortung für alle Nächsten, also der Übergang der Ethik oder Nächstenliebe in Gerechtigkeit und Ontologie (4.4 Die Politik).

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4.1 Bewußtsein und Ontologie

§ 37 Die Zeit des Bewußtseins 37.1 Für die antike und mittelalterliche Philosophie kam alles darauf an, die Endlichkeit der Zeit zu überwinden und zu dem wahren Sein jenseits der Zeit zu gelangen. Jenseits der Zeit und der endlichen Sinnlichkeit lag das Reich des Idealen. Die Begriffe oder Ideen haben eine Geltung, die von den jeweiligen besonderen Umständen unabhängig sind: Das Wesen eines Dreiecks ist dasselbe in allen Zeiten und allen Regionen. Das verschafft den Ideen ihre universale Geltung. Die Rolle der Zeit ändert sich in dem Maße, in dem das Subjekt und das Ich denke in den Vordergrund treten. Die Rede von einem Sein, in welchem Sinne auch immer, hat nur Sinn für uns Menschen und setzt die menschliche Erkenntnis voraus. Die Frage, ob es Sein auch vor und unabhängig von der menschlichen Erkenntnis gibt, mag nicht überflüssig sein. Aber wir können sie nicht beantworten, weil jede Antwort doch wiederum die Erkenntnis, also das Ich denke, voraussetzen würde. Das menschliche Bewußtsein ist die notwendige Bedingung für alle Rede vom Sein. Damit wird noch nicht behauptet, das menschliche Denken erzeuge das Sein; es wird allein gesagt, daß wir über ein Sein unabhängig vom Bewußtsein nichts wissen. Nun ist das Bewußtsein seinerseits an die Zeit gebunden. Alle Wahrnehmung und alles Denken überhaupt vollzieht sich im Nacheinander. Gewiß gibt es nicht nur das Nacheinander, sondern der Wahrnehmung etwa präsentiert sich die Realität als ein Feld, in dem die Dinge nebeneinander liegen. Das hindert aber nicht, daß das Bewußtsein, auch das des Nebeneinander, in jedem Augenblick ein anderes wird und so notwendig als eine zeitliche Folge dargestellt werden kann. Hier ist nun der Punkt, an dem die Zeit zum Problem wird. Gäbe es nämlich für das Bewußtsein nur die jeweils punktuelle Präsenz, so gäbe es kein Bewußtsein. Dann nämlich wäre das Bewußtsein in je290

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§ 37 Die Zeit des Bewußtseins

dem neuen Augenblick ein anderes, ein neues. Tatsächlich aber hat das Bewußtsein in den verschiedenen Momenten seines Lebens eine sich durchhaltende Identität. Diese durchgängige Identität ist auch die Voraussetzung dafür, daß das Bewußtsein Wandel überhaupt wahrnehmen kann. Daß das Bewußtsein sich heute als ein anderes wahrnimmt als gestern, daß der Mensch mit Bewußtsein etwa altern kann, setzt voraus, daß er seinen Zustand von gestern und heute miteinander zu vergleichen in der Lage ist. Etwas Ähnliches gilt aber von der Wahrnehmung der Dinge. Auch sie werden, wenigstens eine Zeitlang, als identisch verharrende erlebt, so sehr sie auch dem Wandel unterliegen. Der Grund für dieses Erlebnis kann nicht die beharrliche Identität der Dinge selbst sein; denn gesetzt auch, sie verharrten unverändert, so könnte ein Bewußtsein, das nur im unaufhörlichen Fluß ist, weder ein Verharren noch einen Wandel wahrnehmen. Hier entsteht also die Frage: Wie schafft es das Bewußtsein, daß es trotz seines ständigen Strömens sich selbst und die Dinge als verharrend und bleibend erfährt? Wie kommt angesichts des fundamentalen zeitlichen Stroms überhaupt Identität zustande? Der Grund dafür muß im Bewußtsein selbst, und zwar in seiner zeitlichen Verfassung oder in seinem Umgang mit der Zeit, in der Weise, wie es die Zeit verarbeitet, gesucht werden. Für die Antwort auf diese Fragen bezieht sich Lévinas auf Husserls Untersuchungen »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins«. 37.2 Alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas. So sagt die Phänomenologie. Zwischen dem Bewußtsein als Akt und seinem Gegenstand liegt eine Differenz. Sie fallen nicht ineins. Ist nun das Bewußtsein auf seinem Grund zeitliches Bewußtsein, so muß diese Differenz eine zeitliche Differenz sein. In der Tat ist die unmittelbare Präsenz des Sinneseindrucks noch kein Bewußtsein. Zwar hebt das Bewußtsein mit einer ursprünglichen Impression an, mit dem, was Husserl die Urimpression nennt, aber dieses Unmittelbare wird noch nicht für das Bewußtsein zum Gegenstand. Vielmehr muß der unmittelbare Eindruck minimal vergangen sein, um für das Bewußtsein gegenständlich zu werden. Was zu Bewußtsein kommt, ist also nicht mehr das unmittelbar Gegenwärtige, sondern das soeben Vergangene, das sich erst jetzt dem Bewußtsein zeigt und für das Bewußtsein ist. Das Festhalten des soeben Vergangenen nennt Husserl die Retention. Wie kann das Vergangene gegenwärtig sein? Nur dadurch, daß die neue Gegenwart das Zeichen, das Bild ist, in dem sich das VerganA

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gene zeigt. Das bewußtseinsmäßig Gegenwärtige ist also schon nicht mehr das Unmittelbare, sondern das Vergangene. Oder genauer gesagt: Das für das Bewußtsein Präsente ist schon nicht mehr die Urimpression, das Unmittelbare. Die Urimpression muß vergangen sein, um bewußte Gegenwart zu werden. Diesen Vorgang, der darin besteht, Bewußtsein erst dadurch zuzulassen, daß die gegenwärtige Zeitphase in die Vergangenheit rückt, nennt Lévinas die Phasenverschiebung 1 . Erst die Phasenverschiebung macht das Bewußtsein und das Erscheinen möglich: »Dieses ›sich zeigen‹ deutet auf eine Phasenverschiebung, die nichts anderes ist als die Zeit, jener erstaunliche Abstand des Identischen zu sich selbst. Die Phasenverschiebung im Jetzt, das ›Ganze‹, das sich vom ›Ganzen‹ abhebt – die Zeitlichkeit der Zeit – ermöglicht gleichwohl ein Wiedererlangen, durch das nichts verlorengeht. Entdeckung des Seins …« 2 Die Phasenverschiebung macht nicht nur das Wesen des inneren Zeitbewußtseins aus, sondern ist der Grund allen Seins und aller Erscheinung. Sie löst ein Problem, mit dem sich schon Platon herumschlug. Auch Platon 3 geht davon aus, daß zwischen der sehenden Seele und den gesehenen Ideen ein Abstand besteht. Auf die Frage, was beide vereint und zusammenbringt, antwortet er: Es ist das Licht, das als Drittes wie ein Joch beide zusammenbindet. Für Lévinas erweist sich nun die Zeit als diejenige Struktur, die alle drei Momente in sich vereint: »Durch den Abstand des Identischen zu sich selbst ist die Zeitlichkeit sein (essence) und ursprüngliches Licht, eben jenes, das Platon von der Sichtbarkeit des Sichtbaren und von der Hellsichtigkeit des Auges unterschieden hat. Die Zeit des sein (essence) vereinigt die drei Momente des Wissens« 4 : nämlich das subjektive Wissen, das objektiv Gewußte und das Licht, das beide verbindet. 37.3 Daraus folgt, daß das Unmittelbare nicht auch das Gewußte ist. Was Gegenstand des Bewußtseins wird, hat sich aus der Unmittelbarkeit schon zurückgezogen, ist grundsätzlich bereits vergangen. Insofern kann von der Gegenwart in einem zweifachen Sinne gesprochen werden. In einer gewissen Weise ist das Unmittelbare, die Urimpression, die Gegenwart. Aber sie ist gemäß der Phasenver1 2 3 4

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déphasage AE 36/JS 75. Vgl. Platon, Der Staat, 507b ff. AE 38/JS 79.

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§ 38 Das Apriori des Bewußtseins

schiebung keine Gegenwart für das Bewußtsein. Wenn sie ins Bewußtsein tritt, ist sie aus der Sicht der Unmittelbarkeit schon vergangen. Wir können also eine Gegenwart, die nicht ins Bewußtsein tritt, unterscheiden von einer bewußten Gegenwart, die aber schon vergangen ist. 37.4 Es ist diese Temporalisierung, die die Struktur des Bewußtseins bestimmt. Schon der Idealismus definiert das Bewußtsein nicht mehr als Substanz, sondern als eine Bewegung. Die für das Bewußtsein konstitutive Dialektik besteht nach Hegel darin, daß das Bewußtsein aus sich heraustritt, sich von sich trennt, und das Getrennte als das Eigene erkennt. Die Phänomenologie faßt diese Bewegung als einen zeitlichen Prozeß auf, als Temporalisierung. »Was sich durch das intentionale Bewußtsein und in ihm vollzieht, … nimmt Abstand von sich selbst in der Retention, um durch diesen Abstand hindurch identifiziert und in Besitz genommen zu werden. Dieses Spiel im Sein ist das Bewußtsein selbst: Gegenwärtigkeit für sich selbst aufgrund der Differenz, die zugleich ein Sichverlieren und ein SichWiederfinden in der Wahrheit ist.« 5 Das Bewußtsein ist also nicht mit sich identisch in der Weise einer Substanz, die unverändert und unbeweglich dem Wandel zugrundeläge; das Bewußtsein ist vielmehr mit sich identisch, sofern die vergangenen Zeitphasen wiederaufgenommen und als das Eigene identifiziert werden. Die Identität des Bewußtseins beruht auf einem Zeitgeschehen. Lévinas hat diese Bewegung mit dem Mythos von Odysseus verglichen. So wie alle Abenteuer des Odysseus nur Umwege zur Heimat sind, so kehrt auch das Bewußtsein immer zu sich zurück.

§ 38 Das Apriori des Bewußtseins 38.1 Aber es genügt nicht, daß das Bewußtsein dasjenige, was sich ihm entzogen hat, wieder aufnimmt. Es muß es auch als etwas Bestimmtes erkennen, es als etwas identifizieren und festhalten. Das Bewußtsein muß erkennen, was das Jeweilige bedeutet. Diese Erkenntnis der Bedeutung ist Sache der Protention und Antizipation, der Vorwegnahme oder des Horizontes, in dem das Sinnliche immer schon steht. Das Sinnliche trifft nicht ein unvorbereitetes Denken, 5

AE 129/JS 225–6. A

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das den Eindruck aufnehmen würde, wie er an sich selbst ist. Vielmehr ist das Denken, ist das Bewußtsein sich immer schon in einer Erwartungshaltung voraus: Es ist nicht nur retentionales, sondern auch protentionales Bewußtsein. Diese Erwartungen werden gesteuert durch die bisherigen Erfahrungen mit den Dingen und durch die erwartete Gesetzmäßigkeit des Zusammenhangs. Der bisherige Verlauf der Erfahrung motiviert die Annahme, daß das Neue, auf das das Bewußtsein trifft, nicht wesentlich anders sein wird, als das Bewußtsein es bisher erfahren hat. Diese bisherige Erfahrung kann dem Bewußtsein ein Apriori nur vorzeichnen, weil sie in ihren Einzelheiten nicht vollkommen heteroklit ist, sondern sich einerseits wiederholt, weil es immer wieder dieselben Erfahrungen sind, weil aber auch neue Erfahrungen bei aller Differenz sich doch zu einer Einheit, zu einem System zusammenfügen. Die Welt, die sich uns eröffnet, ist eine, ein nach Gesetzen zusammenhängendes Ganzes. Dieses Ganze ist uns nicht als Ganzes, als eine übersichtliche Totalität gegeben und greifbar. Ihre Ganzheit ist vielmehr präsumptiver Art, von der Art eines Horizontes, dessen weiterer Fortgang, je mehr wir in ihn eindringen, sich in seinem Gesamtstil immer wieder bewährt, aber doch Neues nicht ausschließt. Aber auch das Neue muß sich dem Gesamtstil integrieren, sich der Ganzheit eingliedern und fügen. Obwohl die Welt nur horizonthaft gegeben ist, ist sie eine; das ist die Voraussetzung, die wir einerseits machen, die sich aber anderseits auch immer wieder bewährt. Was sich dieser Einheit nicht fügt, wird entweder fügsam gemacht oder hat in der Welt, im System der Erscheinungen, keinen Platz. Diesen apriorischen Charakter des Phänomenbewußtseins nennt Lévinas das Kerygma, Verkündigung. Das Kerygma hat zur Folge, daß allem Begegnenden schon a priori eine Bedeutung »verkündet«, ein Platz im System der Bedeutungen zugewiesen wird. Das meint die Rede, es werde etwas als etwas begriffen. Etwas als etwas! Was sich präsentiert, wird von vornherein unter einen Gesichtspunkt gestellt, und zwar unter einen solchen, der dem neuen einen Platz im System der Welt zuweist. 38.2 Fassen wir beides zusammen, so werden wir sagen: Dem Sinnlichen geht immer schon ein Horizont von Bedeutungen und Begriffsmustern voraus, der macht, daß es als etwas begriffen werden kann. Indem wir etwas als etwas begreifen, wird es zum Phänomen, 294

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§ 38 Das Apriori des Bewußtseins

zur Erscheinung, zum Gegenstand für das Bewußtsein. Zugleich aber ist es schon nicht mehr es selbst, ein singuläres, uns allein hier und jetzt treffendes Ereignis, sondern etwas Allgemeines, Begriffliches. Der Begriff unterscheidet sich vom jeweils Singulären dadurch, daß er für vieles gilt, und dadurch, daß er auch unabhängig von seinem Gegenstand präsent sein kann. Das macht seine Idealität aus. Eben diese Idealität kommt den Bedeutungen zu, die wir den »Dingen« zuschreiben. »Was erscheint, kann außerhalb der Bedeutung nicht erscheinen. Das Erscheinen des Phänomens ist nicht getrennt von seinem Bedeuten; dieses weist auf die proklamatorische, kerygmatische Intention des Denkens zurück.« 6 Das Bewußtsein ergreift also das Sinnliche immer nur in seiner Bedeutung, in seiner Idealität. Nur so allein können die Dinge überhaupt dem Bewußtsein erscheinen. Der sinnliche Gehalt ist schon in der Bedeutung aufgegangen. Es bleibt allein die ideale Hülle zurück, das Bild. »Unter dieser Voraussetzung kann das Denken das Individuelle nur auf dem Umweg über das Universale erreichen.« 7 Es stellt sich heraus, daß das Bewußtsein das Singuläre »nicht auszudrücken vermag, ohne es zu idealisieren« 8 . Diese Einsicht führt zu einer neuen Einschätzung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Denken. Im allgemeinen gehen wir davon aus, daß wir in der Sinnlichkeit von den Dingen affiziert werden und sie dadurch erleben, wie sie an sich selbst sind. Das Denken dagegen beruht auf einem Akt des Bewußtseins. Hier dagegen zeigt sich, daß auch aller Wahrnehmung eine Tätigkeit des Bewußtseins, ein Begriff zugrundeliegt. Den Wahrnehmungsgegenständen kommt genauso Idealität zu wie dem Denken, oder, mit Kant zu sprechen: Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Die Idealität erstreckt sich also nicht mehr allein auf das bloße Denken im Unterschied zur Wahrnehmung. Vielmehr ist alles Bewußtmachen und Bewußthaben ein Antizipieren oder ein Zurückhalten von solchem, was selbst abwesend ist. Identität überhaupt gibt es nur in der Form der Idealität, und Idealität ist das Ergebnis der Temporalisierung.

DEHH 221/SpA 268. DEHH 222/SpA 269. 8 DEHH 224/SpA 270; vgl. dazu schon Plotin: »Allgemein aber ist es unmöglich, das der Zahl nach Eine, das Individuum, zu erfassen« (En. VI, 2, 22). 6 7

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38.3 Idealität aber ist gleichbedeutend mit Gegenwärtigung. Zu den Vorzügen der Idealität gehört, daß sie uns erlaubt, auch dasjenige gegenwärtig zu machen oder zu halten, was entweder noch bevorsteht oder schon verschwunden ist. Im Gedanken an das vergangene oder an das kommende Jahr machen wir uns etwas präsent, was an sich selbst nicht mehr oder noch nicht existiert. Der eigentliche Sinn der Temporalisierung des Bewußtseins besteht also darin, den ständigen Schwund und Entzug der Zeit rückgängig zu machen, die Zeit zum Stillstand zu bringen. Der Stillstand der Zeit ist in den überzeitlichen Begriffen und Bedeutungen erreicht. Hier haben wir uns vom Entzug des Sinnlichen freigemacht und hantieren nur noch mit bleibenden – etwa mathematischen – Größen, mit festen Relationen, mit Gesetzen, die seit jeher dem Verlauf der Dinge zugrundeliegen. In der Idee erreichen wir tendenziell eine umfassende Gegenwart, kommen wir dem göttlichen Auge nahe, dessen Blick aus dem Jenseits alle vergangenen und künftigen Zeiten umfasst. Die technische Realisierung dieser Ambition, der uns die neuesten Reproduktionsmittel wieder ein Stück näher bringen, verfolgt nur eine Tendenz, die in der Struktur des Bewußtseins selbst angelegt ist. Lévinas hat für das Festhalten des Vergangenen das Bild der Resonanz 9 , des Nachklangs oder des Widerklangs benutzt. Darin drückt er aus, daß jede Gegenwärtigung ihr Gegenwärtiges zwar schon verloren hat, es aber doch noch als Widerhall oder Echo präsent hält. Nun ist das Ideale immer das Resultat synthetischer Leistungen des Bewußtseins. Es dient uns dazu, das mannigfaltige Sinnliche zu ordnen und so eine Welt herzustellen. Im Idealen haben wir gerade nicht das Wirkliche selbst, sondern nur sein Bild, sein Konstrukt. Das gilt nicht nur für den Begriff für sich allein, den Begriff, soweit er von den sinnlichen Gegenständen getrennt ist, sondern für alle Gegenstände, für alles Wahrnehmen und Denken überhaupt. Also bestätigt sich hier abermals, daß das Bewußtsein, indem es sich die Dinge und die Welt erschließt, gerade nicht aus sich herausgeht, sondern bei sich selbst bleibt. résonnance, résonner, vgl. etwa AE 38, 39, 49, 51/JS 79, 80; 96, 98, 99. Wiemer übersetzt résonnance in der Regel mit Klang, erklingen etc. Darin geht aber das »wider« oder das »wieder« verloren. Man möge in dieser Bemerkung keine Kritik an der ausgezeichneten Übersetzung von Wiemer sehen. Beim Vergleich des französischen Textes mit der deutschen Übertragung von Wiemer zeigt sich immer wieder, daß eine gute Übersetzung das Original auch zu erhellen vermag.

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§ 39 Sein und Bewußtsein

§ 39 Sein und Bewußtsein 39.1 Die Welt und die Dinge konstituieren sich für das Bewußtsein dank der Temporalisierung. Das ist die zentrale These in Heideggers »Sein und Zeit«, die Lévinas hier im Rückgriff auf Husserls Zeituntersuchungen übernimmt. Zugleich ist die Lehre der Zeit die Basis und das Fundament der Phänomenologie. Die Phänomenologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bedingungen für das Erscheinen der Dinge zu untersuchen. Die unterste Bedingung ist die Temporalisierung. Auch Heidegger ist darin Erbe Husserls. Aber im Unterschied zu Husserl versteht Heidegger die Konstitution des Seienden durch das Bewußtsein nicht als Leistung eines Ich. Vielmehr ist das Geschehen, in dem sich die Welt enthüllt, das Geschehen und die Entfaltung des Seins selbst. Das Sein selbst tritt sich gegenüber; in der Temporalisierung, in der Phasenverschiebung gibt sich das Sein selbst für sich ein Erscheinen. Damit prägt Heidegger einen neuen Begriff der Phänomenologie. Für Husserl bleibt die Phänomenologie Transzendentalphilosophie: ein Idealismus, der sein Fundament in einer Theorie des konstituierenden Ich hat. Alles ist abgestellt auf die konstituierenden Leistungen eines transzendentalen Subjekts. Husserl bleibt dem Subjekt-Objekt-Schema treu. Für Heidegger dagegen ist die Entfaltung in den Subjekt-Objekt-Gegensatz selbst eine Sache des Seins. Das Sein ist die allem übergeordnete Instanz. Die Subjekte und die Objekte sind Seiende. Das Sein aber ist kein Seiendes; es ist vielmehr dasjenige, dank dessen die Seienden Seiende sind. Daher tritt für Heidegger der Gegensatz Subjekt-Objekt in den Hintergrund zugunsten der neuen Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden. Das Sein jenseits der Seienden, dessen Walten darin besteht, sich in den Seienden – Subjekt und Objekt – zu manifestieren, nennt Lévinas die »essence«. Es ist diese essence, das verbale sein, das zunächst im Zentrum der ontologiekritischen Analysen von »Jenseits des Seins« steht. Darum gilt der erste Hinweis, den Lévinas in der Vorbemerkung zu dem Buch macht, der Präzisierung dieses Ausdrucks: »Der Begriff essence bringt hier das vom étant verschiedene être zum Ausdruck, das deutsche Sein im Unterschied zum Seienden.« 10 Die Hauptkorrelation ist die »Beziehung« zwischen dem Sein und dem Seienden, zwischen dem Sein und seinem mannigfaltigen 10

AE IX/JS 17 vgl. auch AE 3/JS 23: »Der Begriff essence – … – bezeichnet das vom ens A

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Erscheinen. Wir setzen »Beziehung« in Anführungszeichen, weil die Unterscheidung, die zwischen dem Sein und dem Seienden gemacht wird, zugleich auch keine ist. Lévinas hat schon sehr früh von der »Schwierigkeit [gesprochen], Sein und Seiendes zu unterscheiden« und von der »Tendenz, das eine im anderen zu betrachten« 11 . Das Sein ist nicht etwas, das hinter dem Seienden stünde oder sich hinter ihm verbergen würde, sondern es ist selbst das Erscheinende und der Prozeß des Erscheinens. Das unaufhörliche Aufgehen des Seins im Seienden ähnelt dem Aufgehen einer Kraft in die Bewegung. Das Sein »ist einerseits noch reines Ereignis, das durch ein Verb ausgedrückt werden muß; und indessen gibt es in diesem Sein so etwas wie einen Umbruch, gibt es schon etwas, schon Seiendes.« 12 Es ist das Wesen des Seins, im Seienden aufzugehen. In diesem Sinne haben wir es zu verstehen, wenn Lévinas sagt, das Sein sei »teleologisch auf das Kerygma … gerichtet«, das Sein sei dem Seienden »korrelativ«, das Sein intendiere (»est tendu vers«) das Seiende und gehe in ihm auf 13. Diese Teleologie ist nicht die Bewegung von Etwas, sondern sie ist der Vollzug des Seins selbst, nämlich das Sein, das als Erscheinen west. Darin besteht nun auch die Wahrheit des Seins. Genauer: Es ist dies nicht nur die Wahrheit über das Sein; vielmehr besteht das Sein darin, in die Offenbarkeit, in die Unverborgenheit zu treten, zu erscheinen. Als Erscheinen ist das Sein selbst die Wahrheit, das Sein ist die Wahrheit als das Geschehen des Erscheinens. Daher nennt Lévinas die Wahrheit das »Erscheinen des seins (essence)« 14 . Die Wahrheit ist der Prozeß der »Darstellung (exposition) des Seins vor sich selbst« 15 . Damit nimmt Lévinas Heideggers Bestimmung der Wahrheit auf. Den griechischen Ausdruck alätheia, der gewöhnlich mit »Wahrheit« wiedergegeben wird, übersetzt dieser mit »Unverborgenheit« 16 Diese Korrelation von Sein und Wahrheit nennt Lévinas

unterschiedene esse – den Seinsvorgang oder das Seinereignis – das vom Seienden unterschiedene Sein«. Thomas Wiemer übersetzt »essence« in der Regel mit »sein«. 11 EE 16/VS 17. 12 TA 32/ZA 27. 13 Alle Zitate AE 47/JS 93. 14 AE 167/JS 289. 15 Vgl. dazu AE 29, 35, 77/JS 65, 75, 142. 16 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44, b; vgl. auch M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 28–29.

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§ 39 Sein und Bewußtsein

auch die »Amphibologie von Sein und Seiendem« 17 . Es ist wichtig, die genaue Bedeutung dieser Korrelation zu verstehen. Franz Rosenzweig hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff der Korrelation bei Hermann Cohen eine zentrale Rolle spielt. »Der neue Grundbegriff«, so charakterisiert Rosenzweig die Religionsphilosophie Cohens, »… ist die ›Korrelation‹, also das wechselseitige Verhältnis zwischen Mensch und Gott.« 18 Aber die Korrelation im Sinne Cohens setzt zugleich die Getrenntheit und Dualität der Termini voraus. Rosenzweig: »Was sich wechselseitig aufeinander bezieht, das ist nicht in Gefahr, sich einander die Wirklichkeit streitig zu machen, wie es der idealistische Erzeugerbegriff gegenüber seinem Erzeugnis fast notwendig tun muß.« 19 Dieser Dualismus hat die Aufgabe, die absolute Transzendenz Gottes zu gewährleisten; er folgt dem biblischen Gottesverständnis. Ihm entspricht auf der anderen Seite die permanente Polemik Cohens gegen die Vermittlungsversuche Philons des Alexandriners sowie insbesondere gegen den Immanentismus Spinozas. Lévinas dagegen versteht die Korrelation von Sein und Seiendem bei Heidegger in einem durchaus entgegengesetzten Sinn. Von Korrelation kann nur in einem uneigentlichen Verstand gesprochen werden; denn dank der dem Sein eigenen Seinsweise – des Hervortretens in die Erscheinung und in die Wahrheit – kann ebenso gut von einer Identität von Sein und Seiendem wie von einer Differenz die Rede sein. Diese Bivalenz ist es, die Lévinas als Amphibologie bezeichnet. Das Sein ereignet sich im zeitlichen Differieren, in der Phasenverschiebung. In diesem Sinne heißt Sein auch soviel wie Erscheinen. 39.2 In diesem Prozeß spielt nun das Bewußtsein die Rolle des Mediums. Das Bewußtsein ist der Ort, an dem das Sein zur Erscheinung kommen kann. »Die Wahrheit« – die Offenbarkeit des Seins – »kann nur in der Darstellung des Seins für sich selber bestehen, im Selbstbewußtsein.« 20 Das Bewußtsein wird als Teil des Gesamtprozesses in das Sein zurückgenommen. So ist die Identität des Ich nichts anderes als die Reflexion des Seins auf sich selbst. »Das Bewußstsein voll17 18 19 20

Etwa AE 29/JS 65. F. Rosenzweig, Kleinere Schriften, 331. F. Rosenzweig, l. c. 335. AE 35/JS 75. A

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zieht das Sein des Seienden. … Die Identität des Ich geht so auf die Reflexion des sein (essence) auf sich selbst zurück.« 21 So zumindest versteht Lévinas die Philosophie Heideggers, die in dieser ganzen Analyse Pate gestanden hat. »Heideggers Bemühen geht dahin, die Subjektivität abhängig vom Sein zu denken … : Die Subjektivität, das Bewußtsein, das Ich haben das Dasein zur Voraussetzung, das dem sein (essence) angehört als die Art und Weise, in der dieses sein (essence) sich manifestiert.« 22 Sofern nun die Philosophie nach dem Sein fragt und das Sein zur Erscheinung bringt, ist sie Ontologie. Aber sie ist nicht nur eine Rede über das Sein, die Beobachtung eines unbeteiligten Zuschauers über einen Gegenstand, der ihm selbst äußerlich ist. Vielmehr ist die Ontologie Rede und Logos des Seins selbst, im Sinne eines genitivus subiectivus. Es ist das Sein selbst, das sich in der Form der Ontologie und als Ontologie ausspricht. Dadurch wird der Begriff der Ontologie über den traditionellen Rahmen hinaus erweitert. Gemeinhin versteht man unter Ontologie eine philosophische Disziplin, vielleicht die erste und grundlegende. Wird dagegen die Ontologie mit dem Bewußtsein und dem Erscheinen vor dem Bewußtsein identifiziert, dann ist im Prinzip jedes menschliche Leben ontologisch. Das menschliche Dasein ist als solches ontologisch, seinsverstehend. Die Philosophie im engen Sinne gilt dann nur als eine besondere Form der umfassenden Ontologie. Sie setzt nur eine Tendenz fort, die jedem Dasein eigen ist. »So ist die Philosophie, als auf die Gegenwart ausgerichtete Rede, Seinsverständnis oder Ontologie oder Phänomenologie.« 23

§ 40 Sein und Logos 40.1 Die Ontologie ist nicht eine theoretische Wissenschaft, die ihren Gegenstand trifft oder verfehlt; ihr Gegenstand hat nicht ein eigenes Sein, unabhängig davon, ob die Wissenschaft ihn erkennt oder versäumt. Sie ist das Heraustreten des Seins selbst in seine Unverborgenheit, in seine Wahrheit. Dieses Heraustreten geschieht als der Logos des Seins. Rede des Seins oder Sage des Seins, das Sprechen 21 22 23

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AE 131/JS 230. AE 21/JS 55. DEHH 203/SpA 236.

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§ 40 Sein und Logos

des Seins – nichts anderes ist ja die wörtliche Übersetzung von OntoLogie. Aus diesem Grunde nimmt die ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden für Lévinas auch die Gestalt einer Differenz zwischen einem Sagen und einem Gesagten an. Der Korrelation von Sein und Seiendem entspricht eine »Korrelation von Sagen und Gesagtem« 24 . Zunächst wird man daran erinnern, daß die Identifikation des Seins mit dem Logos ein alter Topos der Philosophie ist, ein Topos freilich, der seine Kraft bis in unsere Zeit bewahrt hat. »Alles geschieht nach diesem Wort« 25 , so wird schon Heraklit zitiert, der als der erste Denker des Logos gilt. Und: »Obschon das Wort allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.« 26 Hier wird das, was den Seienden gemeinsam ist, gewissermaßen ihr Gesetz, als eine Rede vorgestellt. Daß das Sein sich in der Rede, im Wort artikuliert, hat insbesondere den ersten Eingangssätzen des Johannesevangeliums zu verbreiteter Berühmtheit verholfen. Freilich erwähnt Lévinas weder die ältere Tradition, noch die theologischen Spekulationen, die von einer Sprache Gottes wissen. Statt dessen bezieht sich Lévinas vorzüglich auf Heidegger. 40.2 Zunächst gilt es, sich von dem Gedanken frei zu machen, als sei die Sprache allein ein konventionelles System zur Bezeichnung von Gegenständen oder Ereignissen. Selbstverständlich gibt es die abbildende oder nominale Sprache. Das entspricht unserem alltäglichen Verständnis und dem Gebrauch, den wir von der Sprache machen. Wir gehen immer noch von der Unterscheidung zwischen der Sprache einerseits und der bezeichneten Wirklichkeit andererseits aus. Diese Unterscheidung ist die Voraussetzung für die fundamentale Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, die für das praktische Leben unentbehrlich ist. Der Sprache ist die Wirklichkeit vorgelagert. Die Wirklichkeit bleibt der Maßstab für die Wahrheit oder Unwahrheit der Rede. »Die Sprache als Gesagtes kann … aufgefaßt werden als … ein Zeichensystem, das die Seienden verdoppelt, das Substanzen, Geschehnisse und Beziehungen durch Substantive und

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AE 7/JS 30. H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd I, 77, fr. 1. L. c. fr. 2. A

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durch andere, von Substantiven abgeleitete Teile der Rede bezeichnet – kurz, das bezeichnet.« 27 Auf dem Grunde dieser sekundären Sprache aber sieht die Ontologie und sieht auch die Sprachwissenschaft eine produktive Sprache. Ihre Gliederungen sind es allererst, die uns die Wirklichkeit erschließen. Was die Dinge sind, wie sie uns erscheinen, das zeigt sich uns allererst in der Sprache. Es ist also gerade nicht so, wie der Alltag uns weismachen will, daß wir zunächst die Dinge in ihrer Beschaffenheit erkennen und ihnen dann sekundär Namen beilegen. Erst dank der Sprache zeigen sich uns die Dinge in ihrem Wassein. Alle dingliche Identität verweist ja auf Akte der Idealisierung; und aus solchen Akten geht die Sprache hervor. Nichts anderes ist das Kerygma des Bewußtseins. Auf diesen ursprünglichen Zusammenhang zwischen der Sprache und den Dingen weist nun auch schon der aristotelische Ausdruck für die Aussage. Aristoteles nennt sie Apophansis. Die Apophansis ist ein sprachlicher Ausdruck, der, im Unterschied etwa zur Bitte oder zum Befehl, wahr oder falsch sein kann. Sie läßt also sehen, wie die Dinge sind oder nicht sind. Nun hat das Wort Apophansis denselben Stamm wie das Wort Phänomen. Die Apophansis ist also der Ort, an dem die Phänomene zur Erscheinung kommen. 28 Wenn nun die Rede das Erscheinen des Seins ist und das Sein durch die Amphibologie gekennzeichnet ist, dann muß sich diese Differenz des Seins auch in der Rede, im Sagen zeigen. In der Tat sieht Lévinas diese Differenz auch in der Sprache am Werk. Der Aussagesatz setzt sich nämlich zusammen aus einem Subjekt, das in der Regel ein Name ist, und einem Verb. Schon Platon hatte auf diese Dualität aufmerksam gemacht. 29 In ihr spiegelt sich für Lévinas die Differenz von Sagen und Gesagtem, Verb und Nomen wider. Als Beispiel nimmt Lévinas den tautologischen Satz »A ist A«. »ist A« ist das Prädikat zu »A«. Nun sagt das Prädikat, wie eine Sache ist, es sagt ihre Seinsweise. In dem Satz »A ist A« sagt es, daß das A a-t. Es ist, als würden wir etwa vom Rot sagen: Das Rot rotet, oder der Klang klingt, der Nebel nebelt etc. Natürlich haben Klang, Rot, Nebel je andere inhaltliche Bestimmungen, aber indem sie verbalisiert werden, kommt in ihnen die Temporalisierung wieder zum Vorschein. 27 28 29

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AE 51/JS 99. Zum Thema der Apophansis bei Heidegger vgl. Sein und Zeit, § 33. Vgl. Platon, Sophistes, 261c ff.

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§ 40 Sein und Logos

»Die Apophansis – das Rot rotet oder A ist A – verdoppelt nicht das Wirkliche. Erst in der Prädikation ist das sein (essence) des Rot zu verstehen oder das Roten als sein (essence) … In der Prädikation wird das nominalisierte Adjektiv« – das Rote – »verstehbar als sein (essence) und als Zeitigung im eigentlichen Sinne … Es gibt weder sein (essence) noch Seiendes hinter dem Gesagten, hinter dem Logos … Die prädikative Aussage ist nicht nur eine Wiedergabe des seins (essence), in ihr temporalisiert sich das sein (essence).« 30 Demnach hat die Sprache Teil an der Ambivalenz des Seins, an seiner Amphibologie. Sie kann als System von Namen verstanden werden, als Ausdruck von Seienden; aber mit gleichen Recht läßt sie sich auffassen »als Verb in der prädikativen Aussage …, in der die Substanzen sich auflösen in Seinsweisen, in Weisen der Zeitigung, in der die Sprache jedoch nicht das Sein der Seienden verdoppelt, [sondern] in der sie den stillen Widerklang des sein (essence) zur Darstellung bringt.« 31 Damit zeigt sich, daß, wie die beiden Pole des Seins und des Seienden ineinander übergehen, auch die Sprache zwischen der Verbalität und der Nominalisierung oszilliert. Zwar heißt es: »Das Sein ist nichts anderes als das Verb. Die Zeitigung ist das Verb des Seins.« 32 »Indessen ist die Sprache auch ein Nominalsystem.« 33 Die ontologische Sprache des Seins enthüllt sich damit als eine »Sprache, in der Sagen und Gesagtes sich wechselseitig bedingen … Es läßt sich zeigen, daß selbst die Unterscheidung von Sein und Seiendem von der Amphibologie des Gesagten getragen wird, ohne daß sich diese Unterscheidung oder auch diese Amphibologie auf bloß verbale Tricks zurückführen lassen.« 34 40.3. Lévinas findet eine Bestätigung dieses Schwankens zwischen Temporalisierung und Nominalisierung in der Kunst. Schon früher hatte Lévinas auf den exotischen Charakter der Kunst aufmerksam gemacht. Sie bewegt sich in einem vorgegenständlichen Bereich, in der Zone einer phänomenologisch gedeuteten Sinnlichkeit. Sie zeichAE 51/JS 99. AE 51/JS 99–100. 32 AE 44/JS 88. 33 AE 44/JS 89. 34 AE 7/JS 30; ebenso AE 54/JS 103: »Der Logos entsteht in jener Amphibologie, in der sowohl das Sein als auch das Seiende sich verstehen und sich identifizieren können, in der das Nomen als Verb widerklingen und das Verb der Apophansis zum Nomen werden kann.« 30 31

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net sich dadurch aus, daß die Werke noch nicht zu idealen Gegenständen verfestigt sind, sondern die sinnliche Bewegung der Vergegenständlichung nachvollziehen. Wenn Lévinas schreibt: »In der Malerei rotet das Rot und grünt das Grün« 35 , so ist damit etwas anderes gemeint als die Gegenstandsfarbe. »Das Rot rotet« meint, das Rot hört auf, nur Eigenschaft eines Gegenstandes zu sein, um statt dessen das Bewußtsein auch sinnlich anzusprechen, als zeitliches Erlebnis: das Rot als Rot. Der Kunst kommt es nicht darauf an, uns Gegenstände oder auch Eindrücke zu vermitteln; sie will, nach dem Wort Merleau-Pontys, die Welt in statu nascendi zeigen. Sie möchte sichtbar machen, wie aus dem Strom des Bewusstseins so etwas wie gegenständliche und nominale Welt werden kann. Dies gilt insbesondere von der Kunst seit Ende des 19. Jahrhunderts: »Die Farbpalette, die Tonleiter, das Wortsystem, der Formenschwung – ihre Ausübung erfolgt jeweils als reines Wie; in der Farbgebung und im Bleistiftstrich, im Geheimnis der Worte, in der Klangfülle, in allen diesen modalen Begriffen erklingt sein (essence). Das Streben der modernen Kunst … scheint in all ihrer Ästhetik dieses Widerklingen oder Hervorbringen des sein (essence) in Gestalt von Kunstwerken zu suchen und zu vernehmen.« 36

§ 41 Kritik der Ontologie 41.1 Wenn Lévinas an der Ontologie Kritik übt, so ist der Maßstab für diese Kritik die Möglichkeit der Transzendenz zum anderen. Das Urteil über die Ontologie wird bestimmt von der Frage, ob sie die Transzendenz zum anderen zuläßt oder nicht. Insofern setzt das Urteil Lévinas’ Konzept des anderen voraus. In diesem Konzept spielt die Subjektivität eine zentrale Rolle. Sie ist der Ort, an dem der andere zur Präsenz kommen kann. Das gilt nicht allein für »Totalität und Unendlichkeit«, sondern hat Bestand auch in der weiteren Philosophie Lévinas’. Schon in der Vorbemerkung zu »Jenseits des Seins« beginnt die Skizzierung der zentralen Absicht dieses Buches mit den Worten: »in der Subjektivität eine Aus-Nahme erkennen, die das Gefüge von sein (essence) und

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AE 52/JS 100. AE 52/JS 101.

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§ 41 Kritik der Ontologie

Seiendem und ihrer Differenz durcheinanderbringt …« 37 Eine Theorie, die die Subjektivität verneint, bestreitet daher von vornherein die Möglichkeit der Transzendenz. 41.2 Eben dies ist der zentrale Einwand gegen die Ontologie. Das Ziel aller Ontologie ist die Rückkehr des Menschen ins Sein, die Aufhebung der Entzweiung. Dieser Gedanke findet allerdings in der Philosophie bis Kant eine andere Ausprägung als nach Kant. Für die platonische Philosophie etwa ist charakteristisch, daß der Mensch nicht ipso facto in der Wahrheit und im Sein ist. Als sinnlicher ist er vielmehr nicht Seiendes oder ein minderes Seiendes; die Philosophie wird als eine Konversion verstanden. Die Entzweiung aus dem Sein gilt als Seinsminderung. Daher das Streben des Menschen nach Wahrheit. Alle Menschen streben kraft ihrer Natur nach Wissen, sagt der erste Satz der Aristotelischen Metaphysik. Das Wissen, der Besitz der Wahrheit, ist für den Menschen unentbehrlich, weil die Wahrheit Nahrung für die Seele ist. »Platon«, so Lévinas, »spricht von der Seele, die sich königlich von der Wahrheit nährt«. 38 Nun steht bei Platon die Seele im Widerspruch zum Leib oder zum Körper. Die Seele, der die Wahrheit als Nahrung dient, ist das Organ der Begriffe und des Allgemeinen. Der Leib hingegen bleibt der Sinnlichkeit verhaftet und hat als solcher keinen Zugang zum Allgemeinen. Darum kommt es für eine Philosophie, die das Ideale und Allgemeine als das Wahre anstrebt, darauf an, die Partikularität der Leibbindung abzulegen. Erst die Befreiung aus der Sinnlichkeit öffnet den Zugang zur Wahrheit. Aus diesem Grunde heißt Philosophieren sterben lernen. Nun sieht aber Lévinas die Subjektivität gerade in der Sinnlichkeit und also mit dem Leib verhaftet: »Die Subjektivität ist Sinnlichkeit … deshalb ist das Subjekt aus Fleisch und Blut, ein Mensch, der Hunger hat und der ißt, Eingeweide in einer Haut …« 39 Die Wahrheit ist Nahrung, aber nicht des Menschen und noch weniger des Leibes: Sie ist Nahrung allein für die Seele, aber auf Kosten und gegen den Leib. Die Wahrheit ist das Allgemeine und Ideale; sie vernichtet das Individuelle. Eben dies geschieht, indem das Subjekt sein Leben an den allgemeinen Ideen ausrichtet. »Das menschliche Sub37 38 39

AE X/JS 19. TI 86/TU 158. AE 97/JS 175. A

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jekt … ist als Seiendes dem Begriff unterworfen, der seine Einzigartigkeit von allen Seiten her zudeckt und sie aufgehen läßt im Universalen und im Tod.« 40 Die Unterordnung unter das Ideale läßt das Subjektive sterben. »Sein, Erkenntnis und« – durch die Vernunft gesteuerte – »Handlung sind an den Tod gebunden. Als verdankten selbst die platonischen Ideen ihre Ewigkeit und ihre Reinheit als Universalien dem Niedergang des Vergänglichen …« 41 Erst der Tod des sinnlichen Subjekts setzt die Ideen in ihrer idealen Reinheit frei und nimmt zugleich das Subjekt ins Sein auf. 41.3 Auch die Heideggersche Ontologie ist beseelt vom Gedanken des Seins. Aber sie steht unter anderen historischen Voraussetzungen: Sie fußt auf der Philosophie Kants. In der Philosophie Kants verändert sich die Stellung des Subjekts. Das erkennbare Seiende ist nicht mehr, wie bei Platon, an sich selbst und unabhängig von aller Subjektivität, was es ist; vielmehr wird das Subjekt zum Medium, in dem das Seiende zur Erscheinung kommt. Das Sein braucht das Bewußtsein. Das Subjekt ist also nicht ein minderes Seiendes, dem es darum ginge, ins volle Sein zurückzukehren; vielmehr ist es von Anfang an selbst Teil und Vollzug des Seinsprozesses. So zumindest läßt sich die Transzendentalphilosophie interpretieren und hat Heidegger Kant verstanden. 42 Das macht ja das Spezifische der Heideggerschen Ontologie aus, daß sie die Ontologie nicht mehr als die Wissenschaft eines theoretischen, distanzierten Subjekts betrachtet, sondern daß das Subjekt selbst immer schon das Sein versteht und sagt. Das gilt insbesondere vom philosophischen Subjekt. Von der so verstandenen Ontologie sagt Lévinas: »Die Lehre Kants ist die Grundlage der Philosophie, wenn die Philosophie Ontologie ist.« 43 Damit schwindet der Gegensatz zwischen einer subjektiven, ins Sinnliche eingekerkerten Existenz und dem wahren Sein. Vielmehr muß bereits das Sinnliche, müssen die subjektiven Erlebnisse schon als Weisen der Manifestation des Seins verstanden werden. Nichts ist für diese veränderte Sichtweise auf die Bedeutung des Sinnlichen charakteristischer als AE 221–2/JS 376. AE 222/JS 376. 42 Gegen diese einseitige Interpretation Kants durch Heidegger hat Lévinas allerdings auch auf Kants Ethik verwiesen. Lévinas spricht von der »praktischen Philosophie Kants, der wir uns besonders nahe fühlen« (EN 23/ZU 23). 43 AE 226/JS; vgl. auch AE 225/JS 382; hier ist die Rede vom »Kritizismus, der eigentlichen Grundlage der Philosophie, soweit man sie als Seinsverstehen auffaßt«. 40 41

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§ 41 Kritik der Ontologie

die Rolle des sinnlichen Schönen und der Kunst. Während Platon dank des unbedingten Vorranges einer übersinnlichen Wahrheit ein sehr kritisches Verhältnis zur Kunst hat, gewinnt für Heidegger die Kunst den Rang einer Seinssage: Der Ursprung des Kunstwerks ist die Kunst, das heißt, das Können des Seins. Wie die Denker, so sind auch die Dichter – die Künstler – im Dienste des Seins. »Die Dichtung erzeugt Gesang – Widerklang und Klang, die die Verbalität des Verbs ausmachen oder das sein (essance).« 44 So läßt sich sagen, daß die neue Ontologie, anders als die antike, das sinnliche Subjekt nicht mehr negiert, sondern umgekehrt in den Seinsprozeß aufnimmt und insofern aufwertet. Der platonischen Abwertung des Ästhetischen und Sinnlichen steht seine gegenwärtige Hochschätzung gegenüber. Das hindert aber nicht, daß – bei aller Anerkennung – das Subjekt doch nur der Durchgang des Seins in das Erscheinen ist und selbst in den einheitlichen Prozeß des Seins eingebunden ist. Darin bleibt Heideggers Philosophie der ontologischen Tradition der europäischen Philosophie überhaupt verpflichtet. 41.4 Die Ontologie bewegt sich also in dem Widerspruch, das Subjekt ins Sein nur dadurch retten zu können, daß sie es in seiner Partikularität zum Verschwinden bringt. Dieser Widerspruch zwischen Bejahung und Verneinung, in den die Ontologie das Subjekt hineinreißt, wird von Lévinas auch als »Ironie des Seins« 45 bezeichnet. Das Subjekt wird »die Frist eines Morgens« gebraucht, um in der Tageshelle des Mittags seine Individualität auszuhauchen. Diese »Ironie des Seins« reflektiert sich in dem widersprüchlichen Willen des Subjekts, gleichzeitig zu sein und unterzugehen oder, in der Sprache von »Totalität und Unendlichkeit«, den Willen gegen die Vernunft zu behaupten und gleichzeitig mit ihr zu identifizieren 46 . »Das um des Spiels des Seins willen entstandene Subjekt ist ›die Frist eines Morgens‹ für sich; von da an aber verweigert es sich dem Tod, obschon es erst durch ihn … das Sein realisiert, das es eingesetzt hatte.« 47 Lévinas nimmt hier ein Motiv auf, das schon in seiner frühen Philosophie präsent ist: »Wir wollen zugleich sterben und sein.« 48 44 45 46 47 48

AE 52/JS 100. AE 222/JS 377. Vgl. TI 191 ff./TU 313 ff. AE 222/JS 376. TA 66/ZA 50. A

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Im Begriff der Ironie des Seins scheint sich im übrigen auch ein spezifisch jüdisches Problem widerzuspiegeln: das der Assimilation. »Die Formel der jüdischen Haskala im 19. Jahrhundert, dem jüdischen Zeitalter der Aufklärung, [lautet]: ›Sei Jude zu Hause und Mensch draußen!‹.« 49 Aus der Perspektive der Allgemeinheit indes hieß die Forderung: »Um als Mensch anerkannt zu werden, mußt du als Jude verschwinden!« Die sich absondernde, die eigene, besondere, die auf der Individualität bestehende Existenz war zum Verschwinden verurteilt; sie war so gut wie nichtig. 41.5 Nun ließe sich einwenden, daß nicht alle Philosophie Ontologie in diesem Sinne ist. Insbesondere scheint die Lévinas’sche Kritik nicht zuzutreffen auf Theorien, die das Sagen nicht als Sage des Seins deuten, sondern als Handlungen von Subjekten verstehen. Das gilt insbesondere von zeitgenössischen linguistischen Theorien, etwa der Sprechhandlungstheorie oder auch von der Sprachpragmatik, die den Bezug auf die Handlungsebene ausdrücklich von der Bedeutungsebene abhebt. 50 Dem Sagen wird neben dem Gesagten ein eigener Platz eingeräumt. Auch begreifen die gegenwärtigen Sprachtheorien die Sprache nicht mehr als starre apriorische Systeme, denen der Sprechende sich allein unterzuordnen hätte. Vielmehr kann das Gesagte in die Abhängigkeit vom Sagen kommen. Hier tritt im Hinblick auf die Subjektivität ein zweiter Gesichtspunkt ein. Lévinas verteidigt die Subjektivität nicht um ihrer selbst willen, sondern im Namen des anderen. Nun kann das andere oder der andere nach allem, was Lévinas bisher gesagt hat und immer wiederholt, nur empfangen werden. Der andere kann nicht Gegenstand einer Konstitution sein. Er setzt auf der Seite des empfangenden Subjekts eine radikale Passivität voraus. Nur das passive Subjekt hat Zugang zum anderen. Es realisiert sich die Passivität aber gerade nicht im Denken, sondern in der Sinnlichkeit. Daher verlangt für Lévinas die Rede mit dem anderen den Zusammenhang von Subjektivität, Passivität und Leiblichkeit. 51 Der Forderung der Transzendenz zum anderen, dessen, was Lévinas das vor-ursprüngliche Sagen nennt, genügt also nicht die Betonung der Subjektivität überhaupt, Verset 230. Vgl. zu diesem Einwand P. Ricœur, Autrement. Lécture d’Autrement qu’être ou audelà de l’essence d’E. Lévinas, 6, 10. 51 Vgl. dazu etwa AE 70/JS 130–1. 49 50

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sondern allein eine Subjektivität in der Verfassung radikaler Passivität und Rezeptivität (Sinnlichkeit). Diese Bedingung erfüllen die geläufigen Subjekt- und Sprachtheorien nicht. Der entscheidende Einwand Lévinas’ gegen subjektzentrierte Sprachtheorien würde besagen, daß sie die Initiative für das Sprechen dem Subjekt zuschreiben. Das Subjekt ist der Ursprung der Rede; es setzt den Anfang. Sofern es etwas setzt, ist es unabhängig, aktiv und bestimmend. Es hat schon Verwandtschaft mit dem transzendentalen Subjekt, das in den eigenen Setzungen gefangen bleibt. Die Erfahrung des anderen verlangt eine fundamentale Passivität. Der andere kann nicht Gegenstand eines Setzens oder einer Konstitution sein, wie auch immer diese Konstitution aussehen mag. Damit greift hier die Kritik, die Lévinas überhaupt am autonomen Subjekt übt: Auch dem autonomen Subjekt geht es in seinem Sein um sein Sein. Seine Existenz, die den anderen ausschließt, wird vom »conatus essendi 52 beherrscht. Sofern nun jedes Subjekt nach dem Sein strebt, treten die vielen Subjekte in eine Konkurrenz ein; es entsteht ein Kampf um das Sein. Das Interesse am Sein entfaltet sich als Krieg. »Das Inter-esse (intér-essement) des Seins ereignet sich (se dramatise) in den Egoismen, die in gegenseitigem Kampf sind, alle gegen alle, in der Vielfalt der [gegeneinander] allergischen Egoismen, die miteinander im Krieg und so versammelt sind. Der Krieg ist die Sage (la geste) oder das Geschehen (le drame) des Interesse am sein (essence). Kein Seiendes kann seine Stunde erwarten. Jedes rivalisiert mit jedem trotz der Unterschiedlichkeit der Bereiche, denen die widerstreitenden Parteien zugehören mögen. Das sein (essence) ist so der äußerste Synchronismus des Krieges.« 53 In diesem Krieg, der sich nicht nur in der Politik und als Politik abspielt, sondern elementar bereits in der Vielfalt der Sinngebungen und Ansprüche, die sich gegenseitig behaupten und verdrängen, zerfällt die Identität des Subjekts. Dieselbe Handlung hat einen anderen Sinn, ob sie aus dieser oder jener Perspektive des Subjekts, und wiederum aus der Perspektive dieses oder jenes Subjekts gesehen wird. In der Vielfalt der Sinnzuschreibungen löst sich das Subjekt auf, weil es sich selbst unter einander widersprechenden Gesichtspunkten sieht, die nicht zur Einheit zu bringen sind. Der Pluralismus des Krieges zerstört das Subjekt im wörtlichen Sinne. Die Gewalt des Krieges 52 53

Vgl. B. Spinoza, Ethica, III, prop. 6. AE 5/JS 26–7; zu dem Terminus »drame« vgl. TI XVI/TU 30 f. A

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»besteht nicht so sehr im« – materiellen – »Verletzen und im Vernichten; sie besteht vielmehr darin, die Kontinuität der Personen zu unterbrechen, ihnen Rollen zuzuweisen, in denen sie sich nicht wiederfinden, sie zu Verrätern nicht nur an ihren Pflichten, sondern an ihrer eigenen Substanz zu machen …« 54 Somit erweist sich auch jede Theorie, die von einem autonomen Subjekt ausgeht, als eine Sackgasse, der die Hoffnung auf einen Ausweg versagt ist.

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TI X/TU 20.

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4.2 Subjektivitt und Ethik

§ 42 Ontologie und Transzendenz Die Kritik, die Lévinas an der europäischen Ontologie, wie er sie versteht, übt, lautet: Sie ist eine Philosophie der Immanenz. Den Beweis liefert ihm die Philosophie, soweit sie das Sein in Gewußtes auflöst und dieses den Charakter der Idealität hat. Dank der Idealität schafft sich das Denken eine überzeitliche umfassende Gegenwart, übersteigt die Zeit und das Anderssein, macht sich alle Dinge unmittelbar zugänglich und verfügbar. Der Vorrang der Gegenwart ist das Charakteristikum der Immanenz und Verschlossenheit. Nun wird man sagen, daß auch Heidegger an der Verschlossenheit der gegenwärtigen Welt Kritik übt. In diese Richtung weisen seine Äußerungen einerseits zum Humanismus, anderseits zur neuzeitlichen Technik. Lévinas könnte der Kritik an der Technik sogar zustimmen, und zwar aus dem Gesichtspunkt, daß die Technik die zunächst nur begriffliche Omnipräsenz und Ubiquität umfassend zu realisieren trachtet. Aber Lévinas geht es, anders als Heidegger, nicht um eine andere Welt, sondern um die Transzendenz der Welt im Ganzen, um einen Bereich jenseits der Welt, um das andere, das von der Welt radikal getrennt ist. Gegen den amphibologischen Bezug des Seins auf das Seiende setzt er die Dualität des Erscheinenden und des anderen Transzendenten. Die Welt der Ontologie ist für Lévinas die Welt des Heidentums. »Das Heidentum ist die radikale Unfähigkeit, aus der Welt herauszukommen.« 1 Der Versuch, die umfassende Gegenwart zugunsten einer anderen Zeit zu sprengen, ist ein Versuch gegen das Heidentum. Freilich liegt die Aufgabe der Philosophie nicht so sehr darin, die ideale Welt zu negieren, sondern die Frage nach einer positiven Begründung zu beantworten. Das leistet Lévinas auf eine neue Weise in »Jenseits des Seins«. Das demokratische System der europäischen 1

Herne 142. A

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Staaten, die Rechtstaatlichkeit, die politische Teilung der Gewalten, der Versuch sozialen Ausgleichs, die Bereitschaft zu politischen Kompromissen, alles dies sind Errungenschaften, die Lévinas in höchstem Maße schätzt. Er ist kein Verächter der modernen Welt. Aber er sieht auch, daß das, was den einen Errungenschaften zu sein scheinen, von anderen angezweifelt und in Frage gestellt werden kann. Wir leben von den Früchten unserer Kultur, aber ihr Ursprung ist versiegt. Ihnen fehlt das Prinzip. So ist Europa in Gefahr, sich selbst zu zerstören, weil ihm der Sinn seiner Existenz und seiner Sondergestalt abhanden gekommen ist. Insofern ist auch Lévinas’ Kritik an der Ontologie, die gewissermaßen der Sammelbegriff ist für die europäische Gegenwart, nur vorläufig. Insgesamt zielt sie darauf ab, dieses historische Gebäude nicht zu ruinieren, sondern umgekehrt durch eine neue »Fundierung« zu retten. 2 Diese Rettung kann aus Lévinas’ Perspektive nur durch den Bezug auf eine wirkliche Transzendenz geschehen, eine Transzendenz, die sich nicht wiederum in Immanenz verwandelt. Eine solche Möglichkeit bietet diejenige Zeit, die Lévinas im Gegensatz zur Synchronie der Gegenwart die diachrone Zeit nennt. Zwar entwickelt Lévinas die damit zusammenhängenden Begriffe wie Subjektivität, Verantwortung im Gegensatz zur Ontologie. Aber es kommt von vornherein alles darauf zu sehen, daß der Sinn der Erörterungen sich nicht in bloßer Polemik erschöpft. Vielmehr kommen die Überlegungen erst ins Ziel, wenn die politische Dimension – in Lévinas’ Terminologie die Gerechtigkeit – erreicht ist. Auf diesen Zusammenhang soll gleich eingangs hingewiesen werden; es darf nicht der Eindruck entstehen, es könne eine den unmittelbaren Nächsten absolut setzende Ethik an die Stelle einer abwägenden und immer auch zu Kompromissen fähigen Politik treten. Lévinas schafft die Vernunft nicht ab, sondern umgekehrt: Er legitimiert sie aus ethischen Prinzipien. Allerdings wird jeder, der nur im geringsten die Geschichte der Philosophie kennt, fragen: Was ist das Neue an diesem Vorhaben? Lehrt nicht schon Aristoteles die Einheit von Ethik und Politik? Ist nicht schon für ihn das Ziel der Politik die Gerechtigkeit, eine ethische Kategorie? 3 Für die Bedeutung des Politischen bei Lévinas vgl. auch P. Delhom, Der Dritte, und P. Hayat, Emmanuel Lévinas, Ethique et société. 3 Vgl. Aristoteles, Politik, 1282b. 2

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§ 43 Die Zeit des Subjekts

Dies ist gewiss richtig. Das Neue liegt daher auch weniger in der Zuordnung von Ethik und Politik. Für Aristoteles macht es keinen Zweifel, daß sowohl die Ethik als auch die Politik grundsätzlich den Status von Wissenschaften haben. Ihr Gegenstand sind Regeln und Begriffe, wie ja die Philosophie insgesamt Wissenschaft ist. Lévinas’ Erörterungen bewegen sich natürlich auch im Medium der idealen Sprache – also im Medium der Wissenschaft; aber sie suchen etwas zu artikulieren, das radikal einzeln ist und sich dem Bereich der Idealität, also auch der Wissenschaft, entzieht. Die Ethik hat Beziehung zum anderen, und der andere – wie das andere überhaupt – ist kein Gegenstand von Wissenschaft. Für Lévinas ist die Ethik kein Ganzes idealer Regeln, sondern der je individuelle Bezug zu einem Transzendenten. Mit Lévinas treten Politik und Ethik in ein neues Verhältnis, weil die Ethik aufhört, Wissenschaft zu sein und statt dessen neu definiert wird. Die neue Definition wirkt sich auch auf den Sinn der Politik aus. Aus diesem Grunde gehören die nächsten drei Abschnitte (4.2: Subjektivität und Ethik; 4.3: Das Absolute; 4.4: Die Politik) zusammen. Erst in der Politik kommen die Reflexionen über die Ethik in ihr Ziel.

§ 43 Die Zeit des Subjekts 43.1 Anders als das Bewußtsein definiert sich das Subjekt durch die Nähe zum anderen. Nähe (proximité) ist kein räumliches, überhaupt kein innerweltliches Verhältnis, sondern die Beziehung zu einem Jenseits. Die zentrale These Lévinas’ besagt erstens, daß die Begegnung des Subjekts mit dem anderen nicht in der »Welt«, im Bereich der idealisierten Seienden, stattfindet, sondern in einem jenseitigen Bereich, der der Idealisierung durch das Bewußtsein vorausgeht und sich ihr definitiv entzieht; sie besagt zweitens daß die Erfahrung des anderen zugleich einen neuen Bereich des Bedeutens eröffnet, der nicht auf das Meinen und Wollen des intentionalen Bewußtseins zurückgeführt werden kann. Mit diesen Thesen sucht Lévinas Erfahrungen zu beschreiben, die wir alle ohne weiteres verstehen müßten, weil sie uns allen geläufig sind, so selbstverständlich, daß wir immer schon darüber hin-

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weggehen. Sie vollziehen sich im Bereich dessen, was Lévinas das Sinnliche 4 nennt. Lévinas siedelt die Subjektivität im Bereich des Sinnlichen an. Damit hat er schon eine Entscheidung über den Charakter des Subjekts getroffen: Das Subjekt wird nicht mehr als transzendentale Apperzeption, als Grund aller Synthesis, bestimmt, sondern entsteht in der Rezeptivität oder Passivität des Leibes. Für das Subjekt ist nicht, wie für das Bewußtsein, ein »Ich kann« konstitutiv, sondern die Tatsache, daß etwas anderes, etwas Fremdes, an es herantritt, daß es von Außen etwas empfängt. Insofern besteht zwischen dem Bewußtsein und dem Subjekt ein gewisser Gegensatz: Das eine ist aktiv, das andere passiv. In seiner Sinnlichkeit ist das Subjekt Leib. Mit diesem Gegensatz zwischen zwei Formen des Ich, einer sinnlich-passiven und einer aktiven, führt Lévinas einen Gedanken fort, der sich seit den Anfängen in seiner Philosophie nachweisen läßt. So geht gemäß der erotischen Transzendenz die Hypostase dem Bewußtsein und der Welt voraus. Die Hypostase ist vorweltlich. Gemäß »Totalität und Unendlichkeit« ist die erste Form der Selbstheit, die der Reflexion des Bewußtseins vorausgeht, das genießende Ich. Hintergrund für diese Unterscheidung ist der Gedanke, daß eine erste Selbstheit des Subjekts nicht auf Selbstkonstitution beruht, sondern auf Schöpfung. Erst die Schöpfung ermächtigt das Subjekt zur Selbstkonstitution. Anläßlich eines Vortrags in Marokko hebt Lévinas ein Theoriestück hervor, das allen Schriftreligionen – Juden, Christen, Moslem – gemeinsam ist: »Wir alle behaupten ja, daß die menschliche Autonomie auf einer obersten Heteronomie beruht und daß die Kraft, die solch wunderbare Wirkungen zeigt, die Kraft, welche die Kraft, nämlich die zivilisatorische Kraft, begründet, Gott heißt.« 5 Die menschliche Autonomie, die uns ermächtigt, Welten und Kulturen zu schaffen, ist uns in der Schöpfung gegeben. Damit scheint in einem gewissen Widerspruch zu stehen, daß Lévinas insbesondere in den frühen philosophischen Arbeiten den Ursprung der Subjektivität als einen spontanen Anfang bezeichnet: Von der hypostatischen Gegenwart heisst es: »im Ausgang von sich selbst sein« 6 . Dieser Widerspruch löst sich, wenn wir annehmen, daß 4 5 6

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le sensible, sensibilité DL 25/SF 21. Etwa EE 125/VS 89.

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§ 43 Die Zeit des Subjekts

Lévinas sich in seinen philosophischen Schriften auf den Standpunkt der zeitgenössischen Philosophie stellt. Diese hat die Rückbindung an einen göttlichen Ursprung verloren und entwickelt darum die Theorie einer autonomen Selbstsetzung. »Die idealistische Grundlage der modernen Wissenschaft besteht alles in allem darin, den Ursprung durch die Freiheit zu ersetzen, das heisst … von sich selbst her« 7 zu kommen. Dieser Gedanke einer Entstehung des Subjekts in einer grundsätzlichen Passivität wird nun wieder aufgenommen, aber auf den anderen bezogen: Das Subjekt verdankt sein Erwachen der Begegnung oder dem Zusammenstoss mit dem anderen. 43.2 Freilich gewinnt die These von der Leiblichkeit des Subjekts erst ihr Profil, wenn man sieht, daß Lévinas die Sinnlichkeit nicht mehr in den traditionellen Kategorien definiert. Vielmehr entwickelt er von der Sinnlichkeit im engeren Sinne seinen eigenen Begriff. Dazu dienen seine Untersuchungen zur Empfindung. Empfindung ist für Lévinas eine erste Form des Selbstseins. 8 Sie geht der Reflexion und der Synthesis, auch der passiven Synthesis, voraus. Dabei bezieht sich Lévinas in erster Linie auf die Untersuchungen Husserls. Sein zentrales Argument besteht darin, daß Husserl die Empfindung zwar als einen intentionalen, synchronisierenden Akt, als ein rudimentäres Bewußtsein definiert, daß er aber zugleich die Handhabe gibt, die Selbstheit der Empfindung als reine Passivität und als vorintentionales Geschehen zu verstehen. Lévinas setzt also der üblichen Definition der Empfindung eine neue Definition entgegen. Zunächst teilt Lévinas mit Husserl ein gemeinsames Interesse. Für beide kommt es darauf an, die Vermengung zwischen der Subjektivität und den Gegenständen zu vermeiden. Eine solche Vermengung fand Husserl im Psychologismus vor. Der Psychologismus erklärte das Subjekt zum Gegenstand der Naturwissenschaften. Husserls Kritik am Psychologismus zielte darauf, die Unabhängigkeit des Subjektiven vom Gegenständlichen und Objektiven zu gewährleisten. »In ihrem Kampf gegen den Psychologismus fordert die husserlsche Phänomenologie uns auf, nicht das psychische Leben mit Cahiers I, 102/JuS 68. Vgl. dazu schon TI 30/TU 77: »Das sinnliche Empfinden macht den eigentlichen Egoismus des Ich aus.« Hier steht diese These freilich noch in einem anderen Zusammenhang.

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seinem ›intentionalen Objekt‹ zu verwechseln. Die Gesetze, die das Sein – sei es individuelles oder ideales Sein – beherrschen, stammen nicht aus der Natur des Denkens; die Strukturen des Denkens dürfen nicht für Strukturen der Dinge gelten.« 9 Dabei steht der Psychologismus, den die beginnende Phänomenologie bekämpft, nur stellvertretend für die Verdinglichung und Entfremdung des Subjekts welcher Herkunft auch immer. »Insgesamt war der Psychologismus … nur eine der wesentlichen Formen, den Bewußtseinsakt mit dem Gegenstand, den er anzielt, die seelische Realität mit dem, was sie meint, zu verwechseln.« 10 Und an anderer Stelle: »Der Psychologismus, dessen Kritik der zufällige Anlaß für die Entstehung der Phänomenologie war, ist der Prototyp dieser Entfremdung.« 11 Ziel der Lehre von der Intentionalität ist also die Aufhebung der Entfremdung und Verdinglichung überhaupt des Bewußtseins. Andererseits aber wehrt sich die Phänomenologie auch gegen den Subjektivismus, sofern er darin besteht, das Bewußtsein um der Unabhängigkeit von der empirischen Wirklichkeit willen von aller Gegenständlichkeit zu trennen. Indem Husserl an der empirischen Wirklichkeit den Vorrang des Ideellen und der Bedeutung nachweist und diese in Korrelation zum Bewußtsein setzt, sprengt er zugleich das Gefängnis des in sich verschlossenen Subjekts; das Subjekt ist immer schon zur Welt hin offen. Die Formel von der Intentionalität als »Bewußtsein von etwas« löst somit ein zweifaches Problem, in das der Naturalismus das Subjekt gestürzt hatte: Sie unterscheidet das »Bewußtsein von …« vom Etwas, indem sie einen grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden Bereichen – der Noesis und dem Noema – macht; aber zugleich hebt sie die Trennung von Welt und Subjekt auf, da sie das Bewußtsein immer schon bei den Gegenständen sein läßt. Lévinas’ These ist nun, daß die husserlsche Definition des Bewußtseins als Intentionalität und Sein-bei-den-Dingen den gleichzeitigen Versuch, die radikale Irreduzibilität des Subjekts festzuhalten, in Frage stellt. Dazu prüft er die Rolle, die die Empfindung im Rahmen der Intentionalität spielt. Den Rahmen für die Untersuchung der Empfindung stellt fortan die strenge Unterscheidung von Noesis und Noema dar. Die Noesis DEHH 137/SpA 140. DEHH 145/SpA 154. 11 DEHH 161/SpA 181. 9

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§ 43 Die Zeit des Subjekts

ist das zeitliche subjektive Erleben, das Noema der ideale Gegenstand. Die Noesis ist also das eigentlich subjektive Element. Nun unterscheidet Husserl an der Noesis wiederum zwei Momente: die »sensuelle hylé und die intentionale morphé« 12 Diese beiden Momente sind in verschiedener Weise auf das Noema bezogen: Während die Form, die intentionale morphé, das eigentlich intentionale Moment ist, also diejenige Spontaneität, die das Noema konstituiert, liegt die hylé, die passive »Materie«, die eigentliche Empfindung, nicht nur aller Gegenständlichkeit voraus, sondern auch aller Intentionalität. Hier wäre für Lévinas der Ansatzpunkt für eine Theorie der Subjektivität, die von aller Reflexivität frei wäre. »Die Empfindung liegt für Husserl nicht auf der Seite des Gegenstandes, weder als keimhaftes Objekt noch als factum brutum, das der Interpretation bedürfte.« 13 Sie liegt auf der Seite des Subjektiven. Das nicht-intentionale Moment zeichnet sich also auf zwei Weisen aus. Erstens geht es aller Intentionalität voraus. Insofern trifft die hylé als Empfindung ein unbedingt passives Subjekt. Damit bleibt zweitens die Empfindung außerhalb der Subjekt-Objekt-Struktur. Die Subjekt-ObjektStruktur ist erst das Ergebnis intentionaler Synthesen. Aber Husserl hält nicht konsequent am noetischen – subjektiven – Status der hylé fest. Die Empfindung liegt auf der Seite der Noesis und dürfte daher auf gar keine Weise mit einer Qualität, die dinglichen oder idealen Charakter hat, verwechselt werden. Dennoch werden die Empfindungen bei Husserl zu Abschattungen der Gegenstände, in denen sich etwas Identisches zeigt. So »bewahren sehr zahlreiche und sehr deutliche Texte die Idee einer Ähnlichkeit zwischen den Empfindungen und den gegenständlichen Qualitäten. Als ob Ähnlichkeit und Analogie nicht schon die Konstitution einer objektiven Ebene voraussetzten!« 14 Die Verknüpfung der noetischen mit der noematischen Sphäre, des Subjekts mit der Welt, geschieht also um den Preis einer Zweideutigkeit der Empfindung, die einerseits radikal von der noematischen Sphäre geschieden zu sein scheint, andererseits aber nur von den Gegenständen her Sinn erhält. Der Umschlag vollzieht sich dadurch, daß die Empfindung von einer Intention ergriffen, »beseelt«, und damit zum Gegenüber wird. Die Empfindung tritt nun auf die Seite des Empfundenen über und kann 12 13 14

Vgl. E. Husserl, Hua III, 209. DEHH 151/SpA 164 f. DEHH 149/SpA 161 f. A

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von hier aus, in weiteren Akten der Synthesis, zur Qualität an Gegenständen werden. »Von daher«, so schreibt Lévinas, »wird die Wohlbegründetheit einer philosophischen Tradition einsichtig, die über Kant, Berkeley und Descartes auf die Antike zurückgeht und die über die Empfindung nachdenkt. Als ›gemeinsamer Akt von Empfindendem und Empfundenem‹ ist die Empfindung die Zweideutigkeit des zeitlichen Fließens des Erlebnisses [einerseits] und der Identität der Seienden und der Ereignisse, die durch Worte bezeichnet werden [anderseits].« 15 Jene Zweideutigkeit meint nichts anderes als die Amphibologie des Seins. 43.3 Eine ähnliche Unentschiedenheit deckt Lévinas nun auch in Husserls Lehre von der Urimpression, also auf dem Grund aller Zeitigung, auf. Einerseits soll alles Bewußtsein, das für Husserl mit Subjektivität zusammenfällt, aus den Akten der Zeitigung entstehen; zugleich aber gibt Husserl Anlaß, schon in der Urimpression eine vorintentionale Selbstheit zu sehen. 16 Alle Zeitigung geht für Husserl von einer Urpräsenz, einer Urimpression, aus. Wir haben oben gezeigt, wie dank des retentionalen Spiels die Urimpression zu gegenständlichem Bewußtsein kommt. 17 Aber, so Lévinas, auch die Urimpression ist schon vor aller Retention Subjekt. Sie besitzt Subjektivität allein kraft des Umstandes, daß sie Empfindung – Eindruck oder Impression – ist: »Ohne Bewußtsein ist die Urimpression kein Eindruck (ne s’imprime pas).« 18 Die Urimpression ist also schon »Bewußtsein«, aber vor aller Retention oder Protention. »Die Urimpression ist das absolut Unmodifizierte, die Urquelle für alles weitere Sein und Bewußtsein.« 19 »Unmodifiziert« meint, daß die Urimpression noch keine zeitliche Veränderung erfahren hat; als Urimpression ist sie noch nicht aus der reinen, unmittelbaren Präsenz in die Retention übergegangen. Sie ist »mit sich selbst identisch, aber ohne Retention« 20 . Insofern ist die Urimpression auch nicht Korrelat einer sie auffangenden Leerintention; sie ist, was sie ist, ohne Idealisierung. »Sie erwächst nicht

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AE 39/JS 80. Vgl. dazu AE 41 ff./JS 84 ff. Vgl. oben § 37. AE 41/JS 84. Hua X, 67; zitiert in AE 41/JS 84. AE 41/JS 84.

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§ 43 Die Zeit des Subjekts

(hat keinen Keim), sie ist Urschöpfung.«21 »Das Wirkliche«, so kommentiert Lévinas, »das dem Möglichen vorausgeht und es überrascht – wäre dies nicht die eigentliche Definition des Gegenwärtigen, das, obwohl gemäß dieser Beschreibung gleichgültig gegen die Protention (›die Erzeugung hat keinen Keim‹), dennoch Bewußtsein wäre?« 22 Bewußtsein freilich – aber in einem neuen Sinne; denn Husserl selbst warnt: »Man darf nur … dieses Urbewußtsein … nicht als auffassenden« – sprich: intentionalen – »Akt mißverstehen.« 23 Weil sich das Selbst als Urbewußtsein außerhalb der Intentionalität und der phänomenalen Zeit bewegt, ist es jenseits des Seins. Es ist ein »Bewußtsein, welches sich außerhalb jeglicher Negativität im Sein ereignet; das Sein [dagegen] operiert noch in der Zeitlichkeit der Retention und Protention« 24 . Ohne alle Präzedenz, ohne jedes Apriori, ist das Subjekt, das Lévinas auch das Sich 25 nennt, absolut »empirisch«. Im Selbst »taucht in substantivischer Weise die Person als eine nicht durch sich selbst zu rechtfertigende und in diesem Sinne empirische oder kontingente Identität auf.« 26 . 43.4 Das Ergebnis dieser Analyse erlaubt uns, zwischen zwei Empfindungen zu unterscheiden. Wir sehen einerseits die zeitlich vermittelte Empfindung und anderseits die vorintentionale Empfindung qua Sich oder Subjekt. Tatsächlich aber sind dies nur zwei Seiten oder zwei Richtungen desselben, nämlich der Empfindung überhaupt. In ihr treffen zwei Bewegungen zusammen: die Beziehung zu einem Unvordenklichen einerseits und die intentionale Bewegung der Identifikation andererseits. Das Resultat der Identifikation – das Seiende – wird durch einen Namen bezeichnet. Das Sich hingegen hat nicht eigentlich einen Namen, ist also kein Seiendes im vollen Sinne, sondern nur Träger eines Pro-Nomens (im grammatischen und übertragenen Sinne): »Die nicht zu rechtfertigende« – weil nicht in sich selbst gründende – »Identität der Selbstheit drückt sich aus in Termini wie Ich (moi), ich (je), sich (soi), und geht – wie diese Untersuchung insgesamt zu zeigen versucht – aus von der Seele, der

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Hua X, 100; zitiert in AE 41–2/JS 84. AE 41–2/JS 84. Hua X, 119; zitiert in AE 42 Anm. 14/JS 85. AE 42/JS 85. soi AE 135/JS 235. A

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Sensibilité, der Verwundbarkeit …« 27 Sie ist aber zugleich der »›Ansatzpunkt‹, an dem sich diese Rückkehr des Seins zu sich selbst vollzieht, die man Wissen oder Geist nennt … Doch der Ansatzpunkt des Geistes, zuvor Nicht-Washeit – niemand – bekleidet mit einem bloß geliehenen Sein, das seine namenlose Einzigartigkeit maskiert …, ist Personalpronomen.« 28 Diese hybride Existenz der Empfindung, zugleich Subjekt und nicht Subjekt zu sein, bezeichnet Lévinas hier mit dem Ausdruck »personne«.29 Der Ausdruck »personne« ist in diesem Zusammenhang zweideutig: Aus der Sicht der Ethik ist das Subjekt die eigentliche Person. Aus der Sicht des Bewußtseins hingegen ist das Subjekt noch niemand. 43.5 Unter dieser Voraussetzung läßt sich endlich bestimmen, was es mit der Zeit des Subjekts auf sich. Lévinas nennt die Zeit des Subjekts vorursprünglich und unvordenklich. Sie wird nie Gegenstand, sondern ist eine immer schon sich entziehende Vergangenheit. Diese Bestimmungen sind aus der Perspektive des synchronisierenden Bewußtseins gesprochen. Als ursprünglich bezeichnet Lévinas eine Zeit, die ihren Ursprung in den Synthesen des Bewußtseins, in den retentionalen und reproduktiven Akten der Zeitigung hat. Das Bewußtsein selber ist der Ursprung. Unvordenklich oder vor-ursprünglich ist eine Zeit, die mit der Urimpression selbst zusammenfällt. Sie hat ihren Ursprung in etwas anderem, das von außen an das Subjekt herantritt. Weder dieses andere noch die Urimpression selbst werden je bewußt sein. Das hindert die Urimpression nicht, doch eine Gegenwart, und zwar die eigentliche, die unmittelbare Gegenwart zu sein. Aber in ihrer Unmittelbarkeit bleibt sie unfaßbar. Sie ist Gegenwart und doch nie Gegenwart; sie ist das Unmittelbare, aber immer schon Entzogene. Die Zeit der Intentionalität, die auf Protention und Retention, Antizipation und Reproduktion beruht und eine bleibende ideale Gegenwart konstituiert, nennt Lévinas die Synchronie. Die Zeit der unmittelbaren Sinnlichkeit dagegen heißt Diachronie. Da Subjektivität

AE 135/JS 236. AE 135/JS 236. 29 AE 135: »auparavant non-quiddité – personne – revêtue d’un être de pur emprunt«. Die deutsche Übersetzung lautet: »zuvor Nicht-Washeit – Person – bekleidet mit einem bloß geliehenen Sein …« (JS 236). 27 28

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§ 44 Die Nhe

an die unmittelbare Sinnlichkeit geknüpft ist, ist die Diachronie auch die Zeit des Subjekts.

§ 44 Die Nhe 44.1 Die Analyse der unmittelbaren Sinnlichkeit hat uns zwei Einsichten gebracht. Erstens: Nur in der unmittelbaren, passiven Sinnlichkeit finden wir wirklich Neues, anderes, also etwas, das ganz von außen an das Subjekt herantritt und nicht das Produkt einer subjektiven Synthese oder Konstitution ist. Zweitens: Das wirklich Neue oder andere hat den Zeitmodus der Diachronie. Es zeigt sich nicht. Sinnlichkeit, Diachronie und Andersheit bilden einen Zusammenhang, den Lévinas mit dem Ausdruck »Nähe« (proximité) bezeichnet. Die Nähe kennzeichnet das unmittelbar Sinnliche, das sich dank seiner Unmittelbarkeit der Vergegenwärtigung entzieht. Nun geht es Lévinas in erster Linie um die Nähe des anderen. Aber die Nähe erschöpft sich nicht in der Nähe des anderen Menschen. Das andere ist nicht einfach identisch mit dem anderen Menschen. Viele Eindrücke oder Empfindungen weisen auf Dinge und nicht auf Personen. Die unmittelbare Sinnlichkeit verlangt daher zwar immer ein Subjekt – ohne Subjekt kein Eindruck –, aber es ist nicht jede Empfindung Berührung mit einer anderen Person. Der Unterscheidung zwischen Dingen und Personen muß auch im Bereich der unmittelbaren Sinnlichkeit eine Unterscheidung zwischen den Empfindungen entsprechen. Lévinas hat die Frage nach Differenzen im Begriff der Empfindung nicht ausdrücklich gestellt; aber er hat doch eine Antwort auf sie gegeben. Die Empfindung spricht uns nämlich auf verschiedene Weise an, je nachdem ob es sich um etwas anderes handelt oder um den anderen. Lévinas unterscheidet zunächst zwischen Genuß und Schmerz 30 . Das Eigene des Genusses besteht darin, daß das andere in das Selbe verwandelt wird: die »Umwandlung des anderen in dasselbe … liegt im Wesen des Genusses« 31 . Der Schmerz hingegen ist die Folge eines Entzugs. Aber das Leben ist nicht allein Schmerz, ja nicht einmal zunächst; sondern auch und vielleicht sogar zuerst Genuß. Der Schmerz trifft ein Subjekt, das schon genießt: »Der 30 31

Vgl. AE 72/JS 134. TI 83/TU 153. A

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Schmerz dringt mitten ins Herz des Für-sich ein, das im Genießen schlägt, ins Leben, das sich in sich gefällt, das von seinem Leben lebt.« 32 Der Schmerz setzt den Genuß voraus. Und wie es ohne Genuß keinen Schmerz gibt, so ohne Genuß auch keine Beziehung zu einem anderen, der den Genuß stört: »Das Genießen in seiner Möglichkeit, sich, befreit von dialektischen Spannungen, in sich selbst zu gefallen, ist die Bedingung des Für-den-anderen der Sensibilität und ihrer Verwundbarkeit …« 33 Der Genuß als solcher ist noch nicht identisch mit der Versteifung auf das Genießen der sinnlichen Oberfläche der Dinge, die den Ästhetizismus ausmacht. Der Ästhetizismus ist eine genießende Einstellung, die den anderen abwehrt und sich dem Schmerz verschließt. Daher seine Nähe zur abendländischen Ontologie 34. Das hindert nicht, daß der Genuß wesentliches Element des Sinnlichen ist: »Vom Auskosten und vom Genießen muß die Untersuchung der Sensibilität ausgehen.« 35 44.2 Aber Genuß und Schmerz erschöpfen nicht die Sinnlichkeit. Das Sinnliche berührt uns auf eine dritte Weise, nämlich durch die poetische Atmosphäre, die uns ergreift und die den Dingen eine Aura verleiht. Wir sind gewöhnt, die sinnliche Freude, die wir an den Dingen haben, unseren kulturellen Gewohnheiten, unserer Erziehung zuzuschreiben. Tatsächlich, so Lévinas, rühren uns die Dinge an, weil sie auf andere Menschen verweisen, die sie hergestellt haben oder derer wir gedenken. »Nicht insofern sie mit kulturellen Attributen bekleidet sind, sondern primär, sofern der Nächste sie besessen hat – als Gegenstände teuren Angedenkens – machen die Dinge besessen.« 36 In den Dingen findet sich »die Spur eines unsichtbaren Antlitzes« 37 . »Nähe« (proximité) ist der Ausdruck, den Lévinas in der Regel für die Unmittelbarkeit zum Antlitz verwendet. Aber es gibt auch eine Nähe der Dinge und eine Nähe des Seins. Die Nähe der Dinge und die Nähe des Seins wandelt sich in Poesie und Gesang, in denen die Nähe des anderen empfindlich wird: »Die Wahrnehmung ist Nähe des Seins, und die Intentionalanalyse trägt diesem Umstand keine Rechnung« – sie überspringt die unmittelbare Sinnlichkeit – 32 33 34 35 36 37

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AE 72/JS 134. AE 93/JS 167–8. Vgl. AE 52/JS 100. AE 72/JS 134. AE 96, note 10/JS 172. AE 96, note 10/JS 172.

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§ 45 Das Sagen des Subjekts

»… Die Nähe der Dinge ist Poesie … über alle Dinge ergießt sich vom menschlichen Antlitz und von der menschlichen Haut her die Zärtlichkeit; die Erkenntnis kehrt zur Nähe zurück, zum reinen Sinnlichen … Die Poesie der Welt ist untrennbar verbunden mit der Nähe par excellence oder mit der Nähe des Nächsten par excellence.« 38 Das »reine Sinnliche« erleben wir also als Genuß, als Schmerz oder als Poesie. Sie machen den Bereich der unmittelbaren Sinnlichkeit aus oder dessen, was Lévinas auch als Nähe im allgemeinen Sinne bezeichnet. Ob damit die sinnliche Nähe erschöpfend beschrieben ist, bleibt offen. Genuß, Schmerz und Poesie der Dinge bilden je besondere Weisen der Nähe. Das hindert nicht, daß mit der Nähe im ausgezeichneten Sinne die Nähe des Nächsten, des anderen Menschen, gemeint ist. Im Genuß konstituiert sich das egoistische Subjekt. Schmerz und Poesie dagegen setzen den anderen voraus. Im Folgenden konzentriert sich Lévinas auf die Untersuchung der Nähe des Nächsten, also des Schmerzes und der Verwundbarkeit, die das Subjekt vom anderen erfährt, für den es verantwortlich ist.

§ 45 Das Sagen des Subjekts 45.1 Der Genuß und die Poesie der Dinge werden in »Jenseits des Seins« zwar erwähnt, bleiben aber im Hintergrund. Statt dessen gilt das ganze Interesse Lévinas’ der Nähe des Nächsten. Diese Nähe wird als Sprache und Sagen bestimmt, als Sprache vor der Sprache, als Sagen vor dem Gesagten. Das Sagen hat eine zweifache Bedeutung, eine weitere und eine engere. Im weiteren Sinne meint das Sagen die Sprache vor der Sprache, wie sie bereits in »Totalität und Unendlichkeit« eingeführt worden ist: die Eröffnung des Sprachraumes, der für jedes konkrete Reden vorausgesetzt wird, in welcher Sprache man sich auch unterhalte: »Die Sprache ist die Möglichkeit, unabhängig von jedem den Gesprächspartnern gemeinsamen Zeichensystem in Beziehung zu treten« 39 Lévinas nennt dieses auch ein »ursprüngliches Sagen« 40 DEHH 228/SpA 279–80; vgl. auch AE 185/JS 318: »… die Nähe [zeichnet] zugleich den Tropos der Lyrik … – Liebeslied, Möglichkeit der Dichtung, der Kunst.« 39 DEHH 232/SpA 287. 40 DEHH 232/SpA 287: »dire originel«; AE 6: »dire originel ou pré-originel«. 38

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oder ein »Sprechen vor dem Sprechen« 41 . »Nichts wird gesagt außer diesem Kontakt selbst.« 42 Hier fällt die Sprache mit der Nähe des anderen zusammen. Dieser allgemeine Begriff des Sagens trifft keine Entscheidung darüber, wer spricht oder zu wem gesprochen wird. Vielmehr drückt dieses Sagen nichts aus als die Nähe des Selben und des anderen, ihre Aufgeschlossenheit füreinander in demselben Sprachraum. Es ist Voraussetzung für jede konkrete Kommunikation. Und sofern jede Zivilisation und Kultur ihre partikularen, konkreten Formen der Kommunikation entwickelt, kann Lévinas auch davon sprechen, daß dieses Sagen der Zivilisation vorausgeht und sie bedingt 43 . Es handelt sich um ein Sagen vor allem und ohne alles Gesagte. 44 45.2 Aber Lévinas verwendet den Ausdruck »Sagen« auch in einem engeren Sinne.: nämlich für das Sprechen allein des Subjekts. »Sagen heißt, für den anderen die Verantwortung übernehmen.« 45 Dieser engere Begriff versteht das Sagen allein als ein »Tun« des Subjekts. Lévinas bezeichnet dieses Tun als einen »›Akt des Sagens‹« 46 . Zwar setzt er diesen Ausdruck in Anführungszeichen. Dennoch grenzt er damit dieses Sagen deutlich von der wortlosen Sprache vor der Sprache ab. Die Differenz zwischen der Eröffnung eines Sprachraums, der als Nähe bezeichnet werden kann, und dem Sagen des Subjekts folgt schon aus der Asymmetrie des Verhältnisses. Der andere schuldet dem Subjekt nichts, das Subjekt dem anderen alles. Wenn nun Sprache als Gabe definiert wird, dann ist das Sagen im engen Sinne allein Sache des Subjekts. Nun kann das Sagen des Subjekts nicht bloß in etwas Atmosphärischem, in guter Absicht etc. bestehen; das Subjekt muß konkret etwas sagen. Bloß die Nähe auszudrücken ohne etwas zu sagen, ist unmöglich. »Man kann nicht ohne Zweideutigkeit in der Nacht Zeichen geben. Man muß sagen, ›was los ist‹, etwas sagen, bevor man nur das Sagen sagt.« 47

41 42 43 44 45 46 47

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Ibid. DEHH 231/SpA 285. Vgl. AE 182, note 7/JS 314 und AE 6/JS 29. AE 192/JS 330. AE 60: »Dire c’est répondre d’autrui« (JS 115). AE 61/JS 115. AE 182/JS 314; »das Sagen sagen« ist synonym mit dem Sprechen vor der Sprache.

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§ 45 Das Sagen des Subjekts

Daraus wird zunächst sichtbar, daß das Sagen der Verantwortung, das Sagen des Subjekts, immer auch ein »etwas sagen« ist. Sodann macht Lévinas hier deutlich, wie die Rede vom Sagen vor dem Sagen oder ohne das Gesagte gemeint ist. Ähnlich wie die Noesis nur am Leitfaden des Noema freigelegt werden kann, wird auch das Sagen ohne Gesagtes erst vom konkreten Sagen aus als Bedingung des Gesagten erkennbar. Erst im konkreten Sagen, also im Gesagten, öffnet sich die Dimension des Sagens vor dem Sagen. Lévinas bestätigt diesen Sachverhalt ausdrücklich, indem er von der »wesentlichen Ambiguität des Gesagten« spricht: Das Zeichen, das dem anderen von dem Zeichengeben, also von dem Sagen vor dem Sagen, gegeben wird, entfaltet seine Bedeutung innerhalb der konkreten, dem anderen mitgeteilten Information. 48 Insofern muß man sagen, ›was los ist‹, bevor man das Sagen sagt. Oder genauer: Nur indem das Subjekt sagt, ›was los ist‹, sagt es auch das Sagen vor dem Sagen. Hiermit wiederholt sich eine Differenz, die wir schon in »Totalität und Unendlichkeit« finden: nämlich die Unterscheidung zwischen der Sprache vor der Sprache und der vorstellenden Sprache. Die Sprache vor der Sprache ist die Nähe; die vorstellende Sprache ist das Sagen des verantwortlichen Subjekts. Dort freilich hat Lévinas nicht zwischen einer ontologischen und einer ethischen, einer synchronen und einer diachronen Sprache unterschieden. Das wesentlich Neue hier besteht darin, daß der ethischen Sprache eine andere, nämlich die diachrone Zeitlichkeit zugeschrieben wird. 45.3 Wir gehen also davon aus, daß die vorstellende Sprache aus »Totalität und Unendlichkeit« hier in der Form der Sprache als Verantwortung oder der Sprache als Gabe wiederkehrt. In der Tat interpretiert Lévinas das Sagen des Subjekts als Gabe, als Verzicht zugunsten des anderen, als Ausdruck der Verantwortung für ihn. Nun ist jede Rede eine Form der Entäußerung. Das Subjekt tritt aus sich heraus und liefert sich in gewisser Weise dem anderen aus: Es opfert sich. »Die Kommunikation ist nur möglich in dem Opfer, das in der Annäherung an den besteht, für den man verantwortlich ist.« 49 DaVgl. AE 193–4/JS 333: »In dem Spiel, das über die kulturelle Tastatur der Sprache erfolgt, bedeutet die Aufrichtigkeit oder das Zeugnis durch die wesentliche Ambiguität jedes Gesagten, in dem innerhalb der dem anderen mitgeteilten Information zugleich das Zeichen bedeutet, das ihm von diesem Zeichengeben gegeben wird …« 49 AE 154/JS 266. 48

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her kommt es im bürgerlichen Leben darauf an, die Rede zu kontrollieren und zu beherrschen. So bleibt das Ich Herr seiner selbst, der Situation und des anderen. Aber die Rede fordert nur darum eine Kontrolle, weil sie ursprünglich eine Form der Entfremdung und der Auslieferung ist. Lévinas hat für diese Auslieferung den Ausdruck »exposition«, »Ausgesetztsein«. »Die Exposition hat hier einen von der Thematisierung grundsätzlich verschiedenen Sinn. Der Eine« – das Subjekt – »setzt sich dem anderen aus, wie eine Haut sich dem aussetzt, was sie verletzt, wie eine Wange, die dem hingehalten wird, der sie schlägt.« 50 In der Rede offenbart sich das Subjekt nicht nur dem anderen, sondern gibt sich ihm in gewisser Weise hin. In diesem Sinne ist die Kommunikation mit dem anderen ein »schönes Wagnis, auf das man sich einlassen muß« 51 . Die Kommunikation mit dem anderen »besteht in der riskanten Entblößung seiner selbst, in der Aufrichtigkeit, im Zerbrechen der Innerlichkeit und in der Preisgabe jeglichen Schutzes, in der Ausgesetztheit an die Verletzung, in der Verwundbarkeit.« 52 Das Subjekt gibt sich im Sagen hin. Insofern hat die Rede eine Beziehung zur Gabe oder kann als Gabe verstanden werden. Die Deutung der Sprache und der Kommunikation als Gabe gewinnt zusätzliche Plausibilität, wenn man an die französische Soziologie erinnert. Schon Marcel Mauss hatte in seinem großen »Versuch über die Gabe« 53 den Gedanken nahegelegt, daß die Kommunikation der Menschen und Gruppen untereinander nicht nur mit Worten, sondern als Austausch von Gaben stattfindet. Vollends bringt C. Lévi-Strauss den Tausch unter sprachliche Kategorien. 54 Unter diesem Gesichtspunkt gibt es eine universale Kategorie »Kommunikation«, die sowohl den verbalen Austausch als auch den Austausch von Gaben – etwa Frauen – umfaßt. Wenn wir diese Deutung annehmen, erhält der Begriff des Sagens eine neue Bedeutung. Die Rede ist nicht eine Form der Gabe unter vielen, sondern jede Gabe ist Kommunikation. Durch diese Umkehr wird der Bereich der Kommunikation ausserordentlich aus-

AE 63/JS 119. AE 54/JS 266–7. 52 AE 62/JS 118. 53 Vgl. M. Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd II. 54 Vgl. etwa C. Lévi-Strauss, Langage et société, in: ders., Anthropologie structurale, 63 ff. 50 51

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§ 45 Das Sagen des Subjekts

gedehnt. Das Sagen umfaßt nicht mehr allein die Sprache im engeren Sinne, sondern jede Gabe ist ein Sprechakt. Nun trennt sich das Subjekt von der Gabe als dem Gegenstand. Damit entsteht hier auf neue Weise ein Verhältnis von Sagen und Gesagtem, von Subjekt und Objekt. Aber diese Differenz hat nicht mehr denselben Sinn wie in der traditionellen Philosophie. Dort war das Objekt der Widerpart des Subjekts, Subjekt-Objekt die ultimative Beziehung. Hier dagegen ist das Objekt als Gabe in das Verhältnis zum anderen eingebettet. Beide bleiben dem Gesagten transzendent. Wenn wir im Gesagten das Objekt und im Objekt die Welt sehen, dann kommunizieren der eine und der andere im Medium der Welt, ohne doch in der Welt aufzugehen. 45.4 Nun ist das Sagen qua Gabe zwar ein Tun des Subjekts, aber das Subjekt ist nicht die originale Quelle dieses Sagens. Lévinas versteht es nicht als eine spontane Äußerung. Es entspringt nicht einem urtümlichen Bedürfnis, sich von sich selbst ein Bild zu machen, sich zu objektivieren. Vielmehr hat die Rede des Subjekts ihren Ursprung im Anruf des anderen: Sie ist immer schon Antwort. Weil sie nicht auf die Initiative des Subjekts zurückgeht, sondern dem Subjekt gewissermaßen »entrissen« wird, handelt das Subjekt nicht im eigentlichen Sinne, sondern erleidet passiv den Anruf des anderen. »Der ›Akt des Sagens‹ wird hier von Anfang an eingeführt als die höchste Passivität der Ausgesetztheit dem anderen gegenüber … Von daher ›Umkehrung‹ der Intentionalität …« 55 Zugleich findet sich hier der Grund, warum das Subjekt nicht in der Form des Nominativ auftritt, sondern im Akkusativ. »Ich« als grammatisches Subjekt bezeichnet ein aktives Prinzip, den Ursprung einer Handlung. Nun ist das ethische Subjekt aber Gegenstand eines Geschehens, das sich an ihm vollzieht; passiv, wird es vom anderen angegangen. Es steht unter dem Zwang einer Rechtfertigung. Daher ist die Grundform des Subjekts nicht das Ich, sondern ein Sich oder Selbst im Akkusativ: »… Sich – Akkusativ, der von keinem Nominativ abgeleitet ist.« 56

AE 61/JS 115. AE 14/JS 42; vgl. auch AE 69/JS 129: »Das Subjekt wird beschreibbar als Sich, von vornherein im Akkusativ (oder unter Anklage!) …«

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IV. Die meta-ontologische Transzendenz · Subjektivitt und Ethik

45.5 Wir sind nun in der Lage, die Struktur des Sagens näher zu bestimmen. Das Sagen im weiteren Sinne ist eine Form der Nähe, nämlich derjenigen Nähe, in der der andere an das Subjekt herantritt. Insofern gehört es dem Bereich der Diachronie an. Das hindert Lévinas nicht, an der unbedingten Trennung von Selbst und anderem festzuhalten. Jede Ineinssetzung würde die Transzendenz des anderen vernichten. Daher wird auch die Differenz zwischen dem Subjekt und dem anderen als ein diachrones Verhältnis beschrieben – eine Diachronie in der Diachronie: »Die Nähe ist weder Konstellation im Sein noch Reflex einer solchen Konstellation in der Einheit der transzendentalen Apperzeption – sie ist, von mir zum anderen, in zwei Zeiten; und darin Transzendenz. Sie zeitigt sich, aber in diachroner Zeitlichkeit.« 57 Aber dieses Verhältnis beschreibt erst die Nähe oder das Sagen im weiteren Sinne, noch nicht das Sagen des Subjekts. Die Nähe fordert die Dualität des einen und des anderen, ihre Trennung. Das Sagen im engeren Sinne hingegen, das Sagen der Verantwortung, spaltet seinerseits das Subjekt oder das Eine. Der andere fordert, daß das Subjekt hinter sich selbst, hinter sein Eigentum zurücktrete und sich opfere. Dieses Opfer oder die Gabe bezeichnet Lévinas als Sagen. Das Sagen ist das Opfer des Selbst oder seine Spaltung. Lévinas hat dafür die Formel gebraucht: »Das Nahekommen des Nächsten ist Spaltung des Subjekts.« 58 Es ist also die Nähe des anderen oder das Sagen im weiten Sinne die Dualität von Subjekt und anderem; im Sagen im engeren Sinne hingegen wird das Subjekt selbst gespalten. Im diachronen Sagen artikuliert sich also eine zweifache Differenz. Von ihnen ist keine ohne die andere. Aber sie sind auch nicht einander gleichgeordnet. 45.6 Wir sprechen von der Struktur des Sagens, als handele es sich um Momente, die, weil sie sich gegenseitig bedingen, auch gleichzeitig präsent sind. Damit wird aber die grundsätzliche Asymmetrie übersehen, die das Verhältnis des Selben zum anderen bestimmt. Ein Selbst sein, »›Sich‹ sein, anders als sein, sich vom Sein lösen (se dés-interesser), heißt, die Not und das Scheitern des anderen tragen und sogar noch die Verantwortung, die der andere vielleicht für mich

57 58

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AE 107/JS 190. AE 227/JS 385; vgl. auch AE 63–4; 81; 180 / JS 120; 149; 310.

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§ 45 Das Sagen des Subjekts

hat.« 59 Einzig in der Asymmetrie der Verantwortung, muß das Sich auch als einziges alle Verantwortung übernehmen. In der Einzigkeit der Verantwortung erfüllt sich der Begriff des Sich; es wird wiederum universales Subjekt, aber in einem neuen Sinne: »Das Sich ist sub-iectum: Es findet sich unter der Last des Universums – für alles verantwortlich. Die Einheit des Universums ist nicht das, was mein Blick in seiner Einheit der Apperzeption umfaßt, sondern was von überall her mir auferlegt ist, was mich anblickt und so mich angeht, was mich anklagt, ist meine Sache.« 60 Das Sich, das sich opfert, das Sich als Gabe, ist auf neue Weise Subjekt und »Träger der Welt« 61 .

AE 149–50/JS 259–60. AE 147/JS 256. 61 AE 139 note 12/JS 242. Lévinas hat sich für diesen Gedanken, daß der Einzelne für das Ganze die Verantwortung trägt, später auch auf die Schrift »L’Ame de la vie« des Rabbi Haim von Volozin, des Begründers der Mitnaggdim und Schülers des Gaon von Wilna berufen. Im Vorwort zur französischen Ausgabe schreibt Lévinas: »Die Handlungen … die Worte …, die Gedanken … bewirken oder blockieren den göttlichen Strom, der den Welten Leben verleiht. Außergewöhnliche Verantwortung des Menschengeschlechts, das durch sein Verhalten den spirituellen Strom, der durch die Welten fließt, öffnet oder schließt, befreit oder zurückhält« (l. c. p. XXI). Der Mensch selbst, jeder Einzelne, ist verantwortlich für das Heil der Menschheit. (Bei Voloziner freilich trifft diese Verantwortung nur den Juden. Die Heiden sind ausgeschlossen. Von den Heiden heißt es bei ihm: »Jene verursachten weder Schaden noch Zerstörung in den Höhen; denn sie haben keinen Anteil an den oberen Welten, und ihre Akte können die Wurzeln der Welt nicht erreichen« L’Ame de la vie, 12). Dadurch ändert sich für Lévinas auch der Begriff des Messias: »Der Messias ist Ich; Ich-sein heißt Messias sein … Der Messias ist der Gerechte, der leidet, der das Leid der anderen auf sich geladen hat. Wer lädt letztlich das Leid der anderen auf sich, wenn nicht dasjenige Seiende, das ›Ich‹ sagt? … Und das bedeutet konkret, daß jeder so handeln muß, als wäre er der Messias. Der Messianimus ist also nicht die Gewißheit der Ankunft eines Menschen, der die Geschichte anhält. Er ist meine Fähigkeit, das Leid aller zu tragen« (DL 120/SF 94–5). 59 60

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4.3 Das absolute Unendliche

§ 46 Gott 46.1 Dieser Abschnitt ist eher ein Einschub als die Fortsetzung der bisherigen Entwicklung. Dies deswegen, weil die Äußerungen Lévinas’ über Gott, die häufig nicht mehr als nur Andeutungen sind, sich dem Ganzen seiner Philosophie nicht ohne weiteres integrieren lassen. Zum zweiten ist nicht sichtbar, wie sich die verschiedenen Äußerungen über Gott untereinander zu einer Einheit zusammenfinden. 46.2 Lévinas nennt den anderen unendlich und beruft sich dazu auf Descartes. Descartes war davon ausgegangen, daß die Einsicht in den Zweifel und seine eigene Endlichkeit die Idee des Unendlichen voraussetze, und hatte daraus die Existenz Gottes abgeleitet. Für Descartes war das Unendliche allein Gott. Lévinas stützt sich auf die cartesische Argumentation, wendet sie aber auf den anderen an. Das Unendliche ist für ihn das Antlitz. Anläßlich der Diskussion von Lévinas’ Habilitationsschrift »Totalität und Unendlichkeit« vor der Société française de philosophie wurde Lévinas auch auf den Begriff Gottes angesprochen. Seine Antwort lautete: »Ich möchte nichts durch Gott definieren. Es ist das Menschliche, das ich kenne. Gott kann ich definieren im Ausgang von den menschlichen Beziehungen, nicht umgekehrt.« 1 Später wiederholt er: »Mein Ausgangspunkt ist auf gar keine Weise theologisch. Daran liegt mir viel. Was ich mache, ist nicht Theologie, sondern Philosophie.« 2 Das hindert nicht, daß Gott auch in »Totalität und Unendlichkeit« vorkommt. Einerseits ist Gott der Schöpfer dank der Kontrak-

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§ 46 Gott

tion 3 , anderseits weist die Brüderlichkeit der Menschen auf ihre Herkunft vom selben Vater, auf die Kindschaft Gottes. 4 Aber im Ganzen herrscht doch eher eine Unklarheit. So verwendet Lévinas den Begriff des Unendlichen schon in »Totalität und Unendlichkeit« sowohl zur Bezeichnung des Anderen als auch Gottes 5 ; und auch unter der Religion versteht Lévinas einerseits die Beziehung zum anderen 6 , anderseits die Beziehung zu Gott 7 . Offensichtlich ist die Unterscheidung zwischen dem anderen und Gott, ist überhaupt die philosophische Frage nach Gott in dieser Phase von Lévinas’ Denken kein zentrales Problem. 46.3 Die Frage nach Gott wird dagegen dringend in der Phase der meta-ontologischen Philosophie. Der Grund aller Ethik und allen Seins ist die Zeit. Das Jenseits des Seins einerseits und das Sein anderseits sind verschiedene Weisen der Temporalisierung, nämlich Diachronie und Synchronie. Der Bereich des anderen oder die Weise des anderen ist die Diachronie. Das Wirkliche in der Weise der Diachronie ist uns nahe, aber in einerArt, die es uns auch entzieht. Die Diachronie ist die Weise alles dessen, was uns transzendent ist, was nicht in die selbstgemachte Immanenz eingeht. Das allgemeine Charakteristikum der Diachronie ist die sich entziehende Zeit. Teil an dieser sich entziehenden Zeit hat auch der andere. Aber auch die Natur entzieht sich uns, der Genuß, das Schöne. Man kann also die Diachronie nicht mit der Präsenz des Antlitzes ineins setzen. Die Begenung mit dem Antlitz macht nur einen Teil der ganzen Zeit aus. Diesem Umstand scheint Lévinas Rechnung zu tragen, indem er zwischen der Zeit als Spur und der Spur in der Spur unterscheidet. Das Antlitz ist nicht das Letzte und Äußerste. Vielmehr kommt es selbst aus einem Jenseits. »Das Jenseits, von dem das Antlitz kommt, bedeutet als Spur. Das Antlitz ist in der Spur des absolut Verflossenen, absolut vergangenen Abwesenden, zurückgezogen in etwas, das Paul Valéry das ›tiefe Einst, niemals genügend Einst‹ nennt und das keinerlei Introspektion in sich zu entdecken vermöchte … Kein Gedächtnis vermöchte dieser Vergangenheit auf der Spur zu bleiben. Es TI 77/TU 148. Vgl. TI 255 sq./TU 406 ff. 5 Vgl. TI 77/TU 148. 6 Vgl. TI 10/TU 46; EN 20/ZU 19: »Die Beziehung zum Nächsten … nennen wir Religion.« 7 TI 77/TU 148: »Wir haben die Gemeinschaft mit Gott … Religion genannt.« 3 4

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ist unvordenkliche Vergangenheit.« 8 Das Jenseits, aus dem das Antlitz kommt, ist selbst Spur, es hat die Seinsweise der Diachronie. Darum ist der Gott der Theologen, der ihn zu einem idealen Seienden und zu bleibender Gegenwart erhebt, schon verfälscht. Gott entzieht sich, er ist nur als Spur. »Das Antlitz«, heißt es an anderer Stelle, »leuchtet in der Spur des anderen.« 9 Das Antlitz ist also selbst in einer Spur und auf einer Spur, auf der Spur eines anderen, das noch anders ist als das Antlitz. Von dieser Spur heißt es: »Die Spur ist das Einrücken des Raumes in die Zeit, der Punkt, an dem die Welt sich zu Vergangenheit und Zeit beugt.« 10 Nicht länger verharrt der Raum in unbewegter Starre, sondern geht in eine zeitliche Dimension über: Es findet das statt, was Lévinas auch »die Unterbrechung der ›ewigen Ruhe‹ durch die Zeit« 11 nennt. Die Zeit bricht in den Raum ein. Nun bezeichnet Lévinas auch das Antlitz als Spur. Es ist etwa die Rede von der »Spur, die als Antlitz des Nächsten leuchtet« 12 Wir müssen also zwischen der Spur des absolut anderen und der Spur des Antlitzes als einer Spur zweiten Grades unterscheiden. Der Ausdruck »Spur« gibt nur ungenau die Bedeutung des französischen »trace« wieder. Im Wort »trace« hört man noch das »tracer«, aufzeichnen, aufreissen, sowie des weiteren die »traction«, das Ziehen, eine dynamische Bewegung. In diesem Sinne heißt es dann auch: »Der Gott, ›der bei dem Reuigen und Demütigen bleibt‹ (Jesaja 57, 15), am Rande, ›verfolgte Wahrheit‹, ist nicht eine religiöse ›Tröstung‹, sondern der ursprüngliche Aufriß (dessin) der Transzendenz.« 13 Gott legt eine Spur und gibt damit eine Richtung, einen Weg vor. »Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit … Er zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 Exodus. Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die anderen zugehen, die sich in seiner Spur halten.« 14 DEHH 198/SpA 228–9; das Zitat von P. Valéry ist dem Gedicht »Cantique des Colonnes«, Œuvres, t. I, 116 ff. entnommen. 9 DEHH 202/SpA 234. 10 DEHH 201/SpA 233 (»La trace est l’insertion de l’espace dans le temps«). 11 AE 133/JS 233. 12 AE 14/SpA 44. 13 DEHH 209/SpA 247. 14 DEHH 202/SpA 235. 8

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§ 46 Gott

46.4 Es gibt eine weitere Schwierigkeit, die Nähe des anderen mit der diachronen Zeit insgesamt ineins zu setzen. Gewiß ist die diachrone Zeit eine Zeit des Entzugs und des endgültigen Vorbeigangs. Aber die Weise, wie der andere dem Subjekt das Seine entzieht, ist nicht identisch mit der Weise, wie sich die Zeit überhaupt entzieht. Genuß und Schmerz sind beide in der Zeit; beide gehen vorüber und »entziehen« sich. Die Zeit ist gegenüber Genuß und Schmerz gleichgültig, sie läßt beides zu. Weder Genuß noch Schmerz sind das Gegenteil der Zeit. Wohl aber schließen sich Genuß und Schmerz gegenseitig aus. Vom Schmerz sagen wir nicht: Er entzieht sich. Er geht vielmehr vorüber und wir sind dankbar dafür. Die Lust dagegen will Ewigkeit. Daraus folgt, daß die diachrone Zeit nicht mit dem Schmerz identifiziert werden kann; wäre das so, müßte sie sowohl den Genuß als auch die Poesie der Dinge ausschließen. Nun wird die Nähe des anderen als Schmerz und Verwundung bezeichnet. Daraus folgt, daß die diachrone Zeit nicht nur noch etwas anderes ist als nur die Nähe des anderen, sondern daß die diachrone Zeit, soweit sie Genuß ist und Poesie der Dinge, sogar das Gegenteil der Nähe des anderen zuläßt. Die Zeit Gottes bereitet nicht nur Schmerzen, sondern auch den Genuß der Dinge. 46.5 Mit der Zeit des Genußes hängt ein weiteres Problem zusammen, das tief in die Systematik von Lévinas’ Philosophie eingreift. Lévinas’ zentrale philosophische These besagt, daß die Ethik, die Beziehung zum anderen, der Ontologie vorausgeht: »Früher als die Ebene der Ontologie ist die Ebene der Ethik.« 15 Die Ethik ist die Fundamentaldisziplin. Daraus folgt, daß die Subjektivität des Subjekts, sein Selbstsein, ohne das eine Ethik unmöglich ist, aus ethischen Bezügen erklärt werden muss. »Das Sich entspringt nicht seiner eigenen Initiative … Das Sich hypostasiert sich auf andere Weise: Es entsteht als unauflösbare Verknüpfung in einer Verantwortung für die anderen.« 16 Das scheint die Alternative zu sein: Das Bewusstsein konstituiert sich selbst, das Sich hingegen verdankt sich der Nähe des anderen. Dem widerspricht nun, daß es eine Verantwortung für den anderen, einen Verzicht und eine Gabe nur geben kann unter der Vor15 16

TI 175/TU 289. AE 133–4/JS 233–4. A

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aussetzung eines schon besitzenden und identischen Seienden. Dieser Umstand wird von Lévinas ausdrücklich anerkannt. 17 Es leidet also keinen Zweifel, daß die erste Form von Selbstheit nicht das Subjekt ist, sondern das Ego des Egoismus. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Die erste ist die Frage nach der Entstehung des Ego. Als Ego bezeichnen wir das Ich des Genusses im Unterschied zum Sich der Verantwortung. Die zweite Frage betrifft das Verhältnis von Ego und Subjekt. Kommen wir zunächst zu der ersten Frage. Sie lautet: Wenn das Ego nicht erst im Anruf des anderen zu sich kommt, wenn das Sich nicht die erste Form der Selbstheit ist, woher kommt dann das Ego? Das Problem stellt sich angesichts einer Zeit, die als Verbalität definiert wird. »Die Zeitigung ist das Verb des Seins.« 18 Wie kann aus einem Sein, das als Verbalität definiert wird, so etwas wie ein Nomen oder ein Substantiv entstehen? Verb und Nomen sind Kategorien, die dem Sein und dem Seienden zugeordnet sind. Das Seiende ist Nomen und Substantiv. Nun ist auch das genießende Ego ein Individuum, in gewisser Weise ein Seiendes, Seiendes nicht auf dem Grund einer Selbstkonstitution und nicht im Raum der Synchronie, aber doch ein Seiendes. Ein Seiendes als Partizip hat Teil am Sein, aber in ihm ist die Temporalität, das Fließen, zum Stillstand gekommen: Es ist nicht mehr Verb, sondern Substantiv, Nomen. Die Seiendheit des Bewußtseins und der konstituierten Dinge wird erklärt durch den Prozeß der Reflexion und Vergegenwärtigung. Wie aber bei einem Individuum, das wie das Ich des Genusses der Reflexion vorausgeht? Auch hier wiederum ist Gott die Lösung. »Wenn … das Subjekt als Seiendes angesprochen wird, dann nicht um die Aufmerksamkeit auf das Verb sein zu lenken, auf das letztlich dieses Partizip sich bezöge. Längst vor dieser Teilnahme und als notwendiges Element für diese Teilnahme am Verb … zeichnet sich die rein formale Möglichkeit der Nominalform des Individuums ab. Die Nominalform … ist irreduzibel auf die Verbalform. Jene Nominalform kommt von anderswo her als die Verbalität des sein (essence).« In der zugehörigen Anmerkung erfahren wir dann: »Der Name außerhalb des sein (essence) oder jenseits des sein … – heißt Gott.« 19 Gott ist die Quelle, Vgl. oben § 44.1 sowie AE 93/JS 167: »Ohne den Egoismus, der sich in sich selbst gefällt, hätte das Leiden keinen Sinn.« 18 AE 44/JS 88. 19 AE 68/JS 127–8. 17

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§ 46 Gott

auf die alle vorbewußte Nominalisierung, Seiendheit und Individualität zurückweist. »Nach dem Tode eines gewissen … Gottes deckt die Stellvertretung die Spur … dessen auf, was in keine Gegenwart eintritt und zu dem weder die Namen, die Seiendes bezeichnen, noch die Verben, in denen ihr sein (essence) nachklingt, mehr passen – das … vielmehr allem, was einen Namen trägt, sein Sigel einprägt.« 20 Da im Ich des Genusses ein Seiendes entsteht, ein Individuum, ein Term, dürfen wir diese Genesis als einen göttlichen Akt der Schöpfung verstehen. Gott prägt dem Ego einen Namen auf und macht es erst dadurch zum Ego. Unter dieser Voraussetzung entsteht nun ein zweites Problem, die Frage nämlich, wie das Ego sich zum Subjekt verhält. Entsteht das Individuum zweimal, einmal als Ego und einmal als Subjekt? Oder entsteht es ursprünglich als Ego und erfährt in der Begegnung mit dem anderen eine Veränderung, eine Entfremdung? Dem Ego und dem Subjekt läge ein identischer Kern zugrunde. Für dieses Verständnis spricht der Umstand, daß Lévinas die Subjektivierung immer wieder als Aufbrechen eines identischen Kerns beschreibt. Dem widerspricht aber, wenn es heißt, die Substanzialität des Subjekts sei erst Sache der Verantwortung. »In der Substanzialität des Subjekts, im harten Kern des ›Einzigen‹ in mir, in meiner … Identität, die Stellvertretung für die anderen erblicken … [gehört zu den] Thesen dieses Buches« 21 , heißt es programmatisch noch in der Vorbemerkung zu »Jenseits des Seins«. Wenn aber die Substanz des Subjekts sich in der Verantwortung für den anderen erst bildet, was hat es dann mit dem Ego auf sich? Je nachdem, wie man die Frage nach dem Verhältnis von Ego und Subjekt beantwortet, gerät auch die These vom Vorrang der Ethik vor der Ontologie ins Wanken, zumindest die These von der Ethik als erster Philosophie, die das Motto der Tagung abgab, die 1986 in Cérisy-la-Salle in Lévinas’ Gegenwart seiner Philosophie gewidmet war. 22 Lévinas hat diese Fragen weder aufgeworfen noch behandelt. Eine mögliche Lösung böte der Gedanke, daß die Subjektivierung sich als eine Wesensveränderung vollzöge: Das Ego hätte den Status der Animalität; erst der Anruf des anderen würde das Tier in einen AE 233/JS 395. AE X/JS 19. 22 Darum wohl spricht S. Gürtler auch nur von einer »Elementaren Ethik«, obwohl sie Lévinas’ Ethik den »Anspruch einer prima philosophia« (S. 13) attestiert. 20 21

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Menschen umwandeln. Es bliebe bei der These, daß das Menschsein erst mit der Verantwortung für den anderen beginnt und die Philosophie das Menschsein zum Gegenstand hat. 46.6 Ein letztes Problem schließlich, für das der Gottesbegriff eine Lösung anbietet, besteht in dem von ihm zunächst vertretenen radikalen Dualismus. In »Totalität und Unendlichkeit« heißt es: »Das Sein ereignet sich als Mannigfaltiges und als gespalten in Selbes und Anderes. Dies ist seine äußerste Struktur.« 23 Diese These ist insofern nicht eindeutig, als das andere bei Lévinas selbst vielfältig ist: Ist es das Es-gibt, das Weibliche im Haus, der andere, für den das Subjekt verantwortlich ist, der andere, der Gewalt gegen das Subjekt übt, das Weibliche des Eros oder endlich der Sohn? Ist es eines von ihnen, einige oder alle? Und sagt die These nicht ebenso das Gegenteil: Es ist die Einheit des Seins, die allem zugrundeliegt? Sofern die These vieldeutig ist, gibt es auch keine eindeutige Gegenthese. Nun steht im Zentrum von »Totalität und Unendlichkeit« der Gegensatz des verantwortlichen Subjekts und des Antlitzes des anderen, für den das Subjekt die Verantwortung hat. Beziehen wir die Rede von der ultimativen Spaltung des Seins in Selbes und anderes auf das Subjekt und das Antlitz, so können wir feststellen, daß ihre Trennung nicht die äußerste Struktur des Seins darstellt; denn sie sind einander von Gott zugeordnet. Der Mensch begehrt Gott. Aber Gott richtet dieses Begehren auf den Nächsten: »Das Begehrenswerte ordnet mich dem Nichtzubegehrenden zu, dem Unbegehrenswerten schlechthin, dem anderen … Und diese Weise seitens des Unendlichen oder Gottes, obwohl er das Begehrenswerte ist, auf die nicht begehrenswerte Nähe des anderen zu verweisen, haben wir mit dem Terminus der Illeität bezeichnet.« 24 Der Ille oder die Illeität ist also der einheitliche Grund, aus dem sich auch die Dualität von Selbem und anderem speist. Und Gott selbst ist der Eine. Freilich ist diese Einheit nicht Einheit der Welt, sondern eine jenseitige Einheit. Die Welt, »die gelichtete Gegend des Seins, ist nur der Vorübergang Gottes … Der darüber hinausgegangen ist, war niemals Gegenwart. Er ging aller Gegenwart voraus und über alle Gleichzeitigkeit hinaus, in einer Zeit, die nicht menschliche Dauer ist …, sondern die ursprüngliche Vorgängigkeit Gottes im Verhältnis zur Welt, die ihn nicht be23 24

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TI 247/TU 394. DD 113.

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§ 46 Gott

herbergen kann – die unvordenkliche Vergangenheit, die sich niemals gewärtigt hat …, die vielmehr das Eine (l’Un) ist – das alle Philosophie sagen wollte – aus dem jenseits des Seins.« 25 Indem Lévinas das Eine mit Majuskeln schreibt, nimmt er sichtbaren Bezug auf den platonischen Parmenides, noch mehr aber auf das überseiende Eine des Neuplatonismus. Diese Einheit geht aller Spaltung voraus. *

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Ob diese verschiedenen Hinweise auf Gott sich zu einer Theorie zusammenfügen lassen oder nicht, ist eine Frage, die Lévinas nicht stellt und die ihn vielleicht auch nicht interessiert. Das Interesse Lévinas’ bleibt auf die Ethik gerichtet. Und nur wo die Ethik über sich selbst hinausweist, da bezieht er sich auf weitere Instanzen. Das hindert nicht, daß Lévinas mit seinem Gottesbegriff an die alte Ontologie insbesondere neuplatonischer Prägung anzuknüpfen scheint. So zumindest verstehen wir Paul Ricœur, wenn er in diesem Zusammenhange die Frage stellt: »Wiederholung der Ontologie?« 26

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DEHH 216/SpA 259–60. P. Ricœur, Autrement, 34. A

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4.4 Die Politik

§ 47 Gerechtigkeit 47.1 Die ethische Sprache als Unmittelbarkeit und Asymmetrie, als Verantwortung für den Anderen und Gabe, vollzieht sich jenseits der phänomenalen Zeit; ihre Zeit ist die unvordenkliche Diachronie. Die Diachronie unterscheidet sie von der ontologischen Sprache, die teleologisch auf das Erscheinen und die Synthese der Synchronie gerichtet ist. Die Ethik tritt hinter dem Anderen zurück; das Subjekt opfert sein eigenes Erscheinen dem Anderen. Hingegen vollzieht die Ontologie immer schon den Umschlag des Sagens ins Gesagte und distanziert damit den Anspruch des Anderen, der, wenn er nicht untergeht, Gegenstand von Erwägung und Beurteilung wird. Nun fragt es sich, ob es bei dem Gegensatz von Ontologie und Ethik sein Bewenden haben kann, ob die Ontologie nicht auch einer ethischen Forderung entspringt. In der Tat ist dies Lévinas’ Auffassung. Aus der Perspektive der Ethik gewinnt die ontologische Sprache eine neue Bedeutung. Theorie und Denken »sind motiviert durch die Berufung des vor-ursprünglichen Sagens, durch die Verantwortung selbst« 1 . Die theoretische Sprache erschöpft sich nicht in der Entbergung des Seins, sondern tritt in den Dienst der Ethik (langage »ancillaire« 2 ). Die Ontologie wird ancilla ethicae. Dabei wird sich zeigen, daß die übliche Interpretation der Ontologie wichtige Sinnesimplikate übersieht und nur dank eines verkürzten Verständnisses die Ontologie zur prima philosophia machen konnte. Diesen ethischen Sinn der Ontologie3 gilt es aufzuzeigen. 47.2 Was die Ontologie von der Asymmetrie der ethischen Sprache unterscheidet, ist die Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit der SeiAE 7/JS 31. AE 7/JS 31. 3 Ob man dann noch den Ausdruck »Ontologie« beibehalten soll, ist eine Frage der bloßen Konvention. 1 2

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§ 47 Gerechtigkeit

enden, das symmetrische Verhältnis zwischen dem Ich und dem oder den anderen. Der andere hat den unbedingten Vorrang als Orientierung verloren. Wenn die Ontologie ein ethisches Fundament haben soll, dann müssen die Einebnung der Bedeutung des anderen und die Einbuße seiner Unmittelbarkeit ein ethisches Motiv besitzen. Dieses Motiv findet Lévinas in der Präsenz des Dritten. Der Dritte stellt die Unmittelbarkeit der Nähe in Frage. »Sie wird gestört und sie wird zum Problem mit dem Eintritt des Dritten.« 4 Der Dritte ist anders als der Nächste, aber doch auch ein anderer Nächster 5. Indem auch der Dritte in der Verantwortung des Subjekts steht, stellt er das Subjekt vor die Alternative, sich dem Nächsten oder dem Dritten zuzuwenden. In dieser Alternative ist die Unmittelbarkeit der Orientierung am anderen verloren. Es gibt viele andere; die Pluralität der anderen macht das Subjekt zunächst ratlos. Die bloße Präsenz des Dritten macht, daß die Unbedingtheit der Nähe nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. »Der Dritte bringt einen Widerspruch in das Sagen, dessen Bedeutung angesichts des anderen bis dahin nur in eine einzige Richtung ging.« 6 Dabei ist die Präsenz des Dritten nicht darauf angewiesen, daß faktisch ein dritter Mensch hinzutritt. Der Dritte ist mit dem Antlitz selbst gegeben. Zwar ist jedes Antlitz absolut. Aber in ihm leuchten zugleich die Antlitze der anderen hervor. »Der Dritte stört nicht im empirischen Sinne die Nähe, sondern das Antlitz ist zugleich der Nächste und ein Antlitz unter Antlitzen.« 7 Damit ist jedes Antlitz absolut und doch auch auf andere relativ. Da es vergleichbar wird, wird es thematisierbar und tritt in die Sichtbarkeit, jedes Antlitz trägt in sich den Widerspruch, »Antlitz und sichtbar« 8 zu sein. 47.3 In dieser Situation wird das Subjekt auf sich selbst verwiesen; denn es erfährt, daß seine bisherige Orientierung am alleinigen anderen auch und gerade unter ethischem Gesichtspunkt fraglich ist. Angesichts einander sich aufhebender Forderungen versteht sich das Handeln des Subjekts nicht mehr von selbst, sondern es stellt die Frage nach dem, was rechtens ist. »Wenn die Nähe mir allein den 4 5 6 7 8

AE 200/JS 342. AE 200/JS 342. AE 200/JS 343. AE 204/JS 349. AE 204/JS 349. A

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IV. Die meta-ontologische Transzendenz · Die Politik

anderen und niemanden sonst zur Aufgabe machte, ›hätte es kein Problem gegeben‹ – nicht einmal im allgemeinsten Sinne des Wortes. Die Frage wäre nicht entstanden, auch das Bewußtsein nicht und ebenso wenig das Selbstbewußtsein. Die Verantwortung für den anderen ist eine Unmittelbarkeit, die der Frage vorausgeht: eben Nähe. Sie wird gestört und sie wird zum Problem mit dem Eintritt des Dritten.« 9 Nun steht das Subjekt zwischen zwei Ansprüchen, die sich bei gleicher Dringlichkeit gegenseitig aufheben. Es muß die Frage entscheiden: »Welcher hat Vortritt vor dem anderen?« 10 Diese Frage kann es nur beantworten, indem es sich zunächst aus der Unmittelbarkeit löst. Die Ansprüche der anderen werden Gegenstand einer distanzierten Beurteilung, das angeklagte Subjekt wird selbst zum Richter. Dadurch nimmt es eine ganz neue Stellung ein; der andere wird zum Gegenstand, Korrelat von Fragen und Reflexionen. In der Problematisierung geschieht das Aufgehen des Antlitzes ins Phänomen, des Sagens in das Gesagte, das nun der subjektiven Beurteilung unterliegt 11 . »Von der Verantwortung zum Problem – so ist die Reihenfolge. Das Problem stellt sich durch die Nähe selbst, die ansonsten als das schlechthin Unmittelbare problemlos ist. Das außer-ordentliche Engagement des anderen gegenüber dem Dritten appelliert an die Kontrolle, an die Suche nach der Gerechtigkeit, an die Gesellschaft und den Staat, an das Vergleichen und Haben, an das Denken und die Wissenschaft, an den Handel und die Philosophie und, außerhalb der Anarchie, an die Suche nach einem ersten Grund.« 12 Das Prinzip, dem die anderen unterworfen werden, ist die Gerechtigkeit (justice). Die Gerechtigkeit macht den Sinn der Ontologie aus. Sie dient dem Subjekt als Maßstab in seiner Beurteilung der respektiven Ansprüche. Das Subjekt ist nicht mehr in absoluter Passivität vom unsagbaren anderen bewegt, sondern wird selbst Entscheidungsinstanz, der ein Spielraum zur Verfügung steht; es wird Prinzip seines Tuns. Das Subjekt wird zum »Ich, das der Gegenwart, das des Anfangs fähig ist, als Akt der Einsicht und der Freiheit …« 13 . Es wird Bewußtsein. Die Zweideutigkeit des anderen springt über auf das Ich. Wie

AE 200/JS 342. AE 200/JS 343. 11 AE 202/JS 346. 12 AE 205/JS 351. 13 AE 207/JS 354. 9

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der andere zugleich Antlitz und Erscheinung ist, wird auch das Ich ineins Angeklagter und Richter. 47.4 Somit unterstehen auch die Vorstellung und das System, das sich im Vergleich des Unvergleichlichen bildet, einer ethischen Inspiration. Der Sinn der Reflexion, in der das System der Vermittlungen und der Ausgleich zwischen verschiedenen Ansprüchen entsteht, ist die Gerechtigkeit. Sie verdankt sich dem Umstand, daß das Sagen sich nicht mehr nur an den anderen wendet, sondern an den anderen in Gegenwart des Dritten 14 . Aber die ethische Inspiration bleibt nur präsent, wenn die Gerechtigkeit sich nicht als System selbständig macht, sondern sich aus der Nähe der unmittelbaren Verantwortung speist. »Was konkret und empirisch bedeutet, daß die Gerechtigkeit nicht eine über die Massen von Menschen herrschende Legalität ist, der sich eine Technik des ›sozialen Gleichgewichts‹ entnehmen läßt, durch die antagonistische Kräfte harmonisiert werden; es wäre dies eine Rechtfertigung des Staates, der seinen eigenen Notwendigkeiten überlassen bliebe.« 15 Vielmehr bleibt die Ontologie nur solange Gerechtigkeit, als sie zurückbezogen ist auf die Nähe des unvergleichlichen Antlitzes. Das System wird vom Antlitz kritisch in Frage gestellt und kann doch die Unmittelbarkeit des Antlitzes um des Dritten willen negieren. »In der Nähe des anderen bedrängen mich – bis zur Besessenheit – auch all die anderen, die andere sind für den anderen, und schon schreit die Besessenheit nach Gerechtigkeit, verlangt sie Maß und Wissen, ist sie Bewußtsein. Das Antlitz nimmt in Beschlag (obsède) und zeigt sich: zwischen der Transzendenz und der Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit … Der Nächste, der mich in Beschlag nimmt, ist schon Antlitz, ineins vergleichbar und unvergleichbar, einzigartiges Antlitz und Antlitz unter Antlitzen, sichtbar gerade in der Sorge um Gerechtigkeit.« 16 Diese Ambiguität des Antlitzes und der Nähe schützt »das Sein, die Totalität, den Staat, die Politik, die Techniken, die Arbeit … [davor], ihr Gravitationszentrum in sich selbst zu haben« 17 . Die synchrone Sprache verwandelt sich nicht ins Absolute, sondern bleibt bewußt als etwas, das dem Antlitz dient.

14 15 16 17

AE 84 note 2/JS 153. AE 202/JS 346–7. AE 201/JS 344. AE 203/JS 347. A

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47.5 Der Sinn des Systems der Erscheinungen ist die ausgleichende Gerechtigkeit. Aber diese ist immer Gewalt gegen die Einzigkeit des Antlitzes 18. Daher ist gerade der gerechte Staat nicht frei von einem inneren Widerspruch 19 . Nur solange er diesen Widerspruch bewahrt, verfällt er nicht der Dialektik des Seins: Einerseits erkennt er die Unbedingtheit des Nächsten an, den Vorrang dessen, was Lévinas abwechselnd das Begehren 20 , die – unerotische – Liebe 21 oder die Nächstenliebe 22 nennt; andererseits aber bejaht er die Notwendigkeit des Allgemeinen, der Theorie, der Weisheit (sagesse). Da aller Allgemeinheit die Gewalt der Unterdrückung des Einzelnen eigen ist, muß sich diese Gewalt, die gegen das Antlitz im Namen des Dritten geschieht, doch auch wieder um der Verantwortung für das unvergleichliche Antlitz des Nächsten willen in Frage stellen lassen und vor ihm verantworten. Vernunft ist kein Absolutum, sondern hat ihr Maß an den einzelnen Anderen. Die Rücksicht auf den Einzelnen, das Bewußtsein der Unvollkommenheit in Bezug auf ihn, gehört zum liberalen Staat. Daher »hält sich im liberalen Staat die Gerechtigkeit nicht für endgültig« 23 . Sie erkennt sich in ihrem Widerspruch zur Unmittelbarkeit des Einzelnen und sucht diesen Widerspruch dadurch aufzuheben, daß sie das System unaufhörlich in Frage stellt, um es zu verbessern. In der ständigen Verbesserung des vernünftigen Systems sieht Lévinas den Ausdruck für die Einsicht, daß der Gerechtigkeit als System eine Gewalt inhäriert, auf deren Aufhebung es unendlich hinzuarbeiten hat. So wie sich in der Infragestellung des Subjekts der ethische Zugang zum anderen öffnet, so bewahrt auch die politische Vernunft ihren humanen Sinn nur, wenn sie sich im Namen des Einzelnen ihrer Unvollkommenheit und Endlichkeit bewußt bleibt. Eine endgültige Aufhebung des den liberalen Staat bestimmenden Widerspruchs zwischen Vernunft und Widerruf der Vernunft, Allgemeinheit und Einzelheit, ist entgegen der Hegel’schen oder Marx’schen Auffassung unmöglich: »Es gibt keine Lösung des menschlichen Dramas durch eine Veränderung des Regimes. Kein

18 19 20 21 22 23

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Poirié 97. Poirié 97. Désir, AE 195/JS 334. Amour, AE 205 sq./JS 351 ff. Charité, Poirié 97. Poirié 97.

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Heilssystem!« 24 Beide, die Liebe und die Gerechtigkeit, können nicht ineinander aufgelöst werden; zur Gerechtigkeit gehört, daß sie die systemwidrige, weil systemsprengende Liebe nicht ausschließt, wie umgekehrt die Liebe sich dem Vergleich und der Gerechtigkeit stellen muß. Das System der Gerechtigkeit muß auf die diachrone Liebe hin transparent bleiben, so wie im synchronen Gesagten das darin sich verbergende anarchische Sagen durchscheint. Die Suche nach ausgleichender Gerechtigkeit in Gestalt der Allgemeinheit und des Begriffs einerseits und die gleichwohl konstante Rücknahme des Begriffs zugunsten des die Bilder auflösenden anderen ist die Aufgabe der Philosophie. Weisheit und Gerechtigkeit sind daher von der Liebe eingegeben und schöpfen aus ihr ihren Sinn. Die Weisheit, sagt Lévinas, ist »Weisheit der Liebe« 25 . Sie, und nicht die losgelöste Ontologie, macht das Wesen der Philosophie aus. Darum ist die Philosophie nicht nur Liebe zur Weisheit, sondern eine Wissenschaft, die von der Liebe eingegeben ist, die auf die Liebe zurückbezogen bleibt und von ihr eine beständige Unruhe erfährt: Sie ist als »Weisheit der Liebe« »das Maß, das an das Unendliche des Seins-für-den-anderen der Nähe herangetragen wird« 26 . 47.6 Freilich meldet sich am Ende ein Einwand methodologischer Natur, an dem die ganze Argumentation Lévinas zu scheitern droht. Der Einwand besagt, daß sich der Inhalt der Aussage, nämlich das Unendliche, das Jenseits des Seins, und die Bedingungen der Aussage, nämlich die apophantische Rede und die mit ihr gegebenen Bestimmungen, widersprechen und insofern gegenseitig aufheben. Denn indem wir das Unendliche und die Verantwortung zum Thema machen, »vergleichzeitigen wir die Termini, bilden mit ihnen ein System, gebrauchen das Verb sein, machen jede Bedeutung, die doch den Anspruch erhebt, jenseits des Seins zu bedeuten, im Sein fest« 27 . In diesem Punkte ist die ethische Forderung, hinter das Sein zurückzugehen, dem Skeptizismus vergleichbar. Dieser widerspricht sich auf die gleiche Weise, wenn er einerseits behauptet, es gäbe keine sichere Erkenntnis, andererseits aber dieses Urteil selbst für eine 24 25 26 27

Poirié 135. AE 207/JS 353. AE 205/JS 351. AE 213/JS 363. A

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sichere Erkenntnis ausgibt. Wie der Skeptizismus den Logos benutzt, um den Logos anzugreifen, so bedient sich Lévinas der ontologischen Sprache, um ein Jenseits der Ontologie zu behaupten. Man muß zunächst sehen, was gemäß Lévinas mit diesem Argument auf dem Spiel steht. Es geht nicht allein um ein akademisches Problem, etwa die korrekte Form einer Argumentation; vielmehr entscheidet sich am Skeptizismus die Frage, ob überhaupt eine Möglichkeit besteht, aus der Totalität herauszutreten, ob es überhaupt eine Möglichkeit der Transzendenz gibt. Gibt es eine Instanz jenseits der Totalität, von der aus sie kritisierbar ist? Diese Frage hat einen eminent politischen Sinn, den Lévinas andeutet, wenn er darauf hinweist, daß der Zusammenhalt und die Einheit der Strukturen gelegentlich nur mit dem Mittel der politischen Repression gewährleistet gewesen sei 28 . Er erinnert an den »in einem sehr weiten Sinne politischen Charakter eines jeden logischen Rationalismus, [an] das Bündnis der Logik mit der Politik« 29 . Dem gegenüber lenkt Lévinas die Aufmerksamkeit auf den eigentümlichen Umstand, daß der Skeptizismus in verwandelten Formen immer wieder aufgelebt ist, obwohl seine Widerlegung seit langem zum Arsenal des gesunden Menschenverstandes gehört. Allein dieser Umstand läßt die Vermutung zu, daß im Skeptizismus ein Problem berührt ist, das mit den Mitteln der Logik, sei sie formal oder dialektisch, nur unzulänglich gelöst wird. In der Tat macht der Skeptizismus gemäß Lévinas eine Voraussetzung, die von der Logik bestritten wird. Diese Voraussetzung ist die grundsätzliche Diachronie, die sich nicht in Synchronie auflösen läßt. »Der Skeptizismus, der die Rationalität oder die Logik des Wissens durchzieht, ist eine Weigerung, die im Sagen implizit enthaltene Bejahung und die im Gesagten dieser Bejahung ausgedrückte Verneinung zu synchronisieren.« 30 Mit dem Begriff der Diachronie ist ein neuer »Gesichtspunkt« für die Beurteilung des Skeptizismus gewonnen. Die Tradition sieht im Skeptizismus wesentlich das Verhältnis von Bedingung und Bedingtem und beurteilt dieses Verhältnis unter logischem Gesichtspunkt. Der logische Gesichtspunkt setzt Gleichzeitigkeit voraus. Bedingung und Bedingtes sind einander gleichgeordnet und stehen 28 29 30

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AE 217/JS 370. AE 217/JS 370. AE 213/JS 363.

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unter dem Prinzip des Widerspruchs. Für Lévinas hingegen steht das sagende Subjekt außerhalb des Geltungsbereichs des Satzes vom Widerspruch, verhält sich also diachron zu ihm. Die skeptische Aussage ist doppeldeutig, da sie einerseits aus dem Jenseits des Systems kommt, zugleich aber ohne Umstände dem System integriert wird. Ob daher der Skeptizismus sich aufhebt oder nicht, wird zu einer Frage des Standpunktes: Wo für den Standpunkt der Synchronie ein Widerspruch vorliegt, handelt es sich aus dem Gesichtspunkt der Diachronie um eine Transzendenz. Die Zweideutigkeit oder Doppelsinnigkeit des Skeptizismus hat ihre Wurzel in der Doppelsinnigkeit des Jenseits, das als Jenseits nicht Gegenstand einer Aussage werden kann. Diese Zweideutigkeit wurzelt in der Struktur des Augenblicks, der kontinuierlich aus dem Jenseits ins Diesseits des Systems umschlägt. Wird das unsagbare Jenseits zum Gegenstand einer Aussage gemacht, so verliert es seine Jenseitigkeit. Die Doppeldeutigkeit kennzeichnet jeden Versuch, über das Sein und die Dialektik von Sein und Nichtsein hinauszugehen. Sofern jeder solche Versuch sich in eben den Kategorien auszudrücken hat, die er in Frage stellen will, bewegt er sich entweder in einem logischen Zirkel oder fällt in den hermeneutischen Zirkel der Selbstbegründung. Sofern in jedem Versuch dieser Art behauptet wird, es gebe etwas, was den Bereich des Systems und des gegenseitigen Zusammenhanges überschreitet, widerspricht er sich, weil er selbst systematischen Charakter hat und sich mit dem System in systematischer Weise auseinandersetzen muß. Dabei tut die Kritik am Skeptizismus so, »als ließe sich die Verneinung der Möglichkeit des Wahren in die durch diese Verneinung in Frage gestellte Ordnung einfügen; als ginge jede Differenz widerspruchslos in derselben Ordnung auf; während die Möglichkeit der Wahrheit bestreiten doch gerade heißt, diese Einzigkeit der Ordnung und der Ebene bestreiten« 31 . Nicht diese Zweideutigkeit wegzuschaffen, sondern sie zu bewahren ist die Aufgabe der Philosophie. Was aber dieser Argumentation ihre Kraft gibt, ist nicht allein der Nachweis einer Diachronie, sondern die Tatsache, daß die diachrone Zeit als die Dimension der Begegnung mit dem anderen verstanden wird. Viele Denker des 20. Jahrhunderts haben auf den diachronen Charakter der ursprünglichen Zeit aufmerksam gemacht, haben darauf hingewiesen, daß das Wirkliche sich nicht in den be31

AE 213–4/JS 364. A

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grifflichen Ordnungen und Strukturen erschöpft, sondern daß ihnen ein bewegtes und unfaßbares Leben zugrundeliegt. Dazu gehört, neben den Autoren, die wie W. James den »Strom des Bewußtseins« zum Thema machen, in erster Front Bergson mit seiner Theorie des diskursiv nicht erfaßbaren »élan vital«. Zu einer kritischen Instanz aber kann diese Diachronie erst werden, wenn sie als Dimension der Begegnung mit dem Anderen erkannt ist. Die Diachronie als solche bleibt ohnmächtig gegen die Totalität; erst durch den Bezug auf den Anderen wird der Rückgang in die Diachronie zur Transzendenz. Dank der Ambiguität von Diachronie und Synchronie bleibt die ontologische Sprache durchsichtig auf den Anderen, ohne doch den Anderen im Gesagten aufgehen zu lassen. Diese Auflösung des skeptischen Widerspruchs scheint ihr Vorbild an der kantischen Unterscheidung von Analytik und Dialektik zu haben. Aussagen über den Gegenstand der speziellen Metaphysik, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit führen nach Kant in Widersprüche hinein, die im Rahmen der traditionellen Ontologie nicht behoben werden können. Die methodische Umwendung, als die Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« die Transzendentalphilosophie bestimmt, kann zwar nicht den Widerspruch aus der Welt räumen. Dieser ist ein notwendiger Schein. Sie kann aber als den Grund des Widerspruchs die Verwechselung zweier Ebenen deutlich machen, nämlich der Ebene der nicht erkennbaren Dinge an sich und der Ebene der Erscheinungen. Auch in anderer Hinsicht ist die Interpretation der Philosophie Lévinas’ im Lichte der Philosophie Kants lehrreich. Aus ihrer Perspektive gewinnt die Bestimmung der Ontologie als eines nachgeordneten Bereichs an Deutlichkeit und Profil. Die transzendentale Analytik ist ja nichts anderes als die Umformung der traditionellen Ontologie, die Kant in ihre Grenzen weist. Es kann nach alledem nicht Aufgabe der Philosophie sein, sich in die Jenseitigkeit des anderen zu versenken. Die Philosophie müßte auf sich selbst Verzicht tun, sie würde in Sprachlosigkeit aufgehen. Ebenso wenig aber darf die Philosophie sich auf den Bereich der Synchronie und der idealen Begrifflichkeit beschränken und allein aus ihrem Gesichtspunkt argumentieren. Daß sie dies in der bisherigen Geschichte in der Regel getan hat, macht ihren Mangel aus: »Die Geschichte der abendländischen Philosophie ist eine einzige Widerlegung des Skeptizismus gewesen genauso wie auch eine Widerlegung 346

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der Transzendenz.« 32 »Philosophie« dagegen, die die Transzendenz erhalten will, ist »das Bewußtsein vom Zerbrechen des Bewußtseins« 33 . Allerdings läßt sich der Widerspruch zwischen dem Sagen und Gesagten, zwischen Diachronie und Synchronie, auch ganz anders lesen, nämlich nicht als methodisches Problem, sondern als das Unvermögen, gewissen existenziellen Erfahrungen einen angemessenen Ausdruck zu geben. So versteht Elisabeth Weber diesen Widerspruch.34 Die existenzielle Erfahrung des 20. Jahrhunderts schlechthin ist Auschwitz. Die anderen, deren Gedenken das Buch »Jenseits des Seins« gewidmet ist, sind nicht abstrakte andere, sondern die »nächsten Angehörigen unter den Millionen der von den Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Menschen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen Menschen, desselben Antisemitismus.« 35 Ihre Not und ihre Verzweiflung, aber ebenso das Unbegreifliche der tödlichen Maschinerie, widersetzen sich der Darstellung. Jede Übersetzung in die tägliche Sprache und die üblichen Medien ist schon ein Verrat an diesem Unvorstellbaren. Gewiß hat es zu allen Zeiten brutale Gewalt gegeben. Aber Brutalität in diesem Umfang und mit soviel Verachtung zeichnet erst das 20. Jahrhundert aus. Daher blieb es auch dem 20. Jahrhundert vorbehalten, das Unvorstellbare und Unsagbare als einen eigenen vorrationalen Bereich neben der Vernunft zu »entdecken«. Immer durfte man davon ausgehen, daß die Affekte und die Vernunft nicht unvereinbar sind, sondern sich gegenseitig ergänzen oder gar ineinander auflösen lassen. Erst das 20. Jahrhundert macht die entgegengesetzte Erfahrung: Es gibt Geschehnisse von einer emotionalen Wucht, daß darüber die Sprache versagt. Insofern beweist die Scheu, darüber zu reden und zu diskutieren, nicht notwendig den Versuch, die Erinnerung zu verdrängen, sondern ebenso das Gefühl der Unangemessenheit des Ausdrucks und der Angst vor der Banalisierung. Diese Scheu begleitet auch uns noch, obwohl weder Opfer noch Täter. Aber dies ist auch der Grund, warum unsere Rede von der Betroffenheit und aller Ausdruck von Betroffenheit AE 214/JS 366. AE 214/JS 366. 34 Vgl. E. Weber, Nachdenken als Nach-denken, in: Mayer/Hentschel (Hrsg.), Lévinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie. 35 AE V/JS 7. 32 33

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falsch klingt, selbst da, wo sie aufrichtig ist. Gerade weil das Pathos aus unserem Munde immer in Gefahr ist, falsch zu klingen, kann eine sachliche und trockene Sprache geboten sein.

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Am Ende kommen wir auf den Anfang zurück und fragen uns, welches Bild uns Lévinas von Europa zeichnet. Der Ausgang seiner Philosophie ist die Krise der Moderne. Unter der Krise der Moderne verstehen wir den Verlust der Wahrheit. Insofern hat unsere Krise Verwandtschaft mit dem Anfang der Philosophie. Auch am historischen Beginn der Philosophie steht der Zusammenbruch des alten Wissens, das sokratische »Ich weiß, daß ich nichts weiß«. Die alte Philosophie hat diese Krise durch das Denken aufgefangen. Im Denken, in den Ideen, glaubte sie einen neuen Zugang zum Wahren zu haben und sich des Unbedingten versichern zu können. Aber die Reflexion über das Denken und über die rationale Wahrheit, die Reflexion über die Wahrheit der »Wahrheit« hat, spätestens seit Kant, die Endlichkeit und Beschränktheit des Denkens erwiesen. Im Denken organisieren wir unsere Welt; aber es schafft keinen Zugang zum Absoluten. Es ist kein passives Rezipieren einer an sich seienden Wirklichkeit, sondern ein aktives Machen, das in den vitalen Forderungen des Lebens und der sinnlichen Existenz wurzelt. Dieser Verlust der Wahrheit ist es, den wir als die Krise der Moderne bezeichnen, die spätestens seit Hegels Tod offenbar geworden ist. Diese Krise ist freilich nichts, das von außen kommt, sondern Teil der Philosophie selbst und ihr Ergebnis. Es ist die Philosophie selbst, die sich unter Anklage gestellt und vor ihr eigenes Tribunal gezogen hat. So wie Sokrates die alten Mythen zerstörte und damit eine Krise auslöste, so zerstörte die philosophische Kritik den philosophischen Mythos von der Macht des Denkens und erzeugte damit die Krise, die noch immer unsere ist. Die Kritik am Denken, der Nachweis, daß die Idealität der Begriffe und ihre Jenseitigkeit Erzeugnisse des menschlichen Verstandes sind, läßt das menschliche Tun, das materielle, biologische, soziale und historische Leben, das, was man als die Existenz des Menschen bezeichnen kann, in den Mittelpunkt treten. Die Frage ist, ob sich in A

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ihm eine neue Orientierung finden läßt. Die Anthropologie in ihren verschiedenen Facetten tritt in den Vordergrund. Der Mensch selbst soll das Maß für den Menschen geben. Dies ist der Boden, auf dem die verschiedenen weltanschaulichen und politischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrunderts entstehen können. Immer geht es darum, die verlorene Orientierung wiederzugewinnen. Für diesen Versuch bot sich an, den Begriff des Lebens als Leitlinie zu nehmen. Die zentrale Kategorie des Lebens ist der Kampf. Das Denken steht entweder im Dienste dieses Kampfes oder es wird als Intellektualismus verschrieen. »Im Kampf um das Leben und in dem privilegierten Platz, den dieser Begriff sich in der Interpretation des Lebens gesichert hat, vollzieht sich der Bruch mit den Vorstellungen der Tradition.« 1 Indem das Leben seine Maßstäbe aus sich selbst nimmt, indem es auf die Transzendenz zu etwas ganz anderem verzichtet, geschieht mit der Inthronisierung des Lebens als höchster Instanz ein Rückfall in die mythische Existenz. Mythisch ist aus der Sicht des Judentums jede Existenz, die keine Transzendenz kennt. Mythische Existenz, Heidentum und Immanentismus sind nur terminologisch, nicht der Sache nach verschieden. Ein Denken der Immanenz nimmt aus sich selbst die Maßstäbe des Absoluten und Göttlichen; es betreibt die Vergöttlichung der Immanenz und schließt gerade darum alles andere aus sich aus. Der Versuch, die Krise zu lösen, geht in zwei Richtungen: in die Richtung des Totalitarismus und des Individualismus. Der Totalitarismus erklärt ein beschränktes Ganzes zur unbedingten und neuen Wahrheit. Damit schließt er nach Außen alles andere als das Unwahre und Nichtige aus. Er ähnelt der Praxis gewisser primitiver Stämme, die sich selbst als die Menschen bezeichnen und damit alle anderen zu Untermenschen machen. 2 Nach Innen fordert er die bedingungslose Unterwerfung der Individuen unter das Gesetz des Ganzen. Das Private geht im Öffentlichen auf, und jeder Gedanke hat politische Konsequenzen. Das Denken wird zum unmittelbaren Ausdruck der existenziellen Verfassung. Lévinas hat den Nationalsozialismus als Folge des Zusammenbruchs und als Reaktion gegen ihn beschrieben. Das »germanische Ideal des Menschen«, das dem Hitlerismus zugrunde liegt, setzt sich 1 2

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EE 29/VS 25. Vgl. C. Lévi-Strauss, Anthropologie structurale II, 384.

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ab von der idealistischen Tradition, die Beliebigkeit (»jeu«), Gewissenlosigkeit (»manque de conviction«) und Lüge (»mensonge«) nicht verhindert hatte. 3 Der Idealismus, einst die Hoffnung Europas, hatte seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Im Totalitarismus siegt die alte mythische Welt gegen die Vernunft. Aber auch der Individualismus bleibt dem Mythos verhaftet. Er hebt sich vom Totalitarismus ab, sofern er dem Ganzen den Einzelnen entgegensetzt. Die neue Wahrheit ist nicht die Gemeinschaft, sondern das Individuum. Aber das auf die Erfüllung seines Lebens gerichtete Individuum – was immer man unter Leben versteht – ist so transzendenzlos und ausschließlich wie das beschränkte Ganze des Totalitarismus und darin mythisch. In gewisser Weise wiederholt die Moderne die Entstehungssituation der Philosophie in Griechenland. Philosophie beginnt als Krise der Wahrheit, als Krise der alten mythischen Überzeugungen. Athen erlebt einerseits den Versuch, an den alten Mythen festzuhalten und das Denken zu verbieten, gleichzeitig aber die Individualisierung und Atomisierung der Gesellschaft. So wie zu Beginn der Philosophie wird auch unsere Krise ausgelöst durch den Entzug der Wahrheit. Was aber ist der Grund für diesen Entzug der Wahrheit? Indem Lévinas diese Frage stellt und neu beantwortet, gelingt es ihm, die gegenseitige Blockade von Totalitarismus und Individualismus aufzuheben. Der Zusammenbruch des alten mythischen Glaubens hat seinen Grund in der Begegnung mit anderen Lebensweisen und Kulturen. Damit öffnet sich Europa erstmals dem anderen. Im sokratischen Nichtwissen artikuliert sich ein neues Verhältnis zum anderen. Das ist seine positive Seite. Darin liegt der ethische Impuls des europäischen Denkens, das auch immer wieder, gegen interne Widerstände, die eigene Wahrheit in Frage gestellt hat. Daraus speist sich das Interesse an anderen Kulturen, das Europa auszeichnet, ebenso wie die Selbstkritik am Europäozentrismus. Die Gründungssituation der Philosophie und damit Europas ist die Verantwortung für den anderen. Diese Situation ist es, die sich in der Polarität von wahr und gut, von Ontologie und Ethik, von Ganzem und Einzelnem entfaltet. Von der europäischen Zivilisation sagt Lévinas, sie sei eine »Zivilisation, die wesentlich heuchlerisch ist; denn sie setzt gleichzeitig auf das Wahre und das Gute, die sich fortan 3

Vgl. Herne 158. A

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bekämpfen.« 4 Wenn auch der Ausdruck »Heuchelei« (hypocrisie) etwas anderes vermuten läßt, so liegt doch darin keine Kritik. Den oben zitierten Passus hat Lévinas selbst folgendermaßen kommentiert: »Der fundamentale Widerspruch unserer Situation (und vielleicht unserer Grundbedingung), den ich in meinem Buch als Heuchelei bezeichnet habe, besteht in der gleichzeitigen Notwendigkeit einerseits der Hierarchie, die Athen lehrt, und anderseits des abstrakten und gewissermaßen anarchischen ethischen Individualismus, den Jerusalem verkündet, um die Gewalt zu überwinden.« 5 Der Widerspruch des Guten und des Wahren, der Ethik und der Ontologie, wird hier als die Grundbedingung unserer Kultur bezeichnet. Zwar fordern sich beide gegenseitig, stehen aber dennoch in einem Widerspruch. Im Verhältnis zu der Gründungssituation sind Totalitarismus und Individualismus nur sekundäre, reaktive Formen. Das ist sichtbar für den Totalitarismus, der dem Atomismus der Gesellschaft entgegentritt. Das gilt aber auch für den Individualismus. Der andere steht außerhalb des Systems, das uns schützt und Sicherheit gibt. Lévinas spricht von der Witwe und der Waisen. Aber in der Tat nimmt der andere im Laufe der Geschichte viele Gestalten an, etwa die einer Minderheit, des Flüchtlings, des Asylanten. Die Begegnung mit ihnen stellt den Dogmatismus unserer Überzeugungen und die Weisheit unserer Institutionen in Frage. Sie sind der Grund, warum der Einzelne und viele Einzelne ihrer eigenen Gesellschaft kritisch gegenübertreten, sich in gewisser Weise desolidarisieren und die Auflösung der sozialen Einheit herbeiführen. In der Verantwortung für den anderen, der außerhalb des Systems steht, gründet die Unabhängigkeit der Person von dem umgebenden System, ihre Autonomie; für Lévinas ist es die Verantwortung für den Marginal und Außenstehenden, die das System und die Einheit sprengt. Der Egoismus des Einzelnen ist nicht legitimer als der Totalitarismus eines immer beschränkten Ganzen. Dieser Gedanke der Verantwortung für den anderen ist geeignet, die gegenseitige Blockade zwischen Totalitarismus und Individualismus aufzubrechen. Er legitimiert den Aufstand des Einzelnen gegen das System im Namen des Nächsten und fordert doch auch das Allgemeine im Namen des Dritten. Die Verantwortung für den 4 5

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TI XII/TU 24. LC 82.

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Nächsten und die Verantwortung für das Ganze im Namen des Dritten sind untrennbar und fordern einen ständigen gegenseitigen Abgleich. Darin liegt das Wesen des Politischen. Sofern die Verantwortung für den anderen die Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft ist, bilden das Wahre und das Gute, die Ontologie und die Ethik, keine einander ausschließenden Gegensätze mehr, sondern sind aneinander gefesselt: als Antagonisten, die sich gegenseitig bestimmen. Wenn dieses Verhältnis als Krise empfunden wird, dann kommt es nicht darauf an, die Krise durch eine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Seite zu lösen, sondern in ihr standzuhalten. Das ist unsere Hoffnung.

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Verzeichnis der Sigel

AE AS Cahiers DD DEHH DL E EE EI Eigen EJ EN EU HaH HaM Herne HO HS IH JS Jus LC Malka d. Malka fr. Poirié SF SpA TA ThI TI TU Verset VS ZA ZU

Autrement qu’être ou au-delà de l’essence Außer sich (Übersetzung von Hors sujet) Cahiers d’études lévinassiennes De Dieu qui vient à l’idée En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, 2de éd. Difficile liberté De l’évasion De l’existence à l’existant Ethique et infini Eigennamen Etre juif Entre nous Ethik und Unendliches Humanisme de l’autre homme Humanismus des anderen Menschen L’Herne: Chalier/Abensour: Emmanuel Lévinas Heidegger et l’ontologie Hors sujet Les imprévus de l’histoire Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht Jude sein Liberté et commandement S. Malka: Emmanuel Lévinas. Eine Biographie S. Malka: Emmanuel Lévinas. La vie et la trace F. Poirié: Emmanuel Lévinas, qui êtes-vous? Schwierige Freiheit Die Spur des anderen Le temps et l’autre La théorie de l’intuition dans la phénoménologie d’Edmund Husserl Totalité et infini Totalität und Unendlichkeit L’au-delà du verset Vom Sein zum Seienden Die Zeit und der andere Zwischen uns

Andere Sigel Hua Husserliana: Edmund Husserl, Gesammelte Werke HWPh Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie

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Bibliographie

Primrliteratur Die folgende Liste enthält die Buchpublikationen sowie die deutschen Übersetzungen, einzelne an anderen Orten publizierte Aufsätze nur, soweit aus ihnen zitiert wurde. Eine erschöpfende Liste der Primärliteratur findet sich unter der Internetadresse des Institut d’études lévinassiennes, 33, Rue Ramban, 92268 Jerusalem (Israel): www.levinas.co.il Bücher: La théore de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, Paris 1930 De l’évasion, in: Recherches philosophiques V (1935/1936) 373-392; neu herausgegeben, mit einer Einführung und Anmerkungen von Jacques Rolland, Montpellier 1982; zitiert wird nach der Ausgabe von 1982; deutsch: Ausweg aus dem Sein, Hamburg 2005 De l’existence à l’existant, Paris 1947, 2. Aufl. 1984; deutsch: Vom Sein zum Seienden, übersetzt von A. M. Krewani und W. N. Krewani, mit einem Nachwort von W. N. Krewani, Freiburg / München 1997 Le temps et l’autre, in: J. Wahl et al.: Le Choix – le Monde – l’Existence, Grenoble / Paris 1947, 125-196; neu hrsg. Montpellier 1979; deutsch: Die Zeit und der Andere, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von L. Wenzler, Hamburg 1984. Zitiert wird nach der Ausgabe von 1978 und der deutschen Übersetzung En découvrant l’existence avec Husserl er Heidegger, Paris 1949, 2. erweiterte Aufl. 1967; teilweise übersetzt in »Die Spur des Anderen«. Zitiert wird nach der zweiten Auflage und der deutschen Übersetzung, soweit sie vorliegt Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, Den Haag 1961; deutsch: Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von W. N. Krewani, Freiburg / München 1987 Difficile liberté. Essais sur le judaïsme, Paris 1963, 2. durchgesehene und erweiterte Aufl. 1976. Teilweise deutsch: Schwierige Freiheit, übersetzt von E. Moldenhauer, Frankfurt/Main 1992 Quatre lectures talmudiques, Paris 1968; deutsch: Vier Talmud-Lesungen, Frankfurt/Main 2003 Humanisme de l’autre homme, Montpellier 1972; deutsch: Humanismus des anA

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Bibliographie deren Menschen, übersetzt und eingeleitet von L. Wenzler, mit einem Gespräch zwischen E. Lévinas und Chr. v. Wolzogen als Anhang, Hamburg 1989 Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Den Haag 1974; deutsch: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Th. Wiemer, Freiburg / München 1992 Sur Maurice Blanchot, Montpellier 1975; teilweise ins Deutsche übersetzt in »Eigennamen« Noms propres, Montpellier 1976; teilweise ins Deutsche übersetzt in »Eigennamen« und »Außer sich« Du sacré au saint. Cinq nouvelles lectures talmudiques, Paris 1977; deutsch: Vom Sakralen zum Heiligen, übersetzt von F. Miething, Frankfurt/Main 1998 De Dieu qui vient à l’idee, Paris 1982; deutsch: Wenn Gott ins Denken einfällt, übersetzt von Th. Wiemer, Freiburg/München 1985, 2. Aufl. 1988 Ethique et infini. Dialogues avec Philippe Némo, Paris 1982; deutsch: Ethik und Unendliches, Gespräche mit Philip Némo, übersetzt von Dorothea Schmidt, Graz / Wien 1986 L’au-delà du verset. Lectures et discours talmudiques, Paris 1982; deutsch: Jenseits des Buchstabens, übersetzt von F. Miething, Frankfurt/Main 1996 Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von W. N. Krewani, Freiburg / München 1983, 3. Aufl. 1992 Transcendance et intelligibilité, Genf 1984 Hors sujet, Montpellier 1987; teilweise ins Deutsche übersetzt in »Außer sich« A l’heure des nations, Paris 1988; deutsch: Stunde der Nationen. Talmudlektüren, München 1994 Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, übersetzt von F. Miething, München / Wien 1988 (eine Auswahl aus »Noms propres« und »Hors sujet«) Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre, Paris 1991; deutsch: Zwischen uns, aus dem Französischen von F. Miething, München / Wien 1995 De l’oblitération. Entretien avec Françoise Armengaud à propos de l’œuvre de Sosno. Photographies de André Villers, Paris 1990 L’Herne, cahier dirigé par Catherine Chalier et Miguel Abensour: Emmanuel Lévinas, Paris 1991. Enthält neben Kommentaren zum Werk eine Anzahl von bis dahin unveröffentlichten Texten von Lévinas Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie, herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von E Miething, München / Wien 1991; (eine Auswahl aus »Noms propres« und »Hors sujet«) Dieu, la mort et le temps, Paris 1993; deutsch: Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996 Les imprévus de l’histoire, Montpellier 1994; deutsch: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg / München 2005 Liberté et commandement, Montpellier 1994 L’intrigue de l’infini, Paris 1994 Altérité et transcendance, Montpellier 1995 Nouvelles lectures talmudiques, Paris 1996 Ethique comme philosophie première, Paris 1998 Positivité et transcendance, Paris 2000

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Bibliographie

Aufsätze, aus denen zitiert wurde: Fribourg, Husserl et la phénoménologie, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande V (1931) no 43, 402–414 Heidegger et l’ontologie, in: Rev. phil. France et Etrang. 113(1932), 395 – 431 (aufgenommen in DEHH in veränderter und verkürzter Form) Etre juif, in: Cahiers I, 99 – 106, deutsch: Jude sein, in: Jens Mattern (Hrsg.), Ein Bruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung, Berlin 2002, 65–72 En marge d’une enquête: L’érotisme ne ravale pas l’esprit, in: COMBAT vom 30. Juni 1949

Sekundrliteratur zu Lvinas Eine sehr umfangsreiche – allerdings nicht vollständige – Liste an Sekundärliteratur findet sich unter der Internetadresse des Institut d’études lévinassiennes. Cahiers d’études lévinassiennes, Organe de l’Institut d’études lévinassiennes, Jerusalem, Heft I 2002, bisher 4 Hefte Exercices de la patience. Cahiers de philosophie, 1, Paris 1980. (Die erste Nummer dieser in unregelmäßiger Folge erscheinenden Zeitschrift ist Lévinas gewidmet.) Autrement que savoir, Paris 1988. (Abdruck der beiden Eröffnungsreferate des Kolloquiums mit und über E. Lévinas im Centre Sèvres 1986) L’Herne, cahier dirigé par C. Chalier et M. Abensour: Emmanuel Lévinas, Paris 1991 (Enthält neben Texten von Lévinas eine bedeutende Anzahl von Kommentaren, die alle Aspekte des Werks behandeln.) Les Etudes phénoménologiques. Emmanuel Lévinas, tome VI, No 12, Bruxelles 1990 Aeschlimann, Jean-Christophe (éd.) – Répondre d’autrui. Emmanuel Lévinas, Neuchâtel 1989 Awerkamp, Don – Ethics and Politics, New York 1977 Baccarini, Emilio – Lévinas. Soggettività e Infinito, Rom 1985 Bedorf, Thomas – Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, München 2003 Bernasconi, Robert / Simon Critchley (ed.) – Re-reading Lévinas, Bloomington 1991

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Bibliographie Casper, Bernhard – Illéité. Zu einem Schlüssel›Begriff‹ im Werk von E. Lévinas, in: Phil. Jahrbuch 91, 1984 Chalier, Catherine – Figures du féminin. Lecture d’Emmanuel Lévinas, Paris 1982 – La persévérance du mal, Paris 1987 – Lévinas. L’Utopie de l’humain, Paris 1993 Ciaramelli, Fabio – Transcendance et éthique. Essai sur Lévinas, Paris 1989 Ciglia, Francesco Paolo – Un passo fuori dall’uomo. La genesi del pensiero di Lévinas, Milano-Padova 1988 Cohen, Richard (ed.) – Face to Face with Lévinas, New York 1986 – Elevations. The Heith of the God in Rosenzweig and Lévinas, Chicago / London 1994 – Ethics, Exegesis, and Philosophy. Interpretation after Lévinas, Cambridge 2001 Delhom, Pascal – Der Dritte. Lévinas’ Philosophie zwischen Verantwortung und Gerechtigkeit, München 2000 Derrida, Jacques – Violence et métaphysique. Essai sur la pensée d’E. Lévinas, in: ders.: Lécriture et la différence, Paris 1967, 117-228; deutsch: Gewalt und Metaphysik, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M 1975, 121-235 Finkielkraut, Alain – La sagesse de l’amour, Paris 1984; deutsch: Die Liebe der Weisheit, Reinbek 1989 Forthomme, Bertrand – Une philosophie de la transcendance. La métaphysique d’E. Lévinas, Paris 1979 Freyer, Thomas / Richard Schenk (Hrsg.) – Emmanuel Lévinas – Fragen an die Moderne, Wien 1996 Greisch, Jean et Jacques Rolland (éd.) – Emmanuel Lévinas. L’Ethique comme philosophie première, Paris 1993 Gürtler, Sabine – Elementare Ethik, München 2001 Gulbal, François – … et combien de dieux nouveaux. Approches contemporaines II. Emmanuel Lévinas. Le visage d’autrui et la trace de Dieu, Paris 1980 Hayat, Pierre – Emmanuel Lévinas, Ethique et société, Paris 1995 Hauck, Detlef – Fragen nach dem Anderen, Essen 1990 Hendrix, Hans H. (Hrsg.) – Verantwortung für den Anderen und die Frage nach Gott. Zum Werk von E. Lévinas, Aachen 1984 Huizing, Klaas – Das Sein und der Andere, Frankfurt/Main 1988

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Bibliographie Kapust, Antje – Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei Merleau-Ponty und Lévinas, München 1998 Krewani, Wolfgang Nikolaus – Emmanuel Lévinas, Denker des anderen, Freiburg/München 1993 – Der versteinerte Augenblick, Nachwort in: E. Lévinas, Vom Sein zum Seienden – Diachronie und Schöpfung, in: Josef Wohlmuth (Hrsg), Emmanuel Lévinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1998, 43–62 Krochmalnik, Daniel – Emmanuel Lévinas im jüdischen Kontext, in: AZP 1/1996 Laruelle, François – Textes pour E. Lévinas, Paris 1980 Lescouret, Marie-Anne – Emmanuel Lévinas, Paris 1994 Letzkus, Alwin – Dekonstruktion und ethische Passion. Denken des Anderen nach J. Derrida und E. Lévinas, München 2001 Llewelyn, John – Emmanuel Lévinas. The Genealogy of Ethics, New York / London 1995 Libertson, Joseph – Proximity. Lévinas, Blanchot, Bataille and Communication, Den Haag 1982 Malka, Salomon – Emmanuel Lévinas. La vie et la trace, Paris 2002, deutsch: Emmanuel Lévinas. Eine Biographie, übersetzt von F. Miething, München 2003 Mayer, Michael / Hentschel, Markus (Hrsg.) – Lévinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Gießen 1990 Mayer, Michael – Transzendenz und Geschichte. Ein Versuch im Anschluß an Lévinas und seine Erörterung Heideggers, Essen 1995 Mosès, Stéphane – Rosenzweig et Lévinas: Au-delà de la guerre, in: M. Olivetti, Philosophie de la religion entre éthique et ontologie, Padova 1996 Munono Muyember, Bernard – Le regard et le visage. L’altérité chez Sartre et Lévinas, Bern 1991 Peperzak, Adriaan Theodoor – Platonic Transformations. With and after Hegel, Heidegger and Levinas, Lanham 1997 Petrosino, Silvano / Rolland, Jacques – La vérité nomade. Introduction à E. Lévinas, Paris 1984 Plüss, David – Das Messianische. Judentum und Philosophie im Werk Emmanuel Lévinas’, Stuttgart 2001, (Judentum und Christentum 8) Poirié, François – Emmanuel Levinas, qui êtes-vous? Lyon 1987

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Bibliographie Ricœur, Paul – Autrement. Lecture d’Autrement qu’être ou au-delà de l’essence d’Emmanuel Lévinas, Paris 1997 Rolland, Jacques (éd.) – Emmanuel Lévinas, Paris 1984 Sandher, Susanne – Die heimliche Geburt des Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmanuel Lévinas’, Stuttgart 1998 Strasser, Stephan – Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in E. Levinas’ Philosophie, Den Haag 1978 – Emmanuel Lévinas: Ethik als erste Philosophie, in: Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/Main 1983, 218-265 Taureck, Bernhard – Lévinas zur Einführung, Hamburg, 2. Aufl. 1997 Weber, Elisabeth – Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Lévinas’ »Autrement qu’être ou au-delà de l’essence«, Wien 1990 Wiemer, Thomas – Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei E. Lévinas und ihrer Realisierung im philosophischen Diskurs, Freiburg / München 1988 Wörz, Michael – Wirtschaft, Ethik und Moral, Diss. Tübingen 1993 Wohlmuth, Josef (Hrsg.) – Emmanuel Lévinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn / Wien / München / Zürich 1998 Wood, D. C. / Bernasconi, R. (ed.) – The Provocation of Lévinas, Warwick 1986 Wyschogrod, Edith – Emmanuel Lévinas. The Problem of Ethical Metaphysics, Den Haag 1974

Andere Literatur Aristoteles – Metaphysik, griechisch-deutsch, 3. Aufl. Hamburg 1989 – Politik, übers. von Eugen Rolfes, 3. Aufl. Hamburg 1943 – Über die Seele, Darmstadt 1959 Baudelaire, Charles – Œuvres complètes de Charles Baudelaire, Paris 1954 (Bibliothèque de la Pléiade) Biemel, Walter – Gesammelte Schriften, 2 Bde, Stuttgart-Bad Cannstadt 1996 Camus, Albert – Le mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde, Paris 1942, deutsch: Der Mythos von Sisyphus. Versuch über das Absurde, Hamburg 1959

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Bibliographie Cassirer, Ernst – Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde, Darmstadt 1964 Cohen, Hermann – Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1966 Deissler, Alfons und Vögtle, Anton (Hrsg.) – Neue Jerusalemer Bibel, Einheitsübersetzung, Darmstadt 1987 Descartes, René – Œuvres et Lettres, Paris 1953, (Bibliothèque de la Pléiade) Detienne, Marcel – Les maîtres de vérité dans la Grèce archaïque, Paris 1990 Diels, Hermann – Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde, 4. Aufl., Berlin 1922 Durkheim, Emile – Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris 1912; deutsch: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1984 Foucault, Michel – Les mots et les choses, Paris 1966; deutsch: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/ Main 1971 Guttmann, Julius – Die Philosophie des Judentums, München 1933 Habermas, Jürgen – Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main 1985 – Ansprache zum 11. 11. 2004 in Kyoto, abgedruckt in: Neue Zürcher Zeitung vom 11. Dez. 2004 Halter, Marek – Le judaïsme raconté à mes filleuls, Paris 1999; deutsch: Alles beginnt mit Abraham. Das Judentum mit einfachen Worten erzählt, Wien 2001 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich – Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt/Main 1971 Heidegger, Martin – Sein und Zeit, 10. Auflage, Tübingen 1963 – Kant und das Problem der Metaphysik, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1965 – Vom Wesen der Wahrheit, 5. Aufl., Frankfurt/Main 1967 – Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962 – Einleitung in die Philosophie, Frankfurt/Main 1996, Gesamtausgabe Bd. 27 – Platons Lehre von der Wahrheit, 2. Aufl. Bern 1954 – Vorträge und Aufsätze, 4. Aufl., Pfullingen 1978 Homer – Odyssee, griechisch und deutsch, 8. Aufl., München / Zürich 1986 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor Wiesengrund – Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1969 Husserl, Edmund – Logische Untersuchungen, 2 Bde, 5. Aufl. Tübingen 1968 – Cartesianische Meditationen, Hrsg. Stephan Strasser, Den Haag 1950, Husserliana Bd I

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Bibliographie – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Hrsg. Walter Biemel; Den Haag 1950, Husserliana Bd III – Die Krisis der europäischen Wissenschaft und die transzendentale Phänomenologie, Hrsg. Walter Biemel, Den Haag 1954, Husserliana Bd VI – Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893 – 1917), Hrsg. Rudolph Boehm, Den Haag 1966, Husserliana Bd X Janke, Wolfgang – Existenzphilosophie, Berlin-New York 1982 Jaspers, Karl – Einführung in die Philosophie, München 1953 Kant, Immanuel – Kritik der reinen Vernunft, Königsberg 1. Aufl. 1781 (Ausgabe A), 2. Aufl. 1787 (Ausgabe B) Lalande, André – Vocabulaire technique et critique de la philosophie, Paris 1960 Landgrebe, Ludwig – Philosophie der Gegenwart, Berlin 1958 Lange, Nicholas de (Hrsg.) – Illustrierte Geschichte des Judentums, Frankfurt/Main 2000 Lévi-Strauss, Claude – Tristes Tropiques, Paris 1955 – Anthropologie structurale, Paris 1958 – Anthropologie structurale II, Paris 1973 Lévy-Bruhl, Lucien – La mentalité primitive, Paris 1922; deutsch: Die geistige Welt der Primitiven, 1927 Maimonide, Moise – Le guide des égarés, suivi du Traité des huit chapitres, Paris 1979 Mattern, Jens (Hrsg.) – EinBruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung, Berlin 2002 Mattern, Jens – Abendländische Wirklichkeit zwischen »Vaterschaft« und Vatermord und die anamnetische Frage nach dem Verhältnis von Gnosis und Moderne, in: J. Mattern (Hrsg.), EinBruch der Wirklichkeit. Die Realität der Moderne zwischen Säkularisierung und Entsäkularisierung; Berlin 2002, 15–64 Mauss, Marcel – Sociologie et anthropologie, Paris 1950; deutsch: Soziologie und Anthropologie, 2 Bde, München 1978 Mendelssohn, Moses – Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, 1783 Merleau-Ponty, Maurice – Phénoménologie de la perception, Paris 1945; deutsch: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 Munk, Salomon – Mélanges de philosophie juive et arabe, Paris 1988

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Bibliographie Néher, André – L’identité juive, Paris 1989; deutsch: Jüdische Identität, Hamburg 1995 Nestle, Wilhelm – Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940 Platon – Werke in acht Bänden, Griechisch-deutsch, Darmstadt 1970 ff. Plotin – Plotins Schriften, übers. von Richard Harder; 6 Bde, Hamburg 1956 ff. Ritter, Joachim (Hrsg.) – Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971 ff. Rosenzweig, Franz – Hegel und der Staat, 2 Bde. Berlin 1920 – Der Stern der Erlösung, 4. Auflage Den Haag 1976 – Kleinere Schriften, Berlin 1937 Sartre, Jean-Paul – L’Etre et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943; deutsch: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962 – Réflexions sur la question juive, Paris 1946; deutsch: Betrachtungen zur Judenfrage, Zürich 1948 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph – System des transzendentalen Idealismus, in: ders. Schriften von 1799–1801 (Ausgewählte Werke), Darmstadt 1967, 327 ff. Scholem, Gershom – Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 6. Aufl., Frankfurt/Main 1996 Seidengart, Jean (éd.) – Ernst Cassirer – de Marbourg à New York, Paris 1990 Sepp, Hans Rainer (Hrsg.) – Edmund Husserl und die phänomenologische Bewegung, Freiburg / München 1988 Snell, Bruno – Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, 2. erweiterte Aufl., Hamburg 1948 Spinoza, Baruch – Ethik; in: ders., Opera – Werke, lateinisch-deutsch, 2. Bd, Darmstadt 1967 Valéry, Paul – Œuvres, 2 tomes, Paris 1957 und 1960 (Bibliothèque de la Pléiade) Volozhyn, Rabbi Hayyim de – L’Âme de la vie (Nefesh Hahayyim), Préface d’Emmanuel Lévinas, Paris 1986 Zimmermann, Rolf – Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbeek 2005

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Register

Die Hinweise beziehen sich entweder auf die entsprechenden Paragraphen oder auf die Seiten. Sachregister absolut, das Absolute § 46 – A. als Entzug § 36.1 – A. des Antlitzes § 29.5 absurd S. 112, 196, 270 Ästhetizismus § 18.3 Affektivität § 8.9; 13.3; S. 60, 99 f., 159 Akkusativ S. 327 Ambivalenz § 11.2 Amphibologie S. 135 – A. von Sein und Seiendem § 39.1; S. 93 andere, der, das §§ 10.1; 20.1; 22; 29; S. 19 f., 40, 196, 211, 247, 253, 336; s. Gott; Ich – a. als Gegner S. 262 – a. als Seiender § 28.5 – Zweideutigkeit des a. S. 340 Anfang S. 144 f. Angst S. 79 anonym, s. Verantwortung Anstrengung S. 149 Anthropologie § 7 Antlitz § 29; S. 241, 243, 332, 339 Apeiron S. 203, 207, 277 Apologie S. 41; vgl. Rechtfertigung Apophansis S. 302 Apriori, s. Bewußtsein Arbeit § 24; S. 149, 208, 261 Askese S. 268 Asymmetrie § 32.2; s. Denken Atheismus S. 62, 199

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Augenblick S. 166 f., 188; s. Hypostase – der versteinerte A. § 15.4 – Dialektik des A. § 15.2 Ausbruch S. 72 Ausdruck S. 242 Bedeutung – B. des Antlitzes § 29.4 – B. und Horizont § 29.1 – Relativität der B. § 28.4 Bedürfnis § 8.6; S. 152 Begierde S. 152 Begriff S. 99, 170 Besitz § 24 Bewußtsein §§ 14.2; 16.1; 37–41; 47.3; S. 146, 160, 201, 216, 318 f.; s. Hypostase – Apriori des B. § 38 – Identität des B. § 37.4 – Zeit des B. § 37 – Sein und B. § 39 Bibel S. 115 f. Bild; s. Welt; vgl. Kunst – B. und Widerschein § 17.3 Bilderverbot S. 102 Bleibe S. 206 Brüderlichkeit S. 41, 43 Bürgerlich S. 65 Buchstabe S. 219 Chaos S. 113, 115 Chassidismus S. 30 f. Christentum S. 80, 119

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Sachregister cogito S. 229 f. conatus essendi S. 309 contractio Dei, s. Schöpfung Dasein S. 24 f., 83, 158 f.; s. Hypostase Demokratie S. 225 Denken §§ 5 ff.; 30; S. 246 ff., 255; s. Subjekt – Asymmetrie des D. § 30.5 – Leiblichkeit des D. § 30.4 – Passivität des D. § 30.3 – neues D. § 2.1 – D. und Vorstellen § 30.1 Deutschland S. 35 Diachronie S. 285, 312, 320, 328, 344, 347; s. Subjekt Dialektik S. 104, 141, 143; s. Augenblick Differenz – ontologische D. § 11.1 diskret S. 184, 208; s. Zeit Dritte, der § 47.2 Dritte, das – das ausgeschlossene D. S. 103 Echo S. 296 Eine, das S. 337 Einsamkeit § 11.1; S. 178 Einstellung S. 61 Einzigkeit, s. Subjekt Ekel § 13.3; S. 194 f. Ekstase § 11.2; s. Hypostase Elemental S. 203 Emotion S. 124 Empfindung S. 278, 321 – Zweideutigkeit der E. § 43.2 – Zwei Richtungen der E. § 43.4 Endlichkeit §§ 20.1; 24.1; S. 233; s. Subjekt, Lebendig Entfremdung, s. Leib Entsetzen § 13.3 Entzug, s. absolut, Gott, Objektivierung; vgl. auch contractio, Rückzug – E. der Nahrung S. 205 – E. der Welt S. 19 Epoché S. 162 Erlebnis S. 75 f. Erneuerung, s. Tod

Eros § 20.6; S. 287; vgl. Liebe Es-gibt S. 77, 121, 130, 196, 203 Eschatologie S. 287 Ethik S. 43, 313, 335; s. Ontologie; Subjekt – E. und Sprache § 25.1 Ethnologie S. 62 Europa § 6.1; 13.4; S. 15, 49 f., 53, 56, 73, 222, 225 f., 311, 349 ff.; s. Krise Europäozentrismus S. 132 Existenz §§ 2; 2.3; 8.5; 8.7 f.; 9.2; s. Rechtfertigung, Transitivität, Zeit – E. und Intentionalität §§ 8.5; 8.7 – plurale E. § 21.3 Existenzialismus S. 121 Exposition S. 326 Faktizität S. 118 ff. Faulheit S. 149 fleischlich, das Fleischliche S. 277 Form §§ 16.2; S. 235 – Bruch der F. § 18.1 – Form und Materie S. 165 Frage S. 340 Freiheit § 5; S. 50, 114, 271; s. Leib Fruchtbarkeit § 21; S. 286 f. Fundamentalontologie S. 24 Gabe, s. Sagen; Zeichen Gegebene, das S. 152 Gegenstand, s. Vorstellung Gegenwart §§ 9; 37.3; S. 80, 82, 88, 105, 118 ff., 141, 245, 311, 318 f. – bleibende G. § 38.3 Gegner, s. anderer Geld S. 207 Genuß §§ 23; 44.1; S. 148; s. Ich, Zeit Gerechtigkeit § 47; S. 288, 342 f. Germanisches Ideal § 6.5 Gewalt §§ 32.1; 33.3; S. 130, 259 Geworfenheit S. 114, 121 Glück S. 202 Gott, das Göttliche § 46; S. 80, 102, s. interpersonale Ordnung, Name, Schöpfung, Urteil – Name G. § 46.5 – G. als Grund § 46.6

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Register – G. als Zeitentzug § 46.3 – G. und der andere § 46.2 Gottheit – mythische G. S. 206 Grenzsituation S. 124 Griechen S. 223, 226 Grund, s. Gott

– transitive I. § 23.2; S. 248, 250 – nicht objektivierende I. S. 204 interpersonale Ordnung – Gott als Grund der i. O. § 46.6 Intransitivität – I. des Seins S. 138 Ironie, s. Sein

Haskala S. 30 f. Haus S. 206 Heiden, Heidentum § 24.2; S. 33, 119, 311, 329 Horizont S. 294; s. Bedeutung Humanwissenschaften § 7.5 Hypostase §§ 14; 16.1; S. 106 – H. und Augenblick § 15.2 – H. und Bewußtsein §§ 14.2; 16.1 – H. und Dasein § 14.3 – H. und Ekstase § 14.3 – H. und Leben § 14.4 – H. und Substanz § 15.1 – H. und Tod § 20.3 – H. und Welt § 14.3 – H. und Zeit § 15

Jude, Judentum § 3.2; S. 50, 102 f., 110, 117 ff.; s. Transzendenz

Ich §§ 23; 34.1; S. 40, 329 – solipsistisches I. 273 – I. als Sein für den anderen § 34.3 – I. des Genusses S. 334 – Sorge um das I. § 34.2 – Tragik des I. S. 145 – Zweideutigkeit des I. S. 340 Ideal, s. Germanisches Ideal Idealismus § 2.1; S. 22, 35, 51 f., 100 – phänomenologischer I. § 27.8 – platonischer I. § 27.6 – Zusammenbruch des I. S. 82 Idealität § 38.2 Idee, s. unendlich Identität S. 133; s. Bewußtsein Illeität S. 336 Individualismus S. 349 ff. Inkarnation S. 248 Instanz S. 138 Institution S. 271 Intellektualismus S. 56, 99 f. Intentionalität §§ 8.5; 8.7; 16.2; S. 65, 249, 316; s. Existenz

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Kabbala S. 32, 242 Kerygma, § 38.1 Kinästhese S. 249 Kind S. 278 f. Kommunikation S. 95, 326 Korrelation S. 299 – K. von Sagen und Gesagtem S. 301 Kränkung S. 273 Krieg S. 309 – K. und Ethik S. 264 Krise S. 233, s. Vorstellung – K. Europas S. 48 Kunst §§ 18; 40.3; S. 163, 174, 177, 204, 307, 323 Langeweile, vgl. Entsetzen Leben §§ 14.4; 23; 24; 26; S. 27; s. Hypostase Lebendige, das § 23.1 – Endlichkeit des L. § 24.1 Leib, Leiblichkeit S. 57, 111, 175, 203, 236, 257, 314; s. Denken, Sich, Subjekt – L. und Seele S. 109 – L. als Entfremdung § 33.1 – L. als Freiheit § 15.3 Liberalismus S. 50 Licht S. 154 f. Liebe § 35.2; S. 184, 278, 286 f., 342 f.; vgl. Eros List S. 269 Liturgie S. 206 Logos S. 84; s. Sein Malaise S. 71 f. man S. 130

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Sachregister Materie § 17.4; S. 155 f., 207, 277; s. Form, Sich Meinung S. 129 Melancholie § 17.4 Mensch S. 110 Mentalität S. 61 Messias S. 288, 329 Methode § 47.6 Mitnaggdim S. 30 f. Mittelbarkeit § 11.2 modern, Moderne § 18; S. 26, 60, 72 f., 140, 161, 174, 304, 349 ff. Müdigkeit S. 149 Musikalität § 17.6 Mythos § 5.2; S. 61, 84 Nacht S. 125, 186, 277 Nacktheit § 28.4; S. 81, 186 f. – N. des Antlitzes § 29.3 Nächstenliebe S. 288 Nähe § 44; s. Sagen Nahrung, s. Entzug Name, s. Gott Nationalsozialismus § 6; S. 38 f., 48, 175 f. Neuzeit S. 26 Noesis S. 316 Noema S. 316 Nomen S. 64 Nominalismus § 27.7 Objektivierung – O. als Entzug S. 221 Objektivismus – Zeit und Ob. § 8.4 Objektivität S. 237 Ökonomie § 24.3; S. 159 f., 211 Offenbarung S. 28 Ontologie §§ 37–41; S. 42, 300, 306 f., 312, 335, 341; s. Differenz, vgl. Seinsdenken – O. und Transzendenz § 42 – O. als ancilla ethicae § 47.1 Pantheismus S. 34 Partizipation § 7.3; S. 77 Passivität § 20.2; S. 182; s. Denken, Sagen

Person S. 319 f. Phänomenalisierung, s. Welt Phänomenologie §§ 3.3; 8; S. 238, 297, 315; s. Idealismus Phasenverschiebung S. 292 Philosophie, S. 15, 19, 40, 42, 83, 110, 225, 230 f., 289, 300, 340, 343, 346, 349 ff.; s. Vorstellung Pluralismus, s. Existenz – ethischer P. S. 264 – naturaler P. S. 264 Poesie S. 218, 323 – P. de Dinge § 44.2 Politik §§ 31 – 34; 36.4; 47; S. 268, 312 f. Position S. 146 Prinzip S. 245 Profanation § 35.2 Protention S. 294 Psychologismus S. 315 Rechtfertigung S. 41, 271, 275, 286; s. Subjekt; vgl. Apologie – R. der Existenz § 22.1 Reduktion – phänomenologische R. S. 68 f. Relativität, s. Bedeutung Religion S. 206 res cogitans S. 52 Retention S. 291 Ritus S. 102 f., 206 Rückzug; vgl. contractio, Entzug – R. des Weiblichen S. 208 Säkularisierung S. 208 Sagen § 45; s. Subjekt – Passivität des S. § 45.4 – Struktur des S. § 45.5 – S. und Gesagtes S. 308, 347; s. Korrelation – S. als Gabe § 45.3 – S. als Nähe § 45.1 – S. als Verantwortung § 45.2 Scham S. 184, 194 f.; vgl. Ekel Schlaf S. 148 Schlaflosigkeit S. 125, 148 Schmerz § 44.1; s. Zeit schön, das Schöne S. 204, 307

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Register Schöpfung S. 33, 116 – S. als contractio Dei § 24.6; vgl. Zimzum Schrift S. 102, 218 f. Schuld S. 111, 194 f. Schweigen, S. 270; s. Welt Seele S. 49; s. Leib Seiendes §§ 11.1; 14; s. andere, Einsamkeit, Hypostase Sein § 13; S. 76 f., 111, 115, 336; s. Bewußtsein, Intransitivität, Sprache, Subjekt, Topographie, Transitivität, Zeit – Ironie des S. § 41.4 – Topographie des S. § 13.4 – S. und Logos § 40 – S. und Seiendes, s. Amphibologie – S. und Zeit § 12.1; – S. für den anderen, s. Ich – S. ohne Seiendes §§ 11,1; 13.1; 13.3; 13.4; S. 114 – S. als Versuchung S. 128 f. Seinsdenken § 27.9; vgl. Ontologie Seinsfrage § 1; S. 42 Seinsvergessen § 16.4 Selbstbewußtsein S. 201 Shoah § 3.4 Sich – als Leib und Materie § 15.3 Sicht S. 163 f. Sinn § 16.2 Sinnlichkeit S. 203, 257, 305, 321 f.; vgl. Affektivität, Rezeptivität Skeptizismus S. 344 ff. Sohn § 21.2; S. 276 Solipsismus, s. Ich Sorge § 34.2; S. 137 Sprache §§ 25–29; S. 227; s. Ethik – S. des Seins § 40.2 – S. und Sprachraum § 25.4 – S. und Zeit § 25.5 – S. vor der Sprache §§ 29; 30 – S. und Vorstellung §§ 27.1 Sprachraum, s. Sprache Sprachlosigkeit § 26 Spur S. 331 f. Staat S. 312, 340 f. – liberaler S. § 47.5

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Sterblichkeit S. 259 Strukturalismus S. 239 Subjekt, Subjektivität §§ 36.3; 41.1; S. 70, 115, 151, 340; s. Diachronie, Sinnlichkeit, Zeit – Auflösung des S. §§ 7.4; 17.5 – Diachronie des S. § 43.5 – Einzigkeit des S. § 45.6 – Endlichkeit des S. §§ 32; 35.1 – Leiblichkeit des S. § 32.3; S. 305 – Rechtfertigung des S. § 34 – Sagen des S. § 45 – Sein des S. § 30.2 – Sinnlichkeit des S. § 43.1 – Tod des S. § 33 – Zeit des S. §§ 32.4; 43 – denkendes S. § 30 – S. und Ethik, §§ 42–45 Subjektivismus § 41.5; S. 316 Substanz S. 59, 61; s. Hypostase Suffizienz, s. Welt Symmetrie § 32.2 Synchronie S. 80, 285, 320, 347 System S. 341; s. Vernunft Tausch S. 159 Theorie § 11.2 Tod §§ 20; 33.4; s. Subjekt – T. als Erneuerung § 35.4 Tohuwabohu S. 116 Topographie, s. Sein Totalitarismus S. 349 ff. Tragik, s. Ich Transitivität S. 250, 256; s. Intentionalität – T. de Existenz § 8.8 – T. des Seins S. 76 Transsubstantiation § 35.3 Transzendenz §§ 11.2; 12; 19; S. 42, 86, 250, 280; s. Ontologie – jüdischer Begriff der T. § 11.2 – T. und Zeit § 12 Trennung S. 199 Überlebender S. 192 unbewußt S. 149, 160 f. unendlich, Unendlichkeit S. 245 – Idee des U. S. 247

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Sachregister Unmittelbarkeit S. 292; vgl. Mittelbarkeit Unterweisung S. 250 f. Urimpression, S. 291 f. – Zweideutigkeit der U. § 43.3 Ursprung S. 141 f. Urteil – U. Gottes S. 275 Vater § 21.2; S. 80, 120 Verantwortung § 22; S. 145, 245; s. Sagen – anonyme V. § 33.2; S. 196 Verantwortungslosigkeit S. 181 f. Verführung § 33.3; S. 268 Vergangenheit S. 87 f., 331 f. Vergebung S. 50 Vergegenständlichung § 8.2 Vergessen S. 199; s. Seinsvergessen Vernunft S. 342 – System der V. § 33.6 Verstehen S. 78 Vorstellen, Vorstellung §§ 6.2 ff.; 7.2; 8.1 f.; 9.1; 27.2; 28; S. 78 f., 233, 246 f., 255 f., 341; s. Denken, Sprache, Zeit – Zweideutigkeit der V. § 27.3 – V. und Gegenstand §§ 27; 28 – V. und Philosophie § 27.4 – V. als Krise § 27.5 Wache S. 125, 148 Wahl § 13.4; S. 127, 263 Wahrheit S. 15, 298 f. Ware S. 207 Weiblich, Weiblichkeit §§ 20; 21.1; 24; s. Rückzug

– W. als Bedingung der Zeit § 21.1 Welt § 16; S. 113, 186, 197, 294; s. Hypostase – Ende der W. § 17; S. 111 f., 198 – Phänomenalisierung der W. § 28.3 – Suffizienz der Welt § 16.3 – Schweigen der W. § 33.5 – W. als Bild § 17.2 – In-der-Welt-sein S. 136 Werk S. 218, 267 Widerschein, s. Bild Wissenschaft S. 80, 340 Wollust S. 278 Zeichen – Z. als Gabe § 28.6 Zeit §§ 8.3 f.; 10 f.; 15; 17.4; 36.2; S. 276; s. Bewußtsein, Sprache, Subjekt, Transzendenz, Weiblich – diskrete Z. S. 142 – erneuerte Z. § 35 – Z. der Existenz § 9.2 – Z. des Genusses, Z. des Schmerzes § 46.4 – Z. des Subjekts § 43 – Z. der Vorstellung § 9.1 – Z. und das Weibliche § 21.1 – Z. als Sein des Subjekts § 8.3 – Unumkehrbarkeit der Zeit S. 48 Zeitentzug, s. Gott Zimzum § 13.2 Zukunft § 20.4; S. 88, 187 f. Zweideutigkeit, s. anderer, Empfindung, Ich, Urimpression, Vorstellung

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Register

Personenregister Abel S. 41 Aristoteles S. 19, 26, 33, 58, 93, 143, 154, 165, 302, 305, 311 f. Baudelaire, Charles S. 150, 168 f. Bergson, Emile S. 23, 28, 142 f., 147, 183, 188, 346 Berkeley, George S. 318 Biemel, Walter S. 19, 66, 92 Blanchot, Maurice S. 29, 38 Böhm, Rudolf S. 67 Boëthius S. 140 Camus, Albert S. 112 Cassirer, Ernst S. 25 f., 36, 214 Cézanne, Paul S. 164 Chalier, Catherine S. 99, 115 f., 127 f., 219 Cohen, Hermann S. 25 f., 32, 34, 299 Comte, Auguste S. 126 Delacroix, Eugène S. 171 Descartes, René S. 25, 52 f., 75, 140, 142, 190, 225, 228 f., 246 f., 270 f., 271, 318, 330 Dilthey, Wilhelm S. 23 Durkheim, Emile S. 58, 62

James, William S. 345 Janke, Wolfgang 28 Jaspers, Karl S. 124 Kain S. 41 Kant, Immanuel S. 33 f., 40, 61, 67, 82, 101 f., 246, 284 f., 305 f., 318, 346 Kierkegaard, Sören S. 273 f. Koyré, Alexandre S. 38 Kratylos S. 93, 123

Gandillac, Maurice de S. 37 Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch S. 150

Lalande, André S. 78 Landgrebe, Ludwig S. 23 Lescourret, Marie-Anne S. 29 Lévi-Strauss, Claude S. 58, 62 f., 239, 326 Lévinas, Raissa S. 29 Lévy, Benny S. 121 Lévy, Bernhard-Henri S. 219 Lévy-Bruhl, Lucien S. 58 f., 62 f., 68, 77, 79, 84, 99, 256 Lukrez S. 179

Habermas, Jürgen S. 128, 242 Halter, Marek S. 196 Hamelin, Octave S. 143 Hansel, Simone, geb. Lévinas S. 38 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich S. 19, 21, 23, 31, 58, 82, 104, 126, 179, 271, 273 f., 285, 293, 342 Heidegger, Martin §§ 2.2; 13.2; 30.6; 41.3; S. 18, 20, 34, 36 ff., 48, 52, 63 f., 66 f., 69 f., 73, 75, 78 f., 81 ff., 85 f., 92, 95, 104, 108, 113 f., 124, 127, 130,

Maimonides S. 32 f., 99, 242 Malebranche, Nicolas de S. 142 Malka, Salomon S. 37 f., 103 Marx, Karl S. 50, 342 Mattern, Jens 120 Mauss, Marcel S. 326 Mendel, Rabbi M. von Rymanow S. 242 f. Mendelssohn, Moses S. 30 Merleau-Ponty, Maurice §§ 26.2; 30.6; S. 185, 254, 304

Foucault, Michel S. 63 Freud, Sigmund S. 120, 160, 185

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131, 134 ff., 143 f., 146, 181 f., 199, 212, 217, 231 f., 234, 254, 256, 284 f., 297 ff., 306 f., 311 Heraklit S. 84 f., 93, 113, 154 f., 157 ff., 173 f., 178, 185, 301 Hering, Jean S. 35 Hugo, Victor S. 171 Husserl, Edmund S. 19, 26, 34 ff., 50, 61, 63 ff., 74 f., 78, 85, 96, 128 f., 131, 151, 157, 162, 204, 228 f., 234, 238, 249 f., 291, 297, 315 ff.

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Personenregister Moses S. 242 Mosès, Stéphane S. 22, 27

Rolland, Jacques S. 111 Rosenzweig, Franz § 2; S. 28 f., 31 f., 35, 39 ff., 53, 81, 273, 299

Neher, André S. 197 Nietzsche, Friedrich S. 23, 28 Odysseus S. 55, 293 Parmenides § 11.1; S. 18, 69, 84 f., 137, 178 f., 224 Pascal, Blaise S. 179 Peiffer, Gabrielle S. 96 Philon von Alexandrien S. 299 Platon §§ 27,6; 41.2; S. 19, 24, 35, 51 ff., 56, 67, 82, 85, 108, 134, 143, 154, 156, 179, 189, 225, 240 f., 248, 258, 265, 292, 302, 305 ff., 337 Plotin S. 295 Polyphem S. 55 Prometheus S. 207 Ricœur, Paul S. 308, 337 Rimbaud, Arthur S. 150, 168

Sadja S. 32 Sartre, Jean-Paul § 13.2, S. 81, 83, 114 f., 117 f., 122, 130 f., 183, 197, 266, 268 Saussure, Ferdinand de S. 239 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph S. 104 Scholem, Gershom S. 31 f., 242 f. Sokrates S. 18, 240 f., 250 f. Spinoza, Baruch S. 34, 271, 299 Valéry, Paul S. 83, 150, 168, 330 Voloziner (Rabbi Haim von Volozin) S. 329 Weber, Elisabeth S. 347 Waelhens, Alphonse de S. 92 Xenophanes S. 20, 224

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