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German Pages [384] Year 2015
Frauengesundheit
Band 10
Herausgegeben von Beate A. Schücking
Katharina Rost
Wenn ein Kind nicht lebensfähig ist Das Austragen der Schwangerschaft nach infauster pränataler Diagnose – Erfahrungen betroffener Frauen
Mit 7 Abbildungen
V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7122 ISBN 978-3-8471-0373-8 ISBN 978-3-8470-0373-1 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0373-5 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Zugl. Osnabrück, Univ., Diss., 2015 Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort von Dr. Angelica Ensel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort von Prof. Dr. Babette Müller-Rockstroh . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsziel, Ausgangsforschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss . . 1 Schwangerschaft und Pränataldiagnostik im deutschen Kontext 1.1 Die Struktur der Schwangerenvorsorge . . . . . . . . . . . 1.2 Die Verknüpfung von Pränataldiagnostik und Vorsorge . . 1.3 Die pränataldiagnostischen Untersuchungsmethoden . . . 1.3.1 Non-invasive Untersuchungsmethoden . . . . . . . . 1.3.2 Invasive Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . 1.3.3 Ausblick: Neue Testverfahren . . . . . . . . . . . . . 2 Gesetzliche Rahmenbedingungen des Schwangerschaftsabbruchs 3 Die epidemiologische Perspektive: Fehlbildungsraten und Schwangerschaftsabbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Forschungsstand zu positiven Pränataldiagnostikbefunden . . . 4.1 Die Diagnosemitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Entscheidung nach der Diagnosestellung . . . . . . . . 4.3 Exkurs: Der Fokus auf die Schnittstellenproblematik im deutschen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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66 68
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Inhalt
Teil II: Perspektive und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die heuristische Perspektive der Studie – die Konstruktion von Wissen oder Wissenschaft als Konstruktion . . . . . . . . . . . . . 6.1 Konstruktivismus und feministische Standpunkttheorie. Perspektive auf Wissenschaft sowie auf Forscherin und Forschungsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Der Handlungs- und Entscheidungsbegriff: Das Konzept der »Agency«. Perspektive auf Handlung und Selbst . . . . . . . . 6.3 Biografie und Life Course Theory. Perspektive auf das Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Biografie und Life Course Theory : Strukturelle und prozessuale Konzepte einer lebensverlaufsorientierten Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Schwangerschaft als Übergang und Entwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Weiterentwicklung der Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . 8 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Theoretische Grundlagen des qualitativen Ansatzes . . . . . . 8.2 Die Grounded Theory Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Die Entwicklung der Grounded Theory Methodologie und ihre Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Zentrale Merkmale der Grounded Theory Methodologie 8.3 Die Datenerhebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Auswertung der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Die forschungsethischen Dimensionen . . . . . . . . . . . . . 8.6 Gütekriterien zur Bewertung der Studie . . . . . . . . . . . . . Teil III: Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Die Samplezusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Einführung in die Ergebnisdarstellung – das Phasenmodell »Diagnose als Unterbrechung der Statuspassage Schwangerschaft« 10.1 Weg zur Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Vor-Ahnung haben oder ahnungslos sein . . . . . . . 10.1.2 Zugangswege zur Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.3 Betreuungserleben im Zeitraum »Weg zur Diagnose« . 10.1.4 Zeit: Das Warten auf die Diagnose . . . . . . . . . . . 10.1.5 Zwischenfazit der Phase Weg zur Diagnose . . . . . . 10.2 Die Diagnosemitteilung – Der Einschnitt . . . . . . . . . . . 10.2.1 Erleben der Mitteilungssituation . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Dimensionen des Schockerlebens . . . . . . . . . . . .
71 71
72 77 79
79 85 93 95 95 98 99 100 108 112 115 118
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123 123
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Inhalt
10.2.3 Erwartungen an Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . 10.2.4 Betreuungserleben nach der Diagnosemitteilung . . . . 10.2.5 Strategien: Kontrolle erlangen . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.6 Zwischenfazit der Phase »Diagnosemitteilung« . . . . . 10.3 Die Zeit nach der Diagnose als Neuausrichtungsprozess . . . . 10.3.1 Entwicklung einer eigenen Verlaufsprognose und Entscheidungsfindung als Prozess . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung . . . . . 10.3.3 Strategien zur Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . 10.3.4 Partnerschaft im Entscheidungszeitraum . . . . . . . . 10.3.5 Die Phasen des Neuausrichtungsprozesses . . . . . . . . 10.3.5.1 Keine Passung haben . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.5.2 Alternativen eröffnen sich . . . . . . . . . . . . 10.3.5.3 Suchen/Kontextualisieren . . . . . . . . . . . . 10.3.5.4 Stabilisierung, Gefühl der Kontrolle . . . . . . . 10.3.6 Zwischenfazit der Phase »Neuausrichtung« . . . . . . . 10.4 Gestaltung der verbleibenden Zeit – Schwangerschaft nach der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Sich zwischen Sicherheit und Unsicherheit bewegen . . 10.4.2 Umgang mit Zeit finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.3 Orientierung in der Zeit: Von der Planung Sterben und Abschied, Geburt hin zum in der Gegenwart sein . . . . 10.4.4 Bindung gestalten – Beziehungsgestaltung zum Kind . . 10.4.4.1 Die Phasen der Bindung: Entfremdung – Annäherung – Verbundenheit . . . . . . . . . . 10.4.4.2 Aspekte der Bindungsgestaltung . . . . . . . . . 10.4.4.3 Vorziehen des Mutter-Seins: Mutter-Sein im Mutter-Werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.5 Umgang mit Ritualen – die veränderte Statuspassage . . 10.4.5.1 Umgang mit Ritualen, die mit dem individuellen Mutterbild in Zusammenhang stehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.5.2 Umgang mit institutionalisierten Ritualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.6 Interaktion gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.7 Zwischenfazit der Phase »Gestaltung der verbleibenden Schwangerschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Der Übergang: Die Phase »Geburt« . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.1 Der Zeitraum unmittelbar vor der Geburt . . . . . . . . 10.5.2 Das Geburtserleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.3 Zuschreibungen an das Kind . . . . . . . . . . . . . . .
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228 233 237 252 255 255 266 277
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Inhalt
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278 281 281 293 305 306 308
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310 314 316 322 325 325 328
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329 340 342 344 349 353 354 355 357 358
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die verwendeten Transkriptionsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10.5.4 Zwischenfazit der Phase »Geburt« . . . . . . . . . . . 10.6 Begegnung und Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.1 Begegnung mit dem Kind . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.2 Das Kind als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.3 Dem Kind einen Platz in der Welt schaffen wollen . . . 10.6.3.1 Das Kind der Welt zeigen wollen . . . . . . . . 10.6.3.2 Erinnerungen konstruieren . . . . . . . . . . 10.6.3.3 Familie konstruieren – das Kind in die Familie integrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.3.4 Taufe als Abschieds- und Einbindungsritual . 10.6.4 Raum für Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.5 Zwischenfazit der Phase »Begegnung und Abschied« . 11 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Grenzen des methodischen Vorgehens . . . . . . . . . . . . . 11.2 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse . . . . . . 11.2.1 Die Kernkategorie: Zusammenbruch und Neukonstruktion der Statuspassage Schwangerschaft . 11.2.2 Der Weg zur Diagnose als Automatismus . . . . . . . 11.2.3 Diagnosemitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.4 Entscheidungs- und Neuausrichtungsprozess . . . . . 11.2.5 Die verbleibende Schwangerschaft . . . . . . . . . . . 11.2.6 Die Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.7 Begegnung und Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Empfehlungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Danksagung
An vorderster Stelle möchte ich den teilnehmenden Frauen danken, für ihr Vertrauen und die Offenheit, mir Einblick in ihre Erfahrung zu geben. Ohne ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen mit mir zu teilen, hätte diese Studie nicht zustande kommen können, ohne ihre Geschichten, die mich tief berührt haben, wären die Durststrecken während des Dissertationsprozesses für mich nicht zu bewältigen gewesen. Ihnen gilt mein größter Dank. Ich möchte mich ebenso bei meiner Doktormutter Prof. Beate Schücking für die konstruktive und respektvolle wissenschaftliche Begleitung bedanken. Ihr Zutrauen gab mir die Freiheit, die Arbeit im Sinne der Grounded Theory Methodologie kreativ und prozesshaft entwickeln zu können. Auch Barbara KatzRothman, die den Anstoß zu diesem Dissertationsprojekt gegeben hat und eine wichtige Ansprech- und Diskussionspartnerin während dieser Dissertation für mich war, möchte ich danken. Jede wissenschaftliche Arbeit profitiert von Menschen, die über kurze oder längere Zeit daran teilhaben: Den Teilnehmerinnen des Doktorandenkolloquiums für wertvolle Anregungen und hier insbesondere Claudia Berger, auch für die organisatorische Unterstützung. Ohne die großzügige Unterstützung durch das Studienwerk Villigst, das mir finanziell und ideell, vor allem aber auch durch die wertvollen Kontakte zu anderen Mitstipentiaten und -stipendiatinnen eine wertvolle Begleitung und Unterstützung über viele Jahre dieses Forschungsvorhabens war, wäre diese Arbeit schwer schaffbar gewesen. Hier danke ich insbesondere Birgit Behrisch für den anregenden Austausch. Mein besonderer Dank gilt aber den Mitgliedern meiner Arbeitsgruppe Qualitas: Kathrin Aghamiri, Nadin Duetthorn, Kwathar El Quasem, Franziska Günauer, Beate Hilbert, Bianca Hillberg, Fabian Klemmer, Martina Kraml und Christin Münz. Der regelmäßige wöchentliche Austausch mit ihnen, die gemeinsame Arbeit mit der Grounded Theory Methodologie und die Ermutigungen stellten eine unverzichtbare Unterstützung während des Forschungsprozesses für mich dar.
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Danksagung
Für das Lesen der Arbeit und die anregenden Kommentare möchte ich mich bedanken bei Prof. Babette Müller-Rockstroh, Carolin Meuschel und auch Kathrin Blaufuss. Für die Unterstützung zu Beginn dieser Arbeit möchte ich mich außerdem bei Leona E.V. und bei Monika Jaquier herzlich bedanken, bei Prof. Harald Goll für die Möglichkeit des Vorstellens und Diskutierens meiner Ergebnisse. Für das »Mitdenken« und die gemeinsame Schreibauszeit danke ich außerdem Margot Götte-El Fartoukh, die mir während dieser Arbeit zu einer Freundin geworden ist. Manuela Raddatz, Anne Bartke, Johanna Huber, Heike Zwahlen und Gisele Steffen und den vielen anderen Kolleginnen für den Austausch und die Unterstützung. Abschließend danke ich meiner Familie für die emotionale und praktische Unterstützung während dieses zeitintensiven Forschungsprozesses. Es wäre schwer gewesen ohne ihre Geduld und die Freude des gemeinsamen Familienlebens.
Vorwort von Dr. Angelica Ensel
Frauen, die nach vorgeburtlicher Diagnostik erfahren, dass ihr Kind nicht lebensfähig ist, fallen in eine existenzielle Krise. Von einem Moment zum anderen ändert sich ihr Leben dramatisch – alle Bilder, Träume und Fantasien, die sie vom Leben mit ihrem Kind hatten sind hinfällig. Stattdessen müssen sie entscheiden, ob sie die Schwangerschaft abbrechen lassen oder ob sie ihr Kind weitertragen und die Entscheidung über das Ende der Schwangerschaft und den Tod ihres Kindes dem Leben selbst überlassen. Nur wenige Frauen wählen diesen zweiten Weg und lassen sich damit auf eine große Ungewissheit ein. Sie wissen nicht, ob ihr Kind im Mutterleib, kurz nach der Geburt oder erst im Verlauf der ersten Lebensmonate sterben wird. Welche Frauen entscheiden sich für diesen anderen Weg? Wie gestalten sich die Entscheidungsprozesse, welche Schwierigkeiten sind dabei zu bewältigen und welche Ressourcen befähigen die Frauen, ihre Kinder im Spannungsfeld von Geburt und Tod zu tragen? Bisher wissen wir wenig über das Erleben, die Erfahrungen, Motivationen, Kompetenzen und Ressourcen der Betroffenen. Katharina Rost hat ihre Forschung diesen Frauen und ihrem anderen Weg gewidmet. Als Hebamme und Gesundheitswissenschaftlerin erforscht sie die den Entscheidungen zugrundeliegenden inneren Prozesse im Umgang mit der Krise als einen Prozess der Reife und des Wachstums. Mit hohem Einfühlungsvermögen und großer methodischer Sorgfalt geht die Autorin ihren Weg als forschende Pionierin – sowohl in der Begegnung mit den Frauen als auch im Umgang mit dem gewonnenen Material. Anspruchsvoll und in klarer Sprache geschrieben, wird die Arbeit auch für die Lesenden selbst zu einer Reise. Sie haben teil an den Geschichten, Haltungen und Reifeprozessen der Frauen und am Erkenntnisweg der Autorin, die dabei verschiedene qualitative Forschungsansätze miteinander verknüpft. Der eigene professionelle Hintergrund der Forscherin ist dabei Chance und Herausforderung zugleich. Ihre hohe methodische Kompetenz, die anspruchsvolle Wahl der Gütekriterien und nicht zuletzt ihre große Sensibilität, Empathie und Reflexivität ermöglichen der Autorin eine außerordentliche Erkenntnis-
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Vorwort von Dr. Angelica Ensel
tiefe. Das von ihr gefundene Modell der Neuausrichtung ist wegweisend für das Verständnis der Erfahrungswege und inneren Prozesse der Frauen. Gleichzeitig zeigt die Autorin die Defizite der Begleitung auf. Sie gibt maßgebliche Impulse und konkrete Hinweise für die Praxis der begleitenden Berufsgruppen ebenso wie für eine frauengesundheitspolitische Perspektive auf den Umgang mit den Konsequenzen der vorgeburtlichen Diagnostik. Während das Selbstbestimmungsrecht der Frauen auch im Falle eines späten Schwangerschaftsabbruchs nach Feststellung einer schweren Behinderung oder Erkrankung – auch bei Lebensfähigkeit des Kindes – sehr hoch bewertet wird, wird die Fortführung der Schwangerschaft häufig gar nicht als eine mögliche Option dargestellt. Selbstbestimmung zu unterstützen – das zeigt die Arbeit von Katharina Rost – heißt, den Frauen alle Möglichkeiten zu eröffnen und ihnen die notwendige Stärkung und Unterstützung zur Verfügung zu stellen, damit sie tatsächlich ihren eigenen Weg wählen und gehen können. Die Ressourcen und Kompetenzen zur Bewältigung existenzieller Krisen in diesem Bereich der reproduktiven Gesundheit können sich am besten entfalten, wenn die Erfahrungen der Betroffenen auf Resonanz im Bild der Begleitenden treffen. Ein neues Verständnis der Stufen der Reife- und Wachstumsprozesse auf diesem anderen Weg ermöglicht den begleitenden Berufsgruppen, Geburtshilfe im umfassenden Sinne zu leisten: Die Frauen auf ihrem Weg so zu stärken, dass sich in ihnen das entwickelt, was die Theologin Marianne Möst als »Krisenkompetenz Weisheit« bezeichnet. Die wegweisende Arbeit von Katharina Rost hat das Potenzial, diese Kompetenz bei den Frauen und den sie Begleitenden weiterzuentwickeln. Angelica Ensel
Vorwort von Prof. Dr. Babette Müller-Rockstroh
Mit Freude schreibe ich dieses Vorwort zu einem Buch, dessen Fertigstellung ich begleiten durfte. Dieses Buch ist unter vielen Gesichtspunkten besonders lesenswert. Es ist dem Thema Pränataldiagnostik gewidmet und richtet den Blick auf diejenigen Frauen, die im Verlauf der Schwangerschaft die pränataldiagnostische Prognose erhalten, dass ihr Kind nach der Geburt nicht leben wird. Dabei geht es insbesondere um den Einbruch dieser Diagnose in den biographischen Prozess Schwangerschaft/ Mutterwerden. Spannend im Detail, neu und weiterführend an Katharina Rosts Rekonstruktion dieser veränderten Biographien ist vor allen Dingen, wie sie diese Erschütterung analysiert. Die Geschichten von Frauen, die mit der infausten Prognose weiter schwanger gehen, wird in diesem Buch zu einer Linse, durch die das Schwangersein unter diesen besonderen Umständen als eine komplexe Statuspassage sichtbar gemacht wird: die Diagnose der Nichtlebensfähigkeit des Kindes bedeutet nicht den Abbruch, sondern die Veränderung der Laufrichtung des lebensgeschichtlichen, und immer ganz individuellen Ereignisses Eltern zu werden. Dieses Thema ist zwar auch ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Auffassungen und Betreuungskonzepten von Hebammen und Ärzten/Ärztinnen, doch in der Tiefe geht es, wie Katharina Rost sorgfältig herausarbeitet, um die Unmöglichkeit einer geburtshilflichen Praxis, die Frauen mit ihren Bedürfnissen wirklich in den Mittelpunkt der Betreuung zu stellen. Wir sehen in den Geschichten dieser Frauen zwei Seiten einer Entwicklung: auf der einen Seite verfolgen wir, wie Schwangerenbetreuung und Pränataldiagnostik spätesten seitdem Ultraschall zum festen Bestandteil des regulären Vorsorgeschemas geworden und sowohl für die Berufsgruppen als auch für die Schwangeren unmittelbar miteinander verknüpft sind. Die Ausleuchtung und damit Kenntnis des Körperinneren ist untrennbar mit der »Einverleibung« der sozialen Rolle ›Schwangere‹ verbunden, von der erwartet wird, dass sie die vorgesehenen pränatalen Untersuchungen ihres ungeborenen Kindes durchführen lässt. Auf der anderen Seite sehen wir den Untergang der Freiheit in einem Vorgang, bei
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Vorwort von Prof. Dr. Babette Müller-Rockstroh
dem der ›natürliche‹ Entscheidungsausgang schon vorher festzustehen scheint und im Sinne der Zumutbarkeit für die Eltern mit der Diagnose ›Nichtlebensfähigkeit‹ die Indikation für den Abbruch der Schwangerschaft schon mitgereicht wird. Katharina Rost untersucht einen wichtigen Aspekt dieses Konflikts, der ganz aktuell und gleichzeitig wenig öffentlich ist. Ihre Studie ist wichtig, weil sie zu der Erkenntnis anregt, die sich in der Hinwendung zu denjenigen aufdrängt, die mit ihrer Schwangerschaft auch adäquat betreut werden wollen. Das vorliegende Buch schärft den Blick für eine entscheidende Weichenstellung, die in der Schwangerenversorgung normal geworden ist und regt an, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu überdenken und die Dynamik hinter diesem Vorgehen in Augenschein zu nehmen. Dabei richtet die Autorin den Fokus auf eine Gruppe Schwangerer, deren Stimmen bislang noch kaum und im deutschen Raum noch gar nicht Gehör gefunden haben. Es geht um diejenigen Frauen, die nach der pränatalen Diagnose einer infausten Prognose für das Kind nicht den scheinbar selbstverständlichen Weg eines Schwangerschaftsabbruchs gehen sondern die betroffene Schwangerschaft weiterführen. Bewusst nimmt die Autorin Abstand von den festgefügten medizinischen und scheinbar linear miteinander verknüpften Kategorien ›Diagnose‹ – ›Entscheidung‹ und arbeitet empirisch und akribisch die unterschiedlichen Phasen der Entscheidung heraus. Damit stellt sie die Diagnose in einen Neuausrichtungsprozess, der sich in einem prozesshaften Verlauf ausgestaltet. Entscheidend für diese Arbeitsweise ist hier der methodische Ausgangspunkt: das Erleben dieser Erschütterung durch die Frauen selbst – ›von unten heraus‹ – zu verstehen und konsequent einen (selbst)reflektierenden Ansatz zu verfolgen. Dabei beeindruckt nicht nur der erzählte Inhalt sondern auch der sensible Umgang mit den Interviewpartnerinnen. Die Frau als »Expertin in eigener Sache« sprechen zu lassen, nennt die Verfasserin ihre methodischen Grundhaltung, die konstruktivistisches Erkenntnisinteresse und Ansätze aus der Biographie-Forschung aus- und aufarbeitend, das Forschungsergebnis als persönlich subjektiv geprägtes Produkt für beide an der Forschung beteiligten Parteien begreift. Die relativ junge ›Hebammenwissenschaft‹, die sich im Zusammenhang mit der neuen akademischen Qualifizierung von Hebammen als eigenständige Disziplin derzeit begründet, sucht (noch) nach geeigneten Theorien, die Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett als lebensgeschichtliche Ereignisse fassen. Diese Arbeit bietet hier vieles. Sie ist nicht nur ein Meisterstück an narrativer Empathie sondern in der stringenten Umsetzung eines qualitativen Forschungsverständnisses auch ein wichtiges Buch für die akademisch-wissenschaftliche Qualifizierung forschender Hebammen. Am Ende jeder Phasenbeschreibung bündelt Katharina Rost die Aussagen
Vorwort von Prof. Dr. Babette Müller-Rockstroh
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ihrer Interviewpartnerinnen zu Handlungsempfehlungen für die professionellen Begleitpersonen wie etwa Ärzten und Ärztinnen, Hebammen aber auch anderen beteiligten Berufsgruppen. Aus der Dichte der gemeinsam rekonstruierten Erinnerungen ihrer Gesprächspartnerinnen, aus positiv und negativ erlebten Aspekten der Betreuung, sind klare und durchführbare Betreuungsanforderungen entstanden, die für die Helfenden von großer Bedeutung sind. Darüber hinaus können sie aber auch betroffenen Frauen Unterstützung darin geben, ihre Schwangerschaft selbstbestimmt zu gestalten und aktiv nach passenden Betreuungsformen zu suchen. Ich bin ihr sehr dankbar für dieses mutige Buch. Babette Müller-Rockstroh
Einleitung
»Von Anfang an live dabei: Bestaunen Sie die individuellen Gesichtszüge Ihres Kindes bereits vor der Geburt. Die einmalige 3D-Ultraschalltechnik ist für Mutter und Kind absolut ungefährlich und liefert Ihnen bereits während Ihrer Schwangerschaft unvergleichlich fotorealistische und faszinierende Bilder Ihres Kindes. Kosten ca. 110 Euro einschließlich Übersendung per e-mail.«1
Mit diesen Worten wirbt eine Berliner Frauenarztpraxis auf ihrer Internetseite um privat zahlende Schwangere und betont damit den Lifestyle-Aspekt, der für viele Frauen mit den Ultraschalluntersuchungen verbunden ist. Ultraschall wird dabei von vielen Frauen weniger als Diagnoseinstrument gesehen, sondern vielmehr als »Babykino«, das Bindung unterstützt und zusätzlich den normalen Ablauf der Schwangerschaft bestätigt (Tegethoff, 2012; Lalor und Devane, 2007; Renner, 2006; Rost, 2007). 98 % der Schwangeren lassen mindestens eine der drei in den Mutterschaftsrichtlinien empfohlenen Ultraschalluntersuchungen durchführen (Renner, 2006). Während nur 15 % der Schwangeren auf weitere pränataldiagnostische Verfahren verzichten, nehmen mehr als 70 % der Schwangeren darüber hinausgehende zusätzliche Ultraschalluntersuchungen in Anspruch (Renner, 2006, S. 32). Neben dem Ultraschall haben sich auch weitere pränataldiagnostische Methoden in den letzten Jahrzehnten etabliert. Untersuchungen wie die Amniozentese oder das Ersttrimesterscreening auf verschiedene Trisomien werden verstärkt in Anspruch genommen und sind so integraler Bestandteil der normalen Schwangerenvorsorge geworden, mit denen jede schwangere Frau in Berührung kommt, es sei denn, sie entzieht sich der ärztlichen Schwangerenvorsorge komplett. Von ärztlicher Seite wird vielfach argumentiert, diese Untersuchungen dienten auch der Beruhigung der Schwangeren. Dies ist auch als eines der Ziele 1 http://www.gyn-berlin-mitte.de/igel_individuelle_gesundheits_leistung.htm.
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Einleitung
von Pränataldiagnostik aufgeführt (vgl. Bundesärztekammer, 1998). Allerdings hat sich das Erleben von Schwangerschaft durch die Diagnosemöglichkeiten unwiederbringlich verändert (Rapp, 1999, Schindele, 1990, Katz-Rothmann, 1986). So spricht Katz-Rothman (1986) von der »tentative pregnancy«, die manche Frauen bis zum unauffälligen Amniozenteseergebnis nur mehr »auf Probe« eingingen. Dazu kommt die Belastung der Schwangeren durch Wartezeiten auf die jeweiligen Testergebnisse. Tatsächlich erfahren die meisten Frauen durch die Untersuchungen, dass alles in Ordnung sei und sehen auch deshalb die pränataldiagnostischen Methoden als etwas, was ihnen die Normalität der Schwangerschaft versichert (Tegethoff, 2012). Was aber passiert, wenn Schwangere wirklich mit einer Diagnose konfrontiert werden, wenn eben diese antizipierte Normalität nicht bestätigt wird? Durch die Zunahme dieser Verfahren gibt es immer mehr Frauen, die nach einem verdächtigen oder positiven Befund Entscheidungen treffen müssen: zum einen bezogen auf weitere Untersuchungen, aber auch über das Fortsetzen oder den Abbruch der Schwangerschaft. Mein eigenes Forschungsinteresse an der Thematik resultiert aus zwei Erfahrungssträngen. Das sind zum einen meine eigenen Erfahrungen als Hebamme. Darüber hinaus bildet aber auch eine eigene unveröffentlichte Masterthesis zum Diskurs über Pränataldiagnostik den Hintergrund für die vorliegende Studie (Rost, 2007). »Bei Down-Syndrom hat man ja noch eine Wahl.«
Diese Aussage einer Ärztin aus einem Interview im Rahmen meines Masterstudiums brachte mich dazu, über Folgendes nachzudenken: Wenn Frauen bei Down-Syndrom-Diagnosen eine Wahl haben, was haben sie dann bei anderen Diagnosen? Und welche Diagnosen sind es, bei denen Frauen nicht die Wahl haben, bei denen der Entscheidungsausgang bereits mit der Diagnose festzustehen scheint? Ich dachte über meine Erfahrungen während der Hebammenausbildung in den 1990er Jahren an einer großen Universitätsklinik nach, wo in der pränataldiagnostischen Abteilung der Schwangerschaftsabbruch im Anschluss an ein positives Pränataldiagnostikergebnis die Norm darstellte und wir als Schülerinnen die Frauen bei diesen Abbrüchen begleiteten. Ich erinnerte mich an eine Frau, die ein Kind mit Schwerstbehinderung trotz einer solchen schwerwiegenden Diagnose geboren hatte, das dann nach einigen Wochen gestorben war. Diese Frau wurde im allgemeinen Verständnis der Klinik – auch von uns Hebammenschülerinnen – als unverantwortlich handelnd angesehen. Niemand konnte verstehen, warum sie ihrem Kind wissentlich solch ein leidvolles Leben zumuten wollte. In meiner späteren Berufspraxis als freiberufliche Hebamme begleitete ich
Einleitung
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dann ebenfalls Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch, aber auch Frauen, die die Schwangerschaft nach einem pränataldiagnostischen Befund fortgesetzt hatten. Durch diese Erfahrungen veränderte sich mein Blick auf diese Thematik, mein Möglichkeitssinn erweiterte sich. Gleichzeitig erlebte ich, dass in den vergangenen zwanzig Jahren eine Ausdehnung pränataldiagnostischer Verfahren stattfand, weg von den »älteren Risikoschwangeren« hin zur Gruppe aller Schwangeren. Dadurch werden auch Hebammen in der Betreuung von Schwangeren häufiger mit Problemen konfrontiert, die in Verbindung mit pränataldiagnostischen Verfahren stehen. Hier stellt der Umgang mit der Verunsicherung der Frauen einen zentralen Aspekt dar. Im öffentlichen Diskurs und auch in der vorhandenen qualitativen Forschung wird meist nur die Entscheidung für oder gegen das Fortsetzen der Schwangerschaft bei der Diagnose Trisomie 21 diskutiert. Das zeigte sich auch in den Ergebnissen meiner Masterarbeit zum Diskurs über Pränataldiagnostik, in der ich Dialoge in Internetchatrooms zu Untersuchungsmethoden analysierte und im Anschluss daran Interviews mit Frauen mit positivem Pränataldiagnostikbefund und mit Experten führte: In den Dialogen der nicht betroffenen Frauen in den Schwangerschaftsforen ging es vornehmlich um Pränataldiagnostik und Entscheidungen in Bezug auf Trisomie 21. Dies spiegelt sich auch in der Forschung zu diesem Themenbereich in Deutschland wieder. So untersuchte Marion Baldus Frauen, die die Schwangerschaft nach dem Pränataldiagnostikbefund Trisomie 21 weiterführten, wobei sie den Fokus besonders auf die Entscheidungsprozesse legte. Lenhard erforschte die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Umgangs durch betroffene Eltern (Baldus 2006; Lenhard, 2005). Bei der Diagnose Trisomie 21 wird von Abbruchraten von 90 bis 94 % ausgegangen, bei Diagnose infauster Prognosen kann von ähnlich hohen Abbruchraten ausgegangen werden (Eurocat, 2012). Über die Entscheidung für das Weiterführen der Schwangerschaft nach der Diagnose »Nichtlebensfähigkeit« des Kindes gibt es im deutschsprachigen Raum nur Berichte, die von betroffenen Frauen veröffentlicht wurden (Bohg, 2012; Wackermann, 2008; Hinsberger, 2007 u. a.). Qualitative Untersuchungen zum Erleben betroffener Frauen liegen bislang noch nicht vor. Solche Untersuchungen gibt es in anderen Kontexten, wie etwa die irische Untersuchung von Lalor et al. (2009) oder auch die US-Untersuchung von Redlinger-Grosse et al. (2002). Diese Untersuchungsergebnisse sind nur bedingt auf den deutschen Kontext übertragbar, da das Gesundheitssystem anders strukturiert ist oder die legalen Rahmenbedingungen für einen Schwangerschaftsabbruch sich von denen in Deutschland unterscheiden. Andere Untersuchungen wie die von Locock (2005) oder auch Chitty et al. (1996) sind Fall-
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beschreibungen, oder der Sampleumfang umfasst nur wenige Frauen als Teilnehmerinnen. Demnach gibt es einen Bedarf, wissenschaftlich zu erforschen, wie Frauen in Deutschland eine solche Diagnose und die anschließende Schwangerschaft erleben. Die vorliegende Arbeit möchte sich daher dieser Forschungslücke in Deutschland widmen.
Forschungsziel, Ausgangsforschungsfrage Ziel der vorliegenden Studie ist es, die Erfahrungen von Frauen, die sich nach der Diagnose »Nichtlebensfähigkeit des Ungeborenen« zum Weiterführen der Schwangerschaft entscheiden, darzustellen und damit zu einem besseren Verständnis der Bedürfnisse dieser Frauen beizutragen und Impulse für eine bessere Versorgung dieser Frauen zu geben. Daraus ergaben sich zu Beginn der vorliegenden Untersuchung folgende Fragestellungen: 1. Wie erleben die Frauen die pränatale Diagnosestellung einer infausten Prognose und wie kommen sie zu ihrer Entscheidung, die Schwangerschaft weiterzuführen? 2. Welche Aspekte beeinflussen ihr Erleben der Diagnose und der verbleibenden Schwangerschaft? 3. Welche Bedürfnisse und Handlungsstrategien entwickeln sie während des Entscheidungsprozesses und in der Zeit danach? Aus dieser Fragestellung ergibt sich die Wahl eines induktiven Forschungsansatzes. Anhand von problemzentrierten Interviews mit betroffenen Frauen sollen das Erleben und die subjektive Realität der Frauen erforscht werden. Im Forschungsverlauf wurden diese Fragen in einer Pendelbewegung zwischen Datenmaterial, Analyse und theoretischer Literatur immer weiter geschärft. Dabei orientierte ich mich an Flick (2006, S. 77), der empfiehlt, dass die Forscherin eine klare Forschungsfrage formuliert, aber eine offene Haltung für überraschende Erkenntnisse bewahren soll. Um die Leserin/den Leser auf diesem Herleitungsprozess mitnehmen zu können, findet sich in Teil II der Arbeit, im Anschluss an die Darstellung der Forschungslandschaft und der heuristischen Perspektive, die Beschreibung der Weiterentwicklung der Forschungsfragen im Forschungsprozess (siehe Kapitel 5).
Aufbau der Arbeit
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Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. In Teil I erfolgt ein Problemaufriss zum Forschungsbereich, Teil II, Kapitel 6 bis 8 beschreibt die heuristische Perspektive und Methodologie und in Teil III werden schließlich die Ergebnisse dargestellt und diskutiert. Zunächst wird in Kapitel 1 der kontextuelle Rahmen dargestellt, der den Hintergrund für das Erleben der befragten Frauen bildet. Hier werden Studienergebnisse dazu vorgestellt, wie Schwangerschaft in Deutschland stattfindet. Dabei geht es zunächst um die Schwangerenvorsorgestruktur, dann um Aspekte der Pränataldiagnostik und deren Verknüpfung mit der Schwangerenvorsorge. Im Anschluss daran werden in Kapitel 2 die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Richtlinien für Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland aufgezeigt. Zum Abschluss wird in Kapitel 3 der epidemiologische Hintergrund von Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland beschrieben. In Kapitel 4 werden dann Studien dargestellt, die sich mit der Situation befassen, wenn Frauen einen positiven pränataldiagnostischen Befund erhalten. Dabei werden zunächst Studienergebnisse erläutert, die sich mit der Mitteilung des pränataldiagnostischen Diagnosebefundes beschäftigen. Im Anschluss folgen Untersuchungen zu Entscheidungsprozessen nach der Diagnosemitteilung und eine genaue Wiedergabe des Forschungsstands zu Untersuchungen, die sich explizit auf das Fortsetzen von Schwangerschaften nach der pränatalen Diagnose »Nichtlebensfähigkeit« beziehen. Zuletzt wird der Blick noch auf die deutsche Forschung zu dieser Thematik und deren Fokus auf die Schnittstellenproblematik gerichtet. Nach einem Zwischenfazit in Kapitel 5 schließt sich mit Kapitel 6 die Darstellung der heuristischen Perspektive der Studie an, die theoretische Perspektive also, aus der die Methoden gewählt wurden und die vorliegenden Ergebnisse zustande gekommen sind. In Kapitel 7 die Weiterentwicklung der Forschungsfragen herausgearbeitet. Diese bilden die Ausgangslage für das methodische Design der Studie. In Kapitel 8 wird das methodische Vorgehen expliziert. Zunächst werden einführende Grundlagen des qualitativen Ansatzes und der Grounded Theory Methodologie dargelegt und dabei insbesondere Details des in dieser Studie verwendeten Ansatzes der konstruktivistischen, reflexiven Grounded Theory herausgearbeitet. Daran schließt sich die Darstellung des praktischen Forschungsvorgehens an, eine Beschreibung der Datenerhebung und Datenauswertung, eine Darstellung der Gütekriterien und der forschungsethischen Dimensionen der Arbeit. Den Kern der Arbeit bildet Teil III der Arbeit, in dem die Ergebnisse in Form des herausgearbeiteten Prozessmodells dargestellt werden. Zunächst wird ein-
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Einleitung
führend die Zusammensetzung des Samples beschrieben (Kapitel 9). Daran anschließend folgt die Darstellung der Ergebnisse analog zum Phasenverlauf des entwickelten Prozessmodells »Unterbrechung der Statuspassage und Neuausrichtungsprozess« im Kapitel 10. Schritt für Schritt werden die Ergebnisse chronologisch entlang der Phasen dieses Prozessmodells aufgeführt. Die Darstellung beginnt mit der prädiagnostischen Phase »Weg zur Diagnose«, daran schließt sich der »Einschnitt der Diagnosemitteilung« an. Die Phase »Neuausrichtung nach der Diagnose« lässt sich in vier zeitliche Segmente gliedern: keine Passung haben, Alternativen eröffnen sich, Suchen/Kontextualisieren und Stabilisierung. Zudem werden Einflussfaktoren auf die Entscheidung und die Entscheidungstypen ausgearbeitet. Es schließt sich die Phase »Gestaltung der verbleibenden Zeit« an, wobei diese insbesondere den Umgang mit Zeit und die Orientierung in der Zeit fokussiert. Die Phase »Geburt« bildet schließlich das Ende der Statuspassage Schwangerschaft und den Übergang zur letzten Phase des Modells »Begegnung und Abschied«. In dieser Phase wird die Zeit nach der Geburt, das Kennenlernen und Sterben des Kindes oder der Umgang mit einem unerwarteten Überleben des Kindes analysiert. In der Darstellung der Ergebnisse wird immer wieder Bezug zum Interviewmaterial genommen. Am Ende jeder Phasenbeschreibung wird zudem ein Zwischenfazit erhoben. Die an dieser Stelle ausgearbeiteten Beispiele positiv erlebter Betreuungssituationen, die als Beispiele für Good Practice angesehen werden können, bilden die Basis für die Praxisimplikationen am Ende der Arbeit. In Kapitel 11 werden die Ergebnisse schließlich zusammengefasst, mit den Forschungsfragen sowie anderen Forschungsarbeiten in Beziehung gesetzt und Praxisempfehlungen erarbeitet. Zusätzlich erfolgt eine Diskussion der Geltungsbeschränkung der Studie. Die Empfehlungen für weiterführende Forschung sind im Ausblick dargestellt. Das Fazit in Kapitel 12 bildet den Abschluss der Arbeit.
Teil I: Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
Im Zentrum dieser Studie steht die Frage, wie die Frauen den Einbruch der pränatalen Diagnosestellung einer infausten Behinderung des ungeborenen Kindes in den Schwangerschaftsverlauf erleben. Im ersten Teil dieser Arbeit soll deshalb in den folgenden Kapiteln die der Kontext aufgezeigt werden, innerhalb dessen die in dieser Studie befragten Frauen diese Erfahrung erleben.
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Schwangerschaft und Pränataldiagnostik im deutschen Kontext
1.1
Die Struktur der Schwangerenvorsorge
In der Versorgungsstruktur in Deutschland steht die ärztliche Betreuung im Zentrum der Schwangerenvorsorge und Geburtshilfe.2 Die meisten schwangeren Frauen lassen die Schwangerschaftsvorsorgen bei einer niedergelassenen Gynäkologin oder einem Gynäkologen durchführen, manche Schwangeren werden begleitend oder intermittierend durch eine Hebamme betreut. Nur sehr wenige Frauen suchen für die Schwangerenvorsorge ausschließlich oder vornehmlich eine Hebamme auf (vgl. Feldhaus-Plumin, 2005). So ist es verständlich, dass die Ärztin oder der Arzt von vielen Schwangeren als die wichtigste Informationsquelle während der Schwangerschaft gesehen wird und ärztlichen Aussagen zu Untersuchungsmethoden ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Diese prägen die individuellen Bedeutungszuschreibungen der Frauen, die Entscheidungen für oder gegen Untersuchungsmethoden (Renner, 2006). 2 Dies findet beispielsweise darin Ausdruck, dass die Mutterschaftsrichtlinien, also die Richtlinien, welcheUntersuchungen in der Schwangerschaftsvorsorge erfolgen sollen, in einem gemeinsamen Ausschuss von Krankenkassen und Ärzten erstellt werden – Hebammen als weitere zur Durchführung von Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen befugte Berufsgruppe sind nicht involviert (Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, 1985, 2013).
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Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
Die ärztliche Schwangerenvorsorge wird über die Mutterschaftsrichtlinien geregelt, in denen u. a. der Katalog zur Bestimmung einer Risikoschwangerschaft festgeschrieben ist. Sie definieren aber auch, zu welchem Zeitpunkt welche Untersuchungen durchgeführt werden sollen und geben so der Schwangerschaftsvorsorge eine zeitliche Struktur, legen den Rhythmus der Vorsorgeuntersuchungen und die Zeitfenstern für Untersuchungszeitpunkte fest. Fragmentierung versus Kontinuität in der Betreuung Von vielen Autorinnen wird die Fragmentierung der Betreuung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett kritisiert, d. h. die Tatsache, dass die wenigsten Frauen kontinuierlich von einem Arzt bzw. einer Ärztin oder einer Hebamme oder einem Team in allen diesen Phasen betreut werden (SaynWittgenstein, 2007). Stattdessen findet Schwangerschaft für die meisten Frauen bei unterschiedlichen Akteuren statt: Die Schwangerenvorsorgeuntersuchungen übernimmt die niedergelassene Gynäkologin bzw. der niedergelassene Gynäkologe, pränataldiagnostische Untersuchungen erfolgen in pränataldiagnostischen Zentren, die Geburt findet in der Klinik statt, wo häufig Hebamme und Ärztin bzw. Arzt vorher nicht bekannt sind. Die Betreuung im häuslichen Wochenbett wird von freiberuflichen Hebammen erbracht, manchmal sind diese aus der Schwangerschaft oder durch die Geburtsbegleitung bekannt, häufig jedoch nicht. Viele Autorinnen und Autoren sehen aber gerade die Kontinuität in der Betreuung als zentrale Voraussetzung für das Gelingen einer nutzerinnenorientierten Versorgung (Friedrich et al., 2008; Mozygemba, 2011; Sayn-Wittgenstein, 2007). So wird in verschiedenen Studien eine kontinuierliche Betreuung durch die gesamte Lebensphase Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett mit einer geringeren Rate an medizinischen Interventionen, besseren kindlichen und mütterlichen Outcomes und einer höheren Zufriedenheit der Frauen in Zusammenhang gebracht (vgl. Hodnett, 2008; Rowley et al., 1995). Sayn-Wittgenstein (2007) sieht dabei gerade die Potenziale der Hebammenbetreuung, die eine wirkliche Kontinuität der Betreuung in der Lebensphase Mutterwerden erlauben könnte, ungenutzt und plädiert für ein Modell der Betreuung durch Hebammen, das angelegt ist als »Betreuungsbogen« und von Familienplanung über Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bis hinein in die Stillzeit reicht (Sayn-Wittgenstein, 2007, S. 24). Neben der Kontinuität, die in einer solchen Begleitung gegeben ist, sieht Sayn-Wittgenstein (2007) gerade auch im aufsuchenden und individuellen Charakter der Betreuung ein besonderes Potenzial in Bezug auf Kunden- und Gemeindebezogenheit (ebd., S. 23).
Schwangerschaft und Pränataldiagnostik im deutschen Kontext
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Technisierung von Schwangerschaft und Geburt Schwangerschaft und Geburt finden heute unter anderen Bedingungen statt als noch vor einer Generation, und die Rahmenbedingungen unterliegen weiterhin einem ständigen Wandel, sind stetigem technischen Fortschritt unterworfen. Der Kontext, in dem schwangere Frauen sich wahrnehmen, ist geprägt durch den technischen Umgang mit Schwangerschaft, geprägt vom Verständnis von Schwangerschaft und Geburt als Risikozustand und dem gleichzeitigen Glauben an die Machbarkeit der Medizin (vgl. Schindele, 2002). Von vielen Autorinnen wird aber gerade die zunehmende Technisierung und Medikalisierung des Lebensabschnitts Schwangerschaft und Geburt kritisiert (vgl. Brockmann und Reichard, 2000; Davis-Floyd, 1992; Schindele 1990, 2002; Sayn-Wittgenstein, 2007; Schwarz und Schücking, 2004). Diese Technisierung zeigt sich bezogen auf die Geburt in steigenden Kaiserschnittraten: mittlerweile finden mehr als 30 % der Geburten als Kaiserschnitt statt (vgl. Kolip et al., 2012; Statistisches Bundesamt, 2012b). Auch die Raten anderer peripartaler Interventionen wie die medikamentöse Geburtseinleitung oder die Verwendung der Periduralanästhesie zur Geburtsschmerzbehandlung haben stark zugenommen; so belegt etwa die retrospektive Untersuchung von Geburten in Niedersachsen in den Jahren 1984 – 1999, dass nur ein sehr geringer Anteil von Frauen gänzlich ohne medizinische Interventionen gebaren (vgl. Schwarz, 2006; Schwarz und Schücking, 2008). Aber nicht nur für die Geburt, sondern gerade auch für die Zeit der Schwangerschaft wird eine solche zunehmende Technisierung beschrieben. Seit Einführung der Mutterschaftsrichtlinien 1967 sind immer neue Untersuchungen in den Untersuchungskatalog aufgenommen worden und der Risikokatalog wurde von anfänglich 17 (1975) auf 52 mögliche Risiken erhöht (vgl. Baumgärtner und Stahl, 2005). Gerade diese zunehmende Risikoorientierung der Schwangerenvorsorge wird als eine der Ursachen für die zunehmende Technisierung gesehen. Je nach Region werden in Deutschland bis zu 70 % der Schwangeren als Risikoschwangere kategorisiert (Erikson, 2003). Folgen sind häufigere Vorsorgeuntersuchungen und engmaschigere Kontrollen sowie mehr Technikeinsatz (Schwarz und Schücking, 2006). Eine weitere Folge einer solchen Risikokategorisierung ist die Beunruhigung der Schwangeren. Eine Beunruhigung, welche wiederum nur durch weitere Untersuchungen »behoben« werden kann: Eine »Angst-Kontroll-Spirale« und der Verlust des Vertrauens in die eigene Körperwahrnehmung sind die Konsequenzen (vgl. Brockmann und Reichhard, 2000, S. 71; Baumgärtner und Stahl, 2005). Auch Stahl und Hundley (2003) stellen in einer Studie zum Zusammenhang von Risikozuschreibung und psychischem Wohlbefinden von Schwangeren einen Zusammenhang fest, wobei die Kategorisierung als Risikoschwangerschaft eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens zur Folge hat.
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Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
Interessant erscheint, dass das subjektive Wohlbefinden Schwangerer dabei weniger von mit der Schwangerschaft einhergehenden Körperveränderungen und Beschwerden beeinträchtigt zu werden scheint – also wirklich leiblich erfahrbaren Beeinträchtigungen – als vielmehr von Ängsten und Befürchtungen, die in Zusammenhang auch mit einer solchen Risikoorientierung stehen können (Ayerle et al., 2004). Erikson (2008) stellt die »Überproduktion« von Risiko als eine Folge der technischen Überversorgung fest und bezieht sich dabei insbesondere auf die Ergebnisse ihrer Studie, in der sich zeigte, dass viele der schwangeren Frauen bei jeder Vorsorgeuntersuchung einen Ultraschall erhielten. Erikson (2008) resümiert, dass dieses ständige Suchen nach Risiken schlussendlich auch Risiken erzeuge (Erikson, 2008, S. 46; vgl. Brockmann und Reichard, 2000, S. 69–71). Einen weiteren Kritikpunkt stellt zudem die Tatsache dar, dass der deutsche Risikokatalog eine willkürliche Einordnung der Schwangeren nach sich ziehe, was sich beispielsweise in den regionalen Unterschieden in Bezug auf die Raten von Risikoschwangeren ausdrückt, die nicht auf soziodemografische Ursachen zurückzuführen sind (vgl. Erikson, 2003; Stahl und Hundley, 2003). Auch SaynWittgenstein (2007) kritisiert die Risikokataloganwendung in Deutschland als undifferenziert und warnt, dass hierdurch zwar einerseits die Gesamtgruppe der Schwangeren überversorgt werde, andererseits aber gerade besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Migrantinnen mit schlechten Deutschkenntnissen nicht ausreichend versorgt würden (vgl. Sayn-Wittgenstein, 2007, S. 20).
1.2
Die Verknüpfung von Pränataldiagnostik und Vorsorge
Schwangerenvorsorge und Pränataldiagnostik sind in der Praxis eng miteinander verknüpft und ihre Inhalte lassen sich nicht nur für die schwangeren Frauen schwer voneinander abgrenzen. In der vorliegenden Arbeit sollen unter Pränataldiagnostik all diejenigen Untersuchungsverfahren verstanden werden, die auf eine Untersuchung des Ungeborenen ausgerichtet sind. Nach dieser Definition fallen auch diejenigen Ultraschalluntersuchungen unter die pränataldiagnostischen Verfahren, die Bestandteil der regulären ärztlichen Schwangerenvorsorge sind3. Eine solch weite Definition erscheint deshalb als angemessen, 3 Welche Untersuchungen unter Pränataldiagnostik definiert werden, wird unterschiedlich gehandhabt: Während die meisten Autorinnen wie Baldus (2006), Friedrich et al. (1998) und Feldhaus-Plumin (2005) Ultraschall aufgrund seiner Ausrichtung auf den Feten als pränataldiagnostische Untersuchungsmethode klassifizieren, werden in der statistischen Erhebung der BZgA-Studie von 2006 nur diejenigen Ultraschalluntersuchungen, die über die drei in den Mutterschaftsrichtlinien festgeschriebenen hinausgehen, der Pränataldiagnostik zugerechnet
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da mittlerweile ein Großteil der Befunde und der Verdachtsbefunde, die zu weiteren invasiven Tests wie einer Amniozentese führen, mit Ultraschall erhoben werden; der Ultraschall wird deshalb von vielen Autoren wie etwa Abramsky als ›most powerful tool in the field of prenatal scanning‹ angesehen (Abramsky, 2003, S. 71). Seit der Aufnahme von drei Ultraschalluntersuchungen – mittlerweile werden diese »Basisultraschalluntersuchungen« genannt – in den Mutterschaftsrichtlinienkatalog 1995 kann die Pränataldiagnostik als fester Bestandteil des regulären Vorsorgeschemas gesehen werden, als standardmäßig ins Vorsorgeschema integriertes pränataldiagnostisches Verfahren, das von einem Großteil der Schwangeren in Anspruch genommen wird (Renner, 2006). Diese Integration pränataldiagnostischer Verfahren wird hingegen auch kritisiert als Veränderung der Schwangerenvorsorge, weg von einer Versorgung, die primär an der Gesundheit der Mutter interessiert ist, hin zu einer Versorgung, die primär auf das systematische Suchen nach kindlichen Fehlbildungen ausgerichtet ist (Schindele, 1994). Nicht mehr die Schwangere stehe somit im Mittelpunkt des Interesses, sondern das Kind; dieses werde zum Patienten (vgl. Duden, 1994). Dieser veränderte Blick von außen hat aber auch Auswirkungen auf das Erleben von Schwangerschaft durch die Frauen selbst. So sieht Duden (1994) beispielsweise eine Veränderung der Wahrnehmung des ungeborenen Kindes: War das Ungeborene in der Zeit vor dem Ultraschall in den ersten Schwangerschaftsmonaten zunächst nur ein imaginiert fassbares und erst im Schwangerschaftsverlauf ein haptisch wahrgenommenes Wesen, das im Körper der Mutter verborgen und geborgen war, so ist es heute, da Ultraschall häufig bereits zur Feststellung einer Schwangerschaft eingesetzt wird, schon in der Frühschwangerschaft ein visuell wahrgenommenes Kind, sichtbar auf dem Bildschirm. Diese visuelle Erfassung, das Sichtbarwerden des Ungeborenen veränderte laut Duden (1994) nicht nur die medizinischen Rahmenbedingungen und den Umgang des Umfelds mit Schwangeren, sondern hat darüber hinaus auch das Schwangersein selbst unwiederbringlich verändert. Denn sehr früh werde das Ungeborene in gewisser Weise als losgelöst vom Körper der Mutter gesehen, als vollständiges und individuelles Wesen (vgl. Duden, 1994; Friedrich et al., 1998). Darüber hinaus werde aber auch der Charakter des Schwangerseins selbst verändert: von einem somatischen Zustand des »Schwanger-Gehens«, des guter Hoffnung-Seins und einem Ausrichtungsprozess auf das Kind hin weg zu einer Schwangerschaft, in der der besorgte Blick pränataler Diagnostik auf das Kind (Renner, 2006). Renner (2006) stellt dabei allerdings nicht die Definition pränataldiagnostischer Verfahren in Frage. Vielmehr begründet sie ihr Vorgehen mit der forschungspragmatischen Überlegung, dass aufgrund der hohen Nutzerinnenzahlen von Ultraschalluntersuchungen zur Verdeutlichung der Pränataldiagnostischen Nutzung nur diejenigen Untersuchungen erfasst werden sollten, die über die drei Regeluntersuchungen hinausgehen.
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Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
gerichtet ist und »Prävention« betrieben wird (Duden et al., 2002). Nicht länger die Schwangere selbst ist die Expertin für das, was in ihrem Körper passiert, sondern der Expertenblick von außen gibt die Definitionen vor: »Es gibt noch – wenn auch immer seltener – Ärzte, die den leibhaftigen Sinn und die Deutung der Frau anerkennen, die ihr Raum und Zeit lassen, mit einem Kind guter Hoffnung zu werden; andererseits scheint die Ungewissheit um den Ausgang in der Geburt, die jeder Schwangerschaft inhärent und unvermeidbar ist, in der Spätmoderne so untragbar, dass statt der Mole heute ein fiktives Symbol dem erhofften Kind gegenübersteht, ein Monster, dessen Beseitigung nach Chromosomenzählung, Genprüfung, Ultraschallvisualisierung zu einer informierten Entscheidung geworden ist.« (Duden, 2002, S. 47–48)
Zielsetzung Angstabbau durch Pränataldiagnostik Die Bundesärztekammer gibt als eine der Zielsetzungen der Pränataldiagnostik den »Abbau und die Objektivierung von Befürchtungen und Sorgen« der Schwangeren an (Bundesärztekammer, 1998). Die Schwangeren sollen durch unauffällige Befunde beruhigt werden, der normale Verlauf der Schwangerschaft und die normgerechte Entwicklung des Feten bestätigt werden. Dass diese Zielsetzung, also ein Angstabbau und die Beruhigung von Schwangeren, durch Pränataldiagnostik erreicht werden kann, zweifeln Autoren wie Petersen und Jahn (2008) jedoch an. Sie statuieren, dass gerade die hohe Anzahl von Verdachtsbefunden nach Screeninguntersuchungen eher zu einer weiteren Beunruhigung der Schwangeren beitrage. Interessant erscheint unter diesem Blickwinkel die sogenannte »Angstindikation«, die sowohl für Pränataldiagnostikverfahren als auch für den »Wunschkaiserschnitt« Anwendung finden kann. Auf den ersten Blick scheint dies dem Wunsch der Frauen nach Sicherheit nachzukommen, gar ein Ausdruck von »Selbstbestimmung« zu sein – ein Wunsch nach Interventionen, der sich aber, wie einige Autorinnen argumentieren, ohne die Verunsicherung im Vorfeld nicht entwickelt hätte (vgl. Lutz und Kolip, 2006). In Bezug auf den Wunsch nach einem Kaiserschnitt deuten Studien wie die schwedische Untersuchung von Hildingsson et al. (2002) auf eine Verknüpfung verschiedener Faktoren hin, wie eine traumatisierende vorangegangene Geburtserfahrung, Depressionen und Ängstlichkeit. Aufgrund dieser Ergebnisse stellen die Autorinnen den selbstbestimmten Charakter einer solchen Entscheidung für einen operativen Eingriff infrage (Hildingsson et al., 2002). Auch andere Autorinnen wie etwa Baumgärtner und Schach (2010, S. 117) plädieren dafür, den Wunsch nach einem Kaiserschnitt von Schwangeren differenziert zu betrachten und verweisen auf Bewley und Cockburn (2002), die es sogar als unethisch ansehen, wenn bei dem Wunsch nach einem Kaiserschnitt nicht eine unabhängige Beratung außerhalb des Vorsorgesettings angeboten werde. Bewley und Cockburn (2002) argu-
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mentieren weiterhin, dass durch die Intervention Kaiserschnitt eine Interventionsspirale gerade auch für die Folgeschwangerschaften losgetreten werde, da wiederum Frauen nach einem Kaiserschnitt automatisch als Risikoschwangere kategorisiert werden (Bewley und Cockburn, 2002). In einer aktuellen Erhebung, die die großen regionalen Unterschiede in Bezug auf Kaiserschnittraten in den Fokus nimmt, verweisen Kolip et al. (2012) auf die heterogene Situation in Deutschland und auf Eingriffsraten, die je nach Region zwischen 20 und 45 % variieren (Kolip et al., 2012). Als Gründe für die regional hohen Raten sehen die Autorinnen ein komplexes Geflecht von Ursachen: Neben organisatorischen Motiven wie der besseren Planbarkeit von Geburten etwa in Belegkrankenhäusern geben sie auch mangelnde Erfahrung von Gynäkologen und Gynäkologinnen mit physiologischen Geburtsverläufen als Ursachen für die hohe Zahl an Kaiserschnitten an. Die Angst vor möglichen Geburtsschäden mit worst caseSzenarien im Kopf und das Gefühl, durch eine operative Entbindung die Situation kontrollieren zu können, übertrage sich auf die Schwangeren und führe letztendlich zum einvernehmlichen Wunsch von Arzt und Schwangerer nach einer Schnittentbindung (Kolip et al., 2012). Auch für pränataldiagnostische Untersuchungen verweisen Autorinnen wie Katz-Rothman (1986) darauf, dass der Bedarf der Schwangeren nach Bestätigung der Normalität erst durch eine vorangehende Verunsicherung konstruiert werde. Zudem machen Risikokataloge, nicht-invasive Screeninguntersuchungen und die Festschreibung von drei Ultraschalluntersuchungen in den Mutterschaftsrichtlinien technische Untersuchungsverfahren zu einem niedrigschwelligen Angebot für alle Schwangeren. Die Ängste der Gynäkologinnen oder Gynäkologen vor juristischen Konsequenzen beim Übersehen von kindlichen Fehlbildungen bilden zusätzlich den Hintergrund der Empfehlung für pränataldiagnostische Untersuchungen (Riedel, 2003). Ökonomische Interessen: Die Schwangere als Kundin Neben diesen juristischen Beweggründen spielen auch ökonomische Beweggründe eine wichtige Rolle für die hohe Zahl pränataldiagnostischer Verfahren. So zeigt sich in einer Untersuchung der AOK, dass für viele gynäkologische Praxen pränataldiagnostische Zusatzangebote eine nicht unerhebliche Einnahmequelle darstellen, wodurch ein Verkaufsinteresse gegenüber den Schwangeren entsteht (Zok, 2010). Viele Schwangere kaufen sich zusätzliche Ultraschall- und andere pränataldiagnostische Untersuchungen, die von den Ärztinnen und Ärzten als »IGEL4«-Leistungen angeboten werden (Erikson, 2003; Renner, 2006;
4 IGEL-Individuelle Gesundheitsleistung, Zusatzleistung, die von den Ärzten und Ärztinnen
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Zok und Schuldzinski, 2005; Zok, 2010). In vielen Frauenarztpraxen werden den Schwangeren bereits bei den ersten Besuchen Informationshandzettel mitgegeben, aus denen sie sich die gewünschten Leistungen heraussuchen können (eigene Recherche). Zok und Schuldzinski (2005) fanden in ihrer Untersuchung zudem einen Zusammenhang zwischen dem Angebot solcher Leistungen und dem Einkommen der Patientinnen heraus: Während nur jeder sechste Frau aus der unteren Einkommensgruppe bis 1000 Euro Zusatzleistungen angeboten bekam, lag die Rate in der Einkommensgruppe ab 4000 Euro bei fast 40 %. Gynäkologen und Gynäkologinnen gehören demnach neben Augenärzten und Augenärztinnen zu der Arztgruppe, die am häufigsten IGEL-Leistungen anbietet; neben Angeboten zu Ultraschalluntersuchungen von Eierstöcken und Gebärmutter sind dies insbesondere die Zusatzangebote in der Schwangerenvorsorge wie etwa das Ersttrimesterscreening oder zusätzliche Ultraschalluntersuchungen, die über die drei in den Mutterschaftsrichtlinien vorgesehenen hinausgehen (Zok, 2010).
1.3
Die pränataldiagnostischen Untersuchungsmethoden
Im Folgenden werden nun die unterschiedlichen Untersuchungsmethoden, die von den Frauen in der vorliegenden Studie als relevant empfunden wurden, vorgestellt. Zunächst erfolgt eine Erklärung der non-invasiven Untersuchungsmethoden. Als non-invasiv gelten alle Untersuchungsmethoden, bei denen nicht in die Gebärmutter eingedrungen wird, beispielsweise Blut- und Ultraschalluntersuchungen sowie kombinierte Screenings. Das Angebot an noninvasiven Untersuchungsmethoden umfasst dabei neben den in den Mutterschaftsrichtlinien festgeschriebenen Leistungen wie den sogenannten »Basisultraschalluntersuchungen«, deren Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, auch eine Reihe sogenannter IGEL-Leistungen (s. o.), deren Spektrum von zusätzlichen Ultraschallangeboten über Serumuntersuchungen bis hin zu kombinierten Untersuchungsangeboten reicht. Invasive Untersuchungen hingegen, die im Anschluss daran erklärt werden, sind Untersuchungsverfahren, bei denen kindliche Zellen aus der Gebärmutter entnommen werden. Am häufigsten findet die Amniozentese Anwendung, bei der Fruchtwasser entnommen wird. Andere Methoden sind die Chorionzottenbiopsie, bei der Zellen aus der Plazenta entnommen werden, oder die Cordozentese, bei der kindliches Blut aus der Nabelschnur entnommen wird.
privat abgerechnet wird und deren Kosten nicht von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden.
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1.3.1 Non-invasive Untersuchungsmethoden Im medizinischen Bereich wird viel Hoffnung auf frühe, nicht-invasive Verfahren gesetzt. Diese sollen zum einen erlauben, invasive Verfahren wie die Fruchtwasseruntersuchung, die mit Risiken wie einem erhöhten Fehlgeburtsrisiko verbunden sind, auf »notwendige« Indikationen zu beschränken, also nur bei Verdachtsfällen zur Anwendung kommen. Darüber hinaus können durch die Einfachheit der Anwendung und die geringen Nebenwirkungen alle schwangeren Frauen erfasst werden, nicht nur Frauen die beispielsweise durch ihr Alter von über 35 Jahren einer Risikogruppe zugeordnet sind. Zum anderen soll gerade ein früher Untersuchungszeitpunkt ermöglichen, Erkrankungen und Chromosomenstörungen zu einem frühen Zeitpunkt zu erkennen, zu dem eine Schwangerschaftsunterbrechung für die Schwangere weniger traumatisierend sei als zu einem späteren Zeitpunkt in der Schwangerschaft. Explizit wird in diesem Zusammenhang auch die Vermeidung von Spätabbrüchen und Fetoziden5 bei später Diagnose nach der 22. Schwangerschaftswoche genannt (diese wird von einigen Medizinerinnen sogar als Diagnoseversagen angesehen). Als früheste Variante dieser Untersuchungsmethoden kann die Präimplantationsdiagnostik (PID) gesehen werden, die eine Untersuchung des Embryos bei künstlichen Befruchtungen noch vor dem Einsetzen der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter ermöglicht. Diese Verfahren sind hochumstritten wegen ihrer ethischen Dimensionen und für die vorliegende Studie nicht relevant, weshalb sie hier nicht näher erläutert werden. Ultraschalluntersuchungen Nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Industrieländern ist der Einsatz von Ultraschall mittlerweile fester Bestandteil der Schwangerschaftsuntersuchungen – auch für Frauen, die kein Risiko aufweisen (Garcia et al., 2002). Wie bereits erwähnt sind in den Mutterschaftsrichtlinien bei normalem Verlauf der Schwangerschaft drei Basisultraschalluntersuchungen als Screening vorgesehen (Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, 1985, 2013). Diese Basisultraschalluntersuchungen werden von der betreuenden Frauenärztin bzw. Frauenarzt durchgeführt. Bei Abweichungen vom normalen Schwangerschaftsverlauf oder bei auffälligen Befunden sind häufigere Ultraschalluntersuchungen indiziert, sodass die Schwangere dafür an ein pränataldiagnostisches Zentrum überwiesen werden kann. Die regulären Untersuchungen verteilen sich auf die Schwangerschaftstri5 Unter Fetozid wird die Tötung des Ungeborenen vor Beginn der Wehentätigkeit verstanden. Diese Tötung findet meist durch die Injektion von Kaliumchlorid in die Nabelschnur oder das Herz des Kindes statt, bei Mehrlingsschwangerschaften kann auch die Ligatur oder Koagulation der Nabelschnurgefäße vorgenommen werden (vgl. Berg et al., 2008).
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mester : Gemäß der Mutterschaftsrichtlinien soll die erste dieser Untersuchungen6 im Zeitfenster zwischen der 9. und 12. Schwangerschaftswoche stattfinden, die weiteren Untersuchungen zwischen der 19. und 22. Schwangerschaftswoche und in der 29. bis 32. Schwangerschaftswoche (Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, 1985, 2013). Die Zielsetzungen der ersten Ultraschalluntersuchung ist die Bestimmung des Gestationsalters, der Ausschluss einer extrauterinen Einnistung des Embryos, die Kontrolle der Entwicklung des Embryos, die Suche nach Auffälligkeiten und die frühzeitige Feststellung von Mehrlingsschwangerschaften. Mit der zweiten Untersuchung sollen das Wachstum des Ungeborenen und seine Herztöne untersucht sowie der Sitz der Plazenta eruiert werden. Seit Juli 2013 können Schwangere zu diesem Untersuchungszeitpunkt eine erweiterte Form des Ultraschalls wählen, die insbesondere auch nach organischen Fehlbildungen des Feten sucht7. Bei der dritten Untersuchung geht es um die Kontrolle des zeitgerechten Wachstums und die Lage des Fetus. Zudem sollen Fruchtwassermenge und Plazenta beurteilt werden. Während das Screening effektiv in der Erkennung von Mehrlingsschwangerschaften ist, bleiben andere Zielsetzungen dieser Untersuchungen jedoch hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück. So zeigen Harrington et al. (2006) auf, dass die sonografische Bestimmung des Gestationsalters keine Auswirkungen auf die Zahl der Geburtseinleitungen bei Terminüberschreitung zu haben scheint. Auch für die Rate der Erkennung von fetalen Fehlbildungen bleiben die Ergebnisse in der Praxis hinter den Erkennungsraten von 85 % unter Studienbedingungen zurück und liegt bei durchschnittlich 41 % (Jahn, 2002; Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, 2008). Die Fehlerrate scheint dabei in Zusammenhang mit der Erfahrung des Untersuchers und der Qualität des Gerätes zu stehen (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, 2008). Neben der »Nichtentdeckung« von Auffälligkeiten stellt aber insbesondere die Erhebung von falsch-positiven Verdachtsbefunden in der Praxis ein Problem dar. So fanden Petersen und Jan (2008) in einer prospektiven Studie mit 360 6 Es ist anzunehmen, dass eine hohe Anzahl von Schwangeren bereits vor der 9. Schwangerschaftswoche eine Ultraschalluntersuchung erhält, viele noch bevor der Mutterpass ausgehändigt wird. Dies legen auch die Untersuchungsergebnisse von Renner (2006) und Erikson (2001) nahe. 7 Seit Juli 2013 kann beim 2. Basisultraschall von der Schwangeren eine erweiterte Form gewählt werden, bei der auch nach bestimmten Fehlbildungen gesucht wird. Für diese erweiterte Untersuchung übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten. Der erweiterte Basisultraschall ist nicht mit dem »Organultraschall« zu verwechseln, der nur in Zentren der DEGUM Stufe II und III durchgeführt wird und für den die Untersucher ein umfassendes Qualifizierungsverfahren durchlaufen. Die Qualifikation der Anbieter des erweiterten Ultraschalls findet derzeit mit einem Online-Test statt (http://www.dggg.de/fileadmin/public_docs/ Newsletter/GBA_Merkblatt_Ultraschalluntersuchungen.pdf).
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Schwangeren, dass 67,2 % der Untersuchungsteilnehmerinnen mit auffälligen Befunden konfrontiert waren, von denen sich 45,1 % auf Ultraschallbefunde bezogen. In 81,3 % der Verdachtsfälle auf kindliche Fehlbildung und in 81 % der Verdachtsfälle auf Wachstumsretardierung waren die Kinder allerdings normal entwickelt, der verdächtige Befund erwies sich somit retrospektiv als falsch. Verschiedene Autoren verweisen zudem auf die Qualitätsunterschiede zwischen den einzelnen Untersuchern, die sie auf Unterschiede in der Erfahrung und Gerätequalität zurückführen. Sie fordern auf dieser Grundlage eine Verbesserung des Qualitätsstandards für das Ultraschallscreening und plädieren für die Verlagerung der Ultraschalluntersuchungen in pränataldiagnostische Zentren (vgl. Hackelöer, 2003; Jahn, 2002; Jahn und Petersen, 2008). Zur Verbesserung dieser Kritikpunkte empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM) ein dreistufiges Versorgungsmodell, bei dem alle Frauen Zugang zu einer flächendeckenden Basisversorgung der Grundstufe DEGUM I haben. Dabei sollen biometrische Werte wie Größe, Lage, Schwangerschaftswoche, Fruchtwassermenge oder auch das Vorliegen einer Mehrlingsschwangerschaft untersucht werden. Bei Auffälligkeiten sollen die Schwangeren an ein pränataldiagnostisches Untersuchungszentrum der Qualifikationsstufe DEGUM 2 überwiesen werden, wo spezialisierte Diagnostik durchgeführt wird (der sogenannte Feinultraschall). Bei besonderen Fragestellungen kann an Zentren der DEGUM 3 überwiesen werden. Als Ziel eines solchen dreistufigen Versorgungssystems gibt die DEGUM an, dies könne zur Qualitätsverbesserung der durchgeführten Ultraschalluntersuchungen beitragen und – dies gilt insbesondere für Zentren der Stufe 2 – zu einer höheren Effektivität der »Entdeckungsraten« von Fehlbildungen des Feten führen (Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin, 2012). Würde ein solches dreistufiges Überweisungsmodell funktionieren, bedeutete dies, dass nur diejenigen Frauen eine Untersuchung der DEGUM Stufe 2 erhielten, bei denen ein auffälliger Basisultraschallbefund der DEGUM-Stufe 1 oder ein besonderes Risiko vorliegt. Das Funktionieren eines solchen Überweisungssystems wird aber beispielsweise von Kunz (2012) angezweifelt, der am Beispiel Berlin anführt, dass dort 70 bis 80 % der Schwangeren einen Ultraschall der DEGUM Stufe 2 erhalten, häufig auf eigenen Wunsch und vor dem Hintergrund der höheren Untersuchungsqualität im Vergleich zu den Ultraschalluntersuchungen im Rahmen der regulären Schwangerenvorsorge beim niedergelassenen Gynäkologen bzw. Gynäkologin. Bei aller Kritik scheint es heutzutage allerdings auch für viele Frauen in Deutschland normal zu sein, dass über die drei regulären Ultraschalluntersuchungen hinaus weitere Untersuchungen erfolgen. In einer repräsentativen Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, in deren Rahmen bundesweit 791 schwangere Frauen befragt wurden, zeigt sich, dass 70 % der
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Befragten mindestens eine weitere Ultraschalluntersuchung in Anspruch nehmen, die speziell auf mögliche Fehlbildungen des Kindes ausgerichtet ist (Renner, 2006). Erikson (2003) statuiert, dass es in Deutschland für »normal« gehalten werde, dass bei jeder Vorsorgeuntersuchung ein Ultraschall durchgeführt wird, und stellt in ihrer Studie fest, dass die von ihr befragten Schwangeren im Durchschnitt sieben und mehr Ultraschalluntersuchungen im Schwangerschaftsverlauf erhielten, diese jedoch häufig nicht vollzählig im Mutterpass dokumentiert waren. Theoretisch haben Schwangere die Wahl, die im Rahmen der Mutterschaftsrichtlinien festgeschriebenen Ultraschalluntersuchungen abzulehnen. Vor dem geschilderten Hintergrund ist es jedoch verständlich, dass 99,3 % der Schwangeren in der repräsentativen Befragung der BZgA (Renner, 2006) Ultraschall für einen festen Bestandteil der ärztlichen Vorsorge halten und die Untersuchungen als notwendig für den Gesundheitszustand ihres Kindes erachten. So gaben 64 % der Frauen an, dass Ultraschall wichtig sei, um ein gesundes Kind zu bekommen (Renner, 2006, S. 32). Von einigen Schwangeren wird Ultraschall sogar nur zu einem gewissen Teil als medizinisches Untersuchungsverfahren wahrgenommen. Erikson (2001) hat in ihrem Forschungsprojekt, in dem sie insgesamt 449 Ultraschalluntersuchungen beobachtet hat und mit 111 Frauen Interviews führte, festgestellt, dass sich die Erwartungen der Frauen von den Zielsetzungen der Ärzte und Ärztinnen unterscheiden und beschreibt die Dimensionen dieses Spannungsfeldes als »Babykino«: Suchen nach dem Risiko oder Ausschauhalten nach dem Familienzuwachs« (Erikson, 2008, S. 44). In Eriksons (2008) Untersuchung zeigt sich, dass sich viele Schwangere gerade Ultraschall als Untersuchungsmethode wünschen und ihn als Möglichkeit verstehen, Bindung zum Kind aufzubauen; die Frauen genießen dieses Sehen des Kindes. In anderen Studien wird der Wunsch der Frauen nach der Bestätigung der antizipierten Gesundheit des Kindes und nach Fotos vom Ungeborenen als Erwartung an die Ultraschalluntersuchung genannt (Lalor und Devane, 2007). Für manche Frauen scheint zudem die Einbindung des Partners und anderer Familienmitglieder durch das gemeinsame »Babywatching« ein wichtiges Ziel der Ultraschalluntersuchung zu sein (Draper, 2002; Erikson, 2003, 2008; Lalor und Devane, 2007; Tegethoff, 2008). Viele Frauen sprechen sogar von Babykino, Ultraschallbilder werden in Familie und Freundeskreis herumgereicht und bereits das Embryo in der Frühschwangerschaft für seine Umgebung zu einem verbildlichten Wesen (Garcia et al., 2002; Tegethoff, 2011). Das Ultraschallbild wird so zum ersten »Familienfoto« des Ungeborenen, der Arzt wird somit zum »Familienfotografen« (Tegethoff, 2008, S. 201–205). Gerade aber auch für die werdenden Väter scheint der Ultraschall eine wichtige Rolle für die Realisierung der Schwangerschaft und die Bindungsentwicklung zum Kind in der Schwangerschaft zu spielen: Durch das Ultraschall-
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bild scheint das Kind für den Vater zumindest visuell erfahrbar zu sein, die körperliche Distanz überbrückbar (Draper, 2002). Für die Untersuchungssituation konstatiert Tegethoff (2008) anhand der Analyse von Dokusoaps, dass dem Partner innerhalb des Untersuchungssettings ein klarer Platz zugewiesen werde: Es steht ein Sitzplatz für ihn zur Verfügung und die Erklärungen des Untersuchers sind an die Eltern und nicht an die Schwangere gerichtet (vgl. Tegethoff, 2008, S. 199). Es ist auch nicht länger die Schwangere, die die Bewegungen des Kindes interpretiert und über deren Bauch diese haptisch wahrgenommen werden können, sondern die ärztliche Interpretation des erzeugten Bildes auf dem Bildschirm, auf die beide Eltern angewiesen sind (ebd., S. 199). Tegethoff (2011) argumentiert, dass die privilegierte Stellung der schwangeren Frau dadurch verlorengehe, da beide Elternteile gleichermaßen auf die ärztliche Interpretation des Ultraschallbildes angewiesen seien. Insgesamt zeigt sich, dass schwangere Frauen generell eine hohe Zufriedenheit mit den Ultraschalluntersuchungen haben, vor allem wenn die Untersuchungsergebnisse auf ein gesundes Kind hindeuten (Götzmann et al., 2002; Lalor und Devane, 2007; Tegethoff, 2008). Tegethoff (2008) zeigt in ihrer Analyse aber auch auf, dass die Erwartung der Frauen an die Ultraschalluntersuchung als soziales Ereignis von manchen Ärzten bzw. Ärztinnen kritisch gesehen wird und dies zu Spannungen in der Interaktion führen kann, wenn der Arzt bzw. die Ärztin den Ultraschall als medizinische Untersuchung definiert und auch so agiert, während diese von der Schwangeren und ihrer Familie als Ereignis gesehen wird, bei dem es für sie vornehmlich um das Sehen des Kindes geht. Gleichzeitig scheint für einige Frauen die Häufigkeit von angebotenen Ultraschalluntersuchungen und die Möglichkeit, Bilder oder Videoaufnahmen des Ungeborenen zu erhalten, ein Gütekriterium für die subjektiven Bewertung der Vorsorgeleistung darzustellen (Garcia et al., 2002; Höfer, 2008; Rost, 2007). Nachvollziehbar ist aufgrund dieser Nachfrage an Bildern vom Ungeborenen die Entstehung des Angebots nichtmedizinischer Ultraschallvideoaufnahmen. War dies bis vor einigen Jahren ein US-amerikanisches Phänomen, so etabliert es sich mittlerweile, wenn auch in kleinem Umfang, ebenfalls auf dem deutschen Markt (vgl. Le Ker, 2012; Wax und Pinette, 2006). Darüber hinaus bieten auch NichtMediziner bzw. Nicht-Medizinerinnen wie etwa Fotostudios oder Heilpraktikerpraxen solche nichtmedizinischen Ultraschallaufnahmen als Lifestyleprodukt während der Schwangerschaft an (Bittner, 2012; Le Ker, 2012). Während die letztgenannten Angebote beispielsweise von den medizinischen Fachorganisationen kritisiert werden und Rufe nach rechtlicher Reglementierung laut werden, zeigt sich gleichzeitig im Praxisalltag, dass viele Frauenarztpraxen und pränataldiagnostischen Zentren selbst Leistungen wie 3-D-Ultraschallaufnahmen als Foto oder Filmaufnahme anbieten und mit diesen IGEL-Leistungen
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versuchen, der Nachfrage von schwangeren »Kundinnen« nachzukommen. Darüber hinaus stellt ein solches Angebot ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Modellen der Schwangerenvorsorge wie etwa der Hebammenvorsorge dar (siehe ökonomische Aspekte; vgl. Zok und Schuldzinsky ; 2005; Zok, 2010). Tripletest Neben Ultraschalluntersuchungen gibt es eine Reihe weiterer non-invasiver Untersuchungsverfahren. Seit den 1980er Jahren wird der sogenannte Triple-Test angeboten, der zeitweise auch Bestandteil der Mutterschaftsrichtlinien war, was heißt, dass er als Screeningverfahren allen Schwangeren angeboten bzw. empfohlen und die Kosten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wurden. Bei diesem Test werden im 2. Schwangerschaftstrimenon zwischen der 15. und 18. Schwangerschaftswoche drei Parameter aus dem mütterlichen Serum bestimmt: Beta-HCG, freies Östriol und Alpha-Fetoprotein. Aus den Ergebnissen wird unter Einbeziehung des Alters, der Schwangerschaftswoche und des Gewichts der Mutter eine individuelle Risikoeinschätzung berechnet. Der Triple-Test wird mittlerweile aufgrund seiner hohen Zahl an falsch positiven Ergebnissen und dem Nicht-Entdecken von 40 % der »Down-Syndrom–Fälle« nur noch von sehr wenigen Frauenärztinnen und -ärzten angeboten und mittlerweile aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen (Ensel, 2005, S. 136; Wegener, 2012). Er wurde von anderen Screeningmethoden abgelöst. Hier wird er nur erklärt, weil er für einige der befragten Frauen in der vorliegenden Studie noch für ihren Weg zur Diagnose relevant war. Ersttrimestertest und Nackentransparenzmessung Ein weiteres non-invasives Untersuchungsverfahren ist der Ersttrimestertest. Seit 2002 wird dieser Test, der sich aus einer Ultraschallmessung der Nackentransparenz und Serumuntersuchungen des mütterlichen Blutes zusammensetzt, in Deutschland angeboten. Bei dieser Untersuchung, die im Zeitraum zwischen der 11. und 14. Schwangerschaftswoche empfohlen wird, wird mit Ultraschall die Nackentransparenz (NT)8 gemessen. Eine Verdickung der Nackentransparenz kann ein Hinweis auf die Chromosomenstörungen Trisomie 13, Trisomie 18 sowie Trisomie 21 sein und dient als Grundlage, um über weitere invasive Untersuchungsmethoden zu entscheiden (vgl. Amniozentese). Die NT-Messung wird 8 Der Begriff Nackentransparenz bezeichnet eine Flüssigkeitsansammlung über der Nackenwirbelsäule, die zwischen der 11. bis 14. Schwangerschaftswoche auftritt und mit Ultraschall messbar ist.
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häufig kombiniert mit Untersuchungen des mütterlichen Blutes (free-ß-HCG und PAPP-A) durchgeführt, weil dadurch die Erkennungsrate für Down-Syndrom auf 90 % erhöht werden kann. Als problematisch zeigt sich jedoch, dass es notwendig ist, die Messungen der NT millimetergenau durchzuführen, um zuverlässige Ergebnisse zu erlangen. Selbst mit sehr guten Geräten und der Durchführung von erfahrenen Untersuchern bzw. Untersucherinnen kann diese Messung schwierig vorzunehmen sein, was sich etwa an hohen Raten von unterschiedlichen, voneinander abweichenden Untersuchungsergebnissen zwischen einzelnen Untersuchern zeigt (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, 2010; Ensel, 2005). Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass die NT-Messung kein »Ergebnis« liefern kann, sondern vielmehr nur eine Risikoabschätzung bedeutet. Mit diesem Untersuchungsverfahren kann also nicht festgestellt werden, ob die Chromosomenveränderungen, nach denen gesucht wird, wirklich vorliegen, sondern nur die statistische Wahrscheinlichkeit für deren Vorliegen errechnet werden. Eine Abklärung muss weiterhin über invasive Verfahren wie die Amniozentese erfolgen. Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ließen 2004 40,5 % der Schwangeren eine NT und 28,9 % eine NT-Messung in Kombination mit Blutuntersuchungen durchführen (Renner, 2006). Aktuelle Zahlen liegen nicht vor ; es ist jedoch anzunehmen, dass aufgrund der gestiegenen Anbieterzahl die Zahl der Nutzerinnen weiter ansteigt. Zertifizierung und Qualitätskontrolle der Anbieter erfolgen über die deutsche Fetal Medicine Foundation, einen Verein zur Förderung der Pränataldiagnostik, der auch die notwendigen Computerprogramme vertreibt (FMF, 2012). Dessen Zielsetzung ist laut Website: »allen interessierten Schwangeren bereits im ersten Schwangerschaftsdrittel eine standardisierte vorgeburtliche Diagnostik zukommen zu lassen, die über die übliche Mutterschaftsvorsorge hinausgeht und allerhöchsten Qualitätsansprüchen genügt« (FMF). Die FMF selbst wirbt auf ihrer Webseite damit, ein statistisches »individuelles Risiko« zu errechnen. Das Ergebnis schließlich wird den Frauen in Form einer Ampel vermittelt: grüner Bereich bedeutet ein geringes Risiko, gelber Bereich erfordert eine Ultraschallabklärung bei spezialisierten Pränataldiagnostikern oder Diagnostikerinnen, und rot verweist auf die Notwendigkeit einer invasiven Untersuchung wie etwa einer Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie (Fetal Medicine Foundation, 2012). Von den Befürwortern dieser Untersuchung wird statuiert, dass Frauen ab 35 Jahren, denen zu einer Amniozentese aufgrund ihres erhöhten Altersrisikos geraten wird, durch die NT-Messung möglicherweise einen rechnerisch niedrigeren Risikowert erhalten, sich aufgrund dieser Risikoabwägung gegen weitere Untersuchungen entscheiden können und so unnötige Amniozentesen vermie-
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den werden können. Dabei werden vor allem auch der nicht-invasive Charakter und die scheinbare Harmlosigkeit der Untersuchung beworben, der fortschrittliche Charakter des Untersuchungsverfahrens betont: »Eine neuartige, einfache und komplikationslose Untersuchung innerhalb der ersten 11 bis 14 Wochen der Frühschwangerschaft bietet in Kombination mit einer Blutuntersuchung der Mutter bereits eine Risikoanalyse vieler Erkrankungen des Kindes. Es handelt sich hierbei um das sog. Ersttrimester-Screening. Dieses erfolgt durch eine harmlose Ultraschalluntersuchung mit Messung der sog. ›Nackentransparenz‹ des Kindes und eine Blutentnahme bei der Mutter.« (Fetal Medicine Foundation)
In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ist als Voraussetzung für die Durchführung dieser Untersuchung festgeschrieben, dass vor der NT-Messung eine Aufklärung stattfinden muss und im Anschluss an die Untersuchung eine »Risikoberatung« erfolgen sollte (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, 2010). Ob, wie und in welcher Qualität eine solche Beratung in der Praxis stattfindet, wird von verschiedenen Autorinnen jedoch angezweifelt. So gibt Wegener (2012) zu bedenken, dass diese Beratung aus Zeitgründen nicht wirklich durchsetzbar und schwer in die Strukturen des Praxisablaufs integrierbar sei, vielen Gynäkologen und Gynäkologinnen fehle außerdem die Beratungskompetenz. Darüber hinaus widerspreche eine solche Beratung auch dem marktwirtschaftlichen Verkaufsinteresse der Gynäkologen und Gynäkologinnen, solange die Tests als IGELLeistungen angeboten werden (Wegener, 2012). Wegener (2012) sieht zudem die zunehmende Einbeziehung aller Frauen – also auch der jüngeren Frauen unter 35 Jahren – in dieses pränataldiagnostische Verfahren kritisch und prophezeit die Etablierung des Tests als integraler Teil der Schwangerenvorsorge für die Zukunft. Ensel (2005) warnt davor, dass die Schwangerschaft durch einen solchen frühen Test, der auf die Suche nach Fehlbildungen und Chromosomenstörungen des Ungeborenen ausgerichtet ist, bereits von Anfang an infrage gestellt werde (Ensel, 2005). Weiterhin führen Kritiker dieser Untersuchung an, dass der Begriff »Screening« die Entdeckung therapierbarer Krankheiten im Frühstadium nahelege, Prävention suggeriere, während der Test in Wirklichkeit nur die Selektion von Feten bzw. Embryonen mit diagnostizierten chromosomalen Abweichungen impliziere (Wegener, 2012). Die Begründung, späte Abbrüche vermeiden zu wollen, richte sich nicht gegen die Vermeidung von Abbrüchen, sondern nur gegen den späten Zeitpunkt der Abbrüche (ebd.). Ein weiterer Kritikpunkt ist die hohe Rate an Frauen, die auffällige Ergebnisse erhalten, die sich als falscher Verdacht erweisen, aber auch falsch negativer Befunde (Stiftung Warentest, 2009). So können statistisch in einer Gruppe von 12.000 Schwangeren 20 Kinder mit Down-Syndrom erwartet werden (Gais-
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smaier, 2009). Wird ein Frühscreening wie der Ersttrimestertest durchgeführt, wird bei 16 dieser Frauen der Verdacht auf eine Down-Syndromdiagnose des Kindes korrekt erhoben, bei vier Frauen zeigt sich ein falsch-negativer Befund. Gleichzeitig ergeben sich bei denjenigen Frauen, die ein gesundes Kind erwarten, 600 falsch-positive Befunde – also falsche Verdachtsbefunde – die dazu führen, dass die meisten dieser Frauen einen invasiven Eingriff zur Abklärung des Verdachts vornehmen lassen (Gaissmaier, 2009, S.4). Durch diese invasive Abklärung kommt es bei 3 bis 6 dieser Frauen zu einer Fehlgeburt infolge des Eingriffs (ebd.). Darüber hinaus weisen Studien wie die von Leithner et al. (2004) darauf hin, dass bereits eine Verdachtsdiagnose mit erheblichem Stress für die Schwangere verbunden ist. Als Fazit der Kritik lässt sich demzufolge zusammenfassen, dass die vermeintliche Harmlosigkeit dieses Testes hinterfragt werden sollte, vor allem in Bezug auf die ihm immanenten Gedanken der Prävention und die hohen Raten falsch-positiver Verdachtsbefunde. Darüber hinaus sollte aber auch weiterhin die Qualität der Umsetzung dieses Untersuchungsangebotes in der Praxis und die wirtschaftlichen Interessen der Anbieter hinterfragt werden. 1.3.2 Invasive Untersuchungsverfahren Im Folgenden werden nun die invasiven Untersuchungsverfahren vorgestellt – Untersuchungen also, die mit einem Eingriff in die Gebärmutter einhergehen. Invasive Verfahren umfassen die Amniozentese, Chorionzottenbiopsie, Fetoskopie, Nabelschnurpunktion. Aus diesen werden allerdings nur die Amniozentese und die Chorionzottenbiopsie als für die vorliegende Studie relevante Verfahren näher erklärt. Amniozentese Seit den 1980er Jahren hat sich in Deutschland die Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) etabliert und wird seitdem Frauen über 35 Jahren als Untersuchung im Rahmen der ärztlichen Vorsorge nahegelegt. Der Arzt bzw. die Ärztin ist sogar verpflichtet, diese Gruppe der Schwangeren auf die Untersuchungsmöglichkeit hinzuweisen (Bundesärztekammer, 1998). Es wird geschätzt, dass ca. 10 % der Schwangeren tatsächlich eine Fruchtwasseruntersuchung durchführen, in der BZgA-Studie von 2006 waren es sogar 11,5 % der Befragten (Renner, 2006). Bei einer Amniozentese wird unter Ultraschallkontrolle mit einer Hohlnadel über die Bauchdecke aus der Gebärmutterhöhle Fruchtwasser entnommen und kultiviert. Aus der gewonnenen Zellkultur werden die Chromosomen des Ungeborenen analysiert. Bis zum Vorliegen des Untersuchungsergebnisses vergehen in der Regel 12 bis 14 Tage.
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Die Fehlgeburtenrate von 0,5 bis 1 %, die durch den Eingriff ausgelöst wird, und Nebenwirkungen wie Krämpfe, Blutungen und die Gefahr von Komplikationen wie Infektionen oder einer Verletzung des Kindes machen die Fruchtwasseruntersuchung zu einem riskanten Eingriff. Zusätzlich empfinden die Schwangeren die lange Wartezeit bis zum Testergebnis als sehr belastend. So beschreiben einige Autorinnen, dass Frauen die Bindung zu ihrem Kind bis zum Erhalt des Testergebnisses unterdrücken (Katz-Rothman, 1986; Schindele, 1994). Da eine Amniozentese üblicherweise erst ab der 14. bis zur 18. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird9, erhalten die Frauen das Ergebnis weit im 2. Trimester der Schwangerschaft und der Zeitpunkt für einen möglichen Schwangerschaftsabbruch liegt deshalb häufig nach der 20. Schwangerschaftswoche. Um rascher ein zumindest vorläufiges Ergebnis innerhalb von 24 Stunden zu erhalten, können Frauen den sogenannten FISH10-Test als IGEL-Leistung kaufen. In diesem Verfahren werden die Chromosomen 13, 18, 21 und die Geschlechtschromosomen markiert und gezählt. Das Ergebnis gilt deshalb als vorläufig, weil strukturelle Veränderungen und Veränderungen auf anderen Chromosomen mit diesem Test nicht erfasst werden können. Sinnvoll erscheint er dennoch, wenn Ultraschalluntersuchungsergebnisse bereits auf eine der oben genannten Trisomien hindeuten. Chorionzottenbiopsie Die Chorionzottenbiopsie hingegen kann bereits ab der 10. bis zur 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Sie weist zwar ähnliche Nebenwirkungen auf wie die Amniozentese, wird aber mit einer Fehlgeburtsrate von 3 %11 in Verbindung gebracht (vgl. Ensel, 2005, S. 140). Mithilfe einer Hohlnadel wird meist durch die Bauchdecke (mit der vaginalen Entnahme ist ein noch höheres Fehlgeburtsrisiko verbunden) Chorionzottengewebe aus der Gebärmutterhöhle entnommen und davon eine Kurzzeit- sowie eine Langzeitkultur angelegt. Die Ergebnisse liegen jeweils nach einem Tag bzw. zwei bis drei Wochen vor. Dies kann den Vorteil eines bis zu fünf Wochen früheren Ergebnisses im Vergleich zur Amniozentese bringen. Gleichzeitig muss aber aufgrund des 9 Es gibt die Möglichkeit, eine sogenannte Frühamniozentese ab der 13. Schwangerschaftswoche durchzuführen. Dies sollte jedoch in speziellen Zentren stattfinden, um die Risikorate bei 1 % zu halten (vgl. Ensel, 2005; BÄK, 1998). 10 Dieser Schnelltest stellt eine Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) an Interphasekernen unkultivierter Fruchtwasserzellen dar. 11 Die Bundesärztekammer geht von vergleichbaren Fehlgeburtsraten zur Amniozentese aus, wenn der Eingriff von erfahrenen Spezialisten durchgeführt wird (BÄK,1998); manche Literaturangaben gehen aber auch von einer Fehlgeburtsrate von bis zu 7 % aus (vgl. FeldhausPlumin, 2005, S. 28).
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unterschiedlichen Untersuchungsmaterials (hier wird Plazentagewebe untersucht) manchmal zusätzlich eine Amniozentese durchgeführt werden, weil die Ergebnisse neben veränderten kindlichen Chromosomen auch normale Chromosomen der Mutter zeigen. Wie die Amniozentese kann die Chorionzottenbiopsie Ergebnisse zu Chromosomenveränderungen erbringen, nicht jedoch zu Neuralrohrdefekten. Wegen der höheren Fehlgeburtsrate wird dieser Untersuchungseingriff deutlich seltener als die Amniozentese durchgeführt: In der BZgA-Studie betrug die Rate der Frauen, die eine Chorionzottenbiopsie durchführten, nur 3 % im Vergleich zu 11,5 % bei den Amniozentesen (Renner, 2006). 1.3.3 Ausblick: Neue Testverfahren Während die invasiven Untersuchungsverfahren den Vorteil haben, genaue Aussagen treffen zu können, ob bestimmte Fehlbildungen vorliegen, sind sie mit einem erhöhten Fehlgeburtenrisiko verbunden und bringen meist erst Ergebnisse im zweiten oder sogar dritten Trimenon der Schwangerschaft (s. o.). Die klassischen non-invasiven Verfahren wie das Ersttrimesterscreening können zwar relativ früh durchgeführt werden und haben kein erhöhtes Fehlgeburtenrisiko, ergeben aber nur eine individuelle Risikokalkulation und sind mit einer hohen Rate an falsch-positiven Verdachtsbefunden verbunden. Seit 2012 ist ein neuer Serumtest auf dem Markt, der über eine Blutuntersuchung der Mutter eine Diagnose von Trisomie 21, Trisomie 18 oder Trisomie 13 in der 10. Schwangerschaftswoche ermöglicht. Der Test mit Namen PraenaTest darf seit dem 02. 07. 2012 vermarktet und angeboten werden, sollte jedoch nur nach einem ausführlichen und persönlichen Beratungsgespräch mit einem Facharzt bzw. -ärztin für Humangenetik oder einem Arzt bzw. einer Ärztin mit ähnlicher Qualifikation durchgeführt werden. Noch sollte der Test laut Hersteller nur nach auffälligem Ersttrimestertest, Ultraschallbefunden oder für Frauen, die einer »Risikogruppe« angehören, angewandt werden (Lifecodex). Ein Vorteil dieses Tests wird darin gesehen, dass bei verdächtigem Befund, etwa beim Ersttrimestertest, eine Amniozentese bei gesunden Kindern vermieden werden kann. Erbringt der Test allerdings ein positives Ergebnis, wird eine Bestätigung der Diagnose über invasive Verfahren empfohlen. Deswegen wird dieser frühe Test zum einen als pragmatische Lösung gesehen, die die gesundheitlichen Gefahren für die (gesunden) Kinder und die Frauen minimiere, da eine Amniozentese nur bei denjenigen Kindern durchgeführt werde, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Chromosomenstörung haben. Die Möglichkeit einer frühen Schwangerschaftsunterbrechung durch den frühen Diagnosezeitpunkt wird darüber hinaus als etwas gesehen, was den Leidens-
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druck der Frauen vermindere. Manche Autoren wie Wahba (2012) sehen den Test zudem als geringeres Übel im Vergleich mit Spätabbrüchen und argumentieren pragmatisch: »Es hilft wenig, einen Bluttest zu verteufeln, der frühe Abtreibungen möglich macht, wo weitaus spätere Abtreibungen die Regel sind. Damit werden Symptome bekämpft und nicht die Ursache: dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Selbstverwirklichung an erster Stelle steht.« (Wahba, 2012)
An Wahbas (2012) Aussage wird allerdings auch deutlich, dass er die Frauen als die »Schuldigen« sieht: Sie sind es, die aus Gründen der Selbstverwirklichung die Tests durchführen. Samerski (2011) betrachtet den Druck auf die Schwangeren hingegen differenzierter und zeigt auf, dass es im gesellschaftlichen Klima und der bestehenden Vorsorgestruktur für Frauen schwierig ist, sich der Testlogik zu entziehen. Gerade der frühe Zeitpunkt und die Harmlosigkeit der Blutabnahme können laut Samerski (2011) zu einem Rechtfertigungsdruck der Schwangeren bei Ablehnung des Tests führen: Eine Ablehnung des Bluttests bedeute in der Logik »informierte Entscheidung« eine bewusste Entscheidung für ein möglicherweise behindertes Kind, für dessen Behinderung die Mutter dann die Verantwortung trage – Behinderung werde so nicht länger als Schicksal, sondern als etwas selbstverschuldetes gesehen, dessen Folgen individuell verantwortet werden müssen; gleichzeitig würden Menschen mit Behinderung zunehmend als »vermeidbar« gesehen (Samerski, 2011, S. 58). Andere Kritiker warnen zudem, mit diesem Test sei der letzte Schritt der Etablierung von Pränataldiagnostik in der Schwangerenvorsorge getan und mahnen vor der Gefahr der »routinierten Frühselektion von ungeborenen Kindern, die nicht der genetischen Norm entsprechen« (Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, 2012, S. 43)12. Auch steige der gesellschaftliche Druck auf Menschen mit Behinderung und ihre Familien; und für Frauen, die ein positives Ergebnis erhalten, gebe es faktisch keine Handlungsalternative zum Schwangerschaftsabbruch mehr (ebd.). Eine frühere Diagnose mache den Schwangerschaftsabbruch zu einer logischen Handlungsfolge des positiven Testergebnisses (ebd.). Ensel (2005) verweist zusätzlich kritisch auf die marktwirtschaftlichen Komponenten dieses Screeningtests, der derzeit von den Frauenärzten bzw. Frauenärztinnen als IGEL-Leistung angeboten wird und folglich auch als Dienstleistungsprodukt vermarktet werden kann. Noch ist dieser Test nämlich nicht im Katalog der Krankenkassen aufgenommen. Die Kosten zwischen 595 bis 895 Euro (vgl. Lifecodexx) müssen von den Eltern 12 Vgl. dazu auch den Artikel von Lenhard (2003), in dem dieser bereits vor zehn Jahren einen Zusammenhang feststellte zwischen den sinkenden Zahlen von Kindern mit Down-Syndrom und den Entwicklungen in der Pränataldiagnostik oder auch Dabrocks (2012) Ausführungen zur »Schwangerschaft auf Probe« im Zusammenhang mit diesem neuen Test.
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übernommen werden, was zudem die soziale Folge haben könnte, dass diejenigen Frauen, die sich den Test leisten können, so eine frühe Abtreibung durchführen können, während die anderen auf die späte Diagnose angewiesen sind. Während noch bis vor einigen Jahren die Altersgrenze von 35 Jahren als »Eintrittsalter« zur Pränataldiagnostik galt und ab diesem Alter Frauen eine Amniozentese empfohlen wurde, ist durch die nicht-invasiven Tests und die verbesserte Ultraschalltechnologie Pränataldiagnostik zur Normalität für alle Schwangeren geworden – auch für diejenigen, die nicht unter die Altersrisikokategorie fallen (Katz-Rothman, 1986; Bundesärztekammer, 1998). Dies wird sich, falls sich das neue Verfahren etabliert, noch verstärken. Ein weiterer Aspekt der frühen nicht-invasiven diagnostischen Verfahren und insbesondere auch des neuen Praena Tests ist die Verschiebung des Diagnosezeitpunkts in Schwangerschaftswochen, in denen noch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Fehlgeburten besteht. So zeigt Ensel (2005, S. 146) in einer Tabelle das absteigende Risiko, mit einem Kind mit Down-Syndrom schwanger zu sein, anhand von Risikokalkulationen für verschiedene Lebensalter und Schwangerschaftswochen auf. Beispielsweise beträgt das Risiko für ein Kind mit Down-Syndrom für eine 35-jährige Schwangere in der 10. Schwangerschaftswoche 1:229 und sinkt bis zur 40. Schwangerschaftswoche auf ein Risiko von 1:356 ab (Ensel, 2005, S. 146). Dieses absinkende Risiko erklärt Ensel (2005) mit den erhöhten Fehlgeburtsraten bei Kindern mit Chromosomenstörungen. Die Ursache für eine spontane Fehlgeburt ist häufig eine Fehlbildung oder Chromosomenanomalie; so fanden Menashe et al. (2005) in einer Langzeituntersuchung bei 65,8 % der untersuchten Fehlgeburten im ersten Schwangerschaftstrimenon einen unnormalen Chromosomensatz. Es ist anzunehmen, dass neue Testmethoden und eine verbesserte Sonografiequalität, die eine frühere Diagnose ermöglichen, in ihrer Konsequenz nach sich ziehen, dass vermutlich mehr Frauen mit der Entscheidung konfrontiert werden, eine Schwangerschaft abzubrechen, deren Schwangerschaft ohne PND in einer spontanen Fehlgeburt geendet hätte.
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Gesetzliche Rahmenbedingungen des Schwangerschaftsabbruchs
Für den Kontext dieser Studie ist es im Hinblick auf den Entscheidungsprozess über einen möglichen Schwangerschaftsabbruch nach der Diagnosestellung notwendig, die rechtlichen Rahmenbedingungen, in die diese Entscheidung eingebettet ist, darzustellen. Dabei ist zentral, dass ein Schwangerschaftsab-
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Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
bruch in Deutschland unter bestimmten Bedingungen legal ist, dass die Frauen die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch also innerhalb des gesetzlichen Rahmens treffen können und nicht beispielsweise auf einen Schwangerschaftsabbruch im Ausland angewiesen sind (vgl. dazu Lalor et al., 2009 zur Situation in Irland). Diese Rahmenbedingungen sollen im Folgenden dargestellt werden. Die rechtliche Grundlage für einen Schwangerschaftsabbruch stellt der § 218 StGB dar. Danach gilt ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der »Fristenlösung« der ersten zwölf Schwangerschaftswochen13 zwar als rechtswidrig, bleibt aber unter bestimmten Voraussetzungen straffrei. Grundlage für diese Straffreiheit ist die Beratung und das Einhalten einer dreitägigen Frist zwischen Beratung und Abbruch. Bis zur 12. Schwangerschaftswoche ist ein Schwangerschaftsabbruch jedoch nicht rechtswidrig, wenn er aufgrund der kriminologischen Indikation erfolgt, d. h. wenn eine Vergewaltigung vorliegt. Für die Zeit nach den ersten zwölf Schwangerschaftswochen galt bis 1995 eine gesetzliche Regelung, die Schwangerschaftsabbruch auf die Zeit bis zur 22. Schwangerschaftswoche begrenzte, den Abbruch an Indikationen knüpfte und die Beratung vor einem solchen Abbruch als obligatorisch ansah. Die embryopathische Indikation ermöglichte damals den straffreien Schwangerschaftsabbruch, wenn pränataldiagnostisch beim Fetus bzw. Embryo eine »nichtbehebbare Schädigung seines Gesundheitszustandes« festgestellt wurde. Im Neuentwurf von 1995 steht nicht mehr die Schädigung des Embryo bzw. Feten im Zentrum, sondern die Auswirkungen, die das Fortsetzen der Schwangerschaft auf die Schwangere hätte, und dabei insbesondere mögliche psychische Beeinträchtigungen. Diese medizinische Indikation ist gegeben, »wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um die Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (§ 218a Abs.2 StGB).
Mit der Novellierung des §218a StGB entfiel auch die Begrenzung der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruches auf den Zeitraum bis zur 22. Schwangerschaftswoche; mit einer solchen medizinischen Indikation ist demzufolge ein Abbruch der Schwangerschaft theoretisch bis zu Beginn der Wehentätigkeit rechtlich zulässig. Die letzte Neuerung der gesetzlichen Regelung für Abbrüche nach pränatal13 Im gesetzlichen Rahmen werden die Schwangerschaftswochen ab der Konzeption und nicht wie bei der medizinisch üblichen Methode ab dem ersten Tag der letzten Menstruation berechnet.
Fehlbildungsraten und Schwangerschaftsabbrüche
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diagnostischem Befund wurde am 1. 1. 2010 implementiert. Seitdem ist im § 2 SchKG festgeschrieben, dass die Diagnostikerin bzw. der Diagnostiker andere spezialisierte Kollegen wie Humangenetikerinnen bzw. Humangenetiker oder Pädiaterinnen bzw. Pädiater hinzuziehen sollte, auf das Recht auf psychosoziale Beratung hinweisen muss und bei Wunsch der Frau den Kontakt zu Selbsthilfegruppen vermitteln soll. Die Frauen haben ein Recht auf Beratung, jedoch besteht keine Beratungspflicht. Um eine reflektierte Entscheidung zu ermöglichen und Schockhandlungen zu vermeiden, muss zwischen Diagnose und Schwangerschaftsabbruch nun auch wieder für Schwangerschaftsabbrüche mit medizinischer Indikation eine Frist von drei Tagen zwischen Diagnose und Schwangerschaftsabbruch eingehalten werden.
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Die epidemiologische Perspektive: Fehlbildungsraten und Schwangerschaftsabbrüche
2011 fanden insgesamt 108.867 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland statt, davon 96,8 % nach der Beratungsregel und 3,2 % nach der medizinischen Indikation (Statistisches Bundesamt, 2012a). In Zahlen macht dies 3.485 Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischer Indikation aus. Die meisten davon dürften aufgrund einer pränatalen Diagnose durchgeführt worden sein, nicht aufgrund einer mütterlichen Indikation wie beispielsweise einer schweren Erkrankung der Mutter. Diese Abbrüche teilen sich folgendermaßen auf die Zeiträume nach der 12. Schwangerschaftswoche auf: Im Jahr 2010 wurden zwischen der 12. und 15. Schwangerschaftswoche 1.268 (1,2 % der Gesamtabbrüche), von der 16. bis zur 18. Schwangerschaftswoche 641 (0,6 %), zwischen der 19. und 21. Schwangerschaftswoche 502 (0,5 %) und nach der 22. Schwangerschaftswoche 480 (0,4 %) Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Von Spätabbrüchen wird gesprochen, wenn Schwangerschaftsabbrüche nach der 22. Schwangerschaftswoche, also an der Grenze zur extrauterinen Überlebensfähigkeit, durchgeführt werden (Ensel, 2005). Um bei solchen späten Schwangerschaftsabbrüchen eine Lebendgeburt des Kindes zu verhindern, wird deshalb an der Grenze der Lebensfähigkeit der Fetozid praktiziert14. Im Jahr 2010 wurden 313 Fetozide und 33 Mehrlingsreduktionen, im Jahr 2011 395 Fetozide und 46 Mehrlingsreduktionen durchgeführt (Statistisches 14 Zu einer Ausweitung dieses Verfahrens führte sicherlich der Fall »Tim«: 1997 wurde in Oldenburg die Schwangerschaft einer Frau wegen der Diagnose Down-Syndrom abgebrochen. Als das Kind nicht verstarb, wurde es zum Sterben in ein Nebenzimmer abgelegt und erst nach zehn Stunden pädiatrisch versorgt, was vermutlich zu weiteren gesundheitlichen Einschränkungen führte.
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Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
Bundesamt, 2012a). Jedoch werden erst seit 2010 Schwangerschaftsabbrüche, denen ein Fetozid vorangeht, statistisch erfasst, und es wird von einer höheren Dunkelziffer ausgegangen. Die meisten der Schwangerschaftsabbrüche mit medizinischer Indikation finden im 2. Trimester statt. Nur selten werden Spätabbrüche nach der 22. Schwangerschaftswoche durchgeführt Gründe hierfür sind dann meist multiple Fehlbildungen und Syndrome und weniger häufig Chromosomenaberrationen (Garne et al., 2010). Ca. 60 % der medizinisch induzierten Schwangerschaftsabbrüche werden aufgrund von festgestellten Chromosomenaberrationen durchgeführt (vgl. Götz et al., 2011). Sinnvoll ist deshalb, den Blick auf die Gesamtzahlen an Fehlbildungsraten zu richten. Es wird geschätzt, dass 3,3 % der Neugeborenen eine große Fehlbildung haben (Götz et al., 2011). Zu den Abbruchraten bei den einzelnen Fehlbildungen und Syndromen gibt es für den gesamtdeutschen Kontext keine gesicherten Zahlen, da ein bundesweites Fehlbildungsregister nicht existiert. In der Eurocat (European surveillance of congenital anomalies) hingegen, einem Netzwerk zur epidemiologischen Erfassung von Fehlbildungen, werden in 23 europäischen Ländern an unterschiedlichen Standorten in Registern die Daten von 29 % der europäischen Geburten erfasst. Dies dient primär der epidemiologischen Erfassung von Fehlbildungen und soll darüber hinaus Hinweise auf mögliche teratogene Faktoren, aber auch die Effektivität von präventiven Maßnahmen wie der Gabe von Folsäure liefern. Zudem bietet Eurocat Zahlen zur Abbruchshäufigkeit bei den einzelnen Fehlbildungen. Aus Deutschland werden die erfassten Daten aus Mainz und Sachsen-Anhalt weitergeleitet. Beispielhaft werden im Folgenden die Abbruchraten für Anenzephalie und Trisomie 18 für den Zeitraum zwischen 2006 und 2010 dargestellt. So ergibt das Mainzer Register für den Zeitraum sechs Fälle von Kindern mit Diagnosestellung Anenzephalie; alle betroffenen Schwangerschaften wurden abgebrochen. In Sachsen-Anhalt werden für denselben Zeitraum 17 Fälle mit der Diagnose Anenzephalie beschrieben, bei denen es in 16 Schwangerschaften zu einem Schwangerschaftsabbruch kam und ein Kind intrauterin verstarb. Trisomie-18Diagnosen wurden in Mainz 16-mal gemeldet, wovon in elf Fällen ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wurde, vier Kinder intrauterin verstarben und ein Kind lebend geboren wurde. In Sachsen-Anhalt waren es 33 Diagnosen von Trisomie 18; 29 Schwangerschaften wurden abgebrochen und zwei Kinder verstarben intrauterin. Zwei Kinder wurden lebend geboren (EUROCAT, 2012). Aus diesen Zahlen wird die hohe Rate an Schwangerschaftsabbrüchen nach Diagnosestellung deutlich, auch wenn die Ergebnisse des Magdeburger und Mainzer Fehlbildungsregister sich nur bedingt auf Gesamtdeutschland übertragen lassen und Mängel in der Vollständigkeit der gemeldeten Fälle aufweisen (Götz et al., 2011).
Forschungsstand zu positiven Pränataldiagnostikbefunden
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An vielen Stellen abweichend sind die Ergebnisse von Lalor et al. (2008), deren Untersuchungen im irischen Kontext stattfanden, wo ein Abbruch legal nicht möglich ist. Ihre Ergebnisse zeigen, dass betroffene Frauen, die nicht legal abtreiben dürfen, zumindest über die Möglichkeit eines Abbruchs nachdenken und sich in Irland immerhin 30 % der Frauen für einen Abbruch entscheiden, für den sie dann ins Ausland – meist Großbritannien – reisen, was mit großem individuellen Organisationsaufwand verbunden ist [zumindest in Lalor et a. (2008) Stichprobe]. In anderen Kontexten, in denen Schwangerschaftsabbruch legal nicht möglich ist, liegen die Abbruchraten noch deutlich höher. So zeigen die Untersuchungen von Quadrelli et al. (2007), dass in Uruguay bei der Diagnosestellung Down-Syndrom und Aneuploidien ca. 90 % der Betroffenen einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen, unabhängig von den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die Schwangerschaftsabbrüche verbieten.
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Forschungsstand zu positiven Pränataldiagnostikbefunden
Pränataldiagnostische Verfahren sind, wie die vorgehenden Kapitel aufzeigen, mittlerweile fester Bestandteil der Schwangerschaftsvorsorge in Deutschland. Durch die fortwährende Weiterentwicklung der Pränataldiagnostik wird es immer wahrscheinlicher, dass Fehlbildungen und Syndrome bereits in der Schwangerschaft diagnostiziert werden können und dies immer früher im Schwangerschaftsverlauf erfolgt. Bei manchen Fehlbildungen kann dies wichtig sein, um den Geburtsmodus planen zu können und die notwendige fachärztliche Unterstützung bereitzuhalten. Nur sehr wenige pränataldiagnostische Krankheitsbilder lassen sich hingegen bereits in der Schwangerschaft durch fetale Chirurgie behandeln15. Ergibt sich ein positiver pränataldiagnostischer Befund, stehen die betroffenen Frauen demnach zumeist nicht vor der Frage, welche Behandlung gewählt werden soll. Vielmehr stehen sie vor der Entscheidung, ob sie eine – in vielen Fällen gewünschte – Schwangerschaft abbrechen oder weiterführen wollen.
15 In einer Übersichtsarbeit zu fetaler Chirurgie verweisen Diemert et al. (2012) darauf, dass mit der Ausnahme des schweren fetofetalen Transfusionssyndroms, für das eine pränatale Laserbehandlung indiziert ist, bei anderen behandlungsmöglichen Krankheitsbildern wie Myelomeningozele oder kongenitale Zwerchfellhernie zu pränatalen operative Eingriffen nur eingeschränkt Daten vorliegen und in anderen Fällen operative Eingriffe als experimentell gesehen werden müssen.
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Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
Die Diagnosemitteilung
Die im vorangehenden Abschnitt dargestellten Zahlen zeigen, dass in Deutschland die meisten Frauen nach einem pränataldiagnostischen Befund bei schweren Fehlbildungen die betroffene Schwangerschaft abbrechen. Im folgenden Abschnitt soll zunächst die Studienlage zur pränatalen Diagnosemitteilung in der Schwangerschaft, die den Beginn des Entscheidungsprozesses bildet, dargestellt werden. Für die meisten Frauen kommt die pränatale Diagnosestellung unerwartet und sie fühlen sich wenig vorbereitet auf ein mögliches positives Untersuchungsergebnis. Dies gilt auch für viele derjenigen Frauen, bei denen bereits ein Verdachtsbefund im Vorfeld existiert (Baldus, 2006; Mitchell, 2004). So wird von vielen Autorinnen ein starkes Schockerleben bei der Diagnosemitteilung beschrieben, das körperliche und psychische Symptome umfassen kann (vgl. beispielsweise Baldus, 2006; Chitty et al., 1996; Lalor et al., 2008; Sandelowski und Baroso, 2005; van der Zalm und Byrne, 2006). Um gerade auch den Schock von unerwarteten Diagnosen verstehen zu können, scheint es hilfreich, den Blick auf den Diagnosezugang zu richten. Dabei ist ein wichtiger Aspekt, dass viele Verdachtsbefunde, die zu weiteren pränataldiagnostischen Untersuchungen führen, durch Ultraschalluntersuchung erhoben werden (Rost, 2007; Baldus, 2006). Wie oben dargestellt ist aber die Erwartungshaltung der Schwangeren an den Ultraschall häufig eine andere als der medizinische Zweck dieser Untersuchung: Frauen möchten ihr Kind sehen und wissen, dass alles in Ordnung ist, während der Diagnostiker bzw. die Diagnostikerin nach Fehlbildungen sucht (Lalor und Begley, 2006). Lalor und Devane (2007) zeigen auf, dass vielen Frauen nicht bewusst ist oder sie zumindest verdrängen, dass die Bestätigung, dass alles Ordnung ist, sich aus der negativ verlaufenden Suche nach Fehlbildungen speist, dass also ebenso eine ganze Reihe positiver Befunde oder Verdachtsmomente durch die Ultraschalluntersuchung erhoben werden könnten (Lalor und Devane, 2007). In einer deskriptiven Vorher-Nachher-Untersuchung an 484 Frauen, die vor und nach der Ultraschalluntersuchung zu ihrem Wissen und ihren Erwartungen an den Ultraschall befragt wurden, kommen Lalor und Devane (2007) zum Schluss, dass viele der untersuchten Frauen in der Klinik wenig Informationen zum Ultraschall vorab erhielten (Lalor und Devane, 2007). Die Autorinnen werfen dabei allerdings die Frage auf, wie viel Informationen Schwangere vor Ultraschalluntersuchungen überhaupt erhalten wollen, und ob die generelle Empfehlung, alle Frauen bereits vor den Ultraschalluntersuchungen umfassend über mögliche Untersuchungsergebnisse aufzuklären, wirklich den Bedürfnissen aller Schwangeren entspricht (Lalor und Devane, 2007).
Forschungsstand zu positiven Pränataldiagnostikbefunden
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In einer weiteren qualitativen Untersuchung fokussieren Lalor und Begley (2006), wie Frauen die Diagnose eines auffälligen Befundes erleben. Ihr Interesse ist dabei insbesondere auf die Frage gerichtet, ob die Frauen auf ein solches Untersuchungsergebnis vorbereitet waren oder ob sie damit rechneten. Die Autorinnen führten Interviews mit 38 Teilnehmerinnen innerhalb der ersten vier auf die Diagnosestellung folgenden Wochen und fanden als ein zentrales Ergebnis, dass Frauen vor der Untersuchung damit rechneten, dass der Fetus gesund ist (Lalor und Begley, 2006). Die Autorinnen sahen für diese positive Erwartungshaltung bestimmte Voraussetzungen bei den Schwangeren (Lalor und Begley, 2006): Zum einen wird von den Frauen der Routineultraschall nicht als bedrohlich wahrgenommen, gerade weil es sich dabei um eine Routineuntersuchung handelt. Darüber hinausgehend zeigen die Ergebnisse von Lalor und Begleys Studie (2006) aber auch, dass Frauen, die keine Erfahrungen mit Fehlbildungen oder Behinderungen haben, also beispielsweise keinen Kontakt zu anderen Frauen haben, deren Kind von einer fetalen Fehlbildung betroffen war, die Feststellung von Auffälligkeiten bei ihrem eigenen ungeborenen Kind als sehr unwahrscheinlich einzuschätzen scheinen. Dasselbe trifft auf Frauen zu, die bereits ein oder mehrere gesunde Kinder geboren haben. Auch Frauen, die ihre Schwangerschaft als normal erleben und keine Warnhinweise wahrnehmen (beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe16), rechneten nicht mit einem positiven – also auffälligen – Untersuchungsergebnis (ebd.). Die Erwartungen der befragten Frauen an die Ultraschalluntersuchung waren vielmehr positiv ; sie freuten sich darauf, das Baby zu sehen (Lalor und Begley, 2006; s. o.). Gerade diese positive Erwartungshaltung an die Untersuchung verstärke noch das Trauma der Diagnosemitteilung (Lalor und Begley, 2006). Manche Autorinnen befassen sich auch mit der Frage, ob eine Beschäftigung mit möglicher Behinderung des Fetus vor einer Untersuchung einen Schutz vor dem Schockerleben darstellen könne, was sich allerdings als fraglich erweist. So zeigt Baldus (2006) in einer qualitativen Untersuchung von neun Frauen nach der pränatalen Diagnosestellung Down-Syndrom den grundsätzlichen Schock durch die Diagnosemitteilung auf. Sie bezeichnet die Diagnosemitteilung als kritisches Lebensereignis, das auch von denjenigen Frauen, die sich im Vorfeld einen klaren Standpunkt erarbeitet haben, prinzipiell ein Kind mit Behinderung zu bekommen, als traumatisierend erlebt werde. Die Auseinandersetzung mit
16 So zeigt meine eigene Untersuchung (Rost, 2007), dass etwa Frauen, die jünger als 35 Jahre alt sind, nicht mit einem positiven Untersuchungsergebnis rechnen und einige sogar von ihren Ärztinnen bzw. Ärzten vorab mit der Unwahrscheinlichkeit eines positiven Befundes aufgrund ihres Alters beruhigt werden.
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der Möglichkeit eines positiven Befundes im Vorfeld stellt laut Baldus (2006) demnach keinen Schutz vor dem Schock der Diagnose dar. Manche Autorinnen wie Black. (2011) oder auch Sandelowski und Jones (1996a) finden in ihren Daten Hinweise auf das Gefühl der Vorahnung bei einem Teil der betroffenen Frauen, stellen jedoch fest, dass eine Schockreaktion bei der Diagnosemitteilung unabhängig von einer solchen Vorahnung stattfindet, dass auch diejenigen Frauen, die eine Vorahnung haben, immer noch mit einem unauffälligen Ergebnis rechnen oder zumindest darauf hoffen. Ob ausführliche Informationen vor pränataldiagnostischen Verfahren hilfreich sein können, wird von verschiedenen Autorinnen kontrovers diskutiert. Manche sehen solche ausführlichen Informationen als notwendig an, um Frauen die informierte Entscheidung über die Inanspruchnahme pränataldiagnostischer Untersuchungsmethoden und Screeningverfahren zu ermöglichen (vgl. Marteau und Dormandy, 2001; Abramsky, 2003). Abramsky (2003) stellt zudem fest, dass das Ausmaß der Informationen über eine Untersuchungsmethode mit dem Grad an »Gefahr« für die Schwangerschaft, also dem invasiven Charakter der Untersuchungsmethode in direktem Zusammenhang stehe und vor Ultraschalluntersuchungen, die keinen invasiven Charakter haben, deswegen wenig Aufklärung stattfinde. Abramsky (2003) kritisiert dabei insbesondere den direktiven Charakter von Beratung, wenn Untersuchungen empfohlen und nicht angeboten werden, sondern als Routineuntersuchungen kommuniziert werden: Dies verhindert in ihren Augen eine informierte Entscheidung, für die sie vielmehr neben umfassenden Informationen auch nicht-direktive Beratung für notwendig hält (Abramsky, 2003). Während Abramsky für die humangenetische Beratung eine lange Tradition von nicht-direktiver Beratung statuiert, argumentiert sie, dass in anderen Bereichen der Medizin, wie etwa der Gynäkologie oder Allgemeinmedizin, in denen direktive Beratung üblich sei (sie gibt als Beispiel an: »Nehmen Sie Antibiotika!«, »Hören Sie auf zu rauchen!«), die Schwierigkeit bestehe, diese Gewohnheit für einige wenige Gelegenheiten zu verändern (Abramsky, 2003, S. 75). Um die Konzepte von nicht-direktiver Beratung und informierter Entscheidung in der Praxis zu implementieren, sei Training der Ärzte und Ärztinnen über diese Form der Beratung, aber auch ein ausreichender Zeitrahmen für die Beratung und schriftliches Informationsmaterial für die Schwangeren notwendig (Abramsky, 2003). Während Autorinnen wie Abramsky (2003) oder Marteau und Dormandy (2001) für eine umfassende Aufklärung vor pränataldiagnostischen Untersuchungen und eine informierte Entscheidung der Schwangeren plädieren, geben Lalor und Devane (2007) zu bedenken, dass eine solche umfassende Aufklärung über alle möglichen Befunde bei vielen Frauen Unsicherheiten verstärken könne und die Schwangerschaft dadurch zu einer angstbesetzten Lebensphase werden könne. Die in Lalor und Begleys (2006) Studie befragten Frauen plädieren
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vielmehr dafür, in Screeningprogrammen nur die notwendigen Informationen und nicht umfassende Informationen über alle möglichen Untersuchungsergebnisse zu geben, um Frauen nicht unnötig zu beunruhigen; sie sollten aber zumindest über den Untersuchungsgrund Suche nach Fehlbildungen aufgeklärt werden (Lalor und Begley, 2006). Die Autorinnen definieren jedoch nicht klar, was unter notwendigen Informationen zu verstehen ist, sondern verweisen auf die individuelle Anpassung des Informationsumfangs an die Bedürfnisse der einzelnen Frau. Inwieweit dies wirklich in der Praxis umsetzbar sein kann ist jedoch fraglich. Der Ablauf der Untersuchungssituation und die Gestaltung der Diagnosemitteilungssituation sind wichtige Einflussfaktoren darauf, wie betroffene Frauen sich in der Situation aufgehoben fühlen und wie sie mit der Diagnose selbst umgehen können. So stellen Sandelowski und Baroso (2005) in einer Metaanalyse von 17 qualitativen Untersuchungen zur Entscheidungsfindung nach pränataldiagnostischem Befund fest, dass sich betroffene Frauen noch Jahre nach der Erfahrung an Details, Wortlaut und Ablauf der Diagnosemitteilungssituation erinnern können. Black (2011), die im Rahmen einer ethnografischen Studie 15 Frauen und zehn ihrer Partner zu verschiedenen Zeitpunkten nach einer Diagnosestellung befragte (insgesamt führte sie 39 Interviews durch), beschreiben, dass Frauen sehr sensibel für das Verhalten des Untersuchers bzw. der Untersucherin sind. Sie achteten darauf, ob der Arzt bzw. die Ärztin während der Untersuchung mit ihnen spricht, und versuchten, aus dem Gesichtsausdruck das Untersuchungsergebnis zu interpretieren. Dabei zeigt sich, dass insbesondere ein Untersuchungsablauf, der schweigend verläuft, von den betroffenen Frauen und den Partnern als belastend und beunruhigend erlebt wird (Black, 2011). Wie wichtig das Kommunikationserleben während der Untersuchung ist, wird durch die Ergebnisse von Walker et al. (2008) unterstrichen. Sie befragten in einer qualitativen Untersuchung 19 Familien, die die Diagnose Trisomie 18 erhalten hatten und von denen elf die Schwangerschaft fortsetzten, acht jedoch einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen. In den Ergebnissen dieser Studie zeigt sich, dass von den Betroffenen die Kommunikation mit dem Diagnostiker bzw. der Diagnostikerin als zentraler Einflussfaktor für das Erleben wahrgenommen wird. So gibt es in der Gruppe der von Walker et al. (2008) befragten Eltern einen Teil, der sich in der Kommunikation wertgeschätzt fühlte. Ein wichtiger Aspekt dieser Wahrnehmung ist das Gefühl der Betroffenen, dass individuell auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird und ihnen das Gegenüber emotional zugewandt ist. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass sich ein anderer Teil von Eltern im Betreuungsverhältnis nicht verstanden fühlte (Walker et al., 2008). Walker et al. (2008) kritisieren resümierend, dass die betroffenen Eltern
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zumindest bei einem Teil der Diagnostiker und Diagnostikerinnen mit mangelhaftem emotionalem Umgang konfrontiert waren. Auch andere Studien weisen auf eine inadäquate emotionale Betreuung während und nach der Diagnosemitteilung hin (siehe etwa Black, 2011; Chitty et al., 1996; Feldhaus-Plumin, 2005). So beschreibt etwa Black (2011) die Diskrepanz, die manche der Frauen bei der Diagnosemitteilung erleben: auf der einen Seite die als passiv und wenig empathisch erlebte Reaktion der Diagnostikerin bzw. des Diagnostikers und das als mangelhaft oder fehlend erlebte Versorgungsangebot nach der Mitteilung, auf der anderen Seite das eigene starke Schockerleben bei der Diagnosemitteilung, das bis zu körperlichen Reaktionen wie Erbrechen reicht und im starken Kontrast zu der als emotionslos wahrgenommenen Reaktion des Gegenübers steht. Neben dieser menschlichen Komponente der Ergebnismitteilung kann sich aber auch die Mitteilungsform auf das Erleben der Versorgungssituation auswirken. So findet gerade bei Amniozenteseuntersuchungen, bei denen die Wartezeit bis zum Erhalt der endgültigen Diagnose Tage bis Wochen dauern kann, die Diagnosemitteilung nicht selten telefonisch statt, wie Rapp (1999) in einer umfassenden ethnografischen Studie in den USA feststellt. Dies wird für den deutschen Kontext durch die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Renner, 2006) ebenfalls belegt; diese stellt fest, dass 17,5 % der Frauen die Diagnose telefonisch, 11,6 % schriftlich und nur 78,2 % persönlich von der Ärztin bzw. dem Arzt mitgeteilt bekamen. Verschiedene Autorinnen wie Baldus (2006), Feldhaus-Plumin (2005) und Rapp (1999) kritisieren gerade diese nicht persönliche Diagnosemitteilung per Telefon als den Bedürfnissen der Frauen nicht angemessen in dieser Schocksituation. Einen weiteren wichtigen Aspekt für betroffene Eltern bei der Diagnosemitteilung stellt darüber hinaus die Verständlichkeit der Mitteilung dar : ob der Inhalt des Gesprächs für sie gut zu verstehen ist oder ob etwa für die Eltern unbekannter Fachjargon verwendet wird und ob die Gesprächssituation Raum für Fragen erlaubt (Black, 2011; Walker et al., 2008). Denn auch die Wortwahl in der Diagnosemitteilung bezogen auf den Inhalt des Gesprächs wird von betroffenen Frauen wahrgenommen. So zeigen Walker et al. (2008) Ergebnisse auf, dass Betroffene sensibel auf die verwendete Sprache achten, darauf, mit welchen Worten eine Fehlbildung beschrieben wird, wie über den Fetus gesprochen wird. Als Beispiel nennen die Autorinnen den Ausdruck »incompatible with life«. Durch diese Beschreibung der Trisomie 18 fühlen sich insbesondere diejenigen Frauen, die sich zum Weiterführen der Schwangerschaft entscheiden, unzureichend informiert und weisen in der Interviewsituation darauf hin, dass es eben doch Kinder mit Trisomie 18 gäbe, die Stunden, Tage oder sogar Jahre mit
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Trisomie 18 überlebten (Walker et al., 2008, S. 15)17. Viele der Frauen in Walkers et al. (2008) Untersuchung kritisieren darüber hinaus, dass sich die erhaltenen Informationen immer auf das worst case-Szenario beschränkt hätten. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich in der Untersuchung von Janvier et al. (2012), in der 332 Eltern mit Kindern mit Trisomie 18 und Trisomie 13 in sozialen Netzwerken wie Selbsthilfegruppen und Internetforen befragt wurden. Die von den Eltern in dieser Umfrage genannten Informationen durch Diagnostiker bzw. Diagnostikerin und andere in die Betreuung und Beratung involvierte Akteure beinhalteten Aussagen wie: Ihr Kind sei »incompatible with life« (87 %), würde ein Leben in Leiden leben (57 %), wäre ein »vegetable« (50 %) oder würde seine Familie ruinieren (23 %). Die Autorinnen (2012) zeigen aber auch auf, dass ein Teil der Eltern gesagt bekam, dass ihr ungeborenes Kind ein zwar kurzes aber dennoch »meaningful life« (60 %) haben könne. Als Möglichkeit für betroffene Eltern, an weniger negative Informationen über die Krankheitsbilder zu gelangen, sehen die Autorinnen Selbsthilfegruppen und Foren, in denen Austausch mit anderen Betroffenen stattfinden kann (Janvier et al., 2012). Janvier et al. (2012) kontrastieren diese erinnerten Prognosen für die Kinder mit den Aussagen der Eltern über das Leben ihrer Kinder. So geben die Eltern an, ihre Kinder würden lachen, Zeichen von Lebensfreude zeigen und zum Glück der Familie beitragen. Es ist nicht klar, inwieweit die Ergebnisse von Janvier et al. (2012) repräsentativ für alle Familien mit überlebenden Kindern mit Trisomie 13 oder 18 sind, ob etwa das Engagement in Selbsthilfegruppen zu einer Verschiebung von Ergebnissen führt, sich mehr Betroffene mit besonders positiven oder besonders negativen Erfahrungen in Selbsthilfegruppen engagieren. Wie schwierig gerade auch die Kommunikation und die Weitergabe von Informationen über die Diagnose »Nichtlebensfähigkeit des Fetus« ist, zeigen zudem die teils widersprüchlichen Ergebnisse zu Versorgung und Überlebens17 Wie heterogen der Sprachgebrauch bezogen auf die Diagnosebeschreibung ist, zeigt sich bereits in den unterschiedlichen Umschreibungen, die die Autoren und Autorinnen der verschiedenen Studien verwenden. Die Studien, die sich mit den Erfahrungen betroffener Eltern oder dem »Outcome« der betroffenen Schwangerschaften beschäftigen, verwenden abweichende Termini. So sprechen Chitty et al. (1996) von »lethal abnormality«, Black und Sandelowski (2010) von »severe fetal diagnosis«, wiederum andere vom »unborn child with a life-limiting condition« (Ramer-Chrastek und Thygeson, 2005), Courtwright et al. (2011) von »congenital anomalies considered to be lethal«. Manche Autorinnen sprechen von »fetal anomaly diagnosis« (Lalor et al., 2009), andere vom »malformed child« (Maijala et al., 2003), »fetal impairment« (Sandelowski und Jones, 1996a). Es zeigt sich darin, dass manche Autorinnen den Terminus »Fetus« verwenden, andere auf den von den Betroffenen selbst verwendeten Ausdruck »Child« oder »Baby« zurückgreifen. Dasselbe ist in der Beschreibung der spezifischen Syndrome sichtbar : Autorinnen wie Bruns und Foerster (2011) sprechen von »children with rare trisomy conditions«, während andere Autorinnen von »Down-Syndrom« reden.
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raten bei bestimmten Syndromen und die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten von »Lebensfähigkeit«. So zeigt die japanische Untersuchung von Kosho et al. (2006) einer Stichprobe von 24 Kindern mit Trisomie 18 nach intensivmedizinischer Behandlung Überlebensraten von 88 %, 83 % und 25 % im Alter von einer Woche, einem Monat und einem Jahr. Dagegen kommen Niedrist et al. (2006) in einer Erhebung aus der Schweiz, die den Zeitraum von 1964 bis 2003 umfasst und 161 lebend geborene Kinder mit Trisomie 18 untersucht, die keine intensivmedizinische Behandlung erhielten, im Vergleich dazu zu deutlich geringeren Überlebensraten nach einer Woche, einem Monat und einem Jahr von 40 %, 22 % und 6 % (vergleiche dazu auch Rassmussen et al., 2003). Courtwright et al. (2011) untersuchten retrospektiv 192 Kinder mit als letal klassifizierten Fehlbildungen, von denen 160 pränatal diagnostiziert wurden, 2 perinatal und 30 postnatal. 115 der Frauen brachen die betroffene Schwangerschaft ab. Die Ergebnisse zeigen, dass von den Lebendgeborenen 75 % innerhalb der ersten zehn Tage und 90 % der Lebendgeborenen innerhalb der ersten vier Lebensmonate verstarben (Courtwright et al., 2011). Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass die Kinder, bei denen die Diagnose bereits pränatal gestellt worden war, weniger intensivmedizinische Behandlungen erhielten. Die Autoren kommen zum Schluss, dass eine aggressive intensivmedizinische Versorgung der betroffenen Neugeborenen zwar die kurzfristige Überlebenszeit um bis zu vier Tage verlängern kann, aber keine Auswirkungen auf die langfristige Überlebenswahrscheinlichkeit dieser Kinder habe. Daher sehen sie eine solche Versorgung für die Kinder als »prolongued dying« an, von der sie abraten (Courtwright et al., 2011). Diese Empfehlung ist jedoch deshalb kritisch zu bewerten, da in der Untersuchung nicht auf die Bedürfnisse der Eltern eingegangen wird und nicht klar wird, ob ein solches kurzes Überleben durch maximale intensivmedizinische Intervention nicht von manchen der Eltern gewünscht sein könnte und wie ein solcher Wunsch mit seinen ethischen Dimensionen diskutiert werden kann. Janvier et al. (2012) weisen in ihrer Untersuchung (s. o.) auf diese Diskrepanz und das mögliche daraus erwachsende Konfliktpotenzial zwischen ärztlicher und elterlicher Haltung hin, dass beispielsweise Ärzte oder Ärztinnen eine Beatmung nach der Geburt kritisch sehen, während die Eltern diese verlangen, um ein, wenn auch vielleicht kurzes Überleben ihres Kindes zu ermöglichen: »Some parents would rather have a child with extremely severe disabilities than a dead child, more than many physicians.« (Janvier et al., 2012, S. 297). Untersuchungsergebnisse weisen aber auch darauf hin, dass sich sowohl das Betreuungserleben als auch das Informationsbedürfnis von denjenigen Frauen, die die Schwangerschaft nach einer Diagnose fortsetzen, von dem der Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, unterscheidet: Wäh-
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rend sich in der Untersuchung von Walker et al. (2008) diejenigen Frauen, die die Schwangerschaft abbrachen, von den behandelnden Ärzten und Ärztinnen gut versorgt fühlten, traf dies nur auf einen Teil derjenigen Frauen zu, die keinen Abbruch durchführten. Ob dies den Schluss zulässt, dass Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, besser versorgt werden, ist aufgrund der geringen Teilnehmerzahl nicht zu sagen. Zumal Studien für den deutschen Kontext darauf hindeuten, dass sich auch Frauen, die sich für einen Abbruch der Schwangerschaft entscheiden, ebenfalls nicht gut versorgt fühlen. So stellt Strehlau (2003) in einer qualitativen Untersuchung mit Frauen, die nach pränataldiagnostischem Befund einen Schwangerschaftsabbruch durchführten, fest, dass die Frauen sich nach dem Schwangerschaftsabbruch nicht gut versorgt fühlten und es wenig Angebote zur Verarbeitung für sie gab. Auch die Ergebnisse meiner Masterthesis weisen nicht darauf hin, dass diejenigen Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, besser versorgt seien (Rost, 2007). Im Rahmen dieser Studie führte ich neun Interviews mit Frauen nach positivem pränataldiagnostischem Befund; sieben der Befragten hatten sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden, zwei Frauen hatten die Schwangerschaft fortgesetzt. Die Interviewdaten legen nahe, dass die Frauen nach positivem Befund eine klare Abbruchserwartung aufseiten des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin wahrnahmen, gleichzeitig das Sprechen über den Abbruch selbst aber ein Tabu darzustellen schien. Daraus war zu schließen, dass der Abbruch zwar in gewisser Weise erwartet wird, dass aber die moralische Verantwortung für diesen Abbruch der individuellen Frau zugesprochen wird oder dies von den Betroffenen zumindest so erlebt wird (Rost, 2007). Hinweise auf eine solche Tabuisierung des Abbrucherlebens finden sich auch in den Ergebnissen anderer Studien: So beschreibt Black (2011) in ihrer qualitativen Untersuchung von Frauen und ihren Partnern nach einem pränatal-diagnostischen Befund, dass Frauen, die sich zum Abbruch entscheiden, nur einem inneren Kreis, etwa sehr nahen Familienangehörigen oder Freunden, über den Abbruch erzählen, während sie für Arbeitskollegen und Bekannte eine sozial akzeptierte Geschichte konstruieren und beispielsweise vom Verlust der Schwangerschaft durch Fehlgeburt erzählen. Black (2011) konstatiert, dass Frauen, die einen Abbruch durchführen ließen, nicht von Schwangerschaftsabbruch, sondern von Geburtseinleitung oder Fehlgeburt sprachen. Zwischen den beiden Gruppen Abbruch und Weiterführen der Schwangerschaft zeigen sich in Walkers et al. (2008) Untersuchung auch Unterschiede im Informationsbedürfnis: Die Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, wollen in der retrospektiven Bewertung unbeschönigte, nicht idealisierende Informationen, während die Frauen, die die Schwangerschaft fortsetzen, sich positivere medizinische Informationen wünschen (Walker et al., 2008). Auch andere Autorinnen weisen auf die Schwierigkeit für den Diagnostiker
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bzw. die Diagnostikerin hin, das richtige Ausmaß an Informationen zu geben. So plädiert Black (2011) für ein sorgfältiges Abwägen zwischen der Verpflichtung, der Frau die Wahrheit zu sagen, und der Verpflichtung, mit Mitgefühl zu handeln, also zumindest Empathie zu zeigen und die Informationen darauf auszurichten. Gleichzeitig zeigt sich in einigen Studien, dass vielen Frauen bereits bei der Diagnosemitteilung der zeitnahe Schwangerschaftsabbruch als »Lösung« aufgezeigt werde; häufig geben die betroffenen Frauen an, sich durch den Diagnostiker bzw. die Diagnostikerin sogar zum Abbruch gedrängt gefühlt zu haben, oder sie empfanden den Abbruch zumindest als die vom Diagnostiker bzw. der Diagnostikerin präferierte Entscheidung (Baldus, 2006; RedlingerGrosse et al., 2002; Rost, 2007; Walker et al., 2008). Baldus (2006) sieht eine solche Abbruchserwartung als Situation für die Frauen, in denen keine Entscheidungssituation geschaffen werde, sondern die Betroffenen vor Tatsachen gestellt würden. Hinweise auf eine Abbruchserwartung spiegeln sich auch bei Walker et al. (2008) wider, in der die Frauen, die sich zum Weiterführen entschieden, angeben, dass sie den Eindruck hatten, mit ihrer Entscheidung entgegen der ärztlichen Empfehlung zu handeln. Einige Untersuchungen verweisen darauf, dass ebenso die Haltung des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin gegenüber Fehlbildung und Behinderung einen Einfluss auf die Beratungssituation haben und somit auch in Zusammenhang mit der späteren Entscheidung der Betroffenen stehen kann (Marteau et al., 1994). So fanden Statham et al. (2006) in einer qualitativen Untersuchung an vier verschiedenen Pränataldiagnostischen Zentren in Großbritannien, in deren Rahmen je 15 Interviews mit Ärzten bzw. Ärztinnen und Hebammen geführt wurden, heraus, dass Gynäkologen bzw. Gynäkologinnen, Genetiker bzw. Genetikerinnen und Hebammen individuell verschiedene Einstellungen zu verschiedenen Syndromen und Fehlbildungen hatten und es auch Unterschiede in der Haltung dazu gab, ab wann ein Fetozid durchgeführt werden könne oder solle, um eine Lebendgeburt zu verhindern. So fand sich bei einem Teil der Befragten die Einstellung, dass ein Überleben der Geburt des Kindes für die Betreuungspersonen eine schwer zu ertragende Belastung darstelle. Gleichzeitig gaben manche der Ärzte bzw. Ärztinnen aber an, für manche Fehlbildungen keinen Abbruch empfehlen zu wollen (Statham et al., 2006). Für den Kontext von Großbritannien stellen Statham et al. (2003) fest, dass die unklare gesetzliche Regulierung, bei welchen Fehlbildungen ein Spätabbruch durchgeführt werden kann, von den Akteuren des Gesundheitssystems als belastend erlebt werde, da
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dem einzelnen Akteur so eine explizite Verantwortung für Einzelentscheidungen zugesprochen werde (Statham et al., 2003).18 Neben diesen individuellen personenbezogenen Unterschieden zeigen sich aber auch Unterschiede in der Einstellung zur Pränataldiagnostik zwischen den involvierten Berufsgruppen. Für den deutschen Kontext zeigt Ensels (2002) qualitative Untersuchung zur Haltung von Hebammen zu Pränataldiagnostik und ihrem Umgang mit den Folgen dieser Technologie in der Praxis diese Spannungen auf. So sehen sich Hebammen wenig eingebunden in die Prozesse, die zur Pränataldiagnostik und einer Entscheidung über Abbruch oder Weiterführen führen, sind dann aber beispielsweise bei einem Schwangerschaftsabbruch mit den Auswirkungen dieser Technologie konfrontiert und haben deshalb häufiger eine kritische Einstellung gegenüber pränataldiagnostischen Untersuchungsmethoden (vgl. Ensel, 2002).19 Dass diese unterschiedlichen Haltungen Auswirkungen auf den Umgang mit den Betroffenen haben könnten, ist anzunehmen. So untersuchten Marteau et al. (1994) die Beratungen von Genetikern bzw. Genetikerinnen, Gynäkologen bzw. Gynäkologinnen sowie »genetic Nurses« und fanden berufsgruppenspezifische Merkmale. Am deutlichsten waren diese Unterschiede in Bezug auf die Diagnosestellung Down-Syndrom: während 94 % der »genetic Nurses« und 57 % der Genetiker bzw. Genetikerinnen angaben, non-direktiv zu beraten, traf dies nur auf 32 % der Gynäkologen bzw. Gynäkologinnen zu. Es macht also einen Unterschied, von welcher Berufsgruppe die Betroffenen nach einer Diagnosestellung beraten wurden (Marteau et al., 1994). Die meisten retrospektiven qualitativen Untersuchungen kommen zum Schluss, dass Frauen sich durch das Wissen um die Fehlbildung des Kindes in der Schwangerschaft zwar belastet fühlen, dennoch im Nachhinein dieses Wissen dem Nichtwissen vorziehen, weil es ihnen die Möglichkeit der Vorbereitung und Auseinandersetzung gegeben habe (Baldus, 2006). Skotko (2005) 18 Im deutschen Kontext wird an vielen Kliniken für schwierige Einzelfallentscheidungen eine Ethikkommission zur Entscheidungsfindung eingesetzt, wobei es regional eine große Varianz in der Art der Implementierung, den involvierten Berufsgruppen und der Wertigkeit der Eltern- bzw. Frauenentscheidung gibt. Im sogenannten »Erlanger-Modell« etwa setzt sich das Ethikkommitee aus Mitgliedern verschiedener Berufsgruppen und Patientenvertretern bzw. -vertreterinnen zusammen und arbeitet in Kooperation mit der Frauenklinik. In einer oder mehreren Sitzungen wird zu jedem Einzelfall beraten und eine Empfehlung erarbeitet, die jedoch für die Pränataldiagnostiker nicht bindend ist. (vgl. Link, 2011) 19 Für den deutschen Kontext ist ein Blick in die Stellungnahmen der unterschiedlichen Berufsverbände zu Pränataldiagnostik erhellend: Der deutsche Hebammenverband mahnt einen zurückhaltenden Umgang an und warnt vor den Folgen (Boch et al., 2006). Der Frauenärzteverband warnt vor den juristischen Folgen bei Nichteinsetzen bestimmter Verfahren. Hierbei ist anzunehmen, dass Ängste vor Unterhaltsklagen bei einer Nichtentdeckung von Behinderung (»wrongfull birth«; Riedel, 2003) ein wichtiger Einflussfaktor auf die Haltung der Ärzte bzw. Ärztinnen sind.
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verglich darüber hinaus die Erfahrungen pränataler und postnataler Diagnosemitteilung bei Down-Syndrom und zählt als Vorteile eines pränatalen Wissens auf, dass die Mütter angeben, die Möglichkeit zur Informationsbeschaffung gehabt zu haben und eben durch dieses pränatale Wissen ihre Ängste nach der Geburt geringer gewesen seien. Skotko (2005) argumentiert, dass durch den Abschluss des Trauerprozesses über das Anderssein des Kindes bereits in der Schwangerschaft die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom als frohes Ereignis gestaltet und gefeiert werden kann wie die Geburt eines anderen Kindes. Dass nicht jede Frau all diese Aspekte des vorzeitigen Wissens um die Fehlbildung ihres Kindes begrüßt, sondern dass Frauen auch ambivalente Gefühle gegenüber diesem Wissen haben können, zeigt die folgende Aussage der Mutter eines Kindes mit pränatal diagnostiziertem Herzfehler aus Statham et al. (2003, S. 169) Untersuchung: »I was glad they’d found out, but in another way I didn’t because it spoilt the pregnancy for me.«
4.2
Die Entscheidung nach der Diagnosestellung
Wird eine Fehlbildung oder ein Syndrom festgestellt, stehen Frauen nach der Diagnosemitteilung vor der Entscheidung, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen oder die Schwangerschaft fortzusetzen. Es ist nicht klar, ob das Weiterführen der Schwangerschaft oder der Schwangerschaftsabbruch mit mehr negativen Folgen für die Betroffenen verbunden sind. Bezogen auf die körperlichen Folgen zeigen Raymond und Grimes (2012) in ihrer umfassenden Auswertung von Müttersterblichkeitszahlen zwischen 1998 bis 2005 in den USA sogar auf, dass Mortalität und Morbidität bei legalen Schwangerschaftsabbrüchen deutlich niedriger sind als bei den zum Vergleich herangezogenen Lebendgeburten. Schwerer zu differenzieren sind mögliche psychische Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen. Während manche Autorinnen argumentieren, dass das Weiterführen helfen könne, Schuldgefühle zu vermeiden (vgl. Chitty et al., 1996), zeigen quantitative Untersuchungen keine Unterschiede in den Folgen für die Frauen auf (Statham et al., 2001). Es ist fraglich ob die Entscheidungen Weiterführen versus Abbrechen einer Schwangerschaft in Bezug auf die psychischen Langzeitfolgen verglichen werden können, da anzunehmen ist, dass es vielleicht gerade die dann zutage tretenden Unterschiede sein könnten, die zu den divergierenden Entscheidungen führten. Um die Frage nach möglichen Langzeitbelastungen nach Schwangerschaftsabbruch zu untersuchen, vergleichen Salvesen et al. (1997) eine Gruppe von Frauen, die nach pränataldiagnostischem Ultraschallbefund einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lässt mit Frauen, die eine späte Fehlgeburt erleiden
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oder deren Kind perinatal verstirbt. Die Ergebnisse zeigen keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen bezogen auf die psychologische Stressreaktion nach einem Jahr (ebd., 1997). Dies bestätigen Statham et al. (2001) mit den Ergebnissen einer Langzeituntersuchung von 247 Müttern und 190 Vätern, die ein positives Untersuchungsergebnis erhalten haben. Ein Großteil der vorliegenden Studien kommt zum Schluss, dass die meisten Frauen, wenn sie mit einem positiven Diagnoseergebnis konfrontiert sind, die Schwangerschaft abbrechen. Von den von Untersuchungen, die sich mit der Entscheidung nach positivem Pränataldiagnostikbefund befassen, bezieht sich eine große Anzahl auf Krankheitsbilder, bei denen die Frauen sich für oder gegen das Leben mit einem Kind mit bestimmtem Syndrom oder Fehlbildung entscheiden müssen, also auf Fehlbildungen oder Syndrome, die nicht oder nur selten mit dem Versterben des Kindes während der Schwangerschaft, der Geburt oder der ersten Lebensjahre verbunden sind. Einige Studien befassen sich mit der Entscheidung zum Weiterführen von Schwangerschaften nach Diagnose Trisomie 21 (Baldus, 2006, Skotko, 2005, Edwins, 2000). Baldus führte eine qualitative Untersuchung in Deutschland mit zehn Frauen durch, die sich nach Diagnose oder dem Verdacht Down-Syndrom zum Weiterführen der Schwangerschaft entschieden. Edwins (2000) führte fünf Interviews mit Frauen in Großbritannien, die nach pränataler Diagnose DownSyndrom die Schwangerschaft fortsetzten. Skotko (2005) untersuchte in einer US-amerikanischen Erhebung wie Mütter von Kindern mit Down-Syndrom ihre Betreuungssituation in der Schwangerschaft und nach der Diagnose erleben. Per Fragebogen, der quantitative und qualitative Elemente enthielt, befragte er 1126 Mütter, von denen 12,5 % die Diagnose bereits in der Schwangerschaft erfahren hatten. Hickerton et al. (2011) beschäftigen sich in ihrer australischen Untersuchung mit Frauen und Paaren, deren Kinder aufgrund unterschiedlicher Diagnosen voraussichtlich nach der Geburt überleben werden und die sich nach pränataldiagnostischem Befund für das Fortsetzen der Schwangerschaft entscheiden. Hickerton et al.s (2011) Ergebnisse zeigen, dass Eltern, die sich für ein Leben mit einem Kind mit Behinderung entscheiden, sich auf einen »neuen Lebenspfad« begeben, ihre Erwartungen an die Zukunft und an ihr Kind neu ausrichten. Durch die Diagnose verändert sich ihr soziales Umfeld, neue Kontakte mit anderen Betroffenen entstehen, der Freundeskreis verändert sich (ebd.). Auch Baldus (2006) zeigt auf, dass betroffene Frauen bereits in der Schwangerschaft ihre Zukunftsplanung revidieren. Es geht bei diesen Entscheidungen immer um die Entscheidung, ob ein Leben mit Kind mit Behinderung vorstellbar ist und wie ein solches gemeinsames Leben gestaltet werden kann (vgl. Hickerton et al., 2011). Manche Autoren und Autorinnen sehen deutliche Unterschiede im Ent-
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scheidungskonflikt bezogen auf das zu erwartende Überleben oder Versterben des Kindes. So wird das Weiterführen von Schwangerschaften nach der Diagnose von Syndromen, die zu einem wahrscheinlichen perinatalen Versterben des Fetus führen, von Garrett und Margerison (2003) als etwas gesehen, bei dem für die meisten Eltern die Entscheidung klar sei: »Trisomy 18 or Trisomy 13, both lethal abnormalities are conditions where the outcome can be predicted and the choice facing the couple is usually clear.« (Garrett and Margerison, 2003, S. 146). Bei der Diagnose letaler Fehlbildungen sehen die Autorinnen kein Entscheidungsdilemma für die betroffenen Eltern – der Abbruch ist für sie die logische Konsequenz der Diagnosestellung (Garett und Margerison, 2003). Ein Entscheidungsdilemma sehen sie vielmehr bei Fehlbildungen, bei denen das Outcome ungewiss ist, wobei die Autorinnen diese Ungewissheit insbesondere mit dem Grad der zukünftigen geistigen Beeinträchtigung des Kindes verbunden sehen (Garrett und Margerison, 2003, S. 146). Die Autorinnen reduzieren so die Entscheidung nach Pränataldiagnostik zu einem Abwägen der Tragbarkeit einer geistigen Beeinträchtigung des Kindes, und die Ausprägung dieser Beeinträchtigung erscheint als das Hauptkriterium der Entscheidungskonstitution von Eltern (ebd.). Redlinger-Grosse et al. (2002) dagegen argumentieren, dass es bei der Prognose einer infausten Behinderung des Kindes nicht darum gehe, eine gemeinsame Zukunft mit diesem Kind neu zu planen, sondern darum, Abschied von diesen Zukunftsplanungen zu nehmen oder gegen alle Wahrscheinlichkeiten weiter auf ein Wunder zu hoffen (Redlinger-Grosse et al., 2002). Überblick über Studien zum Weiterführen der Schwangerschaft nach infauster Diagnose Zur Erfahrung von Frauen und Eltern nach der pränatalen Diagnosestellung einer infausten Behinderung des Kindes gibt es hingegen wenige Untersuchungen. Manche dieser Untersuchungen bestehen aus Fallbeschreibungen oder haben nur eine geringe Anzahl von Teilnehmerinnen. Lockock (2005) präsentiert in einer Fallstudie die Erfahrung einer Familie, die sich nach pränataler Diagnose von Trisomie 13 für das Weiterführen der Schwangerschaft entscheidet. Das Interview, auf dem diese Fallstudie gründet, wurde im Verlauf einer Studie zu pränatalen Screeninguntersuchungen und Erfahrungen von Eltern mit positiven Untersuchungsresultaten erhoben. Chitty et al. (1996) stellen die Erfahrungen von fünf Paaren vor, deren Kinder eine letale pränatale Diagnose erhalten haben, und geben Empfehlungen für die Betreuung von Betroffenen. Einige Untersuchungen schließen in ihre Stichproben mit Teilnehmerinnen mit verschiedenen Diagnosestellungen auch Frauen ein, die eine letale Diagnose für das Ungeborene erhalten haben. So führten Lalor et al. (2009) eine Untersuchung durch, die 41 Frauen mit positivem pränatalem Untersuchungsbefund
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umfasst, von denen 10 die Schwangerschaft abbrachen und 31 weiterführten. Das Sample wurde angelehnt an den Stichprobenrahmen von Statham et al. (2001) in fünf prognostische Gruppen aufgeteilt und umfasst ein breites Spektrum von verschiedenen Diagnosen: 1) letale Fehlbildungen, 2) mentale oder physische Beeinträchtigungen ohne Heilungsmöglichkeit, 3) unsicher Prognose bezogen auf Langzeitbeeinträchtigungen und Lebensqualität, 4) Fehlbildungen, deren Behandlung mit unterschiedlichen Risiken behaftet sind, 5) unsichere Prognose bezogen auf die fetale Entwicklung. Zu dieser Studie gibt es verschiedene Veröffentlichungen, die sich jeweils mit anderen Aspekten der Ergebnisse befassen. So beziehen sich Lalor et al. (2008) auf das Informationsbedürfnis nach Diagnosestellung (darauf wird weiter unten näher eingegangen). Lalor et al. (2009) entwickeln ein Phasenmodell, das sich auf das Coping nach Diagnosestellung bezieht und das im Diskussionskapitel dem Modell der vorliegenden Studie gegenübergestellt wird. Dieses Modell, das die Autorinnen als einen Prozess des »Recasting Hope« überschreiben, besteht aus den vier Phasen »Assume normal«, »Shock«, »Gaining Meaning« und »Rebuilding«. Statham et al. (2001) führten eine Langzeituntersuchung in England mit 247 Müttern und 190 Vätern durch, von denen 148 der Frauen die Schwangerschaft abbrachen und 72 fortsetzten. Zusätzlich nahmen sie 27 Frauen in die Stichprobe auf, die die Diagnose erst postpartal erhalten hatten. In der US-amerikanischen qualitativen Untersuchung von De Vitry-Smith et al. (2012) mit Eltern, die eine pränatale »serious or lethal diagnosis« erhalten haben und die Schwangerschaft fortsetzten, wird insbesondere auf das Interaktionserleben und die Gestaltung der Interaktion durch die Betroffenen mit ihrer Umgebung eingegangen. Die Autorinnen führten 31 Interviews mit 20 Frauen und 11 deren Partner zu verschiedenen Zeitpunkten während der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes. De Virty-Smith et al. (2012) plädieren dafür, dass Frauen Unterstützung darin bekommen sollten, Interaktionsstrategien für den Zeitraum der verbleibenden Schwangerschaft nach der Diagnosestellung zu entwickeln. Die Studie von Redlinger-Grosse et al. (2002) hingegen zielt auf den Entscheidungsprozess nach der pränatalen Diagnosestellung Holoprosenzephalie von Frauen, die sich entschieden, die Schwangerschaft fortzusetzen. Es wurden 24 Personen interviewt: 10 Paare und 4 Mütter. Die Autorinnen sehen diese Fehlbildung als letal klassifiziert, wobei sie feststellen, dass, auch wenn ein großer Teil der Kinder innerhalb weniger Tage oder Monate versterbe, es doch Kinder mit dieser Fehlbildung gebe, die in Abhängigkeit der Ausprägung eine normale Lebensspanne erfahren können (ebd.). Walker et al. (2008) untersuchten die Erfahrungen von 19 Familien, deren Kinder die pränatale Diagnose Trisomie 18 erhalten hatten, mit dem Fokus auf
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dem Erleben der Betreuungssituation. Auf die Unterstützung durch das nahe Umfeld bezieht sich die Untersuchung von Bruns und Foerster (2011). Die Autoren analysieren in ihrer qualitativen Untersuchung von 20 Müttern überlebender Kinder mit Trisomie 13 oder Trisomie 18 (in anderen Studien als letale Behinderungen klassifiziert, s. o.), welche Unterstützung diese Frauen vom Partner und auch von Familie und Freundeskreis erhalten, und welches Unterstützungsbedürfnis sie überhaupt haben. Während der Partner für die meisten der Befragten die wichtigste Unterstützungsinstanz darstellt, zeigen sich in ihren Ergebnissen große Unterschiede im Grad an Unterstützung, den die Frauen von ihrer nahen Familie, also den eigenen Eltern und Schwiegereltern und Geschwistern, erfahren (Bruns und Foerster, 2011). Für den deutschen Kontext fehlen Untersuchungen zum mütterlichen Erleben der pränatalen Diagnosestellung letaler Fehlbildungen und Weiterführen der Schwangerschaft. Die Entscheidungsfindung Vielen Frauen ist eine autonome Entscheidungsfindung wichtig, egal zu welcher Entscheidung sie letztendlich kommen (vgl. Statham et al., 2001). Dennoch fordern einige Autorinnen, den Entscheidungsrahmen vorzugeben und den Zeitraum, innerhalb dessen die Entscheidungsfindung abgeschlossen sein sollte, klar zu begrenzen. So warnen etwa Garrett und Margerison (2003, S.156) vor einer zu langen Entscheidungsfindungsphase und empfehlen, den Betroffenen zwar einen ausreichenden, aber auch klar begrenzten Entscheidungszeitraum vorzugeben. Die Autorinnen sehen bei einer zu langen Entscheidungszeit die Gefahr des Aufschiebens der Entscheidung, die zum einen zu impulsiven, unüberlegten Entscheidungen führe, zum anderen die Gefahr berge, die Entscheidung zum Weiterführen durch »default«, also durch Nicht-Entscheiden, zu treffen (Garrett und Margerison, 2003, S. 157). Als Beweggründe, eine Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose einer schwerwiegenden Fehlbildung des Ungeborenen weiterzuführen, werden in vielen Untersuchungen religiöse Überzeugungen und Lebenseinstellungen angegeben (vgl. Chitty et al., 1996; Rapp, 1999; Redlinger-Grosse et al., 2002).20 Aber auch vorangegangene Erfahrungen mit Infertilitätsbehandlung, Behinderung oder die Hoffnung, die Diagnose könne sich als weniger schwerwiegend
20 Diese Betonung religiöser Argumentationen im amerikanischen Kontext spiegelt sich ebenso in der Arbeit von Rapp (1999) oder Katz-Rothman (1986) wider, die die Argumente der Pro-Life- oder Pro-Choice-Positionen auch in den Stimmen der betroffenen Mütter erkennen.
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erweisen, werden genannt (Chitty et al., 1996; Locock, 2003; Redlinger-Grosse et al., 2002). Statham et al. (2003, S.166) nennen vier Faktoren, die in direktem Zusammenhang mit dem Entscheidungsausgang stehen (Statham et al., 2003): – Ausprägung der Fehlbildung – vorherige Haltung der Eltern zu Schwangerschaftsabbruch und die Vorstellungen über den Abbruch selbst – antizipierte Auswirkungen des Austragens auf sich und andere – Schwangerschaftswoche zum Zeitpunkt der Diagnose Statham et al. (2001) weisen darauf hin, dass die Bewertung, als wie schwerwiegend eine Fehlbildung wahrgenommen wird, im individuellen Ermessen der Betroffenen sehr verschieden ausfallen kann: So werde etwa eine Lippen-KieferGaumenspalte von manchen Eltern als schwerwiegend, von anderen als leicht eingeschätzt. Die Ergebnisse von Statham et al. (2001) zeigen aber auch komplexe Abwägungsprozesse der Frauen bzw. Eltern auf, die sich auf die Auswirkungen des Abbruchs oder des Weiterführens auf bereits geborene Geschwisterkinder, aber auch auf zukünftige, noch nicht geborene Kinder beziehen. Bestätigt wird durch andere Untersuchungen zum Entscheidungsprozess, dass betroffene Frauen abwägen, welche Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen, um ein Weiterführen bewältigen zu können. So scheint die Unterstützung durch den Partner und die Familie ein wichtiger Aspekt zu sein (vgl. Baldus, 2006; Sandelowski und Jones, 1996; Redlinger-Grosse et al., 2002). Statham et al. (2001) stellen fest, dass ein möglichst früher Zeitpunkt der Diagnose die Entscheidungsfindung vereinfachen kann und zu höheren Abbruchraten führt (Statham et al., 2001). Jedoch geben Mansfield et al. (1999) in ihrer systematischen Übersichtsarbeit zu Abbruchraten bei verschiedenen Syndromen zu bedenken, dass sich die höheren Abbruchraten bei Diagnosestellung in frühen Schwangerschaftswochen auch durch die vielleicht schon höhere Bereitschaft zum Abbruch in dieser Gruppe Frauen, die sich zu solchen frühen Tests entscheidet, erklären lassen könne. Neben den oben genannten Faktoren die zur Entscheidungsfindung beitragen, zeigen andere Autoren bzw. Autorinnen auf, dass die Abwägungen im Entscheidungsprozess weitere Faktoren beinhalten können. So betont Baldus (2006, S. 176) etwa das Bedürfnis der Frauen, eine Entscheidung zu finden, die die »Konsistenz und Kontinuität der eigenen Identität« erlaube und zu der die von ihr befragten Frauen kommen, indem sie auf eigene Erfahrungen der Denormalisierung, aber auch auf praktische Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung etwa im beruflichen Kontext zurückgreifen (vgl. Baldus, 2006, S. 176–177).
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In der bestehenden Literatur findet sich wenig darüber, welchen Preis das Weiterführen der Schwangerschaft für die Betroffenen bezogen auf Karriereentscheidungen, Studium und Gehaltseinbußen hat und ob solche Gedanken die Entscheidung beeinflussen können. Baldus (2006) schließt in ihrer Untersuchung auch die Frage nach dem Mehrbedarf an finanziellen Mittel ein, der durch höhere Betreuungskosten eines Kindes mit Behinderung, aber auch durch den Ausfall eines Elterneinkommens durch den höheren Betreuungsaufwand des Kindes entstehen kann. Sie stellt dabei aber fest, dass die Mehrheit der von ihr untersuchten Frauen in einer finanziell abgesicherten Situationen lebt und Abwägung über finanzielle Belastungen durch die Geburt des Kindes für den Entscheidungsprozess bei keiner der befragten Frauen eine Rolle spielte (vgl. Baldus, 2006, S. 279ff.). Statham et al. (2003) gehen insbesondere auf praktische Belastungen im Schwangerschaftsverlauf nach der Entscheidungsfindung ein, benennen diese Belastungen aber nicht als Faktoren, die die Entscheidung selbst beeinflussen. Einige dieser von den Betroffenen als ökonomisch relevant benannten Aspekte sind etwa die Belastungen durch die Kosten der Anreise zu pränataldiagnostischen Zentren, die Kosten des Arbeitsausfalles, Parkkosten oder die Kosten für die Betreuung älterer Kinder (Statham et al., 2003, S. 171). In manchen Untersuchungen wird auch auf den sozialen Preis, den die Frauen für ihre Entscheidung bezahlen, eingegangen. So sieht Baldus diejenigen Frauen, die sich nach der Diagnose Trisomie 21 für ein Weiterführen der Schwangerschaft entscheiden, als »Exotinnen«, die ihre Entscheidung häufig auch im nahen Umfeld, etwa gegenüber den eigenen Eltern bzw. Schwiegereltern, rechtfertigen müssen und zudem wenig Unterstützung erfahren (Baldus, 2006, S. 297ff., Lawson, 2003). Auch Redlinger-Grosse et al. (2002) sehen bei den von ihnen befragten Frauen bzw. Paaren, dass einige wenig Unterstützung durch das nahe Umfeld erhielten, während andere Betroffene große Unterstützung »no matter what« bekamen. In Bezug auf die Entscheidungsfindung zeigen sich noch weitere für die Frauen wichtige Aspekte. Wie unterschiedlich etwa das Informationsbedürfnis von betroffenen Frauen bzw. Eltern, die die Schwangerschaft fortsetzen, sein kann, zeigen die von Lalor et al. (2008) beschriebenen zwei Umgangsstrategien auf Seiten der Frauen, die die Autorinnen »Monitoring« und »Blunting« nennen: Während die eine Gruppe Informationen wünscht und Kontrolle über den Ablauf haben möchte (»Monitoring«), möchte sich eine andere Gruppe von Frauen erst mit Problemen auseinandersetzen, wenn diese akut sind. Bis dahin versuchen diese Frauen zu verdrängen (»Blunting«). Während also die eine Gruppe der Frauen durch mehr Informationen mehr Kontrollgefühl hat, fühlt sich die andere Gruppe durch mehr Informationen stärker verunsichert. Die Autorinnen stellen aber auch einen Unterschied zwischen dem Informationsbedürfnis von
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Müttern und Vätern fest; die Ergebnisse legen nahe, dass Väter eher der Informationsbedürfnisgruppe »Monitoring« angehören, während Mütter mehr der »Blunting«-Gruppe zugehören (Lalor et al., 2008). Ob diese Unterschiede geschlechtsspezifisch sind oder mit den unterschiedlichen Rollen, die mit dem »Tragen« der Schwangerschaft und dem Partner-Sein zusammenhängen, ist nicht klar. Die Autorinnen fordern jedoch, dass dieses individuell unterschiedliche Informationsbedürfnis in der Betreuungssituation wahrgenommen werden sollte, und ihm sowohl in Bezug auf die einzelne Frau, aber auch bezogen auf die möglicherweise unterschiedlichen Bedürfnisse der beiden Partner genüge getan werden sollte (Lalor et al., 2008). Schwangerschaft auf Probe Viele Autorinnen kritisieren, dass bereits die Möglichkeit, eine fetale Fehlbildung in der Schwangerschaft feststellen und eine solche Schwangerschaft abbrechen zu können, das Bindungsverhalten von Frauen zum Fetus verändern könne. So beschreibt beispielsweise Katz-Rothman (1986) in ihrer qualitativen Untersuchung zum Erleben von Amniozenteseuntersuchungen, dass Frauen Schwangerschaften zunächst als »tentative pregnancies«, also »Schwangerschaften auf Probe«, eingingen und eine Verbindung zum Kind erst aufbauten, wenn sie davon ausgingen, dass das Kind im Bauch gesund sei, wenn also die Amniozentese ein unauffälliges Ergebnis erbringe. Statham et al. (2003) stellen fest, dass sich in ihren Untersuchungsergebnissen diese Hypothese Katz-Rothmans nicht belegen lässt, und nennen eigene Untersuchungen im Bereich Pränataldiagnostik, in denen sich das Phänomen der »tentative pregnancy« nicht finden ließe (vgl. Statham et al., 2001). Sie schließen vielmehr aus ihren eigenen Untersuchungen, dass die Möglichkeit der Pränataldiagnostik allein nicht zu einer Schwangerschaft auf Probe führe, sondern dass vielmehr erst verdächtige Befunde und positive Untersuchungsergebnisse zu einer Unterbrechung und Aufschiebung der Bindung zum Ungeborenen führen würden (Statham et al., 2003). Eine solche Bindungsunterbrechung durch ein positives Untersuchungsergebnis wird ebenfalls von verschiedenen anderen Autorinnen beschrieben. Baldus (2006) beispielsweise interviewte in einer qualitativen Untersuchung neun Frauen, die nach der Diagnose Trisomie 21 die Schwangerschaft weiterführten, und beschreibt die Diagnosemitteilung als zentralen Ereignisknoten, der in die Wirklichkeit der Mutter-Kind-Dyade einbreche (Baldus, 2006, S. 196). Während sie in ihrem Sample eine frühe Bindung zum Ungeborenen feststellt und diese mit Katz-Rothmans Konzept der »Schwangerschaft auf Probe« kontrastiert, stellt sie doch ein Fremdwerden des Kindes und »Monsterfantasien« in direktem Zusammenhang mit der Diagnosemitteilung fest. Baldus findet dieses
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Fremdwerden des Fetus allerdings nicht bei allen befragten Frauen, sondern sieht diese Frauen in einer »Koalition mit dem Ungeborenen«, in der die Autorin eine tiefenpsychologische Auseinandersetzung und ein Annehmen eigener defizitärer Anteile erkennt (Baldus, 2006, S. 215). Da die Frauen in Baldus‹ Studie sich zum Weiterführen der Schwangerschaft nach Diagnosestellung DownSyndrom entschieden haben und somit eine Minderheit darstellen, ist nicht klar, ob Katz-Rothmans These nicht zumindest auf einen Teil der anderen Frauen zutreffen könnte. Das Konzept von »Schwangerschaft auf Probe« ist eng verknüpft mit der Technisierung von Schwangerschaft und Geburt und deren Versprechung der Geburt eines gesunden Kindes durch u. a. pränataldiagnostische Untersuchungsmöglichkeiten: wenn nur alle Verhaltensmaßregeln eingehalten werden, wird der »Produktionsprozess« reibungslos ablaufen und am Ende ein perfektes Produkt stehen (vgl. Katz-Rothman, 1986; Paff-Ogle et al., 2011). Dies bedeutet im Umkehrschluss allerdings auch, dass Behinderung innerhalb eines solchen Konzepts von Schwangerschaft zu etwas wird, das vermeidbar ist und dem mit Prävention zuvorgekommen werden kann. Deutlich wird dieses Konzept von Schwangerschaft auch beim Blick auf die Situation, wenn eine Behinderung erst postpartal erkannt wird. Denn wird eine Behinderung erst nach der Geburt festgestellt, so scheint dies immer an einer Ursache, nämlich einem Verschulden der individuellen Frau, festzumachen zu sein. So findet Landsman (1998) in den Interviews mit Frauen, deren Kinder im ersten Lebensjahr mit einer Behinderung diagnostiziert wurden, Hinweise darauf, dass Behinderung als etwas individuell Verantwortbares verstanden und deshalb von manchen der betroffenen Frauen die Behinderung ihres Kindes als »ungerecht« empfunden werde, weil sie ja alles richtig gemacht hätten, beispielsweise nicht getrunken hätten und keiner Risikogruppe zugehörig gewesen seien, was schlussendlich wieder zu einem Verständnis von Schwangerschaft als Produktionsprozess führt, der kontrolliert werden kann (Landsman, 1998). Unterstützt wird dies sich durch den Vorwurf an Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, eine solche Behinderung sei heute nicht mehr notwendig (Lenhard, 2005).
4.3
Exkurs: Der Fokus auf die Schnittstellenproblematik im deutschen Kontext
Für den deutschen Kontext gibt es wenige Studien, die das Weiterführen nach positivem Pränataldiagnostikbefund untersuchen. Auffällig erscheint beim Sichten der Literatur, dass der Schwerpunkt der Fokussierung auf »Schnittstellenproblematiken« liegt, der sich in diesem Ausmaß nicht in der interna-
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tionalen Literatur widerspiegelt. Diese besondere Problematik mag auf die Struktur der Schwangerenvorsorge oder der Gesundheitsversorgung allgemein zurückzuführen sein. In Untersuchungen zum Erleben schwangerer Frauen nach positivem Pränataldiagnostikbefund nennen Autorinnen wie Baldus (2006) oder Feldhaus-Plumin (2005) die Schnittstellenproblematik als ein zentrales Problem in der Versorgungssituation in Deutschland (vgl. etwa Baldus, 2006; Feldhaus-Plumin, 2005). Darunter verstehen sie die geringe Vernetzung der verschiedenen involvierten Berufsgruppen im Bereich Schwangerschaftsvorsorge und Pränataldiagnostik. Um die Versorgungssituation für die betroffenen Familien zu verbessern, wurden bereits in verschiedenen Bundesländern Pilotprojekte initiiert und infolge dessen wissenschaftlich begleitet. Viele Arbeiten fokussieren dabei auf Versorgungsmodelle, die psychosoziale Beratung in pränataldiagnostische Zentren integrieren oder zumindest auf eine interdisziplinäre Kooperation ausgerichtet sind. Unter Kooperation wird in diesen Projekten dabei zumeist die Kooperation von Pränataldiagnostiker bzw. Pränataldiagnostikerin und psychosozialen Beratungsstellen verstanden (vgl. Bruder et al., 2009; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2008; Pauli-Magnus et al., 2010, 2011). Beispiele für einen solchen Fokus auf die Kooperation von pränataldiagnostischen Zentren mit psychosozialen Beratungsstellen sind etwa das Modellprojekt in Bayern (Mayer-Lewis, 2010) und Baden-Württemberg (Bruder et al., 2009) sowie ein weiteres in Nordrhein-Westfalen (Rohde und Woopen, 2007a). Rohde und Woopen (2007a) fanden in ihrer Auswertung des Modellprojekts zu psychosozialer Beratung, dass Frauen unabhängig von ihrer letztendlichen Entscheidung große Zufriedenheit mit dem Angebot einer Beratung im Anschluss an den Erhalt eines positiven pränataldiagnostischen Befundes zeigten. Die Autorinnen stellen fest: »Dabei stellt die räumliche und enge organisatorische Anbindung an die PND eine besonders wichtige Ausgangsbedingung dar: Die Beratung muss zur Patientin kommen, um sie in der Krisensituation zu erreichen.« (Rohde und Woopen, 2007b, S. 17). Die im Bonner Modellprojekt statuierten Abbruchszahlen von 75 %, die deutlich geringer sind als die allgemein angenommenen Abbruchszahlen nach positivem Befund, weisen auf die Möglichkeit einer Entscheidungseröffnung durch eine solche Kooperation und ein integriertes Beratungsangebot hin (Rohde und Woopen, 2007a). Auch die Erweiterung des Schwangerschaftkonfliktgesetzes um § 2a im Januar 2010 soll zu einem verbesserten Zugang zu psychosozialer Beratung für die betroffenen Frauen bzw. Paare führen. Danach soll die Ärztin bzw. der Arzt die Frau über den Rechtsanspruch auf eine psychosoziale Beratung informieren und im gegebenen Fall den Kontakt zu einer solchen Beratungsstelle vermitteln, also einen Termin vereinbaren und darüber hinaus Informationsmaterial der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) weitergeben. Auch ist in der
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Schwangerschaft mit infauster Prognose – Problemaufriss
Neufassung des § 2a SchKG die Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation, das Hinzuziehen von Ärztinnen bzw. Ärzten anderer Disziplinen etwa Pädiaterinnen bzw. Pädiatern oder Humangenetikerinnen bzw. Humangenetikern, aber auch psychosozialer Beratern bzw. Beraterinnen festgeschrieben. Erste Untersuchungsergebnisse, die die Auswirkungen der neuen gesetzlichen Regelung in der Praxis auswerten, zeigen jedoch nur einen geringen Anstieg an Inanspruchnahme von psychosozialer Beratung (Horstkötter et al., 2012). Die Autorinnen nehmen als einen Grund das Verständnis von »Vermittlung« auf ärztlicher Seite an, bei dem bereits der Hinweis auf die Möglichkeit einer Inanspruchnahme von Beratung vielfach als ausreichende Vermittlung angesehen werde. Verschiedene Autorinnen geben auch Berührungsängste und Vorurteile gegenüber der jeweils anderen Profession als möglichen weiteren Grund für die mangelnden Überweisungen gerade zu psychosozialer Beratung an (Horstkötter et al., 2012; Rohde und Woopen, 2007b). Im von der BZgA finanzierten Projekt »Interdisziplinäre Qualitätszirkel in der Pränataldiagnostik« wurden verschiedene Qualitätszirkel im Bundesgebiet, die auf die Verbesserung der interdisziplinären Kooperation und Zusammenarbeit abzielen, über eine Zeitspanne von mehreren Jahren wissenschaftlich begleitet, Moderatoren geschult und das Projekt evaluiert (Kuhn et al., 2008). Akteure aus verschiedenen Berufsgruppen tauschen dabei in regelmäßig stattfindenden Treffen Fallvorstellungen aus. Die teilnehmenden Berufsgruppen setzten sich auf ärztlicher Seite aus Gynäkologen bzw. Gynäkologinnen, Pränataldiagnostikern bzw. Pränataldiagnostikerinnen, Humangenetikern bzw. Humangenetikerinnen und Pädiatern bzw. Pädiaterinnen zusammen; die nicht-ärztlichen Teilnehmerinnen sind psychosoziale Berater und Beraterinnen, Psychologen und Psychologinnen, Seelsorger und Seelsorgerinnen sowie Hebammen. In der Auswertung der Treffen zeigt sich eine Verbesserung der interdisziplinären Vernetzungsstruktur, so werden neue Kooperationspartnerschaften oder Überweisungsstrukturen angegeben oder bestehende intensiviert (Kuhn et al., 2008). Die Ergebnisse der Evaluierungen geben schließlich auch Hinweise darauf, dass sich das gegenseitige Verständnis der Berufsgruppen durch die regelmäßigen Treffen und den intensiven Austausch erhöht (Kuhn et al., 2008). Ob dies allerdings zu einer größeren Zufriedenheit der betroffenen Familien führt, muss weiter untersucht werden.
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Zwischenfazit
Wie im vorangehenden Kapitel aufgezeigt wird, haben in den letzten Jahrzehnten Technisierung, Medikalisierung und Risikoorientierung in die Schwangerschaftsvorsorgelandschaft zunehmend Einzug erhalten und die Le-
Zwischenfazit
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bensphase Schwangerschaft und Geburt verändert. So ist beispielsweise Pränataldiagnostik durch die Integration von Ultraschall ins Vorsorgeschema fester Bestandteil des Versorgungsangebotes. Gerade beim Blick auf Pränataldiagnostik wird deutlich, dass die ihr innewohnenden Verheißungen von Sicherheit und Machbarkeit eines gesunden Kindes durch den medizinischen Fortschritt im Kontrast stehen zu der Situation, in der Frauen sich nach einem positiven Pränataldiagnostikbefund befinden. Eine Behandlungsmöglichkeit der diagnostizierten Fehlbildung ist zumeist nicht möglich, und die Frauen sind vielmehr mit der Entscheidung konfrontiert, die Schwangerschaft abzubrechen oder weiterzuführen. Die legalen Rahmenbedingungen in Deutschland eröffnen Frauen die Möglichkeit, sich für einen Schwangerschaftsabbruch im Falle eines positiven Pränataldiagnostikbefundes entscheiden zu können; der Blick auf die Statistiken zu Schwangerschaftsabbrüchen und Fehlbildungshäufigkeiten zeigt, auch wenn die Datenlage eingeschränkt ist, dass die meisten Frauen sich nach der pränatalen Diagnose einer schwerwiegenden Fehlbildung des Ungeborenen für einen solchen Abbruch der Schwangerschaft entscheiden. Studien über Frauen, die sich anders entscheiden und eine solche Schwangerschaft fortsetzen, weisen darauf hin, dass die meisten Frauen die Mitteilung der Diagnose als Schock erleben und nicht darauf vorbereitet sind. Als besonders wichtig zeigt sich das Kommunikationsverhalten des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin. Für den anschließenden Entscheidungsprozess scheint auch das Ausmaß der Fehlbildung einen wichtigen Einflussfaktor darzustellen. Während Studien, die sich mit der Entscheidung zum Weiterführen nach der pränatalen Diagnose mit dem Leben vereinbarer, »lebensfähiger« Behinderungen befassen, feststellen, dass diese Frauen sich mit ihrer Entscheidung auch für einen neuen Lebenspfad entscheiden – dem Leben mit einem Kind mit Behinderung, zeigen die Untersuchungen von Entscheidungsprozessen nach der Diagnose einer letalen, »nichtlebensfähigen« Behinderung Fehlbildung komplexe Entscheidungsabwägungen auf. Im deutschen Kontext gibt es keine Untersuchungen zum Erleben von Frauen, die bei infauster pränataler Prognose des Kindes die Schwangerschaft fortsetzen Internationale Studien zeigen jedoch auf, dass die kontextuellen Bedingungen, in denen die Frauen sich finden, eng verknüpft mit diesem Erleben sind, angefangen von den rechtlichen Rahmenbedingungen, über die Vorsorgestruktur, bis zur Rolle des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin und der familiären Situation, in der die individuelle Frau sich befindet.
Teil II: Perspektive und Methode
Nachdem im vorangehenden Teil I ein Problemaufriss erfolgte, die Landschaft, innerhalb der die Studie situiert ist, und die Kontextbedingungen dargestellt wurden, erfolgt im Teil II zunächst die Entwicklung der heuristischen Perspektive. Im Anschluss daran wird aufgezeigt, wie die Ausgangsforschungsfrage im Forschungsprozess weiterentwickelt und geschärft wurde. Daran schließt sich die Begründung der Wahl der Forschungsmethode, eine Darlegung der gewählten Methodologie und eine Beschreibung des Forschungsprozesses selbst an. Teil II endet mit den der Arbeit zugrunde liegenden Gütekriterien.
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Die heuristische Perspektive der Studie – die Konstruktion von Wissen oder Wissenschaft als Konstruktion
In diesem Kapitel soll das der vorliegenden Studie zugrunde liegende Forschungsparadigma aufgezeigt werden, die Basis also, aufgrund derer die verwendete Methodologie und die Methoden ausgewählt wurden, und die Perspektive, mit der auf den Forschungsgegenstand geblickt wird. Hesse-Biber und Leavy (2006) vergleichen das Forschungsparadigma dabei mit Fenstern, durch die die Realität, die Welt gesehen wird, sozusagen als »windows into the reality« (Hesse-Biber und Leavy, 2006, S. 45). Die Forscherin muss sich in Anlehnung an diese Metapher zu Beginn eines Forschungsvorhabens entscheiden und begründen, welches Fenster sie öffnen will, und in ihrer Arbeit diese Perspektive transparent machen (ebd.). An dieser Stelle sollen daher zunächst anhand der von Hesse-Biber und Leavy (2006, S. 46) postulierten Fragen zur Struktur und Gliederung behandelt werden, um die Perspektive zu klären: 1. How is knowledge constructed? 2. Who can be a knower? 3. What is the nature of the individual? 4. What can be known?
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Perspektive und Methode
6.1
Konstruktivismus und feministische Standpunkttheorie. Perspektive auf Wissenschaft sowie auf Forscherin und Forschungsobjekt
»How is knowledge constructed?« »Who can be a knower?«
Den epistemologischen Rahmen dieser Studie bilden die Konzepte des Konstruktivismus (vgl. Crotty, 1998, S. 8–9). Im Konstruktivismus wird Wissen nicht als objektive Wahrheit gesehen, die entdeckt werden muss; vielmehr ist Wissen im Konstruktivismus etwas, das von Individuen konstruiert wird (vgl. Crotty, 2009). Demzufolge können verschiedene Personen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, auch wenn sie die gleiche Methode anwenden: »Different people may construct meaning in different ways.« (vgl. Crotty, 2009, S. 8–9)
Konstruktivismus hat ein »Bild« von »Forschungsobjekt«, das den Beforschten zum Partner im Forschungsprozess macht, Forscherin und »Beforschter« erzeugen das Wissen in einem gemeinsamen Prozess (Crotty, 1998, S. 8–9): In der Frage nach der Konstruktion von Wissen geht es nicht nur darum, »wie« diese Konstruktion erfolgt, sondern auch darum, »wer« dieses Wissen konstruiert. Die Perspektive der vorliegenden Studie orientiert sich dabei neben den im Methodenkapitel ausführlicher dargestellten Konzepten des Konstruktivismus auch an Konzepten der feministischen Standpunkttheorie und hierbei insbesondere an Dorothy Smiths Standpunkttheorie (1998, 2004). Diese Standpunkttheorie geht nicht von einer unabhängigen, objektiven Forscherin und einem von seinem Kontext unabhängigen, losgelösten Forschungsobjekt aus, sondern sieht beide in Kontexte eingebunden. Ihre Wahrnehmungen der Welt, Bedeutungszuschreibungen und Handlungen sind abhängig von ihren Standpunkten, also der Verortung eines jeweiligen Subjekts innerhalb sozialer Strukturen, seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe, dem Kontext, in dem es sich befindet, seinen Erfahrungen (vgl. Smith, 2004, 1998). Diese Standpunkte beeinflussen, wie die Realität wahrgenommen wird. Zentral ist hier die Anerkennung, dass es einen Unterschied macht, ob beispielsweise die Forscherin sich im Forschungsbereich als Frau, Hebamme oder Mutter bewegt, als Betroffene oder als professionelle Begleiterin. Zum einen ist diese Situiertheit ausschlaggebend für den Blick der Forscherin auf die Teilnehmerin, gleichzeitig ist aber auch die einzelne Teilnehmerin »situiert« und nimmt von ihrem individuellen Standpunkt aus die Forscherin wahr. Ein solches Konzept vom verorteten Standpunkt der Forscherin widerspricht den positivistischen Anforderungen quantitativer Wissenschaft, in denen die Forscherin als »Forschungsinstrument« eine möglichst objektive, neutrale Position einnehmen sollte. Auch Haraway (1988, 1995) kritisiert dieses positivistische
Konstruktivismus und feministische Standpunkttheorie
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Wissenschaftsparadigma, das objektives Wissen für machbar halte. Diesen Anspruch an Objektivität von Forschung, das Objektivitätsideal, den Versuch der Positionierung des Forschers außerhalb des Forschungsobjekts, bezeichnet Haraway als »Gottes-Trick«, als Versuch, eine erhabene Stellung einzunehmen (Haraway, 1995, S. 84). Im Gegensatz dazu geht sie von einer Situiertheit des Wissens aus (Haraway, 1988). Sie betont, dass die Situiertheit der Forscherin, ihr Platz in der Forscherinnengemeinschaft, ihre persönlichen Erfahrungen und Werte und ihre soziale Stellung im Verhältnis zu den »Beforschten«, den Interviewpartnerinnen, ihr Verständnis des untersuchten Phänomens beeinflussen. Eine Forschungsepistemologie, die Wissen als situiert ansieht, setzt demzufolge laut Haraway eine Positionierung, Situierung und Lokalisierung der Forscherin voraus (Haraway, 1995). Daher ist es notwendig, wie Harding (1994) postuliert, die Forscherin als ein auch körperlich im Forschungsprozess präsentes Subjekt zu benennen, die eben nicht als unbeteiligtes, neutrales externes Forschungsinstrument gesehen werden kann. Zusätzlich stellt die Sensibilität für Machtverhältnisse und Strukturen einen wichtigen Aspekt innerhalb feministischer Standpunkttheorien dar (Smith, 2004). So betont die feministische Wissenschaftstheorie, dass der Standpunkt von Forscherin und beforschter Person innerhalb bestehender Machtstrukturen als Ausgangspunkt für das Gewinnen neuer Erkenntnisse über Phänomene dienen kann. Dorothy Smith entwickelte ihre feministische Standpunkttheorie deswegen aus der Frage heraus, wie anders die Welt aussehen würde, wenn sie von einem solchen Frauenstandpunkt aus untersucht würde (Smith, 1990). Dorothy Smiths Standpunkttheorie gründet im sozialistischen Feminismus und der Vorstellung von dichotomen Machtverhältnissen, wie sie Marx in seinen Konzepten von Kapitalist und Proletarier darstellt, einer Darstellung von gesellschaftlicher Ordnung, die er aus Hegels »Herrschaft und Knechtschaft« herleitet. In diesem Modell ist das Verständnis für Zusammenhänge vom Standpunkt innerhalb der Herrschaftsverhältnisse abhängig; es gibt eine übergeordnete und eine untergeordnete Gruppe (vgl. Smith, 1990). Smith (1998) basiert ihre Standpunkttheorie auf diesem Verständnis von Machtstrukturen, nämlich dass Frauen in einer männlich dominierten Welt leben, in der sie gesellschaftlich eine untergeordnete Stellung einnehmen. Was eine Person weiß und wie sie Zusammenhänge versteht, wird als abhängig von ihrem Standpunkt gesehen, abhängig von Machtverhältnissen, davon ob die Person einer übergeordneten oder untergeordneten Gruppe angehört. Wissen und Wissenschaft werden ebenfalls als Produkte gesehen, die innerhalb von bestehenden Machtstrukturen entstehen. Dies ist ein Aspekt, den auch Haraway herausstellt, wenn sie für eine Verortung von Wissen plädiert und betont, dass
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Perspektive und Methode
»die Sicht von unten besser ist als die von den strahlenden Weltraumplattformen der Mächtigen herab« (Haraway, 1995, S. 83). So wird auch die Situiertheit der Forscherin selbst zu einem wichtigen Aspekt und kann laut Smith als Ausgangspunkt der Forschung verwendet werden: »If sociology cannot avoid being situated, then sociology should take that as its beginning and build it into its methodological and theoretical strategies.« (Smith, 1990, S. 22) Durch das Einnehmen eines Frauenstandpunktes sieht Smith die Möglichkeit gegeben, neues Wissen zu schaffen, eine grundlegend neue und andere Sicht auf gesellschaftliche Phänomene und deren Interpretation zu ermöglichen. Der Zugang zur Forschung und der Blick auf das zu untersuchende Phänomen gehen vom Standpunkt der untersuchten Personen und ihren Erfahrungen mit diesem Phänomen aus. Für Dorothy Smith steht demzufolge im Zentrum ihrer Standpunkttheorie, dass die untersuchten Personen nicht objektiviert werden, sondern als handelnde Subjekte im Text präsent und sichtbar bleiben (Smith, 1990). Wird ein solches Wissenschaftsparadigma als Basis für den Forschungsprozess verwendet, hat dies auch Konsequenzen für die verwendete Methodologie. So greift Charmaz (2000, 2006, 2011) die Kritik am Objektivitätsideal positivistischer Wissenschaft in ihrem Ansatz der konstruktivistischen Grounded Theory Methodologie (GTM) auf und entwickelt sich damit weg von Glasers Grounded Theory Ansatz, der von der »Emergence«, der Entdeckung objektiver Wahrheit in den Daten, ausgeht und nach Verallgemeinerung strebt (Charmaz, 2011). Während Glaser (1978, 1998) von einem distanzierten, sich außerhalb oder über dem Phänomen situierten Forscher spricht, plädiert Charmaz für eine bewusste Standpunktveränderung. Sie beschreibt dieses Standpunkteinnehmen für ihren Ansatz einer konstruktivistischen Grounded Theory : »Eine konstruktivistische GTM kann uns tief in die Phänomene vordringen lassen, ohne sie von ihrer sozialen Verortung zu trennen. Tief in ein Phänomen vorzudringen ermöglicht, detaillierte Kenntnisse über es zu erlangen und von dieser Position aus induktiv zu arbeiten.« (Charmaz, 2011, S. 200)
Sie sieht dabei ein »Eintauchen« in das Phänomen, die Aneignung von detaillierten Kenntnissen und das Vordringen in ein Phänomen als Basis für den Kenntnisgewinn und distanziert sich von Begriffen der Objektivität. Charmaz grenzt sich in ihrem Ansatz des Konstruktivismus von der Position des sozialen Konstruktivismus ab, der allein die Handlungen der Teilnehmerinnen als konstruiert ansieht, sondern sieht vielmehr die Herstellung von Wissen als gemeinsamen Prozess von Forschender und Teilnehmerin (Charmaz, 2011). Dabei sollte der eigene Standpunkt, das Forschungsumfeld und der Prozess durch den gesamten Forschungsprozess reflektiert werden:
Konstruktivismus und feministische Standpunkttheorie
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»Es ist erforderlich, dass wir uns selbst, unsere Forschungssituationen, den Forschungsprozess und seine Erzeugnisse genau betrachten. Wir können lernen, unsere Standpunkte zu erkennen, neue Perspektiven einzunehmen und uns so in andere Richtungen wenden, als Kolleginnen, die sich ausschließlich auf ihre Forschungsteilnehmenden konzentrieren. Auf diese Weise können wir genau betrachten, wie wir die Wirklichkeit konstruieren und rekonstruieren.« (Charmaz, 2011, S. 183)
Als eine grundlegende Bedingung für diese Art des Forschens sieht sie einen Prozess der kontinuierlichen Reflexivität des eigenen Standpunkts während des Forschungsprozesses. Ein ähnliches Verständnis der Rolle des Forschers hat Breuer, wenn er eine ständige Reflexivität während des Forschungsprozesses fordert (Breuer, 2009). Gleichzeitig zielt die konstruktivistische GTM von Charmaz nicht auf die Entwicklung von übertragbaren, allgemeingültigen Theorien, sondern geht stattdessen »von multiplen Wirklichkeiten und multiplen Perspektiven aus« (Charmaz, 2011, S. 192). Mit diesem Verständnis bezieht Charmaz sich auf Haraways Verständnis von situiertem und lokalem Wissen (vgl. Haraway, 1995, S. 89). Machtstrukturen innerhalb des Bereichs Schwangerschaft und Geburt Die Perspektive dieser Forschungsarbeit sieht Mutterschaft und Mutterwerden angelehnt an Adrienne Richs (1978) Konzept der »Mutterschaft als Institution« als einen Prozess, der zum einen auf der Ebene der individuelle Erfahrung, als potenzielle Beziehung einer individuellen Frau zu ihrem individuellen Kind erlebt wird. Darüber hinaus stellt Mutterschaft aber auch einen Prozess dar, der in einem gesellschaftlichen Rahmen eingebunden stattfindet, der aus Normen, Werten, Erwartungen und Rollenzuschreibungen besteht (Rich, 1979). Rich sieht Frauen dabei als eingebunden in ein patriarchalisches System, in dem gesellschaftliche Rollenerwartungen eng verwoben sind mit dem individuellen Erleben von Muttersein und fordert einen frauenzentrierten Standpunkt als Perspektive auf Frauenleben (Rich, 1979, S. 35ff). Auch in der Forschung zu Aspekten der Frauengesundheit werden die Eingebundenheit von Frauen in den gesellschaftlichen Rahmen und die Machtstrukturen innerhalb des Forschungsbereichs Frauengesundheit wie etwa die Definitionshoheit oder das Machtgefälle im Medizinsystem diskutiert. Solche Machtstrukturen schlagen sich auch in der Beziehung von Forscherin zu Forschungsteilnehmerin nieder. So beschreibt Reime (2003) das Betreuungsverhältnis Medizinsystem – Schwangere als asymmetrische Beziehung, in der der Wissensunterschied und die Autorität wissenschaftlichen, medizinischen Wissens dazu führt, dass subjektive Erfahrungen und Wahrnehmungen der Frauen nicht ernst genommen werden. Als weiteren Aspekt der Verstärkung dieses Machtgefälles führt Reime (2003, S. 17) die Unterschiedlichkeit der Ausgangssituation an, von der aus die Situation erlebt wird: auf der einen Seite die
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Perspektive und Methode
schwangere oder gebärende Frau, für die dieser Lebensabschnitt eine physische und psychische Ausnahmesituation darstellt, die als einzigartig erlebt wird, auf der anderen Seite die Professionellen, für die die Begleitung der Schwangeren berufliche Routine und Alltag darstellt (Reime, 2003). In diesem Machtgefälle sieht sie die Ursache dafür, dass die Entscheidungsmacht innerhalb des Bereiches Schwangerschaft und Geburt medizinischen und dabei insbesondere ärztlichen Autoritäten zugesprochen wird und erst in zweiter Linie bei den Frauen verortet wird (Reime, 2003, S. 18). Doch nicht nur die Positionierung der einzelnen Akteure, sondern auch das Wissen selbst, die unterschiedlichen Wissenssysteme, die im Bereich Schwangerschaft und Geburt existent sind, werden von verschiedenen Autorinnen als hierarchisch angeordnet gesehen. So argumentiert Jordan (1997) in ihrem Konzept des »Authorative Knowledge«, dass es beispielsweise im Bereich Schwangerschaft verschiedene Wissenssysteme gebe, die parallel existierten, dass es häufig aber dazu komme, dass ein Wissenssystem »aufsteige«, in einem sozialen Prozess zu einem »Authorative Knowledge« legitimiert werde. Dies geschehe, weil ein Wissenssystem entweder tatsächlich die besseren Erklärungen liefere, oder aber weil die bestehenden Machtstrukturen seine Vorrangstellung unterstützten (Jordan, 1997). »Authorative knowlegde is persuasive because it seems natural, reasonable and consensually constructed.« (Jordan, 1997, S. 57). Es wird nicht nur angenommen, sondern auch immer wieder hergestellt und aufrechterhalten. Jordan stellt fest, dass es durch die Aufwertung eines bestimmten Wissenssystems zur Entwertung anderer Wissenssysteme kommt. Im Bereich Schwangerschaft und Geburt werde diese dominierende, autoritäre Stellung inzwischen vom medizinischen Wissen eingenommen. So sieht Jordan (1997) das Wissen der Frauen selbst, ihr Körperempfinden und ihre Erfahrungen als untergeordnetes Wissen in der medizinisch orientierten Struktur, innerhalb derer Schwangerschaft und Geburt heutzutage stattfinden. Entscheidungen und Handlungen, die nicht vom medizinischen »Authorative Knowledge« legitimiert sind, werden als irrational und manchmal als unverantwortliches Handeln bewertet und können laut Jordan soziale Stigmatisierung und sogar Zwangsmaßnahmen nach sich ziehen, wie sie es am Beispiel von gerichtlich angeordneten Kaiserschnittentbindungen aufzeigt (Jordan, 1997). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Grabner (2008), die anhand von Interviews mit Hebammen in Deutschland und Österreich untersuchte, wo in einer solchen Wissenshierarchie das Wissen von Hebammen verortet werden kann. Sie findet dabei eine klare Hierarchisierung: Ärztliches Wissen ist das Wissen, das Leitlinien und Handlungsabläufe definiert; Hebammenwissen folgt in der Hierarchieanordnung; ganz unten steht das Wissen der Frauen selbst in Bezug auf ihren Körper und die eigenen Erfahrungen (Grabner, 2008).
Konstruktivismus und feministische Standpunkttheorie
6.2
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Der Handlungs- und Entscheidungsbegriff: Das Konzept der »Agency«. Perspektive auf Handlung und Selbst
»What is the nature of the individual?«
Im folgenden Abschnitt werden die theoretischen Perspektiven der vorliegenden Studie auf Handlung und Selbst dargelegt. Der Fokus der Studie beschäftigt sich mit Entscheidungen und der Bewältigung eines Prozesses. Somit erscheint es notwendig, einen theoretischen Rahmen zu erarbeiten, der handlungsorientiert ist und gleichzeitig das Selbst und dessen Positionierung innerhalb eines Prozesses oder Zeit-Kontinuums umfasst. Agency: Individuum und Struktur Die vorliegende Arbeit bezieht sich in ihrem Handlungsverständnis auf das Prinzip der Agency (Handlung), wie es Giddens in seiner Theorie der Strukturierung verwendet (Giddens, 1988). In dieser Theorie betont Giddens die Fähigkeit des Individuums zu unabhängiger Handlung und eigenständiger Entscheidung, ohne den Einfluss von strukturellen Bedingungen zu vernachlässigen (Giddens, 1988). Dabei kritisiert er die Dualität von Struktur und Handlung, wie sie in den klassischen soziologischen Ansätzen des Objektivismus und Subjektivismus verwendet werden. So sieht der Ansatz der objektivistischen Handlungstheorie die Handlungen rein durch vorgegebene Strukturen bedingt, also innerhalb von strukturellen Zwängen gebunden. Im Gegensatz dazu wird im Subjektivismus, zu dem auch der symbolische Interaktionismus gezählt wird, das Individuum als Subjekt angesehen, das frei handelt, und Handlungen gründen auf den Bedeutungszuschreibungen des einzelnen Individuums. In diesem Konzept sind es auch die Handlungen des Subjektes, die die strukturellen Bedingungen formen (vgl. Blumer, 1973). Giddens entwickelt über die Strukturierungstheorie eine Synthese dieser beiden Perspektiven, die er »die Dualität von Struktur und Handeln« nennt (Giddens, 1988, S. 352–352) und von Münch folgendermaßen zusammengefasst wird: »Es gibt keine Struktur ohne Handlung und keine Handlung ohne Struktur.« (Münch, 2003, S. 477) Für diese Studie zieht die dargestellte Perspektive nach sich, dass die Studienteilnehmerinnen als handlungs- und entscheidungsfähige Subjekte gesehen werden, dass aber ihre Handlungen und Entscheidungen als eingebunden in strukturellen Rahmenbedingungen betrachtet werden und diese demzufolge in der Analyse Beachtung finden müssen. Agency: Selbst und Identität Um jedoch ein umfassendes Verständnis für den Begriff »Agency« zu entwickeln, scheint es notwendig, zusätzlich Bezug zu Konzepten des Selbst herzu-
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Perspektive und Methode
stellen, um dessen Bezug innerhalb des Paradigmas zu Struktur und Handlung zu verdeutlichen. Die Studie bezieht sich in ihrem Verständnis vom Selbst auf Meads Konzeption zum Selbst, in dem die Fähigkeit der Reflexivität des Individuums und die Notwendigkeit der Entwicklung eines eigenen Standpunktes zu sich selbst als Grundlage des Selbst angesehen werden (vgl. Mead, 1934). Nach Meads Verständnis ist das Selbst aufgeteilt in ein spontanes, kreatives »I« und ein stabiles, sozial entwickeltes »Me«. Das »I« umfasst die Gefühle und das spontane Handeln und stellt in seinem Verständnis die Grundlage menschlicher Persönlichkeitsentwicklung dar, während das »Me« den Anteil des »Selbst« darstellt, der die Erwartungen der Gesellschaft annimmt und umsetzt, der dem Individuum zum einen erlaubt, in einer Gesellschaft zu funktionieren, über den das Individuum andererseits aber auch von der Gesellschaft kontrolliert wird (Mead, 1934, S. 173–178). Das »I« und das »Me«, der gegenseitige Austausch zwischen ihnen, stellen die Grundlage für Reflexivität dar (Münch, 2003). Agency: Selbst im Zeitverlauf Das Selbst muss dabei auch im Zeitverlauf positioniert gesehen werden, wie Mead es ausdrückt, wenn er über das Selbst in Bezug auf die Zeit sagt: »Expressly in the ever passing present, a moment whereby the individual interprets situations and symbols as well as his or her past and future.« (Mead, 1934, S. 174) Die Vergangenheit ist dabei kein stabiler Bestandteil des Selbst, sondern Subjekt von Re-Interpretation in der gegenwärtigen Situation, wird also auch ständig neu geschaffen (vgl. dazu auch Welzer, 2008). Neue Situationen werden durch frühere Erfahrungen und ihre Bedeutungszuschreibungen geprägt und geformt (Marshall und Muller, 2003). Gleichzeitig ist aber auch die Antizipation der Zukunft von diesem gegenwärtigen Moment geprägt, Entscheidungen und Handlungen stehen damit in Zusammenhang. In diesem Prozess sind die zeitliche Orientierung des Individuums und seine unterschiedlichen Zeitfoki von Bedeutung, wobei sowohl Antizipation als auch Erinnerung vom gegenwärtigen Moment geprägt sind (Hitlin und Elder, 2007). Mead betont in diesem Zusammenhang, dass manche Entscheidungen einen Fokus auf die Gegenwart erfordern, während andere von Gedanken zu Langzeitfolgen oder Zielen in der Zukunft geprägt sind, der Frage des: »who we would like to become« (Mead 1934, S. 175).
Konstruktivismus und feministische Standpunkttheorie
6.3
79
Biografie und Life Course Theory. Perspektive auf das Erkenntnisinteresse
»What can be known?«
Im Folgenden wird dargestellt, was das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie ist. Dabei geht es weniger um die Forschungsfrage, sondern vielmehr darum, aus welcher Perspektive diese Forschungsfrage beantwortet werden soll. Dabei erscheint es mir zunächst notwendig klarzustellen, dass die vorliegende Studie auf eine lebenslauforientierte Herangehensweise zur Beantwortung der Forschungsfrage abzielt. Theoretische Hintergründe zum Biografieverlauf sollen deshalb im folgenden Abschnitt dargestellt werden. Dies beinhaltet den Blick auf innerhalb dieses Lebenslaufes stattfindende Krisen, so genannte Leidensverlaufskurven. Im Anschluss folgt eine innerhalb dieser Biografieperspektive begründete Perspektive auf Schwangerschaft als Entwicklungsprozess, wozu verschiedene Modelle vorgestellt werden. 6.3.1 Biografie und Life Course Theory: Strukturelle und prozessuale Konzepte einer lebensverlaufsorientierten Perspektive Unter Biografie wird in der vorliegenden Studie die Einbettung von Erfahrung in einen Lebensverlauf verstanden. Dabei bezieht sich das vorliegende Verständnis auf die Definition von Corbin und Strauss »Mit dem Begriff Biografie beziehen wir uns auf einen Lebensverlauf: Leben das sich über eine Reihe von Jahren erstreckt, und Leben, das sich um einen fortwährenden Strom von Erfahrungen herum entwickelt, die zu einer einzigartigen – wenn auch gesellschaftlich konstituierten Identität führen.« (Corbin und Strauss, 2010, S. 64) Corbin und Strauss sehen in ihrem Konzept die Erfahrungen, die angesammelt werden, als das, was letztendlich die individuelle Identität bildet. Um die zwei Ebenen eines biografischen Prozesses zu verdeutlichen, scheint es sinnvoll auf die Metapher eines Weges durch eine Landschaft zurückzugreifen. Die Landschaft stellt dabei die Kontextbedingungen dar, innerhalb derer der Prozess stattfindet und die den Prozess mehr oder weniger beeinflussen. Der Weg steht für die zeitlichen, prozessualen Aspekte, den Verlauf des Weges. Im Folgenden werden zunächst die Konzepte, die den Kontext eines biografischen Verlaufs betreffen, vorgestellt. Diese beziehen sich auf die Konzepte der Life Course Theory (LCT). Daran anschließend folgt die Darstellung der prozessualen Aspekte, die sich auf verschiedene Verlaufstheorien beziehen.
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Perspektive und Methode
Kontext des biografischen Verlaufs Wie in der LCT kann der Lebenslauf als situiert innerhalb von sozialen Strukturen, Zeit und Ort und historischem Kontext angesehen werden (Elder und Giele, 2009). Dabei ist in der LCT der Fokus auf Entwicklungsprozesse und ihren Verlauf, auf Veränderungen und Kontinuitäten gerichtet (vgl. Batemann, 2011). Giele (2009) hat dazu verschiedene Konzepte entwickelt, die als Rahmenbedingungen für den Lebenslauf angesehen werden können. Diese Elemente stehen in engem Zusammenhang: »…the key elements are understood to intertwine and mutually affect each other in shaping the life course of the person« (Giele in Giele und Elder, 2009, S. 251). Biographie wird so als ein Geflecht unterschiedlicher Rahmenbedingungen, die sich gegenseitig beeinflussen, gesehen. Im Folgenden soll nun ein Überblick über diese Rahmenbedingungen gegeben werden. Ein zentrales Konzept stellt dabei Time and Place dar. So werden etwa Entwicklungsprozesse des Individuums in Zusammenhang mit sozialen Strukturen, dem Einfluss von Zeit und Ort und historischer Lokalisierung gesetzt, werden also der Kontext, in dem Entwicklungsprozesse stattfinden einbezogen, die Lebensprozesse des Individuums nicht als losgelöst von diesem Kontext betrachtet (Black et al., 2009). Die Annahme und Anerkennung der Heterogenität von strukturellen Bedingungen und Entwicklungsprozessen stellt dabei eine Grundannahme der LCT dar. Die LCT betont auch die Signifikanz des physischen Körpers und die Untrennbarkeit von Körper und Geist, die sie als maßgeblich mit Entwicklungsprozessen verwoben sieht, in ständiger Veränderung und Entwicklung aber auch Einfluss auf die anderen Aspekte eines Entwicklungsprozesses nehmend (Batemann, 2011). Hier spielt auch die Konzeption von Körper und Leib und die Konstruktion von Körperbildern eine Rolle. Das Individuum konstruiert sein individuelles Körperbild. Diese Konstruktion findet jedoch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibungen statt, die vom historischen Kontext beeinflusst werden. Schwangerschaft kann in diesem Zusammenhang auch als »Einverleibung einer sozialen Rolle« gesehen werden (vgl. Mozygemba, 2011). Neben diesen übergeordneten strukturellen Bedingungen betrachtet die LCT im Konzept der Linked Lifes das Individuum als eingebunden in ein Netzwerk aus sozialen Beziehungen, die über Familienbeziehungen hinausreichen und Nachbarn, Freunde sowie Kollegen einschließt und einen »distinct orienting context« darstellt (Marshall und Mueller, 2003, S. 11). Black et al. (2009) weisen jedoch darauf hin, dass es Unterschiede gibt, wie und zu welchem Grad und in welchem Kontext sich das Individuum an soziale Normen etc. anpasst bzw. diese integriert. Black ordnet auch die Beziehung von Mutter und ungeborenem Kind in diesem Konzept ein, wobei sie die Verbindung als einzigartig in ihrem Grad von »shaping and being shaped by eachother« ansieht (Black et al., 2010, S. 3).
Konstruktivismus und feministische Standpunkttheorie
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Ein weiteres zentrales Konzept der LCT ist das des Life Span Development: die Annahme, dass sich Menschen nach ihrer Kindheit auf biologischer, sozialer und psychologischer Ebene über ihre gesamte Lebenszeit weiterentwickeln. Neue Situationen werden durch die Erfahrungen der Vergangenheit und die Bedeutungen geprägt, die diesen Erfahrungen zugeschrieben werden (Black et al., 2009). Wie eine Frau Schwangerschaft und Mutter-Werden erlebt, ist laut Black et al. (2009) beispielsweise von vorangegangenen Erfahrungen mit MutterWerden und Kindheitserfahrungen beeinflusst. Das Timing als weiteres Konzept bezieht sich auf die üblicherweise zu erwartende chronologische Folge von biografischen Ereignissen. In diesem Zusammenhang sehen Black et al. (2009) biografische Ereignisse innerhalb dieses Konzepts als nicht so starr geordnet, aber biologische Ereignisse als notwendig in dieser Reihenfolge ablaufend. Ihnen geht es hierbei um die Erwartbarkeit von Ereignissen, die bei unerwartetem zu frühem Eintreten zu Konsequenzen sowohl auf sozialer als auch auf körperlicher Ebene führen. Black et al. (2009) nennen als Beispiel die Frühgeburt eines Kindes, die sie als ein solches »out of sequence«-Ereignis betrachten (Black et al. 2009, S. 3). Die zeitlich-prozessualen Aspekte des Lebensverlaufs: Trajectory, Transition und Turning Point Im folgenden Abschnitt sollen die zeitlich-prozessualen Aspekte des Lebensverlaufs dargestellt werden. Dabei dienen die Konzepte Trajectory, Transition und Turning Point dazu, die zeitlichen Dimensionen von Biografie aufzuzeigen (vgl. Black et al., 2009, S. 3). Zunächst wird dabei das Konzept Trajectory (Verlaufskurve) ausgeleuchtet. Dieses findet in verschiedenen Bereichen von verschiedenen Autoren bzw. Autorinnen mit leicht unterschiedlicher Bedeutung Anwendung. Gemeinsam ist allen diesen Bedeutungsdimensionen, dass Trajectory einen Abschnitt im Lebensverlauf beschreibt, dessen Anfang und Ende klar abgegrenzt werden können. So sieht etwa Van Geert (1994, S. 31) Trajectories sehr allgemein als »paths of change in developmental processes«. In der LCT wird der Begriff Trajectory für länger andauernde Phasen im Lebenslauf verwendet, die als Entwicklungsprozesse gesehen werden können – wie etwa Elternschaft oder Arbeitsleben (vgl. Black et al., 2009, S. 3). Dagegen wird in der vorliegenden Arbeit das Konzept Trajectory in der Bedeutung der Verlaufskurvenkonzepte von Glaser und Strauss (1968), Corbin und Strauss (2010) sowie Riemann und Schütze (1991) gebraucht. Diese Autoren definieren Trajectory als eine Verlaufskurve mit länger andauerndem Verlauf, der sich als Entwicklung oder Prozess mit unterschiedlichen Phasen darstellen lässt. So verwendeten Glaser und Strauss in ihrer Arbeit zu Sterbeprozessen Trajectory als Perspektive, um die temporären Aspekte von Sterbeprozessen zu untersuchen (Glaser und Strauss, 1968). Dabei ging es ihnen zum einen um die
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Perspektive und Methode
Beschreibung von Sterbeprozessen, zum anderen aber auch um die Beschreibung von Sterbebegleitung und ihrer Veränderung im zeitlichen Verlauf eines Sterbeprozesses. Sterben sahen Strauss und Glaser als Prozess, der eine gewisse zeitliche Dauer hat und dessen Verlauf in unterschiedlichen Kurven ablaufen kann. Sie beschreiben dazu verschiedene Phasen, in denen Sterbeprozesse ablaufen und wie diese Phasen mit der Reaktion des Umfelds und der Art der Sterbebegleitung in Zusammenhang stehen. Später entwickelten Corbin und Strauss (2010) dieses Verlaufskurvenkonzept für das Verständnis von chronischen Krankheitsverläufen weiter. Das Autorenteam versteht das Verlaufskurvenkonzept als Analyseinstrument, das erlaubt, Krankheitsverläufe auf eine Weise zu untersuchen, die sowohl medizinische und körperliche Aspekte, darüber hinaus aber auch soziale Aspekte erfassen kann (vgl. Corbin und Strauss, 2010). Eine wichtige Kategorie in ihrer Darstellung von chronischen Krankheitsverläufen stellen dabei die Konzepte »Arbeit« und »Arbeitsbeziehungen« dar, mit denen Corbin und Strauss sich auf Bewältigungsstrategien beziehen: auf die Organisation des Alltags, die Arbeitsteilung innerhalb der Familie bzw. Partnerschaft, aber auch auf Strategien, mit denen der bzw. die Kranke versucht, Kontrolle zu behalten, zurückzugewinnen oder die veränderte Situation zu gestalten. In der Definition von Corbin und Strauss verweist der Begriff Trajectory auch »auf die aktive Rolle, die Menschen bei der Gestaltung des Verlaufs einer Krankheit spielen« (Corbin und Strauss, 2010, S. 48) hin. In ihrem Modell wird chronische Krankheit als etwas gesehen, das sich verändert, also einen Verlauf hat, und in Phasen abläuft. Diese Phasen benennen Corbin und Strauss als »akut«, »Normalisierung«, »stabil und unstabil« und »Verschlechterung« (Corbin und Strauss, 2010, S. 61). Mit einer chronischen Krankheit gehen eine Reihe von biografischen Konsequenzen einher, wie etwa Veränderungen im Verhältnis von Selbst, Körper und biografischer Zeit, es kann sogar zu Identitätsbrüchen kommen (Corbin und Strauss, 2010, S. 19). Den Beginn einer Verlaufskurve von chronischer Krankheit geben Corbin und Strauss mit der »Suche nach der Bedeutung von Symptomen«, einer diagnostischen Suche an, wobei sie diese in drei Subphasen unterteilen: die prädiagnostische Phase, die Mitteilung der Diagnose, die postdiagnostische Phase als die Zeit im direkten Anschluss an die Diagnosemitteilung, in der der Patient bzw. die Patientin Wissenslücken füllt (Corbin und Strauss, 2010, S. 38). Corbin und Strauss argumentieren weiterhin, dass der Arzt bzw. die Ärztin mit der Diagnosemitteilung ein projiziertes Bild vom Verlauf der Krankheit, den sogenannten Verlaufskurvenentwurf21, präsentiere. Darauf aufbauend entwerfe der Arzt in einen Verlaufskurvenplan einen Behandlungsplan. Dieser Be21 Die Ausführungen im folgenden Absatz beziehen sich, soweit keine anderen Quellen genannt werden, auf Corbin und Strauss (2010, S. 49–56).
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handlungsplan basiere zum einen auf der Art der Erkrankung, dem Fortschreiten der Krankheit, der Diagnosesicherheit und der Verfügbarkeit von Ressourcen sowohl technischer als auch finanzieller Art (vgl. Corbin und Strauss, 2010, S. 38ff.). Dabei sind andererseits aber auch die Erfahrungen der Ärztin bzw. des Arztes mit dem Krankheitsbild, und zudem die Reaktion der Patientin und ihres Umfelds auf die Diagnose wichtige Einflussfaktoren. Gleichzeitig sehen Corbin und Strauss den Arzt bzw. die Ärztin in der Position, über den Zeitpunkt zu bestimmen, wann der Behandlungsplan der Patientin bzw. dem Patienten vorgestellt wird. Sie unterscheiden hier zwischen der Übermittlung unmittelbar an die Diagnose anschließend, also noch während des Schocks über die Mitteilung und deren Präsentation, und der Übermittlung danach bis hin zu einem Zeitpunkt, an dem der Schock der Diagnose verarbeitet ist. Aufseiten der Patientin, aber auch ihres Partners oder ihrer Partnerin, finden Corbin und Strauss (2010) das Potenzial, einen individuellen, eigenständigen Verlaufskurvenentwurf zu entwickeln. Diese Verlaufskurvenentwicklung stellt eine Vorstellung, eine Zukunftsprojektion dar, mit der die Patientin versucht, eine Vorstellung von dem, was vor ihr liegen könnte, zu entwickeln. Wie diese Vorstellung entwickelt wird, ist abhängig von den verfügbaren Informationen, aber auch von persönlichen Ressourcen – und so kommt es, dass sich die Verlaufskurvenentwürfe von Ärztin und Patientin, sowie von Patientin und Partner unterscheiden können. Corbin und Strauss (2010) stellen auch fest, dass ein Verlaufskurvenentwurf nicht konstant im Sinne von »statisch« ist, sondern immer wieder im Verlauf einer chronischen Krankheit verändert wird. So beschreiben die Autoren, dass der Verlaufskurvenentwurf in unterschiedlichem Grad präsent sein kann oder manchmal auch verdrängt wird, je nachdem ob die Krankheit sich in einer akuten oder in einer stabilen Phase befindet. Der Umgang der Patientin mit dem Verlaufskurvenplan, also dem Behandlungsschema, das die Ärztin bzw. der Arzt vorschlägt, kann sich individuell unterscheiden. So kann die Patientin ein Behandlungsschema billigen, kann sich darauf einlassen oder es ablehnen, kann sogar versuchen, Alternativen abzusprechen (Corbin und Strauss, 2010, S. 56). Als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Krankheitsbewältigung sehen Corbin und Strauss (2010) aber das Passen dieser beiden Verlaufskurven, der ärztlichen und der der Patientin an. Im Zentrum der Theorie zu Trajectory nach den beiden Autoren steht demnach die Arbeit im Hinblick auf die Entwicklung von Behandlungsplänen zur Bewältigung und Kontrolle der Krankheit, Pflege, Organisation des täglichen Lebens und Familienarbeit und vieles mehr. Von Riemann und Schütze (1991) wird diese Fokussierung auf die Kategorie Arbeit kritisiert. Sie stellen zur Diskussion, ob eine Erweiterung dieses Ver-
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laufskurvenkonzepts möglich und notwendig sei auf »disorderly social processes in general that bring about suffering« (Riemann und Schütze, 1991, S. 335). In ihrer Entwicklung eines Konzepts der Leidensverlaufskurve definieren sie Trajectory (Verlaufskurve) als einen Prozess, der sowohl soziale als auch biografische Implikationen beinhaltet und gekennzeichnet ist durch immer schmerzhafter und ausweglos erscheinendes Leiden, dass zu einer Lähmung der aktiven Handlungsfähigkeit der Betroffenen führt (Riemann und Schütze, 1991, S. 334ff.) Die Autoren beschreiben verschiedene Aspekte einer solchen Leidensverlaufskurve, die sie als übertragbar auf alle Arten von Leidensverlaufskurven ansehen. Als Beispiele geben sie die Situation von Einwanderern, den Lebensverlauf eines Alkoholikers oder auch die Situation von Krebspatienten an (Riemann und Schütze, 1991, S. 344; Schütze, 1994). Als zentralen Aspekt betonen Riemann und Schütze (1991) in ihrem Verständnis von Trajectory die Unordnung und das Chaos, dem die Betroffenen ausgesetzt sind, und sehen als zentrale Komponenten von Trajectory die Selbstentfremdung und Isolierung der Betroffenen von ihrer Umwelt an. Neben den eben dargestellten Konzepten zu Trajectory sieht die LCT auch noch sogenannte Turning Points (Wendepunkte) als wichtig für die lebensverlaufsorientierte Betrachtung menschlicher Entwicklung an (Black et al., 2009). Wendepunkt bedeutet in diesem Zusammenhang, also mit Blick auf Lebensverlauf, dass der Wechsel von einem Status in einen anderen plötzlich und abrupt stattfindet und Anpassungsleistungen erforderlich macht (Black et al., 2009, S. 4). Dabei geben Black et al. (2009) als Beispiel die Frühgeburt eines Kindes und das plötzliche Ende der Schwangerschaft an. Schließlich ist neben Trajectory und Turning Points noch das Konzept der Transition ein zentrales Konzept der LCT, um die zeitlichen Dimensionen von Lebensverlauf zu erfassen. Zunächst wurde der Begriff Transition in der Anthropologie für wichtige Wechsel von einem Lebensabschnitt zum nächsten in traditionellen Gesellschaften (van Gennep, 1986; Turner, 2005). Van Gennep beschreibt, dass solche Übergänge in einer Abfolge von drei Stadien ablaufen: das Stadium der Absonderung, der Übergang und schließlich die Wiedereingliederung in den neuen Status (vgl. van Gennep, 1986, S. 48). Der Begriff Transition wird allerdings in diesem anthropologischen Ansatz der »Rites de passage« nur für einen Abschnitt im Statuswechsel verwendet. Der Transition geht in diesem Verständnis die Absonderung voraus, und sie wird beendet durch die Wiedereingliederung in den neuen Status (Turner, 1979). Diesem Konzept liegt die Vorstellung zugrunde, dass es im Lebenslauf immer wieder zu Übergängen von einem Status zu einem anderen komme, wobei Status nicht nur die Bedeutungszuschreibung des Individuums erfasst, sondern sich vielmehr auch auf die gesellschaftliche Rolle bezieht, die das Individuum ein-
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nimmt. Solche Übergänge können beispielsweise Geburt und Tod sein, aber auch Übergänge wie die Einschulung, bei der das Kind zum Schulkind wird, oder Heirat, bei der ein Mann und eine Frau zu Ehepartnern werden (vgl. Elder und Giele, 2009). 6.3.2 Schwangerschaft als Übergang und Entwicklungsprozess Schwangerschaft wird von verschiedenen Autorinnen und Autoren als solch eine Übergangsphase und Wechsel in eine neue Identität, als ein Wechsel vom Status der Frau in den Status der Mutter beschrieben (vgl. beispielsweise Davis-Floyd, 1992; Friedrich, 1998; Turner, 2005). Die Frau wird zur Mutter, ihre Identität verändert sich und auch ihre soziale Rolle, ihr Status wird ein anderer. Diese Transition, der Übergang zur Mutteridentität kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Um ein umfassenderes Verständnis dieses Übergangs zu ermöglichen, werden im Folgenden verschiedene Modelle vorgestellt, die Schwangerschaft als Übergang und Entwicklungsprozess betrachten. Zunächst wird dabei der Blick auf Schwangerschaft als Transition gerichtet, die von Übergangsritualen begleitet wird (Davis-Floyd, 1992; Friedrich et al., 1998; Mozygemba, 2011). Daran anschließend folgt die Darstellung weiterer anderer Modelle: das identitätsbetonte pflegewissenschaftliche Modell von Rubin (1967) und dessen Weiterentwicklung durch Mercer (2004) sowie das entwicklungspsychologische Modell von Gloger-Tippelt (1986). Schwangerschaftspraktiken und Geburtshilfe als »rites de passage« Im Forschungsverlauf zeigte sich, dass mit dem Blick auf Schwangerschaft als Übergang für das Verständnis verschiedener Aspekte eine ritualtheoretische Perspektive hilfreich war. Ich orientiere mich hier insbesondere an Davis-Floyds (1992) Arbeit, nehme aber auch Bezug zu anderen Autoren und Autorinnen. Davis-Floyd (1992) baut ihr Modell auf den Konzepten der »Rites de Passage«, der Übergangsriten von van Gennep (1986) und deren Weiterentwicklung durch Turner auf (Turner, 2005, 1979). In diesem Ansatz wird von einer Ritualisierung bedeutender Übergänge im Lebenslauf ausgegangen (vgl. van Gennep, 1986). Schwangerschaft, Geburt und Neugeborenenphase unter dem Gesichtspunkt eines solchen biografischen Übergangs zu betrachten, bedeutet, dass dieser Zeitraum auch als ein liminaler Zustand des »Dazwischen« verstanden werden kann: die schwangere Frau ist noch nicht Mutter, gleichzeitig ist sie aber auch keine kinderlose Frau mehr (vgl. Turner, 1979). Muttersein stellt in diesem Verständnis einen neuen Status dar, eine neue Lebensphase und Schwangerschaft und Geburt sowie die erste Zeit danach werden als Übergangsstatus hin zu diesem neuen Status des Mutterseins gesehen (van Gennep, 1986; Davis-Floyd, 1992). Schwangerschaft, Geburt und die Neugeborenenperiode können so als
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ein Werden, ein Entwicklungsprozess und gleichzeitig auch als ein Status gesehen an (Davis-Floyd, 1992). Basierend auf den Konzepten von Separation, Transition und Eingliederung entwickelt Davis-Floyd ein Modell des Mutterwerdens, das sie als »year long rite of passage« bezeichnet (Davis-Floyd, 1992, S. 22). Im Folgenden werden diese drei Phasen, ihre zeitliche Dimension und die wichtigsten Bereiche, die sich auf diesen Übergang beziehen, auf ihn einwirken und durch ihn verändert werden, vorgestellt. Den Beginn der Separation der Frau, also die Trennung von ihrer (alten) sozialen Identität sieht Davis-Floyd bereits beim ersten Verdacht, dem Bewusstsein eines möglichen Vorliegens einer Schwangerschaft. In der ersten Zeit nach der medizinisch-technologischen Bestätigung der Schwangerschaft (wenn die Frau zweifelsfrei schwanger ist), befindet sie sich zunächst in einem Zustand der emotionalen Aufgewühltheit, Selbstkonzepte werden hinterfragt und das Körperempfinden ist verändert. Diese Phase ist erst beendet, wenn die Frau die Schwangerschaft voll angenommen hat, und die Phase der Transition beginnt. Ein Zeichen für diese Annahme ist die Offenlegung der Schwangerschaft im sozialen Umfeld, mit der auch die Verborgenheit beendet wird (vgl. Davis-Floyd, 1992, S. 22–23). Die Geburt selbst betrachtet Davis-Floyd als Höhepunkt des Transformationsprozesses. Die postpartale Periode, das Wochenbett, wird als ein Zeitraum gesehen, in dem die Frau zumindest noch eine Zeit lang mit ihrem Neugeborenen zurückgezogen lebt und weiterhin ein Gefühl der Besonderheit hat. Die Integration schließlich findet statt, wenn sie sich voll als Mutter fühlt und in den Alltag zurückkehrt, demnach kein Gefühl der Besonderheit mehr hat. Davis-Floyd sieht diesen Zeitpunkt nach 3–6 Wochen im Anschluss an die Geburt (Davis-Floyd, 1992, S. 41–43). Damit ist der Übergang abgeschlossen. Diesen Übergang selber sieht Davis-Floyd (1992) begleitet von sogenannten »Rite de Passage«, einer Reihe von Ritualen also, die den Statuswechsel begleiten (Davis-Floyd, 1994). Sie bezeichnet Rituale dabei als »patterned, repetitive, and symbolic enactment of a cultural belief or value; its primary purpose is alignment of the belief system of the individual with that of society« (Davis-Floyd, 1994, S. 324). Davis-Floyd (1992) erkennt neben dem sicheren Übergang auch die Annahme und gesellschaftliche Anerkennung des neuen Status »Mutter« als Ziel von Ritualen, die die Schwangerschaft begleiten. Denn diese Übergangsriten dienen zum einen dazu, dass das Subjekt sich mit seiner neuen Lebensphase identifizieren kann, zum anderen aber auch zur Anerkennung des neuen Status durch das Umfeld (vgl. Friedrich et al., 1998, S. 186–187). Dabei geht es nicht allein darum, dass die individuelle schwangere Frau, die »Passantin«, durch diese Rituale unterstützt wird und Sicherheit erfährt, sondern laut Davis-Floyd (1992) vielmehr auch darum, die Passantin auf gesellschaftliche Linie zu bringen. Die Schwangere soll mit diesen Ritualen darauf eingestimmt werden, ein
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gesellschaftliches Weltbild anzunehmen. Auch Friedrich et al. (1998) verweisen auf diese Funktion hin: »Einerseits soll der werdenden Mutter bestätigt werden, dass sie eine neue Lebensstufe erreicht, zum anderen geht es aber auch darum, dass sie diese Transition in anerkannter Weise vollzieht, also den Übergang zur Mutterschaft so durchläuft, wie es die Gemeinschaft in Bezug auf ihre Werte und Traditionen für richtig hält.« (Friedrich et al., 1998, S. 187). Eine zentrale Rolle dabei schreibt Davis-Floyd (1992) dem medizinischtechnokratischen Modell der Schwangerschafts- und Geburtsbegleitung zu. Sie statuiert, dass in den Ritualen, die diese Transformation begleiten, wie etwa in der medizinischen Bestätigung der Schwangerschaft, den Überwachungsformen von Schwangerschaft und Geburt durch Ultraschall und kontinuierliche CGTKontrolle, die kulturellen Werte und Bedeutungszuschreibungen einer Gesellschaft offen gelegt werden. Davis-Floyd sieht diese Rituale als Ausdruck eines technokratischen Modells, in dem der Körper als Maschine und der weibliche Körper als Abweichung vom männlichen Prototyp gesehen wird. Geburt wird als Produktionsprozess und der Frauenkörper als Maschine, die gewartet und überwacht werden und Produktions- und Qualitätsstandards erfüllen muss, gesehen (Davis-Floyd, 1992, S. 55): »Implicit in this model are the assumptions that the baby develops mechanically and involuntarily inside the woman’s body, that the doctor is in charge of the baby’s proper development and growth and that the doctor will deliver (produce) the baby at the time of the birth.« (Davis-Floyd, 1992, S. 28)
Eine zentrale Rolle hat demzufolge der Art bzw. die Ärztin: Bestätigung der Schwangerschaft, Vorgabe des Rhythmus der Schwangerschaft und auch der voraussichtliche Geburtstermin werden medizinisch bestimmt und machen den Arzt bzw. die Ärztin zur »Gatekeeperin«. Bereits den Beginn der Statuspassage Schwangerschaft sieht Mozygemba (2011) erst durch die Übergabe des Mutterpasses durch die professionelle Gatekeeperin bzw. den Gatekeeper vollzogen. Das Erleben der Schwangerschaft wird von den von ihr befragten Frauen als »abstrakt« und »irreal« beschrieben, denn es werden noch keine Kindsbewegungen wahrgenommen, und wenn Veränderungen gespürt werden, dann am eigenen Körper (Mozygemba, 2011). Mozygemba sieht bei den Frauen ein starkes Bedürfnis nach »Realmachen« (sie nennt es »Objektivierung«) der Schwangerschaft. Der positive Labortest, aber auch die Verbildlichung des Embryos mithilfe des Ultraschalls liefert der Schwangeren solch ein objektives biomedizinisches Körperwissen. Als einen weiteren wichtigen Aspekt findet Mozygemba die bereits in der Frühschwangerschaft mögliche technische Bildlichmachung des Kindes, die sie als Vergegenständlichung des Kindes bezeichnet. Dem Gatekeeper bzw. der Gatekeeperin kommt hier auch die Funktion eines Lehrmeisters zu, der das
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Wissen über das richtige Sehen der Ultraschallbilder vermittelt. Den Blick der Vorsorgeuntersuchungen sieht Mozygemba somit von Beginn der Schwangerschaft an auf das Kind gerichtet. Friedrich et al. (1998) argumentieren, dass Ärzte bzw. Ärztinnen eine Führungsrolle durch den Prozess einnehmen, bei dem ein unausgesprochener Pakt zwischen der Frau und der Ärztin geschlossen wird, dessen Einhaltung ein gutes Ende verspricht. Innerhalb dieses Paktes ist die Frau zur Zustimmung verpflichtet, sie folgt der ärztlichen Autorität, die Ärztin bzw. der Arzt vermittelt im Gegenzug Sicherheit (Friedrich et al., 1998, S. 262–264). Davis-Floyd verweist in diesem Zusammenhang auf das Konzept des »Authorative Knowledge« (vgl. Kapitel 6.1, Machtstrukturen innerhalb des Bereichs Schwangerschaft und Geburt). Die schwangeren Frauen erleben das medizinisch-technokratische Modell und die Ärztin bzw. den Arzt als den Rahmen, innerhalb dessen sie Schwangerschaft erleben.22 Neben diesem medizinisch-technokratischen Rahmen (»medical domain«) definiert Davis-Floyd (1992) weitere Bereiche, die sie domains benennt, die den Übergang rahmen und den Kontext für das Erleben der Schwangeren bilden. Diese bezeichnet sie als: »personal, public, formally educative und peergroup« (Davis-Floyd, 1992, S. 23). Davis-Floyd (1992) sieht im persönlichen Bereich (»personal domain«) den Statuswechsel für die Frau verbunden mit Gefühlen von Veränderung, Angst und Hoffnung, Entfremdung und Nähe zu sich selbst und ihrer Familie, Frustration und Erschöpfung, aber auch Neugier, Erstaunen, Genuss und Einzigartigkeit; ein persönlicher Veränderungsprozess, in dem alte Gewohnheiten abgelegt werden und durch einen Zustand der Offenheit auch die Möglichkeit persönlicher Entwicklung gegeben ist (Davis-Floyd, 1992, S. 24). In der Öffentlichkeit, der »public domain«, statuiert Floyd Davis mit der zunehmenden Sichtbarkeit der Schwangerschaft eine Veränderung der Frau hin zu einem symbolischen Objekt und macht dies an den Erfahrungen der von ihr befragten Frauen wie dem auf den Bauch Starren, besonderer Hilfsbereitschaft oder auch dem Meiden von Schwangeren fest. Auch sieht sie Schwangerschaft zwar nicht länger als einen Status an, der verborgen werden muss wie noch in den 1950er Jahren, aber doch als einen Veränderungsprozess, der von Ritualen und Tabus begleitet wird.23 Diese Tabus und auch Rituale sieht Davis-Floyd aber
22 Davis-Floyd verweist in diesem Zusammenhang auf Goffmans Rahmenhandlungstheorie. Die Kernaussage von Analyse lässt sich zusammenfassen als: »Und wir sagten, die Rahmung mache das Handeln für den Menschen sinnvoll.« (Goffman, 1980, S. 376). 23 Bainbridge (2006) spricht in diesem Zusammenhang vom »unsolicitated advice« : Sie sieht die Schwangere ungebetenen Ratschlägen und Empfehlungen ihres Umfelds ausgesetzt, die mit zunehmend sichtbarer Schwangerschaft auch von vollkommen Fremden bei Begeg-
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verborgen hinter angeblich medizinisch notwendigen, wissenschaftlich begründeten Argumentationen, wie etwa der Notwendigkeit (Davis-Floyd, 1992, S. 26). Davis-Floyd sieht das Bedürfnis und Suchen der Frauen nach Informationen und Wissen als einen weiteren Bereich des Übergangs (»formally educative«). Informationsgewinn durch Bücher und Internet oder auch der Besuch eines Geburtsvorbereitungskurses haben zudem den Sinn, die Konstruktion einer Interpretationsmatrix zu ermöglichen und Zusammenhänge verständlich zu machen. Eine besonders wichtige Position in diesem Bereich nimmt der Geburtsvorbereitungskurs ein, der laut Davis-Floyd (1992) neben der Informationsgewinn vor allem die Ritualfunktion der Vermittlung eines Idealbildes von der Geburt und dem Lernen von hilfreichen Ritualen für die Geburt wie Atemtechniken. Darüber hinaus dient der Geburtsvorbereitungskurs der Einbeziehung des Partners und hilft, Netzwerke mit anderen zukünftigen Müttern (»peergroup«) bzw. Eltern zu bilden (Davis-Floyd, 1992, S. 33). Diese Gruppe der anderen schwangeren Frauen, die Peergruppe (»peer group domain«), stellt einen weiteren wichtigen Bereich des Übergangs dar, den DavisFloyd als »secret sisterhood« bezeichnet (Davis-Floyd, 1992, S. 35). Dieser Bereich umfasst Freundinnen und Fremde und schließt auch Mütter von kleinen Kindern mit ein. Davis-Floyd beschreibt in diesem Zusammenhang zudem veränderte Interaktionsmuster. So lauten kurze Gespräche bei zufälligen Begegnungen nicht mehr »Hallo, wie geht’s?«, sondern »Hallo, wie lange hast du noch? Wohin gehst du zur Geburt?«. Dabei sind diese Gespräche nicht als Small Talk anzusehen, sondern als Ausdruck der Sozialisierung in der Welt der Schwangeren. Sie betont den großen Einfluss von »personal narratives« (sie zitiert Labov und Waletzky, 1967, S. 36), also den erzählten Erfahrungen der Frauen in ihrer Umgebung, und sieht diese als wichtige Informationsquelle, die dem technokratischen Model und dem in Büchern und der Geburtsvorbereitung übermittelten Ideal, wenn nicht entgegengesetzt, so doch zur Seite gestellt werden kann. Mutter werden als Prozess – »Becoming a Mother« Als sich im Forschungsprozess zur vorliegenden Studie zeigte, dass ich aus den Daten ein Prozessmodell entwickeln würde, erschien es mir sinnvoll, auch Transitionsmodelle, die das Mutterwerden als Prozess darstellen, mit in die Perspektive aufzunehmen. Das folgende Model ist das pflegewissenschaftlich orientierte Transitionsmodell von Rubin (1967) und Mercer (2004), das den Fokus auf die Identitätsbildung der Frau legt. Es werden dabei zunächst die nungen im öffentlichen Raum erteilt werden. Bainbridge (2006) sieht diese auch als Art der sozialen Kontrolle.
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Entwicklung und die Konzepte dieses Modells vorgestellt und im Anschluss daran gehe ich auf Kritikpunkte an diesen Theorien ein. Eine der ersten Theorien zur Entwicklung einer Mutteridentität wurde 1967 von Rubin veröffentlicht. In ihrer Theory of Maternal Role Attainement geht Rubin (1967) von einer progressiven Entwicklung der eigenen Mutteridentität aus, in der die Frauen über verschiedene Strategien wie Informationssuche und Nachahmung anderer Mütter oder auch das Fantasieren über die eigene Zukunft ein ideales Selbstbild kreieren. Diese Entwicklung einer Mutteridentität geschieht über ein Hin und Her zwischen Projektion in die Zukunft, dem Erleben der Gegenwart und dem Einfluss der Vergangenheit, also der Erfahrungen, die dieses Erleben und die Zukunftsvorstellungen prägen wie etwa Erlebnisse in der eigenen Kindheit (Rubin, 1967). Dieses ideale Selbstbild umfasst die Eigenschaften, die die Frau für sich als Mutter für erstrebenswert hält. Am Ende dieses Prozesses steht laut Rubin eine individuelle, fertig entwickelte Mutteridentität (Rubin, 1967). In Rubins Modell geht es dabei um die Annahme einer gesellschaftlich vorgegebenen Identität; die soziale Konstruktion der Bedeutung von Muttersein stellt die Grundlage der Mutteridentität dar. Später wurde dieses Konzept des Maternal Role Attainement von verschiedenen Autoren wie etwa Mercer (2004) weiterentwickelt. In ihrem Konzept des »Becoming a Mother« geht Mercer von einem andauernden, sich in ständiger Weiterentwicklung befindenden Prozess der Entwicklung und Auseinandersetzung mit der eigenen Mutteridentität aus, der nie abgeschlossen ist. Dieser Prozess beginne bereits vor oder während der Schwangerschaft und setzt sich nach der Geburt fort (Mercer, 2004). Mercer beschreibt die Entwicklung der Mutteridentität in aufeinanderfolgenden Phasen: Zunächst geht es in der Schwangerschaft um »commitment, attachement and preparation«. Für den Zeitraum der ersten zwei bis sechs Wochen nach der Geburt beschreibt sie »acquaintance, learning and physical restoration« als zentrale Aspekte. Nach zwei Wochen bis vier Monaten werde dann schließlich die neue »maternal identity« erreicht (Mercer, 2004, S. 101). Eine zentrale Kategorie dieses Entwicklungsprozesses stellt das »engaged Mothering« dar, das einen Prozess der aktiven Vorbereitung auf das Muttersein beschreibt, der sowohl die Sorge für das Kind als auch die Sorge für sich selbst umfasst. Mercer bezieht sich damit auf die zentrale Kategorie, die Sawyer in einer Untersuchung über das Mutterwerden von afroamerikanischen Frauen beschreibt (Mercer, 2004; Sawyer, 1999). In einem Phasenmodell wie Mercers »Becoming a Mother«, in dem von allgemein übertragbaren festen Übergangsstadien, die in fest zugeschriebenen Zeitfenstern stattfinden, gesprochen wird, besteht die Gefahr, Verläufe in »richtig oder falsch«, in »pathologisch oder normal« einzuteilen. Von Autorinnen wie Parratt und Fahy (2010) werden die Transitionsmodelle von Rubin
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und Mercer als babyzentriert und nicht am Erleben und der Körpererfahrung der individuellen Frau orientiert kritisiert (2010). Sie werfen Mercer und Rubin vor, ein Modell entwickelt zu haben, das Experten in die Position versetze, Frauen zu sagen, wie sie Mutter werden sollen und damit die Experten zu Instrumenten der sozialen Kontrolle über Frauen zu machen (Parratt und Fahy, 2010). Gloger-Tippelt: Entwicklungspsychologisches Modell und die Ausdifferenzierung des Kindkonzepts Ein in Deutschland weit verbreitetes Modell für die Entwicklung von Mutteridentität stellt das entwicklungspsychologisch orientierte Modell von GlogerTippelt (1988) dar, das sowohl psychische und physische aber auch Veränderungen im sozialen Bereich integriert. Es betont insbesondere die Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung und des Kindkonzepts und soll deshalb hier vorgestellt werden. Gloger-Tippelt (1988) unterteilt die Schwangerschaft in vier idealtypische Phasen, die sie folgendermaßen benennt und zeitlich einteilt: 1. Verunsicherungsphase: bis zur 12. Schwangerschaftswoche 2. Anpassungsphase: 12. – 20. Schwangerschaftswoche 3. Konkretisierungsphase: 20. – 32. Schwangerschaftswoche 4. Vorbereitungsphase: 32. – 40. Schwangerschaftswoche Diese Phasen sieht Gloger-Tippelt jedoch nicht als abgegrenzte Phasen und festgesetzten zeitlichen Rahmen, sondern begreift sie als fließende, ineinandergreifende Übergänge. Den Übergang von einer Phase zur nächsten macht sie an körperlichen und psychischen Veränderungen fest und beschreibt darüber hinaus auch soziale Rückmeldungen als Kennzeichen der Veränderung (GlogerTippelt, 1988). Gloger-Tippelt beschreibt die Wahrnehmung der ersten Phase ab dem sicheren Vorliegen einer Schwangerschaft, dem positiven Schwangerschaftstest, als abhängig davon, ob eine Schwangerschaft erwünscht oder unerwünscht ist, das Erleben von positiven Erwartungen bestimmt wird oder aber ambivalente Gefühle vorherrschen. Diese Phase sieht sie zum einen gekennzeichnet durch körperliche Veränderungen wie Übelkeit oder Müdigkeit, aber auch durch das Gefühl von verminderter Kontrollüberzeugung und Ängsten, die unterschiedliche Bereiche wie etwa mögliche Veränderungen in der Partnerschaft oder im Berufsleben betreffen können. Ähnlich wie Davis-Floyd (1992) sieht Gloger-Tippelt die Offenlegung, also die Bekanntgabe der Schwangerschaft im Umfeld, als wichtigen Schritt im Übergang zum neuen Status Mutter an. An dieser Offenlegung macht sie den Beginn der nächsten Phase, der Anpassungsphase, fest. Darüber hinaus sieht sie Rituale
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wie die Inanspruchnahme von regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen oder auch bestimmte Nahrungstabus oder die Einnahme von Supplementen als ein Zeichen für die Annahme einer Schwangerenidentität. Ängste und körperliche Beschwerden lassen nach und die Frau entscheidet sich endgültig für die Schwangerschaft. Das Sehen des Kindes auf dem Ultraschall und das Hören der Herztöne ermöglicht oder erleichtert dabei laut Gloger-Tippelt (2005) die Entwicklung einer ersten Vorstellung vom Kind. Mit der Wahrnehmung von Kindsbewegungen beginnt laut Gloger-Tippelt die Konkretisierungsphase, in der die Frau zunehmend ein konkretes Bild des Kindes entwickelt und das Kind als eigenständiges Wesen sieht. Hier beginnt laut Gloger-Tippelt (1984) der Beziehungsaufbau zum Kind. Gleichzeitig wird sie »nach außen« zusehends schwanger und ist so auch zunehmend mit Rollenerwartungen konfrontiert. Die Frau agiert als zukünftige Mutter, trägt Umstandskleidung und nimmt die Vorsorgeuntersuchungen wahr. Mit der Phase der Antizipation ab der 32. Schwangerschaftswoche bis hin zur Geburt beginnt laut Gloger-Tippelt für die Frau die Fokussierung auf die Geburt. In diese Zeit fällt der Mutterschaftsurlaub, die Freistellung von der Berufstätigkeit. Der »Nestbau«, die Vorbereitung der Wohnung auf das Baby, aber auch die eigene Vorbereitung auf die Geburt durch Geburtsvorbereitung, Informationssuche über Gespräche, Bücher und in den letzten Jahren zunehmend auch über das Internet finden in dieser Phase statt. Körperlich ist diese Phase durch Zunahme von Belastungen gekennzeichnet, die laut Gloger-Tippelt auch auf die Trennung vom Kind vorbereiten. Gloger-Tippelts Modell ist für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung wegen ihrer Darstellung der Entwicklung vom Kindkonzept, das von Bindungsentwicklung und Beziehungsgestaltung bereits in der Schwangerschaft ausgeht (Gloger-Tippelt, 1988). Diese Entwicklung verläuft parallel zur fetalen Entwicklung und teilt sich in drei Phasen auf: 1. das undifferenzierte Kindkonzept 2. das Kind als eigenständiges Wesen 3. das Kind als Individuum Gloger-Tippelt argumentiert, dass, während Frauen in der ersten Phase der Schwangerschaft nur eine vage, abstrakte Vorstellung vom Kind haben, dieses Bild durch die Wahrnehmung von Kindsbewegungen konkreter werde: Die Frauen beginnen dem Kind eine körperliche Gestalt und auch Charaktereigenschaften, Absichten und Persönlichkeitsmerkmale zuzuschreiben und erleben das Kind als eigenständiges Wesen, entwickeln differenzierte Vorstellungen. In der letzten Phase der Schwangerschaft ab der 32. Schwangerschaftswoche, die mit der Antizipation der Geburt zusammenfällt, wird das Kind immer mehr als Individuum wahrgenommen, als eine eigenständige Person, die die Frauen
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kennen lernen möchten. Ihre Vorstellung vom Kind konkretisiert sich somit noch weiter. Die Entwicklung des eigenen Konzepts vom Kind sieht GlogerTippelt eng verschränkt mit der Entwicklung einer individuellen Mutteridentität. Erst in späteren Untersuchungen geht Gloger-Tippelt auf die Bedeutung von Ultraschalluntersuchungen in diesem Prozess der Kindkonzeptentwicklung ein und sieht die oben genannten Wendepunkte durch diese beeinflusst. Zum einen geht sie von einer Erweiterung dieser aus, beispielsweise durch die frühe Kenntnis des kindlichen Geschlechts24 und das Sehen des Kindes auf dem Ultraschallbildschirm noch vor der Wahrnehmung deutlicher Kindsbewegungen. Zum anderen geht sie aber wie auch andere Autorinnen (vgl. Katz-Rothman, 1986; Schindele, 1990) davon aus, dass die Entwicklung des Kindkonzepts durch die Möglichkeit bestimmter pränataldiagnostischer Untersuchungen wie etwa der Amniozentese nach hinten verschoben werden kann, sodass zunächst die Schwangerschaft bis zum Erhalt des Untersuchungsergebnisses »auf Probe« (Katz-Rothman, 1986) geführt wird (Gloger-Tippelt, 2005). Dass Gloger-Tippelt die Konkretisierung der Kindkonzeption erst im letzten Schwangerschaftsabschnitt sieht, in der von ihr Antizipationsphase genannten Zeitraum von der 32. Schwangerschaftswoche bis zur Geburt, wird von anderen Autorinnen differenziert betrachtet. So sehen manche Autorinnen wie Leifer (1980) den Beginn der Konkretisierung bereits mit der Wahrnehmung der ersten Kindsbewegungen.
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Die Weiterentwicklung der Forschungsfrage
In diesem Kapitel möchte ich die Weiterentwicklung der Ausgangsforschungsfragen darstellen. Der Ausgangspunkt der Arbeit war für mich das Forschungsinteresse daran, wie Frauen die pränatale infauste Prognose für ihr ungeborenes Kind erleben und weshalb sie sich für das Weiterführen der Schwangerschaft entscheiden. Dazu entwickelte ich zu Beginn des Forschungsprozesses die am Anfang der Arbeit beschriebenen Forschungsfragen, die meinen Zugang zu den Frauen und den Beginn der Datenanalyse leiteten. Hier sollen sie zur Orientierung noch einmal genannt werden, um den Prozess der Weiterentwicklung der Forschungsfragen verständlich zu machen (siehe Einleitung): 24 Katz-Rothman (1986) fragte sich bereits in ihrem in den 1980er Jahren erschienen Buch »Tentative Pregnancy«, ob das frühe Wissen um das fetale Geschlecht zu einer Veränderung der Wahrnehmung des Kindes und zu Verhaltensmodulierungen bei Schwangeren führe, also beispielsweise Bewegungen des Kindes anders interpretiert würden. Sie fand in ihren Interviews deutliche Unterschiede in der Beschreibung von Kindsbewegungen zwischen männlichen und weiblichen Kindern. (vgl. Katz-Rothmann, 1986, S. 127–131)
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1. Wie erleben die Frauen die pränatale Diagnosestellung einer infausten Prognose, und wie kommen sie zu ihrer Entscheidung »Weiterführen der Schwangerschaft«? 2. Welche Aspekte beeinflussen ihr Erleben der Diagnose und der verbleibenden Schwangerschaft? 3. Welche Bedürfnisse und Handlungsstrategien entwickeln sie während des Entscheidungsprozesses und in der Zeit danach? Während also zu Beginn der Arbeit mein Fokus vornehmlich auf die Entscheidungsfindung gerichtet war, wurde mir im Forschungsverlauf deutlich, dass die Entscheidungsfindung nicht das zentrale Moment im Erleben der Frauen darstellt, sondern es sich beim Erleben der Frauen vielmehr um einen prozessartigen Ablauf handelt, dessen einzelnen Phasen durch Wendepunkte mehr oder weniger deutlich voneinander abgegrenzt werden können. Es zeigte sich vor allem auch, dass dieser Prozess nicht durch die Entscheidung zum Weiterführen der Schwangerschaft abgeschlossen ist. Mir wurde deutlich, dass eine Perspektive auf Schwangerschaft als Statuspassage, als Übergang geeignet ist, um eine solche übergreifende Perspektive zu ermöglichen. Schwangerschaft als biografischen Übergang zu sehen, in dem Frauen beginnen, sich eine Identität als Mutter zu konstruieren, eröffnete mir neue Perspektiven auf die Erfahrung der Diagnose einer infausten Prognose für das ungeborene Kind und zeigte auch auf, welche Aspekte mit einem solchen Übergang in Verbindung stehen (vgl. Kapitel 7). Ich richtete meinen Fokus somit mehr und mehr auf den Prozessverlauf, die Frage nach Besonderheiten, nach Abläufen, nach Mustern und Wendepunkten, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb der Phasen. Als ich das im Ergebniskapitel dargestellte Phasenmodell ausarbeitete, untersuchte ich die einzelnen Phasen, die Zeitabschnitte des Prozessmodells und ihre Besonderheiten. Ich entwickelte deshalb aus dem Datenmaterial selbst, aber auch aus der Beschäftigung mit relevanten Theorien folgende zusätzliche fokussierende Fragestellungen: 1. Wie beeinflusst die Diagnosestellung die Entwicklung des Mutter-Werdens, und wie konstruieren Frauen sich eine Identität als Mutter nach der Diagnosestellung? 2. Wie gestalten die Frauen Bindung und Beziehung zum Kind im Prozess, welche Veränderungen gibt es dabei und zu welchen Zeitpunkten? 3. Wie erleben die Frauen ihren Partner und ihr Umfeld im Prozess, und wie gestalten sie die Interaktion? 4. Wie erleben die Frauen die Betreuungssituation, wie gestalten sie diese? Entwickelt sich die Betreuungssituation im Verlauf ?
Methodik
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Diese fokussierenden Forschungsfragen machten es mir möglich, den roten Faden in den Daten zu finden und schließlich die Geschichte der Frauen anhand des Prozessmodells erzählen zu können. Ein solches iteratives Vorgehen, also ein Hin und Her zwischen den Daten und der theoretischen Literatur, eine Veränderung oder Schärfung der Forschungsfrage im Forschungsverlauf anhand der aus den Daten zutage tretenden Ergebnisse steht in engem Zusammenhang mit der Grounded Theory Methodologie, die neben meinem methodischen Vorgehen im nächsten Kapitel erläutert werden soll, um den Forschungsprozess dieser Studie transparent zu machen.
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Methodik
In diesem Kapitel wird das methodische Vorgehen der vorliegenden Studie erläutert. Zunächst wird das Forschungsverständnis qualitativer Forschung erklärt und die Wahl dieses Forschungsansatzes begründet. Ich werde die theoretischen Begriffe des Konstruktivismus, Subjekt und Reflexivität einführen und ihren Zusammenhang mit der verwendeten Forschungsmethodologie Grounded Theory erklären. Darauf folgend erläutere ich die Grundlagen des von mir verwendeten Ansatzes der Grounded Theory Methodologie, gebe einen Überblick über ihre Entwicklung und stelle zentrale Merkmale dieser Methodologie vor. Die Darstellung meines praktischen Forschungsvorgehens in dieser Studie, das Datenerhebungsverfahren ausgehend vom Forschungsfeldzugang über das Sampling und die Interviewführung bis zur Transkription schließt sich daran an. Der Datenauswertungsprozess und die Entwicklung des Ergebnismodells werden im Anschluss daran aufgezeigt. Das Kapitel wird abgeschlossen mit den forschungsethischen Überlegungen zur vorliegenden Studie und den Gütekriterien.
8.1
Theoretische Grundlagen des qualitativen Ansatzes
Im Mittelpunkt meines Forschungsinteresses stehen das Erleben und die Bedeutungszuschreibungen der betroffenen Frauen. Sie werden als »Expertinnen in eigener Sache« (vgl. Baldus, 2006, S. 64) angesehen, so dass ihre subjektive Perspektive auf Diagnose und Entscheidung sowie den anschließenden Bewältigungsprozess dargestellt werden sollen. Für ein wirkliches Verständnis von der Diagnosesituation sowie des Entscheidungs- und Bewältigungsprozesses scheint deshalb ein Forschungsansatz, der am subjektiven Erleben der Frauen orientiert
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Perspektive und Methode
ist, eine wichtige Basis darzustellen. Dafür bietet sich somit die Wahl eines qualitativen Forschungsansatzes an. Mit einem qualitativen Ansatz können Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen analysiert werden, es geht um die Neuentwicklung von Thesen und Theorien und nicht wie bei quantitativer Forschung um die Bestätigung oder Falsifikation von zu Beginn einer Studie aufgestellten Hypothesen, also nicht um die Überprüfung von bereits bekannten Theorien (Flick, 2006). Vielmehr können Thesen, die aus den empirischen Daten kommen, entwickelt werden (Glaser und Strauss, 1968). Gerade in einem Bereich, in dem es wenige Erkenntnisse gibt, wie es der Fall ist für die Fragestellung nach dem Erleben von Frauen, die eine infauste pränatale Prognose für das Ungeborene erhalten, bietet sich ein solcher Forschungsansatz an. So können auch Unvorhergesehenes und Unerwartetes entdeckt und elaboriert werden. Mit qualitativer Forschung ist es zudem möglich, komplexe Zusammenhänge von Details eines Phänomens darzustellen (vgl. Strauss und Corbin, 1996). Der Forschungsprozess, der ohne Hypothese an den Forschungsgegenstand herantritt, kann offen und flexibel gestaltet werden, sollte aber gleichzeitig systematisch und nachvollziehbar sein. Strauss und Corbin sehen am Anfang einer Untersuchung nur das Interesse für einen Untersuchungsbereich: »Was in diesem Forschungsbereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozess herausstellen.« (Strauss und Corbin, 1996, S. 8). Konstruktivismus, Subjekt und Reflexivität Die Wissenschaftsperspektive dieser Studie ist vom Konstruktivismus geprägt, dessen Bedeutung dieses Ansatzes für die heuristische Perspektive ich in Kapitel 6.1 herausgearbeitet habe, sodass ich an dieser Stelle nun auf die praktischen Konsequenzen einer solchen konstruktivistischen Epistemologie auf die Forschungsmethodologie eingehen möchte. Crotty (2009) legt die Grundannahmen dieses Verständnisses folgendermaßen dar : »There is no objective truth waiting for us to discover it. Truth or meaning comes into existence in and out of our engagement with the realities in our world. There is no meaning without a mind. Meaning is not discovered but constructed.« (Crotty, 2009, S. 8)
In diesem Wissenschaftsverständnis gibt es demnach keine objektive Wahrheit, die von der Forscherin entdeckt werden kann, vielmehr wird das durch die Forschung erzeugte Wissen als konstruiert angesehen, eine Konstruktion, die im Zusammenspiel von Forscherin und Forschungsgegenstand – also den Teilnehmerinnen – entsteht. Für den konstruktivistischen Ansatz der Grounded Theory Methodologie fasst Charmaz (2011) dies folgendermaßen zusammen:
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»Sie (Anm.: Charmaz nimmt Bezug auf die konstruktivistische Grounded Theory) geht von einer relativistischen Epistemologie aus, versteht Wissen als sozial hergestellt, anerkennt multiple Standpunkte sowohl der Forschungsteilnehmer/innen als auch der Forscher/innen und nimmt eine reflexive Haltung gegenüber unseren Handlungen, gegenüber Situationen und Teilnehmenden im Forschungs-Setting und auch gegenüber unseren eigenen analytischen Konstruktionen ein.« (Charmaz, 2011, S. 184)
Breuer sieht die Forscherin als Teil des Forschungsprozesses, die »selbst als Subjekt und Person im Kontext der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisarbeit vorkommt« (Breuer, 2009, S. 115). Es gibt in dieser Perspektive demzufolge keine Forscherin, die außerhalb des Forschungsgegenstandes, unabhängig eine objektive Theorie entwickelt; vielmehr ist laut Breuer jedes Forschungsergebnis ein »persönlich-subjektiv geprägtes Produkt« (Breuer, 2009, S. 115). Breuer sieht Forschung als einen Prozess, der sowohl durch die individuelle Situation der Forscherin, ihre persönliche Situation, ihre Haltungen, Vorkonzepte über den Forschungsgegenstand, aber auch als interaktiver Prozess mit dem Forschungsgegenstand stattfindet (Breuer, 2009; Charmaz, 2006). Sowohl Breuer als auch Charmaz sehen es vor diesem Hintergrund als notwendig an, dass die Forscherin im Forschungsprozess immer wieder die eigene Rolle, eigene Haltungen reflektiert, eine Haltung der Reflexivität durch den gesamten Forschungsprozess einnimmt (vgl. Breuer, 2009, S. 114–141; Charmaz, 2006, S. 177–179). Breuer schlägt für diese Reflektionsarbeit verschiedene Herangehensweisen vor. Beispielsweise sieht er Techniken wie das Führen eines Forschungstagebuches und auch das kontinuierliche Schreiben von Memos als notwendige Schritte an, um sich die eigene Perspektive zu verdeutlichen. So kann durch das Führen eines Forschungstagebuches der Forschungsprozess und die Theoriebildung durch »retrospektive Selbstkonfrontation« nachvollzogen und überdacht werden (Breuer, 2009, S. 129). Auch die Teilnahme an Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen sowie deren Austausch mit Mitforschern und Mitforscherinnen kann eine Möglichkeit darstellen, sich des eigenen Standpunktes bewusst zu werden und andere Perspektiven einnehmen zu können, die eigene Interpretationsfähigkeit zu erweitern und den Forschungsprozess kritisch zu hinterfragen (vgl. Breuer, 2009; Dausien, 2007). Breuer sieht den Forschungsprozess und die Herausforderung für die Forscherin somit als eine »selbst-/reflexive Hin- und Herbewegung gewissermaßen zwischen Person-Sein und Forscher-Sein, zwischen Sich-Einlassen und DistanzNehmen im Untersuchungszusammenhang: die Berücksichtigung und Einbeziehung der alltagsweltlichen Charakteristik der Forschungsinteraktion in der wissenschaftlich-methodisch angeleiteten und reflektierten Prozedur, das Aufsuchen interpersonaler Kontakt- und Beziehungsnähe zum Gegenstand einerseits
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Perspektive und Methode
– eine Dezentrierung und Reflexion nach methodischen Prinzipien andererseits.« (Breuer, 2009, S. 140) Für die vorliegende Arbeit bedeutete diese Anforderung einerseits, immer wieder meine eigenen Haltungen zu hinterfragen, und darüber hinaus meine Wirkung auf die Interviewpartnerinnen zu reflektieren. Weil das Interview innerhalb eines solchen konstruktivistischen Paradigmas als ein gemeinsamer Konstruktionsprozess von mir als Forscherin und der interviewten Frau gesehen wird, der innerhalb eines bestimmten Rahmens stattfindet, sah ich es beispielsweise als notwendig an, die Rahmenbedingungen der Interviewsituation in einem Forschungstagebuch festzuhalten. Als solche Rahmenbedingungen schrieb ich den Ort des Interviews nieder und beschrieb die Fotos und Erinnerungsstücke an das Kind, falls mir solche gezeigt worden waren. Zusätzlich notierte ich die äußeren Bedingungen, hielt fest, ob andere Personen wie Geschwisterkinder oder der Partner beim Gespräch dabei waren oder ob Störungen von außen auftraten. Im Anschluss an das Interview, aber auch während der Transkription der Aufnahme schrieb ich zudem Memos zu ersten Ideen und Eindrücken, notierte aber auch meine eigenen Gefühle und Reaktionen auf das Gespräch, welche Bereiche mich berührt, welche irritiert haben. Für die vorliegende Studie bedeutete dies, dass ich Forschungsergebnisse immer wieder mit manchen der Studienteilnehmerinnen reflektierte und Zwischenergebnisse beispielsweise beim Anenzephalietreffen in Erfurt präsentierte, das von einer Gruppe selbst betroffener Frauen mitgestaltet und organisiert wird. Diese Betroffenen machten dort neben Wissenschaftlerinnen und Fachpersonal den Hauptteil der Teilnehmerinnen aus. Die Teilnehmerinnen können nach Abschluss der Arbeit den Ergebnisteil zugesendet bekommen und Einblick in die Arbeit erhalten. Für die Erzählperspektive der vorliegenden Studie bedeutet dieses Verständnis vom intersubjektivem Verhältnis von Forscherin zu Forschungsgegenstand, dass die Forscherin als Person im Forschungsprozess präsent ist, dass diese Person auch mit in die Ergebnisse eingeht. Daraus habe ich für mich abgeleitet, – in Anlehnung an Mruck und Meys (1998) Forderung, dass es nur konsequent sei, wenn »man« auch »ich« sagt – im Methodikteil in der IchPerspektive zu erzählen. Denn Entscheidungen, die ich als Forscherin getroffen habe, sollen als meine Entscheidungen im Text sichtbar sein.
8.2
Die Grounded Theory Methodologie
Die in dieser Studie verwendete Methodologie ist die Grounded Theorie (GTM). Die Studie zielt darauf ab, neue Erkenntnisse über Frauen zu gewinnen, die nach der pränatalen Diagnose einer infausten Prognose des Ungeborenen die
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Schwangerschaft fortsetzen. Für ein solches Forschungsvorhaben, das Phänomene, über die wenig bekannt ist, zu erklären sucht, erscheint die Grounded Theory Methodologie (GTM) als besonders geeignet, da sie darauf ausgerichtet ist, neue Theorien zu generieren und nicht Hypothesen zu überprüfen (Glaser und Strass, 1967; Breuer, 2009). In der Grounded Theory Methodologie sollte demzufolge zu Beginn eines Forschungsvorhabens ein allgemeines Forschungsinteresse formuliert werden, die ersten Forschungsfragen offen formuliert sein und erst im weiteren Forschungsprozess, mit Hilfe von Datenauswertung und Interpretation, weiterentwickelt werden (vgl. Breuer, 2009, S. 54–55). Ein zentrales Merkmal der GTM ist dabei, dass das Ziel des Forschungsprozesses die Theoriebildung ist: Über Konzeptentwicklung und die Entwicklung von Zusammenhangsmodellen sollen erklärende Abstraktionen des untersuchten Phänomens konstruiert werden (Breuer, 2009). Die GTM bietet nicht nur ein Methodenset, sondern stellt darüber hinaus einen Denkstil dar, wie über Daten nachgedacht werden kann (Strauss et al., 2004; Corbin und Cisneros-Puebla, 2011). So bezeichnet Breuer (2009) die Grounded Theory Methodologie nicht als Forschungsmethode, sondern nennt die GTM vielmehr einen »Forschungsstil«. Neben dem ihr eigenen offenen »Denkstil« bietet die GTM spezifische Techniken für Sampling (siehe theoretisches Sampling) und Datenanalyse (siehe Kodieren, Memoing) und erfordert einen spezifischen Umgang mit Literatur im Forschungsprozess (siehe theoretische Sensibilität). Diese Merkmale der GTM erkläre ich nachfolgend in diesem Kapitel. Zunächst möchte ich jedoch die historische Entwicklung der GTM aufzeigen, und auf die Differenzierung der verschiedenen GTM-Richtungen eingehen und insbesondere die von mir verwendete konstruktivistische GTM von Charmaz (2000, 2006, 2011) näher erläutern. 8.2.1 Die Entwicklung der Grounded Theory Methodologie und ihre Weiterentwicklung Glaser und Strauss entwickelten in den 1960er Jahren die Grounded Theory als Gegenentwurf zum in den Sozialwissenschaften vorherrschenden positivistischen Ansatz von quantitativen Forschungsmethoden, in denen qualitative Verfahren nur als Vorstufe zur Entwicklung von Fragestellungen quantitativer Forschung betrachtet wurden (Glaser und Strauss, 1967). Gleichzeitig wollten sie aber auch den vor allen Dingen deskriptiv orientierten qualitativen Verfahren dieser Zeit eine Methode von regelgeleiteter, systematischer Datensammlung, Datenanalyse und Theoriegenerierung entgegenstellen, die ein offenes und flexibles Herangehen an ein Phänomen erlaubte und die Entdeckung von gegenstandsbegründeter Theorie (»Grounded Theory«) ermöglichen sollte (Glaser
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Perspektive und Methode
und Strauss, 1967). Die unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven, auf der einen Seite Anselm Strauss‹ Wurzeln in der »Chicago School« und dem symbolischen Interaktionismus (vgl. Blumer, 1973; Mead, 1934) und auf der anderen Seite Glasers Wurzeln in der quantitativen Forschungstradition der Columbia University, führten in den folgenden Jahrzehnten zu einer Weiterentwicklung der Methode auf getrennten Wegen (Strübing, 2011). Glaser hielt an den Prinzipien der »Ur-Version« fest und sieht seine Methodologie und ihre Ausdifferenzierung als »klassische Grounded Theory«: Laut Glaser ist in den Daten eine objektive Theorie verborgen, die durch den Forscher entdeckt werden muss, aus den Daten auftaucht (»emergence«). Insbesondere die Weiterentwicklung der GTM durch Strauss und Corbin, beispielsweise das paradigmatische Modell, kritisiert Glaser als »forcing«, als Zwängen der Daten in vorgefertigte Kategorien, das ein Entdecken der in den Daten verborgenen Theorie erschwert (Glaser, 1992). Strauss entwickelte hingegen zunächst unabhängig, seit den 1990er Jahren mit seiner Co-Autorin Corbin Techniken für die Datenanalyse, zum Beispiel Kodiertechniken und das paradigmatische Modell, mit dem das Zuordnen von Kodes und Kategorien in ein theoretisches Modell vereinfacht werden sollte (Corbin und Strauss, 2008; Strauss und Corbin, 1996). Neben den beiden »Gründungsvätern« und ihren Co-Autorinnen gibt es eine dritte Generation von Autorinnen wie etwa Adele Clarke oder Kathy Charmaz (vgl. Charmaz, 2000, 2006; Clarke, 2012). Diese Autorinnen griffen ab der Jahrtausendwende Theorien der Postmoderne und auch feministische Perspektiven auf und entwickelten eigene Versionen von GTM. Für mich und damit für diese Studie sind Charmaz (2006, 2011) Ansatz der konstruktivistischen GTM und auch die von diesem Verständnis geprägte Herangehensweise von Breuer (2009) wichtige Impulsgeber, da sie im Konstruktivismus verwurzelt sind und Theorien als kontextbezogen ansehen. 8.2.2 Zentrale Merkmale der Grounded Theory Methodologie Im Folgenden werden die zentralen Merkmale der GTM und ihre Anwendung in der vorliegenden Studie dargestellt, wobei ich mich bezogen auf meine Forschungshaltung insbesondere auf die Autorinnen und Autoren der dritten Generation beziehe (Breuer, 2009; Charmaz, 2006, 2011), aber auch das paradigmatische Modell von Strauss und Corbin (1996) und seine Rolle für die Theoriebildung dieser Studie aufzeige. Um einen GTM-Forschungsprozess verstehen zu können, ist es zunächst wichtig zu erkennen, dass dieser Prozess nicht in den für andere Forschungsstile üblichen chronologischen Etappen verläuft. Vielmehr wird Forschen mit GTM als iterativer Prozess, ein Hin und Her zwischen Datensammlung, Datenanalyse
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und Theoriebildung verstanden (Mey und Mruck, 2011, S. 23). Für den Forschungsverlauf dieser Studie bedeutete dies, dass nicht die einzelnen Forschungsschritte nacheinander abgeschlossen wurden, sondern dass beispielsweise die Weiterentwicklung der Forschungsfrage, die Datensammlung und die Analyse der Daten in einer Hin- und Herbewegung bearbeitet wurden und sich gegenseitig bedingten, also parallel erfolgten. Das Kodieren Ein zentraler Arbeitsschritt der Grounded Theory Methodologie ist das Kodieren der Daten. Ziel ist die Entwicklung von Konzepten und Kategorien aus den Daten, aus denen dann eine gegenstandsbezogene Theorie entwickelt wird (Strauss und Corbin, 1996; Charmaz, 2006). Im Unterschied zu anderen qualitativen Analyseverfahren, bei denen die Daten mit vorher entwickelten Kategoriensystemen analysiert werden, entsteht ein solcher Bezugsrahmen in der GTM während des Forschungsprozesses und wird auch erst durch den Kodierprozess entwickelt (Mey und Mruck, 2011, S. 24). Durch die intensive Beschäftigung mit dem Material, das Lesen des Datenmaterials und dem Kodieren werden übergreifende Konzepte über ein Phänomen herausgearbeitet. Breuer beschreibt dies wie folgt: »Die Phänomene bzw. Indikatoren sind demnach das Unmittelbare und Sichtbare, die allgemeinen Konzepte das Dahinterliegende. Letztere sind in den Daten gewissermaßen eingeschlossen, versteckt und müssen durch methodische und kreative Aktivität des Forschers, seine heuristischen und hermeneutischen Bemühungen auf der Basis theoretischer Sensibilität, zu Tage gefördert werden.« (Breuer 2009, S. 71)
Einen ersten Arbeitsschritt stellt dabei das initiale Kodieren dar. In der Grounded Theory wird bereits nach dem ersten Interview mit dem Kodieren des Datenmaterials begonnen (Glaser und Strauss, 1967; Charmaz, 2006; Strauss und Corbin, 1996). Dieses erste Kodieren wird von Strauss und Corbin (1996) und den Autoren und Autorinnen, die sich auf sie beziehen, als offenes Kodieren bezeichnet, das vom axialen Kodieren und selektiven Kodieren gefolgt wird (vgl. Breuer, 2009). Beim offenen Kodieren werden zunächst einzelne Segmente und Abschnitte benannt, in Konzepte geordnet und zusammengefasst, um das Datenmaterial zu sortieren und Ordnung in die Datenfülle zu bringen (Charmaz, 2006, S. 42). Unter Konzepten werden in diesem Zusammenhang »Bezeichnungen oder Etiketten, die einzelnen Ereignisse, Vorkommnissen oder anderen Beispielen für Phänomene zugeordnet werden« verstanden (Strauss und Corbin, 1996, S. 43). Diese Konzepte können wiederum geordnet und diejenigen, die sich auf ein ähnliches Phänomen beziehen, zu Kategorien zusammengefasst werden (vgl. Strauss und Corbin, 1996, S. 43). In diesem ersten Arbeitsschritt geht es daher zunächst um die Frage, von was diese Daten handeln, welche Bedeutung
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Perspektive und Methode
sie haben. Wichtig in Charmaz (2006, 2011) Ansatz ist dabei, die Perspektive der Interviewpartner einzuhalten und immer wieder zu fragen, welche Bedeutung diese dem Geschehen zuschreiben. Dieses erste, offene Kodieren dient aber auch dazu, den Überblick über die Daten zu erleichtern, Listen von Kodes können angelegt werden. Auf diese können besonders dichte und interessant erscheinende Textteile detailliert kodiert werden; oder es werden Textstellen, in denen die Forscherin Widersprüche und Irritationen wahrnimmt, analysiert. Berg und Millmeister (2011) plädieren weiterhin dafür, in diesem Prozess festzuhalten, warum bestimmte Kodebezeichnungen gewählt werden, um so bereits in diesem offenen Kodierprozess mit der Entwicklung einer Storyline, also der Geschichte, die am Ende erzählt werden soll, zu beginnen. Für das Ordnen der Datenfülle sehen Berg und Millmeister (2011) das richtige Lesen, also das Verstehen der Texte, als Bedingung an. Um dieses Verstehen zu erleichtern, werden von Autorinnen verschiedene Techniken beschrieben. Beispielsweise empfehlen sie für »dichte« Stellen im Material, also Abschnitte, die besonders wichtig erscheinen, das wiederholte Anhören der Interviewaufzeichnungen (ebd.). Weitere empfohlene Kodiertechniken beziehen sich z. B. auf die Frage, was kodiert werden soll oder wie groß die in einem Code zusammengefasste Texteinheit sein kann. Charmaz (2006) beschreibt dafür unterschiedliche Koding-Techniken: So kann Wort für Wort kodiert werden oder Zeile für Zeile. Sie sieht mit einer solchen detaillierten Kodiertechnik die Möglichkeit eröffnet, offen zu bleiben für vielleicht auch überraschende Ergebnisse (Charmaz, 2006). Eine weitere Möglichkeit stellt das Kodieren von Ereignissen dar (»Incident to Incident«), das Charmaz (2006) als günstig für ein leichtes Vergleichen der herausgearbeiteten Kodes ansieht. In der vorliegenden Studie habe ich die Technik des »Incident to Incident«-Kodierens in dem Sinne angewandt, dass das Material in zeitlich abgegrenzte Phasen aufgebrochen wurde. Beispielsweise wurde die Phase »Diagnose« bearbeitet und dabei das Ereignis »Diagnosemitteilung« kodiert. Dabei suchte ich nach Unterschieden und Ähnlichkeiten der verschiedenen Diagnosemitteilungssituationen im Material, verglich die Diagnosemitteilungssituation aber auch mit anderen Diagnosemitteilungssituationen wie etwa der postpartalen Diagnose einer Behinderung des Kindes, der Diagnose einer schweren Erkrankung eines älteren Kindes oder auch der Diagnose von Krebs. Für diese Vergleiche zog ich Fachliteratur, aber auch biografische Erfahrungsberichte heran (siehe dazu theoretische Sensibilität). Eine weitere grundlegende Frage beim Kodieren ist die, welche Fragen an das Datenmaterial gestellt werden können. So wird von manchen Autorinnen empfohlen, gerade zu Beginn eines Forschungsprozesses nach einem Frageschema vorzugehen: – Um was für einen Prozess geht es hier? Wie kann er definiert werden?
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– Wie entwickelt sich dieser Prozess? – Wie handeln die Teilnehmer, während sie in diesen Prozess eingebunden sind? – Was denken und fühlen die Teilnehmer während dieses Prozesses, und auf was deutet das beobachtete Verhalten hin? – Wann, wie und warum verändert sich der Prozess? – Was sind die Konsequenzen dieses Prozesses? (Charmaz, 2006, S. 51; eigene Übersetzung) Diese Fragen können im Forschungsprozess weiterentwickelt werden, so dass neue Fragen aus den Daten, aus den entwickelten Kodes, entstehen; Fragen im fortgeschrittenen Forschungsprozess beziehen sich dann beispielsweise auf Verknüpfungen und Zusammenhänge von Kategorien. Neben diesem Fragenstellen an das Material ist das ständige Vergleichen ein wichtiger Aspekt des Kodierparadigmas der GTM (Glaser und Strauss, 1967). Kodes werden mit Kodes, Ereignisse mit Ereignissen innerhalb eines Interviews und zwischen verschiedenen Interviews miteinander verglichen. Auf diese Weise können die Konzepte weiterentwickelt und dimensionalisiert werden. Als einen weiteren wichtigen Schritt im Analyseprozess sieht Charmaz die Entscheidung darüber, welche Kodes im weiteren Analyseprozess kategorisiert und weiterentwickelt werden sollen (Charmaz, 2006). Wenn diese Richtung klar ist, können größere Datenmengen gezielt auf diese Kodes hin analysiert werden. Durch ständiges Vergleichen und ein Hin und Her zwischen den unterschiedlichen Interviews wird so ein »fokussierter Kode« entwickelt, der wiederum weiter mit Daten verglichen wird und so ausdifferenziert werden kann (vgl. Charmaz, 2006, S. 57–60). Strauss und Corbin (1996) beschreiben als weiteren Schritt des Kodierens das axiale Kodieren. Dabei geht es darum, die Kodes und Kategorien, die beim offenen Kodieren entwickelt wurden, miteinander in Zusammenhang zu bringen und neu zusammenzusetzen. Analyse nach diesem Verständnis bedeutet die Umwandlung von Text in Konzepte, das in Verbindung bringen von Kategorien mit Subkategorien (Charmaz, 2006). Das paradigmatische Modell von Strauss und Corbin (1996) stellt dabei einen möglichen Analyserahmen dar. Im paradigmatischen Modell werden um eine zentrale Kategorie herum Subkategorien systematisch eingeordnet in: (A) Ursächliche Bedingungen – (B) Phänomen – (C) Kontext – (D) Intervenierende Bedingungen – (E) Handlungs- und Interaktionale Strategien – (F) Konsequenzen (Strauss und Corbin, 1996, S. 78)
Dieses Modell kann dazu dienen, eine systematische Herangehensweise an das Material zu ermöglichen. Ich habe dieses Modell in dieser Studie in der Da-
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tenanalyse allerdings nur kurze Zeit verwendet, da sich im Datenauswertungsprozess zeigte, dass sich die Ergebnisse nicht in diesen »Rahmen« einordnen ließen und die Analyse durch das Modell eingeschränkt erschien. Gleichzeitig dienten mir Aspekte des paradigmatischen Modells aber weiterhin immer wieder zur Erweiterung meines Verständnisses möglicher Zusammenhänge von Kategorien und ermöglichten mir in manchen Phasen des Analyseprozesses einen neuen Blick auf das Material (die detaillierte Entwicklung meines Modells ist separat im Kapitel 8.4 beschrieben). Auch Charmaz (2006) sieht das paradigmatische Modell als Instrument für diejenigen Forscherinnen und Forscher, die es bevorzugen, mit festen vorgegebenen Strukturen zu arbeiten. Sie plädiert jedoch dafür, dass die Forscher und Forscherinnen, die Ambiguität im Analyseprozess aushalten können, einfachere und vor allen Dingen flexiblere Richtlinien für die Analyse anwenden: Der Analyseprozess soll sich an den aus dem Material entwickelten und im Material entdeckten Hinweisen orientieren und in dieser Richtung hin entwickeln (Charmaz, 2006, S. 61). Deshalb empfiehlt Charmaz (2006), für jeden Gegenstandsbereich ein individuelles Analyseschema zu entwickeln, dass sich aus den Daten selbst ergibt. Für diese Studie habe ich dazu das Phasenmodell entwickelt, das im Ergebnisteil dargestellt wird. Theoretische Sensibilität- und die Verwendung von Literatur im Analyseprozess Mit theoretischer Sensibilität ist innerhalb der GTM die Fähigkeiten der Forscherin bzw. des Forschers gemeint, zu erkennen, was im Material wichtig ist, Zusammenhänge herzustellen und somit eine Theorie aus den Daten entwickeln zu können. Strauss und Corbin (1996) verstehen darunter das »Bewusstsein für die Feinheiten in der Bedeutung der Daten« auf Seiten der Forscherin (Strauss und Corbin, 1996, S. 25). Charmaz beschreibt zudem als eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung von theoretischer Sensibilität das »Theorizing«, worunter sie den Prozess des »stopping, pondering and rethinking« versteht. Zentral in diesem Prozess ist die Notwendigkeit, das untersuchte Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, Vergleiche anzustellen und eigene Ideen dazu zu entwickeln (Charmaz, 2006, S. 135). So können neue Möglichkeiten und Zusammenhänge erkannt werden und neue Fragen ans Material entwickelt werden (Charmaz, 2006, S. 135). Die theoretische Sensibilität einer Forscherin bzw. eines Forschers steht dabei laut Charmaz (2006) in engem Zusammenhang mit seinem bzw. ihrem theoretischen Wissen zum Gegenstandsbereich, aber auch beruflichen und persönlichen Erfahrungen im Vorfeld des Forschungsprozesses. Gleichzeitig stellt aber auch der Forschungsprozess selbst einen Wachstumsprozess dar, in dem die theoretische Sensibilität durch die tiefgehende Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand erweitert werden kann (Strauss und Corbin, 1996). Strauss und Corbin (1996) sehen das Studium von Literatur im Forschungsprozess, zu
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dem sie neben Fachliteratur und Literatur zu relevanten Theorien auch das Lesen nicht-wissenschaftlicher Literatur wie Biografien und Dokumenten zählen, als eine Möglichkeit, die theoretische Sensibilität zu steigern. Der Forschungsprozess wird so zu einem »Wechselspiel zwischen Lesen von Literatur und Analyse von Daten« (Strauss und Corbin, 1996, S. 38), die Beschäftigung mit relevanter Literatur etwas, was begleitend durch den gesamten Forschungsprozess erfolgt (vgl. Breuer, 2009, S. 56). Strauss und Corbin fordern sogar zu Folgendem auf: »erst wenn sich eine Kategorie als relevant erwiesen hat, sollten wir auf die Fachliteratur zurückgreifen.« (Strauss und Corbin, 1996, S. 33) Für meinen Forschungsprozess bedeutete ein solcher Umgang mit Literatur, wie die GTM ihn im Sinne der theoretischen Sensibilität fordert, dass mein Zugang zu Literatur während des Forschungsprozesses zyklisch erfolgte und ich mich immer wieder sowohl mit soziologischen Theorien, Methodologie und den unterschiedlichen Grounded Theory Methodologie Ansätzen beschäftigte und andere Forschungsarbeiten studierte, die sich mit ähnlichen thematischen Feldern befassten. Darüber hinaus besuchte ich Fortbildungen und Kongresse zu Pränataldiagnostik und las Zeitungsartikel, Erfahrungsberichte betroffener Frauen und biografische Bücher. Ein weiterer Aspekt, den Strauss und Corbin (1996) in engem Zusammenhang mit der theoretischen Sensibilität des Forschers bzw. der Forscherin sehen, sind dessen bzw. deren persönlichen oder beruflichen Erfahrungen im Bereich des untersuchten Phänomens. Diese Erfahrungen können eine wichtige Ressource von Wissen sein und das Verständnis von Zusammenhängen erleichtern (Strauss und Corbin, 1996). Auch Erfahrungen in früheren Forschungsprojekten werden als solche Erfahrungen gesehen. Für diese Studie erleichterte mir zudem mein beruflicher Hintergrund als Hebamme den Zugang zu den Teilnehmerinnen. Vor allem führte mein beruflicher Hintergrund aber dazu, dass mir der Kontext von Schwangerschaft und Geburt vertraut ist. Die Organisation von Schwangerschaftsvorsorge und die Struktur des Medizinsystems kenne ich aus meinem Berufsalltag, habe praktische Erfahrungen in der Begleitung von Frauen, die Totund Fehlgeburten erleben oder einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen. Auch meine eigene Schwangerschaft während des Forschungsprozesses prägte sicherlich in gewisser Weise meinen Blick auf die Erfahrungen der betroffenen Frauen in dieser Studie. Während die persönlichen Erfahrungen des Forschers bzw. der Forscherin die theoretische Sensibilität im Forschungsprozess erweitern können, sehen Strauss und Corbin andererseits darin auch die Gefahr, dass diese zur Übertragung eigener Konzepte und zur vorschnellen Entwicklung von Theorien führen können, falls die Forscherin diese nicht reflektiert und sich bewusst macht (Strauss und Corbin, 1996, S. 26). Um diese Übertragung zu vermeiden, empfehlen sie daher einen systematischen Umgang mit den Daten, die konstante
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Vergewisserung, ob Kodes wirklich aus den Daten kommen oder aber aus eigenen Vorkonzepten entwickelt wurden. Die oben beschriebenen Kodierverfahren, ein systematischer Blick auf die Daten und spezielle Techniken des »Lesens« der Daten sollen diese Blindheit vermeiden helfen und eine Offenheit für neue Erkenntnisse ermöglichen (vgl. Breuer, 2009; Charmaz, 2006; Corbin und Strauss, 2008; Strauss und Corbin, 1996). Dabei ist auch eine skeptische Haltung gegenüber theoretischen Konzepten, die in anderen Studien entwickelt wurden, angebracht (Strauss und Corbin, 1996). Memoing Eine weitere wichtige Technik der GTM, die während des gesamten Forschungsprozesses empfohlen wird, stellt das Memoing dar. Als Memos werden in der GTM schriftliche Aufzeichnungen über analytische Denkprozesse der Forscherin bzw. des Forschers bezeichnet, deren Ziel die abstrakte, konzeptualisierte Darstellung eines Phänomens ist (Strauss und Corbin, 1996; Corbin und Strauss, 2008). Charmaz (2006, vgl. S. 10–12) sieht Memoing als den zentralen Arbeitsschritt, der durch den gesamten Forschungsprozess hindurch durchgeführt wird, Memos werden weiterentwickelt, aus den Memos entwickeln sich erste Entwürfe des Ergebniskapitels, aus und mit ihnen werden Konzepte und schließlich das Theoriemodell entwickelt. Auch das Kodieren sollte von ständigem Memoschreiben begleitet werden, in dem die Forscherin Gedanken festhält, die sie zu den Kodes, zu Zusammenhängen zwischen Kodes und Kategorien, Subkategorien und Konzepten hat (Charmaz, 2006). Diese Memos dienen der Dokumentation der Entwicklung der Theorie. Durch systematisches, kontinuierliches Memoschreiben lassen sich auch Lücken in den Daten feststellen und durch gezieltes Sampling vermeiden (vgl. Mey und Mruck, 2011, S. 26). Für diese Studie schrieb ich daher Memos durch den gesamten Forschungsprozess hindurch, beispielsweise nach jedem Interview, während des Kodierens und bei der Entwicklung des Phasenmodells. Neben diesem freien Schreiben von Memos in den unterschiedlichen Phasen des Forschungsprozesses arbeitete ich zusätzlich mit dem Diktiergerät. Dieses »Sprechen« über Zusammenhänge ermöglichte mir einen Fluss von Konzepten und Zusammenhängen zu Kodes und Kategorien zu produzieren; die Transkription diente als Memo. Wie etwa von Mruck und Mey (1998) empfohlen, verwendete ich auch die Protokolltranskripte aus Forschungsgruppentreffen als Basis für theoretische Memos, da darin die unterschiedlichen Perspektiven der Forschungsgruppenteilnehmerinnen und die Weiterentwicklung der Theoriebildung wiedergegeben werden (in Anhänge B Anlageband sind solche Protokolle exemplarisch aufgeführt). Zudem dienten mir als Memos auch Skizzen und Modelle, die ich im
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Forschungsprozess weiter ausbaute und aus denen ich schließlich das Phasenmodell entwickelte. Solche Skizzen und Modelle dienen zum einen der Darstellung, der Verbildlichung von Zusammenhängen, können aber auch eine wichtige Rolle während des Analyseprozesses zur Gedankenanregung spielen (vgl. Strauss und Corbin, 1996, S. 173–176; Breuer, 2009). Dabei arbeitete ich zunächst mit computergestützten Mindmaps und grafischen Programmen auch in MAXQDA25 (exemplarische Modelle sind in Anhänge B Anlageband aufgeführt). Es zeigte sich jedoch, dass für mich das Arbeiten mit echtem Papier, das Pinnen von ausgeschnittenen Kategorien und Kodes an die Wand und das Zeichnen von Modellskizzen einen praktikableren und flexibleren Ansatz darstellte, um die Struktur des Erzählmodells auszuarbeiten. Theoretisches Sampling In der GTM werden das Forschungsdesign und insbesondere das Sampling nicht vor Studienbeginn festgelegt. Vielmehr werden Entscheidungen über das Sampling erst im Forschungsprozess getroffen. Sampleumfang (Welche Gruppe soll befragt werden?) und Zusammensetzung (Welche Personen werden befragt?), aber auch Größe (Wie viele Teilnehmerinnen sollen befragt werden?) sind zu Beginn des Forschungsprozesses nicht festgesetzt (vgl. Flick, 2006, S. 105). Beim theoretischen Sampling erfolgen Datenauswertung und Datenerhebung zirkulär (vgl. Glaser und Strauss, 1967; Charmaz, 2006). Datenerhebung und auch Auswahl des Samples werden im Forschungsprozess modelliert und weiterentwickelt (vgl. Breuer, 2009, S. 58). Breuer beschreibt den Prozess des theoretischen Samplings folgendermaßen: »Die jeweils erreichte theoretische Kenntnis ist Grundlage der Entscheidung darüber, was die nächsten interessanten Daten für die Forscherin sind und auf welche Weise sie diese erheben will.« (Breuer, 2009, S. 58)
Dabei ist für die Stichprobenauswahl nicht die Repräsentativität des Falles ausschlaggebend, vielmehr steht die Relevanz des Falles für die zu konstruierende Theorie im Vordergrund. Corbin und Strauss (2008) bezeichnen deshalb das theoretische Sampling als »Concept driven«, worunter sie verstehen, dass Entscheidungen über weitere Sampleschritte aufgrund von aus den Daten konstruierten Konzepten getroffen werden (Corbin und Strauss, 2008, S. 145). Die Datenerhebung wird im Idealfall beendet, wenn es zur theoretischen Sättigung kommt, das heißt, wenn sich keine neuen Aspekte zur Fragestellung aus den Daten ergeben (Charmaz, 2006; Strauss und Corbin, 1996; Corbin und Strauss, 2008). Corbin und Strauss (2008) weisen darauf hin, dass sie den Begriff der »Sättigung« in diesem Zusammenhang nicht nur auf neue Daten beziehen, 25 MAXQDA ist ein Softwareprogramm zur qualitativen Datenanalyse: http://www.maxqda.de/.
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Perspektive und Methode
sondern vielmehr auf die Entwicklung von Kategorien und Theorien und die Darstellung von Zusammenhängen zwischen Konzepten. Sättigung sehen sie als erreicht, wenn Zusammenhänge hergestellt sind und eine konzeptuelle »Skizze« des Phänomens konstruiert ist (vgl. Corbin und Strauss, 2008, S. 143ff.). In dieser Studie erstreckte sich die Datensammlung über einen Zeitraum von 12 Monaten. Bereits nach dem ersten Interview begann ich mit dem Kodieren und Bilden von Kategorien und Konzepten. Die sich aus dem Datenmaterial der ersten Interviews ergebenden Fragen führten zu einer Modellierung des Interviewleitfadens im Prozess der Datensammlung. Aus Gründen der Seltenheit des untersuchten Phänomens – nur wenige Frauen entscheiden sich nach der infausten Prognose für ihr Kind und somit für ein Weiterführen der Schwangerschaft – war im Forschungsprozess nicht so sehr die Auswahl der Teilnehmerinnen für das Sampling theoriegeleitet, sondern vielmehr mein Blick auf die Daten, die Fragen ans Material und auch die Fragen an die Teilnehmerinnen, die sich im Forschungsprozess weiter entwickelten.
8.3
Die Datenerhebungsverfahren
In diesem Kapitel wird das Datenerhebungsverfahren in dieser Studie erläutert. Zunächst stelle ich meinen Zugang zum Forschungsfeld dar und beschreibe die Kontaktaufnahme zu den Teilnehmerinnen. Im Anschluss werden Hintergrundinformationen zum Interview erklärt und die Interviewdurchführung in der vorliegenden Studie erläutert. Daran schließt sich eine kurze Beschreibung der verwendeten Transkriptionstechnik der Daten an. Zugang ins Forschungsfeld Die Zugangskriterien für das Sampling waren, dass die Frauen den Befund »Nichtlebensfähigkeit des Kindes« während der Schwangerschaft erhalten hatten. Der Diagnosezeitpunkt bzw. die Geburt des Kindes, sollte nicht länger als zehn Jahre vor dem Interviewtermin liegen, um der technischen Weiterentwicklung und den veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen im Forschungsbereich Pränataldiagnostik gerecht werden zu können. Die Perspektive der vorliegenden Studie ist retrospektiv angelegt; Frauen, die sich noch in der Entscheidungsfindung befanden, wurden nicht aufgenommen (siehe forschungsethische Dimensionen, Kapitel 8.5). Um Zugang zu möglichen Teilnehmerinnen zu gewinnen, sprach ich unterschiedliche Akteure an, die Frauen während und nach einer pränatalen Diagnosestellung betreuen. Zum einen kontaktierte ich pränataldiagnostische Untersuchungszentren und Kliniken und bat um Weitergabe der Studieninformation (Studieninformation siehe Anhang). Diese Bemühungen verliefen jedoch
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erfolglos. Auch der Kontakt zu Beratungsstellen ergab keine positive Resonanz zu möglichen Teilnehmerinnen. Als Grund wurde von einigen Beraterinnen die geringe Fallzahl an Beratungen nach positivem pränataldiagnostischem Befund angegeben. Ich kontaktierte zudem internetbasierte Selbsthilfegruppen und war erstaunt über die positive und umfangreiche Unterstützung von dieser Seite, und die schnelle Verteilung der Studieninformation sowie die vielen positiven Antworten von betroffenen Frauen. Sieben Teilnehmerinnen wurden auf diesem Weg erreicht. Als weitere wichtige Quelle erwiesen sich im Studienverlauf Hebammen, die an die von ihnen betreuten betroffenen Frauen die Studieninformationen weitergaben. In einem Fall war es so, dass eine Interviewpartnerin erwähnte, ihre Hebamme hätte viel Erfahrung mit der Betreuung solcher Schwangerschaften, woraufhin ich diese Hebamme kontaktierte. In anderen Fällen wusste ich aus kollegialem Austausch, dass die jeweilige Hebamme Betreuungen von Frauen nach positivem Befund durchführt. Andere Hebammen lernte ich bei Kongressen und Fortbildungen kennen und konnte so die Studieninformationen zur Weitergabe an betroffene Frauen verteilen. Sieben weitere Teilnehmerinnen wurden so über Hebammen kontaktiert. Eine der Teilnehmerinnen wurde von einer anderen Betroffenen auf die Studie aufmerksam gemacht und kontaktierte mich direkt. Als weitere wichtige Kontaktplattform zeigten sich Treffen und Tagungen, an denen neben Wissenschaftlerinnen auch Betroffene teilnahmen. Nach persönlichen Gesprächen und dem Austausch mit betroffenen Frauen dort meldeten sich interessierte Frauen nach diesen Treffen bei mir. Über diese Kontakte ergaben sich vier Interviews. Die Teilnehmerin, die bereits während der Schwangerschaft einmal interviewt wurde und dann nach der Geburt erneut, kannte mich aus einer vorangegangenen Schwangerschaft und kontaktierte mich selbst, weil sie sich aus meinem Forschungsprozess Informationen für ihre Entscheidung erhoffte. Das zwischen uns bereits vor der betroffenen Schwangerschaft bestandene Vertrauensverhältnis führte schließlich dazu, dass sie gern teilnehmen wollte (siehe dazu auch forschungsethische Dimensionen, Kapitel 8.5). Das problemzentrierte Interview Die Datenerhebung erfolgte mithilfe von problemzentrierten Interviews (PZI), halbstrukturierten Interviews, die als Gespräche auf »einer Ebene« stattfinden und in denen die Betroffenen Raum haben, ihr Verständnis der Situation darzustellen. Das problemzentrierte Interview zielt auf »eine möglichst unvoreingenommene Erfassung individueller Handlungen sowie subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Realität« (Witzel, 2000,
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Perspektive und Methode
S. 1). Die vier Teilelemente des PZI sind die Verwendung eines Kurzfragebogens, Interviewleitfaden, Interviewaufzeichnung und Postskriptum (Witzel, 2000). In der vorliegenden Studie wurden in einem Kurzfragebogen die demografischen Daten erfasst (siehe Kapitel 9) und beschrieben. Der verwendete Interviewleitfaden bzw. Fragebogen war bereits in meiner Masterarbeit erprobt, so dass ich ihn nur der besonderen Situation der Entscheidung zum Weiterführen anpassen musste. Ich verwendete den Fragebogen als Leitfaden. Ziel der Interviews war es, eine offene, entspannte Gesprächssituation zu schaffen und Raum zu eröffnen, so dass die jeweilige Teilnehmerin die Erfahrung aus ihrer Perspektive erzählen konnte. Analog der Empfehlungen zum PZI verwendete ich den Interviewleitfaden »als Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen zur Sicherung der Vergleichbarkeit der Interviews« (Witzel, 2000). Nach den ersten Interviews veränderte sich mein Interviewverhalten jedoch. Die Frauen erzählten frei, und um den Erzählfluss nicht zu unterbrechen, wurde ich immer zurückhaltender, die Interviews nahmen einen narrativen Charakter an. Als sich zeigte, dass die Situation vor der Diagnose, die Lebens- und Schwangerschaftssituation in der eingebettet die Diagnose stattfand, eine ausschlaggebende Rolle für das Erleben und die Entscheidung zu spielen schien, veränderte ich die Eingangsfrage in einen Gesprächsimpuls: »Erzählen Sie mal, wie war das denn damals, bevor Sie die Diagnose bekommen haben? Was war denn da so los?« In den meisten Gesprächen entfaltete sich aus dieser Eingangsfrage die gesamte »Geschichte« der Diagnose, vom Verdacht bis zur Mitteilung und Entscheidung. Nicht angesprochene Aspekte aus dem Leitfaden wurden gegen Ende oder in Gesprächspausen gezielt nachgefragt. Die Interviews wurden mit einem Aufnahmegerät (Olympus Digital Voice Recorder VN-2100PC) aufgezeichnet und dann anonymisiert transkribiert. Nach jedem Interview hielt ich meine direkten Eindrücke und Empfindungen fest und fertigte ein Postskriptum an. Witzel empfiehlt, bereits zu diesem Zeitpunkt erste Interpretationsideen festzuhalten und zu notieren, und auch »situative und nonverbale Aspekte« festzuhalten (Witzel, 2000). Zusätzlich hielt ich zu jedem Interview fest, wie die Interviewanbahnung stattgefunden hatte, verfasste kurze Notizen über den E-Mail- und Telefonkontakt mit den Interessentinnen. Der Zeitraum der Datensammlung erstreckte sich von September 2008 bis August 2009. Alle Interviews fanden auf Wunsch der Frauen an ihrem Wohnort und in ihrer Wohnung statt. In der Anbahnungsphase, bis es zum eigentlichen Interview kam, war es für viele der Frauen wichtig, meine genauen Beweggründe für die Untersuchung zu kennen und zu wissen, um wen es sich bei meiner Person handelte. Vertrauen in mich als Person zu haben, war für viele der Frauen eine wichtige Voraussetzung für die Entscheidung zur Teilnahme. So gingen bei
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einigen der Interviewpartnerinnen dem eigentlichen Interview ein reger E-MailAustausch und etliche Telefonate voraus. Nach anfänglich großer Skepsis bei manchen der Frauen war die Interviewsituation häufig sehr nah, ich wurde herzlich empfangen und vor dem Interview wurde meist noch Kaffee getrunken oder gemeinsam gegessen. So konnte sich in den meisten Fällen eine entspannte, vertraute Atmosphäre entwickeln, auch weil die Teilnehmerinnen erneut Gelegenheit hatten, Fragen zu meiner Person und zum Forschungsthema zu stellen. Vor Beginn des Interviews informierte ich die Teilnehmerinnen erneut über die Studie und die Gesprächsinhalte und wies sie noch einmal auf die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Möglichkeit ihre Einwilligung jederzeit widerrufen zu können, hin. Zusätzlich erläuterte ich die Datenschutzvereinbarungen und Aufnahmetechnik. Die Gesprächssituationen wurden von mir insgesamt als angenehm und vertrauensvoll erlebt, und viele der Frauen öffneten sich und teilten Aspekte der Erfahrung, die sie selbst als etwas eigentlich »tabuisiertes« erlebten, und von denen sie sagten, dass sie das niemandem erzählten. In vielen der Gespräche entstanden emotionale Momente und manche der Interviews waren für kurze Zeit unterbrochen, weil die Frauen weinten. Der vertrauensvolle, offene und zeitlich nicht limitierende Charakter der Gespräche gab Raum für solche »Auszeiten« und erlaubte auch mir, meine Betroffenheit nicht verbergen zu müssen. Die meisten der Frauen zeigten mir im Anschluss an das eigentliche Gespräch Erinnerungsgegenstände von ihrem verstorbenen Kind, Bilder und Erinnerungsbücher. Oft ergaben sich aus diesem Austausch über das Kind tiefgreifende Gespräche, die ich in den Postskripten notierte. Eigentlich waren die Interviews als Einzelinterviews mit den betroffenen Frauen geplant, doch zwei der Frauen bestanden auf der Teilnahme des Partners am Gespräch, da von ihnen die Erfahrung des Verlustes des gemeinsamen Kindes als paar- oder elternbezogen betrachtet wurde. Ich empfand die Anwesenheit dieser Männer nicht als störend, vielmehr nahm ich sie in einer »unterstützenden« Rolle wahr. Sie waren dabei, ließen ihre Frauen erzählen und ergänzten manche Aspekte durch ihre Sichtweise. Keiner der beiden Männer dominierte das Gespräch. Bei einem der Interviews hatte ich sogar den Eindruck, dass der Partner eine beschützende Rolle einnehmen wollte, um weitere Verletzungen seiner Frau zu verhindern. Bei manchen der Interviews kam es zu Unterbrechungen etwa durch Kinder, die ins Zimmer kamen, und bei einem der Interviews hatte die Teilnehmerin das Baby, um das es im Interview ging und dessen Prognose sich im Schwangerschaftsverlauf verändert hatte, während des Gesprächs auf dem Arm. Diese Frau hatte immer wieder Zweifel, wenn sie von ihren ambivalenten Gefühlen erzählte,
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Perspektive und Methode
schaute das Kind auf ihrem Arm an und relativierte diesem gegenüber ihre Aussagen. Die Dauer der Interviews lag zwischen 55 Minuten und 2 Stunden 30 Minuten. Im Forschungsverlauf wurde die Dauer der Interviews länger und die Gespräche intensiver und offener. Dies führe ich auf einen Entwicklungsprozess meinerseits, eine größere Offenheit und auch veränderte Interviewführung (beispielsweise längeres Aushalten-Können von Pausen) zurück. Beim Verabschieden ergaben sich noch längere, intensive Gespräche, die nicht aufgezeichnet waren, aber Eingang in die nachfolgend erstellten Memos fanden. Einige Frauen schickten nach dem Interview noch E-Mails, in denen sie für sie wichtige Punkte hervorhoben oder hinzufügten. Manchmal erfolgten auch zusätzliche Telefonate. Diese Informationen fügte ich jeweils mit ihrer Einwilligung den Interviewdaten bei. Die Transkription der Interviews führte ich persönlich durch. Die aufgezeichneten Interviews wurden Wort für Wort von mir transkribiert, insgesamt ergaben sich dabei 291 Seiten Datenmaterial. Da bei der vorliegenden Studie keine linguistische Fragestellung vorliegt, orientieren sich die angewandten Transkriptionsregeln an einer guten Lesbarkeit des Materials und einfacher Handhabbarkeit des Transkribierens. Die verwendeten Kodierregeln lehnen sich an Kallmeyer und Schütze (1976) an und sind unter Anhänge A aufgezeigt.
8.4
Die Auswertung der Daten
Im folgenden Abschnitt stelle ich den Analyseprozess, also das Kodieren und die Bildung von Kategorien und schließlich die Entwicklung der gegenstandsbezogenen Theorie, der Skizze des untersuchten Phänomens, dar. Mit der folgenden ausführlichen Darstellung möchte ich den Forschungsprozess verständlich, nachvollziehbar und transparent machen. Wie in Kapitel 8.2.2 dargestellt, begann ich angelehnt an die Auswertungsmethoden der Grounded Theory bereits nach dem ersten Interview mit dem Kodieren der Daten. Ich kodierte dabei zunächst Zeile für Zeile und ging dann, nachdem ich ein Gefühl für den Inhalt der Daten hatte, zum Verfahren des Kodierens »Incident to Incident« über. Nach diesem unspezifischen, offenen Kodieren kodierte ich fokussierend diejenigen Aspekte und Themenbereichen, die sich in den Daten für die Teilnehmerinnen als relevant gezeigt hatten. Zum offenen Kodieren kehrte ich jedoch immer wieder zurück, wenn Textstellen mir als besonders dicht erschienen und sich neue Aspekte zum Phänomen zeigten. Das Kodieren der ersten Interviews erfolgte zunächst von Hand. Nachdem
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sich für mich zeigte, dass die Fülle der Kodes und Kategorien ein nicht überschaubares Maß annehmen würden, verwendete ich das Analyseprogramm MAXQDA. Dieses Softwareprogramm zur Analyse qualitativer Daten ermöglichte mir ein einfaches, übersichtliches Ordnen der Kodes und ein schnelles Wiederfinden von zugeordneten Textstellen. Ich las die Interviews im Anschluss erneut, verglich sie miteinander und mit den bereits entwickelten Kodes und identifizierte für die Teilnehmerinnen wichtige Aspekte. Ich konzentrierte mich zunächst auf den Schwangerschaftsverlauf nach Diagnoseeröffnung. Dabei war ein besonderer Fokus auf die Veränderung von Schwangerschaftsritualen und die Identität in der Schwangerschaft gelegt. Ich stellte mir die Fragen: Was passiert mit schwangerschaftstypischem Verhalten wie etwa der Einnahme von Supplementen, mit Kursen und Schwangerenvorsorgeuntersuchung? Wie verhalten sich die Betroffenen gegenüber anderen Schwangeren? Eine sich in diesem Bereich entwickelnde Kategorie ist der »Wunsch nach Normalität und Rekonstruktion von Identität« und umfasst auch den Aspekt des immer wieder Konfrontiert-Werdens mit der Unnormalität der eigenen Schwangerschaft in verschiedenen Situationen, wie etwa dem Kontakt mit anderen Schwangeren, die teilweise zu Strategien des Vermeidens solcher Situationen führen. Die Schwangerschaftsrituale teilen sich demnach auch in Tätigkeiten auf, die nicht konfrontativ sind und das Gefühl von Normalität vermitteln (z. B. die Folsäureeinnahme), und solche Tätigkeiten, die stark mit der Unnormalität der Schwangerschaft konfrontieren und häufig gemieden werden (z. B. Geburtsvorbereitungskurs). Ich las parallel Literatur zu Ritualtheorie, beschädigter Identität und Bindungstheorie. Mehr und mehr wurde klar, dass die Entscheidung und die weitere Schwangerschaft kein konstantes Geschehen sind, sondern ein in ständiger Veränderung und Anpassung befindlicher Prozess, eine Entwicklung. Mit Blick auf diese Prozesshaftigkeit begann ich, Literatur über Biografieforschung und Verlaufskurven von Leidensprozessen zu lesen, vor allem auch über den Umgang mit chronischer Krankheit. Die Datenanalyse richtete sich an den Prinzipen von Rekonstruktion und Sequenzialität aus, wie Rosenthal (2005) es als erforderlich ansieht. Um diese Prozesshaftigkeit und die Entwicklung besser verstehen zu können, entschied ich mich dazu, eine genaue Fallanalyse des Datenmaterials derjenigen Teilnehmerin vorzunehmen, die ich bereits während der Schwangerschaft interviewt hatte und dann nach der Geburt des Kindes und seinem Tod. Ich hatte Kontakt zu ihr vom Zeitpunkt kurz nach der Diagnoseeröffnung in der 20. Schwangerschaftswoche. Die Zeitspanne, in der die Datensammlung stattfand, erlaubte einen Einblick in die Entwicklungsschritte während der Phasen der Schwangerschaft, der Geburt und nach dem Tod des Kindes. Das gesamte Datenmaterial, also zwei Interviews und Aufzeichnungen über verschiedene Tele-
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Perspektive und Methode
fongespräche mit der Teilnehmerin, wurde erneut kodiert und mit den bereits entwickelten Kodes verglichen. Mein Fokus hierbei war auf der Verlaufskurve des Entscheidungsprozesses und der nachfolgenden Schwangerschaft, auf die Geburt, Bestattung und den Abschied vom Kind gerichtet. Ich achtete auf Wendepunkte, den Einfluss von biografischen Erfahrungen, Ressourcen und Strategien zur Unterstützungsgewinnung. Entwicklung der Skizze Durch die Methode des konstanten Vergleichens von Kodes und Kategorien in einzelnen Interviews und zwischen den unterschiedlichen Teilnehmerinnen entwickelte ich ein erstes Prozessmodell, eine Skizze; und analog der GTM begann ich, dieses mit anderen Prozessmodellen, wie etwa der Leidensverlaufskurventheorie (Corbin und Strauss, 2010; Riemann und Schütze, 1991), und im weiteren Analyseprozess mit Copingstrategiemodellen, wie etwa dem Modell der Trauerphasen von Kübler-Ross (1971), Kast (1999) und der Theorie von Lazarus zu Stresscoping (1990) zu vergleichen. Literatur zum Umgang mit chronischer Krankheit, Diagnosesituationen bei anderen schweren Erkrankungen, Krankheit und Sterben von Kindern oder Partnerschaft und Krankheit wurden zur Anregung der Analysekompetenz herangezogen, Ergebnisse verglichen und Memos dazu verfasst. Um der zeitlichen Dimension und der Prozesshaftigkeit des Phänomens gerecht werden zu können, segmentierte ich das Erleben in einzelne Phasen, angefangen vom Weg zur Diagnose, der Diagnosemitteilungssituation, Entscheidungsphase, der Schwangerschaft danach, Geburt und die verbleibende Zeit, schließlich Tod und Abschied. Diese chronologische Unterteilung und Analyse machte es jedoch schwierig, einen Kern des Prozesses, also ein Thema, welches alle Segmente des Prozesses bestimmt, zu erkennen. Um also zunächst einen Überblick über diesen Prozess zu gewinnen, entwarf ich zu fünf einzelnen Teilnehmerinnen, die nach größtmöglicher Gegensätzlichkeit ausgewählt wurden, skizzenartige Kurzportraits (sog. Vignetten, siehe Anhang), in denen der gesamte Prozess mit den chronologischen Phasen zusammengefasst untersucht wurde (siehe Anhang). Diese Kurzportraits verstehe ich als Arbeitsschritt, um tiefer ins Material zu gelangen, und nicht als Methode. Als Inspiration dienten mir die Arbeiten von Baldus (2002) und Tiefel (2004), die ebenfalls mit Fallportraits arbeiten. In diesem Arbeitsschritt zeigte sich, dass das zentrale Phänomen, die Kernkategorie, die sich durch alle Phasen des Prozesses zieht, der »Umgang mit der Erschütterung im biografischen Prozess Mutterwerden« ist. Diese Kategorie umfasst die Aspekte Selbstkonzeption, Kindkonzeption, Zeitempfinden, Interaktionsgestaltung »Linked lives« (Partner, Familie, Umfeld, Gegenüber) und Interaktionsgestaltung Betreuungssystem. Im chronologischen Verlauf, der durch die Phasen beschrieben wird, kommt es durch
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die Herausforderungen in den jeweiligen Phasen zu Prozessen im biografischen Prozess Mutterwerden, die sich auf alle seine Aspekte auswirken und den Umgang beeinflussen. Von diesen Vignetten wechselte ich immer wieder zu den einzelnen Segmenten, die ich mit dem paradigmatischen Modell angelehnt an Strauss und Corbins Modellierungsrichtlinien (1996) analysierte (siehe Kapitel 8.2.2). Ich schrieb ausführliche Memos zu den Kategorien und verglich die Ergebnisse mit Interviewpassagen der anderen Teilnehmerinnen. Aus diesem Analyseschritt entwickelte ich die zentrale Kategorie: das Modell der Schwangerschaft als unterbrochene Transition.
8.5
Die forschungsethischen Dimensionen
Auch wenn es sich beim Studiendesign der vorliegenden Untersuchung nicht um ein experimentelles Design mit quantitativem Ansatz handelt, so stellen sich doch auch bei einer qualitativen Untersuchung zu Beginn und im weiteren Forschungsverlauf ethische Herausforderungen (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1998). Neben Fragen der Anonymisierung und der Persönlichkeitsrechte war mein zentrales Anliegen, die Teilnehmerinnen vor einer möglichen Traumatisierungen oder Retraumatisierung durch die Interviewgespräche zu schützen (vgl. Hopf, 2008; Bluff, 2006). Als ein weiterer Bereich von ethischen Überlegungen zeigten sich im Forschungsverlauf Fragen, die sich auf meine Beziehung zu den einzelnen Teilnehmerinnen bezogen, beispielsweise eine Reflektion über das Vertrauensverhältnis etc. (vgl. Mruck und Breuer, 2003; Islam, 2000). Das vorliegende Studiendesign ist in vielen Bereichen von diesen Überlegungen geprägt. Daher stelle ich im Folgenden die Implikationen dieser forschungsethischen Überlegungen für den Samplingprozess, die Darstellung der Ergebnisse und den Umgang mit den Daten sowie meinen persönlichen Umgang mit den Frauen dar. Das Design wurde von der Ethikkommission der Universität Osnabrück geprüft (20. 10. 2008). Forschungsethische Überlegungen zum Samplingprozess Forschungsethische Überlegungen hatten zunächst Auswirkungen auf die Planung, welche Frauen überhaupt für die vorliegende Studie befragt werden können. Frauen direkt nach der Diagnosemitteilung, also noch im Entscheidungsprozess zu befragen, schloss ich aus. Die Situation direkt im Anschluss an eine schwerwiegende Diagnose, wie es die Diagnose »Nichtlebensfähigkeit des Kindes« ist, stellt meiner Meinung nach eine akute Ausnahmesituation dar. In einer
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solchen Ausnahmesituation sollten immer die akuten Bedürfnisse der Frauen im Vordergrund stehen, so sind diese auch den Zielen einer Studie übergeordnet, denn die persönlichen Ressourcen der Frauen in einer solchen Situation, wie Zeit und Energie, sind limitiert. Ein Interview in einer solch belastenden Akutsituation zu führen, sehe ich als potenzielle Zusatzbelastung für die betroffenen Frauen, die vermieden werden kann. Doch ergab sich im Forschungsverlauf, dass eine Frau, die mich aus einer vorangegangenen Schwangerschaft kannte, kurze Zeit nach der Diagnosestellung von der laufenden Untersuchung erfuhr und mich kontaktierte, um Informationen über die Entscheidungsprozesse anderer Frauen und alternative Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch zu erfahren. Ein Interview mit dieser Teilnehmerin führte ich erst nachdem der Entscheidungsprozess abgeschlossen war. Ich vermittelte ihr den Kontakt zu verschiedenen Beratungsstellen und hatte vor ihrer endgültigen Entscheidung, die Schwangerschaft weiterzuführen, mehrmals Kontakt mit ihr. Die Notizen, die ich über unsere Gespräche vor der Entscheidung machte, wurden mit ihrer Einwilligung in die Datenauswertung aufgenommen. Diese Notizen dienten im weiteren Forschungsprozess dazu, Gedanken und Bedeutungszuschreibungen der Teilnehmerin während des akuten Entscheidungsprozess mit ihren retrospektiven Rekonstruktionen des Entscheidungsprozesses, aber auch mit denen der anderen Teilnehmerinnen zu vergleichen. Der Zugang zu den Teilnehmerinnen erfolgte unter der Zielsetzung, dass die Betroffenen die Teilnahmeentscheidung überlegt und unbeeinflusst treffen können. Um dies zu gewährleisten und den Frauen Zeit und Raum zu geben, über eine Teilnahme nachzudenken, nahm ich nur indirekt Kontakt zu den betroffenen Frauen auf. Vielmehr erhielten diese meine Studieninformationen von Kontaktpersonen wie beispielsweise anderen Betroffenen oder Hebammen oder auch über Internetforen und kontaktierten mich bei Interesse dann selbst. Meist erfolgte der erste Kontakt via E-Mail, sodass erste Fragen auch auf diesem Weg geklärt wurden, bevor ein telefonischer Kontakt zustande kam. Die besondere Situation der betroffenen Frauen, ihre Verletzlichkeit und ihr Bedürfnis nach Schutz zeigt sich auch darin, dass einige der von anderen betroffenen Frauen oder Hebammen informierten Betroffenen die Teilnahme ablehnten; manche gaben dafür an, aufgrund der Schmerzhaftigkeit der Erinnerung nicht über ihre Erfahrung sprechen zu wollen. Für andere der späteren Teilnehmerinnen war es wichtig, mich und meine Beweggründe einschätzen zu können, weshalb sie das Bedürfnis hatten, mehrere Vorabtelefonate mit mir zu führen.
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Forschungsethische Überlegungen zur Anonymisierung Forschungsethische Überlegungen zur Anonymisierung machten einen besonderen Umgang mit dem Datenmaterial notwendig. In der vorliegenden Studie wurden daher Datenschutzrichtlinien, die etwa die Aufbewahrung der Daten betreffen, eingehalten. Bereits beim Transkribieren wurden Namen und Ortsangaben sowie genaue Zeitangaben, die eine Identifizierung der Teilnehmerinnen erlauben würden, anonymisiert. Um die Anonymität zu gewährleisten, werden bestimmte Aspekte wie die genauen Berufsbezeichnungen oder auch die religiöse Orientierung nicht genannt, da ihre Offenlegung eine Rückführung auf einzelne Teilnehmerinnen erlauben könnte. Im Forschungsverlauf entschied ich mich weiterhin dazu, die spezifischen Diagnosen nicht zu nennen, da es sich bei manchen der Syndrome um sehr seltene Erkrankungen handelt, die Rückschlüsse auf die einzelne Teilnehmerin zulassen könnten (vgl. Flick, 2006, S. 252–254). Forschungsethische Überlegungen zum Umgang mit den Teilnehmerinnen Vor Beginn des Interviews erklärte ich den Frauen noch die Teilnahmebedingungen: die Freiwilligkeit der Teilnahme, die Möglichkeit, unangenehme Fragen nicht zu beantworten und die Möglichkeit, die Einwilligung jederzeit auch nach dem Interview zurückziehen zu können. Die Teilnehmerinnen erhielten eine schriftliche Studieninformation mit meinen Kontaktdaten und eine Kopie der Teilnahmeeinwilligung mit allen relevanten Informationen (siehe Anhänge A). Forschungsethische Überlegungen zum Umgang mit den Teilnehmerinnen führten dazu, dass ein Erhebungsinstrument nicht weiter verwendet wurde. In der Studie war zunächst geplant, zusätzlich zu den qualitativen Interviews noch einen Fragebogen zum Kohärenzgefühl auszuwerten. Im Forschungsverlauf verzichtete ich allerdings auf diese Erhebung, da die meisten der Frauen sehr skeptisch auf diesen Fragebogen reagierten und es einige der Teilnehmerinnen ablehnten, diesen auszufüllen. Mein Eindruck war, dass diese Ablehnung geschah, weil die Frauen Angst vor der Stigmatisierung ihrer Entscheidung hatten, davor, dass ihre Entscheidung als irrational26 bewertet werden könnte oder sie als psychisch labil eingeordnet werden würden. Eine der ablehnenden Teilnehmerinnen formulierte dies auch so.
26 In diesem Zusammenhang sehe ich auch die Betonung einiger der Frauen, dass die Entscheidung für das Weiterführen nicht religiös begründet war. Vgl. dazu Kapitel 10.
118 8.6
Perspektive und Methode
Gütekriterien zur Bewertung der Studie
Die Paradigmen von quantitativer und qualitativer Forschung unterscheiden sich, und so sind die Gütekriterien quantitativer Forschung, Objektivität, Reliabilität und Validität, nur bedingt auf die Beurteilung qualitativer Forschung übertragbar. Dabei zeigt sich, dass es eine Reihe unterschiedlicher Ansätze zur Bewertung qualitativer Forschung gibt, die von einer Anwendung der klassischen Bewertungskriterien bis zur völligen Zurückweisung von Orientierung an festgeschriebenen Gütekriterien reichen (Flick, 2006; Richardson, 1994). Für diese Studie wurden »methodenangemessene Gütekriterien« gewählt, die sich am spezifischen theoretischen Hintergrund und Forschungsansatz orientieren (Flick, 2006, S. 319). Da die vorliegende Arbeit einem konstruktivistischen Forschungsparadigma folgt, orientiere ich mich bei der Wahl der Gütekriterien an den von Charmaz (2000) für die Grounded Theory Methodologie entwickelten Kriterien und ergänze diese durch Steinkes (2000) Bewertungskriterien für qualitative Forschung. Aus einer Reihe von Gütekriterien sollten dabei diejenigen ausgewählt werden, die sich bei der Entwicklung von Kriterien für die jeweilige Forschungsarbeit als relevant zeigen. Im Folgenden werden die für die vorliegende Studie ausgewählten Gütekriterien und deren Implementierung in den Forschungsprozess dargestellt. Das Gütekriterium »Indikation des Forschungsprozesses« stellt ein Instrument zur Bewertung der gewählten Methodologie dar, der einzelnen Forschungsschritte wie etwa Sampling, Analyseverfahren und der Entscheidungen in der Theorieentwicklung (vgl. Steinke, 2000). Diese Schritte sollten nachvollziehbar dargestellt und begründet sein. Im Methodenteil der vorliegenden Studie sind deshalb die Entwicklung der Forschungsfrage und die einzelnen Forschungsschritte detailliert erklärt (vgl. Kapitel 7 und 8.4). Steinke (2000) fordert zudem eine empirische Verankerung der Ergebnisse zum einen durch die Verwendung kodifizierter Methoden und die Belegung von Hypothesen durch Textbelege. In der vorliegenden Studie soll deshalb die Verankerung der Ergebnisse in den Daten über Verweise und die Verwendung von Textbelegen aufgezeigt werden. Die aus den Daten entwickelten Hypothesen sollten am Datenmaterial »getestet« werden können, Theorien durch diesen Vergleich also verifiziert oder falsifiziert werden können (vgl. Steinke, 2000, S. 328). Dies kann durch einen iterativen Forschungsprozess, wie es die in dieser Studie verwendete Grounded Theory Methodologie darstellt, gewährleistet werden. Durch die Technik des ständigen Vergleichens von herausgearbeiteten Interpretationsmustern mit dem Datenmaterial kann auch dem von Steinke (2000)
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angeführten Gütekriterium der Kohärenz Rechnung getragen werden (vgl. Kapitel 8.2.2). Theorien sollten demnach nicht einmalig aus den Daten entwickelt sein, sondern sich konsistent darin wiederfinden lassen. Wichtige Aspekte sind dabei neben der Transparenz der Theoriegenerierung auch die Verwendung von Textbelegen und die kommunikative Validierung, also das Überprüfen der Stimmigkeit der entwickelten Theorie (vgl. Steinke, 2000, S. 328). Auch um eine »(kritische) Verständigung über eine empirische Studie zwischen Forschern beziehungsweise zwischen Forschern und Lesern« (Steinke, 1999, S. 207) zuzulassen, sieht Steinke es als notwendig an, den Forschungsprozess nachvollziehbar und transparent darzustellen. Als weiteres Gütekriterium nennt Steinke daher die »Intersubjektive Nachvollziehbarkeit« (ebd.). So sollten laut Steinke (1999) das Vorverständnis der Forscherin, die verwendeten Methoden bezogen auf Datenerhebung und Auswertung, der Forschungskontext, aber auch Probleme im Forschungsverlauf und die Selbstreflexivität der Forscherin ausreichend dargestellt werden. Steinke (2000) sieht die Verwendung kodifizierter Verfahren und – im Falle von Abweichungen von diesen Verfahren – die Beschreibung der selbst entwickelten Verfahren als notwendig für die Nachvollziehbarkeit von Studien an. In der vorliegenden Studie ist deshalb der Forschungsprozess ausführlich im Methodikkapitel dargestellt, um die Entwicklung des Phasenmodells transparent für die Leser bzw. Leserinnen zu machen. Tabellen zu entwickelten Kategorien sind im Anhang aufgezeigt. Ein weiterer Aspekt, den Steinke (2000) zur Erreichung der Nachvollziehbarkeit angibt, ist die Interpretation der Daten in Gruppen. Laut Steinke (2000) macht dies eine diskursive Validierung von Kodes und Kategorien möglich. Unter diskursiver Validierung wird in diesem Zusammenhang verstanden, dass die Analyse des Datenmaterials zumindest partiell in Interpretationsgruppen stattfindet, um so die Validierung von Kodes und Kategorien zu ermöglichen. Ein solcher gemeinsamer Kodierprozess kann zu einer Perspektivenerweiterung und zur Eröffnung neuer Lesarten des Materials beitragen. Um diese diskursive Validierung für die vorliegende Studie zu ermöglichen, nahm ich in den letzten beiden Jahren des Forschungsprozesses an der NetzWerkstatt Qualitas teil, einer online basierten, interdisziplinären Methodenbegleitung, in der sich Doktorandinnen in einer festen Gruppe regelmäßig über den Forschungsprozess austauschen. Der Forschungsverlauf wird dort erörtert, Ergebnisse und Datenmaterial werden gemeinsam mit anderen Forscherinnen kodiert und interpretiert, die sich entwickelnde Theorie und das Phasenmodell diskutiert und durch neue Denkimpulse weiterentwickelt (vgl. Ruppel und Mey, 2012). Zusätzlich nahm ich an interdisziplinären Forschungswerkstätten teil und diskutierte und reflektierte den Forschungsprozess beim Doktorandenkolleg der Universität Osnabrück. Als ein weiteres Gütekriterium sieht Charmaz (2006) die »Originality«
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(Originalität) der Ergebnisse, also das Offenlegen neuer Aspekte innerhalb eines Forschungsbereichs. So sollte eine Grounded Theory Methodologie (GTM) bestehende Konzepte und Praktiken infrage stellen, ausweiten oder verbessern (vgl. Charmaz, 2006, S. 182–183). Bedingung für dieses Offenlegen neuer Aspekte ist für Steinke die Offenheit der Forscherin: Die verwendeten Forschungsmethoden sollten eine »Irritation des Vorwissens« möglich machen und nicht Hypothesen bestätigen (Steinke, 1999, S. 210). Auch Rosenthal (2005) fordert, dass ein GTM-Forschungsprozess insbesondere durch dieses Prinzip der Offenheit gekennzeichnet sein sollte. Von Charmaz (2006) wird als ein zentrales Kriterium für die Bewertung der Qualität einer Grounded Theory Studie die Frage nach der »Credibility«, also der Glaubwürdigkeit einer Forschungsarbeit, genannt, wobei sie als zentrale Kriterien dieser »Credibility« die Vertrautheit der Forscherin mit dem Forschungsbereich, ihre Kenntnisse von Bedingungen und dem Kontext nennt. Darüber hinaus sollte das Datenmaterial sowohl in der Menge, vor allem aber in der Tiefe der Interviews ausreichend sein, um eine aussagekräftige, dem Forschungsgegenstand angemessene Theorie entwickeln zu können (vgl. Charmaz, 2006, S. 182–183). Darüber hinaus plädiert sie für eine Darstellung, die dem Leser eine eigene Beurteilung des Forschungsgegenstandes erlaubt (Charmaz, 2006). Steinke sieht als Voraussetzung dafür zum einen die Vertrautheit der Forscherin mit dem Forschungsfeld, aber auch das Verhältnis zwischen Forscherin und Teilnehmerin, das idealerweise ein »Arbeitsbündnis« sein sollte (vgl. Steinke, 2000, S. 327). In der vorliegenden Studie ermöglichte die langsame Anbahnung der Interviewsituation, die Vorgespräche und das Durchführen der Interviews bei den Frauen zu Hause das Entstehen einer vertraulichen Gesprächsatmosphäre, die einen tiefgehenden Austausch zuließ. Um eine solche Offenheit zu ermöglichen und ein »Arbeitsbündnis« zwischen Forscherin und Forschungsteilnehmerin entstehen zu lassen, ist neben der Offenheit für das Gegenüber auch die Reflektion des eigenen Standpunkts durch die Forscherin, die Reflektion des eigenen Vorwissens aber auch der eigenen Entwicklung im Forschungsprozess notwendig. Steinke (2000) definiert dies als das Gütekriterium der reflektierten Subjektivität, unter der sie zum einen die Selbstbeobachtung der Forscherin, aber auch die Reflexion der Beziehung zu den Teilnehmerinnen versteht. Ebenso sollte der Zugang zum Forschungsfeld laut Steinke (2000) reflektiert werden (vgl. Kapitel 8.3). Meine Haltung, die Frauen als Expertinnen zu sehen, die eine mir unbekannte existenzielle Erfahrung gemacht haben, an einem Ort gewesen waren, der für mich als NichtBetroffene ohne ihre Erklärungen nicht einsehbar und vorstellbar sein könnte, ließ zum einen ein Arbeitsbündnis entstehen und führte mich als Forscherin immer wieder dazu, meinen eigenen Standpunkt zu überdenken und offen zu bleiben. So notierte ich eigene Eindrücke und Gefühle nach den Interviews,
Methodik
121
führte ein Forschungstagebuch und verfasste Memos zu Problemen im Forschungsprozess. Sowohl Charmaz als auch Steinke sehen als weiteres Gütekriterium die Frage nach der Verwendbarkeit (»Usefullness«), dem praktischen Nutzen von Studienergebnissen (vgl. Charmaz, 2006; Steinke, 2000). Steinke sieht diesen Nutzen gegeben, wenn eine Studie neue Deutungen zu einem Forschungsbereich ausarbeitet und Anregungen für die Verbesserung eines Praxisproblems liefern kann (vgl. Steinke, 2000, S. 330). Die »Usefullness« einer Studie sieht Charmaz daher in der Beantwortung von Fragen nach der Verwendungsfähigkeit von Aspekten der Studie im Alltagsleben und auch von Fragen danach, inwieweit die Studie zum »making a better world« beiträgt (Charmaz, 2000, S. 183). Weitere Aspekte können laut Charmaz (2000) zudem Impulse zu weiterer Forschung auch in angrenzenden Bereichen sein. Um die Ergebnisse der vorliegenden Studie zu nutzen und sie für die Praxis verwendbar zu machen für die Praxis, werden für die einzelnen Phasen Zusammenfassungen der Good Practice erstellt und im Diskussionsteil Empfehlungen für die Praxis formuliert.
Teil III: Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
Im folgenden Teil der Arbeit werden die empirischen Ergebnisse dieser Studie vorgestellt. Zu Beginn erfolgt zunächst eine Beschreibung der Samplezusammensetzung. Um das Verständnis der Ergebnisse für den Leser und die Leserin zu vertiefen, wird eine Übersicht gegeben über die Hintergrundsituationen zu den Teilnehmerinnen, etwa bezogen auf Parität, Anamnese, Alter, partnerschaftliche Lebenssituation und den beruflichen Hintergrund der einzelnen Teilnehmerin. Daran schließt sich die Darstellung der mit der Grounded Theory Methodologie aus den Daten erarbeiteten Ergebnisse an. Wie in Kapitel 8.4 beschrieben wurde ein Phasenmodell entwickelt. Die Ergebnisdarstellung orientiert sich an diesem Phasenmodell. Zum Auftakt wird mit der Einführung in das Modell der »Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage« ein Überblick über das Gesamtmodell gegeben. Daran anschließend werden die einzelnen Phasen des Modells mit ihren Unterkategorien beschrieben. Am Ende jeder Phasenbeschreibung werden die Ergebnisse in einem Zwischenfazit zusammengeführt und eine verdichtete Darstellung von als positiv erlebten Betreuungssituationen aufgezeigt, die an dieser Stelle die Position von Best-Practice-Empfehlungen einnehmen.
9
Die Samplezusammensetzung
Nur wenige Frauen, die die pränatale Diagnose »Nichtlebensfähigkeit des Kindes« erhalten, setzen die betroffene Schwangerschaft fort. Deshalb erfolgte die Suche nach potenziellen Teilnehmerinnen im gesamten Bundesgebiet. Interessant daran ist, dass die Interviews deshalb nicht an einem Ort, sondern in ganz Deutschland sowohl in ländlichen als auch in städtischen Kontexten stattfanden. Die von den Teilnehmerinnen beschriebenen Rahmenbedingungen – bezogen etwa auf die Vorsorgesituation, in der sich die Frauen finden – ist so durch eine großen Heterogenität gekennzeichnet. Gleichzeitig ist der Umgang
124
Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
der Frauen mit diesen Bedingungen wiederum von ihren individuellen Bedeutungszuschreibungen, die sie diesen Rahmenbedingungen zuschreiben, geformt und gleichzeitig werden ihre Bedeutungszuschreibungen wiederum vom individuellen Kontext, also auch den Erfahrungen, die sie in ihrem jeweiligen Rahmen machen, geformt und beeinflusst. Aufgrund meines Wohnortes in Süddeutschland führte ich 14 Interviews im süddeutschen Raum (südlich Frankfurt), drei in Norddeutschland, zwei in Ostdeutschland und ein Interview in Westdeutschland. Insgesamt nahmen 20 Frauen an den Interviews teil, eine der Frau wurde zusätzlich bereits während der betroffenen Schwangerschaft befragt. Die Schwangerschaften lagen zwischen wenigen Wochen und acht Jahren zurück. Wie in anderen Untersuchungen in ähnlichen Bereichen übt ein Großteil der Teilnehmerinnen Berufe im sozialen, pädagogischen, psychologischen oder medizinischen Bereich aus, nämlich 16 Frauen (vgl. Rapp, 1999; Baldus, 2006). Weitere zwei Frauen sind im naturwissenschaftlich/technischem Bereich tätig, drei in wirtschaftsbezogenen Berufen. Zwei Teilnehmerinnen sind Arbeiterinnen. Es ist nicht klar, ob Frauen aus dem sozialen Bereich sich eher für die Geburt eines nicht lebensfähigen Kindes entscheiden oder ob bei dieser Gruppe einfach eine größere Bereitschaft besteht, an Studien teilzunehmen. Leider war es nicht möglich, betroffene Frauen mit Migrationshintergrund für die Teilnahme zu erreichen. Von den 20 Kindern starben sechs vor oder unter der Geburt, sechs Kinder verstarben während der ersten 36 Lebensstunden, fünf Kinder starben nach einer Woche bis zehn Monaten. Drei Kinder waren zum Zeitpunkt des Interviews am Leben: Bei einem dieser Kinder änderte sich die Diagnosestellung im Schwangerschaftsverlauf und die Fehlbildung konnte erfolgreich operiert werden, bei einem anderen der Kinder zeigte sich nach der Geburt, dass der Herzfehler operabel war. Zum Zeitpunkt des Interviews war das Kind zwei Jahre alt und schwer körperlich und geistig behindert. Ein weiteres Kind war zum Zeitpunkt des Interviews sechs Jahre alt, körperbehindert und besuchte eine integrative Schule. Im Folgenden werden wichtige Aspekte des Samples tabellarisch dargestellt. Die Berufsbezeichnungen wurden abstrahiert und Angaben zur religiösen Bindung nicht mit in diese Darstellung aufgenommen, da sie möglicherweise eine Rückverfolgung der einzelnen Teilnehmerin erlauben würden und die Anonymität der Teilnehmerin infrage stellen könnten. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Kreis der Befragten sich folgendermaßen zusammensetzt: einer der beiden großen Kirchen gehören 16 der Teilnehmerinnen an, zwei sind keiner Kirche zugehörig, zwei Frauen sind zum Islam konvertierte Musliminnen und eine Teilnehmerin ist Mitglied einer Freikirche.
Alter zum Zeitpunkt
29
29
42
42
26
26
26
37
41
40
Name (anonymisiert)
Anne
Cosima
Friederike
Mechthild
Johanna
Maria
Rabea
Heidrun
Karin
Hildegard
in Partnerschaft/ alleinlebend
Paar
Paar
Paar
Paar
medizinisch
Paar
sozial/psych./ alleinpädagogisch stehend
medizinisch
medizinisch
medizinisch
Arbeiterin
sozial/psych./ Paar pädagogisch
sozial/psych./ Paar pädagogisch sozial/psych./ Paar pädagogisch medizinisch/ naturwissen- Paar schaftlich
Beruflicher Kontext
22.
28.
23.
17.
24.
20.
16.
12.
15.
32.
Diagnose Zeitpunkt (Schwangerschaftswoche)
2. von 2
3. von 3
3. von 3 (Zwilling)
2. von 3
1. von 3
1.
2. von 2
2. von 2
1. von 3
1. von 2
Stellung des Kinds in der Familie
FG
FG
FG
FG
FG
lebt
vor Geburt verstorben nach 6 Wochen verstorben während Geburt verstorben vor Geburt verstorben lebt nach 14 Stunden verstorben nach 2 Wochen verstorben nach wenigen Stunden verstorben
10 Monate
Fehlgeburten (FG), TotgeLebensdauer burten in der des Kindes Anamnese
außerklinisch geplant/ Klinikgeburt
außerklinische Geburt
Klinikgeburt
außerklinische Geburt
außerklinische Geburt Klinikgeburt
außerklinische Geburt
Klinikgeburt
Klinikgeburt
Klinikgeburt
Geburtsort
Die Samplezusammensetzung
125
Alter zum Zeitpunkt
25
40
36
35
30
40
35
31
Name (anonymisiert)
Zoey
Saskia
Harriet
Inken
Lilly
Dorothee
Elke
Marlene
(Fortsetzung)
22. 18. 32.
Paar
naturwissenschaftlich
sozial/psych./ Paar pädagogisch
22.
sozial/psych./ Paar pädagogisch
wirtschaftlich Paar
16.
wirtschaftlich Paar
sozial/psych./ Paar pädagogisch 38.
11.
alleinstehend
Arbeiterin
21.
Paar
naturwissenschaftlich
Diagnose Zeitpunkt (Schwangerschaftswoche)
in Partnerschaft/ alleinlebend
Beruflicher Kontext
2. von 2
3. von 3
1. von 2
1.
2. von 2
3. von 3
2. von 4
2. von 4
Stellung des Kinds in der Familie
FG/ IVF
lebt
nach 5 Wochen verstorben während Geburt verstorben während Geburt verstorben während Geburt verstorben nach 66 Tagen verstorben nach 9 Stunden verstorben nach wenigen Minuten verstorben
Fehlgeburten (FG), TotgeLebensdauer burten in der des Kindes Anamnese
Klinikgeburt
außerklinische Geburt
Klinikgeburt
Klinikgeburt
Klinikgeburt
außerklinisch geplant/Klinikgeburt
Klinikgeburt
außerklinisch geplant/Klinikgeburt
Geburtsort
126 Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
32
39
Anita
Ursel 21.
sozial/psych./ Paar pädagogisch
Diagnose Zeitpunkt (Schwangerschaftswoche) 11.
in Partnerschaft/ alleinlebend
wirtschaftlich Paar
Beruflicher Kontext
Tabelle 1: Samplezusammensetzung
Alter zum Zeitpunkt
Name (anonymisiert)
(Fortsetzung)
3. von 3
3. von 3 (Zwilling)
Stellung des Kinds in der Familie
Totgeburt
FG/ IVF
Geburtsort
nach wenigen Stunden ver- Klinikgeburt storben nach 36 Stunaußerkliniden verstorsche Geburt ben
Fehlgeburten (FG), TotgeLebensdauer burten in der des Kindes Anamnese
Die Samplezusammensetzung
127
128
Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
Mit der Darstellung der Samplezusammensetzung und den aufgezeigten Hintergrundinformationen zu den Teilnehmerinnen soll das Verständnis der nun folgenden Darstellung der Ergebnisse unterstützt werden. Alle Informationen, die Rückschlüsse auf die Identität der einzelnen Teilnehmerinnen zulassen könnten, wie etwa die Spezifizierung der Fehlbildung, werden allerdings bewusst nicht genannt.
10
Einführung in die Ergebnisdarstellung – das Phasenmodell »Diagnose als Unterbrechung der Statuspassage Schwangerschaft«
Im folgenden Abschnitt werden die empirischen Ergebnisse der Studie vorgestellt. Als zentrale Kategorie zeigt sich, dass die Diagnosemitteilung als Einbruch und Unterbrechung des Transitionsprozesses Schwangerschaft/ Mutterwerden wirkt. In der Arbeit mit den Daten wurde als Perspektive dieser Studie herausgearbeitet, Schwangerschaft als Übergangsstatus zu betrachten, als biografischen Übergang wie van Gennep (1986), Turner (2005) und Davis-Floyd (1992) es beschreiben. Es zeigt sich als zentral, dass die Diagnosemitteilung als ein Einschnitt im Übergang Mutterwerden erlebt wird, der einen Einbruch und das Zusammenbrechen bestehender Konzepte und Vorstellungen zur eigenen Identität als werdende Mutter, aber auch zu Konzepten zum Kind zur Folge hat. Wird die Diagnosemitteilung als ein solcher Einbruch in einen biographischen Übergang betrachtet, so wird deutlich, dass es sich hier um ein prozesshaftes Geschehen handelt und der Fokus auf die Diagnosemitteilung alleine nicht ausreicht. Im Forschungsprozess wurde deshalb ein Phasenmodell entwickelt, das auch diese Prozesshaftigkeit erfassen kann. Die folgende Grafik (siehe Abbildung 1) ermöglicht einen Gesamtüberblick über den prozesshaften Verlauf des Modells und macht die Phasen und Wendepunkte des Modells sichtbar. Dieses Modell stellt die Phasen und verschiedene exemplarisch ausgewählte Prozessfäden dar. Die Phasen Diagnosemitteilung und Geburt stellen Übergänge innerhalb dieses Prozesses dar. Diagnose und Geburt sind dabei keine Phasen, sondern Ereignisse, die als Zäsuren im Verlauf erlebt werden, die ein vorher – nachher im Zeitverlauf definieren und Wendepunkte im Prozess darstellen. Die Entscheidung stellt keine Phase dar und kann nicht durchgehend als
Einführung in die Ergebnisdarstellung
129
Abbildung 1: Schwangerschaft als unterbrochene Transition
Wendepunkt definiert werden und lässt sich keiner spezifischen Phase zuordnen. Bei den Phasen dieses Prozesses handelt es sich um den »Weg zur Diagnose«, die »Diagnosemitteilung«, den »Neuausrichtungsprozess«, der auch die Entscheidung beinhaltet, und die »Gestaltung der verbleibenden Schwangerschaft«, danach die »Geburt« und nach der Geburt dann die »verbleibende Zeit mit dem Kind« sowie das »Sterben des Kindes«. Diagnosemitteilung. Im Phasenverlauf zeigen sich Prozessfäden, die sich durch den gesamten Verlauf, also durch alle Phasen des Prozesses, ziehen. Exemplarisch kann hier der Prozessfaden »Beziehungsgestaltung zum Kind« genannt werden. An dieser Stelle soll nur verdeutlicht werden, dass die Frauen ihre Umgangsstrategien im Phasenverlauf verändern. Die Prozessfäden, die sich so durch den Phasenverlauf ziehen und verändern, werden in den einzelnen Phasenbeschreibungen aufgegriffen und in Kapitel 11 zusammengeführt und diskutiert. Die folgende Darstellung der Phasen beginnt mit dem Weg zur Diagnose.
10.1
Weg zur Diagnose
In den Erzählungen der Frauen zeigt sich, dass für einige die Diagnosemitteilung nicht aus heiterem Himmel kommt, sondern ihr ein Zeitraum der Suche nach dieser Diagnose vorgelagert sein kann, der zwischen dem Auftreten erster verdächtiger Befunde oder Symptome und der eigentlichen Diagnosemitteilung liegt. Dieser Zeitraum kann unterschiedlich lange dauern und wird von den Frauen unterschiedlich erlebt. Im Phasenmodell der vorliegenden Studie wird er als »Weg zur Diagnose« benannt und ist definiert als Zeitraum zwischen dem ersten Verdacht und der eigentlichen Diagnosemitteilung, also der Benennung der Symptome.
130
Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
Der Weg bis zur Diagnose ist für viele der Frauen gekennzeichnet durch Ungewissheit und Warten, ein Gefühl der Steuerungsunfähigkeit des Geschehens und des Ausgeliefertseins an Automatismen. Bis zur endgültigen Diagnosemitteilung durchlaufen viele der Frauen verschiedene Untersuchungsinstanzen. Der Beginn des »Wegs zur Diagnose«, der Zeitpunkt des ersten Verdachts, kann früh oder spät im Schwangerschaftsverlauf liegen, er kann plötzlich in einer bis dahin normal verlaufenden Schwangerschaft auftreten oder sich in einer bereits von Anfang an mit Schwierigkeiten behafteten Schwangerschaft zeigen. Manchmal setzt er mit einer Vorahnung ein, einem inneren Gefühl, dass etwas nicht stimmen könnte, zum Teil schon vor dem ersten medizinischen Untersuchungsbefund. Andere Frauen werden mit einem ersten verdächtigen Untersuchungsergebnis bei ihrer Frauenärztin bzw. ihrem Frauenarzt konfrontiert. Wieder bei anderen ist erst in ihrer retrospektiven Beurteilung klar, wann dieser Zeitraum einsetzte: sie bringen im Rückblick Probleme in einem frühen Schwangerschaftsstadium mit dem Zustand ihres Kindes in Verbindung, deuten Auffälligkeiten und Abweichungen von einem normalen Schwangerschaftsverlauf als erste Anzeichen einer Abweichung von der Norm. Der erste Verdacht kann sehr spezifisch auf ein bestimmtes Syndrom oder Fehlbildungsbild hindeuten oder auch sehr unspezifisch und vage sein. Als wie belastend ein erster Verdacht oder eine Vorahnung erlebt wird, hängt dabei auch vom Informationsgrad und Ausmaß der ersten erkannten Symptome ab, wird aber immer als ein Zustand der Unsicherheit erlebt. Die Frauen haben das Bedürfnis, diese unsichere Situation zu beenden und sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, über weitere Untersuchungen zu entscheiden. In der Wartezeit auf diese Untersuchungen oder auf Untersuchungsergebnisse bewegen sich die Frauen zwischen der Hoffnung auf Bestätigung der infrage gestellten, verlorenen Normalität, dem Hoffen auf eine harmlose Behinderung und der Angst davor, der Verdacht könne bestätigt werden. In der folgenden Memoskizze (siehe Abbildung 2) wird die Komplexität und Verschränktheit der einzelnen Kategorien und Unterkategorien dieser Phase deutlich: Es zeigt sich in diesem grafischen Modell, das während der Analyse der Phase »Weg zur Diagnose« als Übersichtsskizze entstand, dass zum einen die Kontextbedingungen, in denen sich die Frauen finden, sehr unterschiedlich sind. Während die einen bei Verdachtsbefunden Entscheidungsräume eröffnet bekommen, finden die anderen sich in einem Automatismus von Folgeuntersuchungen wieder. Im Folgenden sollen die Unterkategorien dieser Phase dargestellt werden.
Einführung in die Ergebnisdarstellung
131
Abbildung 2: Der Weg zur Diagnose
10.1.1 Vor-Ahnung haben oder ahnungslos sein »Ich hab viele Träume gehabt.«
Einige der Frauen beschreiben Vorahnungen, die sie vor den ersten auffälligen medizinischen Befunden haben. Für die meisten der Frauen, die eine solche Vorahnung beschreiben, ist dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmen könnte, etwas, dass sich über einen längeren Zeitraum aufbaut und das nicht an das Erleben von körperlichen Beschwerden gebunden ist. Diese Vorahnungen unterscheiden sich von Vorzeichen, wie sie Patientinnen etwa mit chronischen Erkrankungen am eigenen Körper beschreiben: Dabei werden Vorahnungen häufig an körperlichen Ausfällen, Schmerzzuständen, wiederkehrenden Symptomen festgemacht27. Vielmehr geht es bei Vorahnungen, die die Frauen in Bezug auf ihre Kinder haben, um die Bewertung des eigenen Kontaktes zum Kind, um Ahnungen,
27 Vgl. dazu etwa Corbin und Strauss (2010), S. 38, die für die prädiagnostische Phase bei chronischen Krank-heiten aufführen, dass manche Betroffene Symptome haben, die sie versuchen zu deuten, oder dass ihr Umfeld sie auf Symptome aufmerksam macht und zur weiteren Abklärung drängt. Bei den in der vorliegenden Studie befragten Frauen sind es selten körperliche Symptome, das Kind ist in ihrem schwangeren Körper ein »unabhängiger« Organismus und sein Zustand führt nur zu indirekten Symptomen bei der Schwangeren wie etwa einem kleinen oder zu großen Bauch.
132
Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
Ängste und Träume, darüber hinaus aber auch um die Bewertung der Körperwahrnehmungen, die sich auf den eigenen Körper mitsamt dem Kind beziehen – auch die Bewegungen des Kindes werden über den eigenen Körper wahrgenommen. Diese Ahnungen dimensionalisieren sich in deutliche und vage, in plötzlich auftretende und sich langsam aufbauende Ahnungen, in innere Ahnungen und in Ahnungen, die mehr an körperlicher Wahrnehmung orientiert sind. Manche Frauen haben ein »inneres Gefühl«. Bei anderen kann sich die innere Ahnung in Träumen ausdrücken, wie bei Ursel: »…und ich hatte bis zur Diagnose eigentlich permanent Vorahnungen. Also ich hab viele Träume gehabt. Und zwar Träume, die gingen in Gewalt und in Todesrichtung. Ich hat immer irgendein Gefühl irgendwas passt net. Und dann hab ich im Endeffekt auf die Untersuchung gedrängt. Ich wollte, dass dieser große Ultraschall gemacht wird.« (Int. 20, 17)
Wie unterschiedlich Frauen mit dieser inneren Ahnung umgehen, wird deutlich an den Konsequenzen, die sie aus den Ahnungen ziehen. Ursel drängt beispielsweise auf weitere Untersuchungen und die Überweisung ins pränataldiagnostische Zentrum, setzt diese sogar gegen ihre Frauenärztin durch. Einflussfaktor ist dabei sicherlich auch das Ausmaß des Vertrauens in das eigene Beurteilungsvermögen, das auch aus der Erfahrung der bestätigten schlimmen Vorahnung in einer vorangegangenen Schwangerschaft herrührt, bei der das Kind am Geburtstermin vor der Geburt verstorben war. Andere Frauen, wie beispielsweise Johanna, nehmen das »ungute Gefühl« wahr, versuchen aber, dieses zu verdrängen. »Mein inneres Gefühl hat mir da ab der 14. Schwangerschaftswoche gesagt, da is was nicht in Ordnung. (…) Eben, ich hatte ein ungutes Gefühl, mit dem Kind stimmt was nicht. Mein Kind ist krank. Und des hab ich dann verdrängt und ämm, dann kam auch ne Untersuchung die ham dann nix gefunden. Dann bin ich heimgangen und hab gsagt, siehst, beruhig Dich!« (Int. 5, 15–17)
Es konkurrieren also nicht nur äußere und eigene Beurteilung, sondern auch positivere und negativere. Johanna stellt – zumindest vorläufig – die äußere, technische Beurteilung der Situation über die innere eigene Beurteilung. Manche der Frauen hingegen beschreiben, dass ihre Wahrnehmungen erst mit der Diagnose Sinn ergeben haben, sie erst mit diesem Wissen die Zeichen deuten konnten. Erst im Rückblick bekommen kleine Abweichungen von der Normalität die Bedeutungszuschreibung, erste Anzeichen der Behinderung des Kindes gewesen zu sein. Solche retrospektiv als Anzeichen oder Vorzeichen gedeutete Abweichungen sind beispielsweise ein spätes erstes Spüren der Kindsbewegungen, ein kleiner Bauch, Unwohlsein oder extreme Müdigkeit in der Frühschwangerschaft und andere wahrgenommene Abweichungen von der
Einführung in die Ergebnisdarstellung
133
Norm einer Schwangerschaft. Diese Norm ist selbstdefiniert, kann aber wesentlich als aus dem Kontext abgeleitet gesehen werden. Das sind beispielsweise medizinische Vorgaben zu Gewichtszunahme, Vorstellungen darüber, wann Kindsbewegungen zuerst gespürt werden etc. Während Abweichungen von dieser Norm bei normaler Schwangerschaft, also Schwangerschaft mit einem gesunden Kind, als individuelle Verschiedenheit gedeutet werden, bekommen sie mit dem Wissen um eine Schwangerschaft mit einem nicht gesunden Kind die Bedeutungszuschreibung eines Vorboten, eines Kennzeichens für den Zustand des Kindes. Für manche Frauen ist es auch ein vages Vorgefühl – so etwa bei Marlene: »(…) ich hatte aber von Anfang an von der Schwangerschaft ein ganz ungutes Gefühl (…). Das war aber nichts, was ich beschreiben könnte, das kann man nicht in Worte fassen, sondern so ein Bauchgefühl.« (Int. 18, 8) Dieses Gefühl ist also unbestimmt, sie kann es rational nicht erklären, es lässt sich nicht an körperlichen Symptomen festmachen. Rückblickend ergibt für sie jedoch Sinn, dass sich ihre Aufmerksamkeit im Schwangerschaftsverlauf verschiebt, Dinge, die bislang bedeutungslos waren, gewinnen bereits vor der Diagnosestellung für sie an Bedeutung: »(…) und hab immer ämm jeden Nachmittag so gegen 16 Uhr, wenn unser Nachbarsjunge kam, der (Name des Jungen) ist schwerst mehrfachbehindert, aus dem Fenster geschaut. Der (Name des Nachbarjungen) is aber schon, ja, seit Jahr und Tag wohnt er schon hier und wir auch und ich versteh auch nich, also so jetzt, rückblickend schon. So hat das ne Bedeutung gehabt. Er war für mich greifbarer geworden.« (Int. 18, 8–9) Behinderung wird für Marlene demnach bereits vor der Diagnosestellung zu einem Thema. Sie versteht diese Blickveränderung rückblickend, deutet sie als etwas, was Behinderung im Allgemeinen »greifbarer« oder auch begreifbarer für sie macht. Manche Frauen deuten auch erinnerte Gedanken, Sätze rückblickend als Vorahnung. Verstehen wird erst mit dem Wissen der Diagnose möglich, die Vorzeichen aber lassen sich schon deuten. So wie Anita, die sich an ihre erste Reaktion auf die Nachricht, dass sie mit Zwillingen schwanger ist, erinnert: »›Eins wird’s schon schaffen‹, hab ich mir da gedacht, gell. Ganz komisch. Denk ich manchmal, ob des schon a wenig Vorahnung war.« (Int. 19, 11) Mit ihrem Wissen jetzt, nach dem Tod des einen Zwillings, sieht Anita diese erste Reaktion fast als eine Art Vorahnung, eine innere Stimme. Es gibt aber auch Frauen, die die Schwangerschaft als normal, als unbelastet erleben. Retrospektiv erleben sie diese Wahrnehmung als Ahnungslosigkeit. Mit der Diagnose wird diese Wahrnehmung von Normalität jedoch erschüttert, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit wird infrage gestellt. So stellt etwa Anne ihre
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Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
eigene Wahrnehmung der Schwangerschaft, dass die Schwangerschaft normal sei, den Ängsten ihres Mannes gegenüber : »Mein Mann hatte immer schon ein schlechtes Gefühl, hat er gemeint, bei jeder Untersuchung. Und ich gar nicht, also und ich war die Letzte, so von wegen, (lacht) völlig Mutterinstinkt, ne.« (Int. 1, 24)
Sie ist »die Letzte«, erkennt das Offensichtliche nicht und stellt die Existenz des Mutterinstinkts infrage, wobei nicht klar wird, ob sie dieses Fehlen von Mutterinstinkt nur auf sich persönlich bezieht. Erst retrospektiv deutet Anne kleine Auffälligkeiten in der frühen Schwangerschaft als erste Anzeichen für die Chromosomenanomalie ihres Kindes: der erste Ultraschall, bei dem die Größe des Embryos nicht mit der errechneten Schwangerschaftswoche übereinstimmt, oder die späte Wahrnehmung erster Kindsbewegungen. Es geht also bei ihrer rückblickenden Bedeutungszuschreibung des Übersehens von Vorzeichen und auch des »sich beruhigen lassen trotz Alarmglocken« um ein »ich hätte es wissen können« und auch um ein »sich selbst in gewisser Weise die Verantwortung für den späten Zeitpunkt der Diagnose geben«. Das ist für manche der Frauen – wie etwa Anne – dahin gehend von Bedeutung, dass in ihrem Entscheidungsprozess der späte Zeitpunkt der Diagnose eine ausschlaggebende Rolle spielt. Wie auch andere Frauen sieht Anne die Erklärung für das Nichterkennen dieser Vorzeichen in ihrer mangelnden Erfahrungen begründet: Es ist ihre erste Schwangerschaft, sie hat demnach keinen Vergleich. Der retrospektive Umgang und die Interpretation von Vorzeichen und Vorahnungen können als Beginn der Konstruktion einer eigenen Geschichte und Sinnfindung gesehen werden. Eine Allianz des Wegschauens – »Irgendwas in ihr hat es gesehen.« Es gibt Frauen, die im Rückblick auf die Zeit vor der Diagnosemitteilung erkennen, dass ihnen schon sehr lange klar war, dass etwas nicht stimmt, und diese Frauen deuten das Nichterkennen retrospektiv als bewusstes Verdrängen. Manchmal ist es sogar so, dass von den Akteuren des Betreuungssystems auffällige Merkmale erkannt und kommuniziert werden. Diese Auffälligkeiten und retrospektiv klaren Kennzeichen für die Fehlbildung werden jedoch von keinem der Beteiligten – weder der Frau, noch der Ärztin bzw. dem Arzt oder der Hebamme – mit einer möglichen Fehlbildung in Verbindung gebracht. So sieht etwa Harriet das Übersehen oder Nichterkennen der schweren Schädelfehlbildung bei mehreren Ultraschalluntersuchungen nicht als fachliches Versagen der Frauenärztin, sondern interpretiert es als eine Art »Allianz der Wegschauenden« zwischen sich, der Frauenärztin und der Hebamme. Immer wieder im Schwangerschaftsverlauf ist der Schädel im Ultraschall nicht ausmessbar, die Hebamme kann ihn nicht tasten, niemand zieht Schlussfolgerungen. Harriet:
Einführung in die Ergebnisdarstellung
135
»Ich hab jetzt nicht vor, den Ultraschall zu machen, um irgendwelche Abbruchkriterien zu ermitteln, sondern mich interessiert jetzt nur, ob alles soweit mit dem Kind in Ordnung ist oder ob es irgendwelche Kriterien gibt, die gegen eine Hausgeburt sprechen. Und sie (Anm.: die Frauenärztin) fand das irgendwie gut und sagte, es wär selten, dass Frauen des so klar wüssten, was sie wollten. Und dann hat sie des Kind so gekuckt und gesagt, des ist in Ordnung und des ist in Ordnung und dann machte sie so ne ganz lange Pause und sagte ›Ja, den Kopf kann ich nich finden.‹ (…) Und als diese lange Pause war, dacht ich so, hmm, was hat sie gesehen, und hinterher, als ich ihr dann gegenüber saß, dacht ich ja, wenn ich nicht wissen will, ob was nicht in Ordnung ist, dann kann ich ihr jetzt auch nicht die Frage stellen, ist alles in Ordnung. Weil mich also einfach dieses lange Zögern zum Stutzen gebracht hat und dann hab ich halt nichts gefragt und sie hat also in den Mutterpass eingetragen, Kopf nicht auffindbar.« (Int. 13, 15–18)
Harriet lässt eine Ultraschalluntersuchung in der Mitte der Schwangerschaft durchführen und äußert im Vorfeld klar das Ziel für die Untersuchung, sie will keine »Abbruchkriterien ermitteln«. Während der Untersuchung hat Harriet das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, interpretiert das Zögern, die lange Pause während der Untersuchung als ein Wissen auf Seiten der Frauenärztin, dass diese ihr jedoch nicht mitteilt, weil sie sich im Vorfeld so klar positioniert hat, fragt nicht nach, ob alles in Ordnung ist, weil sie ja auch nicht wissen will, ob etwas nicht in Ordnung ist. Sie belässt es bei ihrer Ahnung. Im Rückblick deutet sie dieses Nicht-Sehen des Offensichtlichen als »Und ich hatt so des Gefühl, sie hat es / irgendwas in ihr hat es gesehen.« (Int. 13, 14). Es ist also kein bewusstes Schweigen der Ärztin, sondern »irgendetwas in ihr«, das die eigentlich offensichtliche Fehlbildung sieht und nicht weitergibt. Auch ihr eigenes Körpererleben nimmt Harriet als anders wahr, das Fühlen des Kindes im eigenen Körper, der Vergleich mit dem Erleben ihrer vorangegangenen Schwangerschaften, doch Harriet sagt nichts, teilt ihren Verdacht nicht mit: Das merkt man ja und das ist mir schon aufgefallen, dass ich den Kopf nie gefühlt hab und ich hab halt nichts gesagt und richtig rausgekommen ist des halt in der 38. Woche, weil der (Name des Kindes) sich nicht mit dem Kopf ins Becken einstellen konnte.« (Int. 13, 14)
So wie in dieser Aussage verwendet Harriet mehrfach die Wortwahl »rauskommen«. So erinnert sie sich an ihre ersten Gedanken, als sie zur Geburtsbesprechung in die Klinik überwiesen wird: »jetzt kommts raus.«
136
Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
10.1.2 Zugangswege zur Diagnose Die meisten auffälligen Befunde, die zu weiteren Untersuchungen führen, werden beim Routineultraschall im Rahmen der Schwangerenvorsorge erhoben, dann werden die Frauen überwiesen an pränataldiagnostische Zentren oder Praxen, dort der Verdacht erhärtet und letztendlich eine genaue Diagnose erhoben. Andere Frauen stolpern über einen »Lifestyle«-Ultraschall in die Diagnose, lassen sich beispielsweise in pränataldiagnostischen Zentren einen sogenannten »großen« Ultraschall machen, um ihr Kind zu sehen oder das Geschlecht zu erfahren, oder weil ein solcher Ultraschall einfach dazugehört zu einer Schwangerschaft. Die Bedeutung des Ultraschalls von einem positiven Fenster zum Kind kehrt sich im Laufe vom Diagnoselimbus und im Verlauf der weiteren Schwangerschaft bei manchen der Frauen um. Erster Verdacht – »Dann ging halt so das Rad los.« Viele Frauen erleben die Überweisung an den Spezialisten als ersten Schnitt im bis dahin als normal erlebten Schwangerschaftsverlauf. Maria erwartet ihr erstes Kind, sie und ihr Mann freuen sich sehr, sie spürt seit Kurzem die Bewegungen des Kindes. Bei einer regulären Vorsorgeuntersuchung beim Frauenarzt lässt sich der Oberschenkel des Kindes jedoch nicht ausmessen: »Und in der 24. Schwangerschaftswoche hat sie dann plötzlich gsagt, sie kann den Oberschenkelknochen nicht darstellen, und dann ging halt so des Rad los. Dann sind wir notfallmäßig in die Uniklinik gekommen und dann hat alles angefangen.« (Int 6, 10)
Mit dem Ausdruck »und dann ging halt so des Rad los« macht Maria deutlich, dass mit diesem ersten Verdacht etwas in Gang kommt, sich etwas verselbstständigt im Ablauf ab diesem Zeitpunkt: das Rad geht los, die Lawine kommt ins Rollen und kann nicht mehr aufgehalten werden. Maria fühlt sich ohne Kontrollund Steuerungsmöglichkeit; in der Situation des »Notfalls«, scheint es für sie keine Entscheidungen zu treffen zu geben. Die Notfallüberweisung unterstreicht vielmehr die Dringlichkeit und Unvermeidbarkeit weiterer Untersuchungen. An ihrer Aussage wird deutlich, dass sich viele der Frauen nach dem Auftreten eines ersten verdächtigen Befundes – wie hier bei Maria geschieht dies auch bei den anderen Frauen meist beim Routineultraschall, der von der Schwangeren nicht als Pränataldiagnoseinstrument begriffen wird – in einer Spirale von Untersuchungsmethoden finden, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Strudel – »Dann macht man die Dinge einfach.« So ergeht es Mechthild, die sich in ihrer ersten Schwangerschaft bewusst trotz Altersindikation, sie ist über 35 Jahre alt, gegen Pränataldiagnostik entschieden
Einführung in die Ergebnisdarstellung
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hatte, und jetzt, in ihrer zweiten Schwangerschaft, der Ärztin ihre Entscheidung mitgeteilt hat, keine Pränataldiagnostik zu wünschen. Trotzdem wird sie in der 12. Schwangerschaftswoche mit dem Ultraschallbefund einer erhöhten Nackendichte konfrontiert: »Dadurch sind wir dann ziemlich schnell in den Strudel reingekommen. (…) Wenn dann aufgrund von so ner Ultraschalluntersuchung kommt, die Nackendichte ist extrem und da stimmt was nicht, ich werd auch die Worte nie vergessen. ›Ihr Kind hat ein Problem‹. Dann lässt des einen nicht mehr kalt. Also wir konnten des nicht mehr, wir wollten des einfach wissen, was los ist. Und dann geht des einfach los. Dann macht man die Dinge einfach (…)«. (Int. 4, 11)
Mechthild erlebt die Verdachtsmitteilung als »Strudel«, es gibt kein Entkommen. Steht erst einmal ein Verdacht im Raum – in Mechthilds Fall »Ihr Kind hat ein Problem.« – kann die Unsicherheit des Nichtwissens nicht länger ertragen werden. Es ist ja auch nicht länger ein Nichtwissen, sondern vielmehr ein Wissen, dass etwas, das noch unbekannt ist, mit dem Kind nicht stimmt – was dann wiederum dazu führt, dass »man dann die Dinge einfach macht«. Gleichzeitig zeigt sich an Mechthilds Geschichte, dass nicht wirklich klar zu sein scheint, welche Untersuchungen unter die Definition »Pränataldiagnostik« fallen. Sind es nur die invasiven Untersuchungen wie die Fruchtwasseruntersuchung, oder bereits der Blick auf die Nackendichte, die hier von der Ärztin nicht übersehen werden kann? Aus ärztlicher Perspektive ist es verständlich, dass ein Befund, der im Ultraschall gesehen wird, auch mitgeteilt wird, und dieses Dilemma zwischen ärztlichem Wissen und Wunsch nach Nichtwissen wird gerade in Mechthilds Erzählung deutlich. Später im Interview reflektiert Mechthild kritisch über ihre eigene ambivalente, unklare Haltung gegenüber den Untersuchungsmethoden und die ärztliche Aufklärung: »Ich glaube, sie (Anm.: die Frauenärztin) hat des gesagt. Ich denke, des ist auch ein Stück weit unser Problem, dass wir / des kam so im Nebensatz. Aber irgendwie / man will es dann auch vielleicht nicht wahrhaben. Ich muss auch gestehen, als Eltern will man natürlich auch irgendwie die Sicherheit haben, dass des auch gesund ist und es hat allmählich / des mit dem Ultraschall angezweifelt hab. Also ich denk, man muss schon / wenn man es wirklich nicht haben will, dürfte man eigentlich in der ersten Zeit der Schwangerschaft kein Ultraschall machen und ich denk so explizit wurd des nicht aufgeklärt. Ich denk, des kommt dann so im Nebensatz von den Ärzten, anstatt dass se sagen, hören sie zu, da kann man des und des vielleicht schon sehen und dann überlegen sie sich, ob sie des wissen wollen oder nicht. Ich denk so klar kommt des nicht.« (Int. 4, 19)
Hier wird deutlich, wie es zum folgenreichen Zusammenspiel von unklarer medizinischer Aufklärung einerseits und uneindeutiger Ambivalenz gegenüber Pränataldiagnostik andererseits kommt. Für Mechthild ist retrospektiv ein
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Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
Ausweg aus diesem Dilemma nur möglich, wenn klar über die Möglichkeit, ganz auf Ultraschalluntersuchungen in der frühen Schwangerschaft zu verzichten, aufgeklärt wird. 10.1.3 Betreuungserleben im Zeitraum »Weg zur Diagnose« Die meisten Frauen in der vorliegenden Untersuchung werden nach einem ersten Verdacht von der vertrauten Frauenarztpraxis in Spezialpraxen oder pränataldiagnostische Zentren, die an Kliniken angegliedert sind, weiterüberwiesen. Das führt dazu, dass diese Folgeuntersuchungen in einem relativ anonymen Umfeld stattfinden, die Untersucher den Frauen im Vorfeld meist nicht bekannt sind. Bei manchen Frauen sind es auch verschiedene Instanzen, die sie auf ihrem Weg zur Diagnose durchlaufen: der Assistenzarzt bzw. -ärztin, Oberarzt bzw. Oberärztin, Humangenetikerin etc. Nach der Untersuchung beginnt dann für viele der Frauen ein Zeitraum des Wartens auf das Diagnoseergebnis. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen auf, dass sich in diesem Wartezeitraum die Frauen in einem betreuungsfreien Raum befinden und nur wenige irgendeine Form der Unterstützung wie etwa Adresslisten von Beratungsstellen oder ähnliches erhalten. Eröffnung von Entscheidungsräumen versus Fremdbestimmung – »Da war überhaupt keine Diskussion, ob wir des wollen.« An den oben aufgeführten Kategorien »dann ging halt so das Rad los« und »dann macht man die Dinge einfach« zeigt sich, dass eine wichtige Unterkategorie der Phase »Weg zur Diagnose« das Erleben von Kontrollverlust im Zeitraum der Suche nach der Diagnose ist. Neben Einflussfaktoren wie dem Ausmaß der erlebten Information zeigt sich in den vorliegenden Daten, dass für das Gefühl der Kontrolle die Wahrnehmung von Entscheidungsspielräumen wichtig ist. Hier spielt das Erleben der Interaktion im Betreuungssystem eine wichtige Rolle, ob sich die Frauen als gleichwertiges Gegenüber wahrgenommen fühlen oder ob die Interaktion als manipulierend und bevormundend wahrgenommen wird. Manche der Frauen lassen am selben Tag, an dem sie den verdächtigen Ultraschallbefund erhalten, die Fruchtwasseruntersuchung zur Abklärung durchführen. Für einen Teil dieser Frauen ist das unproblematisch, andere fühlen sich jedoch überrumpelt und gedrängt, stellen ihre Entscheidung rückblickend infrage. Den Erfahrungen von Kontrollverlust, Automatismus und Fremdbestimmung stehen Erfahrungen von gegebenen Entscheidungsräumen gegenüber. So erlebt Dorothee, dass sie nach einer Beratung über die Implikationen des Verdachtsbefundes ein Wochenende Zeit hat, um über eine Fruchtwasseruntersuchung zu entscheiden:
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»Dann hat sie (Anm.: die Frauenärztin) gesagt, es war Freitag, sie würde uns anraten, ne Fruchtwasseruntersuchung zu machen, weil des halt einfach ein Indikator für (Name verschiedener Chromosomenanomalien) ist. (…) Es müsste aber trotzdem kein pathologischer Befund sein, weil es kommt auch bei 1 oder 2 % der Schwangerschaften vor, ohne dass es jetzt (…) mit einem auffälligen Befund einhergeht. (…) Na ja, dann ham wir uns übers Wochenende überlegt, was wir machen. Und da ich halt gedacht habe, ich halt das jetzt nicht noch 20 Wochen aus in dieser Unsicherheit (…), haben wir uns dann entschlossen, ne Fruchtwasseruntersuchung zu machen.« (Int. 16, 7)
Dorothee überlegt in Ruhe, wägt für sich ab und letztendlich ist es die Aussicht auf 20 Wochen in Unsicherheit, die sie zu ihrer Entscheidung für eine Amniozentese bringt. Sie wird von der Pränataldiagnostikerin nicht zu weiteren Untersuchungen gedrängt – die Ärztin weist sie darauf hin, dass auch alles normal sein könnte – es besteht keine Eile und sie hat Zeit für ihre Entscheidung. Entscheidungsräume geben bedeutet also, dass Zeiträume eröffnet werden, um den Frauen und ihren Partnern die Möglichkeit zu geben, sich zurückzuziehen, Informationen zunächst zu verarbeiten und dann in Ruhe abzuwägen und zu entscheiden, welche Untersuchungen für sie selbst in ihrer individuellen Situation notwendig und sinnvoll sein können. Es geht hier also darum, dass Raum eröffnet wird für Verarbeitung, Verstehen und Entscheidung. Ein Teil der Frauen erlebt die Folgeuntersuchungen als Automatismus, mit dem Verdacht ist ihnen jede Entscheidungsmöglichkeit genommen, sie sind zum »Untersuchungsobjekt« geworden. Maria: »Es kam nie an, als ob es ein Vorschlag ist, so die einzelnen Diagnostiken. Sondern es war immer so, jetzt mach mer des, morgen mach mer die Fruchtwasserpunktion. Dann kam des Ergebnis, dann mach mer gleich die Fötuskopie. Da war überhaupt keine Diskussion, ob wir des wollen. Sie ham mehr über einen bestimmt, was sie jetzt machen wollen und dabei garnet gfragt wie es uns dabei geht oder was wir davon halten. Des fand ich sehr erschreckend.« (Int. 6, 45–47)
Maria fühlt sich bevormundet, fremdbestimmt, nicht als Person und in keiner Weise als Mutter des Kindes im Diagnoseprozess wahrgenommen. Untersuchungen werden »verordnet« und nicht abgesprochen, sie wird zum Untersuchungsobjekt. Im weiteren Schwangerschaftsverlauf führt dieses Gefühl der Fremdbestimmtheit und empfundenen Unmöglichkeit zur Kommunikation für Maria und ihren Mann zum absoluten Vertrauensverlust in die gynäkologische Schwangerschaftsbetreuung und sie zieht sich in eine reine Hebammenbegleitung zurück. Erste Zeichen von Widerstandspotenzial – »Ich muss jetzt erst mal zu mir kommen.« Es gibt Frauen, die sich dem Druck, eine zeitnahe Untersuchung zum Abklären des Verdachtbefundes durchzuführen, entziehen. Gerade der Zeitdruck, schnell über Folgeuntersuchungen entscheiden zu müssen, wird – wie auch später der
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Zeitdruck schnell über einen möglichen Abbruch entscheiden zu müssen – von den Frauen als belastend erlebt. Ursel erinnert sich an ihre Frage an die Pränataldiagnostikerin: »Es ist doch keine Eile? Oder is da irgendwie ne Eile? Und sie (Anm.: Pränataldiagnostikerin), ja, des müsst mer möglichst glei machen, um des abzuklären. Also ich hab mich da getrieben gfühlt.« (Int. 20, 27–29)
Der Raum, den Ursel sich durch ihre Frage versucht zu schaffen, wird von der Pränataldiagnostikerin nicht eröffnet, aber Ursel nimmt sich diesen Raum, widersetzt sich dem Zeitdruck. Ursel: »Dann hab ich gsagt, ne, ich mach jetzt keine Fruchtwasseruntersuchung. Ich muss jetzt erstmal zu mir kommen.« (Int. 20, 27–29)
Das eigene Zuhause ist der Ort, an dem sie zu sich kommen kann, die Situation für sich sortieren kann. Dorthin zieht sich Ursel zurück. Informationen teilen versus Informationen zurückhalten – »Er hatte mir auch diese ganzen Symptome geschildert.« – »hat jetzt sich da so rausgeredet« Das Erleben der Wartezeit ist aber nicht nur von deren Dauer gekennzeichnet, sondern auch vom Ausmaß und der Art des Verdachts, und wie dieser vom Arzt bzw. der Ärztin kommuniziert wird. Es gibt beispielsweise große Unterschiede, welche Informationen Frauen zum Überweisungsgrund erhalten, wenn sie zur Abklärung von ihrer Frauenärztin bzw. Frauenarzt in ein pränataldiagnostisches Zentrum überwiesen werden. Der Informationsgrad lässt sich dimensionalisieren von einem offenen Umgang und Teilen von allen Verdachtsmomenten über die Umschreibung, dass ein verdächtiger Befund vorliegt, der abgeklärt werden muss, bis zur Angabe von nicht-medizinischen, technischen Überweisungsgründen und dem Versuch, die Frauen zu beruhigen. Andere Frauen wissen bereits nach dem Ultraschall, der zur Empfehlung Amniozentese führt, dass ihr Kind so schwerwiegende Fehlbildungen hat, dass es vermutlich eine sehr eingeschränkte Lebenszeit haben wird, wie Cosima: »Da war scho klar, dass des Kind eben a große Schädigung scho hat.« (Int. 2, 12)
Das Warten auf das Ergebnis ist ein Warten auf einen Namen für die Fehlbildungen, der alles greifbarer macht, oder ein Warten auf die endgültige Bestätigung eines Namens, der bereits im Raum steht. Lilly : »Also ich konnte auch, er hatte mir auch diese ganzen Symptome geschildert, was er bei ihr gefunden hatte. Und ich hatte nachgelesen und ich wusste (…..) so, das wars (….) meine Tochter hat (Name der Chromosomenanomalie). So is es nun mal.« (Int. 15, 14–16)
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Wie Lilly sind die Betroffenen mit einem konkreten Verdacht konfrontiert, können sich in der Wartezeit auf das endgültige Untersuchungsergebnis bereits über das jeweilige Krankheitsbild informieren und damit auseinandersetzen. Gerade in Bezug auf das Erleben der Überweisung gibt es einen Unterschied zwischen »als geteilt« wahrgenommener Ungewissheit, also dem Verständnis, dass auch die überweisende Ärztin nicht weiß, was los ist, der gemeinsamen Suche nach einer Diagnose und der Erkenntnis, dass der eigene Arzt bzw. Ärztin Informationen zurückgehalten oder verharmlost hat. Das Gefühl, nicht informiert (worden) zu sein – häufig wird dies erst im Rückblick klar – hat einen direkten Einfluss auf das weitere Betreuungsverhältnis, das Ausmaß an Vertrauen in die individuelle Ärztin, den Arzt. Es geht dabei also um das Gefühl von Kontrolle, Bevormundung oder Ernstgenommenwerden im Betreuungsverhältnis. So gibt es Frauen, die den Überweisungsgrund zunächst als technisches Problem vermittelt bekommen, als Messschwierigkeit, die durch ein besseres Gerät, das eben diese Messschwierigkeit nicht hat, behoben werden kann. Diese Frauen erleben die Wartezeit bis zum Folgetermin unbelastet. Das kommunizierte Problem liegt für die Frauen nicht in auffälligen Befunden am Kind, sondern in nicht ausreichenden Geräten begründet wie Rabea, die sich an das Gespräch mit ihrer Ärztin erinnert: »Ihr (Anm.: der Frauenärztin) wärs sehr recht, wenn ich da morgen glei hingeh und hat mir gar net groß gsagt, was denn los isch, nur dass sie den Kopf net ausmessen kann.« (Int. 7, 14)
Es besteht ein Informationsgefälle zwischen der überwiesenen »Patientin« und dem Akteur, an den diese überwiesen wird. So ist es verständlich, dass Inken rückblickend die Erklärung ihrer Frauenärztin zum nicht darstellbaren Schädel, der sich beim Spezialisten als schwere Schädelfehlbildung herausstellt, als »rausreden« versteht: »Und sie (Anm.: die Frauenärztin) hat das ganze aber gar nicht dramatisiert und hat gesagt, das könnte sein aufgrund der Lage des Kindes und hin und her und hat jetzt also sich da so rausgeredet, dass ich jetzt da kein schlechtes Gefühl bei hatte.« (Int. 14, 12)
Viele der Frauen interpretieren eine solche Kommunikation vonseiten ihres Arztes bzw. ihrer Ärztin – wie Inken – als Versuch der Schonung, aber auch als Vermeiden des Überbringens schlechter Nachrichten. Die Pflicht der Diagnosemitteilung wird an den Spezialisten bzw. die Spezialistin weitergegeben. Eine solche beschwichtigende, beschönigende und verharmlosende Kommunikation des Überweisungsgrundes mag auf den ersten Blick den Vorteil einer verminderten Beunruhigung im Vorfeld der klärenden Untersuchung beinhalten. In Konsequenz führt sie aber dazu, dass die Frauen ahnungslos und
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mit der Erwartung – wie Inken sich erinnert – »(…) dass sich jetzt bestätigt, dass alles in Ordnung ist (…)« (Int. 14, 14) in die Untersuchung gehen. Neben dem Gefühl des Vertrauensbruchs kann dieses fehlende Vorwissen schwerwiegende Konsequenzen für die betroffenen Frauen haben, beispielsweise dass sie allein ohne ihren Partner der Untersuchungs- und Diagnosemitteilungssituation ausgesetzt sind.
10.1.4 Zeit: Das Warten auf die Diagnose Häufig sind mit einer solchen Abklärung für die Frauen lange Anfahrtswege und Wartezeiten in großen Zentren verbunden. In der räumlichen Situation finden die Frauen eine Entsprechung, die zu einer erlebten Entfernung von ihren Bedürfnissen, ihrer Person passt. Sie drückt sich zeitlich, durch Wartezeiten, und räumlich, durch Distanzen, für sie aus. Besonders deutlich werden diese Spannungen an Marlenes Erzählung. Sie wohnt abgelegen, muss zur Abklärung des Verdachtsbefundes in eine entfernte Universitätsstadt fahren und wegen des frühen Termins bereits um vier Uhr nachts aufbrechen und dort dann lange auf die Ärztin warten: »Dieses Ungewisse, diese furchtbare Angst, dieses Versetztwerden dann dort auch noch, wo ich gedacht habe, mein Gott, diese Frau muss doch eigentlich auch wissen, was annähernd in so Eltern vorgeht, die auf so Ergebnisse warten, und einfach hoffen, dass alles okay ist mit ihrem Kind. Und dann jemanden zweieinhalb Stunden zu versetzen (…) ja. Das fand ich schon auch sehr sehr schlimm. Einfach auch unfair gegenüber uns.« (Int. 18, 28)
Marlene fühlt sich nicht wahrgenommen in ihren Bedürfnissen. Ihr Erleben von »furchtbarer Angst«, dem »Ungewissen« der Hoffnung darauf »(…) dass alles okay ist mit ihrem Kind« steht dem Empfinden der Behandlung durch die Diagnostikerin entgegen: Weder bei der Terminvergabe noch bei den Wartezeiten fühlt sich Marlene in ihren Bedürfnissen respektiert. Aussetzen der Zeit und Schnelltest Die Dauer des Wartens, bis ein endgültiges Ergebnis vorliegt, kann je nach Diagnose zwischen wenigen Tagen und mehreren Wochen liegen. So gibt es Befunde wie etwa Anenzephalie, die über Ultraschall gut zu erheben sind, während gerade bei Chromosomenanomalien häufig zunächst Ultraschallbefunde einen unspezifischen Verdacht ergeben, der nur über invasive Verfahren und längere Wartezeiten auf humangenetische Laboruntersuchungsergebnisse abgeklärt werden kann. Manche Frauen warten mehrere Wochen bis zum Erhalt einer sicheren Diagnose und erleben diesen Zeitraum als belastend, aber auch kurze Wartephasen
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von wenigen Tagen werden von anderen Frauen als aufreibend erlebt. Die starke Belastung und Traumatisierung durch die fortdauernde Ungewissheit zeigt sich in Marlenes Erzählung über den Wartezeitraum: »Die Zeit zwischen der Amniozentese und dem ersten Ergebnis, dass es keine Trisomie ist (…) war ganz schlimm gewesen. Also die / da kann ich mich auch nicht dran erinnern irgendwie. Das war einfach / das war ganz grausam gewesen. Und (…) ich weiß noch, dass ne Freundin zweimal am Tag bald angerufen hat aber (….) ansonsten weiß ich eigentlich nicht mehr viel von. (…) Man hat halt damals auch auf diesen (unverständliches Wort) gelauert. Ist bald verrückt geworden, man hat mittags mal angerufen.« (Int. 18, 25)
Sie erlebt diese Wartezeit als so traumatisierend, dass ihre Erinnerungen daran fragmentarisch sind. Die Zeit scheint ausgesetzt zu sein, der Alltag steht in gewisser Weise still. Um die Wartezeit, die Ungewissheit zu verkürzen, entscheiden sich alle der im Rahmen der vorliegenden Studie befragten Frauen für einen FISH-Test, bei dem ein vorläufiges Untersuchungsergebnis für wenige spezifische Chromosomenveränderungen bereits nach ein bis drei Tagen vorliegt28. Während dieser Schnelltest für mache Frauen die Wartezeit auf ein bis drei Tage verkürzt und sie dann bereits ein vorläufiges Ergebnis erhalten (das mit dem endgültigen Amniozenteseergebnis nach ca. 14 Tagen bestätigt wird), verstärkt der Test für andere Frauen die Unsicherheit. Denn manche der Frauen erleben die Wartezeit bis zum endgültigen Ergebnis gerade auch wegen des FISH-Tests als lange und verwirrend. Gerade wenn durch den FISH-Test ein zuvor geäußerter Verdacht der Diagnostiker auf eine konkrete Chromosomenstörung nicht bestätigt wird, haben manche der Frauen wieder Hoffnung. Elke: »Und dieser FISH-Test, also dieser Schnelltest war unauffällig (…) und dann gut, dann hat man wieder die Hoffnung, dass es ja vielleicht doch gar nicht so ist, was sie (Anm.: Pränataldiagnostikerin) immer gesagt hatte (…) sie tippt auf diese Trisomie (räuspert sich) (Name der Chromosomenaberration) eben und (…) dann (…) hat man wieder ne Hoffnung (…)« (Int. 17a, 15)
Elke hofft demnach, es könnte sich um einen Diagnosefehler handeln, alles könnte sich doch noch als ein falscher Verdacht der Ärztin erweisen. Für andere Frauen, die wenig Informationen im Vorfeld erhalten, sind es
28 Die übliche Wartezeit auf das Ergebnis bei Amniozentese beträgt zwei Wochen. Es gibt die Option einen Schnelltest durchzuführen, bei dem die Ergebnisse für bestimmte Chromosomenabweichungen wie Trisomie13, 18 und 21, Triploidien und die Geschlechtschromosomen bereits nach ein bis drei Tagen vorliegen. Die Kosten für diesen so genannten FISHTest werden nicht von der Krankenkasse übernommen, er ist eine Zusatzleistung, die von den Frauen selbst übernommen wird und für die sie durchschnittlich 100 Euro bezahlen.
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bestimmte Behinderungen, die sie besonders fürchten und deren Ausschluss durch den FISH-Test zunächst zu Erleichterung führt. Marlene: »Damit war für uns alles in Ordnung. Damit, dass da was anderes gibt, war uns gar nicht bewusst zu dem Zeitpunkt. Das Schlimmste, ne Trisomie 21. War für uns damals das Schlimmste was es gab. Es war so was en Glück! Es is alles in Ordnung mit dem Kind!« (Int. 18, 17)
Die einzige Behinderung, die Marlene und ihr Partner als bedrohlich erleben, ist das Down-Syndrom. Als dieses mit dem Schnelltest ausgeschlossen ist, scheint alles in Ordnung zu sein. Marlene und ihr Partner jedoch kontrastieren ihr Wissen in der Zeit vor der Diagnosemitteilung mit ihrem Wissen zum Zeitpunkt des Interviews. »Damals«, in der Zeit vor dem Einschnitt der Diagnose, war das Schlimmste für sie eine Trisomie 21. Diesem Damals stehen ihr Wissen und ihre Erfahrung jetzt – ihr Sohn lebt mit schwersten geistigen und körperlichen Einschränkungen – gegenüber. Zwischen Hoffen und Angst – »extreme Gefühlsachterbahn« Viele der Frauen erleben in dieser Zeit ein Hin und Her zwischen der Hoffnung, dass sich der Verdacht nicht bestätigt, dem Hoffen auf eine »harmlose Behinderung« und der Angst, dass sich der Verdacht bestätigen könnte. So wie Mechthild. Sie erlebt die Wartezeit als »extreme Gefühlsachterbahn«. Für viele der Frauen, bei denen ein Verdacht auf eine Chromosomenanomalie besteht wie auch bei Mechthild, richtet sich ihre Hoffnung in dieser Phase auf diejenigen Behinderungsbilder, die sie in der Dimensionalisierung von leicht bis schwer bei den leichten Behinderungen einordnen. Mechthild: »So diese Hoffnung vielleicht ist es nur ein Turnersyndrom, ämm, dann auch die Frage, was bedeutet Diagnose Trisomie 21, ämm, die Bandbreite der Behinderung unwahrscheinlich groß sein kann. Also ich denk, des wussten wir beide, oder ich vielleicht noch mehr. Meine Schwägerin ist relativ fit, möchte in Anführungszeichen sagen, einfach ne sehr nette Frau, die gesellschaftlich wirklich überall kein Problem ist. Und dann gibt es eben auch mit Verhaltensstörungen mit schwersten, des hab ich alles einfach gesehen und erlebt und weiß des einfach sehr nah aus der eigenen Berufserfahrung. Des heißt, wir wussten da drum, dass die Diagnose Trisomie 21 eigentlich gar keine Aussage machen kann, was des dann letztendlich für sie bedeutet. Ob Herzprobleme dazu kommen oder so was, das ist einfach mit so einer Diagnose nicht klar. Des war schon ein Hin und Her. Auch die Überlegung, könnten wir des aushalten, können wir des tragen, was bedeutet das für unsere Tochter. Sehr schwierig ist. Des war eine sehr schwierige Zeit.« (Int. 4, 23)
Mechthild greift in diesem Zeitraum auf eigene Erfahrungen in Familie und Beruf, die sie mit den verschiedenen Behinderungen hat, zurück. Aufgrund ihres Erfahrungshintergrundes im heilpädagogischen Bereich beziehen sich ihre Ängste auf die Unsicherheit bestimmter Diagnosen, auf die große Bandbreite
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von »Verhaltensstörungen«. So wird für Mechthild das Turnersyndrom zum Hoffnungsanker ; bei diesem Syndrom gibt es keine oder nur sehr geringe geistige und körperlichen Einschränkungen. Die Kinder können ein normales, selbstständiges Leben führen. Bei einer solchen Behinderung gäbe es für sie nichts zu entscheiden. Mechthilds Überlegungen gehen bereits in dieser Wartezeit hin zu verschiedenen Zukunftsszenarien, dem Abwägen des »tragen können« dieser Belastungen durch die Familie und den Folgen für das Familienleben, das andere Kind. Ursel wiederum beschreibt die Wartezeit als Zeit des Hoffens auf das Unmögliche: »Und dann ham mer nur gedacht, ja hoffentlich ist es 21 oder vielleicht ist es ja gar nichts, ham mer gedacht. Vielleicht hat sie nur ein Herzfehler und dieser sechste Finger und (…) und vielleicht ist es ja gar keine Behinderung. Dieses Nicht-WahrhabenWollen. Und wenn es 21 ist, ja (…) wir wollen doch dieses Kind haben«. (Int. 20, 30–33)
Ursel erlebt es als Nicht-Wahrhaben-Wollen, das Unbegreifliche – nämlich dass das Kind im Bauch nicht leben wird – nicht für wahr halten können, bevor es nicht bestätigt ist. Gleichzeitig wird bereits in dieser Wartezeit klar, es ist »dieses Kind«, was sie – Ursel und ihr Partner – wollen, nicht ein anderes. Die Hoffnung vieler Frauen bewegt sich dabei zum »weniger schlimm« hin, zunächst auf ein gesundes Kind gerichtet, dann auf eine behandelbare Fehlbildung – nur der sechste Finger oder nur der Herzfehler –, dann auf ein lebensfähiges Syndrom ohne Beeinträchtigungen wie Turnersyndrom, dann auf Syndrome, die mit dem Leben vereinbar sind wie Down-Syndrom. Gestaltung der Wartezeit Der Umgang der Frauen mit dieser Wartezeit auf das Ergebnis dimensionalisiert sich in unterschiedliche Strategien: Manche der Frauen ziehen sich zurück, entweder allein oder mit ihrem Partner. Einige verleben die Zeit in einer Art Starre – die Zeit scheint auszusetzen. Andere werden aktiv und suchen nach Informationen oder versuchen, über telefonische Nachfragen beim Diagnostiker bzw. der Diagnostikerin die Untersuchung zu beschleunigen. Andere Frauen wiederum versuchen sich abzulenken, noch das Beste zu hoffen und die Zeit möglichst schnell zu vertreiben. Wieder andere, wie Dorothee, beginnen in der Wartezeit auf das endgültige Ergebnis bereits mit Überlegungen zur weiteren Schwangerschaft. Für Dorothee und ihren Partner ist bereits nach der Ultraschalluntersuchung, die die ersten auffälligen Ergebnisse erbringt, klar, dass ihr Kind eine schwere Fehlbildung hat: »Und da kam dann halt raus (Anm.: Schnelltest), dass sie ne Mosaiktrisomie hat. Wobei, grade wenn man dann diese Mosaiktrisomien hat, dann noch mal abgewartet
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wird, weil manchmal das sich als falsch rausstellt. Und dann hat mer noch mal zwei Wochen Zeit, um darüber nachzudenken, was macht des jetzt eigentlich mit uns. Ja. Wie entscheiden wir uns. (…) Ich hab dann in der Zeit auch ganz viel rumtelefoniert.« (Int. 16, 7)
Die Zeit bis zum endgültigen Diagnoseergebnis nutzen sie und ihr Partner, um »nachzuspüren«, sich klar zu werden, wie Entscheidungen aussehen könnten. Dies geschieht innerhalb der Beziehung, im eigenen Inneren, aber auch im nach außen Gehen. Dorothee sucht Kontakte, informiert sich. Manche Frauen gehen also auch nach außen und binden ihre Familie und Freunde bereits im Wartezeitraum mit. Inwieweit Familie und Freunde in den Mutter-Werden-Prozess eingebunden sind, hängt von persönlichen Faktoren, aber auch von weiteren wichtige Einflussfaktoren ab: zu welchem Zeitpunkt der Verdacht auftritt, ob die Schwangerschaft bereits offengelegt ist oder der Bauch sichtbar ist. Zu einem späten Zeitpunkt in der Schwangerschaft – so erlebt es Marlene beim Auftreten des Verdachts in der 32. Schwangerschaftswoche, einem Zeitpunkt zu dem viele Frauen beginnen, Kinderausstattung zu organisieren, der Bauch deutlich sichtbar ist und die Zeit des Mutterschutzes nicht mehr weit entfernt ist – weiß das Umfeld über die Schwangerschaft Bescheid. Marlenes Familie wartet beispielsweise zu Hause nach der Untersuchung im Pränataldiagnosezentrum auf das Ehepaar. Bei Frauen, die bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Schwangerschaft mit einem Verdacht konfrontiert werden, kann es hingegen sein, dass die geplante Offenlegung der Schwangerschaft bis nach den Zeitpunkt der Diagnosemitteilung hinausgeschoben wird. Viele der Frauen erleben diese Wartezeit als etwas, was sie gemeinsam mit ihrem Partner durchstehen, und dieses partnerschaftliche Erleben nehmen sie als Unterstützung wahr. Für andere Frauen ist es zwar so, dass sie ihren Partner informieren, jedoch wenig Gemeinsamkeit erleben. Untersuchungen, Informationssuche oder Umgang mit der Wartezeit erleben sie als etwas, was sie allein durchstehen. Geschwisterkinder, die alt genug sind, alles verstehen zu können, versuchen viele der Frauen erst nach der Entscheidung zu informieren.
10.1.5 Zwischenfazit der Phase Weg zur Diagnose Im Folgenden sollen die Ergebnisse zur Phase »Weg zur Diagnose« zusammengefasst dargestellt werden und im Anschluss weitergeführt werden in einer Beschreibung positiv erlebter Betreuungssituationen – der sogenannten »Good practice«. Bei einem Teil der Frauen geht der eigentlichen Diagnose ein Zeitraum un-
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terschiedlicher Länge voraus, in dem bereits klar ist, dass etwas vielleicht nicht stimmt. So haben manche Frauen, zumindest in der Retrospektive, Vorahnungen, bei anderen gibt es auffällige Untersuchungsergebnisse, die auf die Möglichkeit einer Fehlbildung oder eines Syndroms hindeuten. Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse der Phase »Weg zur Diagnose« zusammengefasst dargestellt werden: 1. Vorahnungen: Manche der Frauen haben deutliche, andere vage Vorahnungen. Sind diese bei manchen Frauen Grund für den Diagnosezugang, werden sie von anderen verdrängt. Manche Frauen interpretieren auch bestimmte »Vorzeichen« erst retrospektiv als verdrängte Vorahnung. 2. Ultraschall als Eintrittspforte: Bei den meisten der hier befragten Frauen stellt der Routineultraschall das Untersuchungsinstrument dar, mit dem der erste Verdachtsbefund erhoben wird. 3. Ultraschall als Routineuntersuchung: Vielen der befragten Frauen ist im Vorfeld nicht klar, welche Befunde durch Ultraschall erhoben werden können, und sie sind unvorbereitet auf einen positiven Befund. 4. Kein Recht auf Nichtwissen: Die Möglichkeit, Informationen über Befunde nicht zu erhalten, wird im Vorfeld von Untersuchungen meist nicht thematisiert. Vielmehr zeigt sich, dass auch der klar formulierte Wunsch auf Nichtwissen nicht immer vor einer Befundübermittlung bei auffälligen USBefunden schützt. 5. Verdachtsbefund löst »Strudel« aus: Es zeigt sich als durchgehendes Muster : Zeitdruck, Ungewissheit und die Selbstverständlichkeit abklärender Untersuchungen führen zum Automatismus von Folgeuntersuchungen und zum Erleben von Kontrollverlust vieler Frauen. 6. Ausmaß an Informationsweitergabe : Der Informiertheitsgrad der Frauen zum Überweisungsgrund nach Verdachtsbefund ist heterogen und reicht von ausführlicher Information bis zum Zurückhalten von Informationen oder der Fehlinformationen über den Überweisungsgrund. Die Folge unzureichender Informationen ist zum einen das Unvorbereitetsein auf die Diagnosesituation, aber auch ein Vertrauensverlust in den Frauenarzt bzw. Frauenärztin im späteren Verlauf. 7. Erleben der Wartezeit als Gefühlsachterbahn: Die Wartezeit auf den Befund wird als belastend erlebt. Die Frauen verwenden unterschiedliche Strategien, die Angst und Hoffnung balancieren: Aktivität, Starre, Ablenkung, Informationen suchen oder Informationen vermeiden, allein oder mit dem Partner, Rückzug oder Einbinden von Familie und Freunden.
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Positiv erlebte Betreuungssituationen – Beispiele für Good Practice Das Erleben von Selbstwirksamkeit und Kontrolle zeigen sich als zentrale Aspekte für die positive Wahrnehmung der Betreuungssituation. So erleben Frauen es als positiv, die Möglichkeit zu erhalten, über Folgeuntersuchungen zu entscheiden oder zumindest in Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden. Auch die Wahrnehmung ausreichender Zeit für Verarbeitung und Entscheidung über Folgeuntersuchungen zu haben, zeigt sich als elementar für das Erleben von Kontrolle und somit für das positive Erleben der Betreuungssituation. Dabei spielt zudem das empfundene Ausmaß an Information über den Überweisungsverdacht und Zugang zu Informationen über den Verdachtsbefund eine elementare Rolle für ein positives Erleben der Betreuungssituation. Die Ergebnisse legen aber nahe, dass die Wartezeit selbst, der Zeitraum bis zum endgültigen Diagnoseergebnis, ein »betreuungsfreier« Raum ist, der im Betreuungssystem wenig thematisiert wird und in dem die meisten Frauen sich auf sich selbst gestellt fühlen und wenig emotionale Unterstützung erhalten.
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Die Diagnosemitteilung – Der Einschnitt
Die Frauen beschreiben das Erleben der endgültigen Diagnosemitteilung als Schock29. Dieser Einschnitt führt zu einer Erschütterung oder sogar dem Zusammenbrechen von Struktur und dem Gefühl von Kontrollverlust, das sich auf verschiedene Bereiche erstreckt: Selbstkonzept, Kindkonzepte, Zeitempfinden, die Interaktionsgestaltung mit dem Umfeld und Betreuungssystem. Die Frauen erleben die Diagnosemitteilung oder auch schon die Mitteilung eines Verdachts auf schwerwiegende Fehlbildung ihres Kindes als Einschnitt, eine Zäsur im Prozess Mutter-Werden. 10.2.1 Erleben der Mitteilungssituation Ein wichtiger Aspekt dabei ist das Erleben der Mitteilungssituation und hier insbesondere die Interaktion mit der Diagnostikerin bzw. dem Diagnostiker und der in dieser Interaktionssituation empfundene Grad an Selbstwirksamkeit. Die eigentliche Diagnosemitteilungssituation schließlich wird von den Frauen unterschiedlich erlebt und unterscheidet sich auch in der äußeren Struktur. Die meisten der befragten Frauen erhalten die Diagnose in einem pränataldiagnostischen Zentrum und nicht bei ihrer behandelnden Frauenärztin bzw. Frauenarzt. Das Interaktionsgegenüber ist somit häufig eine fremde, nicht 29 Der Ausdruck »Schock« ist bewusst gewählt worden, da die Frauen – zumindest die im Rahmen der vorliegenden Studie befragten Teilnehmerinnen – diesen Ausdruck verwenden.
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vertraute Person, das Gespräch findet zudem in einer fremden Umgebung statt. Gerade auch wenn der Ort der Diagnose ein großes Klinikum ist, kann das Fremdheitsgefühl durch die räumliche Unüberschaubarkeit und das Gefühl, die Regeln nicht zu kennen, verstärkt werden – so erlebt es zumindest Harriet, die vorher noch nie in einem Krankenhaus war. Harriet: »Und das war halt für mich das erste Mal, dass ich als Patientin überhaupt in ne gynäkologische Abteilung in nem Krankenhaus von Innen erlebt hab. Ich war ja (…) vorher nicht zum Entbinden im Krankenhaus. Ich kannte das überhaupt nicht und ich wusste nicht mals wie ich da so ne Hebamme korrekt anrede. Weil so meine Hausgeburtshebamme, da hat man sich immer geduzt und mit Vornamen, aber das is natürlich klar, dass man jetzt im Krankenhaus ne Hebamme nicht so anredet. Aber ich wusste jetzt nicht, redet man die mit Schwester sowieso oder mit Frau sowieso, ich hab mich da irgendwie sehr unsicher und verloren gefühlt.« (Int. 13, 14)
Es ist verständlich, dass es auch deshalb für das Erleben der Diagnosesituation für viele Frauen ein wichtiger Aspekt ist, ob sie allein in dieser Untersuchungssituation sind oder von ihrem Partner begleitet werden. Viele der Frauen werden bei der Diagnosemitteilung von ihrem Partner begleitet und erleben sich als elterliche Einheit – als »wir«. Die Reaktionen ihrer Partner auf die Mitteilung erleben viele der Frauen als ähnlich zu ihren eigenen. Auch die Männer zeigen Schocksymptome, die sich beispielsweise in Kreislaufreaktionen ausdrücken können, und manchmal sind es dann die Frauen, die Sorge für ihren Partner treffen müssen. Denn häufig werden die Bedürfnisse der Partner vom Betreuungssystem noch weniger wahrgenommen als diejenigen der Frauen. Einige der im Rahmen der vorliegenden Studie befragten Frauen sind bei der Diagnosemitteilung allein, ohne ihren Partner oder eine andere nahe Bezugsperson. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen: Bei manchen Frauen ist der Partner aus beruflichen oder anderen Gründen verhindert, bei anderen ist es so, dass das Paar der Untersuchung nicht die Bedeutung zuschreibt, die sie hat, beispielsweise weil der Verdacht vom überweisenden Arzt bzw. der Ärztin nicht im vollen Umfang kommuniziert wurde. Bei manchen der Frauen wird die Diagnose auch im Rahmen der Routineschwangerschaftsvorsorge gestellt, und nicht alle Partner begleiten die Schwangere zu diesen Untersuchungen. Während sich diese Frauen nach der Diagnosemitteilung in einem Schockzustand befinden und selbst häufig den Inhalt der Mitteilung noch nicht erfassen können, sind sie in dieser Situation allein, ohne Unterstützung, und müssen darüber hinaus ihrem Partner die Diagnose vermitteln. Inken etwa erreicht ihren Partner, der auf Geschäftsreise ist, über das Autotelefon und bewertet diese Art der Mitteilung im Rückblick als gefährdende Situation für ihren Partner. Wenige Frauen erhalten eine Unterstützung dahin gehend, dass ihnen angeboten
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wird, dass ihr Partner vom Diagnostiker informiert wird – Harriet fordert sich diese aber ein. »Und dann hab ich halt den Arzt gebeten, dass er es meinem Mann mitteilt. Ich hab gedacht, ich kann ihm das nicht sagen, dem bricht das Herz. Und der hat ihm das dann mitgeteilt und hat ihm dann auch noch mal die Ultraschallaufnahmen vorgespielt.« (Int. 13, 25)
Die Gestaltung der Diagnosemitteilung – Untersuchungsobjekt oder Gegenüber in Augenhöhe Der Ablauf, die Gestaltung der Untersuchungssituation und die Interaktionsgestaltung der Pränataldiagnostikerin bzw. des Pränataldiagnostikers mit der Frau geben den Ausschlag, ob Frauen sich als Untersuchungsobjekt wahrnehmen oder als Gegenüber in Augenhöhe, d. h. als Subjekte, die über den Ablauf informiert und mit denen auf Augenhöhe interagiert wird. Die Interaktionsgestaltung während der Untersuchung selbst dimensionalisiert sich von offen, die untersuchte Frau einbindend bis zu konzentriert, und schweigend, nicht auf Fragen eingehend. Manche Frauen erleben insbesondere einen schweigenden Untersuchungsablauf als belastend, fühlen sich so vom Geschehen »ausgeschlossen«, Wissen wird ihnen vorenthalten. Viele Frauen haben eine positive Erwartungshaltung im Vorfeld der Untersuchung, sind dann aber irritiert über die lange Dauer der Untersuchung und versuchen daher die Mimik des Untersuchers bzw. der Untersucherin zu deuten. Vor allem, wenn der Fokus nur auf die technische Untersuchung gerichtet zu sein scheint und nicht auf Fragen eingegangen wird, steigert das die Anspannung der Frauen. Manche der Frauen erleben die Untersuchung jedoch anders, als einen Austausch, ein Eingebundensein und Informiert-Werden in den Ablauf. Lilly : »Also ich lag da und / also ich fand das ganz angenehm, ne, dass der das nich irgendwie stillschweigend in seiner / sondern gesacht hat: ›Oh je oh je! Da is was ganz Schlimmes.‹« (Int. 15, 14)
Die Untersuchung findet hier nicht schweigend statt, es findet eine »Übersetzung« des Untersuchungsvorgangs statt, Pränataldiagnostiker und Frau sind im Austausch. Lilly erlebt den Diagnostiker als authentisch, als ehrlich in seiner Aussage »Da is was ganz Schlimmes«, die mit ihrer nonverbalen Wahrnehmung zusammenpasst. So erlebt Lilly zwar den Inhalt der Nachricht der Diagnose als traumatisch, bezogen auf die Diagnosesituation fühlt sie sich aber aufgehoben und erlebt die Interaktionssituation als angemessen. Die Diagnosemitteilung selbst erleben die Frauen sehr unterschiedlich. Es gibt auch Frauen, die zwar die Situation der »schweigenden Untersuchung« als belastend erleben, bei denen das Gespräch der Diagnosemitteilung aber in Ruhe
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stattfindet, nachdem die Frau sich angezogen hat und sich die Beteiligten gemeinsam an einen Tisch setzen. Inken: »Und dann hat der aber ewiglange rumgeschallt. Hat irgendwann noch meine Mutter rausgeschickt (…) hat dann auch die ganze Zeit kein Wort gesagt und dann hat er irgendwann gesagt, ›Jetzt ziehen Sie sich mal an und dann besprechen wir das Ergebnis.‹«. (Int. 14, 13)
Für Inken wird darin der Wunsch des Diagnostikers für eine angemessene Gesprächssituation, Raum für eine Interaktion zu sorgen deutlich. Harriet erlebt das Schweigen während der Untersuchung als befremdlich, vergleicht mit ihren Erfahrungen von früheren Ultraschalluntersuchungen, bei denen der Untersucher »immer« redete. Dieses Mal ist es anders, der Untersucher geht nicht auf ihre Fragen ein, sie nimmt ihn als gereizt wahr : »Und da hat der dann so nen Riesenrechner hochgefahren. Des dauerte ziemlich und dann hat der geschallt und geschallt und sachte immer nichts. Sonst reden die ja immer, ›Gucken Sie mal hier und jetzt gucken Sie mal da, und jetzt winkt es ihnen zu.‹ Und der sagte irgendwie gar nichts und dann irgendwann hab ich den dann so angequatscht, was er da sieht und ein Moment mal und der machte einfach weiter und dann hab ich den da noch mal angequatscht, Der war eigentlich ein bisschen schon fast gereizt und irgendwann drehte der sich dann um und sachte: ›Ihr Kind hat (Name der Fehlbildung)‹. Und das wars dann halt.« (Int. 13, 15)
Das Gefühl, keine Kontrolle über den Ablauf und die Gestaltung der Untersuchungssituation zu haben, wird als belastend erlebt. Als Faktoren, die dazu beitragen, erleben die Frauen beispielsweise lange Wartezeiten oder auch die ungefragte Anwesenheit von Studenten oder anderen Ärzten bzw. Ärztinnen bei der Untersuchung. Exemplarisch kann Marlenes Erleben gesehen werden. Nach einer mehrstündigen Anfahrt in das große pränataldiagnostische Zentrum, das an ein Universitätsklinikum angegliedert ist, warten Marlene und ihr Partner zwei Stunden, sie empfindet dies als »ewig«: »Der Oberarzt, der Assistenzarzt und zwei Studenten sind mit uns dann da rein. Wo ich dann noch (…) als die angefangen haben noch versucht hab, irgendwie klarzumachen, ja, ham, wer jetzt auch noch Zuschauer gratis hier mit dazu bei so ner Diagnose. Des wurd aber alles (…) nicht kommentiert. Es war auch nie gefragt worden, is das in Ordnung oder irgendwas. Es war als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt worden, dass möglichst viele teilhaben dürfen an uns.« (Int. 18, 45–46)
Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass Marlene sich in ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen fühlt. Marlene empfindet sich als Untersuchungsobjekt, dessen Bedürfnisse nicht länger zählen und übergangen werden können: Nicht sie als Person steht im Zentrum, auch nicht das Kind in ihrem Bauch, sondern vielmehr erlebt sie sich als medizinischen Fall, als interessante Diagnose, an der Studenten lernen können: ein Objekt.
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Das Erleben von Kontrollverlust und Steuerungsunfähigkeit in Bezug auf die Untersuchungssituation im Außen kann so das Erleben von Kontrollverlust im eigenen Inneren verstärken. Diese Verobjektivierung, die tatsächlich als Verdinglichung passiert, zeigt sich in Marlenes Erleben auch daran, dass ebenfalls bei der Diagnosemitteilung keine Anteilnahme stattfindet, sondern reine Beobachtung von Seiten der Beteiligten. An die Diagnosemitteilung erinnert sich Marlene folgendermaßen: »›Ihr Kind wird maximal ein Jahr leben. Wenn aber auch nur maschinell. Wenn Sie das wollen, müssen Sie das machen. Ansonsten hätten Sie die Möglichkeit der Tötung im Mutterleib, die Sektio sofort und dann zum, ja, zum Sterben ablegen. Also deswegen sofort holen, irgendwie austragen, aber ihre Plazenta ist so verkalkt, ich mein, die nächsten ein bis maximal vier Wochen wird das Kind im Mutterleib eh versterben.‹ (…) So, und dann wurde auf die Uhr geguckt, weil es waren noch Prüfungen abzuhalten und dann wurden wir gebeten zu gehen.« (Int. 18, 48–49)
In Untersuchungssituationen, in denen die Frauen sich als Untersuchungsobjekte fühlen und als nicht auf einer Ebene mit dem Gegenüber wahrnehmen, kann es für sie irritierend sein, emotionale Belastung aufseiten des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin wahrzunehmen, vor allem wenn diese Emotionalität nicht thematisiert wird und es keinen Raum für die Thematisierung dieser emotionalen Betroffenheit im Interaktionsverhältnis zu geben scheint. Harriet: »Was ich ganz belastend fand sind, ämmm, die Menschen, denen man die Gefühle im Gesicht ansehen konnte. Wo aber gleichzeitig klar war, dass man über Gefühle des anderen nicht sprechen darf. Dass es eben kein Thema ist, wie es dem Arzt bei mir geht, weil dadurch bin ich nicht mehr handlungsfähig im Kontakt. Ich glaube, es wäre einfach einfacher gewesen, wenn der Arzt zu mir gesagt hätte, ›Wissen Sie was, Frau (Name), mir gehts selber beschissen damit, dass ich Ihnen das mitteilen muss und bei mir fahren jetzt grade diese und jene Filme ab.‹ Aber dann wär es irgendwie rausgewesen. Ich hätte gewusst, was mit ihm los ist und hätte vielleicht sagen können, ja, an der Stelle is es bei mir aber anders und für mich is jetzt nich das und das das Problem, sondern mein Problem ist das und das. Dadurch, dass der selber als Person nicht greifbar war, obwohl der sehr betroffen war, konnt ich des auch selber / auch mich nicht positionieren. Ich merke so, mir ham Leute gut getan, die sich auch wirklich da positioniert haben, wo sie auch wirklich gestanden haben. Weil dadurch hat ich auch wieder so Koordinaten, konnte selber feststellen wo ich und wer ich bin.« (Int. 13, 120–121)
Harriet erlebt die Struktur der Patientin-Arzt-Kommunikation somit als etwas, das keinen Raum gibt, über diese emotionalen Aspekte der Diagnosemitteilung zu sprechen.
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Vielmehr darf das Emotionale nicht angeschnitten werden, dies scheint – zumindest für Harriet – eine ungeschriebene Regel zu sein30. Ihre Bedürfnisse stehen dem gegenüber : Sie bräuchte eine Thematisierung als Orientierungshilfe, um Struktur zurückgewinnen zu können. Die Versuche des Diagnostikers zu professioneller Rationalität zurückzufinden, empfindet sie als irritierend: »Also am Anfang, als er mir das mitgeteilt hat, war er irgendwie emotional sehr betroffen und erschüttert, aus welchen Gründen auch immer. Ich meine, war ja nich sein Kind. Und danach hat er glaub ich so versucht, sich selber wieder auf so ne rationale Ebene runter zu holen und hat dann zum Beispiel gesacht, ›Ihr Kind wiegt jetzt 2000 Gramm, den Kopf hab ich schon abgezogen.‹ Da hab ich auch gedacht, wie kann man so einen Satz von sich geben, aber das hat er, glaub ich, echt nicht realisiert, was er da so von sich sagt.« (Int. 13, 28)
Für andere Frauen ist es so, dass sie die Situation, in der sie die Diagnose erhalten, als nicht angemessen erleben. Hier spielt das Timing der Gesprächssituation eine wichtige Rolle. Dazu gehören Situationen, in denen Frauen noch ausgezogen sind oder noch dabei sind sich anzuziehen, in denen sie sich unvorbereitet und verletzlich fühlen – wie Cosima: »Und ich war halt grad beim Schuhe anziehen und da hieß es eben, dass unser Kind sehr viel Schädigungen hat und mei Mann is dann fast umgekippt.« (Int. 2, 35)
Für Harriet findet das Diagnosemitteilungsgespräch sogar statt, während sie noch halb ausgezogen auf der Untersuchungsliege liegt, sie empfindet sich in dieser Situation sowohl durch die Bloßstellung ihres Körpers »und dann hat ich das so halt hochgeschoben auch so diesen dicken faltigen Bauch, wo man dann schon so die ganzen Schwangerschaftsstreifen sieht und war auch ziemlich übergewichtig und war verschwitzt« (Int. 13, 17) als auch durch ihre liegende Körpersituation (»dass man wenigstens einen aufrechten Körper hat, wenn man sowas mitgeteilt bekommt«) als hilflos und nicht in »Augenhöhe« mit dem Gesprächspartner. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit führt sie weiter aus mit dem Benutzen der Metapher, sie habe sich gefühlt »wie eine Schildkröte, die man auf den Rücken gedreht hat« (Int. 13, 17), als eine Position, die nicht sie gewählt hat, 30 Das ärztliche Bestreben nach Sachlichkeit scheint es auch bei anderen Diagnosemitteilungen zu geben. So beschreibt Frank (1991, S. 23), ein Medizinsoziologe, die eigene Erfahrung ärztlicher »Professionalität« bei der Diagnose einer schweren Herzerkrankung folgendermaßen: »Für mich als Kranken war an dieser Unterhaltung genau das falsch, was das Auftreten meines Arztes so professionell machte. Professionell sein heißt kühl und sachlich bezogen zu sein. Ein professionelles Gespräch läuft so ab: Es scheint da ein Problem zu geben, ernster, als wir dachten, aber wir kriegen es in den Griff. Wir gedenken, so und so vorzugehen; noch irgendwelche Fragen? Als ich ihn so reden hörte, wusste ich genau, dass er mir ein Abkommen vorschlug. Wenn meine Antwort ebenso kühl und sachbezogen ausfiel, würde ich wenigstens als Juniorpartner akzeptiert werden.«
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sondern in die sie gebracht wurde, eine Position, in der sie sich hilflos und ausgeliefert, bloßgestellt fühlt. In diesen Interaktionssituationen ist bereits durch die unterschiedlichen Ebenen im Außen – liegend, im Anziehen – ein Gespräch in Augenhöhe nicht möglich. Die Beschreibung dieser Situationen lässt aber auch Rückschlüsse zu auf Hilflosigkeit und Überforderung auf Seiten mancher Diagnostiker bzw. Diagnostikerinnen. Die Mitteilung per Telefon Eine besondere Form der Interaktionssituation stellt die telefonische Diagnosemitteilung dar. Für Frauen, die sich nach einem auffälligen Ultraschalluntersuchungsergebnis einer Fruchtwasseruntersuchung unterziehen, ist es so, dass bis zum Vorliegen eines endgültigen Ergebnisses eine Wartezeit von zwei bis drei Wochen vergehen kann (s. Kapitel 4.1). Viele dieser Frauen erhalten das Testergebnis dann telefonisch mitgeteilt. Die Daten geben Hinweise darauf, dass die Frauen nicht die telefonische Mitteilung an sich als problematisch erleben, sondern vielmehr die Wartezeit und die Unkontrollierbarkeit des Zeitpunktes des Anrufs als belastend erfahren wird. Auch die Bedeutung, die der Diagnostiker bzw. die Diagnostikerin diesem Telefonat zuzuschreiben scheint, ob sie das Gespräch als anteilnehmend empfinden oder als etwas, das nebenbei erledigt werden muss, ist für die Frauen von Wichtigkeit. So hat Karin während des Telefonats den Eindruck, der Arzt möchte nicht mit ihr sprechen: »Im Hintergrund war irgendwie Kaffeegeklapper und es war grad Pause und ich hatte des Gefühl, er muss jetzt mit mir reden, aber eigentlich möchte er des gar nicht gerne.« (Int. 9, 36) Sie ist irritiert, im Hintergrund des Gesprächs eine Pausenzimmeratmosphäre wahrzunehmen, hat den Eindruck, der Arzt möchte das Gespräch mit ihr nicht führen. Ausschlaggebend dafür, wie die telefonische Mitteilung erlebt wird, ist, ob die Frauen eine gewisse Empathie des Gegenübers wahrnehmen können oder den Gesprächspartner bzw. die Gesprächspartnerin als abgestumpft und unbeteiligt wahrnahmen. Bei keiner der befragten Frauen war es so, dass das Untersuchungsergebnis zuerst an die behandelnde Frauenärztin bzw. Frauenarzt übermittelt wurde und diese die Diagnosemitteilung durchführte.
10.2.2 Dimensionen des Schockerlebens Alle der in dieser Studie befragten Frauen erleben die Diagnosemitteilung als Schock. Für dieses Schockerleben lassen sich zwei Phasen herausarbeiten: die
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akute, die direkt mit der Diagnosemitteilung zusammenfällt, und die Phase der »Einwirkung«, des Verstehen-Wollens in der Zeit danach. Die Zeit direkt nach der Diagnosemitteilung – Die akute Phase des Schockerlebens Zunächst wird im Folgenden die akute Phase des Schockerlebens beschrieben, die mit der Diagnosemitteilung zusammenfällt; für diese Phase beschreiben die Frauen, dass sie und/oder ihr Partner Symptome der akuten Belastungsreaktion erlebt haben. Beispiele für diese Symptome sind Kreislaufzusammenbruch, das Gefühl stunden- oder tageweise nicht mehr mit der Umwelt verbunden zu sein (Dissoziation), Gedankenrasen, Starre und kurze Phasen von Blackouts direkt nach der Diagnosemitteilung. Als intervenierende Bedingungen finden sich in den Daten die Rahmenbedingungen der Mitteilungssituation, das Vorhandensein oder Fehlen von Unterstützungsinstanzen im Anschluss an die Mitteilung, die eigenen Erwartungen an die Medizin und die Erwartungen an den Diagnostiker bzw. die Diagnostikerin. Darüber hinaus stellt auch das Ausmaß der Diagnose etwa in Bezug auf äußerlich sichtbare Fehlbildungen einen Einflussfaktor dar. Die Frauen beschreiben das Erleben der Diagnosemitteilung als Einschnitt und abrupte Veränderung, nach der nichts mehr so ist wie vorher. Dies wird deutlich an den Metaphern, die die Frauen zur Beschreibung dieses Schocks benutzen: »Das war dann der Hammer. (…) Hat einem dann irgendwie (…) ja (…) den Boden unter den Füßen weggerissen.« (Int. 14, 14) »Ich für mich kann nur sagen, für mich ist so ein schwarzer Vorhang runter, ich konnt eigentlich in dem Moment gar nicht mehr nachdenken. Ich weiß gar nicht, ich war wie weg.« (Int. 6, 11) »(…) aber wir haben da gesessen wie vor den Bug gehauen.« (Int. 18, 54)
Neben dieser Bedeutungszuschreibung, den Gefühlen, die sie für den Zeitpunkt der Diagnosemitteilung beschreiben, zeigt sich in den Interviews, dass viele Frauen an dieser Stelle des Gesprächs davon sprechen, dass sie sich nicht im Detail an alle Aspekte erinnern können; so kann die Erinnerung an die Untersuchungs- und die Mitteilungssituation verschwommen sein, Details können nicht erinnert werden. Manche Frauen erzählen auch, dass ihre Erinnerungen an bestimmte Details des Ablaufs nicht mit denen ihres Partners übereinstimmen. Andere Frauen beschreiben Black-outs, also kurze Phasen, die sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen können und ihre Funktionsfähigkeit in unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigen. So beschreibt Saskia einen »Filmriss« nach der Mitteilung, sie kann sich nicht an den Zeitraum erinnern, in dem sie von dem einen zum anderen Klinikge-
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bäude gelaufen ist, erst als sie die Treppe »hochkriecht«, setzt ihre bewusste Wahrnehmung wieder ein. Sie ist allein bei der Untersuchung und wird im Anschluss an die Diagnosemitteilung ohne Begleitung zur Beratung in die humangenetische Abteilung der Klinik geschickt: »Also ich könnte jetzt nicht mehr sagen, was hab ich gedacht auf dem Weg zur Genetik, wie hab ich überhaupt den Weg gefunden, also was ich,/ ich sag jetzt mal Typ Filmriss. Das einzige, was ich wirklich weiß is, dass ich auf allen Vieren die Treppen hoch (…) Weil ick nit loofen konnte. Das is das einzige, wo ich sage, vom Kopf her, wo ich wieder da war, da wees ich, dass ich ebent nicht aufrecht gehen konnte.« (Int. 12, 48–50)
Wie heftig die Belastung durch diesen Schock der Mitteilung auch in ihren Langzeitauswirkungen sein kann, wird deutlich an Harriets Geschichte. Sechs Monate nach der Geburt und dem Tod ihres Kindes begibt sie sich in stationäre Behandlung wegen posttraumatischer Belastungsstörung, ein zentraler Aspekt ist dabei die Mitteilungssituation. Einige der Frauen sehen sich im Zeitraum direkt nach der Diagnosemitteilung in ihrer Orientierungsfähigkeit und in der Fähigkeit zu Alltagshandlungen beeinträchtigt. Direkt im Anschluss an die Diagnosemitteilung nach Hause geschickt zu werden, empfinden sie wie ein Ausgesetzt-Werden. So berichtet eine Frau davon, dass sie und ihr Partner den Parkautomaten nicht mehr bedienen konnten, eine andere erzählt, nur noch mit Navigationsgerät nach Hause gefunden zu haben. Es gibt Frauen, die die Mitteilungssituation als Dissoziationsmoment erleben, die also zunächst das Gefühl haben, das alles passiere nicht ihnen. Erst nach und nach dringt die Realität der Diagnose zu ihnen durch. Zoey : »Dann hat er angefangen zu erzählen, was alles nicht in Ordnung war und des war ziemlich viel. Also des Kleinhirn hat gefehlt und des Herz hatte nen Defekt und die Lunge war nicht so richtig und des war halt Diagnose nicht lebensfähig und dann / also bei mir wars so, dass ich des erstmal nicht so richtig auf mich bezogen hab, so diese ganze Sache, was er da so über unser Kind erzählt hat und des war also ,ämm / also auch wenn ich jetzt so im Nachhinein drüber nachdenke, wie so ne Wolke irgendwie. Ich war wie in so ner Wolke drin und hab nicht mehr so richtig was mitgekriegt und erst am Ende ham wer uns an den Händen gefasst, / also mein Freund und ich und ähh der Arzt ist dann, glaub ich, zu uns durchgedrungen, was des jetzt eigentlich für uns bedeuten könnte.« (Int. 11, 17)
Zunächst empfindet Zoey die Untersuchungssituation nur als »merkwürdig«, aber auch als sie und ihr Freund sich mit dem Arzt zusammensetzen und er ihnen die Diagnose »Nichtlebensfähigkeit« mitteilt, die einzelnen Ultraschallbefunde erklärt, braucht es Zeit, bis die Realität zu ihr durchdringt. Zunächst kann sie das Gesagte nicht mit sich selbst in Verbindung setzen, nicht mit ihrer Vorstellung von ihrem Kind, ihrer Schwangerschaft, die sie bis dahin als völlig
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normal erlebt und bewertet hat. Sie fühlt sich wie in einer Wolke, von der Welt außen abgeschlossen, nichts dringt zu ihr durch. Erst durch die Berührung ihres Freundes kommt wieder etwas von außen an sie heran und sie beginnt langsam mit dem Versuch, die Bedeutung des Befundes für sich zu verstehen, den Befund wahrhaben zu können. Manche Frauen vergleichen die Heftigkeit ihres Erlebens des Einschnitts durch die Mitteilung der Diagnose mit ihrer Vorstellung der Momente vor ihrem eigenen Sterben. So beschreibt Saskia die Heftigkeit der Mitteilungssituation anhand eines solchen Vergleiches: den Gedankensturm im Moment der Mitteilung vergleicht sie mit der Antizipation eines solchen Gedankensturms in den Sekunden, die bei einem schweren Unfall vor dem Sterben noch zum Nachdenken bleiben. Bei diesem Vergleich wird auch deutlich, welche existenzielle Tragweite die Mitteilung für sie hat: »Also es sind eigentlich nur Sekunden, was de wahrscheinlich so, so stell ich mir des vor wenn de ein Unfall hast. Dass de da so bing bing bing, wie tausend Gedanke, bevor de stirbst. Keene Ahnung.« (Int. 12, 20)
Erste Reaktion: Fluchtreflex und Abbruchsimpuls Fluchtreflex und Abbruchsimpuls zeigen sich als weitere Dimension. Manche der Frauen erleben in der Phase direkt nach der Diagnosemitteilung eine emotionale Reaktion auf die Mitteilung; und die als unzumutbar empfundene Situation löst den Impuls »das muss sofort aufhören« aus. Lilly schildert ihre Reaktion auf die Diagnosemitteilung folgendermaßen: »Und dann weiß ich nich mehr so genau, wie das ablief. Ich weiß irgendwie, dass ich, also so der erste Impuls war zu sagen, oh Gott, ich brech das sofort ab. Ich hör sofort auf damit. (…) Und dann erst so beim zweiten Nachdenken, wo ich so dachte, ach Mensch, aber du hast se ja immer noch lieb.« (Int. 15, 14)
In der Aussage von Lilly wird deutlich, dass dieser Impuls, die Schwangerschaft abbrechen zu wollen, weniger mit einer Veränderung der Gefühle zum Kind zusammenhängt als vielmehr mit dem Gefühl, der Gesamtsituation nicht gewachsen zu sein, der Belastung und Verwirrung nicht länger standhalten zu können. Der Impuls, die Schwangerschaft abbrechen zu wollen, erscheint als ein Weg, der dazu ermächtigt, wieder Kontrolle über die Situation erlangen zu können. Ein Ausdruck für das Ausmaß der Traumatisierung ist Elkes rückblickendes Resümee: »Ich denk amal, des is ne Entscheidung, die man eigentlich gar nicht wirklich / also entweder wahrscheinlich is es so also entweder man macht des in diesem Schockzustand, ganz bald, oder man macht das dann nicht mehr.« (Int. 17a, 78)
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Manche Frauen wie Harriet reagieren auf die Diagnose mit einem »Fluchtreflex«, dem Impuls, die Gefahrensituation verlassen zu wollen. Harriet: »Ich hab dann gemerkt, irgendwie (…) läuft das hier völlig schief. Ich steh unter Schock, ich kann überhaupt nicht entscheiden. Ämmm. Und hab dann mich erinnert, was wir / ich hab ja früher Chemie studiert auf Lehramt / was wir so gelernt haben, fiel mir so ein. Wenn im Labor einem da was um die Ohren fliegt und man kapiert es nicht mehr. Da muss man ja immer schauen, dass man aus dem Labor rauskommt und dann den Notknopf drückt. Und das war so mein Gefühl. So, das Labor fliegt mir um die Ohren. Ich muss jetzt hier einfach raus. Und ich kapier nicht, was die von mir wollen und zu was das gut sein soll jetzt hier die Geburt einzuleiten und (.,.) ich (…) geh jetzt einfach. Ich hab dann auch wie so ne Schallplatte immer wieder gesagt, ›Ich möchte nach Hause. Ich muss da drüber nachdenken.‹« (Int. 13, 31)
Dieses Gefühl wegzumüssen, nichts mehr zu verstehen, überfordert zu sein mit der Situation, hängt stark mit dem Erleben der Diagnosemitteilungssituation zusammen. 10.2.3 Erwartungen an Untersuchung Das Erleben der Untersuchungssituation und auch das Erleben der Diagnosemitteilung stehen zudem in engem Zusammenhang mit den individuellen Vorerwartungen an die Untersuchung. Die Erwartungen an die Untersuchung und an das Untersuchungsergebnis weisen eine große Bandbreite auf. So lassen manche der Frauen den Ultraschall vor allem durchführen, weil sie ihr Kind richtig sehen wollen, andere weil sie die Untersuchung als Prävention sehen und wieder andere, weil sie ein schlechtes Gefühl – eine Vorahnung – haben oder bereits ein auffälliger Vorbefund vorliegt. Die verschiedenen Unterkategorien zu Erwartungen an die Untersuchung werden im folgenden Absatz herausgearbeitet und ihre Verknüpfung mit dem Erleben der Diagnosemitteilung aufgezeigt. Für manche Frauen stellt der »große Ultraschall«, also der Spezialultraschall in einem pränataldiagnostischen Zentrum, etwas dar, was zum Schwangerschaftsverlauf dazugehört. Der große Ultraschall ist für sie etwas, das man als Schwangere macht, das alle anderen auch machen. Zoey : »Und des wollt ich ebent auch. So kam ich da hin.« (Int. 11, 23). So erinnert sich Anne, dass sie die Untersuchung »einfach so wollte, weil ich mir dachte, da sieht man das Kind mal richtig und, ämm, für mich hat das so dazugehört so ein großer Ultraschall.« (Int. 1, 20). Der große Ultraschall wird als eine Art rituelle Handlung erlebt, die zum Schwangersein dazugehört. Für Anne ist ein Nutzen, den sie sich erhofft, das Kind »mal richtig« zu sehen. Eine weitere Erwartung an die Untersuchung kann auch der Wunsch nach schönen Fotos vom Ungeborenen sein. Medizinische Gründe werden von denjenigen Frauen, die eine solche Nut-
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zerperspektive auf die Ultraschalluntersuchung haben, als nicht relevant für die eigene Situation erlebt – sie rechnen ja nicht damit, dass etwas nicht stimmen könnte. So zeigt sich an Zoeys Erzählung über den Diagnosezeitraum, dass sie nicht informiert ist über den Untersuchungsablauf und die Dauer des Ultraschalls und nicht weiß, was genau untersucht wird. Für Zoey ist die Untersuchung vor allem spannend, weil sie hofft, das Geschlecht des Ungeborenen zu erfahren: »Und, ämm, dann hab ich so am Ende der Untersuchung die Frage gestellt / also was mich eigentlich überhaupt am meisten interessiert hat, war die Frage, ob es ein Mädchen oder Junge is. Was anderes hab ich mir dabei überhaupt nicht gedacht. Und er (Anm.: Diagnostiker) meinte, Ähh ähh ähh, glaub schon‹ (macht Stimme nach). Und da dacht ich, was is n mit dem los? Des is jetzt meine einzige Frage und warum bügelt der des so ab. Und dann im Nachhinein is mir halt klar geworden, des war total unwichtig eigentlich. Da gabs viel andere Probleme und ämm (…) dann. Da kams mir schon ein bisschen komisch vor.« (Int. 11, 14)
Während der Untersuchung wartet Zoey darauf, die für sie zentrale Frage nach dem Geschlecht stellen zu können. Als sie dazu kommt, zu fragen, nimmt sie die ausweichende Antwort zunächst als Kommunikationsproblem wahr, als nicht Wahrgenommenwerden. Es kommt ihr komisch vor, dieses Schweigen, das Nichteingehen auf ihre Frage, das Stottern des Untersuchers, aber erst im Rückblick mit dem Wissen um den Zustand, die Diagnose ihres Kindes kann sie die lange Untersuchungsdauer, das Schweigen des Untersuchers und sein Stottern und Nichtbeantworten der ihr damals wichtigen Frage nach dem Geschlecht mit seinem Wissen über das Kind, mit der Tatsache, dass er etwas gesehen hat, was ihr verborgen geblieben war, in Verbindung bringen. Die Bedeutung von Wichtigkeit oder Unwichtigkeit verändert sich; retrospektiv erscheinen vor der Diagnose wichtige Fragen in der Neubewertung als unwichtig. Für andere Frauen ist es so, dass sie medizinische Erwartungen an die Untersuchung haben: Sie möchten sich die Normalität des Schwangerschaftsverlaufs bestätigen lassen. Manche der Frauen sehen die Ultraschalluntersuchung im medizinischen Sinn als Prävention, als etwas, das getan werden muss, um einen guten Ablauf zu gewährleisten. So gibt Heidrun als Grund für den Diagnosezugang ihr Alter an: »Mein Wunsch war auszuschließen, ob es eine Trisomie ist. Weil ich war damals 37, mein Mann ist (anonymisiert) Jahre älter als ich.« (Int. 8, 16)
Als Zugang zur Diagnosestellung gibt sie ihren Wunsch nach Ausschluss einer Trisomie an. Dies stellt für Heidrun retrospektiv auch die einzige Diagnose dar, an die sie dachte, die sie auf »dem Schirm« hatte, klar begründbar mit Risikokalkulationen in Bezug auf ihr Alter und das Alter ihres Mannes. Bezogen auf
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dieses statistisch erhöhte Risiko wird die Untersuchung zu einer Prävention, zu etwas, das eine gute Schwangere eben für den sicheren Ausgang tut. So spricht Heidrun im Zusammenhang mit dem Diagnosezugang nicht von Angst, sondern von erhöhtem Risiko. Ein solches Risiko erscheint eindämmbar durch das Durchführen von als präventiv wahrgenommenen Untersuchungen. In diesem Denkmodell wird Behinderung zu einer »Risikofolgeerkrankung«, für die man Verantwortung trägt, wenn nicht bewusst mit den eigenen Risikofaktoren umgegangen wird. Hier zeigt sich bei Heidrun aber auch ein Bruch, eine Ambivalenz oder ein Erschrecken vor den diesem Risikomodell innewohnenden Handlungskonsequenzen, wenn sie retrospektiv nicht mehr sicher ist, ob sie in der Schwangerschaft mit ihrer älteren Tochter (die gesund ist) wirklich den zum damaligen Zeitpunkt so sicher geglaubten Schwangerschaftsabbruch bei positivem Pränataldiagnostikbefund durchgeführt hätte: »Wobei wir hams auch beim ersten Kind machen lassen und so im Nachhinein, ich hab mir oft die Frage gestellt, wenn es wirklich eine Trisomie gewesen wäre, egal welche, ob wir dann abgetrieben hätten. Ich kann die Frage so nicht beantworten, des ist / das sind so Hypothesen, die man sich stellt in einem Zustand, wo man vielleicht gar nicht damit konfrontiert ist, also damals beim ersten Kind war für mich die Sachlage augenscheinlich klar, wenn wir einen positiven Befund bekommen, treib ich auch ab. Wie gesagt, es war damals dann nicht so, es ist eine normale Schwangerschaft gewesen.« (Int. 16, 8)
Die damals so sicher geglaubte Konsequenz auf einen positiven Befund erscheint ihr nun im Rückblick der Erfahrung mit ihrem verstorbenen Sohn doch nicht mehr so sicher. Sie nennt die damalige Entscheidung eine hypothetische Entscheidung, die vor der eigentlichen Erfahrung der Diagnose, also dem wirklichen Erleben einer Diagnosesituation unmöglich zu treffen ist. Für manche Frauen ist es so, dass durch einen Verdachtsbefund vor der eigentlichen Diagnoseuntersuchung die Normalität des Schwangerschaftsverlaufs bereits erschüttert oder zumindest infrage gestellt ist. Diese Frauen haben bereits einen längeren Diagnoseweg hinter sich. Ihre Erwartungen an die Untersuchung unterscheiden sich von den Frauen, die einfach nur auf einen schönen Moment, ihr Kind sehen zu können, hoffen. Manche von ihnen hoffen darauf, dass sich durch die Untersuchung herausstellt, dass doch alles normal ist. Andere haben die Hoffnung, dass zumindest eine »harmlose« Behinderung festgestellt wird, wobei die Bewertung, welche Behinderung weniger schlimm ist, sich im Verlauf bei einigen Frauen verändert und individuell verschieden ist. Andere Frauen sind bereits vor der Diagnosemitteilung mit einem schwerwiegenden Verdacht konfrontiert. Durch die Untersuchungen, die im Vorfeld durchgeführt wurden, ist ihnen klar, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Bei einigen geht der eigentlichen Diagnosemitteilung eine längere Zeit
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des Suchens nach der Diagnose voraus, eine Zeit der Ungewissheit, und sie erwarten von der Mitteilung Klarheit und die Beendigung der Ungewissheit. 10.2.4 Betreuungserleben nach der Diagnosemitteilung Im folgenden Abschnitt wird dargestellt, welche Art der Betreuung die Frauen im direkten Anschluss an die Diagnosemitteilung erhalten. Nur eine der Frauen, Zoey, wird direkt nach der Diagnosemitteilung noch in der pränataldiagnostischen Praxis durch die Möglichkeit aufgefangen, mit einer Psychologin und einer Hebamme zu sprechen. Sie empfindet diese Möglichkeit als sehr unterstützend. Zusätzlich erhält das Paar Raum, um den ersten Schock verarbeiten zu können; es wird unterstützt darin, den Tagesablauf des Diagnosetages umzustrukturieren (Anruf in der Kinderkrippe des älteren Kindes) und hat so Zeit, weiter in der pränataldiagnostischen Praxis zu bleiben, in Ruhe über weitere Untersuchungen nachzudenken. Andere Frauen aber beschreiben, dass sie direkt im Anschluss an das Diagnosegespräch nach Hause geschickt werden. Dies wird gerade auch von Frauen, die weite Anfahrtswege haben, als Manko erlebt. Marlene und ihr Partner erhalten die Diagnose in einem großen pränataldiagnostischen Zentrum: »Und, ämm, (…) die werben so schön in (Name der Stadt) mit ihrer Homepage Pränataldiagnostik, dass sofort Beratungsstelle, alles vernetzt wäre. Also wir kamen nicht in den Genuss, sondern wir wurden heimgeschickt. Und dann saßen wir hier.« (Int. 18, 57)
Marlene erlebt die Diskrepanz zwischen der beworbenen Struktur des pränataldiagnostischen Zentrums, der Vernetzung mit einer Beratungsstelle, die einen guten, sorgenden Umgang im Falle einer Diagnosestellung impliziert, und dem eigenen Erleben des Heimgeschickt-Werdens, das Fehlen dieser Struktur. Als besonders belastend erlebt das Paar, dass sie direkt nach der Diagnosemitteilung gebeten werden zu gehen, dass kein Raum da zu sein scheint für ihre Bedürfnisse: »So, und dann wurde auf die Uhr geguckt, weil es waren noch Prüfungen abzuhalten und dann wurden wir gebeten zu gehen.« (Int. 18, 49). Sie fühlen sich als Störfaktor. Auch für Harriet sind es im Rückblick sehr praktische Wünsche an den Umgang, die ihr wichtig sind: »(…) und eher so ganz konkret, was brauchen wir jetzt, um den Alltag zu bewältigen. ›Was könnte Ihnen da helfen? Wen könnten Sie anrufen? Wer könnte Sie da unterstützen? Gibt es jemand, der Sie jetzt hier abholen kann, dass Sie jetzt nicht mit dem Auto selber nach Hause fahren müssen?‹ Also wir waren noch nicht mal selber in der Lage, einen Parkscheinautomaten zu bedienen. Da kam noch jemand. Wir standen davor und wussten noch nicht mal, wo man das Geld reinschieben muss und wo der
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Parkschein rauskommt. Da kam dann irgendwie ein Mann, der war ganz ungeduldig. Der sah dann irgendwie, dass wir so hilflos waren. Der hat für uns bezahlt, damit er sein eigenen Parkschein kriegt. Ämm, in so einem Zustand sollte man sich ja nicht ans Steuer setzen.« (Int. 13, 42)
In Harriets Aussage wird deutlich, dass es für viele Frauen nach der Diagnose im Schock wichtig ist, Kontrolle zurückzugewinnen, und dass nach dem Zusammenbruch zunächst Alltagshandlungen zu bewältigen sind: Information des Partners, nach Hause kommen, Organisation der Kinderbetreuung uvm. Harriet fasst ihre Wünsche für die Zeit nach der Diagnosemitteilung dabei so zusammen: »Also was für mich so ne Frage war, ich dachte, was mir wirklich gut getan hätte, wenn der gesagt hätte, ›Lassen Sie uns jetzt gemeinsam überlegen, was wir jetzt für Sie und Ihr Kind tun können. Aber so dieses mein Kind einbeziehen, mein Mann und auch die andren Kinder in den Blick zu kriegen.« (Int. 13, 41).
Sie wünscht sich demnach eine empathische Haltung des Diagnostikers, einen ganzheitlichen Blick auf die Situation, die Überlegungen, was weiter geschehen soll, sollen gemeinsam stattfinden. Die wenigsten Frauen erinnern sich allerdings daran, mit der Diagnosemitteilung Hinweise oder Kontaktadressen von Beratungsstellen erhalten zu haben. Das Beratungsangebot bezieht sich nahezu ausschließlich auf die Vernetzung mit humangenetischen Instituten. Karin: »Also, naja, erstmal sind wir total unter Schock gestanden und haben dann überlegt, wie an wen wir uns jetzt wenden können, der uns jetzt da unterstützt. Es wird einem an der Klinik gesagt, man kann so eine humangenetische Beratung machen. Des ham wir dann auch, haben wir relativ schnell einen Termin bekommen. War uns aber nicht hilfreich. Weil wir dann einen Chromosomensatz vorgelegt bekommen haben, es war uns nicht hilfreich, weil wir immer noch nicht glauben konnten, dass des so ist.« (Int. 9, 15–17)
10.2.5 Strategien: Kontrolle erlangen Nach dem Verlust jeglicher Struktur und jedes Sicherheitsgefühls ist das primäre Ziel der Frauen, wieder ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen. Zum einen geht es darum, das verlorene Selbst wiederzufinden, wieder Orientierung zurückzugewinnen. Rückzug, um ein Kontrollgefühl zu erlangen Für viele der Frauen ist der Rückzug aus der als nicht unterstützend und teilweise auch bedrohlich empfundener Umgebung der Diagnosemitteilung in die ihnen vertraute Umgebung des eigenen Zuhauses ein wichtiger Schritt, um das
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Gefühl von Kontrolle zurückerlangen zu können. In diesem Prozess des Orientierungs-Wiederfindens sind für manche Frauen andere Menschen als Koordinaten wichtige Unterstützung; durch Gespräche und das Teilen von Gefühlen kann der eigene Standpunkt (wieder) gefunden werden. Diese Orientierungshilfe kann aus unterschiedlichen Richtungen kommen, bei Harriet beispielsweise von den Erzieherinnen des Kindergartens ihrer älteren Kinder : »Und was mir total ne Hilfe war, war die KITA von meinen Kindern. Also die ham dann erstmal gesagt, ämmm, dass die Kinder da den ganzen Tag bleiben können. Da hat mein Mann die morgens mit, wenn er zur Arbeit is, und abends abgeholt. Und wenn ich dann da hingegangen bin, die hatten immer Zeit. Die ham mir dann extra einen Stuhl geholt, damit ich mich nicht auf diese Kinderstühle setzen muss und ham mir dann einen Kaffee angeboten. Da konnt ich immer reden und es war immer jemand da, dem ich des erzählen konnte und die dann mit mir betroffen waren und die dann zeitlich auch so / die mir gesagt ham, wie sie das sehen, was das in ihnen für Gefühle auslöst. Das war unheimlich wichtig für mich, weil ich da irgendwie mich selber wieder orientieren konnte.« (Int. 13, 42)
Für andere Frauen ist es hingegen so, dass sie sich als Paar zurückziehen, in eine Art Klausur gehen. Nach dem akuten Schockerleben bei der Diagnosemitteilung mit Symptomen wie Erinnerungslücken folgt eine Zeit, in der sie versuchen, das Unvorstellbare zu begreifen. Rabea beschreibt diese Zeit als drei Tage, in denen sie als Person, als Paar und Familie lahmgelegt waren. Die Hauptschwierigkeit besteht für sie darin, wieder klar denken zu können. Ihr bereits geborenes Kind bringt sie für drei Tage bei den Großeltern unter, ihr Partner nimmt sich Urlaub, sie ziehen sich als Elternpaar somit gemeinsam für diese drei Tage zurück. Begreifen wollen, um Kontrollgefühl zu erlangen Ein weiterer wichtiger Aspekt für das Gefühl der Kontrolle ist das Bedürfnis, die Diagnose zu begreifen. Für Ursel, die die Diagnose telefonisch freitagnachmittags erhält, ist es so, dass sie zunächst nicht glauben kann, dass ihr Kind wirklich dieses Syndrom hat. Es beginnt eine Zeit des Informationen-Suchens, und wie bei vielen anderen Frauen ist der Weg, um zu diesen Informationen zu gelangen, das Internet. Die Art der Informationen ist dabei sehr unterschiedlich, ob die Frauen zufällig auf Seiten von Selbsthilfegruppen wie Leona e.V. oder Anenzephalie-Info mit positiven Darstellungen und nicht-medizinischen Fotos von Kindern in ihrer familiären Umgebung stoßen oder auf Fachvorträge und Pathologiefotos, ist dabei dem Zufall überlassen. Ursel empfindet die Informationen als »furchtbar« und beschließt, sich von dieser Art der Information abzugrenzen, um das innere Bild, das sie von ihrem Kind hat, nicht negativ zu beeinflussen. Ursel:
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»Ich war da sehr, sehr verzweifelt. Weil ich dacht hab, des gibt’s doch garnet, des kann doch garnet wahr sein. Also so dieses nicht stimmen (…) Und Freitag war des dann. Wir ham uns dann übers Internet, der (Name des Partners) hat sich dann hingesetzt, übers Internet was erfahren. Und ich hab das nur einmal durchgelesen und nie mehr angeschaut, auch hinterher net. Weil ich mir dacht hab, des war so furchtbar diese Information. Wo ich mir dacht hab, was wächst in mir da ran? Des kann doch net stimmen. Ich wollt / ich wollte net mich grausen.« (Int. 20, 33–35)
Ein Weg zum Begreifen-Können stellt das Suchen nach Informationen dar, wobei die Frauen abwägen, welche Informationen sie wissen wollen und welche Informationen oder Bilder eine zusätzliche Belastung darstellen. Während Ursel bewusst auf einen Teil der für sie zugänglichen Informationen verzichtet, sich von diesen fernhält, empfinden andere Frauen es als schwierig, überhaupt an Informationen zu gelangen. Neben der Häufigkeit des jeweiligen Syndroms können es auch die fehlenden individuellen Ressourcen sein, die den Zugang zu Informationen erschweren. So ist es für manche der Frauen schwer an Informationen zu gelangen, da sie keinen Internetanschluss31 oder wenig Kontakte haben. Oft ergeben sich Hilfsstrukturen auch durch Zufall, wie bei Johanna, die bereits vor der endgültigen Diagnose von einer Hebamme, die auf die Begleitung von Totgeburten spezialisiert ist, betreut wird. Der Kontakt entsteht zufällig durch eine Freundin, die beruflich Kontakt mit einer Hebamme hat: »Dann hab ich mit meiner Freundin telefoniert und gsagt: ›Du des sieht einfach scheiße aus nach der (Name der Chromosomenanomalie) und pipapo‹. Und dann hat sie gsagt: ›Du, bei uns is a Hebamme, die hau ich mal an.‹« (Int. 5, 11)
Bei anderen Frauen ist es so, dass sie bereits durch die Pränataldiagnostikerin bzw. den Pränataldiagnostiker in ein Netzwerk von möglichen Informationsquellen eingebunden werden und sich diese nicht selbst erarbeiten müssen. So erhält Dorothee bereits nach der Durchführung der Amniozentese, also noch vor der eigentlichen Diagnosemitteilung, umfangreiche Kontaktadressen. Für Dorothee ist es durch dieses Netzwerk bereits in der Wartezeit bis zum endgültigen Amniozenteseergebnis möglich, Klarheit zu erlangen und mit ihrem Partner die Entscheidung zum Weiterführen der Schwangerschaft zu treffen: »Und dadurch dann auch, die (Anm.: Sie bezieht sich hier auf die Pränataldiagnostikerin) ist damals in so einem Qualitätszirkel gewesen, hat uns dann auch ganz viele Adressen gegeben, wo wir uns hinwenden können. Und ich hab halt, in diesen zwei Wochen / ich glaub, ich hab alles abtelefoniert und alles abgeklappert. Alles. Was man nur machen kann. Ich hab bei ner Stillborn Gruppe, ner Regionalgruppe hier, so ner Selbsthilfegruppe und die hat mir dann alles Mögliche über Beerdigung und so weiter 31 Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass manche der betroffenen Schwangerschaften länger zurückliegen. Manche der Betroffenen hatten damals keinen Internetzugang zu Hause.
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und so weiter erzählt. Und dann hab ich bei Leona e.V. hab ich angerufen. Ob die Leute haben hier in der Gegend oder Leute kennen, wo man die Leute besuchen kann, die noch ein lebendes (Name der Chromosomenanomalie) Kind haben oder was auch immer. Also alles. Wir waren dann noch bei ner Beratungsstelle.« (Int. 16, 7–11)
Wichtig erscheint an Dorothees Geschichte, dass sie von ihrer Pränataldiagnostikerin Zugang auch zu »nicht-medizinischer Information«, also Selbsthilfegruppen und Beratungsstelle erhält. Dies unterscheidet Dorothees Erleben von dem vieler anderer im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen, die sich häufig diese Kontakte im Schwangerschaftsverlauf selbst erschließen müssen. Ob diese Besonderheit mit der Teilnahme der Ärztin an einem Qualitätszirkel erklärt werden kann, ist spekulativ, wobei diese Teilnahme sicherlich nicht von Schaden für die interdisziplinäre Vernetzung ist. Für Dorothee stellen diese Kontakte und das Aktivwerden zum einen eine Möglichkeit dar, mit der Wartezeit bis zur eigentlichen Diagnosemitteilung umgehen zu können. Diese gebündelten Kontaktadressen versetzen sie in die Lage, eine eigenständige, individuelle Wahl, welche Informationen sie für notwendig erachtet, zu treffen. Gleichzeitig zeigt Dorothees Erfahrung aber auch, dass die Übergabe einer solchen Liste von den Frauen in einer Situation großer emotionaler Belastung Eigeninitiative erfordert. Dies mag für andere Frauen als Dorothee auch eine Überforderungssituation darstellen. Das Eingebundensein in den Qualitätszirkel, in dem die Pränataldiagnostikerin mitarbeitet, ermöglicht Kontakte auch zu nicht-medizinischen Informationsinstanzen wie Selbsthilfegruppen und anderen Betroffenen. Die Begleitung durch eine Psychologin und auch das Einbinden von Familie und Freunden empfindet sie als hilfreich. Retrospektive Kontrolle – Schuldgefühle und die Suche nach Ursachen Als ein weiterer Aspekt des Gefühls, Kontrolle haben oder zurückgewinnen zu wollen, kann auch die Suche nach Ursachen für die Fehlbildung des Kindes gesehen werden. Auch Schuldgefühle haben in gewissem Sinn den Zweck, Kontrollgefühl zurück zu gewinnen. Das Bild von der Welt, welches durch die Diagnose unkontrollierbar erscheint, vom Gefühl, dominiert wird, dem Schicksal ausgeliefert zu sein, kann durch die Gedanken »wenn aber, dann wäre alles gut« abgeschwächt werden. Schuldgefühle und Zuweisung an die eigene Verantwortlichkeit für das Geschehen lassen die Situation als etwas erscheinen, was zumindest retrospektiv beeinflussbar erscheint, etwas, dem die Frau nicht hilflos ausgeliefert ist. Vergleichbar ist dies mit Reaktionen von Verbrechensopfern, die durch Überlegungen, wie das eigene Tun die Situation hätte anders
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ausgehen lassen können, in gewissem Sinne retrospektiv Kontrolle über die Situation zurückgewinnen. Harriet sieht die Ursache für dieses Schicksal zunächst in ihrer mangelnden Freude über die Schwangerschaft, die zur Unzeit mitten in ihrem Ausbildungsabschluss eintritt. Sie rechnet zurück, erkennt, dass die Schädelfehlbildung bereits zu einem Zeitpunkt eingetreten ist, als sie noch nichts vom Bestehen der Schwangerschaft wusste und sucht weiter nach Erklärungen. In einem persönlichen Gespräch nach dem Interview sieht sie eine mögliche Ursache in ihrer emotionalen Belastungssituation, weil ihr Vater zu Beginn der Schwangerschaft plötzlich schwer erkrankt war. Johanna sucht ebenfalls nach einer Ursache für die Fehlbildung und sieht sie in einer Untersuchung mit Vollnarkose zu Beginn der Schwangerschaft, da ihr Alter (eine andere mögliche Erklärung für sie) nicht als Ursache infrage kommt, da sie zu jung ist, nicht unter den Altersrisikobegriff fällt: »Weil ich hatte ne Vollnarkose und hab danach beruhigende Medikamente ghabt und hab da, wo ich gedacht hab, ich bin schwanger und dann so, ja war des vielleicht die Ursache? Oder weil der Humangenetiker dann au mal gsagt hat, ja normalerweise sind sie zu jung für so was. Des trifft eigentlich nur ältere Frauen, und ja.« (Int. 5, 11)
Die Fehlbildung kann es eigentlich nicht geben, sie hat nichts falsch gemacht, sie ist nicht alt – es muss aber doch einen Grund für das Unfassbare geben. 10.2.6 Zwischenfazit der Phase »Diagnosemitteilung« Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse der Phase »Diagnosemitteilung« zusammengefasst dargestellt werden und am Ende in eine Darstellung weitergeführt werden, was von den befragten Frauen als unterstützende Betreuung erlebt wurde. Die Diagnosemitteilung kann aus heiterem Himmel völlig unerwartet stattfinden oder ihr kann bereits ein langer Weg der Suche nach einer Diagnose vorangehen. Bei manchen Frauen liegt sie im ersten Schwangerschaftstrimester, bei anderen wird die Diagnose erst sehr spät, wenige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, gestellt. Die Diagnosemitteilung löst eine Schockreaktion aus, die sich in zwei Abschnitte einteilen lässt: der ersten akuten Reaktion unmittelbar bei Mitteilung, und der zweiten Reaktionsfolge, der Einwirkphase, in der die Frauen versuchen, die Diagnose zu begreifen. Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse der gesamten Phase »Diagnosemitteilung« zusammengefasst dargestellt werden. 1. Erwartungen an und Erleben der Untersuchungssituation unterscheiden sich stark – die Erwartungen prägen das Erleben der Untersuchungssituation. Manche Frauen suchen nach Bestätigung der Normalität, wollen das Kind
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sehen, schöne Ultraschallbilder haben, während andere, die bereits mit verdächtigem Vorbefund konfrontiert sind, auf eine Bestätigung der verlorenen Normalität hoffen. Dabei spielt auch der Grad an Informiertheit über den Verdachtsbefund eine Rolle. Bei anderen ist der Vorbefund so gravierend, dass sie sich aus der Untersuchung Klarheit erhoffen. Ablauf der Untersuchung: Der Grad der Eingebundenheit in den Untersuchungsablauf unterscheidet sich stark. Manche Frauen erleben eine »schweigende« Untersuchung und versuchen, das Ergebnis am Gesichtsausdruck abzulesen, während andere Frauen sich in den Untersuchungsablauf eingebunden wahrnehmen. Manche der Frauen nehmen sich als »Untersuchungsobjekt« wahr, über das gesprochen wird und das nicht in den Ablauf eingebunden ist. Gestaltung des Mitteilungsgesprächs: Die Diagnosegesprächssituationen, in denen die Frauen sich finden, sind heterogen. Manche Frauen erleben die Mitteilung nicht als gleichwertig angesprochen werden, sondern noch während sie sich in einer intimen oder öffentlichen Situation befinden, dagegen wird bei Anderen eine Gesprächssituation »in Augenhöhe« hergestellt. Zentral erscheint die Wahrnehmung der Haltung des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin als wertschätzend. Schock durch die Diagnose: Die Mitteilung der Diagnose wird als Einschnitt erlebt und kann bei den Frauen und ihren Partnern zu körperlichen und psychischen Symptomen führen, im Einzelfall kann dies bis hin zur Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsreaktion reichen. Verknüpfung von Diagnosemitteilung und Abbruchsangebot: Viele der Frauen erleben die Verknüpfung von Diagnosemitteilung und Abbruchsangebot als Implikation einer Abbruchserwartung. Zentral ist dabei im Erleben der Frauen auch die Selbstverständlichkeit, mit der von einer Entscheidung zum Abbruch ausgegangen wird und die sich beispielsweise in Formulierungen wie »Lösung« anstelle von »Schwangerschaftsabbruch« zeigt. Auch die Verdinglichung des Kindes, ein Sprechen über das Kind als Diagnose wird von den Frauen als solche Abbruchserwartung verstanden. Erste Reaktion: Kontrollverlust, Fluchtreflex und Abbruchsimpuls: Manche der hier befragten Frauen beschreiben als erste Reaktion einen Fluchtreflex, sie wollen weg aus der Diagnosesituation. So beschreiben einige der Frauen einen ersten Impuls, die Schwangerschaft sofort beenden zu wollen. Strategie Kontrolle zurückgewinnen: Die Frauen versuchen, Kontrolle und Stabilität zurückzugewinnen, manche durch Rückzug allein oder mit dem Partner, andere im Austausch mit Freunden und Familie. Ein wichtiger Faktor dabei ist das Suchen nach umfassenden Informationen, wobei manche Frauen abwägen und bestimmte Informationen wie etwa medizinische Bilder vermeiden.
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Positiv erlebte Betreuungssituationen – Beispiele für Good Practice Frauen fühlen sich aufgehoben in der Betreuungssituation, wenn sie sich in den Untersuchungsablauf eingebunden fühlen und das Diagnosegespräch »in Augenhöhe« stattfindet. Das Empfinden von Empathie und Authentizität auf der Seite des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin ist dabei ein zentraler Aspekt. Frauen wünschen sich, dass die Situation vom Diagnostiker bzw. der Diagnostikerin ganzheitlich behandelt wird und auch Partner und Geschwisterkinder mit in den Fokus genommen werden. Auffangende Angebote direkt im Anschluss an die Diagnosemitteilung, wie die Möglichkeit im Anschluss an das Mitteilungsgespräch mit einer Psychologin zu sprechen, werden als positiv erlebt. Auch die Vernetzung mit Hilfsstrukturen wie Beratungsstelle, Hebammen oder Selbsthilfegruppen erleben die Frauen positiv.
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Die Zeit nach der Diagnose als Neuausrichtungsprozess
Aus den Daten ergibt sich, dass die Frauen einen Prozess der Entwicklung einer eigenen Verlaufsprognose, einen Neuausrichtungsprozess nach der Diagnose bewältigen, der eng mit der Entscheidungsfindung verwoben ist. Manche Frauen können erst nach der Entscheidungsfindung eine eigene Verlaufsprognose entwickeln, für andere Frauen ist eine eigene Verlaufsprognose die Basis für die Entscheidungsfindung, bei anderen findet die Entscheidungsfindung während des Entwicklungsprozesses einer eigenen Verlaufsprognose statt. Der Zeitraum, den diese Neuausrichtung in Anspruch nimmt, wird von einigen der Frauen als losgelöst vom Schwangerschaftsverlauf, als angehaltene Zeit im luftleeren Raum wahrgenommen. Das Leben steht still, Kindsbewegungen werden möglicherweise nicht wahrgenommen oder besonders bewusst gespürt, die Frau oder das Paar zieht sich von der Welt zurück. Diese Neuausrichtung umfasst die Entwicklung einer eigenen individuellen Zukunftsprojektion, einer eigenen Verlaufsprognose, die sich von der medizinischen Verlaufsprognose unterscheidet. Bis zur Diagnose sind die Frauen »guter Hoffnung«. Vorsorgeuntersuchungen bestätigten den normalen Verlauf und geben einen zeitlichen Rhythmus des Schwangerschaftsverlaufs vor. Bestimmte Rituale, wie regelmäßige Vorsorgeuntersuchungstermine (»Vorsorge« legt nahe, dass ungünstige Verläufe vermeidbar sind, wenn Vorsorge getroffen wird), die Einnahme von Substituten, das Achten auf eine gesunde Ernährung etc. suggerieren die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Kontrolle über den Verlauf der Schwangerschaft. Die Diagnose und der Schock werden von den befragten Frauen wie eine Naturgewalt erlebt. Die Natur fegt gewaltsam die vorsorgenden Versuche der
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»Zivilisierung«/»Kultivierung« durch die Medizin hinweg32. Die Frauen benutzen dabei Metaphern, die an die Zerstörung durch Naturkatastrophen wie Erdbeben erinnern, bei denen das Zusammenbrechen der umgebenden Lebenswelt zu Verlust von Orientierung und Struktur führen. Viele Frauen beschreiben die Mitteilungssituation ähnlich wie Elke, die sagt: »Da ist dann schon so eine Welt zusammengebrochen.« (17a, 15)
Anne beschreibt es als völliges Wegfallen von Perspektive: »Also, am Anfang (…) Ne, ich hab dacht, ich bekomm ja kein Kind, es wird entweder tot geboren oder stirbt noch im Bauch. Ein Großteil von Schwangersein war wahrscheinlich Vorfreude und Nestbauen, ich weiß nicht, ich / des is so alles mitgefallen.« (Int. 1, 84)
Der Neuausrichtungsprozess kann mit einem Wiederaufbau verglichen werden, bei dem es auch darum geht, sich eine neue Perspektive zu erarbeiten. »Recasting Hope«33 Während dieser »Neuausrichtung« kommen die Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu ihrer Entscheidung, die Schwangerschaft fortzusetzen. Am Ende dieses Prozesses haben viele der Frauen eine eigene Verlaufsprognose entwickelt: sie haben eine Vorstellung davon, wie sie den weiteren Schwangerschaftsverlauf leben und gestalten können und wie sie die Geburt, den Abschied und das Sterben erleben wollen. Ein zentraler Aspekt liegt dabei auf dem Neudenken der Kindkonzeption. Hierbei geht es um das Finden, Definieren eines individuellen Personenbegriff: Was bedeutet dieses Kind generell für mich, ab wann sehe ich es als »vollständiges« Kind und verändert sich dieser Personenbegriff durch die Behinderung des Kindes für mich? Zusätzlich geht es auch um die Positionierung des Kindes im sozialen Umfeld und der Familie, inwieweit die Schwangerschaft bereits offen gelegt ist oder die Behinderung des Kindes nach außen kommuniziert wird. Ein weiterer zentraler Aspekt liegt auf der Beschäftigung mit existenziellen Fragen zum Selbst, eigenen Werten und dem Lebensverlauf (Biografie). Die »gute Hoffnung« auf ein Leben mit einem Kind ist unwiederbringlich zerstört und muss durch eine neue Perspektive des Erlebens der Schwangerschaft und der Planung des Abschiednehmens ersetzt werden. Diese selbst 32 Vielen Dank an Kathrin Aghamiri für die Unterstützung bei der Entwicklung dieser Gedanken. 33 Ich übernehme den Begriff des »Recasting Hope« von Lalor et al. (2009), die damit den Adaptionsprozess nach der Diagnosestellung einer kindlichen Fehlbildung beschreiben. Während sie den gesamten Prozess als »Recasting Hope« bezeichnen, sehe ich in meinen Daten »Recasting Hope« als Teilaspekt des Neuausrichtungsprozesses nach der Diagnosestellung »Nichtlebensfähigkeit«.
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entwickelte Verlaufsprognose der Frauen steht von nun an anstelle des »guter Hoffnung seins« in der Schwangerschaft vor der Diagnose. Wie in der Schwangerschaft vor der Diagnose, in der das Ziel ein guter Ausgang der Schwangerschaft, ein gesundes Kind war, entwickeln viele der Frauen auch nach der Diagnose im Neuausrichtungsprozess Wunschvorstellungen für den weiteren Schwangerschaftsverlauf. Im Zentrum stehen bei vielen der Frauen dabei die Beziehungsgestaltung zum Kind und die Integration dieses Kindes in die Familie und die »irdische« Welt. In diesem Neuausrichtungsprozess geht es für die Frauen auch um das Neufinden einer Zukunftsausrichtung, einer eigenen Verlaufsprognose, die dem medizinischen Leidensszenario entgegengesetzt werden kann, die vielleicht sogar erlaubt, auf etwas zu hoffen, dass das Erleben erträglicher machen könnte. Für eine der Frauen ist es ihr Glaube und ihr Vertrauen, dass Gott den Verlauf steuert, der sie auf eine Heilung des Kindes hoffen lässt. Manche Frauen entwickeln Hoffnung auf etwas, was anstelle des »guter Hoffnung seins«, des normalen Schwangerschaftsverlaufs treten kann. Dies kann die Hoffnung auf einen würdigen Abschied, eine schöne Geburt und als zentrale Kategorie, die Hoffnung auf ein kurzes Überleben des Kindes nach der Geburt sein.
10.3.1 Entwicklung einer eigenen Verlaufsprognose und Entscheidungsfindung als Prozess Aus den Daten lässt sich ein prozessualer Verlauf dieses Entwicklungsprozesses ableiten. In meinem Modell ist dieser Prozess ein mehrstufiges Modell, dass vom Gefühl der »Nichtpassung«, der medizinischen Verlaufsprognose und Behandlungsempfehlung, wenn keine Alternativen zum Abbruch der Schwangerschaft aufgezeigt werden, über verschiedene Entwicklungsstufen, in deren Verlauf die Entscheidung getroffen wird, zur Entwicklung und Gestaltung einer eigenen Verlaufsprognose führt. Dieser Prozess ist dynamisch, das heißt, das nicht alle Phasen von allen Frauen in gleicher Intensität erlebt werden, dass es Unterschiede in der zeitlichen Dimension der Phasen gibt, dass es ein Hin und Her geben kann, die Phasen nicht statisch festgelegt sind. Einfluss auf diesen Prozess haben intervenierende Bedingungen, die in den persönlichen Ressourcen, aber auch in den strukturellen Rahmenbedingungen verankert sind, wie eigene Erfahrungen, Partnerschaft, Umfeld, Betreuungssystem und der Zugang zu alternativen Unterstützungsnetzwerken und auch Prozessoren, deren Rolle ich im Verlauf näher erklären werde. Auf der Subjektebene wichtiger Einflussfaktoren sind die Positionierung zum Selbst, zu Werten und Haltungen und Emotionen, der Umgang mit dem eigenen
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Kontrollbedürfnis, Kindkonzeptualisierung und die Kontextualisierung der Auswirkungen der jeweiligen Entscheidungsoption. Im Folgenden werden zunächst Aspekte der Entscheidung dargestellt und auch Veränderungsprozesse und Entwicklungen dieser Aspekte aufgezeigt. Danach folgt eine kurze Darstellung der Phasen des Neuausrichtungsprozesses. Zwischen Norm und Pionierinnenentscheidung Viele Frauen haben das Gefühl zwischen »Pest und Cholera«, wie Anne es ausdrückt, wählen zu müssen, zwischen den Dichotomen der Optionen gefangen zu sein. Zwischen der Norm des Abbruchs, die strukturell im medizinischen System verankert zu sein scheint, dem was alle anderen tun, das aber gleichzeitig auf gesellschaftlich-moralischer Ebene vielen Grundprinzipien widerspricht: dem Tötungsverbot und der gesellschaftlichen Ächtung von Schwangerschaftsabbruch, über den nicht gesprochen wird, dem gesellschaftlichen Imperativ, dass eine Mutter ihr Kind bedingungslos annehmen und lieben sollte. Auf der anderen Seite stellt die Entscheidung zum Weiterführen der Schwangerschaft in gewisser Weise eine »Pionierinnenentscheidung« dar. Pionierinnenentscheidung meint zum einen, dass es für die Entscheidung für die Frauen meist keine »Vorbilder« gibt. Der Weg, die Schwangerschaft auszutragen, erscheint als ein Weg, den sie als erste begehen, der schwer ist und Mut erfordert. Sie haben das Gefühl, allein mit ihrer Entscheidung zu sein. Es gibt keine Gruppe, der sich die Frauen in diesem Moment zugehörig fühlen, der Zugang zu anderen Betroffenen gelingt meist erst im weiteren Verlauf und muss erarbeitet werden. Der Charakter der Schwangerschaft als Übergangsphase ändert sich in dem Sinne, dass Rituale, die eine gewisse Sicherheit und Struktur geben, diesem Zeitraum Schwangerschaft, der an sich schon durch Unsicherheit geprägt ist, hinfällig erscheinen und die Zugehörigkeit zur Gruppe der Schwangeren zumindest in Frage gestellt wird und neue Strukturen und Rituale erschlossen werden müssen. So setzen viele der Frauen Rituale, wie etwa die Einnahme von Substituten im Entscheidungszeitraum aus, nehmen diese dann nach der Entscheidungsfindung wieder ein. Entscheidungstypen Es gibt Frauen, die sehr rasch im Prozess zur Entscheidung kommen, die Schwangerschaft fortzusetzen, während sich bei anderen Frauen die Entscheidungsfindung über viele Wochen erstrecken kann. Aber auch die Frauen, die rasch zu einer Entscheidung kommen, durchlaufen im Anschluss an die Entscheidung einen Prozess der Entwicklung einer eigenen Verlaufsprognose und gestalten diese. Wenigen Frauen ist die Entscheidung sehr rasch nach der Diagnosemitteilung
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noch in der Praxis klar und sie können dies schon artikulieren. Andere Frauen kommen bereits innerhalb weniger Stunden oder innerhalb der ersten durchwachten Nacht nach der Diagnosemitteilung zu einer Entscheidung. Für eine weitere Gruppe Frauen erstreckt sich die Entscheidungsphase jedoch über einen bis zu mehreren Wochen dauernden Zeitraum hin. Sie beschreiben den Prozess als »Ringen um eine Entscheidung« (Ursel), als »Hin und Her« (Friederike), ein Suchen nach der richtigen Entscheidung. Am Ende dieses Hin und Her steht aber eine klar formulierte Entscheidung für das Weiterführen der Schwangerschaft. Für andere Frauen ist es nicht so, dass es einen bestimmten Zeitpunkt gibt, an dem sie ihre Entscheidung formulieren, sondern dass sie die Entscheidungsfindung mehr als ein Hineinwachsen, ein sich Gewöhnen an den Gedanken des Weiterführens erleben. Sie erleben sich in einem Prozess, in dessen Verlauf der Gedanke an die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruches immer abwegiger wird. Diese Frauen spüren immer wieder, dass jetzt, in diesem speziellen Moment der Abbruch nicht möglich ist; beispielsweise gibt es Frauen, die vereinbarte Termine für den Schwangerschaftsabbruch immer wieder absagen. Durch dieses Aufschieben kommt es mehr und mehr zu einer Verschiebung der Entscheidung hin in Richtung des Weiterführens, zu einem Vertrautwerden mit dem Gedanken an das Weiterführen der Schwangerschaft. Manche Frauen können die Entscheidung gegen einen Schwangerschaftsabbruch nur auf Abruf treffen, vorläufig. Die Möglichkeit zu haben, die Schwangerschaft abbrechen zu können, wenn sie die Situation nicht länger ertragen könnten, ist für sie die Voraussetzung, um die Schwangerschaft weiterführen zu können, sich einlassen zu können.
10.3.2 Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung Das eigene Konzept vom Kind als Entscheidungsgrundlage Ein wichtiger Einflussfaktor im Entscheidungsprozess ist das eigene Konzept vom Kind: Bedeutungszuschreibungen zur Behinderung des Kindes, Gedanken zur Eingebundenheit des Kindes in den Familienverbund und die eigene Haltung zum Kind (also inwieweit das Ungeborene als »fertiges Kind« gesehen wird, ob es als Wunschkind gesehen wird, wie die Beziehung zu diesem Kind gestaltet wird). Hier kann auch der Zeitpunkt der Diagnosestellung eine wichtige Rolle spielen: ein später Zeitpunkt bedeutet ein »schon so fertiges Kind«, wie Marlene es formuliert, die in der 32. Schwangerschaftswoche die Diagnose einer Chromosomenstörung bei ihrem Sohn erhält. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre die Entscheidung schwieriger gewesen oder hätte auch anders ausfallen können, doch jetzt ist das Kind schon so groß, sie spürt seine Bewegungen deutlich. Für
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andere Frauen ist das Kind von Anfang an ein Mensch, sie stellen sein Existenzrecht nicht infrage. Abhängig von der Ausprägung der Fehlbildung, dem Grad der Beeinträchtigung von Gehirn und Sinnesorganen stellen sich einige der Frauen auch Fragen zur Fähigkeit des Kindes, zu Sinnes- und Gefühlswahrnehmungen. So fragt sich Harriet, deren Kind eine schwere Hirnfehlbildung hat, ob ihr Sohn überhaupt weiß, dass sie seine Mutter ist, wenn er sie sieht, ob er sie erkennen kann. Das ist zum einen die Frage nach der Sinneswahrnehmung, aber auch die Frage danach, ob ich »Mutter dieses Kindes« sein kann, denn Mutter sein ist ja auch eine soziale, interaktive Angelegenheit. Wieder andere Frauen beschreiben die Bindung, die sie zu ihrem Kind spüren, als Entscheidungsgrundlage. Durch die Diagnose erleben sie die Infragestellung dieser Bindung von außen, eine Erschütterung, die jedoch das Fundament dieser Bindung nicht zerstört. So beschreibt Lilly ihre erste Reaktion auf die Diagnosemitteilung als Impuls, einen Abbruch durchführen zu wollen. Dieser Impuls bezieht sich auf das eigene Erleben der Situation, es ist nicht ihr Kind, das sie »abbrechen« will, sondern »das«, die als unerträglich empfunden Situation: »Ich weiß irgendwie, dass ich, also so der erste Impuls war zu sagen, oh Gott, ich brech das sofort ab. Ich hör sofort auf damit. (…) Und dann erst so beim zweiten Nachdenken, wo ich so dachte, ach Mensch, aber du hast se ja immer noch lieb.« (Int. 15, 15–17)
»Das« will sie abbrechen, aber ihre Gefühle für »sie«, ihre Tochter, sind unverändert. Mit der Wiederbesinnung auf das Wesen ihrer Beziehung zu diesem Kind ist der Gedanke an Abbruch für sie hinfällig. Andere Frauen erinnern sich, dass sie direkt nach der Diagnosemitteilung den Wunsch oder die Hoffnung hatten, das Kind könne einfach sterben, sich selbst Leid ersparen und die Mutter von der Entscheidungslast befreien, wie Ursel erzählt: »Und am Anfang, wo ich die Diagnose so erhalten hab, also diese drei Wochen hat es fast gedauert bis wir zu dieser Entscheidung gekommen sind, ja, wir gehen diesen Weg, so wie wir ihn gegangen sind (….) ää, wars ganz viel, wo ich mir gedacht hab, hoffentlich stirbst du jetzt liebes Kind. Stirbt einfach, dann ist des alles vorbei und gut. Ich hab nur einfach gedacht, die soll in mir sterben und soll außen net leiden (unverständlich). Ich möchte einfach, dass so gut wie möglich, dass sie gehen kann. Und ämm (…) eben nachdem auch die Entscheidung getroffen war, eben nach den drei Wochen, da wollt ich überhaupt nicht mehr, dass sie stirbt. (…) Da wollt ich einfach, lass dir Zeit und (…) sei solang bei mir und genießt des und (…) wir versuchen, für dich da zu sein.« (Int. 20, 49–50)
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Ursels Wunsch an ihr Kind verändert sich mit dem Fortschreiten des Neuausrichtungsprozesses weg von der Angst vor dem Leiden des Kindes und dem Wunsch nach einem »in mir sterben« und »außen net leiden« hin zu einem anderen Bild, in dem die gemeinsame Zeit als etwas Lebenswertes, was das Kind genießen kann und in der die Eltern für dieses Kind da sein können, gesehen wird. Es gibt aber auch Frauen die eine Bindungsunterbrechung zum Kind direkt nach der Diagnosemitteilung beschreiben. Manche Frauen berichten, für einen gewissen Zeitraum keine Kindsbewegungen mehr wahrgenommen zu haben. Wie Elke: »Am Anfang ja (…) also da hab ich ihn auch (…) also Tage nicht gespürt (…) Ich weiß nicht, ob des einfach dieser Schockzustand war, dass man das dann einfach nicht mehr wahrnimmt (…) oder ob man des Gefühl dafür verliert, einfach so. Schon wie abstößt fast eigentlich.« (Int. 17a, 35)
Auch die Vorstellung, ein Monster in sich zu tragen, wird von einigen der Frauen für die Zeit direkt nach der Diagnosemitteilung berichtet. So erzählt Anne von ihrer Vorstellung eines »Monsters«, durch die die Bindung zum Kind unterbrochen ist. Zwischen »Bauchgefühl« und dem Anspruch an eine rationale Entscheidung Für viele der Frauen ist das Hin und Her der Entscheidungsfindung ein Hin und Her zwischen dem eigenen Anspruch, eine rational begründbare Entscheidung treffen zu müssen, und dem Hören auf das eigene »Bauchgefühl«. Die Bedeutung des Begriffs »Bauchentscheidung« außerhalb der Schwangerschaft als Umschreibung einer Art inneren Intuition, muss in der Schwangerschaft erweitert gesehen werden, als Referenz auch an die eigene emotionale Bindung an den »Bauch«: die Schwangerschaft und das Kind34. Manche der Frauen finden keine rationalen Argumente für das Weiterführen. Gleichzeitig sträubt sich alles in ihnen dagegen, den Eingriff des Schwangerschaftsabbruchs vornehmen zu lassen. Wie Anne: »Ich hatte eigentlich keine Argumente fürs Austragen, es schien mir logisch, die Geburt sofort einzuleiten und dann gings einfach nicht, also des ( …).« (Int. 1, 58)
Anne fühlt sich schließlich in ihrer Entscheidung, die sie selbst als irrational wahrnimmt, unterstützt dadurch, dass sie vom Arzt »medizinische«, also ra34 Interessant erscheint mir der Verweis auf den Titel einer gemeinsamen Informationsbroschüre von Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotheraphie und Gesellschaft e.V. et al. (2011), »Bauchentscheidung – aber mit Köpfchen. Hintergrundinformationen zu vorgeburtlichen Tests«, das den Begriff der Bauchentscheidung verwendet, auch um an die Eigenverantwortung der Frauen zu appellieren.
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tionale Argumente erhält, mit denen sie die Entscheidung rational begründen und auch nach außen vertreten kann: »Und dann sind wir zu dem Gesprächstermin mit dem Chefarzt und der hat mich dann gefragt, ›Also, wie würden Sie aus dem Bauch jetzt entscheiden, wenn sie jetzt entscheiden müssten‹. Da hab ich gsagt, ›Warten‹. Und dann hat er des sofort total unterstützt und gsagt, er findet des mutig und ,amm, er unterstützt des, und auch aus gynäkologischer Sicht erscheints ihm am Besten auf a natürliche Geburt zu warten und jetzt da nicht auf einen bretterharten Muttermund einzuleiten mit Gewalt und ,amm, (…) da war ich total glücklich eigentlich, weil da hat ich so Unterstützung von medizinischer Seite und auch ein richtiges Argument, dass es auch für mich am besten wär als Frau und ab da wars dann entschieden.« (Int. 1, 61)
Unterstützend erscheint auch die Erlaubnis – so erlebt es jedenfalls Anne – dieses Bauchgefühl ernst nehmen zu dürfen. Dem Inneren folgen Friederike beschreibt den Prozess der Entscheidung als Entwicklungsgeschichte, als ein Finden der passenden Entscheidung. Die Entscheidung beschreibt sie als Wendepunkt, als Moment der Erleichterung, den für sie passenden Weg gefunden zu haben: »Ich glaube, ich wusste im Inneren schon länger, wie ich mich entscheiden wollte, doch hatte ich Angst davor, dazu zu stehen – entgegen der Erwartung anderer. Aber schließlich musste ich–ich persönlich – mit meiner Entscheidung leben. Als ich endlich meinem Innersten folgte, war ich richtig befreit.« (Int. 3, 132)
Für Friederike ist die Entscheidung ein Finden der eigenen inneren Stimme – die richtige Entscheidung sieht sie als etwas, das ihr bereits innerlich bewusst ist, bevor sie es auch rational annehmen kann. Dazu gehört für sie auch, diese Entscheidung unabhängig von den Erwartungen anderer zu treffen. 10.3.3 Strategien zur Entscheidungsfindung Entscheiden an des Kindes statt als zentrale Aufgabe des Mutter-Seins Manche Frauen drücken aus, die Entscheidung nicht für sich selbst, sondern für das Kind, an seiner statt, zu treffen. Dorothee sieht dieses Entscheiden-Müssen für eine andere Person als einen zentralen Punkt des Mutterseins an und zieht retrospektiv Parallelen zum Leben mit ihrem zum Zeitpunkt des Interviews fünfjährigen Sohn und den Entscheidungen, die sie in diesem gemeinsamen Leben zu treffen hat: »Und (…) auch dieses ständige Entscheiden-Müssen. Also / aber des ist ja eigentlich immer, wenn man jetzt ein Kind hat, also egal ob des jetzt so oder so ausgeht. Also ich
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merk des jetzt auch hier mit ihm (Anm: sie nimmt Bezug auf ihren fünfjährigen Sohn). Das immer vor diesen Entscheidungen stehn, was macht man jetzt. Und das eigentlich nicht für sich macht, sondern für jemanden anderes. Ja.« (Int. 16, 73)
Das Entscheidungen treffen müssen für das Kind ist in dieser Gedankenkonstruktion etwas, das bei allen Mutter-Kind-Beziehungen einen zentralen Aspekt dieses Mutter-Seins ausmacht und in der betroffenen Schwangerschaft einfach früher notwendig ist. Die Perspektive des Kindes einnehmen Um das Entscheiden-Müssen an des Kindes statt bewältigen zu können, versuchen manche der Frauen sich in die Situation des Kindes hineinzuversetzen. Eine Vorstellung vom Leben im Mutterleib ist schwer und so stellen sich die Frauen vergleichbare Situationen vor, auf die sich die für die Entscheidung relevanten Fragen übertragen lassen. Sie überlegen für sich, welche Wünsche sie in einer ähnlichen, vergleichbaren Situation haben könnten. Aus diesen eigenen Wünschen heraus entwickeln sie eine Vorstellung davon, was für das Kind ein guter Weg sein könnte, wie Ursel erzählt: »Und, ämm (…) dann war, also ich glaub, die ausschlagendste Frage überhaupt, die wichtigste Frage überhaupt wenn, wenn ich jetzt todkrank wär, Krebs oder irgendwas hätte, was würd ich mir wünschen? Das war die wichtigste Frage. Und dann hab ich mir gedacht, ich würd mir wünschen, dass meine Lieben da sind und ich net al.leine sterb (..) und ich würd mir wünschen ich könnt zu Hause sterben. (….) Und, äää (…) und des is dann so auch (….) für die (Name des Kindes) ham wir des so entschieden.« (Int. 20, 55–56)
Indem Ursel die Perspektive des Kindes einnimmt, wird es ihr möglich, die Entscheidung zum Weiterführen zu treffen und gleichzeitig bereits die Weichen für die Planung von Geburtsort und Sterbeort für ihr Kind zu stellen, eine Wunschvorstellung des Ablaufs zu entwickeln. Sie versetzt sich in die Position des Kindes. Der eigene Körper im Fokus: Entscheidung im Sinne des eigenen Körpers Für manche der Frauen wie für Elke, mit der ich noch in der betroffenen Schwangerschaft ein Interview führte, ist der Blick auf die eigene Körperlichkeit, auf das eigene Erleben ausschlaggebend für die Entscheidung. Sie sieht die Entscheidung als etwas, bei dem sie auch an sich denken muss. Körper ist ein maßgeblicher Teil ihres Identitätsbegriffs, Vertrauen in die Abläufe dieses Körpers prägen ihr Bild von Welt. Den Schwangerschaftsabbruch sieht sie als Eingriff in diese normalen Abläufe, sie zieht Vergleiche zu ihren Erfahrungen mit der Geburtseinleitung. Sie möchte weder eine künstliche Geburtseinleitung noch Medikamente. Ihre Erinnerung an das negative Geburtserleben bei der
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Geburt ihrer ersten Tochter und ihre Erinnerung an das Sterben ihrer Schwester auf einer Intensivstation, prägen ihr Bild von Klinik. Sie stellt den Abbruch mit der Einleitung einer natürlichen Geburt entgegen: Sie möchte nicht, dass in den normalen Ablauf eingegriffen wird. Die Entscheidung zum Weiterführen kann in diesem Zusammenhang auch als eine Entscheidung gegen die Medikalisierung von natürlichen Körpervorgängen gesehen werden, gegen die Verfügbarkeit des weiblichen Körpers: »Also (…) ich sag, für mich is es / für mein Körper is es ja auch das Natürlichste bis zum Ende (…) durchzumachen. Und irgendwo muss ich ja auch an mich denken. Also (……) weil (..) ne natürliche Geburt, das die Wehen natürlich kommen und nicht mit irgendeinem Wehentropf erzeugt wird (…) is, denk ich, immer noch das Schonendste für einen, als wenn man da (…) tagelang an nem Wehentropf hängt oder Medikamente nimmt, dass es losgeht (…..). Da geht der Muttermund womöglich nicht auf. Und dann hab ich ja schon den Kaiserschnitt. Nicht dass da irgendwas reißt oder passiert und dann sagen se schon, du kriegst Schmerzmittel, aber dann merkst du ja auch nicht mehr, ob jetzt mit deiner Narbe was nicht in Ordnung ist, weil man spürt se dann ja auch nicht. Und des war auch so ein Grund für mich wo ich sag, ne (….) ja, des möchte ich auch für mich jetzt einfach net. (….) Also da schieb ich jetzt dann noch den dicken Bauch vor mir her (lacht herzlich) und wart bis es dann wirklich natürlich losgeht.« (Int. 17a, 84)
Viele der Frauen ziehen sich aus der ärztlichen Schwangerenvorsorge zurück und neun der Frauen planen eine außerklinische Geburt. So wird Elkes Sohn am Termin in einem Geburtshaus geboren und stirbt dort in ihrem Arm. Die Geburt erlebt sie als Geschenk ihres Sohnes an sie, als schönste ihrer Geburten. Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung zum Leben Für andere Frauen ist auch die Besinnung auf das »Wer bin ich und wie stehe ich in der Welt.« ein wichtiger Punkt, auf dem ihre Entscheidung basiert. Bei Johanna ist es die Rückbesinnung auf die eigene Haltung: Sie definiert sich als »ein sehr natürlicher Mensch« und ihr Bild von Welt ist eines von Vertrauen haben. In der Welt sieht sie sich eingebunden in diese Natur, »die mir nix Böses (tut)«, die Rückbesinnung, das Wiederanknüpfen an dieses Vertrauen hilft ihr im weiteren Verlauf: »Ich hab an dem Abend, an dem nächsten Abend nach dieser Humangenetiker und vor der Fruchtwasseruntersuchung / kam die Hebamme, hat ein informatives Gespräch gehabt und an diesem Abend hab ich diese Kindsbewegung bewusst wahrgenommen und an dem Abend, ich hab zwar kurz gespielt mit einem Abbruch, hab dann aber gesagt, hey, Moment mal. Ich bin ein sehr natürlicher Mensch und ich sag mir halt, die Natur hat des schon / die tut mir nix Böses an, ich lass diesen Lauf und vor allem an dem Abend hab ich dann bewusst die Kindsbewegungen gespürt und hab dann gsagt, ne, des kann ich nicht. Und ich hab echt nur ein kurzen Augenblick da dran verschwendet, nen Abbruch zu machen.« (Int. 5, 22)
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Ein würdevoller Abschied, eine gute Erinnerung schaffen wollen Für manche der Frauen ist die Frage, wie sie sich von ihrem Kind verabschieden wollen und wie sie sich eine positive Erinnerung schaffen können, zentral im Entscheidungsprozess. Inkens Reaktion auf die Diagnosemitteilung ist die Gegenüberstellung der Abschiedsvorstellungen bei Schwangerschaftsabbruch und Austragen der Schwangerschaft: »Okay. Ich hab jetzt die Wahl, mein Kind zu beerdigen (…) oder mein Kind als Klinikmüll zu entsorgen.« (Int. 14, 15)
Für einige der Frauen ist der Wunsch nach einer würdevollen Verabschiedung ihres Kindes, für sie als Mutter, aber auch für die Familie und die Geschwisterkinder ein wichtiger Aspekt. Elke stellt das Bild eines »wirklichen Babys« dem Bild des Kinds bei einer Schwangerschaftsunterbrechung entgegen: »Und ich hab mir dann halt auch immer vorgestellt / ich mein, dann hab ich da so ein kleines Würmchen, des vielleicht 20 Zentimeter ist, Haut und Knochen. Wo man sagt, des is / des is vielleicht auch (…) dann noch ne schrecklichere Erinnerung, als wie wenn man dann jetzt ein wirkliches Baby in der Hand hält.« (Int. 17a, 87–89)
Ein wirkliches Baby bedeutet für Elke auch, dass die Geschwisterkinder Abschied nehmen können. Sie wünscht sich, dass das Kind einen Platz in der Welt erhält und nicht vergessen wird. Integration in die eigene Biografie Auch in Bezug auf die eigene Biografie nehmen die Frauen die Entscheidung als existenziell wahr. Sie versuchen, für sich abzuwägen, mit welchem Entscheidungsausgang sie »weiterleben« können, wie die Entscheidung sich in ihren gesamten Lebensverlauf integriert. Die Entscheidung wird dabei auch mit früheren prägenden Erfahrungen, wie etwa einer Fehlgeburt, in Zusammenhang gebracht. Es geht um Fragen des »woher komme ich, wer möchte ich sein«. Cosima: »Genau. Sich generell mit ethischen Problemen auseinanderzusetzen. Halt eine Lebenseinstellung zu haben. Und aufgrund der Einstellung kann ich au Entscheidungen treffen, hinter denen ich einfach auch steh. Ich war dann einfach relativ sicher, dass es des is, was ich will. Ich hab dann einfach mein Leben in einer Länge gsehen und mir dacht, mit was kann ich leben. Weil des Kind wirklich auch zu mir gehört, mein ganzes Leben lang. Und für mich war klar, dass ich mit einem Abbruch später schwerer leben kann als jetzt mit einem schweren Weg, für andere nicht nachvollziehbar, die sagen, warum tust du dir das an. Des ghört jetzt einfach zum Leben. A dreiviertel Jahr auch schwierig, aber es ist gut und es ghört zu mir. Vielleicht wars auch hilfreich, was heißt hilfreich. Also ich hab vorher scho a Schwangerschaft ghabt, die abgangen is, einfach zu wissen, des ghört zu mir des Kind. Des war mir bei der nächsten Schwangerschaft klar,
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des is net einfach weg, wenns weg is, sondern ist ein Teil von mir. Ein hilfreicher Punkt, die Entscheidung zu treffen, einfach zu wissen, des Kind ghört zu mir, egal wie ich mich entscheid.« (Int. 2, 121)
10.3.4 Partnerschaft im Entscheidungszeitraum »Ich wüsst net, ob ich des hätt tragen können. Ganz allein.« (Int. 20, 89)
Im Entscheidungsprozess spielt die Partnerschaft eine wichtige Rolle als Ressource für die Frauen und diejenigen Frauen mit nicht intakten Partnerschaften erleben Konflikte, mangelnde Unterstützung und fehlende Kommunikation des Partners als größte Belastung. Ein Teil der Frauen erlebt die Schwangerschaft als gemeinsamen Prozess mit ihrem Partner und auch die Entscheidung und der Neuausrichtungsprozess werden gemeinsam bewältigt. Bei manchen dieser Frauen ist es der Partner, der den Impuls zum Austragen gibt oder von der Diagnosemitteilung an für ein Weiterführen der Schwangerschaft plädiert. Es gibt auch Frauen, in deren Modell von Partnerschaft eigentlich der Anspruch besteht, dass Schwangerschaft gemeinsam erlebt und Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, die sich dann aber bei der Entscheidung über das Weiterführen der Schwangerschaft die Entscheidungshoheit nehmen. Für diese Frauen ist klar, dass sie ihre Entscheidung auch entgegen einer anders lautenden Entscheidung ihres Partners treffen würden. Eine Entscheidung, die in ihren Augen aufgrund ihrer weitreichenden Konsequenzen für das eigene Leben keine partnerschaftlichen Kompromisse erlaubt. Auch wenn es das gemeinsame Kind ist, so sind es doch der eigene Körper und das Kind in diesem Körper, die direkt von der Entscheidung betroffen sind. Ein Teil der Frauen erlebt die Partnerschaft aber auch in klar definierten Geschlechtsrollenzuschreibungen. Der Partner überlässt die Entscheidung und auch den Prozess des Entscheidungs-Findens der Frau: »Du bist schwanger – du musst entscheiden«. Die Rolle des Partners ist die des Unterstützers. Bereits vor der Diagnosemitteilung ist Schwangerschaft etwas, was die Frau betrifft, ihr »Zuständigkeitsbereich«. Schwangerschaft wird vom Partner als an den Körper der Frau gebunden gesehen. Manche dieser Frauen berichten, dass ihr Partner in vorangehenden Schwangerschaften erst im fortgeschrittenen Schwangerschaftsverlauf Interesse am Bauch zeigte und erst mit sichtbaren Kindsbewegungen Kontakt zum Baby aufgenommen hat. In den betroffenen Schwangerschaften erleben diese Frauen ihre Partner in einem ähnlichen Prozess. Gegen Ende der Schwangerschaft, bei der Geburt und dem Sterben des Kindes, wachsen die Partner in ihre Vaterrolle und die Frauen erleben sie als unterstützend. Bei zwei der Frauen sprechen sich die Partner zunächst für einen Abbruch aus,
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akzeptieren dann die Entscheidung und unterstützen ihre Partnerinnen im weiteren Verlauf. Keine der Frauen erlebt sich als vom Partner unter Druck gesetzt, einen Abbruch durchzuführen.
10.3.5 Die Phasen des Neuausrichtungsprozesses Zur Darstellung des Neuausrichtungsprozesses wähle ich ein Phasenmodell, um die Komplexität des Prozesses, in dem die Frauen sich erleben, darzustellen. Diese sind in der folgenden Grafik dargestellt:
Abbildung 3: Die Phasen des Neuausrichtungsprozesses
Die Phasen teilen sich auf in: keine Passung haben, Alternativen eröffnen sich, Suchen und Kontextualisieren, Stabilisierung und Gefühl der Kontrolle, Gestaltung der Schwangerschaft. Jede der Frauen geht durch diesen Neuausrichtungsprozess und doch ist es mir wichtig, klar zu stellen, dass es sich um ein Modell handelt, dass nicht alle der Phasen von jeder der Frauen in gleichem Umfang durchlebt werden und dass die Phasen nicht bei allen Frauen in der dargestellten Reihenfolge ablaufen. So kann es im weiteren Schwangerschaftsverlauf immer wieder zu Phasen des Suchens und Kontextualisierens kommen, beispielsweise wenn Entscheidungen über den Geburtsort zu treffen sind. Die große Unterschiedlichkeit im Erleben der Mitteilungssituation, in der Entscheidungsfindung und im Vorhandensein von Alternativen zum Schwangerschaftsabbruch bereits bei der Diagnosemitteilung, führt zu einem unterschiedlichen Beginn bzw. Einstieg in diesen Prozess.
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Im Folgenden werden diese Phasen dargestellt und beschrieben, auf welche dieser Frauen dies zutrifft. 10.3.5.1 Keine Passung haben Mit der Diagnosemitteilung erfahren die Frauen, dass ihr Kind nicht lebensfähig ist, und häufig erhalten sie zugleich eine medizinische Verlaufsprognose, die bei einigen prognostiziert, dass das Kind noch in der Schwangerschaft versterben wird, bei anderen, dass das Kind während oder kurz nach der Geburt sterben wird. Viele der Frauen erleben diese Verlaufsprognose als leidenszentriert, die Entscheidung für das Weiterführen erscheint in der medizinischen Verlaufsprognose als etwas, das man weder sich noch dem Kind antut. Marlene erzählt: »Und dann kam aber der Professor (Name des Arztes) dazu, der alles zunichte machte, was der Oberarzt noch halbwegs freundlich uns mitzuteilen. Der eigentlich knallhart die Fakten auf den Tisch gelegt hat, das und das und das sind die Diagnosen. ›Ihr Kind wird maximal ein Jahr leben. Wenn aber auch nur maschinell. Wenn Sie das wollen, müssen Sie das machen. Ansonsten hätten Sie die Möglichkeit der Tötung im Mutterleib, die Sektio sofort und dann zum, ja, zum Sterben ablegen. Also deswegen sofort holen, irgendwie austragen, aber ihre Plazenta ist so verkalkt, ich mein, die nächsten ein bis maximal vier Wochen wird das Kind im Mutterleib eh versterben. (…)‹ So, und dann wurde auf die Uhr geguckt, weil es waren noch Prüfungen abzuhalten und dann wurden wir gebeten zu gehen.« (Int. 18, 48–50)
Das Leiden des Kindes beim Weiterführen der Schwangerschaft wird zu einer Entscheidungsoption, die gewählt wird und für die diejenige, die sich dafür entscheidet die Verantwortung trägt. Die medizinische Verlaufsprognose impliziert zum einen eine stark verkürzte Lebenszeit, bringt diese Lebenszeit darüber hinaus mit »maschineller« Versorgung in Zusammenhang. Manche der Frauen verbinden mit einer Diagnose die Erwartung an eine Heilungsmöglichkeit, ihr Bild von Medizin ist von einem Glauben an Möglichkeiten und Machbarkeit und Vertrauen in diese Medizin bestimmt. Saskias Kind hat eine schwere Schädel- und Gehirnfehlbildung, es gibt keine Heilungsmöglichkeit. Ihre Frauenärztin reagiert irritiert auf ihre Frage, was zu tun sei und gibt eine klare Behandlungsoption, die aber keine Behandlungsoption für Saskia darstellt: »Man denkt ja sofort erstmal bloß an ne Operation. Okay, da stimmt was nicht, keen Thema. Im Bauch operieren. Wenn es rauskommt operieren und dann geht das schon wieder. Ne.« (Int. 12, 19) »Und da kam ebent ›Na ja, was solln wer da groß machen?‹ Das wird halt ne Abtreibung.« (Int. 12, 24)
Dieser Weg, ein Abbruch der Schwangerschaft, scheint für viele der Diagnostiker die normale Konsequenz der Diagnose einer »Nichtlebensfähigkeit« des Kindes
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zu sein. Dies wird sicherlich verstärkt durch die sehr hohen Abbruchraten bei diesen Diagnosen, die auch für den Diagnostiker das Bild von der Normalität des Abbruchs verstärken. Bei Anita, die mit Zwillingen schwanger ist und bei der bei einem der Kinder eine Schädel- und Gehirnfehlbildung festgestellt wird, ist die Behandlungsempfehlung mehr ein »Lösungsangebot«, ein vager Ausweg der aufgezeigt wird und dessen Konsequenzen ihr erst nach und nach klar werden: »Und dann hat halt mei Frauenarzt no gmeint, also au wenn da jetzt was net stimmt, da gibt’s schon ne Lösung. Also des hat er so, ein bisschen so vage (…) formuliert. Ja, es gibt ne Lösung und in der Uniklinik ham se dann eben au gsagt, ja gut, dass es da die Möglichkeit vom Fetozid gibt. Also so quasi, du spritzt des eine Kind halt dann tot mit der Kaliumspritze. Des war halt au was, des war (…) also (…) also das war so schlimm, sich des vorzustellen.« (Int. 19, 1)
Auch die direkte Verknüpfung von Mitteilung und Abbruchsangebot wird von manchen der Frauen als Abbruchserwartung verstanden. Zoey erinnert sich: »Ämm, und ich glaub auch am Tisch hat er noch gesagt, dass ähh ich weiß nicht mehr genau, wie er es formuliert hat, ob er es als feststehende Aussage formuliert hat oder als Frage, dass ein Abbruch möglich ist oder dass wir abbrechen können oder wir sollten. Ich weiß es nicht mehr genau.« (Int. 11, 16–17)
Wieder andere Frauen erhalten die Optionen, einen Abbruch durchzuführen oder »der Natur ihren Lauf zu lassen«. Ob und zu welchem Grad die Frauen das Weiterführen als lebbare, gangbare Alternative zum Schwangerschaftsabbruch vermittelt bekommen, ist abhängig von der Diagnostikerin und es gibt große Unterschiede im Erleben der Diagnosemitteilungssituation. Wichtig erscheint hier, dass selbst wenn eine klare Abbruchserwartung im Diagnosegespräch nicht direkt formuliert wird, es doch einen klaren gesellschaftlichen Imperativ zu einem solchen Abbruch gibt. Allein durch die Norm einer solchen Entscheidung, dadurch dass alle anderen sich für einen solchen Abbruch entscheiden wird die Entscheidung für einen solchen Abbruch zu einer erwarteten Entscheidung, zu einer Norm. Eine Entscheidung gegen ein Weiterführen wird von vielen der Frauen als entgegengesetzt zu einer Mehrheitsentscheidung, als Entscheidung, die nicht dem entspricht, was »man« im Falle einer solchen Diagnose tut. Diese normative gesellschaftliche Erwartungshaltung macht Friederike an dem von ihr empfundenen gesellschaftlichen Klima fest, in dem es nicht selbstverständlich ist, ein krankes, behindertes Kind zu bekommen: »Ich würde mir wünschen, dass es ganz selbstverständlich und natürlich ist, sein Kind so anzunehmen, wie es ist. Dass man sich keine Gedanken machen muss, was die Anderen darüber denken, dass es gesellschaftlich akzeptiert ist, evtl. auch ein krankes
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Kind zu bekommen. Und dass die Gesellschaft einen auffängt. Woher nimmt sich die Medizin bzw. die Gesellschaft das Recht, Eltern direkt oder indirekt nahe zu legen, ein krankes Kind abzutreiben? Wer würde aktive Sterbehilfe bei einem kranken Neugeboren durchführen bzw. befürworten? Wer will da die Verantwortung auf sich nehmen?« (Int. 3, 132)
Karin spricht über den Begriff der Prävention, der nahe legt, dass Behinderungen vermeidbar sind: »Weil es impliziert wirklich, dass man mit der Diagnosestellung etwas / es heißt ja auch präventiv. Man kann ja nichts machen. Ich musste mir immer sagen, der (Name des Kindes) war behindert von Anfang an. Ich hätte nie was ändern können, egal zu welcher Zeit ich welche Diagnose bekommen hätte. Ich hätte nie etwas ändern können. Ich hätte nur das Leben meines Kindes beenden können. Das ist die einzige Möglichkeit. Und des hätt ich nicht wirklich gekonnt.« (Int. 9, 108)
Sie erzählt von einem Gespräch, das sie mithört und in dem für sie deutlich wird, wie stark dieser Präventionsgedanke bereits gesellschaftlich integriert ist: »Hinter mir saßen Leute und war / grade gings grad um des Thema, ja eins von den Kindern hat des Down-Syndrom. Dann hat die Frau hinter mir gesagt: »Ja, aber das kann man doch heute feststellen«. Und dann hab ich sofort gemerkt, wie dieser Satz, das kann man heute feststellen, der heißt ja nicht nur, das kann man heute feststellen, sondern da geht ja ganz viel bei den Menschen ab. So nach dem Motto, das muss ja heute nicht mehr sein und da kann man ja was machen.« (Int. 9, 104)
Den gesellschaftlichen Druck sieht Karin auch als abhängig von dem Zeitpunkt, wann eine Fehlbildung in der Schwangerschaft festgestellt wird, umso früher im Schwangerschaftsverlauf, als umso stärker nimmt sie diesen Druck wahr. Sie selbst erfährt in der 28. Schwangerschaftswoche von der Chromosomenveränderung ihres Sohnes und ist froh über diesen späten Zeitpunkt: »Ich war froh drum, dass die Diagnose so spät gestellt wurde, weil niemand zu mir kam und gesagt hat, ›Ja, tun Sie des Ihrem Kind nicht an.‹ Weil des ist ja etwas, es wird ja den Frauen suggeriert, sie tun ihren Kindern was an.« (Int. 9, 106)
Die Leidensbetonung und den Gedanke, dass das Weiterführen der Schwangerschaft zu Leiden des Kindes führt, sieht sie als Druckmittel für die Frauen an. Welche Frau möchte, dass ihr Kind leidet? Die Nicht-Selbstverständlichkeit der Entscheidung zum Weiterführen zeigt sich aber auch in den bewundernden Reaktionen im Umfeld vieler Frauen. Aussagen wie »Ich könnte das nicht!« »Wie schafft Ihr das nur!« zeigen, dass die Entscheidung nicht als selbstverständliche Entscheidung angesehen wird, sondern als außergewöhnlich. Diese Erhöhung des Gegenübers führt zur Entfremdung und offenbart, dass vom Gegenüber eine andere Entscheidung als normal angenommen wird.
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Es gibt Frauen, die bei der Diagnosemitteilung nicht wirklich die Möglichkeit des Weiterführens der Schwangerschaft vermittelt bekommen, so wie Elke. In der Zeit nach der Diagnose ist Elke »wie in einem Schock«, die Beendigung der Schwangerschaft scheint alternativlos zu sein, gleichzeitig fühlt sie sich aber unfähig, eine Entscheidung treffen zu können: »Ich mein, alle reden immer nur, ich mein auch dieser Humangenetiker und die Ärzte, von nem Abbruch und (…) möglichst bald eigentlich und, ämm, weil Kliniken des auch nur bis zu ner bestimmten Woche machen und (…), ämm, man is selber total verzweifelt (…), mmm, ja und kann aber eigentlich gar nicht wirklich was entscheiden.« (Int. 17a, 18)
Zusätzlich fühlt sie sich zu einer schnellen Entscheidung gedrängt. Es sind nur noch ein bis zwei Wochen, bis die Grenze der Lebensfähigkeit erreicht ist und die Klinik den Abbruch nur noch in Verbindung mit einem Fetozid durchführt. Der Genetiker gibt ihr die Information, dass sich keine Hebamme finden würde und weist auf die Notwendigkeit einer klinischen Umgebung wegen des zu erwartenden Leidens des Kindes hin. Dieses prognostizierte Leiden des Kindes, die drohende Klinikgeburt und der Zeitdruck, unter den sie sich zusammen mit dem Empfinden gestellt fühlt, keine Entscheidung treffen zu können, lassen die Situation für Elke ausweglos erscheinen, sie fühlt sich gelähmt und verzweifelt. 10.3.5.2 Alternativen eröffnen sich Vielen Frauen erschließt sich die Alternative »Weiterführen der Schwangerschaft« nur durch Zufälle: das Gespräch mit der Hausgeburtshebamme, bei der sie eigentlich nur den Kennenlerntermin absagen wollte, im Internet auf Selbsthilfegruppen zu stoßen, die Beratung bei weiteren Diagnostikern oder der Tatsache, dass der behandelnde Gynäkologe Tage vorher auf dem Gynäkologenkongress den Film von Katja Baumgarten gesehen hatte. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Phase ist die Relativierung des Zeitdrucks und die Eröffnung eines Zugangs zu alternativen Umgangsstrategien. Eine wichtige Rolle für die Frauen, die zunächst keine Alternative zum Abbruch sehen, spielen dabei Impulsgeber. Sie wirken als Prozessoren, ihr Impuls wird von den Frauen als maßgeblicher Einflussfaktor auf den Prozess der Neuausrichtung erlebt. Meist sind es einzelne von den Frauen als prägnant erlebte Schlüsselsätze, die diese Impulse auslösen und die Türen aufstoßen zu alternativen Optionen. Bei Elke nimmt die Hausgeburtshebamme diese Prozessorenrolle ein. Als Elke diese Hebamme, mit der sie die Hausgeburt geplant hatte, kontaktiert, um den Kennenlerntermin abzusagen »Das hat sich erledigt.«, wird sie überraschend mit einer vollkommen anderen Perspektive konfrontiert. Für die Hebamme ist das Weiterführen eine Normalität, sie fragt nach der Organisation der
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weiteren Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen und bietet die Schwangerschaftsbetreuung und auch die außerklinische Geburtsbegleitung an. Zugleich relativiert diese Hebamme den Zeitdruck von Elke, indem sie auf die Möglichkeit, eine Klinik zu finden, die unbegrenzt einen Schwangerschaftsabbruch ohne Fetozid durchführt, verweist. »Und die hat mir halt dann mal diese Wege aufgezeigt die (…), die es gibt eigentlich. Und (…) des fand ich eigentlich auch ganz gut und vor allem hatte sie dann auch mal / hatte sie dann mal gesagt so wie (…) also ich dürfte mich auf keinen Fall drängen lassen, nur weil jemand sagt, des des dürfte man nur bis (..) oder die Kliniken machen das nur bis zu ner bestimmten Woche. Des muss wirklich von einem kommen und, ämm, (…) nicht dazu gedrängt sein. (…) Dass man sagt, man muss jetzt hier gar nix überstürzen oder (…) jetzt irgendwie panikartig handeln. Sondern man kann jetzt einfach mal in Ruhe (…) da drüber nachdenken.« (Int. 17a, 18)
Zusätzlich verweist die Hebamme auf die Notwendigkeit, eine individuell passende Entscheidung zu treffen, eine Entscheidung, die Zeit und Ruhe benötigt: Der Fokus wird verschoben, von der Notwendigkeit eine schnelle Entscheidung zu treffen hin auf die Notwendigkeit, sich Zeit zu nehmen, um eine passende Entscheidung treffen zu können. Diese Verschiebung findet bei anderen Frauen beispielsweise durch die Aussage der Beraterin in der Schwangerschaftsberatungsstelle statt, »Lassen Sie sich Zeit!« (Int. 3, 31), wie Friederike es als Wendepunkt erlebt. Manche der Frauen erhalten bereits bei der Diagnosemitteilung diese »lebbare« Alternative, so wie Dorothee: »Also ich hab dann halt / also ich muss sagen, die Pränataldiagnostikerin, die war ganz toll. Die hat uns auch den Weg eröffnet, die Schwangerschaft auszutragen. Also die hat nicht gleich gesagt, mit diesem Befund ist nur ein Schwangerschaftsabbruch, beziehungsweise ne eingeleitete Geburt möglich. Die hat uns auch gleich gesagt, dass man sehr wohl auch diese Schwangerschaft austragen kann und das Kind entscheiden lassen kann. (…) Vor allen Dingen weil (…) ganz viele (Name der Chromosomenanomalie) Kinder ja noch in der Schwangerschaft versterben, sag ich jetzt mal.« (Int. 16, 7)
Zusätzlich zur Eröffnung von wirklichen Alternativen erhält Dorothee den Hinweis, die Entscheidungsverantwortung nicht übernehmen zu müssen, sondern »das Kind entscheiden zu lassen«, sie fühlt sich von der Diagnostikerin nicht unter Entscheidungsdruck gesetzt. Wenn Frauen also die Alternative zum Weiterführen der Schwangerschaft als realistische Option verfügbar haben, können sie mit dem Suchen und Kontextualisieren beginnen. 10.3.5.3 Suchen/Kontextualisieren Für Frauen, die bereits kurz nach der Diagnosemitteilung die Entscheidung zum Weiterführen treffen, beginnt der Prozess der Neuausrichtung häufig mit der
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Phase des Suchens und Kontextualisierens. Auch Frauen, die mit der Diagnosemitteilung gute Wahlmöglichkeiten und Alternativen erhalten, beginnen den Neuausrichtungsprozess damit. Mit der Eröffnung von Alternativen beginnt die Phase des Aktivwerdens. Die Frauen suchen nach Informationen über die Fehlbildung des Kindes und versuchen, die Bedeutung der unterschiedlichen Optionen zu kontextualisieren, also in Verbindung mit ihrem Leben, ihrer Familie etc. zu setzen. Das Internet spielt dabei für viele der Frauen eine zentrale Rolle, wie bei Karin: »Es lebe das Internet! Hätt ich nie gedacht, dass des so wichtig wird und, ämm (…), da hab ich gekriegt, was ich gebraucht hab. Da hab ich Verständnis bekommen auch /ja/ ganz viel Zuspruch für meinen Weg, den ich so gehen wollte, und auch Informationen.« (Int. 9, 37)
Informationen werden von den Frauen dann als positiv empfunden, wenn sie konkret sind. Viele der Frauen finden solche Informationen im Internet auf Selbsthilfegruppeseiten oder in Selbsthilfegruppenforen. Gerade bei seltenen Chromosomenanomalien ist für manche der Frauen auf diesem Weg der Austausch mit anderen Betroffenen auch über Ländergrenzen hinweg möglich. Für einige der Frauen ist es zudem wichtig, Fotos von Kindern mit einem ähnlichen Krankheitsbild in nicht-medizinischem Kontext zu sehen. In manchen der Selbsthilfeforen gibt es geschlossene Bereiche, in denen Familien Fotos ihrer verstorbener Kinder eingestellt haben und zu dem die betroffenen Frauen auf Anfrage Zugang erhalten. Manche der Frauen, die wegen der ausgeprägten Fehlbildungen Angst vor dem Erscheinungsbild ihres Kindes haben, empfinden diese liebevollen Fotos im Familienkontext, die sie als so anders zu den Abbildungen in medizinischen Fachbüchern wahrnehmen, als eine wichtige Unterstützung im Prozess der Vorbereitung auf ihr Kind. Frei zugängliche Informationen und Bilder im Internet und in Fachbüchern erleben viele der Frauen jedoch auch als erschreckend. Manche der Frauen wägen die Informationen und Bilder ab, denen sie sich aussetzen wollen. Ursel beschließt beispielsweise, keine Informationen mehr im Internet zu suchen: »Wir ham uns dann übers Internet, der (Name des Partners) hat sich dann hingesetzt, übers Internet was erfahren Und ich hab das nur einmal durchgelesen und nie mehr angeschaut auch hinterher net. Weil ich mir dacht hab, des war so furchtbar diese Information. Wo ich mir dacht hab was wächst in mir da ran? Des kann doch net stimmen. Ich wollt, ich wollte net mich grausen.« (Int. 20, 33–34)
Auch medizinische Informationen, die persönlich übermittelt werden, spielen für manche der Frauen eine wichtige Rolle im Ermöglichen einer Entscheidungsfindung. Dabei geht es sowohl um das Krankheitsbild als auch um das Befinden ihres
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Kindes. Neben der Bestätigung und Verfeinerung der Diagnose durch andere Spezialisten, dem Auffüllen von Lücken, die den Frauen noch fehlen, um sich ein Bild von der Behinderung ihres Kindes machen zu können, ist es für viele Frauen wichtig, detaillierte Informationen von Pädiatern bzw. Pädiaterinnen in großen Zentren zu Krankheitsverlauf, Sterbevorgang, Empfindungsfähigkeit, Leiden und Schmerzempfindlichkeit der Kinder zu bekommen, also Informationen zum Befinden des Kindes zu erhalten. Manche der Frauen finden diese Informationen auch bei anderen Betroffenen, sehen diese sogar als die »wirklichen Experten« an. Dabei spielen gerade Selbsthilfegruppen im Internet für viele Frauen eine wichtige Rolle. Eine der Frauen nimmt, noch bevor sie die Entscheidung getroffen hat, Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe auf; die beiden Frauen, die in derselben Gegend wohnen, werden zu ihren wichtigsten Begleiterinnen in der Zeit bis zum Tod ihres Sohnes und darüber hinaus. Für manche der Frauen sind gerade auch Frauen, die sich anders entschieden haben und einen Schwangerschaftsabbruch durchgeführt haben, wichtige Referenzpunkte in ihrem Neuausrichtungsprozess. Wie für Johanna, für die ihre Überlegungen, warum es so schwer ist, Frauen zu finden, die über ihren Schwangerschaftsabbruch sprechen, mit zu ihrer Entscheidung gegen dieses Abbrechen beitragen. Sie versetzt sich in die Situation dieser Frau: »Danach bin ich zu dieser bekannten Frau in der Nachbarschaft, wo ich weiß, wo ihr Kind auch verloren hat und die ne Fruchtwasseruntersuchung gmacht hat. Die hat mich sehr inspiriert, wo ich erfahren hab, dass die einen Abbruch gmacht hat und nicht des sagen kann. Dann hab ich mir gedacht, aha. Und dann hab ich gsehn, okay, meine Hebamme hat so und so viele Frauen, wo des ausgetragen ham und drüber sprechen können, aber es gibt keine einzige Frau, wo einen Abbruch gmacht hat und drüber sprechen kann. Merkwürdig!« (Int. 5, 34)
Nur ein kleiner Teil der Frauen erhält mit der Diagnose den Hinweis auf Beratungsstellen35, eine der Frauen kann in der Praxis des Pränataldiagnostikers noch mit einer Psychologin sprechen und bewertet dieses Aufgefangen-Werden positiv. Einige der Frauen, die keine Beratung in Anspruch nehmen, entscheiden sich dabei ganz bewusst gegen die psychosoziale Beratung: »Des ham wir dann so für uns ausgemacht, dass wir des so durchziehen wollen.« (Int. 6, 30) »Die Entscheidung und die Schwere der Entscheidung, des kann einem einfach niemand abnehmen. Auch keine Beratungsstelle.« (Int. 5, 29) 35 Das Interviewmaterial bezieht sich auf Frauen, die die Diagnose vor der Gesetzesänderung vom 1. 1. 2010 erhalten haben. Seitdem ist im § 2 SchKG festgeschrieben, dass der Diagnostiker andere Kollegen wie Humangenetiker oder Pädiater hinzuziehen muss, auf das Recht auf psychosoziale Beratung hinweisen muss und bei Wunsch der Frau Kontakt zu Selbsthilfegruppen vermitteln sollte.
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Für andere kommt der Hinweis, die Information erst lange, nachdem sie ihre Entscheidung getroffen haben. Dagegen werden die meisten der befragten Frauen zu einer humangenetischen Beratung überwiesen. Die Frauen erwarten sich dort konkrete Informationen, um sich ein Bild von ihrem Kind und seinem Leben machen zu können, aber häufig werden diese Erwartungen durch die genetische Beratung direkt nach der Diagnosestellung nicht erfüllt. »Also, naja, erstmal sind wir total unter Schock gestanden und haben dann überlegt, wie an wen wir uns jetzt wenden können, der uns jetzt da unterstützt. Es wird einem an der Klinik gesagt, man kann so eine humangenetische Beratung machen. Des ham wir dann auch, haben wir relativ schnell einen Termin bekommen. War uns aber nicht hilfreich. Weil wir dann einen Chromosomensatz vorgelegt bekommen haben, es war uns nicht hilfreich, weil wir immer noch nicht glauben konnten, dass des so ist.« (Int. 9, 15–17)
Von den 20 befragten Frauen nehmen sieben eine psychosoziale Beratung36 entweder in einer Beratungsstelle oder telefonisch in Anspruch. Für eine Frau nimmt die Beraterin dabei eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess ein, für zwei andere ist die telefonische Beratung wichtig im weiteren Schwangerschaftsverlauf. Diese Beraterin, die überregional telefonische Beratung zu Pränataldiagnostik anbietet, hat zusätzlich zu ihrer langjährigen Beratungserfahrung auch praktische Erfahrung mit schwerkranken Kindern auf einer Intensivstation; und gerade diese praktische Erfahrung ist zusätzlich zu der als empathisch empfundenen Beratung wichtig für die Zufriedenheit der Frau. Gerade wenn Erfahrung, Empathie und das Verständnis auch für ambivalente Gefühle der Frauen gegenüber dem Kind aufseiten der Beraterin zu fehlen scheinen, wird die Beratungssituation sogar als belastend erlebt. Von manchen der Frauen wird die Rolle der Beratung aber als nebensächlich bewertet und für sie sind Unterstützungsinstanzen, die sie kontinuierlich durch den weiteren Schwangerschaftsverlauf begleiten, wichtiger für ihr Erleben. Generell fühlen sich viele der Frauen in ihrer Suche nach Information und Unterstützung auf sich allein gestellt, wie Cosima über ihre Bedürfnisse nach der Diagnose sagt: »Also einfach die Information, dass es diesen Weg auch gibt. Aber ich denk, was klar ist, dass wenig drüber gibt, weil halt wenig Frauen diesen Weg gehen, weil halt einfach Chromosomenanomalien au net so häufig sind. Ich denk einfach auch halt bei der Beratung, dass es eine Alternative ist, einfach des zu erwähnen, wär wichtig. Also ich denk so Hilfsangebote. Weil ich merk, das was wir ghabt ham, des war, was wir uns 36 Auch wenn in der GTM im Allgemeinen keine Häufigkeitszahlen genannt werden, erscheint an dieser Stelle deren Nennung angemessen, um den Beratungskontext und das Ausmaß in Anspruch genommener Beratung innerhalb der Gruppe der hier befragten Frauen aufzeigen zu können.
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gsucht ham. Ich hab gfragt nach einer Hebamme, ich hab gsucht nach Leuten, die auch ein Kind verloren haben bei einer Totgeburt. Dass einfach bei der Beratung oder bei, wenn so ein Befund da ist, dass einfach gsagt wird, sie könnten Begleitung durch eine Hebamme, dass es einfach diese Angebot gibt, dass die Ärzte wissen, sie können Angebote machen.« (Int. 2, 146–147)
10.3.5.4 Stabilisierung, Gefühl der Kontrolle Für viele der Frauen zeigt sich als zentraler Schritt im Neuausrichtungsprozess, ein Gefühl von Kontrolle und Stabilität zurückzuerlangen. Unterschiedliche Aspekte bilden die Grundlage für dieses Gefühl, die wichtigsten werden im folgenden Abschnitt dargestellt. Wegfall von Zeitdruck Viele der Frauen empfinden den Druck zu einer schnellen Entscheidungsfindung als sehr belastend und der Wegfall dieses Druckes gibt ihnen ein Gefühl der Kontrolle zurück. Dieser Wegfall kann durch die Veränderung des Imperativs, eine schnelle Entscheidung treffen zu müssen, verändert werden. Für manche Frauen ist dieser Wegfall des Zeit- und Entscheidungsdrucks nur möglich, wenn sie wissen, dass sie jederzeit, wenn die Situation nicht länger erträglich ist, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen können. So wie Elke, die durch die Vermittlung ihrer Hebamme eine Klinik in einem anderen Bundesland findet, die den Schwangerschaftsabbruch bis zum Ende der Schwangerschaft ohne Fetozid durchführen würde. Für Elke ist es durch diese Eröffnung der Möglichkeit des jederzeitigen Ausstiegs und den Wegfall des Zeitdrucks möglich, eine vorläufige Entscheidung für das Weiterführen zu treffen. Ihre Entscheidung ist, solange zu warten, bis es für sie oder das Baby nicht mehr geht. Diese Entscheidung auf Abruf erlebt sie so: »Von da an gings mir dann eigentlich besser. Also des war wirklich so dieses (…) hahh, Durchschnaufen und gut is.« (Int. 17a, 19)
Diagnosesicherheit suchen – Die Angst vor einem Leben mit behindertem Kind vs. Hoffnung auf ein Überleben des Kindes Viele der Frauen haben große Angst vor einem Leben mit einem schwer behinderten Kind, vor dem Überleben des Kindes. Um sich wirklich auf diese Schwangerschaft einlassen zu können, lassen sie weitere Untersuchungen durchführen, suchen andere Experten auf oder vereinbaren Termine in Spezialkliniken, um dort die Diagnose bestätigen und abzusichern zu lassen und Informationslücken über die Diagnose aufzufüllen. Sie haben das Bedürfnis zu erfahren, ob die Fehlbildungen des Kindes so schwerwiegend sind, dass es
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wirklich nach der Geburt versterben wird. Die Entscheidung für das Weiterführen der Schwangerschaft stellt für diese Frauen keine Entscheidung für oder gegen das Leben mit einem behinderten Kind dar, sondern ist eine Entscheidung, die sich mehr auf Aspekte des Abschiednehmens und der Begleitung des Kindes bezieht, wie Johanna es beschreibt: »Also war, Trisomie 18 ist schon schlimm genug, aber dieses das isch ja noch mal ein Ticken vernichtender. Und dann hab ich gsagt, also gut, wenn ich damit / also, ich werd nicht mit einem behinderten Kind leben müssen. Also was spricht dann dagegen wenn ich jetzt dieses Kindle, solang wie es dasein will, noch da lass? Und ihm des beste Mögliche (…).« (Int. 5, 27)
Diejenigen Frauen, die dies so deutlich ansprachen, meinten, dass sie nirgends über diese Problematik gelesen oder gehört hätten, dass sie wohl die einzigen mit dieser Einstellung seien und diese Einstellung ein Tabu darstellen würde, über das unter den Betroffenen nicht gesprochen werde. Während für einige der Frauen Überlebensgeschichten in Internetforen von Kindern mit schwersten Fehlbildungen und der Diagnose einer sehr stark eingeschränkten Lebensdauer als Hoffnungsträger fungieren, sind diese Geschichten für diese Frauen Zukunftsszenarien, die sie fürchten. Manche versuchen diese Angst zu kontrollieren, indem sie die Geburtsplanung so ausrichten, dass die Kinder von medizinischen Interventionen, die ein Überleben an Kabeln und Instrumenten herbeiführen könnten, ferngehalten werden. Anderen Frauen, wie Mechthild, gibt ein klares Untersuchungsergebnis, welches zeigt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit des Kindes sehr gering ist, das Gefühl, eine gewisse Kontrolle über die eigene Zukunft zu haben: »Bei dieser Untersuchung, des war natürlich einiges später, ich glaub Anfang, Mitte zwanzigste Woche oder so, ämm, da kam dann auch raus, dass des Herz sehr geschädigt ist von der Entwicklung und dass aufgrund der Schädigung ne Überlebenschance sehr gering sei. Und, es war letztendlich nur ein großes Gefäß deutlich zu erkennen, wo nicht klar war, ob es Aorta oder Pulmonalis, ja, aufgrund des Fehlens, mit Löchern in den Trennwänden und so, des kam da raus, und ich, des hat, so hart und brutal des klingt, uns des auch ein bisschen einfacher gemacht, dann zu entscheiden, weil wir uns dann natürlich auch über Leona e.V. im Internet sitzend kundig gemacht ham. Und da ist man schon, also den ersten Abend, da ham wir uns nur ges / (…), also die Erfahrungsberichte der Eltern, was des bedeuten kann, mit so einem Kind zu leben, wo einfach die einfachsten Dinge wie Nahrungsaufnahme, Atmung, Ausscheidung ein schier unendlicher Kampf sind, der einfach einen rund um die Uhr in Beschlag nimmt. Das war einfach schon hart, wo wir dann einfach nicht wussten ob wir uns des zutrauen des dann auch so auszuhalten. Mit dieser Diagnose wars für uns dann aber auch einfacher, dass wir dachten, na gut, die Zeit würde dann wahrscheinlich sehr begrenzt sein, wenn er lebensfähig wäre.« (Int. 4, 28)
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10.3.6 Zwischenfazit der Phase »Neuausrichtung« Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse der Phase »Neuausrichtung« zusammengefasst dargestellt werden. Im Anschluss werden im Abschnitt Good Practice Aspekte von positiv erlebten Betreuungssituationen weitergeführt. Die Neuausrichtung beginnt mit der Vermittlung der medizinischen Verlaufsprognose, bei den meisten Frauen mit der Diagnosemitteilung, bei manchen bereits mit der Mitteilung und Akzeptanz eines schwerwiegenden Verdachtsbefundes. Die Phase der Neuausrichtung umfasst den Umgang mit der medizinischen Verlaufsprognose und die Entwicklung einer eigenen, individuellen Verlaufsprognose. Bei dieser Phase handelt es sich um einen Prozess, der bei einem Großteil der Frauen in folgenden Stadien abläuft: keine Passung haben, Alternativen eröffnen sich, Suchen/Kontextualisieren, Stabilisierung. Der Entscheidungsprozess ist in diese Neuausrichtung eingebettet. Dies sind die zentralen Unterkategorien der Phase »Neuausrichtung«: 1. Heterogene Entscheidungstypen: Während manche Frauen direkt im Anschluss oder innerhalb kurzer Zeit nach der Diagnosemitteilung die Entscheidung zum Weiterführen treffen, ist die Entscheidung für andere Frauen ein längerer Prozess, ein Ringen und Abwägen von Optionen. Manche der Frauen können die Schwangerschaft nur weiterführen, wenn ihnen die Möglichkeit eines Abbruchs jederzeit im Schwangerschaftsverlauf eröffnet wird: Diese Frauen treffen eine Entscheidung auf Abruf. 2. Norm des Abbruchs macht Weiterführen zur »Pionierinnenentscheidung«: Viele Frauen empfinden den Abbruch als Entscheidungsnorm vermittelt und haben keine Vorbilder für das Weiterführen. Deutlich wird im Ringen um eine Entscheidungsfindung bei manchen Frauen auch der eigene und gesellschaftliche Anspruch an eine rationale Entscheidungsfindung, der einer Bauchentscheidung entgegenzustehen scheint. 3. Ambivalenzen: Zwischen Angst vor dem Leben mit einem behindertem Kind und der Hoffnung auf das Überleben des Kindes: Manche Frauen haben zunächst die Hoffnung auf eine Entscheidungsabnahme durch ein Versterben des Kindes in der Schwangerschaft. Für andere Frauen ist es notwendig für ihre Entscheidung, eine Diagnosesicherheit bezogen auf das Sterben des Kindes nach der Geburt zu haben, zu wissen, dass ihr Kind nicht schwerbehindert überleben wird. Andere Frauen hoffen darauf, dass ihr Kind entgegen aller Prognosen unabhängig vom Ausmaß der Behinderung überleben wird. 4. Limitierung des Entscheidungszeitraums: Unabhängig vom zeitlichen Ausmaß des gegebenen Entscheidungsrahmens fühlen viele der Frauen sich von zeitlichen Beschränkungen unter Druck gesetzt. Insbesondere der Ver-
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weis auf die Notwendigkeit eines Fetozids bei zu langer Dauer des Entscheidungsprozesses wird von vielen der Frauen als belastend erlebt. 5. Neukonstruktion der Kindkonzeption und Mutteridentität: Nach dem Wegbrechen der Zukunftsperspektive müssen die Frauen eigene Konzepte zu Kind und Mutteridentität reflektieren und neu konstruieren. Existenzielle Überlegungen zur eingeschränkter Lebenszeit, Leiden und Behinderung, die körperliche Wahrnehmung des Kindes im eigenen Leib und Selbstvergewisserung, Wahrnehmung und Reflektion der eigenen Gefühle für das Ungeborene stellen die Basis für diese Neukonstruktion dar. 6. Verschiedene Ebenen der Entscheidungsstrategien: Die Frauen reflektieren die Konsequenzen der Entscheidungsoptionen auf verschiedenen Ebenen. Zentrale Aspekte sind dabei die Ebenen der eigenen Identität/des Selbst, die Ebene des Kindes und die Ebene der eigenen Körperlichkeit. Aber auch ein Abwägen der Auswirkungen auf die Familie und Überlegungen zum Abschiednehmen vom Kind zeigen sich als Faktoren der Entscheidungsfindung. 7. Verortung der Entscheidungshoheit in der Partnerschaft: Ein Teil der Frauen trifft die Entscheidung gemeinsam mit ihrem Partner, manche bekommen die Entscheidungsverantwortung von ihm zugeschoben, andere nehmen sich die Entscheidungshoheit. Manche der Partner setzen sich für ein Weiterführen ein, während es andere gibt, die zunächst für einen Schwangerschaftsabbruch plädieren; diese Männer akzeptieren und unterstützen im Verlauf aber die Entscheidung zum Weiterführen. 8. Reaktionen des Umfelds: Die meisten Frauen fühlen sich von ihrem Umfeld, etwa den Großeltern, in ihrer Entscheidung und im Prozess unterstützt. Einwände gegen das Weiterführen bewegen sich zwischen Sorge um die Betroffene und aber auch Vorwürfen, die Familie durch das Weiterführen zu belasten. Als belastend wird von den Betroffenen erlebt, wenn vom Umfeld als Trost das Diagnoseausmaß angezweifelt wird. 9. Wunsch nach »echten« Informationen und Unterstützung: Neben medizinischen Informationen sind für viele der Frauen andere Informationen etwa in Bezug auf das Erleben einer solchen Schwangerschaft wichtig. Andere Betroffene und Selbsthilfegruppen haben dabei wichtige Unterstützungsfunktionen. Für manche Frauen ist auch Spiritualität und Unterstützung durch die Gemeinde oder den Seelsorger eine wichtige Ressource. 10. Heterogenes Erleben der verschiedenen Beratungsinstanzen: Humangenetische Beratung nach der Diagnose stellt das häufigste Unterstützungsangebot nach der Diagnosemitteilung dar, wird aber von den meisten Frauen als wenig hilfreich erlebt. Psychosoziale Beratung wird heterogen erlebt: Während ein Teil der Frauen sie als wenig hilfreich erlebt, ist sie bei manchen Frauen eine wichtige Instanz im Entscheidungs- und Vernetzungsprozess
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mit anderen Unterstützungsinstitutionen. Die Beratungsqualität scheint dabei von der Qualifikation und persönlichen Erfahrung der Berater bzw. der Beraterin abzuhängen. Niedrigschwellige Angebote wie die Telefonberatung werden von manchen der Frauen als hilfreich erlebt.
Positiv erlebte Betreuungssituationen – Beispiele für Good Practice Im Betreuungsverhältnis fühlen sich diejenigen Frauen gut aufgehoben, die die Entscheidungsoption »Weiterführen der Schwangerschaft« als selbstverständliche Entscheidungsoption vermittelt bekommen und Zugang zu umfassender Information und Unterstützung haben. Dies kann die Weitervermittlung zu spezialisierten Kliniken sein, aber auch der Kontakt zu nichtmedizinischen Informationsquellen wie Selbsthilfegruppen und das Herstellen von Kontakt zu Beratungsstellen und/oder einer Hebamme. Viele der Frauen finden es hilfreich, wenn sie keine Zeitlimitierung für die Entscheidungsfindung vorgegeben bekommen und manche brauchen die Möglichkeit einer Entscheidung auf Abruf, das Wissen, die Schwangerschaft ohne Fetozid beenden zu können, wenn sie die Situation nicht länger tragen könnten, um die Schwangerschaft weiterführen zu können.
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Gestaltung der verbleibenden Zeit – Schwangerschaft nach der Entscheidung
Nach der Diagnose und der Entscheidung, die Schwangerschaft fortzusetzen, liegt vor den einzelnen Frauen ein unterschiedlich langer Zeitraum von Schwanger-Sein. Manche Frauen haben, abhängig vom Diagnosezeitpunkt, nur noch wenige Wochen, andere noch sechs Monate Schwangerschaft vor sich. Unabhängig vom Zeitraum, ist den betroffenen Frauen gemeinsam, dass sie diesen Zeitraum überstehen und gestalten müssen. Wie viel Raum der Schwangerschaft dann eingeräumt wird, ist individuell verschieden und wird neben Persönlichkeitsfaktoren auch davon beeinflusst, inwieweit die Schwangere funktionieren muss, welche äußere Unterstützung oder aber Zwänge einwirken, ob größere Kinder versorgt werden müssen, ob sie berufstätig ist und wie das Umfeld und auch das Betreuungssystem reagieren und unterstützen. Inwieweit die Frauen diese verbleibende Zeit gestalten, hängt also von den Möglichkeiten ab, die sich die Frauen im Inneren und im Außen erschließen können, von der Pendelbewegung zwischen diesen beiden Polen, dem Ausmaß des Möglichkeitssinns. Es geht dabei also um Innen- und Außenkonzepte, darum, was die Frauen als etwas sehen über das sie verfügen können, worin sie sich als handlungsmächtig
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erleben und wo sie für sich keine Handlungsmacht erkennen oder die eigene Handlungsmacht als eingeschränkt erleben, zusammengefasst: Es geht darum, wie viel Möglichkeitssinn die Frauen in ihrer Situation erleben. Bei einer normal verlaufenden Schwangerschaft bereiten sich die meisten Frauen auf die Geburt und die Zeit danach vor, auf das gemeinsame Leben mit dem erwarteten Kind. Neben der Imagination von Momenten des gemeinsamen Lebens manifestiert sich die gute Hoffnung auf dieses gemeinsame Leben mit dem erwarteten Kind, auch materiell im fortschreitenden Schwangerschaftsverlauf: Kleidung, ein Bettchen, Kinderwagen werden besorgt, vielleicht sogar schon ein Kinderzimmer eingerichtet, die Wohnung für die Veränderung vorbereitet. Mit dem Wachsen des Bauchs wird die Schwangerschaft auch immer mehr sichtbar für das Umfeld, viele Frauen besuchen Geburtsvorbereitungskurse oder andere Veranstaltungen für Schwangere, beginnen sich in der Welt der Mütter zu sozialisieren (vgl. Kapitel 6.3.2). Die betroffenen Frauen, die die Diagnose »Nichtlebensfähigkeit« für ihr Kind erhalten haben, sind schwanger ohne diese gute Hoffnung auf ein gemeinsames Leben: Eine gemeinsame Zukunft gibt es nicht, sie können sich nicht auf ein Leben mit diesem Kind vorbereiten, sondern nur auf den Abschied von diesem Kind. In der Zukunft liegen Geburt, Sterben und Abschied – und dies sind auch die Aspekte, um die sich die Vorbereitung und Planung der Frauen drehen. Im Entscheidungs- und Neuausrichtungszeitraum richtet sich die Aufmerksamkeit der Schwangeren vornehmlich auf den Zeitpunkt des Sterbens. Außerdem versuchen einige das Danach, den eigenen imaginierten Umgang und ein mögliches Bewältigungshandeln zu antizipieren. Nach der Entscheidungsphase allerdings, in der Zeit bis zum Geburtsbeginn, verändert sich diese Orientierung, sie geht über in die Gestaltung. Eine der Zielsetzungen der vorliegenden Studie ist, herauszuarbeiten, was Frauen als Unterstützung erleben. Um dies zu ermöglichen, wird im folgenden Kapitel der Fokus auf die Gestaltung der Schwangerschaft nach der Entscheidung bis zur Geburt beleuchtet. Im Fazit werden daraus Empfehlungen für die Praxis herausgearbeitet. Es wurden vier Kategorien in der Phase »Gestaltung der Schwangerschaft« nach der Entscheidung gezeigt, die in der folgenden Grafik dargestellt sind:
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Abbildung 4: Gestaltung der verbleibenden Zeit
Zum einen sind da die Kategorien »Umgang mit Zeit finden« und »Orientierung in der Zeit«, zum anderen die beiden Kategorien, die die Interaktionszusammenhänge betreffen: Beziehung zum Kind gestalten und Interaktion gestalten und erleben im Kontext (Partner/Familie, Umfeld, Unterstützungsnetzwerk und Betreuungssystem). Alle diese Kategorien können sich prozessual verändern, aber insbesondere bei den Kategorien »Beziehungsgestaltung zum Kind« und »Zeitorientierung« lassen sich aus den Daten prozessuale Muster herausarbeiten. Die folgende Darstellung orientiert sich am oben abgebildeten Modell für diese Phase. Zunächst soll aber die Kategorie »als Weg, als Prozess erleben« aufgezeigt werden. Diese Kategorie ist grafisch nicht im Modell erfasst und bildet sozusagen den Hintergrund, vor dem das Modell steht. Die Kategorien »Umgang mit Zeit«, »Zeitorientierung«, »Beziehungsgestaltung zum Kind« und »Umgang mit den Veränderungen der Statuspassage« werden vor diesem Hintergrund im Anschluss dargestellt. Sie sind im Modell um den zentralen Einflussfaktor »Gefühl von Sicherheit/Unsicherheit« abgebildet und stehen miteinander in engem Zusammenhang. Viele Frauen erleben sich in der Zeit von der Entscheidung bis zum Beginn
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der Geburt in einem Prozess, der Veränderung, Entwicklung und Anpassung beinhaltet, dies wird bereits in der Darstellung der Phase »Neuausrichtung« und dem ihr zugrunde liegenden Modell deutlich (vgl. Kapitel 10.3.1). Im Folgenden wird die Phase Gestaltung unter diesen prozessualen Gesichtspunkten eingeführt, um das Verständnis für die Situation zu schärfen. Bei der Beschreibung der einzelnen Kategorien findet dieses prozessuale Erleben Beachtung. Die Veränderungen in den einzelnen Kategorien wie etwa Beziehungsgestaltung zum Kind oder Interaktionsgestaltung im Bereich Gestaltung und Interaktion werden in den jeweiligen Kategoriebeschreibungen dabei mit erklärt. Die Zeit von der Entscheidung zum Weiterführen bis zum Abschied von ihrem Kind und darüber hinaus wird von manchen der Frauen als Weg erlebt, den sie gehen und auf dem eine Veränderung passiert, sich auch ihre eigene Einstellung und ihr eigener Umgang verändert. Dieser Weg wird als ein »blind in einer Wüste im Dunkeln herumirren« (Harriet, persönliche Kommunikation nach dem Interview) erlebt, aber auch als ein Weg, auf dem sich die Frauen zumindest zeitweise unterstützt fühlen. Johanna vergleicht ihn mit dem Hinaufsteigen einer Treppe: »Und des hab ich auch, ich hab die ganze Schwangerschaft einen Weg die Treppe hochzugehen gfunden. Und es gab Leute, die ham mich gstützt und gholfen, machmal waren es zwei, dann hab ich gar kein Geländer braucht. Dann gabs aber auch wieder Leute, die von oben die Treppe runterkommen sind und mich ganz feste gstuppst ham und gschuppst ham und mich zu Fall haben bringen wollen. Und ich bin jedes Mal wieder auf, ich hab jedes Mal wieder Leute gfunden, die mir aufgholfen ham und die mich den Weg hochgführt ham.« (Int. 5, 47–48)
Die Reaktionen und den Umgang ihres Umfelds erlebt Johanna bei diesem Aufstieg demnach in einer großen Bandbreite, die vom Erleben großer Unterstützung, Gestützt-Sein, fast schon Getragen-Sein bis zum Gefühl des-aus-demTritt-gebracht-Werdens und dem Eindruck, dass das Gegenüber sie zu Fall bringen wolle, reichen. Mit der Metapher des Schubsens meint sie ein Zurückgestoßen-Sein im Entwicklungsprozess, eine Störung von Außen, die ihr mühsam ausbalanciertes Gleichgewicht durcheinander bringt. Gleichzeitig betont Johanna aber auch, dass sie »jedes Mal« wieder aufsteht, dass sie es ist, die neue Unterstützung findet. Sie findet dieses Durchhaltevermögen und das Zutrauen, wieder Unterstützung zu finden, in sich selbst. Zentral scheint für sie das Gefühl der Sicherheit oder Unsicherheit bzw. die Bewegung zwischen diesen beiden Polen zu sein. Mit der Metapher der Treppe weist Johanna darauf hin, dass das Erleben von ihr als Entwicklungsprozess erlebt wird: Sie steigt nach oben, was zum einen mit
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vermehrter Anstrengung verbunden ist, aber auch ein »Höherkommen« bedeutet. 10.4.1 Sich zwischen Sicherheit und Unsicherheit bewegen Zentraler Einflussfaktor, der mit allen der dargestellten Kategorien in engem Zusammenhang steht und maßgeblich die Zeitorientierung und auch die im Anschluss dargestellte Kategorie der »Gestaltung der Zeit« beeinflusst, ist die Kategorie Gefühl von Sicherheit, die vom Gefühl absoluten Vertrauens in den Verlauf über ein relatives Gefühl von Sicherheit bis zum Gefühl fortdauernder Ungewissheit reicht. Das Sicherheitsgefühl ist nicht statisch, sondern muss von den Frauen immer wieder neu ausbalanciert werden, neu erarbeitet werden. Die Grundsituation selbst, die Situation schwanger zu sein und abhängig von der Behinderung des Kindes nicht zu wissen, ob das Kind bis zum Geburtstermin überleben wird, und die Situation, jederzeit damit rechnen zu müssen, dass das Kind verstorben ist, wird von den betroffenen Frauen als die größte Belastung und extremer Unsicherheitsfaktor erlebt. Karin: »Im Nachhinein denk ich so, was rundherum schnell vergessen wird, es waren zwölf lange Wochen, jeden Tag 24 Stunden, einschlafen mit nicht wissen, was passiert, aufwachen mit nicht wissen, was passiert. Wir wussten es ja nicht, wir wussten nicht, wird er überhaupt bis zur Geburt überleben. Ich bin nachts weißschweißgebadet aufgewacht, weil ich gedacht hab, jetzt ist er tot, ich spür ihn nicht mehr, jetzt ist er tot. Dann wiederum ist er den ganzem Tag in mir herum geturnt und ich hab gedacht, so fühlt sich kein krankes Kind an, des kann nicht sein. So lebendig in mir.« (Int. 9, 42)
Gerade das Erleben der Unvereinbarkeit der eigenen haptischen Wahrnehmung des Kindes als lebendig und »normal« steht in starkem Widerspruch zur medizinischen Prognose und führt bei Karin zu Momenten, in denen sie kurz die Diagnose anzweifelt. Sie baut sich ein vielschichtiges Unterstützungsnetzwerk aus Hebamme, Therapeutin und telefonischer Beratung auf, was ihr auch durch ihre Verwurzelung in alternativen Kontexten und das städtische Umfeld mit einem vernetzten Angebot gelingt, und findet so einen Weg, mit der Unsicherheit umzugehen. Ihr Weg ist der einer konsequenten Beziehungsarbeit mit dem Kind. Für andere Frauen ist auch die Ungewissheit, wann und wie die Geburt anfangen wird, die ihnen Angst macht. Wie Ursel erzählt: »Natürlich mussten wir das alles planen. Und wann mach mer des und wann mach mer des. Und die Geburt hätte ja auch jederzeit sein können. Und des war des Schreckliche. Zu wissen, wenn des jetzt die 30. Woche ist, dann ist sie / dann ist die Überlebenschance noch weniger. Und, ämm, dauernd mit diesem Gefühl, des kann passieren, bin ich auch nicht mehr weit. Also ich hab (Name der Stadt) fast nicht mehr verlassen (…). Oder wir
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ham uns dann ein Handy angeschafft, was wir vorher nicht hatten. Solche Sachen. Des war auch notwendig irgendwie, um mit dieser Angst klar zu kommen.« (Int. 20, 142)
In Ursels Erzählung schwingt auch die Angst mit, alles könnte noch schlimmer als befürchtete kommen, das Kind könnte als Frühgeburt geboren werden und seine Chancen auf ein kurzes Überleben noch geringer ausfallen. Wie Ursel beschreiben auch andere Frauen, dass diese Angst ihren Umgang und ihre Handlungsstrategien beeinflusst. Dies kann eine Einschränkung von Handlungen nach sich ziehen, kein Wegfahren mehr, immer erreichbar sein. Es gibt aber auch Frauen, bei denen sich die Diagnose im weiteren Schwangerschaftsverlauf verändert. Bei Hildegard verschiebt sich die Prognose von »sehr ungünstig« zu »günstig«. Allerdings muss sie einen Umgang damit finden, dass die Fehlbildung ihres Sohnes erst ab der 36. Schwangerschaftswoche zu operieren ist – wird er vorher geboren, verstirbt er. Sie muss daher für sich einen Umgang mit dieser Deadline finden, entscheidet sich, in der Zeit vorher außerklinisch zu gebären und fährt noch auf eine längere Urlaubsreise. Für Hildegard ist klar, wird ihr Sohn vorher geboren, möchte sie ihm unnötige medizinische Interventionen ersparen. Bei anderen Frauen wird die Unsicherheit verstärkt dadurch, dass ein so ausgeprägtes Fehlbildungssyndrom diagnostiziert ist und das ungeborene Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit noch im Schwangerschaftsverlauf versterben wird. In einer solchen Situation kann der unsensible Umgang des Betreuungssystems als zusätzliche Belastung auf die Frauen einwirken. Dies wird an Cosimas Erzählung deutlich. Cosima, die in ländlicher Umgebung mit schwacher Infrastruktur lebt, ist vollkommen auf das ärztliche medizinische Betreuungssystem angewiesen, hat keine Hebammenbegleitung und wenig Unterstützung außerhalb des medizinischen Betreuungssystems. Wöchentlich erhält sie eine Ultraschalluntersuchung, um festzustellen, ob ihr Kind bereits verstorben ist, wöchentlich wird ihr der Tod des Kindes für die folgende Woche prophezeit. Dies führt dazu, dass sie die Schwangerschaft als Zeitraum erlebt, in dem sie starr vor Angst und dadurch relativ handlungsunfähig ist. In einer Mail nach dem Interview schreibt sie über das Erleben der Schwangerschaft: »Schwierig. Weil halt nie klar war, ob des Kind die nächste Woche noch lebt. Bei anderen Schädigungen ist des einfach klar, dass es wahrscheinlich zu Lebendgeburten kommt und des Kind a paar Wochen bis a paar Monate lebt. Und bei uns war des so, dass wir jede Woche beim Ultraschall waren und nie gwusst ham, ob des Kind nächste Woche noch lebt. Am Anfang isses sehr schwierig. Des Beste isses sich abzulenken, weil ma kann ja net dauernd in der Problematik sein. Und hinterher gwöhnt ma sich einfach dran an diesen Zeitabstand und wenn ma beim Ultraschall war, dann war einfach erstmal gut. Für a Woche. Wir hatten immer einen Termin am Ende der Woche, falls was sein sollte, dass
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am Wochenende mein Mann mitkommen kann und wir waren immer die letzten in der Sprechstunde. Nur kurz mit em Ultraschall schauen, obs Herz schlägt.« (Int. 2, 51–52)
Die Schwangerschaft läuft so von Woche zu Woche ab, es ist immer dieser Zeitraum, der überwunden werden muss, Ultraschall und Erleichterung, dass das Kind noch lebt, dann können mit Ablenkung die nächsten Tage überstanden werden, um dann schon wieder dem Ultraschall entgegen zu zittern. Die Unterstützung, die sie erhält ist rein technischer Natur, »nur kurz mit em Ultraschall schauen obs Herz schlägt«. Es geht um Diagnostik, nicht um die Frage, wie es ihr mit der Situation geht. Religiosität und Spiritualität als Ressource Manche der Frauen vertrauen in den guten Verlauf der Schwangerschaft. Dies kann in einem Vertrauensgefühl in Gott gründen, dem der Verlauf überlassen wird, wie bei Rabea: »Also ich werd da jetzt nicht tatkräftig was machen und es kam einfach auch eine totale Ruhe und ein totaler Friede durch des, dass ich gwusst hab, dass Gott einfach seine Hand drauf hat.« (Int. 7, 42)
Rabea erhält Unterstützung durch die Freikirchliche Gemeinde, in die sie eng eingebunden ist. Während dort gemeinsam für die Heilung des Babys gebetet wird, ist für Rabea das Annehmen des gottbestimmten Verlaufes, wo auch immer er hinführt, zentral für ihr Gottesverständnis. Dieses Annehmen wird auch von anderen Frauen als zentraler Aspekt der Erfahrung genannt, wenn auch nicht auf religiöse Bindung zurückgeführt. Karin: »Also, der schwierigste Aspekt ist immer noch / also die Christen würden sagen diese Demut und ich (…) nenn es loslassen. Also diese Annahme.« (Int. 9, 66)
Religion ist für die meisten Frauen weniger etwas, das moralische Richtwerte vorgibt, diese werden eher im eigenen Inneren gesucht (und sind dabei sicher auch von religiöser Verwurzelung beeinflusst). Die individuelle Spiritualität mancher der Frauen ist eher auf ein Suchen nach Bedeutung ausgerichtet: Was ist der Sinn, warum passiert das? Dabei ist für manche der Frauen die Orientierung an anthroposophischen Prinzipen, Wiedergeburtsgedanken (das Kind braucht nur noch eine so kurze Existenz), das Bild vom Kind als »Seele«; Körper als Hülle, ein Konstrukt, in dem sie eine solche individuelle Sinnzuschreibung finden können. Zeichen einer solchen Spiritualität ist beispielsweise auch das Abgeben der Entscheidungshoheit an das Kind: »Du entscheidest, wann Du stirbst.« Diese Frauen vertrauen auf ihr Kind, die Geburt wird dann anfangen, wenn ihr Kind soweit ist, es wird dann sterben, wenn seine Zeit gekommen ist. Die kirchlichen institutionellen Angebote sind für viele der befragten Frauen zwar wichtige Aspekte; jedoch haben sie für viele mehr die Funktion, einen
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rituellen Rahmen vorzugeben, beispielsweise für Rituale wie die Taufplanung etc. Hoffnung: »Die Hoffnung ist immer da gewesen aber …« (Int. 17a, 63) Im Unterschied zu Eltern, deren Kinder im späteren Leben erkranken, bei denen der körperliche Verfall zu einer teilweisen Akzeptanz und Wahrnehmung des bevorstehenden Sterbens führt37, ist es bei den Eltern/Müttern von noch nicht geborenen Kindern umso schwieriger, das baldige Sterben zu verstehen. Meist handelt es sich um normale Schwangerschaften, eventuell ist zwar der Bauch kleiner aber die Kinder bewegen sich, wachsen bis zur Geburt. Auch wenn die Diagnose eindeutig ist, so beschreiben doch einige der Frauen, immer wieder Augenblicke der Hoffnung im Schwangerschaftsverlauf zu erleben, Hoffnung als etwas, was sie durch den Prozess begleitet. So erzählt Saskia: »Und dann ist wahrscheinlich – trotz allem wird wahrscheinlich irgendwo noch der Punkt sein: Vielleicht gibt es ja doch was (Anm.: Sie bezieht sich hier auf ihre Hoffnung, dass die Fehlbildung chirurgisch behandelt werden kann.). Vielleicht ist es ja doch nicht. Oder dieses – hmm – Unrealistische oder wie auch immer. Dieses kleine Minifünkchen Hoffnung: Vielleicht – und ich will es haben und ich will es sehen und egal was da rauskommt.« (Int. 12, 30)
Diese Hoffnung kann auf verschiedene Dinge ausgerichtet sein: auf eine Heilungsmöglichkeit, darauf, dass es doch alles ein Irrtum, eine Fehldiagnose sein könnte, darauf, das Kind einfach sehen zu können. Dies kann sein, wenn die Diagnose nicht eindeutig ist oder die Frauen beispielsweise durch Kontakt zu anderen betroffenen Frauen von überlebenden Kindern wissen und die Hoffnung haben, dass ihr Kind auch eine solche Ausnahme sein könnte. Für viele der Frauen ist diese Hoffnung einfach etwas, das sich darin ausdrückt, dass sie doch Dinge für das Baby vorbereiten, wie Karin erzählt: »Und klar, ich hab in der Hoffnung, dass er vielleicht doch länger leben würde, doch Jäckchen gestrickt und auch so, natürlich Schnullis gekauft. Und so. Es war einfach immer die Hoffnung / ich hab immer gedacht, wer weiß. (…) Wer weiß, was kommt.« (Int. 9, 64)
Während für die meisten Frauen diese Hoffnung etwas ist, was sie nicht kommunizieren, was im Gegensatz zu ihrem rationalen Verständnis der Situation steht, gibt es auch Frauen, die Hoffnung auf Heilung durch Gott haben und den Schwangerschaftsverlauf in diesem Vertrauen annehmen (siehe Rabea weiter oben). 37 Vergleiche dazu Bowlby (2006, S. 110–122), der über Eltern schreibt, die von der lebensbedrohlichen Erkrankung ihres Kindes wissen, dass diese eine Art Trauerprozess durchmachen, der von Verleugnung der Krankheit zu Akzeptanz im weiteren Krankheitsverlauf führt, die auch eng mit dem körperlichen Verfall in Zusammenhang steht.
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10.4.2 Umgang mit Zeit finden Die Kategorie »Umgang mit Zeit finden« dimensionalisiert sich von Aushalten/ Ertragen der Zeit über das Nutzen- und Gestalten-Wollen der Zeit, bis hin zu Strategien der Ablenkung – dem Vertreiben von Zeit. Die Frauen bewegen sich dabei auf einem Kontinuum zwischen der Haltung, die Zeit nutzen zu wollen, und der Haltung, die Zeit aushalten und durchstehen, hinter sich bringen müssen. Gemeinsam ist allen, dass die verbleibende Schwangerschaft ein Zeitraum ist, der gefüllt und gelebt werden muss. Wie diese Zeit gelebt werden kann, ist dabei auch von den Rahmenbedingungen abhängig. So ist es für Cosima, deren Geschichte oben erzählt wurde, die immer wieder den Tod ihres Kindes für die kommende Woche prophezeit bekommt, so, dass sie Zeit wie »ausgesetzt« erlebt: »In der Schwangerschaft wagte ich es kaum, etwas zu planen oder alleine zu unternehmen, weil ich nie wissen konnte, ob mein Kind nächste Woche noch leben würde. Ich lebte wie in einer Art Zeitloch. Die Zeit schien für mich erst nach dem Tod unseres Kindes weiterzugehen.« (Int. 2, 151)
Sie kann keine Pläne machen und lebt von Woche zu Woche. Wie dieser Zeitraum wahrgenommen wird, als was er gesehen wird, prägt die Umgangsstrategien der Frauen mit dieser verbleibenden Zeit. Die meisten der Frauen erleben die verschiedenen Aspekte dieser Kategorie in unterschiedlicher Ausprägung und verändern abhängig vom eigenen Befinden ihre Haltung zur Zeit und auch ihre Umgangsstrategien immer wieder. Die Umgangsstrategien, die die Frauen anwenden, sind auch von der im nachfolgenden Abschnitt beschriebenen Zeitorientierung abhängig: muss die Zeit vertrieben werden, wird nur auf Geburt und Tod des Kindes hingewartet oder wollen die Frauen die Zeit aktiv nutzen – die Gegenwart gestalten. Die Kategorie »Umgang mit Zeit finden« steht dabei in engem Zusammenhang mit den anderen Kategorien. Wenn Aspekte genannt werden, die in den Kategorien »Zeitorientierung«, »Beziehungsgestaltung zum Kind« und Interaktion weiter ausgeführt werden, wird im Text darauf hingewiesen. Aushalten und Annehmen müssen: »Da geht nichts durch.« Es gibt Frauen, die die Zeit bis zum Tod ihres Kindes als etwas erleben, das einfach ausgehalten werden muss, angenommen werden muss. Als belastend wird dabei das Gefühl der Hilflosigkeit und Machtlosigkeit empfunden, das früheren Erfahrungen und Lebenshaltungen entgegenstehen kann. Wie Karin es ausdrückt, wenn sie darüber spricht, dass sie jemand ist, »der alles in seinem Leben immer irgendwie regelt und sich auch gut redet und irgendwie Lösungen findet« (Int. 9, 66), sie weiß um ihre Stärke, mit Situationen klarzukommen und doch ist die Diagnose ihres Kindes etwas, wo es eben nicht darum geht, etwas zu
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tun, eine Lösung zu finden, sondern um »letztendlich immer dieses Annehmen und des ist so unendlich schwer.« (Int. 9, 66). Dieses »Unabänderliche« ist es auch, das Cosima als starke Belastung empfindet: »Ich denk, dass mer nichts dagegen tun kann. Dieses Unabänderliche. Ich muss an eine Krankenschwester denken, die zu mir gsagt hat, also mich gfragt hat, warum ich mich so entschieden hab, und dann gsagt hat, sie kann des nachvollziehen, au wenn man jetzt a Kleinkind hat, des zum Beispiel unheilbar Krebs hat, man muss einfach den Weg mitgehen. Da geht nichts durch. Einfach dieses Unabänderliche, nix machen zu können.« (Int. 2, 99)
Es gibt keine Lösung, der Weg muss mitgegangen werden mit dem kranken Kind. Auch Heidrun erlebt die Schwangerschaft als Zeit der Trauer und des Rückzugs: »(…) und letztlich die folgende Schwangerschaft war für mich, ich glaub ich, hab noch nie soviel im Bett gelegen weil ich mich sehr zurückgezogen hab. Sehr viel geweint.« (Int. 8, 24), sie unterstreicht dieses als schrecklich wahrgenommene Zeit der Restschwangerschaft damit, dass sie erzählt, sie könne sich nicht erinnern, jemals gelacht zu haben. Nutzen der verbleibenden gemeinsamen Zeit im Angesicht der Limitiertheit
»Ich hab einfach (…) so getan, als ob des jetzt ne ganz normale Schwangerschaft ist. Und hab einfach, sag ich mal, für mich einfach bewusster damit mich auseinandergesetzt, dass das halt vielleicht auch die letzt / also dass das die einzige Zeit sein kann, die wir mit (Name des Kindes) verbringen.« (Int. 16, 43)
Vielen der Frauen ist klar, dass die Zeit der Schwangerschaft vermutlich die einzige Zeit sein wird, die sie mit ihrem Kind verbringen können. So wie Dorothee, die zwar zum einen versucht, eine ganz normale Schwangerschaft zu leben, andererseits sich aber sehr bewusst ist, dass es eben keine normale Schwangerschaft ist und es nur ein »so zu tun als ob« ist, ein Vorgeben von Normalität. Zentral für sie und viele der anderen Frauen ist das Bewusstsein über die Andersartigkeit ihrer Schwangerschaft, das Ausdruck findet im Bewusstsein, dass die Perspektive auf ein Leben mit ihrem Kind nach der Geburt fehlt.38 Dieses Bewusstsein prägt den Umgang und kann zu einem Umgang führen, der geleitet ist vom Bedürfnis, die verbleibende Zeit nutzen zu wollen. So überlegt etwa Elke, was ihr Kind alles erleben soll, geht schwimmen, besucht 38 Vergleiche dazu den autobiografischen Bericht von Rapp (2013) »The stillpoint of the turning World«, in dem die Autorin über die Erfahrung der Diagnose ihres Sohnes im Säuglingsalter mit Tay-Sachs und die Begleitung durch die verbleibenden Monate der Krankheit bis zum seinem Tod berichtet. Sie nimmt dabei Bezug auf die Schwierigkeit, Mutter zu sein für ein Kind ohne die Perspektive auf eine gemeinsame Zukunft.
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einen Vergnügungspark, bindet die Geschwisterkinder aktiv ein, macht Fotos von ihrem schwangeren Bauch und den Geschwisterkindern von einer professionellen Fotografin (mehr dazu in Beziehungsgestaltung zum Kind). Das bewusste Setzen von Prioritäten ist ein weiterer Aspekt dieser Kategorie, Ursel erzählt dazu: »Und weil du vorhin gfragt hast, was mir gholfen hat, so diese Tage zu leben (…) also erstmal war für mich auch so ne Entscheidung (…) Arbeit? (…) Ne. Des geht net. (…) Ich kann jetzt net / mein Beruf ist (Anm.: Beruf der Kategorie sozial/psych/pädagogisch) / für andere da sein. Ich kann jetzt net für andere Menschen da sein. Ich muss für mich da sein und für die (Name des Geschwisterkindes) und für die Partnerschaft. Und ich will keinen dieser wertvollen Tage irgendwie jemand anders zukommen lassen. Des war (…) hab i mir dacht, des ist so was wichtiges, diese paar Tage oder diese Wochen die wir haben und dann ist sie weg. Also, sie wird gehen. Des weiß ich ja. Und des, ich will da des alles mitkriegen. Des war so der eine Anspruch.« (Int. 20, 137–138)
Das Bewusstsein über die Endlichkeit der Lebenszeit des Kindes führt dazu, dass manche der Frauen die Notwendigkeit sehen, klare Prioritäten zu setzen und zu entscheiden, was wichtig ist und was unwichtig ist für diesen Zeitraum. Dazu gehört für viele Frauen auch das Abwägen, für welche Bereiche in ihrem Leben sie Energie aufwenden möchten. Es geht für sie um die Frage, was wirklich zählt im Angesicht der Existenzialität ihrer Situation. Für Ursel bedeutet dies die bewusste Entscheidung, nicht mehr zu arbeiten im Schwangerschaftsverlauf: Sie möchte diese Zeit bewusst erleben, sie für sich haben und nicht »jemand anders zukommen lassen«. Ihre Arbeit im sozialen Bereich gibt ihr dafür nicht den Raum und die Energie. Für dieses Nutzen der Zeit spielt auch eine Rolle, ob Frauen den Raum haben zur Auseinandersetzung und Trauer in der Schwangerschaft. Dazu Cosima: »Ich denk, was gut war, dass ich zu der Zeit kei Arbeitsstelle ghabt hab und mir des erlauben konnte, mich ins Bett zu legen oder hinterher mir des schlecht gehen zu lassen, wie ich des will, und mein Mann mir auch alle Freiheiten glassen hat, wenn halt net aufgeräumt war oder es ausgschaut hat, des war kein Thema.« (Int. 2, 103)
Manche Frauen sehen den Zeitraum als gemeinsame Zeit mit dem Kind, die bewusst erlebt und gestaltet werden will, die man nutzen möchte39 als eine Art geschenkte Zeit gemeinsam mit dem Kind. Die verbleibende Zeit wird als etwas Wertvolles gesehen; die Frauen versuchen, Tag für Tag zu leben, sich auf die Gegenwart zu fokussieren (vgl. Kapitel 10.4.4). Wie dann mit dieser Zeit umgegangen wird, ist sehr unterschiedlich. Für
39 Vgl. Kuebelbeck und Davis (2011, S.93), die in diesem Zusammenhang von einem »Waiting with your Baby« (Warten mit dem Baby) und nicht einem »Warten auf das Baby« sprechen.
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Ursel geht es um die bewusste Gestaltung der Zeit, im Zentrum steht die gemeinsame Zeit mit der Tochter im Bauch: »Und dann waren wir eine Woche später oder zwei in einem anderen Klavierladen noch und ham uns dieses Klavier geliehen und ich hab mich immer wieder an dieses Klavier gesetzt und hab mir gedacht, ämm, liebe kleine (Name des Kindes), hab ich gedacht, du sollst was Schönes hören. Hab mit dem Spielen wieder angfangen. Des war eins ganz sicher, des wo mir sehr gholfen hat. Die Zeit, weil man in dem Moment, wo man Musik macht, nichts denkt. Da is man ja bloß mit der Musik und des tut schon mal gut.« (Int. 20, 99)
Das Musikmachen erfüllt für Ursel somit unterschiedliche Funktionen: Zum einen ermöglicht es ihr, ihrer Tochter eine gute Mutter zu sein, sie soll es schön haben, schöne Musik hören. Darüber hinaus stellt Musik für sie eine Möglichkeit dar, für kurze Momente die Realität vergessen zu können, nichts zu denken, ganz im Hier und Jetzt sein zu können. Elke empfindet im Rückblick – vier Wochen nach der Geburt und dem Tod ihres Sohnes findet das zweite Interview statt – den Zeitraum der verbleibenden Schwangerschaft als Zeitraum, der ihr zur freien Verfügung steht, bei dem es für sie nicht darum geht, diesen Zeitraum auszuhalten und hinter sich zu bringen, sondern darum, diese Zeit zu »genießen« und zu machen, »was ich möchte«: »Danach, wo mir dann für mich klar war, ich hab alle Zeit der Welt, ich kann machen was ich möchte (…) und so im Nachhinein sag ich auch, es geht hier garnet drum irgendwas zu entscheiden und ob man das schafft, diese 40 Wochen durchzustehen oder net. Wenn man sieht die Zeit – schwupp – is rum. Also des geht so schnell. Es geht eigentlich wirklich nur drum, die Zeit zu genießen, solang mans hat. (…) Also, und nicht, ob man das schafft. (schnäuzt) Schaffen kann man das auf alle Fälle und man wächst ja auch irgendwo.« (Int. 17b, 94)
Elke macht sich im Schwangerschaftsverlauf aber auch Gedanken, welche Erfahrungen sie mit ihrem Sohn machen will, und ihre Gestaltung ist auf diese Beziehungsgestaltung ausgerichtet. Dieser Fokus auf die Beziehungsgestaltung mit dem Kind, das Vorziehen von Bindungsaufbau ist eine der Hauptumgangsstrategien der Frauen, die versuchen, die Zeit zu nutzen, und wird im Abschnitt »Beziehungsgestaltung zum Kind« näher erläutert. Vertreiben der Zeit – Ablenkung als Umgangsstrategie Für viele der Frauen ist zumindest zeitweise Ablenkung eine Umgangsstrategie, die ihnen hilft, die Schwangerschaft zu überstehen. Diese Ablenkung kann dimensionalisiert werden in kurze Momente der Ablenkung, in Phasen des Verdrängens und auch den Versuchen, sich so wenig wie möglich mit dem Tod des Kindes auseinanderzusetzen.
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Auch für diejenigen Frauen, die sich sehr bewusst mit ihrem Kind und seinem wahrscheinlichen Tod beschäftigen, ist es so, dass sie sich nicht ständig damit auseinandersetzen können. Cosima: »Weils so a lange Zeit war, war für mich auch des Ablenken a gute Sache. Wo vorher ich so aus meinem Berufsfeld so Seelsorge nichts verdrängen, wo ich gmerkt hab, man kann sich net dauernd damit beschäftigen.« (Int. 2, 135)
Cosima spürt, dass sie den Zeitraum nur überstehen kann, wenn sie sich zumindest zeitweise ablenkt, wenn sie nicht andauernd mit der Ungewissheit der Situation konfrontiert ist. Sie erkennt für sich, dass sie jetzt in der echten Situation Überzeugungen, die sie vor der betroffenen Schwangerschaft hatte, nicht mehr gelten, dass »nichts verdrängen« manchmal einfach nicht möglich, nicht lebbar ist. Für andere Frauen ist Ablenken keine gewählte Strategie, sondern der einzige Umgang, den sie finden können. Für Marlene und ihren Partner (Anm.: Marlenes Partner war beim Interview anwesend.) ist es so, dass sie über das Verdrängen, nicht über die Diagnose sprechen, versuchen, irgendwie durch die Schwangerschaft zu kommen: Marlene: »Ich würd schon sagen (….) möglichst versuchen, nicht drüber zu reden.« Partner : »Ablenken, was anderes machen.« Marlene: »Weil, wenn man drüber spricht, kommt alles wieder hoch.« (Int. 18, 75–78)
Mit der Auseinandersetzung, dem Sprechen über die Diagnose, »kommt alles wieder hoch«, also wird nicht über das Kind gesprochen. Neben dem Schweigen innerhalb der Partnerschaft kann es auch dazu führen, dass die Frauen die Bindung zum Kind nach dem Bruch der Diagnose nur schwer wieder aufbauen können und beispielsweise den Bauch nicht länger berühren. Manche Frauen binden auch Geschwisterkinder nicht ein, und es findet ein Rückzug aus der Öffentlichkeit statt, um Konfrontationen aus dem Weg zu gehen (siehe Abschnitt »Interaktion«). Für andere Frauen kann es auch so sein, dass die Berufstätigkeit bis zu Beginn des Mutterschutzes ihnen hilft, den Gedanken und die Vorbereitung an die Geburt und damit auch den Abschied vom Kind bis zu diesem Zeitpunkt, dem Beginn des Mutterschutzes, aufzuschieben. Friederike erzählt: »Des hab ich irgendwie garnet geplant. Ich hab auch wenig zu Hause gehabt, okay, des war natürlich auch, weil er früher kam. Er kam ja vor dem Mutterschutz, ich bin ja auch berufstätig und des wollt ich mir alles für den Mutterschutz aufheben. Da hab ich mir irgendwie gar nichts. (…) Und deshalb muss ich ehrlich sagen, des hab ich dann auf mich zukommen lassen.« (Int. 3, 62)
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Für Friederike ist dieses Aufschieben eine Umgangsstrategie, um die Belastung der Schwangerschaft ertragen zu können. Eine weitere Dimensionalisierung dieser Unterkategorie stellt das Suchen nach Momenten von Normalität dar. Dies reicht vom Streben nach Momenten/ Aspekten von Normalität bis zum Aufbau von »Scheinidentität einer normalen Schwangerschaft«. Eine solche Scheinidentität konstruiert sich Saskia: »Ich hätt Schauspielerin werden können (…), ja (…) ›Schwanger?‹ ›Ja. Super, sicher, ja klar.‹ Und des kommt dann auf die Welt und ja (…), ach (…) Alles super. Alles bestens. (…) ja vielleicht war es sogar gut, wenn Leute mich angequatscht haben / och schwanger (?), sodass ich wirklich, och, in dem Moment, och, so sagen konnte, ich bin glücklich und erzählen konnte, och, was könnt ma denn. (…) Und man hat halt, och, rumgesponnen, was könnte man für einen Kinderwagen kaufen und was alles (…) und schon eigentlich Normalität haben.« (Int. 12, 98–101)
Saskia erzählt nur einem sehr kleinen Kreis von der Fehlbildung ihres Kindes und hält in dem Ort, wo sie wohnt, das Bild der glücklichen Schwangeren aufrecht. Auf die Beweggründe dafür wird näher in der Kategorie Interaktion eingegangen. Hier soll nur verdeutlicht werden, dass sie durch diese Scheinidentität immer wieder Momente des »als ob« erlebt. Kurze Momente, in denen es real für sie wird, sich wirklich nur Gedanken über ein Kinderwagenmodell zu machen, in die Rolle zu schlüpfen, in der sie jetzt eigentlich sein sollte: die der glücklichen, sich auf ein Leben mit dem Baby vorbereitenden Schwangeren. Solche Momente erleben auch andere Frauen, kurze Augenblicke, in denen sich alles für einen Moment normal anfühlt. Häufig sind solche Momente verknüpft mit dem »öffentlich schwanger sein«. Für manche Frauen kann die Rolle der Schwangeren, bei der alles normal und gut zu sein scheint für einen Augenblick zur wahrgenommenen Realität werden. Auch Dinge, die für Schwangerschaften typisch sind wie das Streicheln des Bauches, das Stolz-Sein auf das Wachstum, können solche Augenblicke/Momente der Normalität darstellen, etwas was aus der unbeschwerten Zeit vor der Diagnose in die Zeit danach überdauert und einen Gegenpol zu Trauer und Niedergeschlagenheit darstellen kann. Cosima erzählt: »Also i denk unterschiedlich. Es hat so Tage geben, da wollt ich garnet aufstehn, und es hat Tage geben, da bin ich vor dem Spiegel gstanden, so wie jede Schwangere, und streichle und schau, es is scho größer gworden.« (Int. 2, 75)
So wie jede Schwangere gibt es Momente, in denen Cosima einfach nur schwanger ist. Als unterstützend erleben es diese Frauen, wenn ihr Umfeld Alltag mit ihnen lebt und so für kurze Ablenkungsmomente sorgt. Cosima empfindet es beispielsweise als sehr unterstützend, wenn Freunde einfach vorbeikommen und mit ihr essen oder man gemeinsam spazieren geht. Dabei ist es wichtig, dass die Frauen das Gefühl haben, dass theoretisch der
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Raum da ist, über das Kind zu sprechen, dass der Wunsch nach Ablenkung von ihnen ausgeht und nicht wahrgenommen wird, dass das Gegenüber aus eigener Unsicherheit Ablenkung vorschlägt. 10.4.3 Orientierung in der Zeit: Von der Planung Sterben und Abschied, Geburt hin zum in der Gegenwart sein Mit Zeitorientierung ist hier der Fokus gemeint, mit dem auf den zeitlichen Ablauf der Schwangerschaft geblickt wird, das, worauf die Frauen ihre Aufmerksamkeit richten. Die Orientierung reicht häufig von einer Orientierung zunächst auf den Sterbezeitpunkt und eine Vorbereitung der Bedingungen dafür hin zu einer Orientierung auf die Geburt und das Kennenlernen des Kindes. Manche der Frauen versuchen im Schwangerschaftsverlauf bewusst, immer mehr in der Gegenwart zu sein, Momente des Verbunden-Seins mit dem Kind zu genießen und aktiv herbeizuführen. Bindungserleben, das eigentlich erst nach der Geburt stattfinden würde, wird versucht, in den Zeitraum der Schwangerschaft vorzuziehen. Viele Frauen bewegen sich somit in einer Pendelbewegung zwischen dem Hier und Jetzt und der Vorbereitung auf Geburt und Sterben des Kindes. Fokus auf Sterben und Abschied Die konkrete Auseinandersetzung und Vorbereitung auf die Sterbesituation selbst stellt für viele Frauen die Basis für ihre Entscheidungen über Geburtsort und Geburtsmodus dar. Wenn die Frauen sich darüber klar sind, wie das Sterben ihres Kindes ablaufen könnte, können sie sich darüber klar werden, welche Vorstellungen und Wünsche sie für die Geburt haben, welchen Rahmen sie sich dafür vorstellen. Im Schwangerschaftsverlauf beschäftigen sie sich mit unterschiedlichen Dimensionen des Sterbens ihrer Kinder. Mechthild: »(…) wir hatten immer wieder so die Vorstellung wenn (Name des Kindes) lebend zur Welt kommt, dass er dann wie ein Fisch auf dem Trockenen ersticken muss. Wir hatten einfach so bisschen die Angst, dass er eventuell sehr leiden muss, und es war uns nicht möglich in ganz (Name der Stadt) einen Kinderarzt zu finden, der uns unterstützt hätte.« (Int. 4, 69)
Mechthild möchte ihren Sohn außerklinisch auf die Welt bringen, um ihm ein Sterben mit intensivmedizinischer Versorgung zu ersparen. Ein großes Thema in der Schwangerschaft ist für Mechthild die Angst vor einem leidvollen, schmerzhaften Sterbeprozess, und sie verwendet viel Energie darauf, einen Kinderarzt und Schmerzmedikation für die geplante Hausgeburt zu organisie-
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ren. Schließlich ist ihr Hausarzt bereit, Morphin zur Verfügung zu stellen. In Mechthilds Geschichte werden verschiedene Aspekte bezogen auf die Beschäftigung mit dem Sterben deutlich, die sich bei anderen Frauen finden. So haben viele Frauen Vorstellungen vom Sterben als leidvoll verinnerlicht: Leiden, weil Sterben mit Schmerzen verbunden wird. Ein weiterer Aspekt ist die Angst der Frauen, dass ihr Kind ihnen weggenommen und intensivmedizinisch versorgt wird: das Allein-Sterben, das Bild von Technik statt mütterlicher Nähe, die Angst nicht für ihr Kind da sein zu können. Lilly : »Und ich hab ja auch irgendwie ne ganz fixe Idee, dass man mir mein Kind wegnehmen könnte. Also für mich war so ne Horroridee, ich krieg (Namen des Kindes), ich bring (Namen des Kindes) auf die Welt und sie nehmen sie mir weg, und sie muss sofort beatmet oder sonst irgendwas werden, und sie nehmen sie mir weg in so nen Brutkasten.« (Int. 15, 22)
Für viele der Frauen stellt die Ungewissheit des Sterbezeitpunktes ihres Kindes eine große Belastung im Schwangerschaftsverlauf dar. Dabei geht es zum einen um die Unsicherheit, ob das Kind die Geburt überleben wird oder nicht, aber auch um die Angst, das Kind könne jederzeit im Schwangerschaftsverlauf versterben. Cosima: »In der Schwangerschaft wagte ich es kaum, etwas zu planen oder alleine zu unternehmen, weil ich nie wissen konnte, ob mein Kind nächste Woche noch leben würde. Ich lebte wie in einer Art Zeitloch. Die Zeit schien für mich erst nach dem Tod unseres Kindes weiter zu gehen.« (Int. 2, 151)
Cosimas Sohn hat eine seltene Chromosomenanomalie, die bei den meisten Kindern zum Tod bereits in der Frühschwangerschaft führt. Ihr Frauenarzt sagt ihr ab dem Zeitpunkt der Diagnosemitteilung beim wöchentlichen Ultraschall das Sterben des Kindes für die kommende Woche voraus. Für Cosima bedeutet dies, dass sie die Schwangerschaft in ständiger Angst lebt, ihr Kind könnte jeden Moment versterben. Sie kann sich auf nichts anderes als diese Angst einstellen, erlebt die Schwangerschaft als »Zeitloch«, ohne wirkliche Gegenwart und ohne Zukunft. Geburt – Das Kennenlernen als neue Perspektive Viele Frauen verändern im Lauf des Prozesses ihren Fokus weg vom Blick auf das Sterben hin zu Geburt und Kennenlernen des Kindes. Für viele der Frauen ist es erleichternd, den Fokus weg vom Sterben hin auf die Geburt und die Hoffnung des Kennenlernens ihres Kindes richten zu können. Lilly : »Das fand ich so schizophren, da hochschwanger mir so den Friedhof und ein Grab auszusuchen. Und das war dann auch der Punkt, wo ich dachte, ne, jetzt kommt sie
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einfach. Jetzt kommt sie und jetzt freu ich mich. Also da kam dann auch noch mal ganz viel Freude, was ich einfach so, ne, oh wie schön, jetzt kommt sie und ich kann sehen wie sie aussehen wird.« (Int. 15, 38–39)
In Lillys Geschichte wird deutlich, dass es beim Abbrechen der Beerdigungsvorbereitung, der Wahl des richtigen Friedhofs etc. nicht nur um die Spannung zwischen lebendem Kind und Beschäftigung mit seinem Tod, sondern vielmehr auch um die Zukunftsperspektive geht: Sie will sich freuen auf dieses Kind, auf die Begegnung. Wie sie an anderer Stelle sagt, erst muss sie dieses Kind kennenlernen, bevor sie es loslassen kann, und auf dieses Kennenlernen will sie sich freuen, dieses Kennenlernen, diese Begegnung will sie im Blick haben, nicht das Sterben und den Abschied. Die Daten zeigen, dass alle der hier befragten Frauen den Wunsch äußern, das Kind lebend kennenlernen zu können. Für manche Frauen stellt das Fokussieren auf die Vorstellung der ersten Begegnung als liebesgefüllten Moment, als gegenseitiges Erkennen »Du bist mein Kind, ich bin Deine Mutter.« und auf die Vorstellung von der Entstehung bzw. Verstärkung eines untrennbaren Bandes der Liebe zwischen Mutter und Kind eine positive Zukunftsprojektion dar, etwas auf das es sich hin zu leben lohnt und dessen Gestaltung bewusst vorbereitet werden kann. Es stellt auch etwas dar, was in gewisser Weise kontrollierbar zu sein scheint. Das Ausmalen dieses Momentes, als die Entwicklung einer eigenen Projektion, wie und wo dieser Moment stattfinden soll, und das Entwickeln eines Schemas zur Gestaltung dieser Projektion sind für viele Frauen wichtige Aspekte von Bewältigungsstrategien während der Schwangerschaft. Für einige der Frauen wird er zu einer Hoffnung, die sie in gewisser Weise trägt, einen Punkt, auf den zu gelebt werden kann. Die Planung und Vorbereitung der Geburt sind bei vielen der Frauen auf diese erhoffte Begegnung mit dem Kind ausgerichtet. Es geht um die Frage: Was ist dran? Was kommt zuerst und was danach. Zuerst kommt das, was auch zeitlich zuerst kommt: das Leben. Damit man leben kann, muss man das Nacheinander beachten: Leben, während man lebt; sterben, während man stirbt. Indem sie sich auf das Leben vorbereitet hat, hat sich auch – implizit – auf den Tod vorbereitet. Das leistet sie aber nicht allein, andere sorgen hier für sie und stellen die Rahmenbedingungen bereit, sodass sie – wenn sie bereit ist – darauf zurückgreifen kann. Ob diese Hoffnung auf ein Kennenlernen und eine Begegnung mit dem lebenden Kind für die Frauen zu einer Zukunftsprojektion werden kann, hängt dabei mit dem Gefühl von Sicherheit/Unsicherheit zusammen, auch vom Zugang zu Informationen und der Prognose für das Kind ab. Die Planung der Geburtssituation, des Kennenlernmomentes wird mit Fortschreiten der Schwangerschaft und mit Näherrücken der Geburt immer
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wichtiger. Für manche Frauen gibt es wenig zu entscheiden: aufgrund ihrer Wohnsituation oder weil sie keine Alternative kennen, kommt für sie nur die Geburt in der ihnen bekannten Klinik infrage. Andere Frauen fühlen sich dort auch gut betreut, und es ist für sie klar, in der Klinik, in der sie bereits seit der Diagnosestellung betreut worden sind, auch ihr Kind auf die Welt zu bringen. Für andere Frauen ist die Auswahl des Geburtsortes etwas, mit dem sie sich im Verlauf der Schwangerschaft intensiv beschäftigen. Bei der Wahl des Geburtsort geht es für die Frauen darum zu entscheiden, wo sie ihre Vorstellungen sowohl von Gebären als auch von Begrüßen, Verabschieden und Sterbegestaltung am ehesten umsetzbar sehen, wo sie sich zum einen gut aufgehoben, aber auch handlungsmächtig erleben. Gerade für diejenigen Frauen, die sich für eine Hausgeburt entscheiden, sind dabei Wünsche nach Intimität, Wärme, Geborgenheit für die verbleibende Lebenszeit ihres Kindes nach der Geburt wichtige Entscheidungsfaktoren. Dabei spielt das Ausmaß an gewünschter medizinischer Versorgung für das Kind und das Gefühl, dieses Ausmaß steuern zu können oder die Angst davor, dieses Ausmaß in bestimmten Settings nicht steuern zu können, eine Rolle für die Wahl des Geburtsortes. Für manche der Frauen wäre die Entscheidung für die Geburt in der Klinik eine Entscheidung für »Apparate«. Dies möchten sie nicht, sie möchten für ihr Kind eine normale Geburt. Dieser Wunsch nach einer »schönen und normalen Geburt« kann auch als etwas gesehen werden, was die Frauen dem Kind ermöglichen wollen, etwas, was die Frauen noch für ihr Kind tun wollen. Dahinter kann aber auch der Wunsch gesehen werden, dem Kind und der Schwangerschaft ein wenig »Normalität« zurückzugeben: weg von dem technisierten Moment der Diagnostik, die in die Perspektivlosigkeit führt, hin zu einem häuslichen Moment von mütterlicher Sorge und »Vor«-Sorge. Auch für die Wahl der Klinik spielen solche Gedanken zu Technik und Interventionen eine Rolle. Dabei ist die Befürchtung, medizinischen Interventionen ausgeliefert zu sein, wenn diese vorhanden sind, ein Aspekt der Überlegungen. Lilly über ihre Überlegungen zum Geburtsort: »(…) will ich überhaupt ne intensivmedizinische Betreuung haben?(…)Und ich hab dann auch / das kam mir dann grade recht mit meinen beiden Hebammen, die sind Beleghebammen in (Name des Krankenhauses), aber die ham keine Kinderklinik, keine Kinderintensivbetreuung. Weil ich wirklich so das Gefühl hatte, da is so ein Puffer dazwischen, dass was passieren kann, irgendwie, ich brauchte diese Sicherheit, dass da niemand irgendwie was macht. Jo.« (Int. 15, 22)
Die Angst, machtlos zu sein und keinen Einfluss auf die Versorgung des Kindes zu haben, ist für Lilly Grund, sich für die Geburt in einer kleinen Klinik zu entscheiden. Das Fehlen einer Kinderklinik stellt für sie einen »Puffer« dar, einen Schutz vor medizinischen Übergriffen und vor dem gefürchteten Weggenom-
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men-Kriegen. Der Verzicht auf Technik scheint nur möglich, wenn diese Technik nicht vorhanden ist. Ihr Bild von Klinik und Medizin ist das eines machtvollen Gegenübers dem man nur durch ein Sich-Entziehen beikommen kann. Für andere Frauen stellen gerade große Kliniken, in denen sich Spezialisten aus verschiedenen Fachbereichen mit ihren Fragen beschäftigen, ein Umfeld dar, in dem sie sich gut aufgehoben und adäquat betreut fühlen. So erlebt Dorothee die Planung der Geburt in einem spezialisierten Zentrum als selbstbestimmt und informiert: »Also wie gesagt, wir waren dann im Klinikum in (Name der Stadt) bei dieser Oberärztin. Die hat dann einen Ultraschall gemacht. Die hat dann gesagt, dass sie halt eben diesen schweren Herzfehler hat und hat dann noch diesen (…) Oberarzt von der Säuglingsstation dazu geholt und wir ham dann alles besprochen, wie das bei der Geburt aussehen soll. Dass sie halt eben keine intensivmedizinischen Maßnahmen haben möchten, aber schon halt dass sie halt einfach ne Erleichterung bekommt (…) und (…) ja, also. Es war einfach irgendwie alles besprochen und alles geklärt und (…) ja.« (Int. 16, 43)
Für Dorothee ist es hilfreich, alles im Vorfeld abgesprochen zu haben, zu wissen, welche Art der Versorgung für ihre Tochter zur Verfügung stehen wird. Auch die Möglichkeit, mit dem Pädiater über Schmerzmedikation (»Erleichterung«) zu sprechen, ist gegeben. »Wir« haben alles besprochen, nicht »die Ärzte« entscheiden über das Vorgehen, sondern es ist eine Absprache auf Augenhöhe, in der sich Dorothee und ihr Partner als Akteure erleben. Für diejenigen Frauen, die eine Klinikgeburt planen, ist dieses Gefühl der Partizipationsmöglichkeit ein wichtiger Faktor : Ob sie Mitspracherecht haben bei der Versorgung des sterbenden Kindes, ob sie sich mit ihren Ängsten ernst genommen fühlen, sich umfassend informiert fühlen. Einige der Frauen werden von den betreuenden Ärzten bzw. Ärztinnen in ihrem Wunsch nach einer Hausgeburt unterstützt, andere müssen sich gegen Widerstände durchsetzen oder ziehen sich aus der ärztlichen Betreuung zurück. Aussagen wie »Das dürfen Sie nicht.« (Int. 17a, 102), »des macht bestimmt niemand wegen unterlassener Hilfeleistung so hinterher« (Int. 17a, 78) oder auch Aussagen über die Gefährlichkeit einer außerklinischen Geburt stehen unterstützenden und ermutigenden Aussagen von Seiten der betreuenden Ärzte bzw. Ärztinnen gegenüber. Gerade die Unterstützung für die Überlegungen zur außerklinischen Geburt aus dieser unerwarteten Richtung empfinden die Frauen als ein Hineinversetzen in ihre Situation. In der Ausdifferenzierung der Geburtsplanung geht es neben den Gedanken zum Geburtsort für einige der Frauen auch darum, über den Geburtsmodus zu entscheiden. Dies ist insbesondere bei denjenigen Frauen, deren Kinder eine Fehlbildung haben und die ein Überleben der Spontangeburt unwahrscheinlich
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machen kann. Dabei sind Aspekte, wie die Überlebenswahrscheinlichkeit, der Wunsch, das Kind lebend kennenlernen zu können, aber auch der Wunsch, dem Kind eine schmerzarme Geburt zu ermöglichen, Faktoren, die Überlegungen zum Kaiserschnitt initiieren. Inken erzählt: »Der große Wunsch war ja halt, dass er (…) dass er wenigstens noch so kurz lebt. (…) Und (…) da kam ich halt dann irgendwann so zu der Überlegung, okay, ich sach mal, für ihn is es vielleicht leichter, wenn wir einen Kaiserschnitt machen.« (Int. 14, 34)
Für diese Frauen ist die Option eines selektiven Kaiserschnitts keine Option, die ihnen von den betreuenden Ärzten angeboten wird, sondern eine Option, die sie sich selbst aus Informationen aus Selbsthilfeforen erschließen, und von der sie ihre Ärzte überzeugen müssen. So erzählt Inken ihre eigene Entscheidung über den Kaiserschnitt als Entwicklungsprozess, in dem sie sich den Raum für die Möglichkeit eines Kaiserschnitts erst erschließen muss: »›Die Unterstützung, die wir Ihnen geben können, kriegen Sie und wir machen das alles so, wie Sie das wollen. Wenn Sie einen Kaiserschnitt wollen, kriegen Sie den. Wenn Sie keinen wollen, machen wir da so.‹ Und das war so ein Punkt, wo ich echt gedacht hab, endlich. Weil vorher Ja, da hat sie dann halt gesacht, ne, Kaiserschnitt, das ginge nicht. Das (…) ist, ne, fürs Kind wärs nicht von Vorteil, für mich wärs ein gesundheitliches Risiko. Kaiserschnitt gibt’s nicht. Und / aber irgendwann hat sie dann halt vielleicht doch geblickt, warum wir dann halt vielleicht doch eventuell einen Kaiserschnitt haben möchten.« (Int. 14, 32)
Lange Gespräche und Termine führen zu einer Haltungsänderung der Ärztin und ermöglichen Inken schließlich, eine Entscheidung zu treffen. Letztendlich entscheidet sie sich doch gegen den Kaiserschnitt: Die Vorteile erscheinen ihr nicht zu überwiegen und sie hat Angst, durch die Operationsfolgen im Umgang mit ihrem Kind, falls es doch überleben sollte, eingeschränkt zu sein. Viele der Mütter, deren Kinder unter der Geburt verstarben, hadern im Rückblick damit, dass ihr Kind bei einer Kaiserschnittgeburt eventuell noch gelebt hätte und sie es doch hätten kennenlernen können. Sie verweisen darauf, dass sie im Rückblick mit dem Wissen aus Untersuchungen zum Geburtsoutcome von Kindern mit Anenzephalie40 vielleicht eine andere Entscheidung getroffen hätten. Die beiden Frauen – Anita und Heidrun –, die mit Zwillingen schwanger sind, von denen jeweils ein Kind gesund ist, stellen den Kaiserschnitt als Geburtsmodus hingegen nicht infrage. Die Möglichkeit einer vaginalen Geburt thematisieren sie im Interview gar nicht.
40 Vergleiche dazu die Studie von Jaquier et al. (2006) zum Outcome von Kindern mit Anenzephalie, die Hinweise auf eine längere Überlebensdauer bei Kaiserschnittentbindung findet.
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Im Hier und Jetzt sein wollen Neben der Orientierung auf die Zukunft, die wie aufgezeigt auf das Sterben oder auch auf die Geburt und die Begegnung mit dem Kind gerichtet sein kann, beschreiben einige der Frauen auch einen Prozess, in dem sie zunehmend versuchen, im Hier und Jetzt zu sein: Jetzt lebt mein Kind, jetzt möchte ich die gemeinsame Zeit nutzen. Für diese Frauen ist es eine aktive Fokusverschiebung, die sie treffen, weil sie sich der Endlichkeit der Zeit mit ihrem Kind bewusst sind. Johanna erzählen: »Also des (Kosename des Kindes) isch jetzt da, jetzt lebts. Was bringst mir, wenn ich jetzt abschließ und traurig bin. Des möchte ich einfach nicht. Ich möchte ihr einfach soviel Positives mitgeben wie geht. Man sagt ja auch immer, Kinder kriegen alles mit, wie es der Mama in der Schwangerschaft geht.« (Int. 5, 92)
Für Johanna ist dieses Im-Hier-und-Jetzt-Sein auch etwas, das sie für ihre Tochter tut. Für Ursel stellt dieses In-der-Gegenwart-Sein auch eine Umgangsstrategie dar, die ihr hilft, die schwierige Situation auszuhalten: »So dieses wirklich nur von einem Tag zum anderen leben. Ein Tag – dann kommt der nächste Tag. Und garnet die Wochen vor Augen zu halten, da ist die Geburt oder so was (…). Sondern wirklich so, die kommt, wann s kommen will.« (Int. 20, 297)
Wie Ursel beschreiben auch andere Frauen diese Fokusverschiebung als Versuch, eine ganz normale Schwangerschaft erleben zu wollen, nicht immer daran denken zu wollen, dass das Kind sterben wird und den Gedanken an das Kommende verdrängen zu wollen. Für diejenigen Frauen mit älteren Kindern ist es auch ihr Alltag mit diesen Kindern, der zum Fokus auf die Gegenwart zwingt, Ursel: »Und ich denk, die (Name des Geschwisterkindes) hat mir des gut vorgelebt. Also so im Augenblick zu bleiben. ›Heute‹ zu denken. Heute ham mer jetzt Kindergruppe und heute machen wir (unverständlich). Wenn ich net die (Name des Geschwisterkindes) ghabt hätt, dann glaub ich, wär es nochamal ganz anders gwesen (…) Aber des, des is glaub ich, a ganz wichtiger Punkt. Mit zu gehen und net zu denken, was passiert dann und was passiert dann.« (Int. 20, 140–141)
Um zu diesem Im-Hier-und-Jetzt-zu-sein fähig zu sein,– »mit zu gehen und net zu denken«, wie Ursel es nennt, ist ein gewisses Maß an Sicherheitsgefühl in Bezug auf den weiteren Verlauf notwendig. Dieses Sicherheitsgefühl eröffnet den Frauen den Raum für das Hier und Jetzt. Dieses Sicherheitsgefühl kann aus dem Vertrauen in das Betreuungsnetzwerk herrühren oder aus dem Gefühl, Kontrolle über den Verlauf zu haben, beispielsweise durch ausreichende Informationszugang oder das Empfinden, alles Notwendige vorbereitet zu haben. Hier wird deutlich, dass die Kategorien »Orientierung in der Zeit« und
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»Umgang mit Zeit« eng miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. So zeigt sich, dass beim Vorliegen hoher Unsicherheit bezogen auf die Diagnose oder auch die Planungen zu Sterben und Geburt, die Frauen mit ihrer Aufmerksamkeit bei diesen Aspekten sind und es schwer ist, die Zeit der Schwangerschaft zu gestalten.
10.4.4 Bindung gestalten – Beziehungsgestaltung zum Kind Die Kategorie Bindung gestalten – Beziehungsgestaltung zum Kind setzt sich aus verschiedenen Unterkategorien zusammen. Im Folgenden werden zunächst die Phasen der Bindung dargestellt. 10.4.4.1 Die Phasen der Bindung: Entfremdung – Annäherung – Verbundenheit Mit der Diagnosemitteilung bricht für viele Frauen das Bild, das sie von sich als Mutter, aber auch das Bild, das sie von ihrem Kind haben, zusammen und viele der Frauen beschreiben dabei Dimensionen der Entfremdung von ihrem Kind. Die Mutter-Kind-Symbiose wird durch die Diagnose und das Angebot, einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu können, jäh unterbrochen. Die Frauen müssen diese Verbindung und auch ein inneres Bild von ihrem Kind neu konstruieren. Die Bindungsgestaltung zum Kind ist ein Prozess, der von einer Entfremdung vom Kind über Annäherung zu Verbundenheit führt. Anne erzählt: »Also der Schock, dieses gesunde Kind zu verliern. Die Trauer war eigentlich um die Diagnose rum. Einmal des, des Akzeptieren. Dann ihn so anzunehmen, wie er halt war, und nach der Beerdigung, ich hat so des Gfühl, ich beerdige mein zweites Kind, also, einmal des gesunde schon vor einem Jahr und jetzt (Name des Kindes), so wie er war und um den ich so getrauert hab, so wie er war und der mir fehlt, so wie dann war.« (Int. 1, 166)
So beschreibt Anne das Empfinden von Trauer um »dieses gesunde Kind« und die langsame Annäherung und die Annahme des anderen Kindes, »so wie er war«. Das Kind im Bauch ist anders als das innere Bild, das die Frauen bis dahin von ihrem Kind haben. Gleichzeitig stellt das Wissen um das bevorstehende Sterben des Kindes eine Art paradoxes Wissen dar. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Diagnose des Kindes nicht wirklich erfahrbar ist in dem Sinne, wie es bei einem Kind, das nach der Geburt erkrankt, der Fall wäre: Eine solche Erkrankung ist sinnlich begreifbar, das Kind wird schwächer, muss gepflegt werden. Die pränatale Diagnose ist nur über das abstrakte Bild des Ultraschallmonitors abgetrennt von der eigenen Leiblichkeit erfahrbar. Die eigene Körper-
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wahrnehmung, der wachsende Bauch und das Wahrnehmen der Kindsbewegungen stehen im Gegensatz zu dieser abstrakten Diagnose. Die folgende Grafik (siehe Abbildung 5) zeigt die prozessuale Entwicklung der Bindung zum Kind im Verlauf:
Abbildung 5: Die Phasen der Bindung
Entfremdung Ein Aspekt der Entfremdung betrifft das Bild vom Mutter-Sein und das Infragestellen dieses Mutter-Seins im Angesicht dessen, dass es mit diesem Kind keine gemeinsame Zukunft geben wird, dass die Schwangerschaft nicht länger eine Zeit der guten Hoffnung auf ein gemeinsames Leben ist. Die Kernbedeutung, der Sinn der Schwangerschaft ist infrage gestellt: »Bin ich überhaupt noch schwanger?«, wenn die Schwangerschaft nicht auf dieses gemeinsame Leben ausgerichtet werden kann. Die Frauen haben ein inneres Bild von ihrem Kind und dieses Bild zerbricht durch die Diagnosestellung. Das Kind im Bauch ist nicht das bislang imaginierte Kind. Damit ist in diesem Zusammenhang Imagination oder Vorstellung nicht in der Bedeutung von Erwartungen und Ansprüchen gemeint, sondern als konkrete Vorstellung, als inneres Bild. In Marias Beschreibung eines Gesprächs mit ihrem Mann nach einer Ultraschalluntersuchung wird dieses »Neu-Zusammensetzen« des inneren Bildes deutlich: »Der hat dann auch noch mal geguckt, und das war dann auch wieder eine ganz komische Situation, weil er irgendwie gesagt hat, ja, also des Kind hat Klumpfüsse, es
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hat ne viel zu große Nasenwurzel, also er hat so viele Sachen genannt, wo wir uns so zusammengestückelt ham, dass wir gedacht ham, oh Gott! Wir kriegen ein kleines Monsterle, so vom Bildnis her, wie du des dir so zusammensetzt. Dann bin ich heim und war erstmal total frustriert und dacht, oh jesses Gott. (…) Aber halt dieses Bild, was er zusammengesetzt hat, des war schon heftig (lacht).« (Int. 6, 69)
Maria und ihr Mann setzen aus den unterschiedlichen Aspekten der Ultraschalluntersuchung ein eigenes inneres Bild zusammen: »ein kleines Monsterle«. Viele der Frauen beschreiben mehr oder weniger deutlich diese Veränderung des inneren Bildes und ihre Angst vor dieser Veränderung. Verstärkt wird diese Entfremdung zudem noch durch Bilder von außen. Besonders deutlich wird dies in den Gesprächen mit denjenigen Frauen, die ein Kind mit Anenzephalie erwarten. Manche sehen sich stigmatisierenden Beschreibungen ausgesetzt wie »Froschkopf«, »Froschaugen« oder »fehlender Kopf« entweder bei der Diagnose oder in Informationen, die sie im Internet oder in der Fachliteratur suchen. Mit solchen Bildern kommt es auch zu einer »Ent-Menschlichung« des Kindes, das Kind wird zur Kreatur. Das Ausmaß der eigenen Entfremdung scheint dabei also auch von der körperlichen Stigmatisierung des Kindes abhängig zu sein. Dabei dimensionalisieren sich die Fehlbildungen oder Erkrankungen von inneren »unsichtbaren« Fehlbildungen, wie etwa schweren Herzfehlern, Nierenfehlbildungen und ähnlichem, zu Chromosomenanomalien, die das Erscheinungsbild wie etwa die Gesichtszüge nur leicht verändern bis hin zu schweren Fehlbildungssyndromen, bei denen beispielsweise keine Augen angelegt sind, schwere Spaltbildungen im Gesichtsbereich vorliegen oder die Kopfform wie bei der Anenzephalie verändert ist und auf medizinischen Abbildungen wie eine offene Wunde aussehen. Für manche der Frauen ist es dieses Bild, das zur Bindungsunterbrechung führt. Anne erzählt: »Also erst mal hab ich mir dann so ein Monster vorgestellt dann, also so ein Monster (…) dann war die Bindung schon unterbrochen.« (Int. 1, 108)
Für viele Frauen geht es bei der Entfremdungsreaktion aber auch um das Hinterfragen der eigenen Liebesfähigkeit zu diesem Kind: Kann ich dieses Kind in seinem So-Sein annehmen und lieben? Ein weiterer Aspekt von Entfremdung ist die Infragestellung der Beziehungsoder Bindungsfähigkeit des Kindes. Wichtige Einflussfaktoren sind dabei das Ausmaß der geistigen Behinderung und die Einschränkung oder das Fehlen von Sinneswahrnehmungskapazitäten. So fragt sich Harriet, deren Kind eine schwere Hirnfehlbildung hat, ob ihr Sohn überhaupt weiß, dass sie seine Mutter ist, wenn er sie sieht, ob er sie erkennen kann. Anne, deren Kind keine entwickelten Augen hat, fragt sich, was ihr Sohn wahrnimmt, wenn er nicht sieht?
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Welche Sinneswahrnehmungen hat mein Kind, wenn es keine Augen hat, kann es hören, fühlt es mich? Für wen mache ich das alles? Wenn also das Erkennen, die Wahrnehmung über Sinnesorgane, über Hirnfunktion und Körperphysiologie eingeschränkt ist, so stellen sich den Frauen Fragen wie »Was ist übrig, was bleibt?«, aber auch »Wie viel Gehirn braucht ein Kind um Bindung einzugehen? Was bekommt ein Kind mit, wenn es nicht hört und nicht sieht? Gibt es etwas, was einen Menschen ausmacht, das über diese naturwissenschaftlichen-medizinischen Kapazitäten hinausreicht, eine Seele, Liebesfähigkeit?« Annäherung Im Neuausrichtungsprozess kommt es zu einer Wieder-Annäherung ans Kind: »Du bist immer noch mein Kind.«, die sich bei vielen der Frauen im weiteren Schwangerschaftsverlauf zu einer Verbundenheit mit dem Kind weiterentwickelt. Maria: I: »Wie war denn die Beziehung zu Ihrem Sohn in der Schwangerschaft, nachdem Sie die Diagnose bekommen haben?« »So die erste Woche war schwierig. Da konnt ich mich auch garnet über irgendeinen Tritt freuen oder so und au, (…) des zweite Stadium / also mein Mann sagt immer so am Anfang hab ich viel den Bauch massiert und des war plötzlich weg. Des ist mir selber nicht so bewusst gewesen, aber er hat gmeint, des hat er stark beobachtet, dass ich da irgendwie garnet so / so ab der 30., wo mir gsagt ham, wir machen jetzt alles so weiter, dann wars wieder in Ordnung. Dann hab ich au wieder mit ihm kommuniziert in dem Sinn, dass ich ihn viel gstreichelt, mit ihm gredet hab.« (Int. 6, 69–71)
Von einem Abbruch des inneren Dialogs aber auch einem »körperlichen Rückzug vom Kind«, dem Einstellen von Berührungen, kommt es mit der Annäherung ans Kind zu einer Wiederaufnahme dieser Handlungen. Verbundenheit Viele der Frauen beschreiben zu einer Verbundenheit mit dem Kind gefunden zu haben, manche mit der Entscheidung, andere im weiteren Schwangerschaftsverlauf. Die Kategorie »Verbundenheit für den Zeitraum bis zur Geburt des Kindes« besitzt dabei verschiedene Unterkategorien und Dimensionen, die im Folgenden dargestellt werden. In den Daten zeigt sich, dass sich die Bindungsgestaltung dimensionalisiert in die körperliche Wahrnehmung des Kindes im eigenen Körper, den inneren Dialog mit diesem Kind und das eigene imaginierte Bild dieses Kindes. Diese drei Bereiche stehen in engem Zusammenhang und bedingen sich gegenseitig.
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10.4.4.2 Aspekte der Bindungsgestaltung In der Bindungsgestaltung zum Kind zeigen sich in den Daten verschiedene Bereiche, in denen diese erlebt wird. Dies sind der innere Dialog der Frauen mit dem ungeborenen Kind, das eigene imaginierte Bild vom Kind und die Interpretation der körperlichen-haptischen Wahrnehmung des Kindes, beispielsweise seiner Bewegungen. Diese Bereiche und ihre Verknüpfung sind in der folgenden Grafik (siehe Abbildung 6) dargestellt:
Abbildung 6: Aspekte der Bindungsgestaltung nach der Geburt
Innerer Dialog Der innere Dialog zum Kind verändert sich immer wieder im Schwangerschaftsverlauf, bei manchen Frauen prozessual, bei anderen durch Impulse oder Störungen von außen. Die Dimensionalisierung reicht von Phasen und Momenten der Unterbrechung bis zu Phasen und Entwicklungen hin zur Intensivierung dieses inneren Dialogs nach der Diagnosestellung. Ursel erinnert sich: »Also ich hab dann / der Kontakt hat sich verändert. Auf einmal war ein Kontakt da, der die ersten zwanzig Wochen nicht war. Als wär, ich sag, im Nachhinein als wär da was aussprochen worden endlich und ham mer ein Kontakt zueinander gfunden. Also es war viel mehr (…) ja (…) inneres Gspräch auch und auch des Spüren von den Bewegungen.« (Int. 20, 20–25)
Ursel beschreibt die Beziehung zu ihrem Kind als inneren Dialog, den sie mit ihrer Tochter im Schwangerschaftsverlauf hat und der sich im Verlauf intensiviert. Für Ursel wie auch für einige andere Frauen ist es sogar so, dass sich dieser innere Dialog nach der Diagnosemitteilung intensiviert. Der Kontakt ist dabei
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etwas, was beide Parteien, die Mutter und das Kind in ihrem Bauch zueinander finden, und auch das »innere Gespräch« verweist auf die aktive Rolle, die Ursel ihrer Tochter in dieser Beziehung zuschreibt. Nicht sie findet den Kontakt zu ihrer Tochter, sondern dieses Kontakt-Finden ist etwas Beidseitiges: Auch ihrer Tochter schreibt sie darin eine aktive Rolle zu. Die Beziehung zu ihrer Tochter ist für Ursel eine innere Welt, so wie sie auch ein inneres Bild von ihrer Tochter hat. Wie eng dieser innere Dialog mit der körperlichen Wahrnehmung des Kindes verknüpft ist, wird deutlich an Dorothees Beschreibung: »Wie war meine Beziehung zu ihr (…) Ich glaub die war sehr innig. So. Und ich hab sie dann halt immer irgendwie auch ermuntert, des durchzuhalten (…) Und ich hab sie einfach dazu ermutigt, dass sie (…) uns des schenkt und vor allen Dingen auch ihm (Anm.: dem Vater) die Gelegenheit schenkt, weil ich hab sie ja gespürt. Ja. Er hat sie zwar auch von außen gespürt, aber des is doch noch mal irgendwie was anderes.« (Int. 16, 47)
Dorothee unterscheidet zwischen dem Spüren des Kindes von außen und dem Spüren des Kindes im eigenen Leib. Durch das Spüren ihrer Tochter sieht Dorothee sich auch in einer vermittelnden Rolle: Sie ist es, die die Wünsche auch des Vaters an das Kind kommuniziert. Ihre Rolle als Mutter ist eine ermunternde, ermutigende und sie nimmt die Beziehung zu ihrer Tochter als innig wahr. Die Verbundenheit von Mutter und Kind wird von vielen der Frauen als sehr eng erlebt und einige haben die Vorstellung, dass das Erleben ihres Kindes direkt eingebunden ist in ihre eigene Erlebenswelt, ihre Emotionen und ihr Befinden. So wie Johanna sagt: »Ich möchte ihr einfach soviel Positives mitgeben wie geht. Man sagt ja auch immer, Kinder kriegen alles mit, wie es der Mama in der Schwangerschaft geht.« (Int.5, 92)
Johanna versucht deshalb bewusst, in der Schwangerschaft positive Erlebnisse zu haben, versucht die Gedanken an den bevorstehenden Tod ihrer Tochter, negative Empfindungen und Trauer zu verdrängen. Körperlich-haptische Wahrnehmung So wie für Elke ist für viele der Frauen die Wahrnehmung der Kindsbewegungen und somit der Lebendigkeit des Kindes etwas, was sie genießen und an dem sie sich auch freuen können. Die körperliche Wahrnehmung des Kindes ist für viele Frauen etwas, das fundamental für das Gefühl der Verbundenheit mit dem Kind ist. Anne: »Ich hab dann immer auch bewusst / es war immer sein Fuß der an der gleichen Stelle rauskam, er hat sich auch nicht groß bewegt, aber, amm (…), ja wo ich des Gfühl hatte er (…) sein Fuß dort zurückgezogen, wenn ich ihn gekitzelt oder berührt hab. Und
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dann war des schon so ne Kontaktaufnahme über seine Bewegungen wieder.« (Int. 1, 109)
So ist für Anne das Spielen mit ihrem Kind, das Kitzeln am Fuß und die Reaktion des Zurückziehens eine Form der Kontaktaufnahme. Manche der Frauen versuchen diese Kontaktaufnahme durch gezielte Techniken zu intensivieren41, wie beispielsweise durch Haptonomie. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung des Kindes immer auch eng verknüpft mit der Interpretation dieser Wahrnehmung. Rabea: »Ich war dann schon regelmäßig bei meiner Frauenärztin, alle zwei Wochen musst ich da antanzen. Die hat dann jedes Mal einen Ultraschall gemacht und au ganz oft diesen Doppler und hat dann au versichert, dem Kind geht’s gut. Aber ich hab scho gspürt, die strampelt nicht so wie die erste und gmerkt irgendwie, sie ist anders. Aber gut, jedes Kind ist anders. Dann war sie normal für mich.« (Int. 7, 35)
Rabeas Kind hat eine schwere Hirnfehlbildung, die bereits während der Schwangerschaft zu Krampfanfällen des Kindes führt. Rabea nimmt wahr, dass die Bewegungen des Kindes sich von den Bewegungen ihres ersten Kindes unterscheiden und gleichzeitig interpretiert sie diese Unterschiedlichkeit für sich als »anders«, bewertet sie aber nicht. Jedes Kind ist anders, also ist ihr Kind ja doch normal. An Rabeas Aussage wird deutlich, dass manche der Frauen im Verlauf ihrer eigenen Wahrnehmung mehr vertrauen als den Aussagen ihres Arztes bzw. ihrer Ärztin, dass sich die Frauen die Deutungshoheit für ihre eigene Wahrnehmung nicht nehmen lassen. Während die Ärztin ihr bei den Ultraschalluntersuchungen versichert, dem Kind gehe es gut, spürt Rabea, nein, es ist etwas anders. Andere Beispiele für das Vertrauen in die eigene Deutungshoheit gehen in eine andere Richtung: Manche der Frauen stellen dabei ihre eigene Wahrnehmung des Verhaltens ihres Kindes dem medizinischen Bild der jeweiligen Diagnose gegenüber, so wie Ursel: »Die sagen alle, die sind so schwach diese Kinder und des kann doch garnet sein und da hat man die Abdrücke gsehn und des war bei der (Name des Geschwisterkindes) nicht so, ne, obwohl die au supergsund war. Und ich hab mir dacht, ganz ne andere Mentalität im Bauch, so (Anm.: macht Bewegung mit Händen) räubermäßig.« (Int. 20, 51)
Ursel empfindet das Kind als wild, lebendig, nennt es liebevoll »räubermäßig« – ein kleiner Räuber wie in Süddeutschland kleine Kinder, die herumtoben, genannt werden. Sie erkennt mit dieser Zuschreibung von Persönlichkeitsmerk41 Beispielsweise Haptonomie, eine von dafür ausgebildeten Hebammen oder Ärztinnen bzw. Ärzten angeleitete Form der Kontaktaufnahme über Berührung mit dem Kind, die auch den Partner integriert. Andere Formen der Bindungsgestaltung in der Schwangerschaft werden von Beraterinnen angeboten, vgl. http://www.leona-praenatal.de/Beratung_Begl.htm.
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malen, dem Vergleich mit ihrer lebenden Tochter auch die individuelle Persönlichkeit dieser anderen Tochter in ihrem Bauch an. Die Wahrnehmung der Kindsbewegungen als lebhaft, die darin enthaltenen Zuschreibungen von Lebendigkeit und Lebenslust stehen im Gegensatz zur medizinisch vorhergesagten »Schwäche« dieser Kinder. Einige der Frauen erleben eine solche Differenz zwischen der medizinisch-fachlichen Beschreibung der Kinder mit den jeweiligen Diagnosen und dem Erleben und Interpretieren des eigenen Kindes im eigenen Körper. Häufig werden dabei in den Erzählungen die medizinischen Erwartungen an die jeweilige Diagnose dem eigenen Erleben entgegengestellt: »schlapp«, »schwach«, »krampfend« »keine Bewegungen«, »keine Reaktion« versus »lebendig«, »bewusst auf Impulse von außen reagierend«, »lebhaft«. Viele Frauen verorten die Deutungshoheit über das, was sie an Kindsbewegungen empfinden, bei sich und grenzen sich im Schwangerschaftsverlauf zunehmend von ärztlichen Deutungsmustern ab oder stellen diese zumindest infrage. Die Bindungsgestaltung ist so ein innerer Prozess, der auf die eigene Interpretation dessen, was »zurückkommt« vom Ungeborenen, angewiesen ist, so wie bei Inken: »Ich sach mal, es war auch mal ganz toll, wenn Junior da im Bauch was rumgeboxt hat und es dann auch für die andren, sprich für die Familie dann greifbar war.« (Int. 14, 31)
An Inkens Erzählung wird deutlich, dass diese Bewegungen und die Sichtbarkeit dieser Bewegungen nicht nur für sie als Mutter eine wichtige Bedeutung hat, sondern diese darüber hinaus das Baby für die anderen Familienmitglieder, den Partner und die älteren Kinder, im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar machen. In diesem Zusammenhang wird verständlich, wie belastend es für Frauen sein kann, wenn die Kindsbewegungen aufgrund der jeweiligen Diagnose wenig zu spüren sind, so wie bei Cosima: »Nur die Schwierigkeit war, dass kaum Kindsbewegungen da waren (weint) und man nicht sagen konnte, ich weiß, des lebt.« (Int. 2, 74)
Für Cosima ist aufgrund der wenig spürbaren Kindsbewegungen nicht möglich, zu spüren ob ihr Kind noch am Leben ist. Diese Unsicherheit und das Infragestellen der eigenen Wahrnehmung des Kindes belasten ihren Schwangerschaftsverlauf und erschweren auch die Bindung zu ihrem Kind. Es gibt allerdings auch Frauen, die für die verbleibende Schwangerschaft keine intensive oder veränderte Bindungsgestaltung beschreiben. So nimmt Hildegard ein gesellschaftliche Ideal von Mutter-Kind-Bindung, »so wie es in den
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ganzen Büchern steht«, wahr, in ihrem eigenen Prozess von Mutter-Sein entsteht Bindung zum Kind aber erst mit der Geburt: »Ich bin net so ne Schwangere, die immer so den Bauch streichelt oder irgendwas, sondern ich bin halt schwanger. Und hab noch net, in der Schwangerschaft hab ich diese Bindung auch bei (älterer Sohn) noch net ghabt. Des ist noch irgendwie für mich noch recht / ich habe des net, so wie des in den ganzen Büchern steht, wie man denn als Mutter so sein soll, hab ich glaub ich net.« (Int. 10, 76)
Bindung zu einem ungeborenen Kind ist für Hildegard etwas abstraktes, die Fehlbildung ihres Sohnes verändert dies für sie nicht. Schwangerschaft ist primär ein körperlicher Zustand für sie, Kontaktaufnahme zum Kind über körperliche Berührung sucht sie nicht, es ist »ihr Bauch«, den sie streichelt, und nicht das Kind. Das eigene innere Bild vom Kind Das innere Bild, das die Frauen von ihrem Kind haben, ist durch die Diagnose erschüttert. Um im Schwangerschaftsverlauf die Bindung mit dem Kind gestalten zu können, muss dieses innere Bild neu konstruiert werden. Es beschränkt sich dabei nicht auf die bildliche Imagination des Kindes, sondern umfasst vielmehr die Vorstellung davon, wer dieses Kind ist, umfasst Zuschreibungen von Charaktereigenschaften und Persönlichkeitsmerkmalen. Es gibt daher in dieser Subkategorie Überschneidungen mit den Kategorien »Innerer Dialog« und »Interpretation der Bewegungen«. So gibt es Frauen, die ihren Kindern bewusste Reaktionen und zielgerichtetes Handeln zuschreiben, Bewegungen deuten. Auch die Deutung der Existenz des Kindes als transzendent in dem Sinne, dass sie einem höheren Grund dient, gehört zu diesem inneren Bild. Gerade auch die eigenen individuellen Erklärungen für die Diagnose, die für viele Frauen eben nicht in einer medizinischen Ursachenforschung, sondern in einem Hinterfragen der eigenen Lebensthemen zu finden sind, zeigen solche transzendenten Aspekte. Die Erfahrung von Transzendenz ist auch in dem Sinn gemeint, dass die Frauen die Seele oder das Wesen des Kindes abgekoppelt von seiner Körperlichkeit sehen. Auf diese wird näher im Abschnitt Sterben eingegangen. Manche Frauen erleben Meditationen oder Fantasiereisen als unterstützend darin, sie in ihre innere Welt (zurück)zuführen und sich einen Gegenentwurf zur medizinischen Darstellung zu entwickeln, eine individuelle Vorstellung von ihrem Kind zu bilden. So erzählt Maria von der Tiefenentspannung bei ihrer Hebamme: »Die hat mein Mann und mich dann auf eine einsame Insel geführt und wir ham dann alle Sorgen in ne Truhe geschmissen. Wir ham die Truhe dann zugmacht und erstmal angfangen zu lachen. In dem Moment hat der (Name des Sohnes), der war ja sehr
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zurückhaltend, was Bewegung anging (…) Und da hat er aber wahnsinnig angefangen zu strampeln (…) Des war also für uns des Zeichen, dass er die Kraft hat und dass er will.« (Int. 6, 19)
Für manche Frauen ist es so, dass sie ihre innere Welt vor Bildern, die diese weiter erschüttern könnten, schützen möchten und beispielsweise keine weiteren Ultraschalluntersuchungen mehr wünschen. Andere hingegen wählen die Informationen und Bilder gezielt aus, die sie an sich heranlassen wollen, und suchen beispielweise keine Informationen mehr im Internet. Zu Neukonstruktion des inneren Bildes gehört es auch, das Kind als Menschen mit individuellen Persönlichkeitsmerkmalen zu sehen. 10.4.4.3 Vorziehen des Mutter-Seins: Mutter-Sein im Mutter-Werden
»Lass dir Zeit und (…) sei solang bei mir und genieß des und (…) wir versuchen für dich da zu sein.« (Int. 20, 20–21)
Um Mutter zu sein für ein Kind, dessen Lebenszeit voraussichtlich auf diesen Zeitraum Schwangerschaft beschränkt sein wird, entwickeln die Frauen unterschiedliche Vorstellungen davon, wie diese Mutterschaft bereits in der Schwangerschaft gelebt werden kann. Für Ursel ist das Fundament ihrer Überlegungen ihr Wunsch, »für dich da zu sein«. Dieses »für dich da sein« umfasst Strategien, für das Kind sorgen zu wollen und auch Strategien, dem Kind die Lebenszeit angenehm zu gestalten. Für das Kind sorgen wollen Für das Kind sorgen ist für viele der Frauen auch ein Sorgen für ihren eigenen Körper. Dies umfasst etwa die Einnahme von Nahrungssupplementen und den Verzicht auf Alkohol. Darüber hinaus umfasst dieses Sorgen für das Kind den Schutz des Kindes, beispielsweise das Abwägen von risikoreichen Untersuchungen (vgl. Kapitel 10.2). So lehnt eine der Frauen, Maria, etwa eine Fetoskopie ab. Auch die Planung der Geburtssituation ist von Sorgen für das Kind bestimmt (vgl. Kapitel 10.4.3). Eine Unterkategorie ist das Ziel, dem Kind die Lebenszeit angenehm gestalten zu wollen, positive Erlebnisse zu schaffen. Dabei gibt es Frauen, die das Kind in ihre Erlebenswelt und Emotionalität eingebunden wahrnehmen, so wie Johanna: »Man sagt ja auch immer, Kinder kriegen alles mit, wie es der Mama in der Schwangerschaft geht.« (Int. 6, 92) So versucht Johanna, ihre Trauer nicht in die Schwangerschaft vorzuziehen, sondern ihrer Tochter »soviel Positives mitgeben wie geht«. Dieses Positive mitgeben wollen dimensionalisiert sich von der bewussten Modulierung der eigenen Emotionalität der Mutter über das Herbeiführen von »positiven Erlebnissen«. So gibt es Frauen wie Elke, die bewusst beispielsweise
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zum Schwimmen gehen oder einen Erlebnispark aufsuchen, um ihre Kinder diese körperliche Erfahrung machen zu lassen. Andere Frauen möchten über ihre Stimme, über Singen oder Musik ihrem Kind schöne Sinneseindrücke verschaffen. Ursel: »(…) und ich hab mich immer wieder an dieses Klavier gesetzt und hab mir gedacht, ämm, liebe kleine (Name des Kindes), hab ich gedacht, du sollst was Schönes hören.« (Int. 20, 99)
Ursel macht Musik, singt für ihr Kind, Bewegungen des Kindes interpretiert sie als Reaktionen auf diese Musik. Die Musik und das Musizieren sind für sie ein Weg, Mutter-Sein mit ihrem Kind bereits in der Schwangerschaft zu leben. Für eine der Frauen, Friederike, bedeutet Mutter-Sein für dieses Kind, das Sterben zu verdrängen zugunsten der Auseinandersetzung mit Therapiemöglichkeiten. Sie vermeidet die Konfrontation mit der verkürzten Lebenszeit ihres Kindes und ihre Ängste im Schwangerschaftsverlauf sind auf die Angst vor einer möglichen Frühgeburtlichkeit ihres Kindes gerichtet. Mutter-Sein ist für sie ein Glauben an das Kind entgegen aller Wahrscheinlichkeiten und ein Kämpfen für Therapiemöglichkeiten, wie etwa Herzchirurgische Interventionen, die ein gesundes Kind auch erhalten würde. Dabei ist die Ermutigung durch andere Betroffene in einer Selbsthilfegruppe ein wichtiger Einflussfaktor (vgl. Kapitel 10.4.6). Die Bedeutung der Namensgebung bereits in der Schwangerschaft
»Und für uns war es dann auch (Name) sofort nicht unser Baby, unser Ungeborenes, so unpersönlich. Des war schon direkt ja für uns (Name).« (Int. 11, 61)
Für alle, der im Rahmen dieser Studie befragten Frauen, ist die Namensgebung ihres Kindes bereits im Schwangerschaftsverlauf, bald nach der Diagnosestellung ein wichtiger Ausdruck davon, der Individualität des Kindes gerecht zu werden. Deshalb ist es auch für diejenigen Eltern, die ohne Diagnose nicht das Geschlecht wissen wollen, nach der Diagnose wichtig, das Geschlecht zu kennen, das Kind benennen zu können. Dies ist bedeutsam für sie, um ein inneres Bild vom Kind entwickeln zu können. Ein Teil der Frauen bleibt beim gewählten Namen, so wie Lilly : »Und dann hab ich auch, ja das stimmt, dann war ich noch am Überlegen mit dem Namen, ämm, und ich dachte dann aber so ne, ämm, ich will jetzt schon, dass sie auch den Namen bekommt, den wir ihr ausgesucht haben. Nur weil sie jetzt da ein Chromosom zuviel hat, wollt ich nicht einen anderen Namen haben (…) Das war dann ihr Name halt.« (Int. 15, 32)
Der vor der Diagnosestellung gewählte Name ist für Lilly der Name, der ihrer Tochter zusteht und der ihr nicht wegen eines veränderten Chromosomensatzes
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abgesprochen werden kann, um für ein eventuelles Nachfolgekind aufgespart zu werden. Ein Festhalten an der Namenswahl ist dabei ein Ausdruck dafür, dem Kind das ihm Zustehende auch zukommen zu lassen. Für andere Frauen ist es so, dass sie bewusst nach der Diagnosestellung nach einem besonderen Namen für dieses besondere Kind suchen. Dorothee: »Also das war dann nicht einfach nur ein Mädchen, was auf die Welt kommt, sondern des war dann einfach was besonderes, weil irgendwie (…) der (Name des Partners) wollte ganz gern ein Mädchen haben, das (Mädchenname) heißt, aber irgendwie (…) war uns beiden klar, dass das jetzt irgendwie nicht so sein soll. Dass sie irgendwie nen andren, besonderen Namen bekommen soll. Irgendwie. Ja.« (Int. 16, 37)
Wie Dorothee suchen auch andere Frauen bewusst nach einem besonderen Namen für ihr Kind. So wählen einige Frauen Namen mit einer bestimmten Bedeutung wie etwa biblische Namen, die auf die Endlichkeit oder auch den Charakter der geschenkten Zeit verweisen. Für andere Frauen ist es wichtig, dass ihr Kind einen Namen erhält, der in Verbindung zu einer verstorbenen Person steht, beispielsweise der geliebten Großmutter oder dem früh verstorbenen Onkel. Für viele der Frauen ist diese Benennung des Kindes mit seinem Namen eine Möglichkeit, das Kind auch für das Umfeld als Person real werden zu lassen. Manche Frauen sehen darin auch eine Möglichkeit, die Geschwisterkinder in ihrer Bindung zum ungeborenen Geschwister zu stärken, so wie Elke: »Ich fands nur für die Kinder auch einfach schön, dass sie halt wirklich einen Bezug haben vom / vom / nicht nur Baby sagen so ungefähr und wenn er dann mal auf die Welt kommt, hat er halt einen Namen mal kurz und der ist ganz schnell vergessen, weil man den ja nie gesprochen hat und auch gelebt hat diesen Namen eigentlich. (…)« (Int. 17a, 46)
So ist für Elke das Aussprechen des Namens bereits in der Schwangerschaft eine Strategie, ihrem Kind einen Platz in der Familie zu verschaffen, seinen Namen »unvergessen« zu machen, auch über seinen Tod hinaus. Einbinden in die Welt: Dem Kind seinen Platz geben wollen Für einige der Frauen prägt der Wunsch, ihr Kind in die Welt einzubinden, ihm seinen Platz geben zu wollen, ihr Handeln im Schwangerschaftsverlauf (vgl. dazu auch Kapitel 10.6.3 für den Zeitraum nach der Geburt). So verwenden viele der Frauen bewusst bereits in der Schwangerschaft den Vornamen, wenn sie von ihrem Kind sprechen (s. o.). Dieser Name soll selbstverständlich und geläufig werden und ihr Kind dadurch zu einem präsenten Familienmitglied machen. Auch das offene Sprechen über das Kind oder das Führen eines Internetblogs, in dem Familie und Freundeskreis über den Verlauf
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informiert werden, soll das Kind real machen, zeigen, dass es wirklich existiert und wichtig für seine Eltern ist. Zu einer solchen Integration in die Familie und die Geschwistergemeinschaft dienen beispielsweise auch gemeinsame Ultraschalltermine, bei denen der Partner und die älteren Kinder das Baby sehen können, oder Aktionen wie das gemeinsame Anmalen des Bauchs. Für Johanna ist es wichtig, dass es für ihre Tochter ein positives Familienfest gibt, nicht nur die Beerdigung. Da ihre Tochter mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bis zum Geburtstermin überleben wird, organisiert sie den »Happy Pregnancy Day« und lädt ihre ganze Familie dazu ein. Dieses Fest kann als eine Art Tauffeier verstanden werden, bei dem die Existenz des Kindes in der Familiengemeinschaft ritualisiert anerkannt wird. So wird beispielsweise für das Kind gemeinsam ein Baum in den Garten gepflanzt (vgl. Kapitel 6.3.2). Exkurs: Mit Zwillingen schwanger sein Eine besondere Herausforderung stellt die Schwangerschaft für diejenigen Frauen dar, die mit Zwillingen schwanger sind, von denen nur eines der Kinder betroffen ist. Die Bindungsgestaltung ist in diesen Schwangerschaften auch ein Balancieren von Aufmerksamkeit: Auf welches Kind konzentriere ich mich mehr? Auf das Kranke, das ich gehen lassen muss? Oder auf das gesunde, das bleibt? Bei Heidrun ist die Beziehungsgestaltung zu den Kindern ganz auf den bevorstehenden Verlust des Sohnes ausgerichtet, sie ist ganz auf ihn bezogen, er ist es, der bereits während der Schwangerschaft einen Namen erhält und dem sie die meiste Aufmerksamkeit schenkt, der im Zentrum ihres Schwangerschaftserlebens steht, auch wenn sie sich einem Mantra ähnlich immer wieder den Satz des Spezialisten sagt: »Genießen Sie das gesunde und lassen Sie das Kranke gehen.« (Int. 8, 88). Heidrun jedoch betrauert den kranken Sohn, die Tochter nimmt sie erst nach der Geburt und noch mehr nach dem Tod des Sohnes wahr. Ihr zentraler Wunsch während der Schwangerschaft ist es, diesen Sohn noch sehen zu können, ihre Gedanken gehen bis zum Punkt der Geburt. »Ansonsten, es war / nein, es war keine schöne Schwangerschaft. Ich hab das Glück nicht gespürt, ich hab eigentlich eher die ganze Zeit mehr die Trauer gehabt. Hinterher hat mir das extremst leidgetan für die Tochter. Da hab ich sehr starke Gewissensbisse gehabt, z. B. auch, wir wussten sofort einen Namen für unseren Sohn, wir wussten aber, (Name der Tochter) ist geboren worden, wir wussten aber keinen Namen für die Tochter (…) ich hab dann plötzlich die Panik gehabt, um Gottes Willen, was hab ich denn jetzt da dem Kind angetan. Aber sie ist ganz gesund und mopsfidel. Aber das steckt immer noch in mir. Und, also da haben wir sicher, also meine Gedankenwelt war fast nur bei dem Jungen.« (Int. 8, 45–46)
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Heidrun tut es leid, sie hat das Gefühl, für ihre Tochter nicht die Schwangerschaft gelebt zu haben, die dieser zugestanden hätte, ihr keinen Namen ausgesucht zu haben, in Gedanken bei ihrem kranken Sohn gewesen zu sein. Aber auch Anita erlebt die Schwangerschaft als schwierig: »Die Schwangerschaft an sich war einfach dann total schwierig. Also dieses, eins lebt und eins stirbt. Ja. So des (…) hmm, für den einen kauft mer alles und für den anderen kauft mer ein Gwand oder weisch so. Oder was gibt mer ihm noch in den Sarg. So dieses, ich sag jetzt so, des war so gspalten immer.« (Int. 19, 40)
Insbesondere die Spannung, sich einerseits auf das Sterben des einen Kindes vorzubereiten und andererseits alles für ein Leben mit dem gesunden Kind vorzubereiten, erlebt Anita als schwierig. Sie möchte beiden Kindern gerecht werden und doch kann sie für den betroffenen Sohn nur noch ein »Gwand« (Anm.: Kleidungsstück) und Sargbeigaben kaufen. Die Frauen versuchen, auch einen Umgang mit der Verbundenheit der Zwillingsgeschwister zu finden. So kaufen sie beispielsweise ähnliche Stofftiere oder ein Schmuckstück, das dem betroffenen Geschwister nach dem Tod als Sargbeigabe mitgegeben wird und dessen Gegenstück beim überlebenden Geschwisterkind als Erinnerung an den Bruder oder die Schwester bleibt. 10.4.5 Umgang mit Ritualen – die veränderte Statuspassage Im folgenden Abschnitt wird dargestellt, wie sich die Diagnose und das Weiterführen der Schwangerschaft auf den Umgang der Frauen mit der veränderten Statuspassage auswirken. Während in den Abschnitten oben der Umgang und die Orientierung in der Zeit und die Bindungsgestaltung mit dem Kind aufgezeigt wurde, sollen hier nun die Aspekte beschrieben werden, die mit dem Umgang mit Ritualen und Ritualisierungen im Schwangerschaftsverlauf zusammenhängen. So werden ausgewählte Aspekte dargestellt, an denen sich in den Daten anhand des Umgangs mit Ritualen und Ritualisierung für die Frauen notwendigen »Arbeiten«42 der Bewältigung und Konstruktion eines neuen Schwangerschaftskonzeptes herauskristallisieren und nachvollziehen lassen (siehe dazu Kapitel 6.3.2). 1. Umgang mit Ritualisierung und Rituale die mit individuellem Mutterbild in Zusammenhang stehen: Umgang mit bereits vor der Diagnose verwendeten Ritualen und Neuentwicklung oder auch zeitliche Verschiebung von Ritualen 2. Umgang mit institutionalisierten Ritualisierungen: Betreuungssystem, Rol-
42 Vergleiche dazu den Arbeitsbegriff in Corbin und Strauss (2010), S. 104ff.
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lenzuschreibungen der Akteure innerhalb der Statuspassage und Umgang mit Technik
10.4.5.1 Umgang mit Ritualen, die mit dem individuellen Mutterbild in Zusammenhang stehen In den Daten zeigt sich, dass der Umgang mit Ritualen ein Bereich ist, an dem sich veränderte Bedeutungszuschreibungen und die Entwicklung einer eigenen Verlaufskurve und die Entwicklung neuer Konzepte von Schwangerschaft konstituieren. So gibt es Rituale, die weitergeführt werden, und solche, die nicht mehr passen. Der Umgang, die Strategien mit diesen Ritualen ist in prozessualer Veränderung begriffen und die Strategien der Frauen unterscheiden sich: Manches wird abgebrochen oder umgedeutet oder neu entwickelt. Rituale können unterbrochen werden, wieder aufgenommen werden, angepasst werden, neue Rituale können entwickelt werden und andere nicht länger durchgeführt werden. Weiterführen von Ritualen Es wird deutlich, dass viele der Frauen Rituale, die in einer normalen Schwangerschaft dazu dienen sollen, dass ein gesundes Kind geboren wird, wie etwa die Einnahme von Nahrungsmittelsupplementen, nach der Entscheidungsfindung weiterführen. Obwohl dieses »gesunde Kind« nicht mehr erreichbar ist, geben alle Frauen an, schwangerschaftstypisches Verhalten in Bezug auf Ernährung weitergeführt zu haben. Elke, deren Sohn an einer nicht mit dem Leben zu vereinbarenden Chromosomenstörung starb und die zum Zeitpunkt des Interviews noch schwanger ist, erzählt: »Ne, also ich nehm diese Folsäure und Jodtabletten. Die (…) nehm ich wieder. Also die hab ich, wo ich diese Diagnose hatte eigentlich mal ein paar Wochen nicht genommen, weil ich mir dacht hab, na ja, was (…) soll des jetzt.« (Int. 17a, 42)
Wie Elke unterbrechen manche der Frauen die Einnahme von Nahrungssupplementen während der Entscheidungsphase. Die Wiederaufnahme der Nahrungsergänzungsmittel nach einer Unterbrechung während der Entscheidungsphase kann als Zeichen für die Annahme der Schwangerschaft verstanden werden und dient als Ritual der Statusbestätigung und Akzeptanz der Schwangerschaft: Eine »gute Schwangere« nimmt diese Medikamente ein, auch wenn das Kind nicht gesund ist. Eine »gute Schwangere« nimmt diese Medikamente ein, um zumindest die optimale Versorgung des eigenen Körpers zu gewährleisten, der bis zur Geburt den sicheren Ort des Aufwachsens für das Kind und damit des eigentlich Mutter-Werdens darstellt. Der symbolische Charakter der Einnahme wird auch sichtbar daran, dass
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Frauen mit der Einnahme von Folsäure fortfahren, auch wenn sie wissen, dass diese Einnahme keinen Sinn mehr ergibt, wenn es als medizinische Prävention gesehen wird. In den ersten Wochen der Schwangerschaft zur Verhinderung von Neuralrohrdefekten43 eingenommen setzen Frauen, deren Kinder einen solchen Neuralrohrdefekt diagnostiziert haben, die Einnahme dennoch fort. An Inkens Aussage lässt sich der Sinn dieser Einnahme, ihre Orientierung an der vorangegangenen Schwangerschaft nachvollziehen: »Ne, ich war ne ganz normale Schwangere. Ich hab mich an alles gehalten, sach ich mal, was dann da jetzt so (…) Irgendwann hab ich dann mal / es war mal ein Moment, da wo ich dachte, was, in Anführungszeichen, stellst du dich jetzt so an? Aber ich habs trotzdem ganz normal (…) durchgezogen. Und das was ich in der ersten Schwangerschaft alles (…) weggelassen hab, hab ich da genauso weggelassen. Ich hab auch genauso meine Folsäure / die wars dann halt, wo ich irgendwann gesagt hab, okay, es bringt dir jetzt auch nicht mehr viel. Aber ich habs dann trotzdem alles (…) weiterhin eingenommen.« (Int. 14, 74)
Diejenigen Schwangeren, die außerhalb der Schwangerschaft rauchen, verzichten weiterhin auf Nikotin und auch Lebensmittel, die gemieden werden sollen wie etwa rohes Fleisch oder Alkohol. Dabei geht es auch um ein Zeichen der Anerkennung und des Respekts für das Kind, darum, alles zu tun, was möglich ist für dieses Kind in der verbleibenden Zeit. Der Körper als der einzig bedingt sichere Ort für das Kind, in dem es versorgt ist und damit einigermaßen sicher. Neuentwicklung von Ritualen Es gibt Frauen, die neue Rituale entwickeln, um mit der veränderten Situation umzugehen. Johanna erwartet die ganze Zeit, dass ihre Tochter die 30. Woche nicht überleben wird. Im Bericht einer anderen Betroffenen liest sie von einem Fest, dem »Happy Pregnancy Day«44 : »Und dann hab ich gsagt, weisch was, des mach ich auch, des find ich ne gute Idee. Und dann ham die Tanten, Onkels zusammengelegt und ham einen Baum organisiert, ne Tanne. Ich hab Mordskuchen gebacken und alle eingladen, es sind sogar meine Gschwister, und es war ein richtig tolles Fest. (…) Dann ham wir des Fest gmacht, ham 43 So empfiehlt das Bundesinstitut für Risikobewertung die Einnahme von Folsäure bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche zur Prävention von Neuralrohrdefekten: http:// www.bfr.bund.de/de/fragen_und_antworten_zu_folsaeure-8899.html#topic_8908. 44 Von diesem Fest hatte Johanna in einem englischsprachigen Selbsthilfeforum gelesen, wo eine Frau einen »Happy Pregnancy Day« anstelle der »Babyshower« am Ende der Schwangerschaft feierte. Die »Babyshower« wird in englischsprachigen Ländern im letzten Schwangerschaftsdrittel gefeiert, Freundinnen schenken der Schwangeren Geschenke für das Baby : http://www.babybellyparty.de/idee/fragen-und-antworten-zur-baby-shower?gclid=CLTnmrjv-LICFYFY3godhG8APQ.
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diesen Baum gepflanzt (…) Und dieser Baum hat noch so, ist noch dermaßen abgegangen und ist gewachsen. Und ich hab dann immer gsagt, soviel ischs (Kosename des Kindes) auch gwachsen. Es war einfach ein tolles Fest. Kinder waren da und da ham mer der Fuchs geht rum gspielt. Es war einfach ein freudiges Fest.« (Int. 5, 91–93)
Also organisiert sie eine symbolische Feier, zu der sie Nachbarn, Familie und Freunde einlädt und das Immer-Noch-Leben ihrer Tochter feiert. Ein »positives Fest«, kein Abschiedsfest: ein Baum wird gepflanzt, Kinder spielen. Diese Feier dient Johanna dazu, dem Kind einen Platz in der Familie zu geben. Für sich selbst und ihr Kind dient sie darüber hinaus zum Schaffen von positiver Erfahrung und sie konstruiert damit auch Erinnerungsmomente. Die Erinnerung wird so schon aktiv gestaltet durch das Durchleben von später zu Erinnerndem. Wie bei diesem Fest, das in seiner sozialen Funktion als Ersatz für die Tauffeier fungiert, geht es bei vielen dieser neuentwickelten Ritualen um das Vorziehen und/oder die Anpassung von Ritualen, die eigentlich erst nach der Geburt stattfinden würden. Weitere Beispiele finden sich unter der Kategorie »Beziehungsgestaltung zum Kind«. Veränderung und Anpassung von Ritualen Manche der Frauen interpretieren Rituale, die sie in vorangegangenen Schwangerschaften einhielten, für sich neu und passen sie an die veränderte Schwangerschaftssituation an. Dies kann Handlungen betreffen, die ursprünglich mit dem Senken des Fehlbildungsrisikos des Kindes in Zusammenhang gebracht werden. Elke: »Muss jetzt sagen, ich genieß jetzt auch mal abends mein Gläschen, weil ich mir einfach denke, kaputtmachen kann ich nix mehr (…) und warum / dann kann ich es mir auch gut gehen lassen (…) Und wenn es mir gut geht, dann geht’s ihm auch gut (lacht).« (Int. 17a, 43)
Das Ritual der Alkoholabstinenz befolgt Elke in der betroffenen Schwangerschaft nur bedingt: »kaputtmachen kann ich nix mehr«. Ihr Alkoholgebrauch ist jedoch weiterhin sehr gering. Sie möchte ihrem Kind nicht schaden. Nur scheint für sie eine totale Abstinenz nicht länger notwendig, ein pragmatischer Umgang vielmehr ihrem eigenen Wohlbefinden zuträglich. Das tatsächliche Risiko von geringem Alkoholgenuss für das Kind und der Einfluss von geringem Alkoholgenuss auf das eigene Wohlbefinden somit werden abgewogen. Für Elke ist das eine Art Emanzipation aus der Rolle und ein Annehmen der Selbstverantwortung auf dem eigenen Weg individuellen Weg, der im Gehen entsteht. Vorher selbstverständliche Aspekte des Schwanger-Seins werden hinterfragt und neu durchdacht. Aspekte davon finden sich auch bei denjenigen Frauen, die in der veränderten Situation beginnen über vorher ungedachte Optionen, wie etwa den
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Rückzug aus der ärztlichen Schwangerschaftsbetreuung oder eine außerklinische Geburt, nachzudenken. Andere Beispiele für die Anpassung von Ritualen sind der Umgang mit körperlicher Schonung und der Abstinenz von bestimmten Sportarten. Mechthild: »Und dann ham wir entschieden, wir gehen in Skiurlaub und ich geh Skifahren. Hätt ich jetzt mit dem Gefühl eines gesunden Kindes wahrscheinlich nicht gemacht und aber da war des so. Wir gehen.« (Int. 4, 27)
Mechthild entscheidet sich, im Skiurlaub nicht nur spazieren zu gehen, wie sie es bei einer intakten Schwangerschaft getan hätte. Sie fährt Ski. Andere Frauen beschreiben, dass sie sich beispielsweise bei Gartenarbeiten mehr verausgabt hätten wie in vorangegangenen Schwangerschaften. Sie gehen ein, wenn auch sehr geringes, Risiko ein, dass sie in einer anderen Schwangerschaft, mit gesundem Kind nicht eingegangen wären. Rituale als Ausdruck des Wunsches nach Normalität im Ausnahmezustand Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in Zusammenhang mit dem Weiterführen von Schwangerschaftsritualen steht, scheint dabei auch das Festhalten-Wollen zumindest eines Restes von Normalität zu sein. An Inkens Aussage (s. o.): »Ich war ne ganz normale Schwangere (…) ich habs trotzdem ganz normal durchgezogen.« (s. o.) wird deutlich, dass Schwangerschaftsrituale auch Normalität in die Schwangerschaft zurückbringen können: Sich verhalten wie eine »normale Schwangere« kann auch Sicherheit zurückbringen. Für Inken dient dabei die vorangegangene Schwangerschaft als Orientierungspunkt. Doch das »weiter ganz normal« hat noch andere Aspekte. Lilly : »Ich hab weiter also ganz normal, ich hab auch Gipsabdruck gemacht, ämm. Das war mir auch ganz wichtig, dass ich all diese Sachen auch mache und mir nicht nehmen lasse. Und dass ich / ich hab auch / das is eben dieses ambivalente oder ne, ambivalent is das falsche Wort, dass dann da Trauer und Glück so dicht nebeneinander steht. (…) so eine Schwangerschaft ist eigentlich ne Zumutung oder unzumutbar. Dass man irgendwie ein Kind im Bauch hat und weiß, es wird sterben. Geht ja eigentlich gar nicht. Und ich hab daneben aber ne total schöne Schwangerschaft gehabt. Wirklich, ich hab so schöne Momente mit (Name der Tochter) und mit mir und mit meiner Schwangerschaft noch gehabt und ich hab das noch so genießen können noch.« (Int. 15, 44)
Das was eigentlich nicht geht, was nicht zu ertragen ist, wird durch dieses Festhalten von Aspekten der Normalität erträglicher. Schwangerschaftsrituale können also wie bei Lilly auch etwas sein, »was ich mir nicht nehmen lasse«: Handlungen, die bei normalem Verlauf der Schwangerschaft durchgeführt worden wären, werden mit neuem Bewusstsein auch in der veränderten Situation durchgeführt. Das grundlegende Verständnis von
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Schwangerschaft ist das eines Zustandes, der auch »genossen« wird und Aspekte dieses genießen können über »weiter ganz normal« , also Handlungen, die aus dem vor der Diagnose in das nach der Diagnose mitgenommen werden, gelebt werden. Für Lilly und andere Frauen sind sie etwas, was sie der Trauer und Ungewissheit entgegensetzen können, was die »Unzumutbarkeit« lebbar macht. Dabei geht es auch darum, das Eigene gegen die Zumutung des Unfassbaren zu behaupten. So können diese Rituale zu einem bewussten im Hier und Jetzt sein beitragen, zu einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Kind und mit der eigenen Schwangerschaft. Auch im Umgang mancher Frauen mit den Vorsorgeuntersuchungen zeigen sich Aspekte dieses »normal weiter«, wie Dorothee auf die Frage, wie die Schwangerschaft weitergegangen sei, erzählt: »Also sie ging eigentlich so weiter, wie sie normal ist, also ganz normal weiter. Also das hab ich auch damals zu meinem Frauenarzt gesagt, dass ich eigentlich will, dass er mich jetzt einfach normal weiter begleitet.« (Int. 16, 39)
Aus diesen Aussagen kann der Wunsch nach Normalität, nach der bekannten Struktur der Vorsorge, der Begleitung durch die Schwangerschaft gedeutet werden. Der Wunsch nach »normaler Vorsorge« hat aber noch weitere Aspekte, wie aus Inkens Aussage deutlich wird: »Ich hab die Vorsorge ganz normal bei der Gynäkologin gemacht, die mich ja auch weitergeschickt hatte, hatte zu denen dann auch gesagt, dass ich von denen ganz normal, also als ganz normale Schwangere dann jetzt behandelt werden möchte. Ich möchte genauso meine Vorsorgeuntersuchungen. Ja.« (Int. 14, 25)
Inken betont, die Vorsorgeuntersuchungen »genauso« wie eine »ganz normale Schwangere« erhalten zu wollen. Daraus spricht auch die Befürchtung, diese Behandlung nicht länger zu erhalten, jetzt, da sie keine »ganz normale Schwangere« mehr ist. Es ist ein Einstehen für das, was ihr und ihrem Kind zusteht, ein Einstehen für die Gleichwertigkeit dieser Schwangerschaft. Normale Behandlung im Sinne von gleichwertiger Behandlung muss ausgehandelt und eingefordert werden, scheint nicht länger eine Selbstverständlichkeit. Dass eine gleichwertige Betreuung nicht unbedingt selbstverständlich ist und dass manchmal die Standards der üblichen Vorsorgeuntersuchungen nicht länger zu gelten scheinen, wird an Marlenes Geschichte deutlich. Ihre Frauenärztin deutet die Symptome des lebensbedrohlichen HELLP-Syndroms als Ausdruck ihrer psychosomatischen Belastung. Marlenes Blutdruck steigt langsam aber kontinuierlich an und nach und nach kommen weitere Symptome des HELLP-Syn-
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droms dazu45. Ihre massiven Bauchschmerzen werden von ihrer Ärztin zunächst als normale Schwangerschaftsbeschwerden abgetan; als sich die Situation verschlechtert, sucht sie erneut ihre Ärztin auf: »Es wurde immer schlimmer. Hat sie (Anm.: die Frauenärztin) gesagt ›Des is auch psychisch bedingt. Bedenken Sie das, Ihre Situation.‹ Ja, und die Schmerzen, die wurden / die ham manchmal überhand genommen. Ich hab manchmal die Nächte hier im Sessel gesessen und hab nur noch geweint vor Schmerzen.« (Int. 18, 93)
Die Fachärztin schreibt die klaren Anzeichen des lebensbedrohlichen HELLPSyndroms der psychischen Belastung durch die Schwangerschaft zu. Ihre Mutter ist es schließlich, die die Bedrohlichkeit der Symptome erkennt, nach einer Internetrecherche darauf drängt, dass sie in die Klinik geht. 10.4.5.2 Umgang mit institutionalisierten Ritualisierungen Veränderungen in den Bedeutungszuschreibungen an »Schwangerenvorsorge« bezogen auf die Gatekeeper46 innerhalb der Statuspassage Während in einer »normalen« Schwangerschaft und vor der Diagnosestellung in den betroffenen Schwangerschaften die Vorsorgeuntersuchungen verschiedene Funktionen wie etwa die Bestätigung des normalen Verlaufs der Statuspassage und die schrittweise Heranführung an die Mutterrolle erfüllen, sind diese Funktionen durch die Diagnose infrage gestellt und die Frauen müssen einen neuen Umgang finden, neue Bedeutungszuschreibungen entwickeln. Auch das Bild, das sie von ihrem Frauenarzt bzw. der Frauenärztin haben, wird von vielen der Frauen nach der Diagnosestellung hinterfragt und neu bewertet. Manche der Frauen wechseln im Verlauf von ihrer Frauenarztbetreuung in die Begleitung durch den Pränataldiagnostiker bzw. die Pränataldiagnostikerin, oder das Zentrum, wo die Diagnose gestellt wurde. Andere Frauen bleiben bei dem ihnen vertrauten Frauenarzt bzw. der Frauenärztin aus der Zeit vor der Diagnosestellung, wobei häufig eine Veränderung der Bedeutungszuschreibung an diese Ärzte geschieht. Von der zentralen Betreuungsfigur wird für viele dieser Frauen der Frauenarzt bzw. die Frauenärztin zu einer Figur, die mitbetreut innerhalb eines Netzes an unterschiedlichen Betreuungsinstanzen, die weiter wertgeschätzt wird, aber nicht länger die »Hauptrolle« spielt. Lilly : 45 Beim HELLP-Syndrom handelt es sich um eine lebensbedrohliche Erkrankung: H (Hämolyse) EL (erhöhte Leberwerte SGOT und SGPT) LP (niedrige Thrombozytenzahl unter 100 000), vergleiche http://www.gestose-frauen.de/index.php/was-ist-hellp.html. 46 Mit Gatekeeper sind an dieser Stelle die Akteure des medizinischen Betreuungssystems – hier insbesondere die Frauenärzte und -ärztinnen, aber auch Hebammen. Diese nehmen in der Statuspassage die Rolle von Übergangsbegleitern und Gatekeepern ein, vergleiche dazu Kapitel 6.3.2.
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»Ich hatte Frau (Name der Frauenärztin), die auch in diesem Bereich / das is meine Gynäkologin gewesen / sie hatte eben, da hat ich Glück / sie hat mich nur einmal gefragt, so ist des, ›Wollen Sie die fortsetzen?‹ Irgendwie. Und ich hab gesagt, ja, das will ich. Und da war das auch okay und auch immer wieder total / sie is ja auch ne tolle, süße Frau. Ja, genau, dann hab ich eben (Name einer Hebamme) und die hatte mir für mich, ämm, zwei Hebammen gefunden, zwei Beleghebammen gefunden, die mich begleitet haben durch die Zeit. Ich hab das auch superengmaschig, also ich hab bestimmt jede Woche eine von den beiden getroffen. Also mir hat das total gut getan, ich hab das auch gebraucht, dass ich da immer jemand zum Reden hab und zum Ansprechen hab und auch einfach nur dieses mich von einem Termin zu einem Termin tragen können. Also ich fand das schon ziemlich anstrengend mit so nem Wissen herum zu gehen.« (Int. 15, 45)
Von ihrer Frauenärztin bekommt Lilly die Adresse einer im Bereich Pränataldiagnostik engagierten Hebamme und darüber erschließt sich für Lilly ein weit gefächertes Unterstützungsnetzwerk. Die Frauenärztin ist Teil dieses Netzwerks, im Schwangerschaftsverlauf werden jedoch die Hebammen für Lilly zu den Hauptbegleiterinnen. Auch Johanna baut sich im Schwangerschaftsverlauf ein Unterstützungsnetzwerk auf und wird vornehmlich von einer Hebamme begleitet, zu der sie nach der Diagnose Kontakt aufgenommen hat. Gleichzeitig bleibt sie aber auch bei ihrem Frauenarzt. Bei Johanna ist dabei zwischen den Zeilen zu lesen, dass sie sich in gewisser Weise zur Loyalität ihrem Frauenarzt gegenüber verpflichtete fühlt. Sie kennt ihn schon so lange, mag ihn als Person. Und doch muss sie einen Umgang finden mit Unsensibilität von seiner Seite, wie sie in ihrer Erinnerung an eine Ultraschalluntersuchung gegen Ende der Schwangerschaft erzählt: »Und dann hat er gsagt: ›Des Herz schlägt ja immer noch.‹ Und dann hab ich gsagt: ›So jetzt isch Schluss! Herr (Name des Arztes), ich bin froh, dass des Herz noch schlägt. Ich bin froh um jeden Tag und es ist jeder Tag eine Zugabe. Und hören Sie endlich auf, mir des so mies zu machen! Punkt, aus, fertig!‹ (…) Und ich geh nach wie vor zu meinem Frauenarzt. Ich bin ihm nicht bös, ich hab ihm verziehen.« (Int. 5, 46–48)
Johanna grenzt sich zum einen gegen den Frauenarzt ab, zum anderen macht sie ihm aber deutlich, was diese Schwangerschaft für sie bedeutet. Gleichzeitig nimmt sie rückblickend eine verzeihende Haltung ihrem Arzt gegenüber ein, sie wird in gewisser Weise zur Handelnden, die über die Betreuungsbeziehung entscheidet. In gewisser Weise nimmt sie die Rolle für ihren Arzt sogar die Rolle einer Statuspassagenbegleiterin ein: Sie begleitet ihn geduldig durch diese wohl auch für ihn neue Erfahrung. Andere Frauen wechseln jedoch die Betreuung. Bei diesen Frauen ist es häufig Enttäuschung über die Betreuung durch die Frauenärztin bzw. den Frauenarzt, die zu der Veränderung führt, wie etwa bei Ursel:
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»Und dann ist des echt im Dezember noch mal eskaliert, weil sie des nicht gemacht hat (Beschäftigungsverbot ausstellen). Und dann musst ich auch noch zehn Euro Gebühr zahlen47. Also des war ganz furchtbar. Wo ich mir dacht hab, diese Praxis betret ich nie wieder. Also mit der hab ich (…) ich bin so enttäuscht von der, weil die acht Jahre mich gut betreut hat und auch viel gut gemacht hat. Aber da bin ich richtig im Regen stehen gelassen worden. Und sie hat auch gsagt, sie hat keine Erfahrung mit der Diagnose und sie hat auch noch nie ne Frau gehabt. Und ich hab mir gedacht, ja gut, dann müsstest halt den Umgang damit lernen. Ich kann dir au net helfen. Dann hab ich gsagt, ›Wenn Sie sich des net zutrauen, dann komm ich halt nimmer.‹ (…) Ne, ne, des macht sie schon.« (Int. 20, 94–95)
Ursel beschreibt die Enttäuschung über ihre Frauenärztin als Eskalationsprozess, der mit dem Abbruch des Betreuungsverhältnisses endet. Im Zentrum steht Ursels Empfinden, dass die Frauenärztin nicht wirklich bereit ist, sich auf die für sie ungewohnte Situation einzulassen. Aber auch Problemen bei organisatorischen Aspekten wie einem Beschäftigungsverbot und dem Verlangen der Praxisgebühr sind weitere wichtiger Aspekte, die bei Ursel dazu führen, dass sie sich nicht gut betreut fühlt. Darüber hinaus beklagt Ursel den persönlichen Umgang, lange Wartezeiten und das Mithören vom CTG einer anderen Frau: »Da war ganz wenig Feingefühl da.« Wie Ursel sind einige der Frauen seit vielen Jahren bei ihren Frauenärztinnen bzw. Frauenärzten in Betreuung, sie sehen diese Zeit als eine gemeinsame Geschichte und haben auch deshalb ein besonderes Vertrauensverhältnis. Gerade die lange Zeit des Betreuungsverhältnisses macht die Situation für Ursel besonders enttäuschend: Gerade von dieser Ärztin hätte sie sich etwas anderes erwartet. Wie Ursel gibt es auch andere Frauen in der Gruppe der Befragten, die sich komplett von der ärztlichen Schwangerenvorsorge abwenden hin zur Hebammenbetreuung. Dies geschieht bei vielen dieser Frauen aus Enttäuschung über unsensibles Verhalten der Ärztin bzw. des Arztes oder auch aus dem Gefühl heraus, dass ihre Entscheidung zum Weiterführen der Schwangerschaft nicht wirklich verstanden wird. Darüber hinaus ist für viele der Frauen die technische, auf die Untersuchung des Kindes ausgerichtete Form der ärztlichen Vorsorge nicht länger ausreichend. Weitere Gründe sind für Frauen, dass sie eine auf die Defizite des Kindes ausgerichtete Vorsorge nicht länger wollen, sondern sich eine Betreuung wünschen, die sie als mehr auf die Mutter-Kind-Beziehung ausgerichtet empfinden.
47 Eigentlich sollten Schwangere keine Praxisgebühr bezahlen für die Vorsorgeuntersuchungen. Häufig geschieht dies aber doch mit dem Verweis auf die Beratung, die zur technischen Vorsorgeleistung zusätzlich erfolgt.
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Umgang mit Technik – veränderte Bedeutungszuschreibung an den Ultraschall Die Kategorie »Umgang mit Ultraschall« nach der Entscheidungsfindung dimensionalisiert sich von einem Fenster, das einen positiven Blick auf das Kind ermöglicht bis zu einer »Horrorerfahrung«, bei der die Frauen sich mit immer neuen Details an Fehlbildungen oder Todeszeitpunktprognosen konfrontiert erleben. Daraus ergeben sich die unterschiedlichen Umgangsstrategien: Aneignung von Technik zu eigenen Zielen (z. B. das Kind visuell als lebendig wahrnehmen wollen) versus Ablehnung von Technik (z. B. aus demselben Grund, das Kind als lebendig – nicht als gefährdet – wahrnehmen wollen) versus weiter wie vorher. Auswirkungen auf eine geänderte Haltung in Folgeschwangerschaften: mehr PND, positive Haltung versus Rückzug aus dem Medizinsystem in Folgeschwangerschaften. Für manche der Frauen, die bis zur Diagnose eine positive Einstellung haben, wird die Ultraschalluntersuchung zu etwas, vor dem sie sich fürchten, und das sie in der Folge komplett ablehnen. Wie Maria erzählt: »Was irgendwie schade ist, mein Mann sagt immer grade für die erste Zeit ist so ein Ultraschall auch für ihn was Tolles gwesen. Er hat des Kind net so mitgekriegt und des war für ihn immer so des Fenster zu seinem Kind. Und dann auf einmal war dieses Fenster, was für dich so was Positives war, war plötzlich was ganz Negatives. Du hast vor jedem Ultraschall Angst gehabt, dass irgendwas rauskommt, dass irgendwas wieder ganz Schlimmes ist. Und ich hab schon gmerkt vor jedem Ultraschall, da war Tage vorher, hab ich nimmer schlafen können, ich war fix und fertig.« (Int. 6, 28)
Maria erlebt die Schwangerschaftsvorsorge als eine Aneinanderreihung von Ultraschalluntersuchungen, die für sie zunehmend angstbesetzter werden. Während vor der Diagnose der Ultraschall ein »Fenster« zum Kind ist, für sie aber gerade auch für ihren Partner eine positive Bedeutung hat, verändert sich diese Bedeutung hin zu etwas Negativem. Die Untersuchungen werden von ihr zunehmend als bedrohlich wahrgenommen, sie hat Angst, »dass irgendwas wieder ganz Schlimmes ist«. Maria zieht sich daraufhin aus der ärztlichen Vorsorge zurück und nimmt auch in den Folgeschwangerschaften keine Ultraschalluntersuchungen mehr in Anspruch. Inwieweit Ultraschall als etwas Negatives erlebt wird, steht in direktem Zusammenhang mit der Untersuchungssituation und der Interaktion zwischen dem Untersucher und der Frau. Manche Frauen können die Untersuchung auch als etwas erleben, was »getrennt« vom Untersucher erlebt wird, als ein positives Ereignis unabhängig davon, ob der Untersucher nicht den Erwartungen entsprechend agiert. Es gibt auch Frauen, für die der Ultraschall im Schwangerschaftsverlauf eine positive Bedeutung entwickelt in dem Sinne, dass er ein visuelles Sehen des lebenden Kindes ermöglicht und auch der eigenen Familie das Sehen des Kindes
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erlaubt. Dieser Bedeutungswandel ist besonders deutlich bei denjenigen Frauen, für die Ultraschall vor der Diagnose eine reine Untersuchungsmethode dargestellt hat, die dieser Methode kritisch gegenüberstanden und die bewusst nur einen oder zwei Untersuchungen in vorangegangenen Schwangerschaften durchgeführt haben. So vereinbart Elke in dem kleinen Krankenhaus an ihrem Wohnort einen Ultraschalltermin. Im Untersuchungsverlauf ist es bei Elke so, dass die Ultraschalluntersuchungen eine Möglichkeit zur Einbindung der Geschwisterkinder wird: »Ich wollt halt, dass die Kinder ein Bild halt vom (Name des Kindes) ham. Dass die sehen, dass da wirklich ein Baby da drin is. Dann hat die (Anm.: die Ärztin) Ultraschall gemacht, die wusste / also, die wusste garnet, was se mit mir anfangen sollte. Die war so perplex, dass ich jetzt da komm und einfach nur des sehen möchte. Und dann kam se noch mit, ämm, so an, ja, das Herz liegt schon verschoben, das sieht se. Und ich, ja, das ham die auch schon festgestellt. Also, sie kann da keine so Diagnose abgeben, da müsst ich schon wieder nach (Name der nächsten Großstadt) gehen, wenn ich was wissen möchte. Ich so, nein (!) ich möchte eigentlich nur ihn anschauen und die Kinder, dass die des sehen.« (Int. 17a, 102–103)
Der Blick von Elke ist dabei ein autonomer Blick, das Bild ihres Kindes, das sie sieht, ist nicht das Bild, das die Ärztin sieht. Elke macht sich unabhängig vom diagnostischen Suchen nach Defiziten und verwehrt sich gegen den Ultraschall als Diagnosetechnologie – sie will die Technik des Ultraschalls vielmehr als Fenster zum Kind nutzen, für sich, aber vielmehr noch für die Geschwisterkinder. Sie eignet sich die Technik als Instrument an, mit dem sie ihre älteren Kinder einbindet, gleichzeitig aber so auch ihrem ungeborenen Kind bereits in der Schwangerschaft versucht, seinen Platz in der Familie zu geben. 10.4.6 Interaktion gestalten Im Schwangerschaftsverlauf wird die Schwangerschaft zunehmend auch nach außen sichtbar, die Frauen werden in ihrem Umfeld immer mehr als schwanger wahrgenommen, werden in gewisser Weise zur »öffentlichen« Schwangeren. Damit sind Rollenerwartungen, aber auch bestimmte Interaktionsgepflogenheiten verknüpft. Die Frauen leben nicht im luftleeren Raum, sondern sind eingebunden in ein Umfeld aus Partner, Familie und Freundeskreis. In den Daten zeigt sich, dass die betroffenen Frauen gerade aber auch den Umgang mit dem weiter entfernten Umfeld wie Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen, Erzieherinnen im Kindergarten und auch Fremden, die ihnen im Alltag begegnen, als herausfordernd erfahren. Einen zusätzlicher Bezugsrahmen bildet die Gruppe der anderen Schwangeren, die bis zur Diagnosemitteilung die Gruppe darstellten, zu der sich die Frauen zurechneten und an der sie sich orientierten.
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Aus dieser Gruppe fallen die Betroffenen mit der Diagnosestellung heraus – ein neuer Bezugsrahmen wird für einige der Frauen die Gruppe der betroffenen Eltern. Die Interaktionsstrategien in diesen verschiedenen Arenen und die Hintergründe sollen im folgenden Abschnitt dargestellt werden. Der Umgang mit dem Offenlegen der Diagnose Abwägen – konfrontieren – vermeiden
Viele der Frauen wägen ab, wem und in welcher Situation sie über die Diagnose ihres Kindes sprechen. An Dorothees Antwort auf die Frage »Und wie habt ihr dann darüber gesprochen? Man sieht ja dann irgendwann, dass man schwanger ist. Gabs Leute, denen ihr das nicht erzählt habt, oder seid ihr da ganz offen damit umgegangen?« wird deutlich, dass viele Frauen die Interaktion auf den Kontext abstimmen: »Also im Freundeskreis sind wir damit ganz offen umgegangen, weil wir ja auch wussten, dass die Schwangerschaft vielleicht auch nicht bis zum Ende kommt (…). Es gab Momente, wo ich es dann erzählt hab, aber (…) eher so, dass wir im Familien- und Freundeskreis sind wir eigentlich ganz offensiv damit umgegangen. Ich hab es eigentlich allen erzählt.« (Int. 16, 31)
Dorothee hat im Familien- und Freundeskreis einen offenen Umgang, alle werden einbezogen. Ein Großteil der Frauen wählt für Freundeskreis und Familie einen solchen offenen Umgang. Manche eröffnen die Diagnose bei einer bestimmten Gelegenheit wie einem Abendessen oder informieren den Freundeskreis mit einer Informationsmail. Eine Frau richtet einen persönlichen Blog ein, in dem sie Freunde und Familie auf dem aktuellen Stand hält und der ihr auch zum Austausch dient48. Das E-Mail-Schreiben und der Blog helfen den Frauen, nicht am Telefon alles erklären zu müssen in Situationen, in denen sie sich verletzlich fühlen, in Situationen, in denen es für sie nicht passt. Es gibt aber zudem Frauen, die auch im engsten Familienkreis die Information über die Diagnose zurückhalten, nur ausgewählte Personen mit einbeziehen. Diese Frauen versuchen, die Information über die Diagnose in einem engen Kreis zu belassen. Für ihr Arbeitsumfeld beschreibt Dorothee einen abwägenden Umgang: »Also wenn es irgendwie geht, dann würd ich nicht arbeiten gehen, weil ich keine Lust hab mit nem dicken Bauch irgendwie in der Firma rumzurennen. Und ich wusste auch nicht, ob ich das jedem erzählen will und (…) jeden damit zu konfrontieren. Und die 48 Persönliche Kommunikation auf der Tagung: Abschied in Würde – Hilfe und Begleitung nach infauster Prognose in der Schwangerschaft«, Öffentlicher Fach- und Begegnungstag, 3. November 2012, Universität Erfurt.
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sehen dann, dass man schwanger ist, ich find das dann irgendwie nicht so (…) Dann hab ich es einer Arbeitskollegin erzählt und meinem Chef.« (Int. 16, 31)
Sie möchte nicht sichtbar schwanger an ihrer Arbeitsstelle tätig sein: Zum einen möchte sie selbst nicht erzählen müssen, sich nicht verletzbar machen, zum anderen möchte sie ihre Kollegen nicht konfrontieren. Schließlich lässt sie sich berufsunfähig schreiben und spricht über die Diagnose nur mit ihrem Chef und einer Kollegin. So wie Dorothee versuchen viele Frauen abzuwägen, inwieweit sie verletzlich in bestimmten Situationen sind, ob sie es sich selbst zumuten wollen, über die Diagnose zu sprechen oder auch auf die Schwangerschaft angesprochen zu werden. Dorothee versucht, diese Konfrontation zu vermeiden, geht nicht mehr arbeiten. Sie zieht sich zurück. Andere Frauen haben einen offenen Umgang an ihrer Arbeitsstelle. Karin arbeitet im pädagogischen Bereich, ihre Kolleginnen wissen Bescheid und die betreuten Kinder und deren Eltern werden informiert und werden nach dem Tod von Karins Sohn auch in Trauerrituale einbezogen. Ob ein solcher offener Umgang gewählt wird, scheint dabei von der Sparte und der Firmengröße abhängig zu sein, ein sozialer Beruf kann manchmal einen offenen Umgang fördern. Im Umgang mit Fremden hat Dorothee eine vermeidende, ausweichende Strategie: »Und (…) sag ich jetzt mal so, wenn mich auf der Straße jemand angesprochen hat, weißt ja wie das ist, dann ist man im Supermarkt und dann labert einen jeder an. Also da hab ich es jetzt nicht erzählt.« (Int. 16, 32)
Für andere Frauen kann auch ein Rückzug, zum einen in die eigene Wohnung, weg aus der Arbeitsstelle, und das Vermeiden von Kontakten im Alltag, etwa beim Einkaufen, eine Umgangsstrategie darstellen. Manche Frauen ziehen sich aus ebenso Freundschaften und Freizeitaktivitäten zurück. Zoey erzählt von ihren Schwierigkeiten, sich mit Freundinnen und Bekannten, die zeitgleich schwanger sind, zu konfrontieren: »So zwei Jahre lang hab ich mich, glaub ich, komplett eingeigelt. Ich hab auch Freundschaften aufgegeben, weil die dann auch schwanger waren zur gleichen Zeit. Und des konnt ich nicht / also des war (…) da hab ich dann auch den Musikgartenkurs mit (Name der älteren Tochter) gewechselt und ja hab die dann auch nicht wieder gesehen.« (Int. 11, 198)
Zoey zieht sich aus Freundschaften zurück, beschreibt, dass sie sich über einen Zeitraum von zwei Jahren »einigelt«, allein ist, Freundschaften abbricht. Gerade die Konfrontation mit anderen ihr vor der Diagnose bekannten Müttern und Schwangeren ist für sie sehr schwierig. Sie wechselt Kurse, die sie mit ihrer älteren Tochter besucht, vielleicht um durch die Anonymität der neuen Kursumgebung vor Konfrontationen geschützt zu sein.
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Es gibt wenige Frauen, die sehr konfrontativ mit der Information über ihre Schwangerschaft umgehen, so wie Johanna: »Aber es ging so langsam los, dass die Leut, die Umwelt gsagt ham, ‹Ah, bist du schwanger? Wann isch soweit?‹ Und ich dann immer gleich, ›Ja, aber!‹« (Int. 5, 99–101)
Sie versucht nicht, eine Rolle zu spielen, verleugnet nicht, dass sie schwanger ist. Vielmehr erzählt Johanna von ihrer Tochter, konfrontiert Nachbarn aber auch vollkommen Fremde mit der Diagnose ihrer Tochter : »Aber ich hab mer gsagt, hey, ich bin nicht verschont worden, mir hat man das Buch Schwangerschaft vor der Nase zugeknallt. Muss ich jetzt mit den anderen vorsichtig umgehen?« (Int. 5, 103)
Ihre Beweggründe gibt Johanna an, sie sei nicht geschont worden, warum solle sie andere schonen? Auch andere Frauen wählen bewusst eine konfrontative, offene Interaktion, um so einen Umgang zu finden mit ihrer Angst, dass hinter ihrem Rücken über sie gesprochen wird. Dies trifft insbesondere für diejenigen Frauen zu, die in einem Umfeld leben, in dem es wenig Anonymität gibt. So wie Marlene, die in einer kleinen Gemeinde lebt und erzählt: »Da sind wir sehr offen damit umgegangen. Das haben wir allen erzählt, weil wir gedacht haben, lieber wir erzählen, es wie es ist. Weil in so einem kleinen Dorf, da weiß ja jeder über jeden furchtbar viel Bescheid und jeder weiß es besser. Das war so das, wo wir von Anfang an gesagt haben, wir erzählen es. Wir erzählens jedem und (…) ja, also relativ schmerzfrei haben wir es erzählt, also jedem, der es hören wollte oder nicht, weil wir gesagt haben, das ist unser Kind. Wir möchten nicht, dass über unser Kind irgendwas erzählt wird, sondern das was definitiv ist.« (Int. 18, 90)
Gerede und Gerüchten in ihrem dörflichen Umfeld versucht Marlene zuvorzukommen, in dem sie die Geschichte, die über ihren Sohn erzählt wird, kontrolliert. Kontrolliert dadurch, dass sie es ist, die diese Geschichte erzählt, so wie sie wirklich ist und so, wie sie sie erzählt haben möchte. Der offene Umgang soll Kontrolle ermöglichen dadurch, dass durch das Offenlegen und Einbeziehen kein Raum für Spekulationen bleibt. Andere Frauen wählen, um Gerede zu vermeiden, die Strategie, dass sie die Informationen über die Diagnose in einem engen Kreis halten und die Eingeweihten ein Schweigegebot erhalten. Neben dem Vermeiden von Gerüchten und Gerede sind dabei auch Überlegungen der Frauen dazu vorhanden, wie das sich im öffentlichen Raum Bewegen sein könnte mit dem Bewusstsein, das Gegenüber könne Bescheid wissen, dem Umgang mit Mitleid aus unerwünschter Richtung und dem Eindruck, als schwach und verletzlich wahrgenommen zu werden. Ein sehr offener Umgang mit der Diagnose kann auch aus anderen Gründen erfolgen. Es gibt Frauen wie Karin, die sich gerade wegen ihrer sozialen Stellung,
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dem Gefühl anerkannt und getragen von der Gemeinschaft zu sein, in gewisser Weise zur Erklärung verpflichtet fühlen: »Und ich bin hier in (Stadtteil) auch, dadurch dass ich sehr engagiert bin und auch in vielen (soziale Einrichtung), auch sehr bekannt und mich ham eigentlich ständig Leute angesprochen und sich gefreut auch, dass noch mal Nachwuchs gibt, wie des eben so ist. Man freut sich halt erstmal. Und ich hatte immer das Gefühl, ich muss ihnen erklären, dass es keinen Grund zur Freude gibt für mich. Und ich hab auch das Gefühl gehabt, ich muss den Menschen erklären, warum ich oft so traurig durch die Welt geh oder warum ich mich nicht auf den Zeitpunkt der Geburt freuen kann.« (Int. 9, 32)
Karin genießt soziale Anerkennung, ist in verschiedene Strukturen wie dem Arbeitsumfeld, aber auch an ihrem Wohnort gut eingebunden, ihr Umfeld freut sich mit ihr über die Schwangerschaft, trauert dann mit ihr über die Diagnose. Sie wird getragen von diesem Umfeld, die Angst vor Gerüchten oder Verletzlichkeit nennt sie nicht. Es gibt daneben jedoch andere Frauen, die bereits vor der Diagnosestellung eine Außenseiterposition in ihrer Gemeinde einnehmen. So hat Saskia einen ausländischen Partner, ist deshalb in ihrem ostdeutschen Wohnumfeld immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Nach der Diagnose hält sie diese geheim, lebt nach außen eine scheinbar normale Schwangerschaft: »Ich hätt Schauspielerin werden können.« Saskia beschreibt ihre Interaktionsstrategie als Schauspiel, sie begibt sich so sehr in die Rolle der glücklichen Schwangeren, dass sie phasenweise die Gefühle einer »normalen« Schwangeren hat49, die vorgetäuschte Identität übernimmt. Sogar im Geburtsvorbereitungskurs ist sie die »glückliche« Schwangere, bei der alles in Ordnung ist. Nur ein sehr kleiner Kreis, insgesamt vier Bekannte wissen von der Diagnose. Nach der Geburt gibt es im Ort Gerüchte. Saskia vermutet, dass eine Nachbarin, die im Krankenhaus arbeitet, von der Diagnose des Kindes erfahren hat und darüber spricht, »weil och ein Krankenhaus kann nicht dicht halten, ne.« (Int. 12, 211). Die ganze Schwangerschaft und die Zeit danach ist sie unter Druck, ihre Geschichte weiter aufrechtzuerhalten. Ihr Sohn soll im Kindergarten nicht über das kranke Geschwisterchen sprechen. Für Saskia ist klar, dass ihr Umfeld kein Mitleid mit ihr haben wird, wenn bekannt wird, dass sie sich freiwillig für dieses Kind entschieden hat: »Weil man dann ebent doch gehört hat, was jammert se denn rum, sie hat es doch gewusst die ganze Zeit. Ne. Da braucht se doch jetz nich mehr heulen. Und dem wollt ich ebent vorbeugen so im Unterbewusstsein, ohne es vorher zu wissen. Dann sag ich
49 Vergleiche dazu Goffmann (1998), der als eine der Strategien von Betroffenen im Umgang mit einem für die Umwelt nicht sichtbaren Stigma das »Täuschen« beschreibt (ebd., S. 94ff.) und an anderer Stelle von »Techniken zur Informationskontrolle« spricht.
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ebent, es is bei der Geburt gestorben, dann krieg ich ein bisschen mehr / dann akzeptiert man auch, dass ich traurig bin oder dass ich heule. Ja.« (Int. 12, 216)
Ihre Beweggründe sind die Angst vor dieser Mitleidlosigkeit, Angst vor Stigmatisierung ihrer ungeborenen Tochter und Angst vor noch mehr persönlicher Stigmatisierung. Diese persönliche Stigmatisierung wird deutlich in den Gerüchten, die ihr zugetragen werden: »Ja. Rassenmischung is natürlich logisch, da muss ja was schief gehen.« (Int. 12, 241–243) In diesen Gerüchten sieht Saskia sich die Schuld an der Erkrankung ihrer Tochter zugesprochen: Die Partnerschaft mit einem Ausländer wird hier zur »Rassenschande« und sie als Mutter zur Verursacherin der Fehlbildung ihrer Tochter. Dass Saskia in einer solchen Atmosphäre versucht, nach außen eine normale Schwangere zu sein wird, ist nicht nur verständlich, sondern erscheint unvermeidlich. Reaktionen des Umfelds In der Begegnung mit dem Umfeld, im Interaktionsgestaltungsprozess sind die Reaktionen dieses Umfelds und der Umgang, den dieses Umfeld findet, ein wichtiger Einflussfaktor für die Strategien, die die Frauen für sich weiterentwickeln. So gibt es Reaktionen, die zunächst Anerkennung beinhalten, aber doch in ihrer Folge zu einer Absonderung der Betroffenen führen. So erzählen viele der Frauen von Sätzen wie »Das würde ich nie schaffen.«, von Bewunderung für die Entscheidung. Während diese Bewunderung sicher auch als Anerkennung gemeint ist, beinhaltet sie im Kern doch auch das Verständnis, dass die Entscheidung zum Weiterführen etwas sei, das gewagt werden muss, eine gefährliche Expedition, die ein »normaler Mensch« nicht eingeht. Wie auch bei Müttern bzw. Familien mit lebenden Behinderten oder auch Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen wirkt diese Bewunderung »abhebend«, ein Stigma, das das Gegenüber zwar nicht kleiner macht, aber durch das GrößerMachen auch aus der Gruppe der Normalen heraushebt und letztendlich trennt. Der Umgang mit der Hilflosigkeit ihres Umfelds ist für viele der Frauen ein belastender Faktor in der Schwangerschaft und hat Einfluss auf ihr eigenes Interaktionsverhalten. Anne erzählt über ihre Bedenken: »Also die Umwelt is auch überfordert mit ihren Emotionen und wenn man die dann noch mittragen muss irgendwie.« (Int. 1, 87)
Anne möchte nicht die emotionale Belastung ihres Umfelds mittragen müssen – in einer Situation, in der eigentlich sie selbst Unterstützung benötigen würde, fürchtet sie dies als zusätzliche Belastung. Häufig erleben Frauen in ihrem Umfeld, dass nicht über ihr Kind gesprochen wird. Dies zieht sich in die Zeit
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nach dem Tod des Kindes und zeigt sich besonders deutlich bei den Frauen, die Zwillinge geboren haben, von denen ein Kind gesund überlebt: Das verstorbene Kind wird »verschwiegen«. Für viele der Frauen ist es belastend und sie fühlen sich isoliert dadurch, dass sie nicht angesprochen werden auf die Diagnose, so wie Heidrun: »Also, es war keiner in der Lage, letztendlich damit umzugehen, wenn ich am Telefon geweint hätte, ämm, und überhaupt dieses Thema offen anzusprechen, war keiner in der Lage (…) das hat mich sehr getroffen, hat mir sehr weh getan.« (Int. 8, 39–40)
Heidrun interpretiert das Schweigen und Nichtangesprochen werden durch ihr Umfeld als Unfähigkeit, mit der Situation umgehen zu können, auch als Angst vor emotionalen Reaktionen wie Weinen. Sie ist verletzt durch dieses mangelnde Verständnis und den fehlenden Rückhalt im Freundeskreis. Neben dem Verschweigen gibt es auch andere Umgangsformen des Umfelds, die die Frauen als hilflosen Umgang wahrnehmen. So sehen sich manche der Frauen mit abwiegelnden Trostversuchen oder auch Zweifeln an der Richtigkeit der Diagnose konfrontiert. Heidrun: »Meine Eltern, die ham immer nur gesagt, du siehst das alles viel zu schwarz, jetzt hör doch auf, und also die konnten damit auch nicht umgehen. Also eigentlich nicht wirklich.« (Int. 8, 26)
Für manche Frauen ist die Angst vor dieser Hilflosigkeit und einem möglichen Rückzug ihres Umfelds der Grund, die Information über die Diagnose des Kindes in einem engen Kreis zu halten. So erzählt Inken: »Wenn die es jetzt wissen, wissen sie nicht mehr, wie sie mit uns umgehen sollen. Vermeiden vielleicht komplett den Kontakt und ämm, das hätt die Situation für uns auch nicht leichter gemacht. Und von daher ham wir das Ganze dann so laufen lassen, sach ich mal. Ein ganz klitzekleiner Kreis wusste Bescheid.« (Int. 14, 27)
Inken wählt aus, zu wem in ihrem Umfeld sie genug Vertrauen hat, um über die Diagnose zu sprechen. Für die Auswahl, wem die Diagnose eröffnet wird, wählt sie neben den Kriterien der Vertraulichkeit auch das Kriterium der Belastbarkeit des Gegenübers. Viele Frauen wünschen sich Kommunikation und Austausch, der in die Tiefe geht und Lebensthematiken berührt, wie Heidrun es ausdrückt, wenn sie über die Reaktionen in ihrem Freundeskreis sagt: »So des in die Tiefe hat mir da ganz deutlich gefehlt.« (Int. 8, 39) Die Oberflächlichkeit der Gespräche und der Eindruck, vom Gegenüber zwar gefragt zu werden, wie es geht, dies aber in der Erwartung, doch bitte nicht wirklich über das eigene Befinden zu sprechen, erlebt Heidrun als isolierend. Manche der Frauen erleben in ihrem Umfeld Unterstützung aus unerwarteter Richtung. Bei Heidrun ist es der junge Pfarrer, der immer wieder bei ihr zu
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Hause vorbeischaut und sich erkundigt, wie es geht, bei anderen Frauen ist es die neue Nachbarin, die sie als herzlich und interessiert erleben. Dabei ist die Haltung des Gegenübers, sein Interesse und seine Offenheit das, was die Begegnung für die Frauen wertvoll macht. In Begegnungen mit Fremden erleben manche Frauen unerwartet Verbundenheit und Austausch, wenn das Gegenüber als Reaktion eigene Erfahrungen mit Fehlgeburten oder Krankheit teilt, eigenes preisgibt. So erzählt Johanna vom Gespräch mit einer Reinigungskraft in einer öffentlichen Toilette: »Und dann kamen wir ins Gespräch und dann hat sie gsagt, ja, sie hat auch einen Enkel gehabt, den hat sie mit vier Monaten verloren, der hat an ner ganz seltenen Blutkrankheit glitten und dann hat die Frau nur gsagt: ‹Ich denk an Sie und ich nehme Sie mit in mein Gebet ein›. Und des hat mir dann au wieder so gut tan.« (Int. 5, 102)
Neben dem Teilen eigener Betroffenheit stellt das »in mein Gebet nehmen« hier auch eine symbolische Unterstützung für Johanna dar, ihre Geschichte, sie und das Kind sind wichtig für ihr Gegenüber. Viele der Frauen erleben es als unterstützend, wenn das Gegenüber seine eigene Betroffenheit zeigt. Harriet erzählt von den Erzieherinnen in der Kindertagesstätte ihrer Töchter : »Und obwohl die da wenig vorbereitet waren, die ham sich da sofort Zeit genommen und in der Küche konnt ich denen des ganz ausführlich erzählen. Und die ham einfach so / die waren so ehrlich mit ihren Gefühlen und ham einfach so ihr Erstaunen, gibt es so was überhaupt, was ist das und was hat das für Konsequenzen und wie es ihnen damit ergehen würde, wenn sie so ne Diagnose mitgeteilt bekommen würden. Also des war irgendwie so, so sehr menschlich, sehr nah und irgendwie sehr echt. (…) Und mit den Kindergärtnerinnen war das irgendwie ganz unproblematisch. Die ham mir halt gesagt, wie sie sich fühlen, und ich habe denen gesagt, wie ich mich fühle, und das hat gut getan und (…)« (Int. 13, 47)
Die Erzieherinnen nehmen sich Zeit und geben Harriet Raum zu erzählen. Ihre Reaktion erlebt Harriet wie eine Art Spiegel ihres eigenen Erlebens, wichtig dabei ist die Authentizität des Gegenübers, die einen wirklichen Austausch erst ermöglicht. Der Umgang mit den Geschwisterkindern Für viele Frauen, die bereits Mutter von lebenden Kindern sind, stellt die Spannung zwischen den Sorgen für die lebenden Kinder und den Sorgen für das ungeborene Kind einen Konflikt im Schwangerschaftsverlauf dar. Manche der Frauen sehen sich dabei mit Vorwürfen aus ihrem Umfeld konfrontiert. Diese Vorwürfe gehen bei Hildegard beispielsweise von ihrem Sohn selbst aus. Erst im Schwangerschaftsverlauf findet er sich mit der Behinderung seines Bruders ab. Bei Saskia ist es hingegen eine Freundin, die ihr diese Spannung vorwirft:
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»Also Egoismus, dass ich in dem Moment lieber mein Sohn vernachlässige, ihm das zumute, das mitzumachen. Dass ich, ää, dass er sieht, dass ich schwanger bin. Dass er im Kopf hat, okay die kriegt / wir kriegen ein Baby und alles und ihm ebent das nicht bieten kann, sag ich jetzt mal. Also nur um, nur um dein Kopf durchzusetzen, das Kind will ich haben, das Kind muss auf die Welt kommen. Das war ebent so, wo sie dann gesagt hat, ›Du bist einfach nur egoistisch.‹ Ja.« (Int. 12, 30–32)
Ein weiterer wichtiger Aspekt in Bezug auf ältere Kinder ist für viele der Frauen die Kommunikation mit ihren Kindern: Soll die Diagnose offengelegt werden, was soll erzählt werden und wie kann es erzählt werden? Der Umgang dimensionalisiert sich dabei von einem Verbergen der Diagnose bis zu einem ganz offenen Umgang. Einige Frauen beziehen die Kinder mit ein in die Schwangerschaft und versuchen, bereits während der Schwangerschaft die Beziehung zwischen den Geschwistern zu unterstützen. Häufig geht diesem offenen Umgang allerdings ein langes Hadern darüber, inwieweit das Geschwisterkind belastet werden kann, inwieweit man ihm die Freude über das Baby nehmen soll und ob es mit der Vorstellung eines kranken Babys umgehen kann, voraus. So beschreibt Inken die Offenlegung der Diagnose und Einbeziehung ihrer Tochter als Prozess: »Das war dann so mit das Schwerste. Wir ham (…) bis September (…) doch rausgezögert, ihr das zu sagen, weil sie sich so gefreut hat. Sie hat Babykataloge gewälzt (…) hat Babyklamotten ausgesucht oder von ihren Sachen schon (…) Sachen, das könnt sie dann ihrem Bruder geben und (…) das hat uns so wehgetan über / ihr diese Freude nehmen zu müssen. Und irgendwann ham wir dann gesacht, okay, wir müssen es jetzt sagen.« (Int. 14, 29)
Sie möchte ihrer Tochter die Freude am Geschwister nicht nehmen. Ein weiterer Aspekt der bei manchen Frauen zum Verschweigen der Diagnose gegenüber den eigenen Kindern führt, ist die Angst davor, neben der eigenen Trauer zusätzlich mit der Trauer des Kindes umgehen zu müssen und das Kind unterstützen zu müssen in dieser Situation. Weitere Einflussfaktoren ob, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Umfang Kinder informiert werden, sind neben dem Alter dieser Kinder auch Vorbilder und Ermutigungen von anderen Betroffenen und Hebammen. Viele Frauen suchen nach kindgerechten Erklärungen für das bevorstehende Sterben des Babys und gerade die Mütter von Kindern im Kindergarten- oder Grundschulalter wählen häufig das Bild des Sternenkindes: »(…) dass das Baby dann zu den Sternen zieht.« (Int. 17a, 24) Manche der Frauen erleben, dass Geschwisterkinder mit diesem Vergleich gut umgehen können und die Kinder sich weiter auf das Geschwisterchen freuen. Inken erzählt über das Sprechen mit ihrer Tochter im Vorschulalter :
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»Da war sie auch ganz traurig und hat sich aber trotz allem weiter drüber gefreut. Also, sie hat dann weiter den Bauch getätschelt und angemalt. Für sie war so diese Geschichte, dass er dann halt da oben auf seinem Stern sitzt, war greifbar irgendwo.« (Int. 14, 29)
Andere Frauen beschreiben, dass ihre Kinder nach der Mitteilung, dass das Geschwisterchen nach der Geburt sterben wird, einige Zeit brauchen, bis sie wieder zum alten Umgang mit dem »Schwangerschaftsbauch« zurückfinden. So wie Harriets Tochter, die im frühen Kindergartenalter ist: »Wenn die traurig war, kam die immer und heulte in meinen Bauch und da strampelte der Kleine und da (unverständlich) ja der strampelt jetzt und der tröstet dich, und da gings ihr wieder besser. Das hat sie dann gelassen. Und dann hab ich sie irgendwann drauf angesprochen und dann sacht sie, ›Ja, wenn der stirbt, dann kann der mich ja jetzt nich mehr trösten.‹ Dann sag ich, ›Natürlich kann der dich jetzt noch trösten, der lebt doch noch.‹ Und dann hat sie das auch wieder gemacht.« (Int. 13, 59)
Von älteren Kindern werden manche der Frauen mit Fragen zum Leben nach dem Tod konfrontiert und setzen sich mit religiösen Erklärungsformen auseinander, so wie Harriet: »Also die Große, die hat so ganz intellektuelle Fragen gestellt, was ist denn jetzt Tod und wo kommt man dann hin und was passiert dann mit einem und warum sterben Menschen. Und dann hab ich ihr eben (lacht) was Religiöses erzählt, dass sie dann zu Allah gehen und dass es da viel schöner ist. Bis sie dann irgendwann sagte, ‹Das ist so schön, warum sterben wir denn nicht?‹. Da hab ich gemerkt, hmmm, ich hab es ein bisschen übertrieben. Das war irgendwie doch ein bisschen zuviel religiöser Schmuh. Und hab dann zurückgerudert.« (Int. 14, 29)
Für andere Frauen ist ein offener Umgang im Umfeld der Kinder wichtig, gerade um die Kinder zu schützen. So beziehen manche Frauen die Erzieherinnen im Kindergarten oder eine Lehrerin mit ein, um Geschichten, die das Kind erzählt, nachvollziehbar und Verhaltensänderungen verständlich zu machen. Gleichzeitig stellt es für manche Frauen, die die Diagnose nach außen geheim halten wollen, eine Herausforderung dar, ihre Kinder in dieses Schweigen einzubinden, ihnen zu verdeutlichen, mit wem gesprochen werden darf, und mit wem nicht, dieses Schweigen von ihren Kindern zu verlangen. Inken erzählt: »Wir ham auch gesacht, das wollen wir jetzt nicht weitererzählen. Jetzt Oma und Opa wissen Bescheid, aber sonst wollen wir das nicht weitererzählen. Und sie hat dann auch (…) ja ganz tapfer, sach ich mal (…) das Ganze dann mitgemacht.« (Int. 14, 29)
An Inkens Erzählung wird deutlich, dass Geschwisterkinder sich der Interaktionsstrategie der Eltern unterordnen müssen. So wird Inkens Tochter gegen Ende der Schwangerschaft in den Kreis derer, die über die Diagnose des Babys
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Bescheid wissen aufgenommen – dies bedeutet aber auch, dass Inken ihre Tochter dazu bringen muss, sich an das innerfamiliäre Schweigegebot zu halten. Der Umgang mit anderen Schwangeren Die Diagnose bedeutet auch, dass die Frauen sich nicht mehr wirklich zur Gruppe der Schwangeren zugehörig fühlen. Das Erleben von Kontakt und Interaktion mit anderen, »normalen« Schwangeren ist für viele der Frauen davon geprägt, dass sie schmerzhaft mit dem, was hätte sein sollen aber nicht ist, konfrontiert sind. In den Daten zeigt sich deshalb als eine Umgangsstrategie der Rückzug und das Vermeiden von Kontakten zu anderen Schwangeren. Anne erzählt: »Mit anderen Schwangeren hat ich dann, glaub ich, keinen Kontakt, weil den hat ich dann unterbunden.« (Int. 1, 76) Nicht immer ist es möglich, das Zusammentreffen mit anderen Schwangeren zu vermeiden. Deshalb sind viele Frauen dankbar, wenn ihrem Bedürfnis, solche Kontakte zu vermeiden, entgegengekommen wird, sie beispielsweise nicht im Wartezimmer mit anderen Schwangeren sitzen müssen. Die meisten Frauen wollen deshalb auch nicht an einem Geburtsvorbereitungskurs teilnehmen, wie Anne: »Da hab ich mich abgemeldet, weil ich dacht, ich kann andere Schwangere nicht ertragen.« (Int. 1, 74)
Für Anne wäre das Zusammentreffen mit anderen Schwangeren unerträglich. Aus diesem Grund ist für manche der Frauen das Angebot von Einzelgeburtsvorbereitung durch ihre Hebamme hilfreich. Sind Frauen bereits vor der Diagnosemitteilung in einem Geburtsvorbereitungskurs angemeldet bzw. nehmen daran teil, ziehen die meisten sich aus diesen Kursen zurück. Maria stellt eine Ausnahme dar, denn sie wird von ihrer Hebamme bestärkt, weiter am Geburtsvorbereitungskurs teilzunehmen: »Wir sind dringeblieben (…) aber des war hart. Ich kann mich noch gut erinnern, wo dann (Name der Hebamme) meinte, wir ham was zu sagen, und wir des dann den andren Eltern gsagt haben und da sind dann Tränen gelaufen und die anderen Eltern waren dann natürlich auch total bestürzt. Aber des war auch sehr tröstlich und die waren dann super zu uns. Und nächstes Mal hat jeder irgendwas mitgebracht für des Kind, wo sich jeder was dabei gedacht hat für uns und des Kind. Und des war dann für uns echt schön zu sehen, wie die drauf reagieren. Aber des war halt Zufall, dass ich so früh in diesem Kurs drinnen war.« (Int. 6, 59)
Maria und ihr Partner erleben das Mitgefühl der anderen Eltern und die Zeichen der Anerkennung für ihren Sohn als tröstlich. Für manche der Frauen ist das Empfinden von Neid auf die anderen Schwangeren ein schwieriger Aspekt ihres Erlebens, so wie für Zoey :
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»Also bei mir ein großes Problem is auf jeden Fall der Neid. Also wars auch immer so auf diese (…) na wie soll ich es nennen, Unbedarftheit. Also wenn man so ner Schwangeren ins Gesicht kuckt und sie von ihrem Kind redet, das is ja immer so ein Grundleuchten in den Augen. Und das hat ich halt dann gar nicht mehr. Also das kannt ich oder konnt ich nicht mehr haben und war neidisch, dass ich des nicht haben kann (…) also des find ich schlimm und find ich auch an mir selber schlimm, weil es kein schönes Gefühl ist.« (Int. 11, 87)
Wie für Zoey ist Neid für viele der betroffenen Frauen ein Gefühl, das sie nicht haben wollen, das sie negativ bewerten, das aber schwer abzustellen ist. Ursache für Neid kann der Neid auf ein lebendes Kind sein, aber auch der Neid auf verlorengegangene andere Qualitäten wie etwa die »Unbedarftheit«, die die anderen Frauen noch haben. Im Umgang mit anderen Schwangeren findet sich die Unterkategorie des »Schonen-Wollens«. Karin hat generell einen offenen Umgang mit der Diagnose. Gegenüber anderen Schwangeren nimmt sie davon Abstand, möchte ihr Gegenüber schützen: »Ich wollte sie schützen vor dieser Angst, was alles / weil ich wusste zu dem Zeitpunkt, was alles passieren kann. Auch wenn die Diagnose nicht klar ist, wie viele Kinder unter der Geburt sterben oder kurz nach der Geburt oder schon vorher. Und, ämm, ja, das wollte ich nicht. Also ich reagier da auch sehr gefühlsmäßig, kanns gar nicht sagen. Aber im Allgemeinen red ich schon drüber und schone die Menschen nicht.« (Int. 9, 96)
Hier zeigt sich auch das Bild der Schwangeren als besonders verletzlich. Andere Frauen beschreiben den Eindruck, von anderen Schwangeren gemieden worden zu sein, so wie Rabea, die innerhalb ihrer Kirchengemeinde einen offenen Umgang mit der Diagnose hat, bei Veranstaltungen aber wahrnimmt, dass sie von den anderen Teilnehmern gemieden wird. Die Interaktion in der Betreuungsbeziehung Manche der Frauen erleben ihre Ärztin bzw. ihren Arzt als hilflos und rein technisch fokussiert. Dies steht nicht in Zusammenhang mit der Akzeptanz der Entscheidung. Kurzum: Auch Ärzte und Ärztinnen, die die Entscheidung unterstützen oder zumindest akzeptieren, können in der Begleitung überfordert sein – so nehmen es zumindest einige der hier befragten Frauen wahr. Bei wenigen Frauen findet eine auf die veränderte Situation ausgerichtete Versorgung in dem Sinne statt, dass die Frauen über die normale Vorsorgeleistung mit ihren technischen Aspekten hinaus Zeit für Gespräche mit der Ärztin bzw. dem Arzt haben und eine Vernetzung mit anderen Akteuren wie Hebammen oder pädiatrischen Experten ermöglicht wird. Viele der Frauen – wie etwa Anne – wünschen sich eine »normale Vorsorge«
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und doch gleichzeitig einen besonders sensiblen Umgang. Sie möchte technisch gesehen eine ähnliche – eine gleichwertige – Versorgung. Gleichzeitig wünscht sie sich einen sensiblen Umgang: gemeinsames Warten mit »den anderen Schwangeren«, das Mithören von CTG Untersuchungen anderer Frauen oder lange Wartezeiten empfindet sie als unsensiblen Umgang und unzumutbar. Gemeinsam ist vielen der Frauen die Sorge, nicht gleichwertig behandelt zu werden. Sowohl ein erlebtes Zulange als auch ein erlebtes Zukurz der Untersuchungsdauer bei den Vorsorgeuntersuchungen nach der Diagnose können bei den Frauen Annahmen auslösen, nicht gleichwertig behandelt zu werden oder solche Befürchtungen bestätigen. Dass sie eben keine normalen Schwangeren mehr sind, nehmen die Frauen auch am veränderten Umgang wahr : Längere Ultraschalluntersuchungen und Vermessungen des Kindes lassen manche der Frauen sich wie Objekte im Fokus eines Forschungsinteresses fühlen, andere erleben die Vorsorge als etwas, was sehr schnell abgehandelt wird und bei dem nur geschaut wird, ob das Kind bereits verstorben ist. Gleichzeitig nehmen die Frauen kleine Gesten der Fürsorge sehr genau wahr und wertschätzen diese. Das kann wie bei Johanna die Tasse Kaffee von der Arzthelferin sein, die sie bei jedem Termin im Wartezeitraum erhält. Das kann auch die verkürzte Wartezeit sein oder die Möglichkeit, in einem separaten Raum getrennt von den anderen Schwangeren warten zu können. Für einige Frauen ist auch die Geste der Frauenärztin bzw. des Frauenarztes, ihre private Telefonnummer auszuhändigen und das Angebot, im Notfall erreichbar zu sein, ein solches Zeichen der Anerkennung der besonderen Situation. Eine Abweichung von ritualisierten Vorsorgekonzepten erleben sie als Ausdruck der Anerkennung der Ausnahmesituation. Bei manchen der Frauen findet eine auf die veränderte Situation ausgerichtete Versorgung in dem Sinne statt, dass die Frauen über die normale Vorsorgeleistung mit den technischen Aspekten hinaus Zeit für Gespräche mit der Ärztin bzw. dem Arzt haben. Viele der Frauen sehen die Haltung der Akteure des Betreuungssystems als ausschlaggebend. Dabei geht es zum einen um die Haltung, die sie bei ihrem Gegenüber wahrnehmen gegenüber der Entscheidung und dem Kind. Wird die Betreuung als bloßes Tolerieren einer eigentlich irrationalen Entscheidung verstanden, etwas, das irgendwie durchgestanden werden muss? Oder erleben sie Betreuung als etwas, was auf ihre individuelle Situation abgestimmt zu sein scheint? Viele der Frauen sind sensibel, welche Worte der Arzt bzw. die Ärztin wählt vor allen Dingen in Bezug auf Person und Leiden des Kindes. Wird vom Kind als »dem Anenzephalus« gesprochen oder vom »Kind mit Anenzephalie«? Wird das
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Weiterführen der Schwangerschaft als »der Natur ihren Lauf lassen« bezeichnet oder wird das Weiterleben als »dem Kind seine Zeit lassen« bezeichnet? Die Nuancen sind fein, aber »der Natur ihren Lauf lassen« impliziert, dass ein krankes Tier nicht eingeschläfert wird, jemand seinem Leiden überlassen wird, man das womöglich Mögliche nicht tut. Dagegen wird im Ausdruck »dem Kind seine Zeit lassen« das Kind als eine Person mit eigenem Schicksal impliziert. Zentral für die Zufriedenheit der Frauen mit dem Betreuungssystem ist es zu wissen, dass ihre Entscheidung unterstützt wird und der Gegenüber bereit ist, sich auf diese Schwangerschaft einzulassen. So erlebt es Dorothee: »Also wir hatten / unser Frauenarzt hat dann gesagt, ja, er begleitet uns. (…) Also der hat sich auch (…) mit uns dafür eingesetzt. Und, ja (..) also (…) Ich war dann auch hier in (Name der Stadt) in der Klinik, um zu gucken, wie schwer eigentlich der Herzfehler ist. Und auch die Oberärztin dort, also die leitende Ärztin von Gynäkologie und Kreißsaal, die hat uns gesagt, ›Ja, wir begleiten Sie gerne.‹ Und der Pränatal-Oberarzt, also ne, ämm, der Kinder-Oberarzt, der hat uns da auch ermutigt. Der hat gesagt: ›Wenn Sie das so möchten, dann begleiten wir Sie.‹« (Int. 16, 26)
Dabei spielt für viele Frauen eine Rolle, inwieweit sie sich als handlungsmächtig erleben. Sie wünschen sich Gespräche auf Augenhöhe. Als positiv erleben die Frauen es, wenn sie wahrnehmen, dass Ärzte bereit dazu sind, über ungewohnte Optionen mitzudenken und offen für die Überlegungen der individuellen Frau zu sein. Eine solche Offenheit kann Ausdruck darin finden, dass sich Frauen von Ärzten bzw. Ärztinnen, von denen sie dies nicht erwarten, in ihrem Wunsch nach einer außerklinischen Geburt unterstützt fühlen, wie Karin über das Gespräch mit einem Klinikgynäkologen erzählt, den sie im Rahmen eines Kontrollultraschalls kennenlernt: »Und wir haben ihn gefragt zu Hausgeburt und er hat gesagt: ›Wissen Sie was, nehmen Sie Ihr Kindchen, bringen Sie es zu Hause zur Welt und lassen Sie keinen einzigen Arzt dran, (lacht).‹, und des fand ich so rührend, dass mir ein Arzt sagt, lassen sie keinen Arzt ran. Und damit sagen wollte, geben sie ihm, ja, des was er braucht und (…). Und des ist nicht die Medizin. Des ist des Menschliche und des ist meine Nähe und meine Wärme und meine Liebe für ihn, die Zeit, die er halt da ist.« (Int. 9, 115)
Karin fühlt sich auf der Suche, den für sie richtigen Weg für sich und das Kind zu finden, von diesem Arzt unterstützt und ist berührt von seinem Einfühlungsvermögen in die Situation: Nicht die Medizin ist wichtig, sondern das, was sie als Mutter ihrem Sohn noch geben kann. Für Karin ist das Nähe, Wärme und Liebe. Als eine solche Unterstützung erleben Frauen auch die Bereitschaft der Ärztin bzw. des Arztes, Schmerzmedikamente für das Kind zur Verfügung zu stellen für eine Hausgeburt oder auch Stand-Bye zu sein für eventuelle Notfälle. Die Offenheit für geburtshilfliche Entscheidungen der Frau betrifft dabei aber nicht nur die Offenheit für interventionsarme oder außerklinische Geburtsbe-
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gleitung. Für manche der Frauen ist es wichtig, auch offen über die Option einer primären Kaiserschnittentbindung sprechen zu können. Dies betrifft die Frauen, deren Kind Fehlbildungen wie Anenzephalie haben, die in Verbindung mit einer erhöhten Sterberate während der Geburt gesehen werden50. Es zeigt sich, dass es auf Seiten der betreuenden Ärzte und Ärztinnen einen Einfühlungsprozess erfordert, um die Motive der Frauen, den Wunsch, ihr Kind lebend kennenlernen zu wollen, auch wenn es sich um einen sehr kurzen Zeitraum handeln kann, verstehen zu können und anzuerkennen, dass dieser kurze Zeitraum für manche der Frauen die Entscheidung für einen Kaiserschnitt begründen kann. Manche Frauen erleben die Informationen zu diesem Kaiserschnitt jedoch zunächst nicht als neutral, sondern als Beeinflussung in Richtung Spontangeburt. Wichtige Informationen, wie etwa Untersuchungsergebnisse zu Überlebensraten der Kinder, erhalten viele der Frauen erst nach der Geburt über Selbsthilfegruppen und Foren und stellen im Rückblick ihre Entscheidung zur vaginalen Geburt infrage (mündliche Information von Harriet). Andere Themenbereiche, in denen die Frauen eine solche Offenheit als positiv erleben, sind das Entgegenkommen bei Fragen zur Überführung des verstorbenen Kindes für die Aufbahrung zu Hause während der Vorbereitung dieser Phase im Schwangerschaftsverlauf. Ein wichtiger Faktor ist für viele Frauen auch im weiteren Schwangerschaftsverlauf der Zugang zu adäquaten Informationen über die Fehlbildung, aber auch über den Sterbeprozess und die Geburt. Dabei geht es auf der einen Seite um den Zugang zu den jeweiligen Spezialisten, beispielsweise der Überweisung an Kliniken, die mit dem jeweiligen Krankheitsbild Erfahrung haben oder auch den Verweis an Selbsthilfegruppen. Auf der anderen Seite geht es den Frauen aber auch darum, »ehrliche Informationen« zu erhalten, um mit der Situation umgehen zu können. Karin erzählt von den Ultraschalluntersuchungen im Schwangerschaftsverlauf und ihren Problemen, die Diagnose zu begreifen: »Weil wir konnten es uns nicht erklären, ham immer gfragt ›Woran wird unser Kind sterben, man sieht doch gar nichts?‹ Und diese Ärztin hat irgendwann den Mut gehabt zu sagen: ›Es wird schlimmer werden. Bis zur Geburt hin werden seine Organe so schwer geschädigt sein, dass man wahrscheinlich nicht mal davon ausgehen kann, dass er die Geburt überlebt.‹ Und so hart des ist, so hilfreich war des auch für uns. Die hat trotz allem auch gesagt: ›Gell, da sehen Sie Ihr Kindchen und es ist für Sie perfekt und es ist auch richtig so. Einerseits. Und andererseits eben nicht.‹ (…) Und das war die Mischung, die uns gut getan hat.« (Int. 9, 36–38) 50 Vergleiche dazu Jacquier et al. (2006), die in einer retrospektiven Untersuchung von 211 weitergeführten Schwangerschaften mit diagnostizierter Anenzephalie des Kindes die Outcomes und Überlebensraten der Kinder untersuchten und Hinweise auf eine erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit bei Kaiserschnittentbindung finden.
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In Karins Erzählung wird deutlich, dass diese direkten Informationen hilfreich für sie und ihren Partner sind, um überhaupt das Unfassbare greifen zu können. Gleichzeitig verdeutlicht Karin aber auch, dass die Diagnostikerin von »Gell, da sehen Sie Ihr Kindchen und es ist für Sie perfekt und es ist auch richtig so.« spricht und damit den Bogen spannt weg von der medizinischen Diagnose zur Wertschätzung der Eltern-Kind-Bindung, die unabhängig von der Diagnose besteht oder wieder aufgebaut wird.
10.4.7 Zwischenfazit der Phase »Gestaltung der verbleibenden Schwangerschaft« Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Phase »Gestaltung der verbleibenden Schwangerschaft« zusammenfassend dargestellt und am Ende weitergeführt werden in ein Resümee der als positiv erlebten Unterstützungsfaktoren. Betrachtet wird in dieser Phase der Zeitraum, der zwischen der Entscheidung bzw. Stabilisierung und der Geburt des Kindes liegt. Der Beginn der Phase ist fließend und im Modell als »Stabilisierung« bezeichnet. Diese Stabilisierung tritt bei einigen Frauen mit der Entscheidungsfindung ein, bei anderen, die sehr rasch nach der Diagnosemitteilung zur Entscheidung kommen, tritt Stabilisierung durch Information und das Gefühl, Kontrolle über den Verlauf zu haben ein. Das Ausmaß, inwieweit Stabilisierung wahrgenommen wird, hat einen direkten Einfluss darauf, welche Strategien für Gestaltung und Umgang verwendet werden. Gleichzeitig entwickeln viele Frauen als eine neue Zukunftsperspektive die Hoffnung auf ein kurzes Überleben des Kindes und die Möglichkeit, ihr Kind lebend kennenlernen zu können. Die zentralen Ergebnisse sind schließlich folgende: 1. Sich bewegen zwischen Ungewissheit und Hoffnung: Viele der Frauen versuchen, durch Planung und die Suche nach Informationen ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen. Gleichzeitig wird der Verlauf prozessartig in ständiger Veränderung und Entwicklung wahrgenommen und Strategien werden im Verlauf angepasst und verändert. 2. Umgang mit Zeit finden: Die Strategien bewegen sich zwischen dem Versuch, sich abzulenken und die Zeit zu vertreiben, und dem Bedürfnis, die Zeit nutzen zu wollen, die verbleibende Zeit der Schwangerschaft auszukosten. 3. Wunsch, das Kind lebend kennenlernen zu können: Der Fokus, auf den Aufmerksamkeit und Planung sich richten, verändert sich bei manchen der Frauen im Schwangerschaftsverlauf von Gedanken an den Sterbevorgang, Angst vor Leiden des Kindes und Bestattungsvorbereitung hin zur Geburtsplanung. Zentral ist hier der Wunsch, das Kind lebend kennenlernen zu
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können. Manche Frauen versuchen ab einem bestimmten Punkt, in der Gegenwart zu leben und den Gedanken an Geburt und Sterben zu verdrängen. Bindung – und Beziehungsgestaltung zum Kind: Viele der Frauen erleben zunächst eine Entfremdungsreaktion, trauern um das imaginierte gesunde Kind und müssen für sich neue Konzepte von Schwangerschaft und MutterWerden entwickeln. Im Verlauf nähern sie sich dem Kind in seinem So-Sein an, und viele der Frauen wollen die Bindung und Beziehung bereits in der Schwangerschaft bewusst gestalten. Dem Kind einen Platz in der Welt geben: Vielen Frauen ist wichtig, dass das Kind bereits in der Schwangerschaft einen Platz in der Welt findet, einen Namen erhält, von Familie und Freunden als Person wahrgenommen wird. Es besteht dabei eine enge Verknüpfung von Real-Werden der Person des Kindes und dem Real-Werden der eigenen Mutteridentität. Umgang mit Schwangerschaft als Übergangsstatus: Viele der Frauen behalten Rituale bei oder nehmen diese nach der Entscheidung wieder auf, die für Außenstehende nicht länger Sinn ergeben, die aber den Betroffenen Sicherheit geben und Reste von Normalität bewahren lassen. Anderen Maßnahmen, die auch als Schwangerschaftsrituale gedeutet werden können, wird eine veränderte Bedeutung zugeschrieben, sie werden ummodelliert und dienen beispielsweise nicht länger der Bestätigung der Normalität, sondern dem Bindungsaufbau zum Kind. Manche Frauen ziehen auch Rituale aus dem Zeitraum nach der Schwangerschaft in diese vor. Die »öffentliche« Schwangere: Mit zunehmender Sichtbarkeit der Schwangerschaft müssen die Frauen Umgangsstrategien zur Interaktion nach außen entwickeln, ihr äußeres Erscheinungsbild impliziert eine »normale« Schwangerschaft. Die Strategien bewegen sich dabei zwischen Konfrontation und einem offensiven Umgang, einem Abwägen, wem was erzählt wird, und Vermeiden von Offenlegen. Manchen Frauen dient die zeitweise »Scheinidentität« einer normalen Schwangeren in manchen Situationen zum Erleben kurzer Momente von Normalität. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Schwangeren ist nur noch im Außen gegeben, die betroffenen Frauen aber meiden den Kontakt zu anderen Schwangeren. Partnerschaft und Umfeld: Wenn Unterstützung durch den Partner gegeben ist, so nennen die Frauen diese als die wichtigste Ressource für die Bewältigung der Schwangerschaft. Manche Frauen erleben die Schwangerschaft von Anfang an als ein Gemeinsames, bei anderen wächst der Partner im Schwangerschaftsverlauf in eine unterstützende Haltung hinein. Diejenigen Frauen, die wenig Unterstützung durch den Partner erleben oder deren Partner eine eher vermeidende Haltung hat, erleben dies als starke Belastung im Verlauf. Von ihrem direkten Umfeld erleben die meisten Frauen Unter-
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Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
stützung, vermeiden jedoch den Kontakt zu Familienmitgliedern oder Freunden, deren Verhalten sie als belastend erleben. 9. Betreuungssystem: Die Frauen bewegen sich zwischen der Angst vor einem Zuviel, der Angst zum Forschungsobjekt zu werden und der Befürchtung, nicht länger wichtig genommen zu werden und haben den Wunsch nach einer gleichwertigen Schwangerenvorsorge.
Positiv erlebte Betreuungssituationen – Beispiele für Good Practice Für das Erleben der Betreuungssituation als unterstützend zeigen sich verschiedene Faktoren. Die Wahrnehmung der Haltung der Betreuungsperson, Akzeptanz der Entscheidung und Offenheit für die Perspektive der Frau zeigen sich hier als zentrale Faktoren. Dabei zeigt sich der wichtige Unterschied zwischen der Akzeptanz der Entscheidung und dem Bedürfnis, als werdende Mutter dieses Kindes behandelt zu werden: Auch dass die Frauen sich weiterhin als Schwangere – als werdende Mutter eines Kindes – behandelt fühlen und das Kind sprachlich nicht »verdinglicht« wird, nehmen Frauen als unterstützend wahr. Dabei ist für die Frauen auch ein ganzheitlicher Blick auf ihre Familie und das ungeborene Kind wichtig und eine bindungs- und beziehungsunterstützende Begleitung. In den Ergebnissen der vorliegenden Studie finden nicht alle Frauen eine solche Begleitung in der ärztlichen Betreuung und mehr als die Hälfte der befragten Frauen wechselt im Schwangerschaftsverlauf in eine vornehmliche Hebammenbetreuung. Generell nehmen die Frauen eine kontinuierliche Betreuung durch eine Vertrauensperson oder ein überschaubares Team als unterstützend wahr. Diese Vertrauensperson stellte in der vorliegenden Studie neben der Hebamme der Frauenarzt bzw. die Frauenärztin oder die Pränataldiagnostikerin bzw. der Pränataldiagnostiker oder ein vernetztes Team dieser Berufsgruppen dar. Von vielen Frauen wird es als unterstützend erlebt, wenn von der primären Bezugsperson im Betreuungssystem der Aufbau eines interdisziplinären Unterstützungsnetzwerks gefördert wird, also beispielsweise Kontakt zu medizinischen Spezialisten und zu Beratungsstellen und anderen Unterstützungsinstanzen, aber auch zu anderen Betroffenen und Selbsthilfegruppen ermöglicht wird. Hilfreich empfinden es viele Frauen, wenn auch emotionale Aspekte in der Betreuungssituation Beachtung finden und sie Rücksichtnahme auf ihre besondere Situation erkennen können, beispielsweise Termine so gelegt werden, dass die Betroffenen nicht mit anderen Schwangeren zusammen im Wartezimmer warten müssen.
Einführung in die Ergebnisdarstellung
10.5
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Der Übergang: Die Phase »Geburt«
Die Beschreibung der Phase »Geburt« reicht von der Zeit unmittelbar vor der Geburt bis zum Moment der Geburt des Kindes. Das Kapitel ist untergliedert in die Zeit unmittelbar vor dem Geburtsbeginn, die letzte Vorbereitungen vor der Geburt und die Entscheidungen über die Geburtseinleitung, das Geburtserleben und die Wahrnehmung des Kindes während der Geburt. Die Analyse zu Kontext und Umgangsstrategien sind in die Beschreibung dieser Kategorien eingewoben.
10.5.1 Der Zeitraum unmittelbar vor der Geburt Letzte Vorbereitungen Wie im vorangehenden Kapitel dargestellt zeichnet sich die Ausgangssituation zum Zeitpunkt um den erwarteten Wehenbeginn51 für viele der Frauen dadurch aus, dass sie sich viele Gedanken zu ihren Wünschen, wie die Geburt ablaufen soll, gemacht haben. Viele haben unabhängig vom geplanten Geburtsort die Geburtssituation vorbereitet, sich ein Unterstützungsnetz an Hebammen, Ärzten und Ärztinnen und anderen Personen, die sie bei der Geburt dabeihaben möchten, aufgebaut, Schmerzmedikation für einen eventuell schwierigen Sterbeprozess organisiert, sich Gedanken zu Taufe, Abschiednahme für die Familie etc. gemacht. Diejenigen Frauen, die eine außerklinische Geburt planen – in der vorliegenden Studie betrifft dies fast die Hälfte der Teilnehmerinnen – planen mit der Hebamme oder dem Hebammenteam, organisieren Arzt oder Ärztin, die nach dem Tod des Kindes den Totenschein ausstellt oder eine Kinderärztin bzw. Kinderarzt, der beim Überleben des Kindes bei Bedarf Schmerzmittel verabreichen kann. Es zeigen sich dabei große regionale Unterschiedlichkeiten in Bezug auf die ärztliche Bereitschaft zur Unterstützung der Hausgeburtssituation. Während im vorangehenden Kapitel der Fokus auf die Vorbereitungsstrategien in der Schwangerschaft gelegt war, soll hier der Fokus gelegt werden auf die Vorbereitungen im unmittelbaren Zeitraum des erwarteten Wehenbeginns und deren Zusammenhang mit dem Erleben der Geburtssituation. Das Vorbereitet-Sein dimensionalisiert sich von einem Kontrolle-über-die-Situation51 Ich spreche hier bewusst nicht vom errechneten Geburtstermin, da es Frauen gibt, die mit einer früheren Geburt oder einer Übertragungssituation rechnen. Dieser angenommene Geburtstermin steht in direktem Zusammenhang mit der Fehlbildung des Kindes. So gibt es Syndrome, bei denen die Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit vor der 30. Schwangerschaftswoche versterben, während gerade bei zerebralen Fehlbildungen der errechnete Geburtstermin eher überschritten wird.
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haben-Wollen über wegschieben und verdrängen bis hin zu einem Überlassen, die Situation auf sich zukommen lassen. Es geht dabei um die Antizipation, die Vorstellung vom Prozess der Geburt, das Nachdenken darüber, was die Frauen im Vorfeld für sich als gut, als erträglich, als wünschenswert oder auch als ängstigend erleben. Vorbereitungen treffen steht dabei in direktem Zusammenhang mit dem Erleben der Betreuungssituation. Diese Betreuungssituation bildet den Kontext, der wiederum einen direkten Einfluss darauf hat, wie und ob die Frauen Vorbereitungen treffen. Es ist also ein wechselseitiger Einfluss: Die Betreuungssituation wirkt auf die Strategien, das Gefühl von Sicherheit und Selbstwirksamkeit, und andererseits wirken die Vorbereitungsstrategien auf den Umgang des Betreuungssystems mit der Frau, also darauf, wie der Frau in der Geburtssituation vom Betreuungssystem begegnet wird. So sind Frauen, die eine außerklinische Geburt planen durch das meist intensive Betreuungsverhältnis und die vielen, auch rechtlichen Fragestellungen, die im Vorfeld zu klären sind (beispielsweise der Frage danach, welche Arzt bzw. Ärztin den Totenschein ausstellen kann) in gewisser Weise zu einer akribischen Vorbereitung und intensiven Beschäftigung mit der Geburtssituation gezwungen. Mit der begleitenden Hebamme entsteht für viele der Frauen ein enges Vertrauensverhältnis im Schwangerschaftsverlauf, welches das Geburtserleben positiv beeinflussen kann. Als bei Ursel die Geburt beginnt und die Wehentätigkeit einsetzt, erlebt sie dieses gewachsene Vertrauensverhältnis als unterstützend: »Ich glaub ich hab die (Name der Hebamme) einfach gsehn und da hab i mir dacht, jetzt is gut. (…) Des kennst du wahrscheinlich aus der Erfahrung. Kaum kommt die rettende Person (…) ›jetzt kann ja nix mehr schief gehen‹. Die hat dann mit mir geatmet und des war gut.« (Int. 20, 165)
Als die Hebamme kommt, ist sie für Ursel die »rettende Person«, deren Anwesenheit ihr Sicherheit und Vertrauen in einen guten Ablauf vermittelt. Für diejenigen Frauen, die eine Klinikgeburt planen, zeigt sich ein heterogenes Bild. Ob und in welchem Ausmaß die Frauen die Geburtssituation vorbereiten, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen spielen persönliche Faktoren wie das Kontrollbedürfnis, aber auch das Empfinden von Selbstwirksamkeit im System Krankenhaus eine Rolle. Darüber hinaus sind es die Kontextbedingungen in den Kliniken selbst, die im Zusammenhang mit dem Ausmaß des Vorbereitet-Seins stehen. So gibt es Frauen, die mit einer Beleghebamme, also einer selbst gewählten Hebamme in die Klinik gehen, da-
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durch eine vertraute Situation erwarten – durch die Anwesenheit einer bekannten vertrauten Person. Bei vielen der Frauen ist es so, dass bereits im Schwangerschaftsverlauf Termine in der Geburtsklinik stattfinden. Ob und in welchem Ausmaß die Frauen dies als Vorbereitet-Sein erleben oder auch in Überlegungen zur Geburtssituation und Versorgungssituation des Kindes involviert werden, hängt dabei nicht von der Größe der Klinik ab, sondern steht in Zusammenhang mit dem Erleben von Anonymität versus Vertrautheit. So haben manche der Frauen die Termine im Schwangerschaftsverlauf mit einem oder einer Ärztin aus einem Team, die so mehr und mehr zu einer Vertrauensperson werden kann. Für viele der Frauen ist dabei das Erleben von persönlicher Involviertheit und Empathie des Gegenübers ein Kernaspekt in der Entwicklung dieses Vertrauensverhältnisses. Heidrun erzählt über die Klinikaufnahme zur geplanten Kaiserschnittentbindung bei ihrer Zwillingsgeburt: »Wir hatten mittwochs einen Termin zur Aufnahme. Meinen Frauenarzt hat ich kennengelernt, war mir sehr sympathisch.« (Int. 8, 50)
Wie für Heidrun ist die gegenseitige Sympathie und das Kennen des behandelnden Arztes bzw. Ärztin ein wichtiger Aspekt für das Gefühl des VorbereitetSeins. Für andere Frauen ist das Ausmaß an Information und Vorwissen über den Ablauf etwas, das zum Gefühl des Vorbereitet-Seins beiträgt. So empfindet Anita die Besprechung der geplanten Kaiserschnittgeburt als etwas das ihr Sicherheit gibt: »Und so Zeug ham mer einfach im Vorfeld / Und des hat so Stück für Stück hat des dann a bissl Sicherheit geben oder so a gewisse innere Ruhe. Dass man weiß, wie es ungefähr ablaufen wird dann, gell.« (Int. 19, 64)
Zentral für Anitas Sicherheitsgefühl ist das Wissen, »wie es ungefähr ablaufen wird«. Bei denjenigen Frauen, die die Betreuungssituation in Bezug auf die Geburtssituation als anonym erleben, zeigen sich verschiedene Umgangsstrategien. Maria begegnet ihrem Erleben von Anonymität in der Klinik – sie kennt die bei der Geburt anwesenden Betreuungspersonen nicht – mit im Vorfeld schriftlich formulierten Wünschen für die Geburt und die Versorgung des Kindes. Bei ihrer Ankunft in der Klinik verteilt sie dann diesen schriftlichen Geburtsplan an die involvierten Betreuungspersonen: »Wir ham uns dann lang mit der Hebamme unterhalten, ich mein es war klar, wir müssen in die Klinik. Uns war es aber wichtig, dass des Kind nicht gleich weggnommen wird und dann isses ein paar Stunden irgendwo und du weißt net was Sache ist und du
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hast es garnet gsehen. Und wir ham dann einen Schriftsatz aufgsetzt, wo wir ganz klar gsagt ham, dass wenn es medizinisch irgendwie vertretbar ist, wir des Kind sehen wollen, und das auch, wenn die Vitalzeichen soweit erlaubt, wir alles selber machen möchten. Und wir sind in den Kreissaal kommen und ham des gleich allen verteilt. Die ham uns zwar erst mal schockiert angeschaut. Aber ich muss sagen, sie ham es alle respektiert letztendlich.« (Int. 6, 76–77)
Für Maria und ihren Partner ist zentral, dass sie ihrem Kind nach der Geburt begegnen wollen, es sehen möchten und auch Dinge, die zu tun sind, selbst übernehmen möchten. Mit der schriftlichen Äußerung versuchen sie, diese Wünsche deutlich zu kommunizieren und die Dringlichkeit zu unterstreichen. Die Eltern haben ein spezifisches Wissen über bestimmte Dinge durch die Untersuchungen, die Diagnose oder Gespräche, sie antizipieren, wie sie sich in der vorgestellten Situation fühlen werden, was ihre Bedürfnisse sein könnten, wie sie diese vielleicht realisieren können. Und das bereiten sie dann vor. Eine andere Art der Vorbereitungen stellt das Wegschieben dar : Ich weiß oder befürchte bestimmte Situationen, ich will sie einfach hinter mich bringen, ich bereite mich vor, indem ich die Vorbereitung verweigere. Wie bereits aufgezeigt (vgl. Kapitel 10.4.3), gibt es auch Frauen, die die Geburtssituation in der Klinik nicht vorbereiten können. So wie Friederike: »Des hab ich irgendwie garnet geplant. Ich hab auch wenig zu Hause gehabt, okay, des war natürlich auch, weil er früher kam. Er kam ja vor dem Mutterschutz, ich bin ja auch berufstätig und des wollt ich mir alles für den Mutterschutz aufheben. Da hab ich mir irgendwie gar nichts. Ich wusste dann durch die (Name einer Frau aus der Selbsthilfegruppe), dass es des eine Kinderhospiz gibt, bei der wir dann erlöst oder mich unterstützt, dass ich dann mal frei hab oder je nachdem wie des dann sich alles gestaltet. Und deshalb muss ich ehrlich sagen, des hab ich dann auf mich zukommen lassen.« (Int. 3, 62–63)
Als Gründe für dieses Nicht-Vorbereitet-Sein sieht Friederike zum einen den frühen Zeitpunkt der Geburt noch vor dem Mutterschutz an – dem Zeitraum, den sie für Vorbereitung von Geburt und Zeit danach vorgesehen hat. Mit Blick auf die Diagnosemitteilung wird deutlich, dass Friederike wenig Vertrauen in eine gelingende Kommunikation mit der Klinik hat. Die Klinik nimmt sie als anonyme Institution wahr, in der sie einen Fall darstellt und wo sie sich nicht als werdende Mutter eines Kindes behandelt fühlt, sich immer wieder infrage gestellt fühlt. Friederike erwartet keine Unterstützung von Seiten dieser Klinik. Persönliche Unterstützung und Anerkennung findet sie vielmehr in der Selbsthilfegruppe und in diese außerklinische Unterstützungsinstanz setzt sie Vertrauen für die Zeit nach der Geburt. Dies macht auch die Irritationen verständlich, die sie bei ihrer Ankunft in der Klinik bei den Fragen der Ärztin erlebt. Friederike sieht sich in der Notsituation der ungeplanten Klinikeinweisung mit Fragen über die Versorgung des Kindes
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konfrontiert, die sie als bereits mit der Entscheidung zum Weiterführen getroffene Entscheidung ansieht: »Und dann, wie ich da drin war zur Notaufnahme oder in der Frauenklinik, was mich dann ein bisschen gestört hat, da kamen dann halt so Fragen, irgendwelche Auffälligkeiten, wir hatten dann alles dabei und dann gesagt ja (Name der Chromosomenanomalie). Eine Frau oder Ärztin hat dann gesagt: ›Ja, sollen wir alles für Ihr Kind tun?‹ Und dann hab ich gesagt: ›Ja!‹ Und irgendwie hat mich die Frage gestört. Ich hab mich schon entschieden, die Schwangerschaft fortzusetzen, und ich wusste von seiner Erkrankung und dann werd ich dann in meiner Not noch mal gefragt. Des fand ich irgendwie überflüssig.« (Int. 3, 57)
Die Frage danach, ob alles für ihr Kind getan werden solle, empfindet Friederike als erneutes Abbruchangebot, als Infragestellen ihrer Entscheidung fürs Kind. Sie ist irritiert und fühlt sich in einer verletzlichen Situation unter Druck gesetzt, erlebt Aspekte der Diagnosemitteilungssituation erneut. An ihrer Aussage zeigt sich, dass sich Friederike eine »normale Behandlung« für ihren Sohn wünscht: Sie hat sich für die Fortsetzung der Schwangerschaft entschieden, jetzt möchte sie die Behandlung, die einem anderen Kind, einem gesunden Kind auch zustehen würde. Eine »normale Behandlung« ist für sie eine »gleichwertige Behandlung«. Andere Frauen vertrauen in die Klinikstrukturen oder sehen diese Strukturen als so fest und unabänderlich an, dass sie deshalb keine Absprachen im Vorfeld der Geburt treffen. Während Maria auf einen unvorbereiteten Kreißsaal trifft, den sie selbst sozusagen im Schnelldurchgang in ihre Wünsche einweist, und Friederike die Geburtssituation »auf sich zukommen lässt«, gibt es andere Frauen, bei denen im Vorfeld Vorgespräche und Absprachen in der Klinik stattfinden. Von Seiten der Klinik werden Möglichkeiten und Optionen dargestellt und im gegenseitigen Austausch erarbeitet, welche Art der Geburtsbegleitung und postpartalen Versorgung stattfinden kann. So hat Dorothee Termine mit Kinderärzten und Kinderärztinnen, spricht immer wieder mit den Gynäkologen und Gynäkologinnen in dem Perinatalzentrum, wo ihre Tochter schließlich geboren wird. Als sie dann mit Wehen in die Klinik kommt, trifft sie auf ein Betreuungssystem, dass auf ihre Situation eingestellt ist: »Und dann sind wir halt in die Klinik gefahren und (…) ämm, ja, die wussten ja dann schon, wer wir sind und wie das dann halt so ist und (…) Also die haben uns ganz normal behandelt wie jede normale Schwangere auch.« (Int. 16, 51)
Es ist eine Situation, in der sowohl die betroffene Frau und ihr Partner auf Betreuungspersonen treffen, denen sie vertrauen, zum anderen aber auch diese Betreuungspersonen vertraut mit der jeweiligen Fallgeschichte sind. Eine der Konsequenzen dieses Vorbereiten-Seins des Betreuungssystems ist das Gefühl,
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»wie jede normale Schwangere« behandelt zu werden. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch in der Geburtssituation selbst, etwa bei der Ankunft in der Klinik mit Wehen, keine grundlegenden Entscheidungen mehr etwa über die Versorgung des Neugeborenen treffen zu müssen. Dies erlaubt ein Sich-KonzentrierenKönnen auf die eigentliche Geburt, ermöglicht es, zur »normalen Gebärenden« zu werden. Ambivalente Gefühle vor Geburtsbeginn Mit der Geburt beginnt das Ende der Transitionsphase »Schwangerschaft«. Dieser Übergang bedeutet jedoch hier nicht den Übergang zu einem gemeinsamen Leben mit dem erwarteten Kind, sondern stellt den Übergang zum endgültigen Abschied von diesem Kind dar. So wie Zoey es ausdrückt ist diese Entbindung52 »der Anfang vom Ende«: Das Durchtrennen der Nabelschnur, die Beendigung der mütterlichen Versorgung markiert den Zeitpunkt, ab dem zumindest auf direkt körperlicher Ebene über die Nabelschnur das Kind nicht mehr von der Mutter versorgt werden kann: »Und zum Ende der Schwangerschaft wollt ich natürlich auch irgendwann, dass sie kommt. Eigentlich wollt ich es nicht, weil ich wusste / ich hab halt gemerkt, irgendwie schafft sie es doch, irgendwie, also weil die Herztöne, die waren nach wie vor immer gut und, ämm, also ich war dann mittlerweile schon überzeugt, dass sie es bis zur Geburt noch durchhält, ämm, wusste aber, sobald die Nabelschnur durchtrennt ist, ist der Anfang vom Ende da und wollte deswegen eigentlich nicht, dass sie auf die Welt kommt, andererseits natürlich schon, weil rein körperlich hab ich es mir einfach irgendwann gewünscht (lacht).« (Int. 11, 100)
Im Zeitraum vor dem Geburtsbeginn hat Zoey ambivalente Gefühle. So gibt es bei Frauen den Wunsch, die Schwangerschaft möge nicht aufhören, der, so zeigt sich bei Zoey, abgelöst werden kann oder sich abwechselt mit dem Wunsch danach, dass das Kind endlich auf die Welt kommt. Manchmal sind es die zunehmenden körperlichen Belastungen, die zu diesem Wunsch führen, manchmal ist es die Ungewissheit, die nicht länger ertragbar scheint. Die Schwangerschaft bedeutet die weiterbestehende Symbiose zwischen Mutter und Kind, die das Kind lebendig hält. Die Geburt ist der faktische Vorgang der Trennung, das Auf-die-Welt-Kommen als Entlassung in ein individuelles Leben, der Zeitpunkt, der das Mutter-Werden eigentlich realisiert – hier aber gleichzeitig der Abschied vom Mutter-Sein. Da, wo sonst etwas Neues be52 Ich verwende hier bewusst den Ausdruck »Entbindung«, weil er an dieser Stelle die Trennung der Mutter-Kind-Einheit, das Ende der Versorgung ausdrücken soll und sich auf das Kind bezieht, das aus dieser Einheit »entbunden« wird. Für den Vorgang der Geburt wird im Text »Gebären« und »Geburt« bewusst verwendet, da ich gebärende Frauen als aktiv handelnde Subjekte ansehe und nicht als Objekte, die von einem Kind »entbunden« werden.
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ginnt, ist hier etwas zu Ende. In einer Schwangerschaft hat wahrscheinlich jede Frau irgendwann das Gefühl, es soll jetzt vorbei sein. Der Bauch wird zu groß und der Alltag beschwerlicher. Die Unruhe wächst und hier bedeutet genau das Gefühl »Nun komm endlich, ich will dich kennenlernen.« (Das ja auch darauf beruht, dass es irgendwann körperlich belastet, schwanger zu sein) umgekehrt: »Nun komm endlich, es ist zu Ende, ich will/muss Abschied nehmen.« Entscheidungen über Geburtseinleitung Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass für diejenigen Frauen, die mit der Entscheidung über Einleitung der Geburt konfrontiert sind, diese Entscheidung sehr schwierig zu treffen ist: Entscheidungen und Bedeutungszuschreibungen zu Einleitungen werden im Folgenden ausführlich dargestellt. Sie spiegeln exemplarisch den Balanceakt der Frauen zwischen medizinischen Standards, Abwägungen zur Situation des Ungeborenen und dem Umgang mit der eigenen körperlichen und psychischen Belastung. Die Entscheidung über eine Geburtseinleitung muss unterschieden werden in die Geburtseinleitung bei einem lebenden Kind und die Geburtseinleitung bei einem verstorbenen Kind. Geburtseinleitung bei einem lebenden Kind Wenn das Kind lebt, wird die Entscheidung über die Geburtseinleitung von vielen Frauen als Entscheidung über den Sterbezeitpunkt des Kindes wahrgenommen und viele Frauen sehen sich vor eine existenzielle Entscheidung gestellt, die Parallelitäten mit der Entscheidung nach der Diagnosestellung aufweist. Mit der Entscheidung zum Weiterführen nach der Diagnose war für viele Frauen die Überlegung verbunden, eben nicht über den Sterbezeitpunkt des Kindes bestimmen zu wollen. Bei einer Terminüberschreitung sehen sich viele Frauen nun wieder mit ähnlichen Überlegungen konfrontiert. Ihnen ist klar, dass sie mit einer Einleitung das Leben ihres Kindes verkürzen, also genau das tun, gegen das sie sich entschieden haben.53 Inken erinnert sich an die Zeit nach der Terminüberschreitung, an das Warten darauf, dass die Geburt losgeht: »Ich hab die ganze Zeit drauf gewartete, dass die Wehen von selber anfangen (…) weil ich gesacht hab, dann muss ich es nicht entscheiden, wann es losgeht. (…) Weil ich wusste, wenn die Geburt losgeht oder wenn er geboren wird, dann (…) dann stirbt er anschließend. (…) Und das wollt ich nicht. Ich wollte, dass die Geburt von selber anfängt, dass das nicht in meiner Entscheidung liegt.« (Int. 14, 31) 53 Interessant erscheint hier der Verweis darauf, dass bei denjenigen Frauen, bei denen die Schädigung des Kindes spät im Schwangerschaftsverlauf festgestellt wird bei der Diagnosemitteilung vom medizinischen System nicht von Schwangerschaftsabbruch, sondern von Einleitung gesprochen: Es wird angeboten, die Geburt einzuleiten, nicht die Schwangerschaft abzubrechen (siehe Int. 1 und Int. 18).
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Inken möchte nicht selbst über den Geburtstermin entscheiden, sie will nicht entscheiden, wann ihr Kind stirbt. Erst als eine Einleitung der Geburt unvermeidbar erscheint, willigt Inken ein. Diese Einwilligung erlebt sie als ein »sich dem Notwendigen beugen«. Diese Notwendigkeit, das Erleben von Unvermeidbarkeit der Einleitung kann sich für Frauen aus dem Zeitraum der Terminüberschreitung, aus dem Erleben von eigenen Belastungen und aus dem Verständnis von Unfähigkeit des Kindes zur Geburtseinleitung ergeben. Diese Subkategorien werden im Folgenden dargestellt. Für Inken ist es die Überschreitung des errechneten Geburtstermins um mehr als drei Wochen, die den Impuls zur Einleitungsentscheidung gibt: »Aber wie es in den meisten Fällen von (Name der Fehlbildung) ist, hat sich die Geburt nicht von selber eingestellt. (…) Ich hab dann immer irgendwie drauf gewartet, dass das irgendwie so (…) keine Ahnung von woher, dann irgendwann der Punkt kommt, wo ich sach (…) okay (..) also jetzt bin ich bereit das zu tun. (…) Und (…) drei Wochen und ein Tag war ich dann drüber (…) und dann hatten wir halt dann gesacht, okay, (…) dann müssen wir da jetzt hinfahren.« (Int. 14, 31)
Inken wartet drei Wochen nach dem errechneten Geburtstermin, dann erscheint ihr die Einleitung unvermeidbar, ein »Muss«. In den Daten zeigt sich, dass als eine solche Notwendigkeit von vielen Frauen die Überschreitung des errechneten Termins um einen als sehr lang bewerteten Zeitraum erlebt wird. Im Umgang mit diesen Terminüberschreitungssituationen wird auch deutlich, dass Standards und Regeln, die in regulären Schwangerschaft Anwendungen finden, von den Frauen nicht länger als selbstverständlich hingenommen, sondern hinterfragt werden. Welcher Zeitraum von den betroffenen Frauen als zu lang bewertet wird, ist dabei von medizinischer Aufklärung, aber auch von eigenen Erfahrungswerten abhängig, von der individuell definierten Grenze der Normalität. Wie sehr medizinische Standards die Wahrnehmung dieser Grenze der Normalität definieren oder zumindest beeinflussen, zeigt sich an Harriets Erleben. Auch sie ist zum Zeitpunkt der Entscheidung zur Einleitung drei Wochen über dem errechneten Geburtstermin: »Ja genau, der Termin war ja für den (Datum) ausgerechnet und ich hab ja massig übertragen. Ich war ja drei Wochen über dem Termin und das war so der Punkt, wo ich merkte, das ist so jenseits. Bis dahin war okay, weil ich auch ne Frau kannte, die auch irgendwie drei Woche überm Termin entbunden hat, und dann kam halt so ein Bereich, wo ich dachte, ne (…) des kann ich mir nicht vorstellen (…) dass ne Schwangerschaft so lange dauern kann.« (Int. 13, 66)
Die Terminüberschreitung wird für Harriet zu etwas, das sie als »jenseits« dessen wahrnimmt, was noch »okay« für sie ist: Eine Schwangerschaft kann
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einfach nicht so lang dauern.54 Sie kennt keine anderen Frauen, die jenseits dieser Grenze geboren haben, ein längerer Zeitraum liegt »jenseits« dessen, was dann noch vergleichbar mit »normalen« Schwangerschaften ist. Für manche Frauen können körperliche oder psychische Belastungserfahrungen, die sich aus der Übertragungssituation ergeben, zur Entscheidung zur Einleitung beitragen. So fühlt Harriet sich »völlig mürbe«: »Und wir waren natürlich dann völlig mürbe und es gab dann Tage, da konnte mein Mann nicht mehr und ich war besser drauf, ‹Komm jetzt! Und wir ziehen das durch und wir schaffen das!‹ Und dann hatte ich so Tage, wo ich nicht mehr konnte, und mein Mann hat mich aufgebaut und irgendwann kam sowas, wo wir beide am Ende waren.« (Int. 13, 66)
Das Paar hilft sich immer wieder wechselseitig über Phasen der Erschöpfung hinweg, doch an einem Punkt erreichen beide die Grenze ihrer Belastbarkeit. Hier zeigt sich einerseits, wie wichtig die Rolle des Partners als Ressource für Ermutigung ist, es wird hier aber auch deutlich, dass auch der Partner durch eine Übertragungssituation und die damit zusammenhängenden Entscheidungen und Belastungen betroffen ist. Auch Fragen des Umfelds können als belastend erlebt werden, wie Harriet sich erinnert: »Und natürlich fragten auch alle: ›Wann kommt es denn jetzt endlich?‹ und ›Biste immer noch schwanger?‹« (Int. 13, 66)
Manche der Frauen sehen die Einleitung auch als etwas, das sie für ihr Kind übernehmen müssen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass der Geburtsbeginn durch Signale vom Kind, dem kindlichen Kreislauf ausgelöst werde. Die medizinische Information, dass das Kind durch die Fehlbildung nicht fähig sei, die Geburt zu initiieren, macht für diese Frauen die Einleitung der Geburt zu etwas, was von außen für ihr Kind übernommen werden muss: Das Kind ist unfähig die Geburt selbst einzuleiten. So erlebt Anne einerseits die persönliche Belastung durch die Terminüberschreitung, gleichzeitig sieht sie die Fehlbildungen ihres Sohnes als möglichen Grund dafür, dass die Geburt nicht losgeht: »Also nach dem Geburtstermin, als der verstrichen war, war immer noch nichts passiert (…) und dann hat man die Geburt eingeleitet, weil (…) ich des wollte, weil erstens wollt ich (…) und zweitens hat man mir gesagt, dass mein Sohn die Geburt vielleicht 54 Bei Gesprächen mit Frauen bei Selbsthilfegruppentreffen zeigte sich ein weiterer Aspekt, der die Entscheidung zur Einleitung beeinflusst: die Bedeutungsänderung der Risikozuschreibung durch Übertragung. Während bei »normalen« Schwangerschaften die Notwendigkeit der Geburtseinleitung von medizinischer Seite bei Terminüberschreitung mit steigenden Risiken für das Ungeborene argumentiert wird, erzählen manche Frauen, dass bei Schwangerschaften mit Kindern mit stark verkürzter Lebenszeitprognose mit dem steigenden Risiko durch Terminüberschreitung für die Mutter argumentiert worden sei.
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gar nicht selber einleiten könnte / was ja Kinder tun, weil (…) das Gehirn eben so unvollständig angelegt und eben.« (Int. 1, 117)
Die ausgeprägten zerebralen Fehlbildungen ihres Sohnes lassen Anne annehmen, dass er nicht über die Kapazität verfügt, die Geburt einleiten zu können. Dem Erleben von Einleitung als Notwendigkeit, der man sich beugen muss, steht das Verständnis von Einleitung als ein für die individuelle Frau normaler Bestandteil von Geburt entgegen. Von manchen Frauen kann die Einleitung der Geburt auch als etwas erlebt werden, das einen Ausdruck von ihrer Normalität darstellt. So gibt es Frauen, die die Entscheidung zur Einleitung nicht begründen auf einer Abweichung von einer Norm, nicht auf Ursachen, die in der Besonderheit dieser Schwangerschaft liegen. Die Einleitung stellt für diese Frauen vielmehr den Beginn des normalen Gebärens dar. Die Frauen greifen dabei zurück auf ihre Erfahrungswerte vorangegangener Schwangerschaften und Geburten. So stellt für Rabea die Einleitung der Geburt durch Amniotomie, also die künstliche Eröffnung der Fruchtblase, etwas dar, womit ihre Geburten losgehen, etwas, wodurch ihre Schwangerschaften und Geburten gekennzeichnet sind. So greift etwa Rabea bei der Überschreitung des errechneten Geburtstermins um neun Tage auf ihre Erfahrungen aus der vorangegangenen Schwangerschaft und Geburt zurück; diese dienen ihr als Orientierungsrahmen für ihr Handeln und ihre Entscheidungen, sie möchte so vorgehen wie bei der Geburt ihres ersten Kindes: »Ne, wir ham dann, also des war schon bei der ersten Entbindung so, dass wir die Fruchtblase eröffnet ham. Und bei der zweiten (Anm.: die betroffene Schwangerschaft) wars dann wieder so.« (Int. 7, 65–66)
Für Rabea stellt die Einleitung keine besondere Entscheidung dar, sondern ist etwas, das sie bereits als normal erlebt hat und das für sie auch mit dem Rahmen einer außerklinischen Geburt zusammenpasst. Die »normale« Einleitung ist hier Hilfe in einem normalen Verlauf. Einleitung nach dem intrauterinen Tod des Kindes Bei manchen der Frauen verstirbt ihr Kind aber noch vor Beginn der Wehen. Die Einleitung und die Gedanken und Überlegungen dazu sollen im Folgenden dargestellt werden. Cosima erlebt die Einleitung beispielsweise nach dem Versterben ihres Sohnes als einen langen Prozess, der sich über mehrere Tage hinzieht: »Also, wir ham die Diagnose irgendwann am Donnerstag oder Freitag dann erfahren und sind dann übers Wochenende ins Krankenhaus. Ich hätt eigentlich gedacht, dass die Wehen scho relativ früher einsetzen, aber es hat doch relativ lang dann gedauert. Am Montagabend, also es waren drei, vier Tage, wo einfach des Gel net angschlagen hat.
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Und man kann au net mehr machen in der 30. Woche als bloß des Gel zu legen. Und i denk für mich wars gar net so schwierig, des Kind tot im Bauch zu haben, weil ich wusst ja schon lang, dass es sterben wird. Sondern des Schwierige war des dann herzugeben nach der Geburt.« (Int. 2, 78)
Bei Cosima ist es so, dass ihr von ihrem behandelnden Arzt dieses intrauterine Versterben bereits seit Monaten vorhergesagt wird, sie rechnet damit und fürchtet sich nicht. Als ihr Sohn dann in der 30. Schwangerschaftswoche verstirbt, ist sie nicht schockiert über diese Feststellung. Es ist weniger der Gedanke, dass ihr Kind tot ist, der belastend für sie ist, als vielmehr der bevorstehende endgültige Abschied von ihrem Kind, das »Hergeben« nach der Geburt. Diesem Nicht-Hergeben-Wollen, wie es Cosima erlebt, steht das Empfinden von Johanna gegenüber. Auch ihre Tochter verstirbt im Schwangerschaftsverlauf. Als der Tod ihrer Tochter festgestellt wird, möchte sie nicht weiter schwanger sein, sie möchte, dass jetzt die Schwangerschaft aufhört: »Ich hab ja eigentlich in der Zeit davor eine super Bindung ghabt, und ich hab gern den Bauch ghalten und ich hätt gern einen dickeren Bauch ghabt, um einfach a weng mehr zu sehen. Nur dann, ich konnt nicht mehr. Ich hab zu meinem Bauch wirklich / ich konnt es nicht leiden. Und ich hab au gsagt, wenn man es erfährt, raus weg!« (Int. 5, 121–122) »Und am Abend bin ich im Bett glegen und hab gsagt, so, ich appelliere an alle von meinem Körper, von den Hormonen bis zum Geist bis zur Seele bis zu meiner Gebärmutter, an alles, an meine Muskeln: ›Bitte, kündigt ihr die Miete! Ich will mein Körper für mich, ich will meine Zeit für mich und jetzt ist gut, ich hab lang genug ausgehalten und ich will sie einfach sehen und gut isch jetzt.‹« (Int. 5, 125)
Johanna stellt in ihrem Erzählen das Erleben der Schwangerschaft vor dem Tod des Kindes dem Erleben nach dessen Tod gegenüber. Die Beziehungsgestaltung, Wahrnehmung der Bindung an ihre ungeborene Tochter macht für Johanna den Sinn der Schwangerschaft aus und findet Ausdruck im körperlichen Erleben der Schwangerschaft. Johanna wünscht sich ein »Mehr« dieser Körperlichkeit – mehr Bauch, mehr Sichtbarkeit. Nach dem Tod des Ungeborenen schlägt diese positive Wahrnehmung um – die Tochter braucht ihren schwangeren Körper nicht länger, die Bindung ist aufgelöst. Johannas Konzept von Schwangerschaft ist auch eines vom Eigenen-Körper-Teilen mit dem Kind; das möchte sie nun nicht mehr, sie möchte ihren Körper wieder für sich haben. Die gemeinsame Zeit ist vorbei. Eine weitere Komponente stellt die Vorstellung der Begegnung mit dem Kind dar. Johanna beschreibt ihren Wunsch danach, wenn sie ihr Kind schon nicht lebendig sehen kann – diese Hoffnung kann sie nicht mehr haben –, sie es wenigstens in einem guten Zustand sehen möchte:
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»Weil mein Ziel war immer, ich möchte des Kind frisch tot sehen. Ich komm von der Landwirtschaft, ich weiß, wie des sein kann.« (Int. 5, 123)
Johannas Erfahrungen mit dem Tod durch ihre Arbeit in der Landwirtschaft tragen zu ihrem Wunsch bei, ihr Kind so schnell wie möglich nach seinem Tod zu gebären und sehen zu können. 10.5.2 Das Geburtserleben Im Folgenden wird die Kategorie des Geburtserlebens dargestellt. Um die Unterkategorien erfassen zu können, orientiert sich diese Darstellung an einer Bewegung von innen nach außen: von den eigenen Erwartungen und Antizipationen, dem Erleben von Schmerz über die Wahrnehmung des Kindes bis zum Erleben der Begleitung durch Partner oder andere Begleitpersonen und dem Erleben der Betreuungssituation. Zunächst soll hier aber auf den zentralen Aspekt der Phase »Geburt« eingegangen werden. Viele Frauen beschreiben, dass sich mit Wehenbeginn, mit dem Einsetzen der Geburt ein Maß an Normalität einstellt. So erlebt es Karin: »Aber es ist dann so, also wenn es, als des Ganze losging, ging es einfach los und da war für mich nicht mehr die Frage, was passiert. Ich hab irgendwie funktioniert, ich war ganz die gebärende Frau, wie man halt so ist und wie gesagt wollte des, dass er gut zur Welt kommt.« (Int. 9, 46)
Mit Wehenbeginn erlebt Karin sich als »ganz die gebärende Frau«, sie stellt sich keine Fragen mehr, sondern ist im Geburtsprozess angekommen. Die Geburt führt zu totaler Konzentration auf sich selbst, einer Beschäftigung und Arbeit auf körperlicher Ebene mit sich selbst, da ist kein Raum für Grübeln und Trauern. Die Analyse der Geburtserzählungen zeigt, dass viele der Frauen häufig das Wort »normal«55 verwenden, sowohl bezogen auf ihr eigenes Erleben als auch auf eine positiv erlebte Betreuungssituation als auch darauf, wie sie ihr Kind erleben. Gleichzeitig zeigen sich immer wieder Spannungsfelder, die klarmachen, dass die Definition von Normalität individuell sehr unterschiedlich sein kann, zwischen den einzelnen Frauen aber auch zwischen den Frauen und den Akteuren des medizinischen Betreuungssystems.
55 Hier ist ein Blick auf die Synonyme für »normal« (Thesaurus) sinnvoll: gesund, gewöhnlich, zurechnungsfähig, alltäglich, durchschnittlich, üblich, nach der Regel; Antonyme: abnorm, abweichend, anormal, auffällig, merkwürdig, irr, verrückt.
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Erleben unerwarteter Normalität56 Einige der Frauen reflektieren im Erzählen der Geburt ihr Erleben bezogen auf das Ausmaß an erlebter Normalität und stellen diese in Kontrast zu ihren Erwartungen an die Geburt, den Vorstellungen, die sie im Vorfeld hatten. Wichtig ist hier, dass nur eine der Frauen bereits in der Schwangerschaft befragt wurde. Das retrospektive Erzählen der eigenen Erwartungen an die Geburt muss so immer auch als Rekonstruktion gesehen werden, als Konstruktion der eigenen Geschichte und der gemeinsamen Geschichte mit dem Kind. Für manche Frauen ist das Erleben von Normalität unter der Geburt unerwartet, wie für Karin, die mit einer langen Geburt, mit eigenen Schwierigkeiten, das Kind in den Tod loslassen zu können, rechnet: »Ich hab nicht damit gerechnet. Ich dachte, es würde lange dauern, weil ich ihn ja in den Tod gebären sollte und dachte, des kann ich nicht.« (Int. 9, 46)
Für andere Frauen ist die Vorfreude bei Wehenbeginn etwas, das sie nicht erwarten. Elke: »Also wir ham uns beide auf des gefreut (…) also, dass man ihn jetzt endlich im Arm hat (…) Weil ich au gsagt hab, ja, is des jetzt normal? (…) Aber irgendwie ist des trotzdem so (…) also, dass mer uns beide gfreut ham auf des. Des war jetzt au bei der Geburt keine bedrückende Stimmung oder dass man gsagt hat (…) ›Oh Gott (…) jetzt stirbt da gleich jemand.‹ Des war (…) ja (…) ganz normal, dass es eim nix (…) ja (unverständlich). Des is schon komisch. Des hätt ich auch so nicht gedacht so, dass man so (…) voller Erwartungen ist einfach. Dass eim des / in dem Moment (…) freut man sich einfach nur.« (Int. 17b, 9)
Elke ist überrascht vom Gefühl »freudige Erwartung« bei Wehenbeginn, die dem widerspricht, was sie als das »normal« erwartbare Gefühl ansieht. So gibt Elke als solches »normales« Gefühl »bedrückende Stimmung«, die Erwartung »Jetzt stirbt da gleich jemand.« an. Mit Wehenbeginn nimmt sie wahr, zur normalen Gebärenden zu werden und dazu gehört auch die freudige Erwartung auf das Kind. Elke stellt das erwartete Gefühl des Schreckens darüber, dass ihr Sohn nach der Geburt versterben wird, diesem Erleben freudiger Erwartung, ihn kennenlernen zu können, entgegen. Entgegen ihrer Erwartung freut sie sich – wie bei einer normalen Geburt – darauf, ihr Kind bald im Arm halten zu können. Elke beschreibt die Erwartung, ihr Kind endlich sehen und im Arm halten zu können, das Gefühl der Vorfreude auf diesen Moment und das gemeinsame Erleben mit ihrem Partner. Sie stellt dieses bei einer normalen Schwangerschaft »normale« Gefühl infrage, fragt sich, ob diese Erwartung »jetzt«, also in der 56 Ich verwende hier bewusst den Ausdruck »Normalität« und nicht »Physiologie«. Normalität ist hier das, was die Frauen als normal verstehen, die Bedeutungszuschreibungen, die sie diesem Begriff geben. Physiologie dagegen stellt einen medizinisch definierten Normalitätsbegriff dar.
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Situation, in der mit dem Versterben des erwarteten Kindes gerechnet wird, normal sei: das normale Gefühl der Erwartung wird so zu etwas Außergewöhnlichem, die erlebte Normalität abgewogen und hinterfragt: eine fragile Normalität, die nur über den Zeitfokus auf den gegenwärtigen Moment gelingen kann. Manche Frauen rechnen aber auch mit einer einfacheren Geburt – die Fehlbildung des Kindes, seine geringe Größe lassen sie eine weniger schmerzhafte Geburt erwarten – wenigstens die Geburt soll einfach sein. Anne erzählt: »Ich hatte mir naiverweise vorgstellt, ich hätts leichter (lacht), weil der Kopf so klein war und weil er mit 1600 Gramm auf die Welt gekommen is. Ich dachte, des wird nicht so schmerzhaft wie es dann wurde.« (Int. 1, 119)
In Annes Erwartung, ihrer Vorstellung ist die Geburt leichter, als sie es dann in der Realität erlebt. Das Kind ist kleiner als »normal«, der Kopf ist kleiner als »normal«, also muss die Geburt doch leicht werden. So kann ein Aspekt unerwarteter Normalität sein, dass die Wehenschmerzen als »normal« im Sinne von »normal schmerzhaft« empfunden werden, dass die Erwartung daran, wenigstens eine leichte Geburt zu haben, nicht eintritt. Erleben von Wehenschmerz Viele der Frauen erleben die Geburt positiv und kommen gut mit den Wehen zurecht, erleben die Geburt als einfacher, schneller und weniger schmerzhaft als andere Geburten vorher oder nachher, sehen einen unkomplizierten, einfachen Verlauf als Geschenk ihres Kindes an (siehe Kapitel 9.5.3). Andere Frauen, wie Anne, empfinden die Geburt als schmerzhaft und stellen den Sinn dieser Schmerzen infrage, wie Anne: »Aber (…) ja, während der Geburt, ich hab so geschrien wie so ein Tier. Ich war stinksauer eigentlich. Da dacht ich, soviel Schmerzen, und für was, für nichts.« (Int. 1, 119)
Für manche der Frauen sind die Wehenschmerzen etwas, das sie den Sinn ihres eigenen Leidens infrage stellen lässt. So fragt sich Anne, »für was« sie so viele Schmerzen hat und beantwortet diese Frage selbst: »für nichts«. Die schmerzhafte Transition, das Gebären als Prozess führt nicht dazu, am Ende ein Leben mit diesem Kind führen zu können. Für manche der Frauen ist die Geburt vielmehr etwas, das sie hinter sich bringen müssen, das überwunden werden muss. So versuchen manche Frauen sich abzulenken. So erlebt es Cosima: »Also ich denk, bis zur Geburt hamma uns schon versucht abzulenken einfach so. Bei der Geburt selber war ich einfach ziemlich müde, weil die ganzen Wehen über Nacht waren, also, ich hab net gschlafen und genau, so jetzt der richtig große Schock, dass ich
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jetzt gheult hab, war eigentlich gar net. Kann auch sein, weil ich a PDA57 ghabt hab, dass einfach die Gfühle/ Also, ich hab das richtig gmerkt, die sind erst nach und nach kommen.« (Int. 2, 80)
Cosimas Umgang mit der Schwangerschaft und dem ständig prognostizierten Sterben ihres Kindes ist genug Ablenkung – anders ist diese Situation von Ungewissheit und Bedrohung für sie nicht zu ertragen. Als ihr Kind gestorben ist und die Geburt eingeleitet wird, diese Einleitung sich über mehrere Tage hinzieht, versucht sie wieder, die Situation auszuhalten, indem sie sich ablenkt. Am Ende der Geburt dämpft die PDA sowohl ihre Schmerzen als auch ihre Gefühle. Geburt kann aber auch als etwas erlebt werden, das überrollt, eine körperliche Grenzerfahrung darstellt. Insbesondere Frauen, deren Geburt eingeleitet wird, erleben die Wehen manchmal als überwältigend. Harriet: »Die Geburt hat nur ne dreiviertel Stunde gedauert, aber es war so, da waren keine Pausen dazwischen. Das war grauenhaft. Aber ich hatte so meinen Stolz und hab keine PDA genommen, ich hab mich so mit denen rumgeärgert, weil die mir da ne Braunüle verpasst haben. Ich hab gedacht, ums Verrecken, ich werde keine PDA in Anspruch nehmen. Wenn die mir hier eine Braunüle aufzwingen, dann können die sich ihre PDA an die Backe binden (lacht) also gut dann (…) für mich war das, glaub ich, auch besser, weil dieser Schmerz war so höllenmäßig und als das dann endlich vorbei war, ämmm, da war für mich auch klar, man muss einfach mit dem zufrieden sein, was da ist und das war fast die Grenze. Ich glaub, wenn die Geburt nicht so hart gewesen wäre, dann hätt ich viel mehr damit gehadert, dass der Kleine es nich überlebt hat. Aber so war ich einfach froh, dass es vorbei war.« (Int. 13, 74)
Für Harriet ist es nicht nur das Überrollt-Werden durch die Heftigkeit der Wehen, sondern auch das Überrollt-Werden durch die ungewohnte Betreuungssituation, durch Interventionen, die sie eigentlich ablehnt. Ihre älteren Kinder sind außerklinisch zur Welt gekommen und ihr Verständnis von Sicherheit umfasst den Anspruch an Selbstbestimmung. Das Legen der Braunüle empfindet sie als aufgezwungene Intervention und entzieht sich weiteren Eingriffen. Das Erleben auf körperlicher Ebene, die Wehenschmerzen werden verstärkt durch eine Situation, in der Harriet das Gefühl hat, sich verteidigen zu müssen. Manche Frauen fühlen sich nicht adäquat auf die Wehenverarbeitung vorbereitet. So hat, wie im vorangehenden Kapitel aufgezeigt, ein Großteil der Frauen keinen Geburtsvorbereitungskurs besucht, nicht »gelernt«, was eine »normale«, andere Schwangere in ihren Augen gelernt haben sollte, beispielsweise Atemtechniken zum Umgang mit den Wehen. So erlebt es Johanna: 57 Periduralanästhesie (PDA) ist eine Form der Anästhesie, bei der die untere Körperhälfte betäubt wird, und wird häufig zur Schmerzmedikation unter der Geburt eingesetzt, aber auch als Anästhesie bei einem Kaiserschnitt angewendet.
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»Ich hab Wehen ghabt und hab nicht gwusst, wie ich atmen soll und hab so des Gefühl ghabt, wenn ich richtig atmen würd, dann wären die auch besser zum aushalten.« (Int. 5, 131)
Das Gefühl, nicht vorbereitet zu sein, über ein Werkzeug nicht zu verfügen, über das die anderen Frauen verfügen, wird so von manchen der Frauen wie Johanna als Manko erlebt. Wahrnehmung des Kindes Die Wahrnehmung der Lebendigkeit des Kindes während der Geburt stellt für einige der Frauen eine wichtige Ressource dar : Hoffnung darauf, ihr Kind lebend sehen zu können, aber auch Vertrauen darauf, dass das Kind aktiv beteiligt ist am Geburtsprozess. Wie positiv die Wahrnehmung und Interpretation der Lebendigkeit des Kindes während der Geburt sein kann, zeigt sich an Elkes Erzählung über die Geburt. Während sie über die Wehen spricht, lacht sie immer wieder, spricht darüber, wie sie die Bewegungen ihres Sohnes im Bauch sehen kann: »Des war Wahnsinn, was der an dem Tag für ne Energie entwickelt hat (…) Also auch während der Wehen. Da hab ich nur so gedacht: ›Oh Gott (lacht) Schmerz, hallo‹, da schon, und dann kommts noch von hinten. Aber er war / gar nicht /er kam nicht, also die (Name der Hebamme) hat auch ganz selten, dass wir mal untersucht hätten oder irgendwie Herztöne gehört ham, eigentlich nur zum Schluss in der Badewanne mal. Weil er immer, also man hat immer gsehn (lacht) Pumm (lacht) dass alles in Ordnung is mit ihm.« (Int. 17b, 12–13)
Elke empfindet die Lebendigkeit ihres Sohnes durch die starken Kindsbewegungen, die sie nicht nur spürt, sondern auch unter der Bauchdecke sehen kann, als etwas Positives. Während der Geburt ist ihr Sohn für Elke ein Kind, das geboren wird, und nicht ein Kind, das stirbt. Der Fokus des Zeiterlebens ist auf den Moment des Gebärens, auf die Wehen und die Wahrnehmung des Kindes und nicht auf den Moment des Geboren-Seins und Sterbens gerichtet. Wie wichtig die Wahrnehmung der Lebendigkeit des Kindes für das Durchstehen und Erleben der Geburt sein kann, zeigt sich ebenfalls an Inkens Erzählung. Sie besteht darauf, während der Geburt die Herztöne ihres Kindes über das CTG58 hören zu können: »Und (…) ja okay, CTG lief, obwohl die Ärzte das nicht so gerne wollten (…) die sachten dann Ich wollt es haben (…). Die ham gesacht: ›Okay, des kann angehen, dass Sie dann Ihrem Kind beim Sterben zuhören.‹ Und (…) aber ich hab für mich gedacht, solang wie ich ihn hör, weiß ich, wofür ich jetz kämpf (…) ja.« (Int. 14, 37) 58 Kardiotokograph: Gerät, mit dem in der Schwangerschaft und während der Geburt die kindlichen Herztöne und die Wehentätigkeit überwacht werden können
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Hier zeigt sich eine weitere Unterkategorie, die eng mit dem Bild vom Kind in Zusammenhang steht: die Bedeutungszuschreibung an technische Überwachung während der Geburt. Das Hören der Herztöne ist für Inken ein Instrument, das sie konstant akustisch an den Sinn, den sie der Geburt zuschreibt, erinnert, daran, dass sie ihren Sohn lebend kennenlernen möchte, und daran, dass er noch lebt. Das Hören der Herztöne ist für sie etwas, das ihr Hoffnung gibt. Hier kommt es auch wieder, wie bereits bei der Aneignung des Ultraschalls in der Schwangerschaft, zu einer Inanspruchnahme von Technik in einem anderen als dem im medizinischen Betreuungssystem vorgesehenen Sinn: Das CTG dient nicht länger als technisches Instrument, welches das Handeln des Betreuungssystem begründet und retrospektiv juristisch absichert, das kontrolliert, dass es dem Kind gut geht. Vielmehr sind die Ärzte in einer Situation, in der sie, eben nicht wie bei einer normalen Geburt, dem Sterben des Kindes eventuell zuhören, ohne zu handeln. Dies spiegelt auch einen Konflikt zwischen Sicherheitsbedürfnissen wieder : hier die Frau, die hören möchte, dass ihr Kind noch lebt – dort die Betreuungspersonen, die mithilfe eines Instruments, das bei normalen Geburten als Sicherheit zu verstehen ist, befürchten, Zeugen zu werden und Situationen aushalten zu müssen, die bei normalen Geburten ein obligatorisches Eingreifen erfordern würden. Für andere Frauen ist es wichtig, die Geburt, auch wenn es eine operative Kaiserschnittentbindung ist, »bei Bewusstsein« zu erleben. So beziehen sich daher Entscheidungen über Anästhesieformen bei einem geplanten Kaiserschnitt darauf, bewusst mitbekommen zu können, was passiert und so nicht eventuell die einzige Lebenszeit des Kindes zu verpassen. Die Operation unter der Teilanästhesie PDA sehen diese Frauen – zumindest diejenigen in der vorliegenden Untersuchung befragten – als Möglichkeit, das Geburtsgeschehen bewusst wahrnehmen zu können. Anita: »Ja, ne PDA. Extra deswegen auch. (…) Klar, wenn ich ne Vollnarkose ghabt hätt, wär ich vielleicht noch Stunden weg gwesen.« (Int. 19, 71–72)
Für Anita geht es dabei um den Zeitraum nach der Geburt, sie möchte nicht stundenlang »weg sein«. Für Heidrun geht es ebenfalls um die erste Begegnung mit ihren Kindern bei der operativen Entbindung mit Kaiserschnitt: »Wir mussten dann noch zwei Stunden warten, ich hab eine PDA bekommen. Und dann weiß ich nur, dass ich dann in den OP geschoben wurde, ich hab geschiwwert ohne Ende, dann haben sie mich immer gefragt, ob sie mir was spritzen dürfen und ich hab dann immer nur gesagt, auf keinen Fall. Und dann haben sie angefangen und der erste, der geboren wurde, war der (Name des Kindes mit Fehlbildung). Ich weiß dann, hab ich nach links geschaut und dann haben sie sie mir beide gezeigt. Und dann hab ich natürlich geweint, aber von da gings mir dann eigentlich gut. Und dann hab ich gesagt,
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jetzt dürfen sie mir was geben, dann hab ich Dormicum gekriegt, dann wurd es auch besser.« (Int. 8, 53)
Erst nachdem Heidrun ihre Kinder gesehen hat, stimmt sie der Gabe von Dormicum, das bewusstseinstrübend wirkt, zu. Das Kind sofort nach der Entbindung sehen zu können ist etwas, das beide Frauen als vielleicht einzige Möglichkeit verstehen, ihrem Kind begegnen zu können, solange es noch lebt. Diese Begegnung ist zentral in der Planung und auch im Erleben der Geburt/Entbindung. Erleben von Partner und anderen Begleitpersonen Aus dem Erzählen der Frauen lässt sich schließen, dass Geburt von vielen der Frauen als Prozess erlebt wird, der sich auf den eigenen Körper bezieht. Partner und Begleitpersonen werden von vielen Frauen nur wenig erwähnt und der Fokus des Erzählens liegt vielmehr auf dem eigenen körperlichen Erleben und der Wahrnehmung des Kindes. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Begleitung durch eine Vertrauensperson die Norm darstellt, keine der Frauen ist allein bei der Geburt, vielmehr werden die Frauen von ihrem Partner, einer Freundin oder von Verwandten begleitet. Bis auf eine Ausnahme werden alle Frauen bei der Geburt von ihrem Partner begleitet. Auch diejenigen Männer, die wenig involviert waren in den Entscheidungsprozess und Schwangerschaftsverlauf, sind bei der Geburt als »werdende Väter« dabei. Die Anwesenheit des Partners ist so selbstverständlich, dass dieser häufig nur in Nebensätzen erwähnt wird. Der Partner kann dabei als relativ passive Begleitperson erlebt werden, jemand, der einfach dabei ist, so wie für Anne: »Der saß am Kopfende nur und (…) ahh, ich hab da meine Fingernägel in seine Hände gegraben.« (Int. 1, 121)
Anne erlebt ihren Partner am Kopfende sitzend, sie hält sich an ihm fest. Geburt kann aber auch als Frauensache gesehen werden, etwas, bei dem der Partner nicht dabei sein muss. So hat Ursel für die Geburt den Wunsch, diese unter Frauen zu erleben: »Des war im Endeffekt von mir auch so ein Wunsch. Also da ham mer ein bisschen gstritten, au weil i gsagt hab, am liebsten würd ich nur unter Frauen gebären. Weil ich find, des ist ne Frauensache. In der Zwischenzeit so mit dem dritten Kind ich so des Gfühl hab, des is ne Frauensache. Da ghört eigentlich gar kein Mann dazu. (lacht) Und da hat der (Name des Partners) gsagt (lacht), des findt er jetzt nicht so gut. Er möchte da dabei sein. Und dann ist es wirklich ganz anders glaufen im Endeffekt (lacht)(…) (lacht) Die (Name der Tochter) hat Gas gegeben.« (Int. 20, 157, 161)
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Ursel ist froh, dass ihr Partner die eigentliche Geburt »verpasst«, die Geburt so rasch verläuft, dass er erst kurz, nachdem die Tochter geboren ist, vom Parkplatzsuchen zurück im Geburtshaus ist. Gleichzeitig weiß sie aber, dass er gleich da sein wird, dass er als Unterstützung erreichbar wäre. Ursels Partner ist engagiert und eingebunden in Diagnose, Entscheidungsprozess und auch im weiteren Schwangerschaftsverlauf. Die Geburt selbst aber ist für Ursel ein weiblicher Prozess, den sie unter Frauen durchleben will. Nach der Geburt, in der kurzen Lebenszeit des Kindes, gestalten sie hingegen Leben und Abschied von ihrer Tochter gemeinsam als Eltern. Manche der Frauen werden bei der Geburt von einer ganzen Gruppe von Personen unterstützt. Gerade bei Geburten im außerklinischen Bereich ist der Partner häufig nicht die einzige Begleitperson, sondern es sind auch Freundinnen, Mutter oder Schwester oder andere vertraute Personen anwesend, die als unterstützend erlebt werden. Johanna erzählt: »Mir waren die Hebamme, mein Mann, meine Schwester, die Schwiegermama – vier Leut und ich. (…) Ämm, es war super, jeder einzelne hat sein Part ghabt und ich möchte auch auf keinen verzichten. Des war echt so gut. Meine Schwiegermama war hinten, hat mir den Steiß massiert, mein Mann hat vorne mich immer in Position gehalten, meine Schwester war der Springer, die hat mir immer die Teetasse heben müssen, und die Hebamme hat halt des Baby heben müssen.« (Int. 5, 131)
Geburt wird von Johanna als gemeinsames Projekt erlebt, etwas, bei dem alle mithelfen, jeder der Anwesenden nach bester Kraft unterstützt. So geht die ungeplante Hausgeburt so rasch, dass ein Umzug in die Klinik nicht mehr möglich ist: Bei der Geburt ihrer bereits vor dem Wehenbeginn gestorbenen Tochter haben alle anwesenden Personen ihre Rolle und ihre Aufgabe – jeder ist wichtig, sie wird von hinten und vorn gestützt, versorgt. Die Geburt findet so geborgen im Kreis vertrauter Personen statt. Erleben der Betreuungssituation Als zentraler Aspekte von einer positiv erlebten Betreuungssituation zeigt sich der Wunsch der Frauen, behandelt zu werden wie eine »normale Gebärende«. Weitere Aspekte sind das Vertrauen in die Betreuungspersonen, das Gefühl von Geborgenheit, Aufgehoben-Sein und Verständnis des Gegenübers. Während Marlene in der Betreuungssituation während der Schwangerschaft viele Aspekte der Betreuung als belastend erlebt, setzt sich ihr Erleben der Geburt von diesen negativen Erfahrungen ab, wie sie im Folgenden verdeutlicht: »Die Geburt empfand ich zum Beispiel nicht als schrecklich. Die Geburt hab ich sehr schön in Erinnerung. (…) Wahrscheinlich lags ja auch an der Hebamme, die wir hatten. Weil die einfach echt klasse war, die Frau (…) Die so trotz allem so positiv war und die dann irgendwann so (…) ich glaub, die Phase hat wahrscheinlich jede Gebärende, die
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sagt, jetzt mag ich einen Kaiserschnitt, ich mag jetzt nimmer. Und die sagte, nix da, jetzt sind wer so weit und jetzt mach mer det hier auch zu Ende. Die Ärztin, die dabei war (…) die hätte mir sofort den Kaiserschnitt gemacht. Die hatte (…) rückblickend muss ich sagen, die hatte Mitleid mit mir. Die fand das ganz schlimm und die hat das ganz furchtbar mit bedrückt. Das hat die (Name der Hebamme) in dem Moment gar net interessiert und sie hat wirklich gesehen, jetzt mach mer hier den Job durch wie mit jeder anderen auch. Alles andere kommt, wie et kommt. Dieses Unermüdliche, so Mädels, nix hier, aufstehen und, ne, und gut is. Das war so / hat gut getan.« (Int. 18, 157–159)
Marlene kontrastiert hier die zwei Verhaltensweisen: Behandlung aus Mitleid und Mitleiden und die Behandlung, die sie als situationsangemessen erlebt – wie jede andere Gebärende. Die Geburt wird ihr von der Hebamme zugemutet im Sinne von »zugetraut«. Durch die Behandlung als normale Gebärende kann Marlene zur normalen Gebärenden werden. Das Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit ist ein weiterer wichtiger Aspekt im Betreuungserleben. So stellt für Zoey eine Hausgeburt das Umfeld dar, wo sie ein solches Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit haben kann: »Und die Geburt an sich war meine erste Hausgeburt und eigentlich schön. Die schönste Geburt, die ich hatte bisher. Des kann natürlich da dran liegen, dass der Unterschied vom Krankenhaus zur Hausgeburt extrem ist, aber auch an sich. Des war einfach die Atmosphäre. Es war in der Nacht. (…) Und es war dunkel draußen. Es war halt mit Kerzenschein drinnen. Dann hat ich noch Musik rausgesucht. (…) Des Besondere war ebent diese angenehme Umgebung, dass ich wusste, wo ich bin und dass ich mich wohl gefühlt hab. Also (Name des Partners) war da, der Hebamme hab ich hundertprozentig vertraut und, ämm, also es war einfach so ne runde Sache die Geburt.« (Int. 11, 101–105)
Neben der »angenehmen Umgebung« und der Anwesenheit von vertrauten Personen, hier der Partner, ist das Vertrauen in die begleitende Betreuungsperson, bei Zoey in die Hausgeburtshebamme, ein wichtiger Aspekt für dieses Gefühl der Geborgenheit. Das Empfinden von emotionaler Zugewandtheit, Verständnis und Einfühlsamkeit der Betreuungspersonen sind weitere Aspekte, die für das Betreuungserleben von den Frauen als wichtig angesehen werden. So berichtet Saskia von ihrem Erleben der Betreuung durch die Hebamme und die Hebammenschülerin bei der Geburt ihrer Tochter : »So wie ich es / so wie es sich wahrscheinlich jeder, der irgendwas mit Totgeburt hat, erträumt. Einfühlsam (…) also, da muss ick wirklich sagen, das war so ein bisschen, ja, Bilderbuch eigentlich. So das Optimalste, was man sich so vorstellen kann. Einfach nur Baby bekommen. Es is ein ganz normales Baby und wir machen alles so wie / als wenn nichts andres wär. (…) Es war einfach nur ein normales Kind, was nich heult oder was
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nich atmet. (…) Also nüscht weiter drüber jetze verloren / ahh süß und wir wollens jetz erst mal waschen (…) So dieses so ganz Normale. Also nich jetze irgendwie und hach und wie. Ja, locker halt. Und ich hatte ja dann Fußabdruck und so was. Wo ich sage, die Hebamme hat das gleich, wo ich sage, ich hab ebent das mit Fußabdruck, ja ja, das mach mer schon. Die hat ebent och ganz normal mit (Name des Kindes) geredet und Baden, was ja die (Name der begleitenden Freundin) dann gemacht hat, weil ja mein Kreislauf total versagt hat.« (Int. 13, 177–179)
In Saskias Erzählung zeigt sich, dass sich das »normale Gebären« auch auf die Behandlung des Kindes bezieht: Es ist einfach ein Baby, das geboren wird, die Fehlbildung steht im Hintergrund. Wenn die Geburt so wie eine normale Geburt behandelt wird, das Kind wie ein anderes Kind, dann wird auch die Frau wie eine andere werdende Mutter behandelt: Eine solche Behandlung stellt also auch eine Wertschätzung des Transitionsprozesses dar, die Frau ist eine werdende Mutter, die Frau wird eine Mutter. Eine Mutter, deren Kind nur ein kurzes Leben hat oder gehabt hat. Aber die Mutterschaft mit ihren Hoffnungen erfährt Anerkennung. Damit ist im Grunde diese außergewöhnliche Schwangerschaft dann doch als Möglichkeit, ein Kind zu bekommen, verwirklicht. Also eigentlich das, was manchen der Frauen vorher direkt oder indirekt abgesprochen wird. Deutlich wird dies auch am positiven Erleben der Frauen, wenn Arzt oder Ärztin nach der Geburt noch einmal kommen, um das Kind zu sehen oder Respekt aussprechen für den gegangenen Weg. Dies wird im nächsten Kapitel detailliert aufgegriffen. Gleichzeitig kann angenommen werden, dass auch für die Betreuungspersonen das Zurückgreifen auf »normale«, also in diesem Fall in der Bedeutung alltägliche, übliche Behandlungsformen Sicherheit in der Begleitung der schwierigen Situation gibt. Mit dem Zurückgreifen auf Geburtsrituale, die die Geburt vergleichbar machen mit »normalen« Geburten scheint auch für die Betreuungspersonen Normalität umsetzbar. In Marlenes Geschichte ist dies das Vertrauen der Hebamme darauf, dass diese Frau dieses Kind gebären kann, die Ermutigung und positive Haltung unabhängig davon, ob das Kind nach der Geburt verstirbt. Für Saskia ist es die Behandlung des toten Kindes, wie ein normales Baby, das »nich heult und nich atmet«. Andere Frauen betonen, wie wichtig für sie die Wahrnehmung ist, dass das Betreuungssystem die besondere Situation berücksichtigt und darauf eingeht. So erlebt es Anne: »Des Umfeld hat alles getan / des wußt ja scho, dass des a besondre Geburt ist, damit des für uns jetzt nicht noch schwerer fällt, als es eh schon war. Also des Krankenhaus war sehr unterstützend, fand ich.« (Int. 1, 120)
Anne empfindet das Krankenhaus als Institution als unterstützend, weil sie sich dort in ihrer individuellen Situation verstanden fühlt.
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Negativ erlebte Betreuung umfasst Unterkategorien wie das Erleben von unsensibler Begleitung oder die Wahrnehmung von Überforderung der Betreuungsperson. So erlebt Saskia phasenweise die Betreuungssituation als negativ, weil sie sich fachlich nicht gut betreut fühlt: »Zunächst ham sie mich noch ne Weile allein rumkriechen lassen mit irgendeiner Reinigungskraft oder was weiß ick / einfach nur zum Uffpassen. Was mich mehr genervt hat als alles andere (…) dass da so ne, sag ick jetze mal, Unfähige also keene Hebamme halt im Zimmer is, aber halt einfach nur, um zu gucken so nach dem Motto, kippt se um oder nich / des hat mich einfach mehr / ja / behindert äää (…). Da hätten sie mich och ganz alleene lassen können, was se aber / dürfen se wahrscheinlich och nich.« (Int. 12, 149)
Aspekte dieser fachlich nicht angemessen erlebten Betreuung umfassen demnach das Gefühl, alleingelassen worden zu sein, und die Betreuung durch fachfremde Personen. Saskia nimmt wahr, dass ihr eine »Unfähige« an die Seite gestellt wird, jemand, der nur aufpasst und nicht betreut. In dieser Situation fühlt sie sich nicht gleichwertig betreut wie eine normale Schwangere, sie ist keine werdende Mutter eines gesunden Kindes. Es wird in ihren Augen nur dafür gesorgt, dass nichts passiert, nicht aber begleitet und betreut wird. Erst nach Schichtwechsel erhält sie eine andere Betreuung, die sie (siehe weiter oben) als positiv erlebt. Manche Frauen erleben Betreuungspersonen in einem Entwicklungsprozess; sie nehmen wahr, dass diese sich im Geburtsverlauf immer mehr auf die Situation einlassen. So erlebt Dorothee die Ärztin im Verlauf der Geburt im Wandel von einem verständnislosen, unsensiblen Gegenüber hin zu jemandem, der »mit uns um unser Kind trauert«. Dorothee berichtet im Folgenden über die Situation, als sie zu Beginn der Geburt von der behandelnden Ärztin im Krankenhaus gefragt wird, ob sie eine operative Kaiserschnittgeburt wolle, wenn es dem Kind schlecht gehe: »Aber da war dann noch so ne kritische Situation, wo die diensthabende Ärztin mich so in die Enge getrieben hat und da bin ich auch ziemlich zickig geworden, muss ich schon sagen. Aber das war so eine von den weniger schönen Situationen, ja, weil ich einfach irgendwie gesagt hat: ›Ja, was glauben Sie eigentlich? Ham Sie selber Kinder? Ham Sie jemals so ne Entscheidung treffen müssen?‹ (…) Sie konnte des einfach nicht so verstehn, warum ich jetzt (…) warum mich des jetzt verletzt, dass sie jetzt so eindringlich und so wenig einfühlsam da noch mal gefragt hat, ja. Aber (…) ämm, ich kann mich da gar nicht mehr so genau dran erinnern, wie des jetzt war. Ich weiß dann nur, dass sie dann später (…) Also sie kam dann auch und hat dann gemeinsam mit uns um unser Kind getrauert. Also das war dann auch so, dass sie sich dann auch später entschuldigt hat und gesagt hat (…) ihr war des gar nicht so klar, dass des jetzt irgendwie ne komische Situation für uns ist.« (Int. 16, 55–57)
Dorothee erlebt sich in der Geburtssituation als jemand, der sich abgrenzen muss gegenüber der Frage nach einer operativer Entbindung, dabei geht es
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weniger um die Frage selbst als vielmehr um die Art der Fragestellung, durch die Dorothee sich in »die Enge getrieben« fühlt, eine ausweglose Situation ohne wirkliche Entscheidungsmöglichkeit. Gleichzeitig beschreibt Dorothee, dass die Ärztin später diese Kommunikationsprobleme thematisiert und eingesteht, dass ihr die Tragweite der Situation für die Eltern nicht bewusst war. 10.5.3 Zuschreibungen an das Kind Viele der Frauen konstruieren ihr Kind in der Erinnerung an die Geburt als handelndes Wesen, das die Geburt »macht« oder zumindest beeinflusst. Die Geburt wird so zu einem gemeinsam von Mutter und Kind bewältigten Übergang. Mit dieser Zuschreibung von Handlungsfähigkeit konstruieren die Frauen ihr Kind bereits hier als Person, wie es nach der Geburt (vgl. Kapitel 10.6.2) als Grundlage der Bindungsentwicklung geschieht. So schreiben manche der Frauen einen guten Geburtsverlauf dem Kind zu, etwas, was das Kind aktiv beeinflusst. Johanna hat eine ungeplante Hausgeburt: »Letztendlich alles so perfekt. Des hat die (Anm.: die Tochter) schon so alles richtig gemacht.« (Int. 5, 148–149)
So schreibt Johanna ihrer Tochter die Geburtsortsentscheidung zu, die Geburt verläuft so rasch, dass das Kind ungeplant zu Hause zur Welt kommt. Obwohl Johannas Tochter einige Tage vor Wehenbeginn verstorben ist, sieht sie sie bei der Geburt in einer aktiven Rolle, erklärt sich Abläufe als von ihrer Tochter »richtig gemacht«. Auch Elke sieht die rasche, komplikationslose Geburt als etwas, das ihr Sohn schafft, als einen Weg, den er wider die Erwartung bewältigen kann: »Also, der hat alles (…) ganz allein gemacht (lacht). Also die Wehen / des / der lag nie irgendwie falsch, der kam einfach raus. Also drei Presswehen – Flup – und da war er. Und hat sich da ganz alleine durchgekämpft, wo ich ja vorher scho Bedenken hatte (…) ob er das so einfach kann? Ob er da richtig liegt?« (Int. 17b, 10)
Die Zweifel an der Kapazität ihres Sohnes, die Geburt schaffen zu können, erweisen sich in Elkes Erleben als falsch, er »kämpft sich durch«. Viele der Frauen haben ein Verständnis der kindlichen Rolle unter der Geburt als aktiv und beteiligt am Geschehen. Das Kind wird als Subjekt, Person gesehen, die dyadisch in den Geburtsprozess involviert ist und diesen prägt. Geburt ist in diesem Verständnis ein gemeinsam von Mutter und Kind bewältigter Prozess. In dem das Kind als Person und als ein in gewissem Sinne Gegenüber konstruiert wird, wird auch das eigene Mutter-Sein konstruiert. Mit der Konstruktion der Geschichte der Geburt als gemeinsam bewältigte Transition festigen die Frauen auch ihre Identität als Mutter dieses Kindes. Ursel
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erlebt die positive Geburtserfahrung als Geschenk, das ihre Tochter ihr macht und das diese Geburt nach den als traumatisch erlebten Geburtsgeschehen der beiden Geburten vorher zu einer heilsamen Erfahrung für sie macht: »Deswegen sag ich ja, dieses Un / Unglaubliche, diese Geburt und vor allem auch diese gute Geburt. Es war wirklich für mich ne ganz schöne Geburt. Und da hat die (Name der Tochter) auch so vieles gut gemacht. So, beim (Name des totgeborenen Sohnes) war dieses Eingeleitete, dann der Kaiserschnitt und endlich in Anführungszeichen, so ne Geburt, wie ich sie mir schon bei der (Name der älteren Tochter) gwünscht hab. Und ich konnt die Geburt auch durchgehen, ne. Ich wusst ja, egal wie des jetzt kommt, ich kann nix dafür, wenn des Kind stirbt. Also so dieses Gfühl. Bei der (Name der älteren Tochter) hat ich ja unwahrscheinlich Angst. Da konnt ich überhaupt / da hab ich ja keine Wehe ghabt, keine einzige, ne. Und des war (…) des war auch ein Geschenk, des sie mir gemacht hat (…) Ich hab schon mal zur (Name der Hebamme) gsagt, des ist irgendwie so, als hätt sie an meiner Weiblichkeit was gut gmacht.« (Int. 20, 249–251)
In Ursels Geschichte wird deutlich, dass Geburt und Gebären-Können wichtige Aspekte von Identität für Frauen sein können. Für Ursel stellen sie einen Ausdruck ihrer »Weiblichkeit« dar, ihres Körperempfindens als Frau. Dies wird auch in Ursels Konzept von Geburt als »Frauensache« deutlich. Dieses GebärenKönnen bezieht sie jedoch nicht nur auf ihre eigene Fähigkeit, sondern die Geburt ist ein Übergang, der gemeinsam mit dem Kind bewältigt wird. So wird die »gute Geburt« zu einem Geschenk, das sie von ihrer Tochter erhält – ihre Tochter heilt mit dieser guten Geburt die Wunden der Vergangenheit. Ein Aspekt dieses positiven Erlebens ist, dass Ursel im Gegensatz zur Geburt ihres Sohnes, der am Termin intrauterin verstorben war und für dessen Tod keine Ursache gefunden wurde und zur Geburt ihrer älteren Tochter, die geprägt war von der Angst durch den Tod des ersten Kindes, sie jetzt weiß, egal, was sie tut, sie ist nicht schuld am Tod des Kindes, es liegt nicht in ihrer Hand, ihre Tochter ist durch das Syndrom so schwer beeinträchtigt, dass sie nicht lange überleben wird. 10.5.4 Zwischenfazit der Phase »Geburt« Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse der Geburt zusammengefasst dargestellt werden. Im Anschluss werden im Abschnitt Good Practice Aspekte von positiv erlebten Betreuungssituationen weitergeführt. Die Phase »Geburt« umfasst die Zeit unmittelbar vor der eigentlichen Geburt, wie in die Geburt gegangen wird, und das Geburtserleben selbst. Resümierend kann festgehalten werden, dass die Geburt das Ende der Unterbrechung des Transitionsprozesses darstellt, eine Rückkehr zu einer gewissen Normalität, zumindest für die Zeit der Geburt, in der wieder klar zu sein scheint, was für die einzelnen Akteure zu tun ist: Das Kind muss geboren werden. Und
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doch gibt es Spannungsfelder, wie etwa Fragen der technischen Überwachung oder des Eingreifens bei kindlich indizierten Notfällen, Situationen, in denen eben nicht auf die Routinen aus der »normalen« Geburtsbegleitung zurückgegriffen werden kann. 1. Einfach zur Gebärenden werden: Die Geburtserzählungen gleichen Geburtserzählungen »normaler« Geburten, totaler Konzentration auf sich selbst, Beschäftigung und Arbeit auf körperlicher Ebene, die kein Grübeln, Nachdenken zulässt, sondern einen Fokus auf die momentane Situation erfordert. Was Frauen als normal verstehen, zeigt sich als individuell verschieden und es zeigen sich Spannungsfelder und Dimensionen dieses Normalitätsbegriffs. 2. Kontext der Geburt: Die Geburtskontexte variieren von Klinikgeburten über Haus- oder Praxisgeburten, von spontanen Geburten über geplante Kaiserschnittentbindungen bis zu Notfallkaiserschnitt; die Frauen werden meist von ihrem Partner oder auch von anderen Personen aus dem nahen Umfeld begleitet. Wie die Geburt erlebt wird, ist weniger von diesen äußeren Bedingungen als vielmehr vom Ausmaß an erlebter Geborgenheit, Vertrauen, Aufgehoben-Sein und Verständnis abhängig, was wiederum in direktem Zusammenhang mit dem Grad an Anonymität versus Vertrautheit steht. 3. Sich vor erneuten existenziellen Entscheidungen wahrnehmen: Die Entscheidung über Notfallinterventionen und/oder Geburtseinleitung bei Terminüberschreitung wird von einigen der Frauen als existenziell wahrgenommen – als erneuter Entscheidungsprozess über den Sterbezeitpunkt des Kindes, der Parallelitäten zum Entscheidungsprozess nach der Diagnose zeigt. Ein Abwägungsprozess zwischen medizinischen Standards, Interessen des Kindes und den eigenen emotionalen und körperlichen Wahrnehmungen von Wohlbefinden und der Frage nach der Grenze von Normalität, für die »normale« Schwangerschaften und medizinische Standards als Referenzrahmen herangezogen werden. 4. Wahrnehmung des Kindes: Es gibt unterschiedliche Konzepte zur Rolle des Kindes bei der Geburt. Viele der Frauen sehen das Kind als aktives Subjekt, das den Geburtsverlauf mitgestaltet, beispielsweise den Geburtstermin entscheidet oder die Geburt langsam oder schnell verlaufen lässt – Geburt als einen gemeinsam von Mutter und Kind bewältigten Übergangsprozess. Andere Frauen sprechen dem Kind keine solch aktive Rolle zu oder führen sogar Unregelmäßigkeiten wie eine starke Terminüberschreitung auf die Unfähigkeit ihres Kindes, bestimmte Dinge wie etwa den Geburtsbeginn herbeizuführen, zurück. 5. Umgang mit dem Tod des Kindes vor Wehenbeginn: Ist das Kind vor der Geburt verstorben, geht es bei der Transition Geburt nicht länger um das Hinüberbringen des Kindes auf die andere Seite, ins Leben. Die Hoffnung auf
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ein Kennenlernen des lebenden Kindes ist genommen. Bei den betroffenen Frauen dimensionalisiert sich das Erleben von Noch-nicht-hergeben-Wollen bis Nicht-länger-ertragen-Können des Kindes im Bauch und steht in direktem Zusammenhang zu ihren Überlegungen zur Einleitung der Geburt. 6. Konstruktion von Mutter-Werden, Mutter-Sein und eigener Identität: Indem das Kind als individuelle Person und Gegenüber konstruiert wird, wird auch die eigene Identität als Mutter konstruiert: Die Grenzen von Mutter-Werden und Mutter-Sein fließen ineinander. Von manchen Frauen wird auch die »gute Geburt« als Ausdruck ihrer Weiblichkeit und GebärenKönnen als Potenzial erlebt, als Stärkung des eigenen Körperempfindens unabhängig vom Geburtsausgang. 7. Umgang mit technischer Überwachung: Die Bedeutungszuschreibung an technische Überwachung wie CTG sind individuell verschieden: Technik wird als Instrument genutzt, der Gebrauch abgewogen, umgenutzt, sie wird vermieden oder eingefordert als etwas, vor dem das Kind geschützt wird, oder als etwas, das diesem Kind ebenso zusteht wie einem anderen, gesunden Kind.
Positiv erlebte Betreuungssituationen – Beispiele für Good Practice Frauen erleben es als positiv, wenn sie die Betreuungspersonen wie Hebamme und Arzt oder Ärztin bereits aus der Schwangerschaft kennen und wenn im Vorfeld Gespräche über die Geburtsvorstellungen stattgefunden haben. Vertrauen in die Betreuungspersonen der Geburt kann durch eine kontinuierliche Begleitung in der Schwangerschaft wachsen und das Vertrauen in den Geburtsverlauf stärken. Dies ist bei vielen der Frauen, die eine außerklinische Geburt durchführen der Fall; aber auch ein Teil der Frauen, die in einer Klinik gebären, erlebt eine solche kontinuierliche Begleitung im Vorfeld oder kann zumindest Aspekte der Betreuung absprechen: Das Umfeld der Geburt ist ihnen kein fremdes und sie sind keine Fremden für dieses Umfeld. Sind solche Gespräche im Vorfeld nicht möglich, zeigen die Daten, dass es für einzelne Frauen hilfreich sein kann, um in einer als anonym erlebten Aufnahmesituation Selbstwirksamkeit zu erleben, einen schriftlichen Geburtsplan, in dem sie ihre Wünsche und Bedürfnisse darlegen, zur Klinikaufnahme mitzubringen. Von den Frauen als existenziell erlebte Fragen etwa zu Einleitung bei Terminüberschreitung oder möglichen Notfallinterventionen im Geburtsverlauf sollten mit Sensibilität und Verständnis und dem Wissen um die große Bandbreite möglicher Entscheidungsresultate kommuniziert werden. So zeigt sich, dass von manchen Frauen die Frage nach Notfallinterventionen oder auch Entscheidungen über Einleitung als Infragestellen der Weiterführungsent-
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scheidung erlebt wird. Frauen gestehen den Betreuungspersonen dabei ein Entwicklungspotenzial zu, nehmen kommunizierte Wachstumsprozesse und Selbstreflexion insbesondere von Ärzten und Ärztinnen positiv wahr.
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Begegnung und Abschied
Im Folgenden soll die Phase unmittelbar nach der Geburt bis zur Beerdigung des Kindes dargestellt werden, in die das Kennenlernen und die Bindungsgestaltung nach der Geburt, aber auch Sterben und Abschied vom Kind fallen. Da die Daten nahelegen, dass Mutter-Werden und Mutter-Sein prozessartig erlebt werden, erfolgt die Beschreibung aufgeteilt in einen Prozess, der zunächst die Begegnung mit dem Kind beschreibt, dann die Konstruktion des Kindes als Person umfasst und in den Umgangsstrategien resultiert. Die Kontextbedingungen und der Umgang mit der eigenen Identität als Mutter sind in den Text eingewoben. 10.6.1 Begegnung mit dem Kind Viele der Frauen haben sich in der Schwangerschaft ein inneres Bild vom Kind in ihrem Bauch gemacht, waren in einer Art innerem Dialog mit ihrem Kind (vgl. Kapitel 10.4.4): Sie hatten eine innere »Idee« von ihrem Kind. Mit der Geburt, der »Entbindung« des Kindes von seiner Mutter ist diese körperliche Symbiose von Frau und Ungeborenem beendet – das Kind kann berührt, angeschaut, gerochen und gesehen werden, wird zu einem konkreten Gegenüber, mit dessen Fehlbildungen sie aber auch direkt konfrontiert sind und Umgang finden müssen. Die im Rahmen der vorliegenden Studie befragten Frauen wünschen sich, ihr Kind nach der Geburt lebend kennenlernen zu können, bei manchen ist dies möglich, bei anderen nicht, manche Kinder werden lebend geboren, andere sterben vor oder während der Geburt. Die verbleibende Zeit, die die Frauen mit ihrem Kind haben, ist also sehr unterschiedlich. Manche der Kinder versterben bereits vor Beginn der Wehen, andere während der Geburt – die Frauen können ihr Kind nicht lebend kennenlernen, aber von seinem Körper Abschied nehmen. Bei manchen Frauen fallen Begegnung nach der Geburt und Sterben des Kindes zusammen, das Kind verstirbt innerhalb kurzer Zeit, weniger Minuten oder Stunden nach der Geburt. Bei anderen Frauen ist es so, dass ihr Kind noch einige Tage oder Wochen lebt, manchmal eine Art Alltag einkehrt und das Sterben von etwas Erwartetem zu etwas wird, das die Frauen manchmal verdrängen oder mit dem die Frauen nicht länger rechnen.
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Neben den Zeiträumen, die oben angeführt sind, gibt es weitere Rahmenbedingungen, die das Erleben von Begegnung und Abschied vom Kind beeinflussen. Wie die erste Begegnung mit dem Kind erfolgt, ist von den äußeren Rahmenbedingungen, vom Kontext abhängig. Vom Geburtsort, ob das Kind zu Hause oder im Krankenhaus geboren wird, von der Geburtsart, ob die Frau das Kind normal, spontan geboren hat oder ein Kaiserschnitt erfolgte, von der Versorgung des Kindes nach der Geburt, ob Körperkontakt von Mutter und Kind möglich ist oder das Kind zunächst medizinisch versorgt wird. Aber auch die von den Frauen wahrgenommen Atmosphäre des Geburtszimmers, ob vertraute oder fremde Personen anwesend sind, eine ruhige oder aufgeregte Stimmung im Geburtszimmer herrscht, sind weitere Einflussfaktoren. Diese Kontextbedingungen bilden den Rahmen, innerhalb dessen die Frauen die erste Begegnung mit ihrem Kind erleben und gestalten können. Dieser Rahmen kann Gestaltungs- und Zeiträume eröffnen oder einengen, steht in direktem Zusammenhang mit dem Ausmaß erlebter Sicherheit bzw. Unsicherheit. Die folgende Darstellung der ersten Begegnung dimensionalisiert die Aspekte dieser Begegnung in den Körperkontakt – das Spüren des Kindes, die Begegnung mit dem Anders-Sein des Kindes und den Umgang mit der Endlichkeit des Kindes. Körperkontakt – Spüren und Gespürt-Werden Im Zeitraum direkt nach der Geburt ist der Körperkontakt mit dem Kind eine wichtige Dimension der Begegnung mit dem Kind: Körperkontakt umfasst das Spüren des Kindes, Wahrnehmen seiner Lebendigkeit und Spüren von Verbundenheit mit dem Kind. Mit dem Körperkontakt sind darüber hinaus sorgende Aspekte verbunden: Das Kind wird gewärmt, das Kind wird geborgen im Arm gehalten. Wenn Kinder bereits verstorben sind, kann Körperkontakt eine Form des Abschieds darstellen und dazu beitragen, den Tod »begreifbar« machen. Mit dem Kind ein Miteinander zu erleben vor, während und nach der Geburt ist für viele der Frauen für die verbleibende Zeit mit ihrem Kind wichtig; Körperkontakt als Ausdruck von Geborgenheit wird von manchen Frauen als etwas erlebt, das sie ihrem Kind in den letzten Lebensmomenten noch geben können. Elkes Sohn wird in einem Geburtshaus in der Badewanne geboren, seine
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Fehlbildung ist ausgeprägt und führt zum Tod nach wenigen Minuten, sobald die Versorgung durch die Nabelschnur59 verebbt. So meint Elke: »Und (hustet) dann ham sie ihn mir auf den Bauch, so gut es ging, weil die Nabelschnur halt so kurz war. Und dann ham wir ihn halt immer schön nass gemacht mit Wasser und ihn halt schön zugedeckt, dass ihm nicht kalt wird und (jetzt ganz leise) ämm, da. Und er hat die Augen nie aufgemacht (…) nicht geschrien. Lag einfach schön da und hat geschlafen (…) Und also, ich wüsst jetzt nicht, ob er jetzt 20 Minuten gelebt hat oder eine halbe Stunde. Die ham immer meine / die (Name der Hebamme) hat immer geguckt, ob die Nabelschnur noch pulsiert und irgendwann hat sie dann halt nicht mehr pulsiert und des ham sie halt (…) aufgeschrieben (…) als Todeszeitpunkt.« (Int. 17b, 14–15)
Elke hält ihren Sohn im Arm, sein Körper liegt auf ihrem Bauch – Körper auf Körper –, im warmen Wasser. Geborgen im Arm der Mutter verläuft der Sterbeprozess fast unbemerkt, Elke erlebt ihren neugeborenen Sohn als schlafend, die Grenze zum Tod ist fließend. Körperkontakt als Ausdruck von Geborgenheit kann so für Frauen als eine Sterbebegleitung für ihr Kind erlebt werden, die ein »gutes Sterben« ermöglicht. Für die meisten der Frauen ist es unabhängig vom Geburtsort so, dass sie ihr Kind sofort nach der Geburt sehen und auch Körperkontakt haben können. Wie zentral dieser Wunsch nach Körperkontakt ist, zeigt sich beispielsweise daran, dass Frauen bei einem geplantem Kaiserschnitt ihr Kind zumindest für einen Augenblick in den Arm gelegt bekommen, oder auch darin, dass bei Frauen, die einen schriftlichen Geburtsplan vorbereiten, die Forderung nach Körperkontakt nach der Geburt ein Bestandteil ihrer Wünsche für die Zeit nach der Geburt ist. So spricht Maria bei der Aufnahme im Kreissaal der Geburtsklinik an, dass sie ihr Kind nach der Geburt auf jeden Fall sehen und auch halten möchte. Bei ihrem Sohn hat sich die Diagnosestellung im Schwangerschaftsverlauf von der Prognose eines Versterbens während der Geburt hin zu einer unklaren Diagnose entwickelt, bei der nicht klar ist, ob ihr Kind versterben wird oder mit den Fehlbildungen überleben kann. Maria: »Ich kann nur sagen, es war ne unkomplizierte, schnelle Geburt, wie gsagt, dann hat sie ihn auf die Brust uns legen lassen. Wie gsagt, die Kinderärztin war sehr nervös, die ist ständig um dieses Bett rumgsprungen, aber sie hat es akzeptiert und hat dann ihn ne Viertelstunde bei uns glassen. Er war dann plötzlich weg. Es hieß dann, die Sauerstoffsättigung wär net so gut und dann war er weg. Zwei Stunden war er auf Intensivstation, wir durften net rein und wir wussten auch net, was Sache ist. Also ich war dann alleine im Kreissaal und mein Mann stand vor der Intensiv und durft net rein.« (Int. 6, 81–83) 59 Nach der Geburt des Kindes pulsiert die Nabelschnur, wenn sie nicht durchtrennt wird noch bis zu 20 Minuten und versorgt bzw. unterstützt das Kind in dieser Zeit weiter.
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Maria kann ihren Sohn nach der Geburt eine Zeit lang halten, die Eltern sind mit dem Kind zusammen. Die Atmosphäre ist jedoch geprägt von der Unruhe und Nervosität der Kinderärztin. Dann wird ihr Sohn verlegt und Marias Erleben ist das eines plötzlichen Auseinanderreißens der Familie: Die Frau im Kreißsaal, der Vater vor der Intensivstation, das Kind in der Intensivstation. Die Eltern erhalten keine Informationen und sind unsicher über den Zustand des Kindes. Manchmal ist es auch der Vater des Kindes, der diesen ersten Körperkontakt übernimmt, wenn die Frau beispielsweise noch medizinisch versorgt werden muss. Das Erleben des Körperkontakts mit dem Kind nach der Geburt zeigt eine große Bandbreite: Gerade wenn Körperkontakt durch medizinische Eingriffe erst nach einiger Zeit möglich ist, empfinden Frauen es als seltsam, ihr Kind so lange nicht wahrnehmen zu können. Gleichzeitig gibt es aber auch Frauen, die nach der Geburt körperlich erschöpft sind und Zeit brauchen, zu sich zu kommen. Andere Frauen sind durch eine veränderte Diagnose in einer Art Schockzustand und brauchen Zeit, bis sie ihr Kind wieder »an-nehmen« können. Gerade bei Frauen, die einen Notfall-Kaiserschnitt erhalten, kann der Zeitraum, bis sie ihr Kind das erste Mal sehen und berühren können, lang dauern. Friederike: »Er kam so kurz vor, er kam um viertel vor elf auf die Welt. Ich hab ihn dann am, des war Sonntagabend, und Montagnachmittag bin ich dann in die Kinderklinik. Er lag ja dann auf der Intensiv und da hab ich ihn dann des erste Mal gesehen. Und, ja, des ist irgendwie komisch, wenn man aufwacht nach der Narkose und hat kein Kind.« (Int. 3, 61)
Für Friederike dauert es fast einen Tag, bis sie ihren Sohn auf der Intensivstation sieht. Die Situation, nach einer operativen Entbindung aufzuwachen und kein Kind zu haben, erlebt sie dabei als »komisch«. Aber auch Frauen, deren Kind nach der Geburt im Geburtszimmer/Kreißsaal versorgt wird, die ihr Kind also nur kurze Zeit nicht im Blickfeld haben, können es als Belastung erleben, wenn sie ihr Kind nicht sofort sehen und berühren können. Annes Sohn wird nach der Geburt zunächst von Kinderärzten versorgt: »Und danach haben se ihn kurz untersucht, also nur ein paar Schritte von mir entfernt und da hab ich furchtbar geweint und hab immer gsagt: ›Wird er jetzt sterben‹ oder ›Stirbt er jetzt?‹« (Int. 1, 107)
Die Momente nach der Geburt sind für Anne geprägt von der Ungewissheit über das Sterben und den Sterbezeitpunkt ihres Kindes. Diese Ungewissheit wird dadurch verstärkt, dass sie ihr Kind nicht sehen kann, die Versorgung außerhalb ihres Blickfeldes stattfindet und sie nicht weiß, was passieren wird. Mit dem Erleben von Sicherheit bzw. Ungewissheit steht das Ausmaß der erlebten Ein-
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gebundenheit in das Geschehen in direktem Zusammenhang. Bei Anne ist es das Fehlen des visuellen Überblicks und der Information durch die Betreuungspersonen – sie hat keine Verbindung zu ihrem Kind. Im Gegensatz dazu gibt direkter Körperkontakt mit dem Kind durch die unmittelbare Wahrnehmung Sicherheit und macht das Kind real. Eine Dimension der Kategorie »Körperkontakt« ist das Zeit brauchen bis zum »An-nehmen« des Kindes: Manche Frauen sind in einer Art erneutem Schock durch eine Diagnoseänderung, andere sind körperlich zu erschöpft, um ihr Kind sofort begrüßen zu können. Zoey : »Also ich wusste, dass sie lebt, aber des war irgendwie nicht so: ›Mein Kind is endlich da, ich muss sie jetzt an mich drücken.‹ Des war irgendwie, ich war einfach völlig fertig. Und dann aber, als ich sie an meine Seite gelegt bekommen hat, ämm, war ich schon froh auf jeden Fall und hab mich dann / hab sie dann angeguckt, war natürlich total süß. Ist ja ein Baby.« (Int. 11, 109)
Zoey beschreibt ihren Zustand als »völlig fertig«, das erwartete Gefühl des »Ich muss es jetzt an mich drücken.« stellt sich nicht ein – ihre Tochter wird neben sie gelegt, es findet zunächst kein direkter Körperkontakt zwischen Mutter und Kind statt. Zoey schaut das Neugeborene mit einer gewissen Distanz an, es ist »ein Baby«, während sie vorher von der erwarteten Reaktion »Mein Kind is da.« spricht. Ist das Kind vor oder während der Geburt verstorben, ist das Begreifen seines Todes ein Aspekt der ersten Begegnung mit dem Kind. Körperkontakt und das Spüren des Kindes sind Aspekte dieses Begreifens. : »Es kommt aber immer irgendso / warte / kommt vielleicht doch irgendwas, schreit da was oder / ne / so dieses. (…) Und dann ham se mir (Name der Tochter) gleich in Arm gegeben / ne / wo ich so im ersten Moment dachte, sie lebt. Ne. (…) War wahrscheinlich jetze in dem Moment ne Einbildung. Ich weess, dass ich meen Gesicht ganz nah drangehalten hab / so / ämm, wo ich dachte, ämm, du musst ja merken, ob ein Atemzug kommt. Das kriegste ja mit. Wo ich so für die ersten Sekunden gedacht hab, ja, da is was. (…) Was aber dann nich war, ne. Da war nix mehr.« (Int. 12, 173)
Saskia erlebt das Halten ihrer Tochter direkt nach der Geburt als etwas, das zwischen Tod und Leben liegt, sie horcht nach dem Atem des Kindes, der nicht da ist, hofft darauf, etwas wahrnehmen zu können. Der Tod ist ihr zunächst unbegreiflich. Sie hofft noch einen Moment, dass da doch etwas sein könnte. Kontakt haben und den Körper des Kindes spüren, zeigen sich hier als wichtige Aspekte für das Abschiednehmen. Die Körperwärme des verstorbenen Kindes ist eine weitere Dimension der Kategorie »Körper« spüren. Dabei spielt der Zeitpunkt, zu dem die Frauen nach der Geburt ihre Kinder in den Arm gelegt bekommen, eine wichtige Rolle. Inken:
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»Irgendwie hat es dann wohl fast 20 Minuten gedauert, bis ich ihn dann gekriegt hab. (…) Und irgendwie, das muss ich sagen, das war mir irgendwie zu lang. Die hatten ihn dann schon (…) schon fertig gemacht und / was heißt fertig gemacht / aber ich hab ihn halt dann schon mit Mützchen / das hat ich aber schon gesacht, also erst möchte ich ihn mit Mützchen haben. Also es hat dann schon ne Zeit lang gedauert, bis ich ihn dann halt bekommen hab und (…) so im Nachhinein hätt ich es mir gewünscht, es wär schneller gegangen, dass er dann auch noch (…) noch wärmer irgendwo vielleicht dann noch gewesen wäre.« (Int. 14, 41)
Inken wünscht sich im Nachhinein, dass sie ihr Kind sehr rasch auf den Bauch bekommen hätte, seinen Körper noch als warm wahrgenommen hätte. Es geht hier also auch um den körperlichen-haptischen Abschied, das Kennenlernen des Kindes als »warm«, wenn schon nicht lebendig, so doch zumindest mit der Eigenschaft »Körperwärme«, die der Kälte eines toten Körpers entgegengesetzt werden kann und somit einen Rest Normalität verkörpert. Auch für die Taufe, die Inken noch im Kreißsaal durchführen lässt, spielt die Körperwärme des verstorbenen Kindes eine zentrale Rolle: Ein noch warmes Kind kann getauft werden, ein »kaltes« Kind hingegen würde der Pastor der Familie nur noch segnen: »Er würde das halt auch noch so machen, so hätte er das auch noch gelernt (…) solang der Körper warm ist, darf er den auch taufen. Also normalerweise werden die Kinder ja nur noch / was heißt nur / gesegnet halt und nicht getauft.« (Int. 14, 41)
Die Körper der Kinder, die bereits einige Zeit vor der Geburt verstorben waren, sehen verändert aus: Zu möglichen Fehlbildungen kommen Veränderungen der Haut und der Körperspannung hinzu. Die Frauen müssen einen Umgang mit diesen Körperveränderungen schaffen. Manche Frauen finden einen Umgang damit, indem sie das Kind als getrennt von seiner Körperlichkeit definieren (s. dazu weiter unten: der Körper des Kindes als Hülle). Gerade wenn ein Kind schon länger vor der Geburt verstorben ist, nehmen manche Frauen daher Körperkontakt nicht als die für sie stimmige Form des Abschiednehmens wahr. Johanna: »Also, und ich war auch am Anfang geschockt. Ich war wirklich geschockt, weil die sah (…) ich sag mir, im Prinzip hat sich des schon bewahrheitet und die Hebamme hat au gsagt, dafür dass sie erst fünf Tage tot ist / sie sah eigentlich aus wie ein Kind, wo zwei Wochen tot ist und dadurch, dass sie au so zart ist, ging halt wahrscheinlich auch der Verfall schneller. Dann hab ich sie, ich hab sie auf ein Blech oder auf ein Handtuch / sie war dann eben von der Waage auf ein Blech, hab ich sie da ghabt. Aber mir wars dann / eben / ich konnt nicht. Des konnt ich dann nicht, weil sie hat mich einfach so brutal erschrocken. Und dann ham mer ein Kerzle angezündet und ja, (…)« (Int. 5, 139)
Johanna ist »brutal erschrocken« über das Aussehen ihrer Tochter. Kurz hält sie ihre Tochter nach der Geburt im Arm, aber »ich konnt nicht«, das Aussehen und
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die Veränderungen des Körpers überfordern sie zunächst. Johannas Tochter wird aufgebahrt, eine Kerze angezündet. Begegnung mit der Andersartigkeit des Kindes Die Angst vor dem Anblick des Kindes, die Angst ihr Kind nicht annehmen zu können aufgrund der Fehlbildungen, seines veränderten Aussehens begleitet einige der Frauen durch die Schwangerschaft. Für viele ist die Andersartigkeit ihres Kindes bereits nach der Diagnose und in der Schwangerschaft ein Thema, mit dem sie sich auseinandersetzen und sie bereiten sich auf die erste Begegnung, das erste Sehen vor. Bei ausgeprägten körperlichen Fehlbildungen sprechen manche Frauen mit den Betreuungspersonen das Vorgehen nach der Geburt ab. Unterschiedliche Strategien wie etwa, dass Fehlbildung zunächst oder generell überdeckt werden sollen, haben für die Frauen unterschiedliche Hintergründe. Das Abwägen der eigenen Belastbarkeit ist ein Beweggrund, die Fehlbildung nicht sehen zu wollen. Ein weiterer kann sein, die »Würde des Kindes« bewahren zu wollen. Saskia: »Ich konnte mir auch den Kopf nicht angucken. Des hab ich so gedacht, des ist vielleicht entwürdigend für dich (…) war so mein Ding, was ich gesagt hab, ne, ich muss mir nich das angucken was so schlimm ist. Wer guckt sich schon unbedingt ne Wunde an.« I: »Hattet ihr ein Mützchen?« »Hatten wir gleich gemacht. Ich hab se eigentlich nur beim Baden ohne gesehen, ne. (…) Und ich sach mal jetz mal so vom Bild, wenn ich ebent (Name der Tochter) seh, seh ich sie nie ohne. (…) Ne. Das war, der Moment Baden war so kurz, dass es ebent ausgeblendet ist. Hinterher fand ich es für sie entwürdigend, wenn ich nachgeguckt hätte. Ja. (…) Macht mer ja eigentlich nich in des, das was dir wehtut, oder des, was dich so ein bisschen entstellt, dass man da immer wieder draufguckt, ne.« (Int. 12, 223–225)
Saskia möchte ihre Tochter als normales Baby sehen, die Fehlbildung ausblenden – zum eigenen Schutz, um sich nicht noch mehr zu belasten. Dadurch, dass Saskia sich die Fehlbildung nicht anschaut, sie nur einen kurzen Moment – beim Baden des Neugeborenen – sieht, behält sie das Bild ihres Kindes als unversehrt, als ihre Tochter und nicht die Fehlbildung in Erinnerung. Sie versucht, die Fehlbildung zu einem Attribut und nicht zu einer Haupteigenschaft ihres Kindes zu machen. Dabei geht es Saskia um die bewusste Konstruktion von Erinnerung, eine bewusste Konstruktion des Bildes, das bleibt. Dieses bewusste Nicht-Hinschauen ist für Saskia darüber hinaus aber auch Ausdruck von Respekt und Liebe gegenüber ihrem Kind, dass sie auf das, was »entstellt« oder »wehtut« nicht »immer wieder draufguckt«. Dieses Schauen auf die Fehlbildung empfindet Saskia als »entwürdigend« für ihre Tochter. Andere Frauen wollen die Fehlbildung genau anschauen, sind interessiert an den anatomischen Details und Ausprägungen. Harriet:
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»Und ich war irgendwie so ziemlich (…) nüchtern. Ich hätt auch gerne / man konnte ja das Gehirn sehen und ich hätte gerne, dass jemand das erklärt hätte. (…) Und ich hätt schon gern gewusst, was ich da sehe. Und ob das jetzt irgendwie ein verschrumpeltes Großhirn ist oder ob das Großhirn fehlt, und was das denn dann ist, das sah auch nicht nach Kleinhirn aus. Ich dachte mir, wenn ich jetzt die Ärzte frage und um ne Erklärung noch mal bitte, was ich da sehe, die brechen mir zusammen. Das passt irgendwie nicht ins Setting hier so. Man muss irgendwo furchtbar betroffen sein, aber Fragen darf man nicht stellen. Aber wenn mich jemand gefragt hätte, welchen Wunsch ich hätte, offen gehabt hätte, dass mir mal einer erklärt, was ich da sehe. Das hätt mich schon irgendwie (…) wirklich interessiert, das einfach zu wissen, wie viel von dem Gehirn jetzt wirklich zersetzt ist oder was nicht angelegt ist, was durch das Fruchtwasser geschädigt ist. Das hätt ich schon gerne gewusst.« (Int. 13, 78)
Harriet möchte eigentlich alles über die Fehlbildung wissen, sieht sie sich genau an. Sie möchte verstehen, zuordnen, das, was hier geschieht und Ursache ist, erkennen. Das ist vielleicht das, was das Kind ihr geben kann. Verstehen, was da passiert ist und was die Gründe sind. Nicht wegschauen, sondern annehmen und sich auseinandersetzen. Offensichtlich meint Harriet jedoch, dass die Betreuungspersonen nicht mit Distanz von Seiten der Mutter rechnen und nicht damit umgehen können – dem distanzierten Blick, der Interesse bekunden kann. Harriet ist an den Vorgängen interessiert – für mich eine Art Wertschätzung. Die für sie wichtigen Fragen stellt sie jedoch nicht, möchte die Betreuungspersonen nicht überfordern. Harriet nimmt an, dass die Betreuungspersonen mit einem erwarteten Verhalten – dem der Betroffenheit der Mutter – umgehen können, aber nüchternes Interesse und Fragen nach anatomischen Details gehören nicht zum erwarteten Verhalten einer Mutter, es geht um Rollenerwartungen, die sie antizipiert: »Man muss irgendwo furchtbar betroffen sein, aber Fragen darf man nicht stellen.« (Int. 13, 78) Manche Frauen versuchen bereits, in der Schwangerschaft den Umgang mit den Fehlbildungen des Kindes vorzubereiten. Das Antizipieren des Schlimmstmöglichen ist eine Strategie. Anne erzählt über den Moment als sie ihren Sohn das erste Mal auf dem Arm gehalten hat: »Da war ich erst mal erleichtert, dass er doch nicht so schlimm aussah. Aber vielleicht hat ich ja auch schlimme Bilder gesehen, also des / die nur ein Auge hatten. Und er hatte keine Kiefern und Gaumenspalte, sondern nur normal, Mund, Nase und zwei Augenfalten. Also er hatte keine Augen. Und da war ich erst mal total erleichtert. Allerdings hat er doch dann so einen Blutstau, also der ganze Kopf war ganz blau von der Geburt halt. Deswegen hat er schon sehr komisch ausgeschaut. Hat auch einen ganz kleinen Kopf, des hat auch in meine Handfläche gepasst eigentlich. Und (…) ja sonst, er hatte keine Daumen, aber sonst war da eigentlich so alles. Immerhin zwei Hände und zwei
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Füße und, ja es war nicht so schlimm wie ich befürchtet hatte, da war ich erleichtert.« (Int. 1, 123–124)
Nach der Geburt, beim ersten Betrachten des Neugeborenen, empfinden viele der Frauen wie Anne Erleichterung, dass das Aussehen ihres Kindes nicht diesen schlimmsten Erwartungen entspricht. Ihr Blick richtet sich auf das, was normal ist, bei Anne auf den Mund, die Nase, Hände und Füße. Dabei sind für Anne die Bilder, die sie im Vorfeld gesehen hat und die sie als schlimm empfand, das, auf was sie sich bezieht: nicht nur ein Auge wie auf diesen Bildern, sondern zwei Augenfalten. So zeigen mir auch viele der Frauen Fotos ihrer verstorbenen Kinder und weisen dabei auf Körperaspekte hin, die sie als »süß« oder »schön« wahrnehmen. So zeigt mir Anita die Fotos ihres Sohnes, der eine Schädelfehlbildung hat und weist auf die »schönen, großen Füße« hin. Bei manchen Kindern sind die Fehlbildungen, die zum Tod führen, auf den ersten Blick nicht sichtbar. Manche Frauen nehmen ihr Kind als »anders« wahr, das Bild, das sie von ihrem Kind haben, ist aber das eines »süßen, hübschen« Babys. Der drohende Tod scheint schwer zu glauben. Karin: »Und es war dann auch so, es war auch erst mal ganz große Freude da drüber, dass er geboren ist, er war ein süßes und hübsches Kind. Und des ist ja dann auch was ganz Unbegreifliches, man hält ihn so im Arm und hab gedacht, ja, ich merk schon, dass du anders bist, du bist so klein und zart und keine Körperspannung, aber ich kann es immer noch nicht glauben. Es ist alles dran und es ist immer noch perfekt für mich, so ein Wesen in Arm zu halten. So krank er war, so perfekt war er für mich.« (Int. 9, 46)
Karin betont, dass ihr Sohn anders aussieht, gleichzeitig sieht sie ihn als klein und zart, der Körper erscheint unversehrt, aber die inneren Organe sind durch das Syndrom schwer geschädigt. Lilly sieht es als Glück, dass ihre Tochter »süß« ist, weil sie annimmt, dass so auch ihr Umfeld besser mit ihrer Tochter umgehen kann: »Wir hatten Glück. Sie war wie aus Zucker. Die war zuckersüß. Also ein ganz süßes Püppchen, wie mit einem Pinsel gemalt. Also sie war so hübsch einfach nur wirklich, dass alle so die vorbeigekommen sind, ›Was ein schönes Kind, unglaublich.‹ einfach nur. Also das war schon schön, das hat es leichter gemacht, weil viele ja auch so positiv auf sie reagierten. Die reagieren natürlich positiv auf ein Kind, das total hübsch ist als auf eins, das einfach entstellt ist, wo man sich einfach erschreckt dann auch, ne.« (Int. 15, 90)
Lilly stellt das Bild des süßen Kindes, auf das das Umfeld positiv reagiert, dem Bild eines entstellten Kindes entgegen, das Erschrecken hervorruft. Für sich erlebt sie die positiven Reaktionen auf ihre Tochter als etwas, was ihr selbst den Umgang mit der Situation erleichtert.
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Umgang mit der Endlichkeit Neben dem Spüren von Verbundenheit mit dem Kind oder dem Umgang mit den Fehlbildungen des Kindes ist die Begegnung mit dem Körper des Kindes auch eine Konfrontation mit seiner Endlichkeit. Ursel erzählt: »Da ham mer Fotos gemacht. Eigentlich bin ich schon sehr erschrocken, dass die (Anm.: die Füße) so verdreht war. Wobei die (Name der Hebamme) so gsagt hat, des is bei Neugeborenen oft so. Aber ich hab nur gedacht, des schaut schlimm aus, einfach schlimm. Also dass man die Behinderung einfach auch so sieht. Der sechste Finger hat mir jetzt nix so ausgemacht, aber des Verdrehte einfach (…) (ganz leise) Da ham mer auch geweint über die Füße (…) Au die Vorstellung, sie wird nie laufen lernen kann, einfach so, sie wird nie diesen Entwicklungsschub machen oder nie diesen (…) oder diese Füße werden nie die Sonne sehen.« (Int. 20, 300–302)
So trauert Ursel über die Fehlbildung ihrer Tochter, darüber, dass diese einen Körper hat, der nicht heil oder vollständig ist. Ursel trauert aber auch um die fehlende Zukunft für ihre Tochter und das, was sie nicht mit diesem Kind erleben können wird. Der Blick auf die Endlichkeit des Kindes ist, wie sich bei Ursel zeigt, eine Konfrontation mit der eigenen Zukunft ohne dieses Kind. Mit dieser Endlichkeit der Existenz des Kindes beschäftigen sich die Frauen bereits mit der Entscheidungsfindung nach der Diagnose – und doch ist die Dimension nach der Geburt unmittelbarer: Der Körper des Kindes ist greifbar, seine Lebendigkeit und Wärme wird gespürt, seine Bewegungen wahrgenommen. Manche Frauen, deren Kinder bereits einige Zeit vor der Geburt verstorben sind, müssen aber hingegen einen Umgang mit dem veränderten Körper des Kindes finden. Dabei sind Reaktion und Erklärungen des Umfelds wichtige Einflussfaktoren für den eigenen Umgang und den eigenen Blick aufs Kind. Auch spirituelle Erklärungsmodelle, die über die Körperlichkeit des Kindes hinausreichen, können von manchen Frauen als hilfreiche Bilder verstanden werden. Johanna: »Und dann hat sie (Anm.: die Klinikärztin) mich so gfragt: ›Und wie ist es für Sie, wie wirkt sie auf Se?‹ Dann hab ich gsagt: ›Oh, also ehrlich, ich bin total geschockt, die erschreckt mich.‹ und ich hab / ja. (…) Und dann hat sie gsagt: ›Des, was Sie hier sehen, dass ist nur der Raumanzug. Jeder von uns Menschen hat einen Raumanzug geschenkt bekommen, in dem wir auf die Erde kommen. Aber wie es in dem Menschen aussieht innendrin, des ist immer ganz anders. Schauen Sie, sie liegen jetzt auch so vor mir, aber Sie sind ein ganz anderer Mensch innerlich und Sie ham ganz tolle innere Werte, die man jetzt so nicht sieht auf den ersten Blick. Denken Sie einfach, Ihr Kind hat einfach a weng einen anderen Raumanzug bekommen.‹ Und des hat mir dann / diese Erklärung hat mir dann au wieder gholfen, sie eigentlich hübsch zu sehen oder auch die ganzen Leute, wo da waren ham gsagt, ist des eine hübsche Püppi. Gut, die ham die angezogen gesehen, des ist auch noch mal ein bisschen was anderes. Dadurch, dass die alle kommen sind und alle gsagt ham, die schaut so friedlich aus und die schaut so lieb aus,
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hat mir des au wieder gholfen, einfach diesen Anblick / gut, wenn es auf die anderen nicht so wirkt, wieso soll es dann auf mich so wirken.« (Int. 5, 152–157)
Während Johanna zunächst erschrocken auf das Aussehen ihrer Tochter reagiert findet sie über das Deutungsangebot der Ärztin im weiteren Verlauf zu einem neuen Blick auf ihr Kind. Es wird getrennt zwischen Eigentlichem/Wesen und Erscheinungsbild. Das Eigentliche ist dasjenige, was unberührt vollständig bleibt und das Äußere, die Erscheinung kann Schaden nehmen. Die Ärztin lenkt den Blick weg von den Fehlbildungen und dem für Johanna erschreckenden körperlichen Verfall auf das, was einen Menschen jenseits der Körperlichkeit ausmacht, spricht von »jeder von uns Menschen« und stellt so sich, die Frau und das verstorbene Kind auf eine verbindende Ebene, das Menschsein. Das Kind wird zu einem von uns; nur der »Raumanzug«, die Hülle ist fehlerhaft und nur diese Hülle ist das, was das Kind von anderen Menschen unterscheidet. Das eigentliche Kind, die Essenz seiner Existenz wird als abgetrennt von seinem irdischen Körper gesehen. Wie Johanna nehmen auch andere Frauen das Mensch-Sein als etwas wahr, das über die körperliche Existenz hinausreicht. Dorothee verwendet den Ausdruck »Seele« und nimmt diese als über den Tod hinaus weiterexistierend wahr : »Ja. Und als dann am Tag drauf, als es dann hell wurde, da hab ich (…) da hatten wir beide so das Gefühl, jetzt ist sie eigentlich nur, ämm, noch ein Körper. Also die Seele hatte, also man hatte wirklich so das Gefühl, die Seele löst sich jetzt vom Körper und sie schwirrt jetzt grade hier im Zimmer herum, in diesem Kreißsaal. Und ich hab dann zum (Name des Partners) gesagt: ›Komm, jetzt lass uns das Fenster aufmachen. Und dann darf sie dort hin reisen, wo sie gerne hinreisen möchte.‹ Und es war auch grade so ein wunderschöner Morgen und die Sonne schien. Und dann ham wir das Fenster aufgemacht und dann war das genauso, wie wir uns des / also / ja / man hat also / man hört des ja immer, dass das bei den (unverständliches Wort) so ist, aber des war genau so, ja. Die Seele war wirklich aus diesem Körper raus und war um uns herum, ja. Ja.« (Int. 16, 60)
Dorothee und ihr Partner können ihr verstorbenes Kind noch 24 Stunden bei sich haben, verbringen diese Zeit gemeinsam mit ihrem verstorbenen Kind, liegen zusammen im Bett. Einige Stunden nach dem Tod ihrer Tochter nimmt Dorothee das Loslösen der Seele ihres verstorbenen Kindes wahr. In Dorothees Erzählung scheint die Unsterblichkeit der Seele durch: Das, was das Kind ausmacht, ist nicht tot, sondern lebendig. Diese Seele ist für Dorothee nicht nur eine Idee oder ein Gedankenkonstrukt, sondern für sie etwas konkret Wahrnehmbares, sie spürt sie »um uns herum«. Die Seele des Kindes löst sich vom Körper und reist, wohin sie möchte. Dieses Bild einer Seele, die über den körperlichen Tod hinaus weiterexistiert, kann als tröstendes Erklärungsmodell für den Tod des Kindes wirken. Gleichzeitig er-
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möglicht dieses Bild mit dem Öffnen des Fensters auch ein bewusstes Loslassen, Freilassen des Kindes. Spirituelle Erklärungsmodelle können somit auch dazu dienen, einen Sinn im frühen Verlust des Kindes zu suchen. Ursel: »Also vor allem, wo ich mir immer so denk, warum bleiben die so lang bei mir. Viele ham halt ein Abgang in der 9. oder 12. Woche oder so was. Und bei mir bleiben die alle 40 Wochen. Also des machts einfach schwieriger, weil die Bindung einfach länger ist (…) Und da sagen halt die Anthroposophen auch einiges dazu. Also ich hab wirklich gedacht, oft hab ich so des Bild ghabt, ich bin so des Tor, was in die Welt geht, also einerseits in unsere Welt, die hier da is, und andererseits in die andere Welt. Und ich bin eigentlich nix anderes als a Tor. Warum auch immer (…)« (Int. 20, 292)
Mit diesem anthroposophischen Erklärungsmodell schreibt Ursel sowohl der Existenz des Kindes einen höheren Sinn zu – es ist auf der Durchreise in eine andere Welt, als auch sich selbst, indem sie sich als Tor in die Welt hier, aber auch in »die andere Welt« sieht. Ähnlichkeiten finden sich auf der Geburtskarte einer der Frauen im Trauerspruch: »Geboren, um bei Gott zu leben« – eine Geburt, die mit dem Tod des Kindes zusammenfällt, wird als Übergang gesehen, der direkt in eine andere Existenz, Welt, zu Gott führt, ohne den Weg der irdischen Existenz dazwischen. Johanna hat zudem die Vorstellung, dass ihre Tochter weiterwirkt, ein Schutzengel für die Familie ist: »Des sind so Sachen, wo ich einfach sag, des hat die Schwangerschaft, die hat soviel, wie sie gemacht hat und die Fäden gezogen hat, da hab ich gesagt, dürftest du gar kein so kleines Kind sein, müsstest ein Riesenbauarbeiter sein. Auch jetzt, was sie da oben im Himmel macht. Ich schon gesagt, du musst ein ganz ein guter Schutzengel sein für deine Nichten und Neffen und Tanten und Onkels. Ich erwarte einiges an dich und ich hoffe, dass ich dir einiges mitgegeben hab, dass du deine Arbeit gut erfüllen tust.« (Int. 5, 175)
Johanna hat das Bild ihrer Tochter »im Himmel«, sieht ihre Aufgabe im Beschützen von Familienmitgliedern und fordert diese Hilfe auch ein: Wenn das Kind so früh gestorben ist, dann soll es jetzt seine Aufgabe erfüllen. Es gibt Frauen, die keine religiöse Bindung haben und für die der Tod des Kindes endgültig ist, die diese fehlenden Sinnkonzepte als belastend wahrnehmen. Zoey spricht im Folgenden über die unterschiedlichen Sinnkonzepte von sich und ihrem Partner : »Ne, wir untereinander, (Name des Partners) und ich. Also weil es für mich irgendwie furchtbarer zu sein schien / also ne, vielleicht kann man es so nicht ausdrücken, aber für mich war es endgültiger als für ihn. Er denkt halt, dass es da irgendwie noch seelisch weitergeht und für mich ist es dann Ende. Also da (…) für mich gibt es da nichts mehr.« (Int. 11, 126)
Zoey empfindet, dass für sie fehlende spirituelle oder religiöse Sinnkonzepte den Abschied von ihrer Tochter schwieriger machen, da der Tod für sie »endgültiger«
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ist, weil »dann Ende« ist. Sie hat nicht die Vorstellung, dass ihre Tochter in irgendeiner Form weiterexistiert und sieht sich durch diese Vorstellung mit einem »furchtbareren« Verlust konfrontiert als ihr Partner, der an eine Weiterexistenz in irgendeiner Form glaubt. 10.6.2 Das Kind als Person Die Kategorie »Kind als Person« umfasst die Zuschreibungen von Persönlichkeitsmerkmalen, Bewusstsein und Handlungsfähigkeit an das Kind und ist eng verwoben mit der oben beschriebenen Kategorie »Umgang mit Endlichkeit«, den Sinnzuschreibungen, die der verkürzten Lebenszeit des Kindes gegeben werden. Sie ist die Grundlage für Bindungsaufbau und Bindungsgestaltung und macht im Ergebnis das Mutter-Werden real. Viele der Frauen schreiben den Kindern Persönlichkeitsmerkmale und ein bewusstes Handeln zu, erleben, dass ihr Kind sich verabschiedet, den Sterbezeitpunkt wählt, schreiben ihm einen Willen zu. Mit diesen Zuschreibungen konstruieren sie das Kind als Person mit Persönlichkeitsmerkmalen, als ein Gegenüber. Anne sagt rückblickend auf die Zeit mit ihrem Sohn: »Aber im Nachhinein merk ich, oder bin ich einfach froh, dass ich ihn kennengelernt hab oder dass ich viel gelernt hab, denk ich, und weil er, ich fand, er hatte dann so ne Präsenz und auch Persönlichkeit und ich bin froh, dass ich des erfahren hab.« (Int. 1, 176)
Annes Sohn überlebt unerwartet längere Zeit und stirbt nach zehn Monaten, in denen Anne ihn zu Hause bei sich hat. In der Lebenszeit ihres Sohnes kann Anne daher nach und nach eine Bindung zu ihm aufbauen, nimmt ihn immer mehr als Persönlichkeit wahr. Bindungsentwicklung Viele der Frauen empfinden bereits in der Schwangerschaft eine Verbundenheit zu ihrem Kind, die durch Liebe und Zuneigung geprägt ist (vgl. Kapitel 10.4.4). Nach der Geburt geht es darum, diese Bindung weiterzuentwickeln, zum geborenen Kind als Gegenüber. Diese Konstruktion des Kindes als Gegenüber mit eigener Persönlichkeit steht in engem Zusammenhang mit der Bindungsentwicklung. Diese Bindungsentwicklung zum Kind kann bei manchen Frauen prozessartig verlaufen, wie an der folgenden Darstellung von Annes Bindungsentwicklung zu ihrem Sohn verdeutlicht wird. Eine Vielzahl komplexer Bedingungen steht in engem Zusammenhang mit dieser, an deren Ende bei Anne ein Verständnis ihres Sohnes als Kind mit »Präsenz und Persönlichkeit« steht. Für das Zulassen-Können von Bindung kann das Ausmaß an Gefühl von
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Sicherheit bzw. Unsicherheit und Ungewissheit ein wichtiger Einflussfaktor sein. So zeigt sich beim unerwarteten Überleben eines Kindes – wie es bei Anne der Fall ist –, dass die Erwartung und Angst davor, das Kind könne jeden Moment versterben, dazu führen können, dass eine Bindung zunächst vermieden wird. Bei manchen Frauen ist es daher eine langsame, prozessartige Entwicklung, bis sie die Bindung zu ihrem Kind aufbauen können. Anne: »Die ersten Monate mit ihm / also er war mir schon fremd und es hat Monate gedauert, bis ich dann auch aufgehört hab, mit seinem baldigen Tod zu rechnen, weil irgendwie es war dann wie, ja wie in der nächsten Sekunde, der Herzfehler oder was weiß ich, was da nicht funktionieren kann, und des diese ständige Präsenz und dieses Warten auf den Tod hats mir dann sehr schwierig gemacht. Ich empfand des immer als sehr konträr, einerseits mich binden, okay, aber andererseits jeden Moment auch loslassen. Und des hab ich in den ersten Monaten nicht bewältigt. Ich denk, dann war ich eher immer bereit ihn loszulassen. Und klar wär des schmerzhaft gewesen, aber in vielen Momenten wärs mir dann lieber gewesen als dieser Hängezustand, dieses Warten.« (Int. 1, 144–145)
Anne empfindet zunächst Fremdheit – ihr Kind sieht fremd aus, hat keine Augen. Aber sie rechnet auch mit dem Tod des Kindes, mit dem unvermeidlichen Abschied. Die belastende Situation, jeden Moment mit dem Tod des Kindes rechnen zu müssen, kann eine Umgangsstrategie des Bindung-gering-haltenWollens nach sich ziehen. »einerseits mich binden, andererseits jederzeit loslassen«. Hier geht es also zum einen um das Aushalten der Ungewissheit, nicht zu wissen, wann das Kind sterben wird, aber auch darum, Umgang mit der Angst vor dem drohenden Verlust des Kindes zu finden. Für Anne verändert sich die Bindung zu ihrem Sohn, als das drohende Sterben für sie immer unwahrscheinlicher wird. Die Organisation des Alltags und Fragen, die sich auf diese Organisation beziehen, nehmen immer mehr Raum ein: »Wichtig war dann, dass er alleine trinken konnte, weil da / er war auch nicht sehr aktiv, hat sich nicht sehr bewegt, also spontan ganz ganz selten und konnt auch nicht so Kontakt aufnehmen, dadurch dass er keine Augen hatte und dann hat er schon so ein bisschen vor sich hingedämmert den ganzen Tag und da hat er dann auch so Appetit gezeigt und Hunger und Lebenswillen. Da hat ich dann nicht mehr das Gefühl, ich ernähr da ein völlig passives Kind einfach, amm, ich ernähr ihn künstlich, also des war schon ein großer Schritt und dann glaub ich, dass ich dann aufgehört hab, mit seinem Tod zu rechnen.« (Int. 1, 146)
Anne hat zwischenzeitlich das Gefühl »ein passives Kind« zu ernähren. Bindung zu ihrem Sohn kann sie aufbauen, als sie Zeichen von »Lebenswillen« erkennt: Hunger, Appetit. Mutter-Sein zeigt sich hier als Sorgen für ein Lebewesen. Dabei spielt auch die Wahrnehmung von Interaktion mit dem Kind eine wichtige Rolle: So erzählt Anne über die Wahrnehmung der Kommunikation zu ihrem Sohn:
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»Also den Kopf konnt er so bewegen. Er hat immer versucht, die Augen aufzumachen, also er war aufmerksam. Wir ham dann nach einiger Zeit auch gmerkt, dass er doch hören kann, was nicht klar war. Am Anfang wusst ich überhaupt nicht, was er wahrnimmt, also ob er mich überhaupt / ob er mich riechen kann, ob er auf dieser instinktiven Ebene weiß dass ich seine Mutter bin, wie andere Kinder des auch. Des hat sich mit der Zeit erst entwickelt, dass er reagiert hat, dass er länger wach war, dass man auch mit ihm singen konnte, seine Hände bewegen.« (Int. 1, 148–149)
Hier wird deutlich, dass Mutter-Sein einen Gegenüber braucht. Elementare zentrale Fragen für Anne sind: Will mein Kind leben? Nimmt es seine Umwelt wahr? Kann es mich als Mutter wahrnehmen? Kann mein Kind mit der Umwelt Kontakt aufnehmen? Während manche Frauen, deren Kinder schwere geistige Behinderungen haben, diese Fragen bereits mit der Entscheidung überdenken, wird für andere Frauen diese Frage drängend, wenn ihr Kind entgegen der Prognose einen längeren Zeitraum überlebt. Zunächst nimmt Anne ihren Sohn als »dahindämmernd« wahr – sie weiß nicht, ob und was er in seiner Umgebung wahrnehmen kann, ob er sie als seine Mutter sinnlich wahrnehmen kann, ob er zumindest »instinktiv weiß, dass ich seine Mutter bin«. Da ihr Sohn eine Fehlbildung der Augen hat, ist es ihr sehr wichtig, nach einigen Wochen festzustellen, dass ihr Sohn diese Augen öffnen will und dass er offenbar hören kann. Auch die Wahrnehmung von der Kontaktfähigkeit ihres Sohnes, das in Kontakt gehen mit ihm über Singen und Berührung sind für Anne wichtig. Es zeigt sich aber auch, dass Bindung die Bereitschaft zu dieser Bindung braucht. Bindung entsteht aus dem eigenen Sehen, Hören, Fühlen, dem Gefühl von Notwendigkeit oder Sicherheit. Zusammenfassend sind die Subkategorien von Bindung der Umgang mit der eigenen Angst vor Bindung und Verlust, die Wahrnehmung des Kindes als passiv versus als Person mit Lebenswillensäußerungen, die Wahrnehmung der Interaktion mit und der Kontaktfähigkeit des Kindes.
Anerkennung des Kindes durch das Betreuungssystem Die Frauen nehmen nach der Geburt den Umgang der Betreuungspersonen mit ihrem Kind genau wahr. Viele Frauen sind froh über Gesten der Anteilnahme und Anerkennung für ihr Kind durch das Betreuungssystem. Dies kann die respektvolle Behandlung des toten Neugeborenen, das Sprechen mit dem toten Kind, das gemeinsame Baden und Anziehen sein. Viele Frauen finden es ein Zeichen der Anerkennung ihres Kindes, wenn Arzt oder Ärztin nach dem Tod des Kindes kommen, um das Baby noch einmal zu sehen und ihr Beileid auszudrücken. So wird Saskia nach der Geburt in einem großen Universitätsklinikum von »ihrer« Pränataldiagnostikerin besucht:
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»Des war für mich och schön, ebent doch mal nach meiner Tochter noch mal gucken gekommen ist, wo se ebent dann meinte: ›Ich kenn (Name der Tochter) doch schon viel länger als Sie‹, so nach dem Motto: ›Ne, (lacht) durch den Ultraschall (lacht). Ich kenn se doch schon viel länger.‹« (Int. 12, 180)
Saskia lacht beim Erzählen der Aussage der Ärztin, ihre Tochter schon viel länger zu kennen durch den Ultraschall – und so ganz ernst im wörtlichen Sinne ist diese Aussage der Ärztin wohl auch nicht gemeint. Und doch gibt es durch den diagnostischen Ultraschall ein besonderes Ärztin-Patientin-Verhältnis, das bei Saskia durch den Schwangerschaftsverlauf hindurch besteht und wächst. Die Ärztin spricht von Saskias‹ Tochter mit ihrem Namen, eine Anerkennung als Person, spricht wie von einer Patientin. Als Gesten der Anerkennung für das Kind nehmen Frauen das Streicheln oder Halten des Kindes und die Wahrnehmung emotionaler Betroffenheit des Gegenübers wahr. Anita: »Wir ham ihn einfach / ja gut es waren ja diese paar Stunden eigentlich, gell / ham mer ihn bei uns ghabt und (…) i fands dann auch schön, dass (…) ja ein paar Leute / i mein, des kannst ja von keinem speziell verlangen, aber a paar ham einfach so ne nette Geste einfach noch / weisch, ihn gstreichelt oder (…) einfach irgendwas Liebes / des war für uns irgendwo total toll, dass des gsehen hast, der wird jetzt von jemand andersch au gschätzt oder der wird einfach behandelt wie ein normales Baby, ja. Dass einfach jemand ihn gstreichelt hat oder eine Krankenschwester hat gsagt, sie hat schon ein paar Kinder gsehn, die (Name der Fehlbildung) hatten, aber er sei der Hübscheste. Oder halt einfach, weisch (…) ganz nett oder wie er gstorben is, dass dann au die / eine Ärztin, die hat au gweint dann. Und des war irgendwie einfach / so des waren dann so diese Menschlichen / des kannsch / des is halt so gwesen. Des fand i aber schön irgendwie, dass mer des au gmerkt hat, des geht jetzt net so spurlos an denen irgendwo vorbei, sondern (…) ja, des war einfach schön.« (Int. 19, 74)
Für Anita ist es wichtig zu sehen, dass ihr Kind von anderen geschätzt wird, behandelt wird »wie ein normales Baby« – neben dem Respekt für das Kind ist es auch Respekt für sie als Mutter dieses Kindes. Zu sehen, dass der Tod ihres Kindes die Betreuungspersonen berührt, empfindet Anita als schön, es geht nicht »spurlos« an ihnen vorbei, sondern das Kind wird gesehen und wahrgenommen, hinterlässt Spuren, bleibt in Erinnerung. Dazu gehört für Anita auch, dass der Chefarzt am Tag nach der Geburt kommt und sein Bedauern darüber ausdrückt, dass für das Kind nichts getan werden konnte: »Ja, also was i / des wollt i eigentlich no erzählen / was i eigentlich bsonders toll fand, des war wie der (…) dieser Arzt, der mich entbunden hat, mit den zweien, der is einen oder einanhalb Tag später halt noch mal kommen (…) und hat zu mir gsagt, also dass er des irgendwie toll gfunden hat, wie wir mit der Situation umgangen sind und (…) dass es ihnen allen leid getan hat, dass sie eben nichts für den (Name des Sohnes) tun konnten. (…) Und des fand i in dem Moment so toll irgendwie, ja, einfach so dieses, er war halt
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schlimm geschädigt oder so, aber es hat ihnen leid getan, dass man nichts für ihn tun konnte. Des hat in dem Moment echt irgendwo total guttan.« (Int. 19, 132)
Für Anita ist es der Blick des Arztes auf ihren Sohn als behandlungswürdiges Kind, der ihr gut tut. In der Aussage nimmt sie wahr, dass ihrem Sohn unabhängig vom Ausmaß seiner Fehlbildung Würde zugesprochen wird, er als Mensch gesehen wird, dem man gern geholfen hätte60, ein Mensch, der gleich ist wie alle anderen. Es ist nicht die rationale Bewertung der Fehlbildung, nicht die Bewertung in »lohnenswert« oder »nicht lohnenswert«, sondern es ist die Erkrankung des Kindes, sein nicht aufzuhaltendes Sterben, das die medizinische Unterstützung verhindert. Anders erlebt Lilly die Reaktion einer Ärztin nach der Geburt ihrer Tochter. Der Zustand ihrer Tochter erscheint nicht als medizinisches Problem, das behandelt werden kann oder eben nicht behandelbar ist, sondern als von Lilly selbst gewählter Weg: »Dann war da auch noch ne andere Ärztin, die hat gesagt: ›Also, Sie ham sich ja soo einen schrecklichen Weg ausgesucht.‹ (lacht) Also die Ärzte waren nicht sehr sensibel.« (Int. 15, 49)
Lilly wird so die Rolle einer Frau zugesprochen, die eine falsche Entscheidung getroffen hat, das Leiden ihres Kindes erscheint als selbst gewählt, als hätte sie sich die Chromosomenanomalie ausgesucht. Durch den Ausdruck »Aussuchen eines schrecklichen Weges« wird Lilly die Verantwortung für Schwierigkeiten auf diesem Weg zugesprochen. Das Kind bleibt abstrakt in dieser Metapher : Es ist nicht klar, ob es der Weg ist, der schrecklich ist, ob die Mutter für das Kind einen schrecklichen Weg ausgewählt hat. Für manche Frauen ist auch die Unterlassung von Beileidsbekundungen durch den betreuenden Arzt ein Ausdruck des fehlenden Respekts für ihr Kind. So erlebt es Friederike nach dem Tod ihres Sohnes: »Und da fand ich es dann auch ein bisschen schade, ich mein, die hatten des dann so im möglichen Rahmen ganz schön gestaltet (…) Kerze und so, wurd auch noch getauft von der einen Schwester, die fand ich auch immer sehr nett, des war dann irgendwie alles ganz schön und die ham uns auch Zeit gelassen zum Abschied nehmen. Des war dann schon okay. Aber der Arzt, der war ja auch, der hat ihm anscheinend noch eine Herzspritze gegeben, der war ja auch da, ich mein, der war andersweitig beschäftigt, aber er hat sich nicht die Mühe gemacht, sein Beileid auszudrücken oder auch ne Karte, also da kam sehr wenig von der Klinik. Aber also, ich hätt mir schon gewünscht, dass 60 Der Zusammenhang vom Ausmaß der Fehlbildung, der Behandlungswürdigkeit und medizinscher Intervention zeigt sich beispielsweise auch an Friederikes Befürchtungen, medizinische Unterstützung könnte ihrem Sohn aufgrund seiner Chromosomenanomalie verwehrt werden und ihrem Kampf für eine gleichwertige Behandlung.
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auch der Arzt, der ihn betreut hat, was sagt. Und da kam gar nichts. Nichts.« (Int. 3, 73–74)
Während der Rahmen für den Abschied, der durch die Krankenschwestern auf der Kinderintensivstation geschaffen wird, von Friederike als positiv wahrgenommen wird, ihnen Zeit zum Abschiednehmen gegeben wird, ist Friederike von der fehlenden Empathie des betreuenden Arztes enttäuscht: Ihr Sohn scheint nicht der Mühe wert zu sein, den Arbeitsalltag zu unterbrechen, um Beileid zu wünschen. Es geht dabei um das Gesehen-Werden als Mensch. Friederike ist enttäuscht über die Nicht-Reaktion der Institution Krankenhaus, dem Lebensort in der sechswöchigen Lebenszeit ihres Sohnes, wartet auf ein Zeichen der Anteilnahme – und es kommt: Nichts. Unsicherheiten und Ambivalenzen beim unerwartetes Überleben des Kindes Wenn Kinder entgegen der Diagnose doch einen längeren Zeitraum überleben und nicht im Anschluss an die Geburt versterben, stellt das eine komplexe Situation für die Mutter, das Elternpaar und auch das Betreuungsumfeld dar : Entscheidungen über Versorgung, medizinische Behandlungen und möglicherweise Operationen müssen getroffen werden. Manche Frauen fühlen sich gut betreut, andere sind mehr oder weniger auf sich allein gestellt in der Versorgung des Kindes und werden zur Spezialistin für dieses Kind. Die Ausgangssituation ist dabei sehr unterschiedlich. Sie hängt davon ab, ob das Sterben absehbar ist, die verbleibende Zeit mit dem Kind Sterbebegleitung ist, oder ob nicht absehbar ist, wie lange das Kind leben wird bzw. ob die Eltern konfrontiert werden mit Entscheidungen über medizinische Eingriffe, die das Leben erhalten oder verlängern können. Zunächst soll aber die erste Reaktion auf das unerwartete Überleben des Kindes mit seinen verschiedenen Dimensionen dargestellt werden. Die erste Reaktion auf das Überleben kann Freude und Euphorie sein, aber auch Versteinerung und Gefühllosigkeit. Manche Frauen beschreiben ihre Reaktion auf das unerwartete Überleben als eine Art Schock. Lilly : »Also für mich war halt so diese (…) ich stand fast unter Schock, dass die / dass die lebt. Ich hab einen hysterischen Freudentanz, fands total schön, aber dann / ich wusste / ich hab / ich hab dafür nichts. Ich hatte mich darauf gar nicht vorbereitet und ich war wirklich nur noch / ich stand immer nur an diesem Bettchen, immer nur oder hatte die auf dem Arm (…) Ich hätte die 48 Stunden am Tag auf dem Arm halten können (…) also einfach nur um aufzupassen, dass da jetzt nichts passiert.« (Int. 15, 43)
Lilly beschreibt ihre erste Reaktion auf das unerwartete Überleben ihrer Tochter als »fast unter Schock«, sie freut sich, ist euphorisch. Eine weitere Dimension ist das Wissen und die Angst, dass dieses Überleben zerbrechlich ist, der Tod jeden
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Moment eintreten könnte und somit die Umgangsstrategie »aufzupassen, dass da jetzt nichts passiert«. Wie sehr das unerwartete Überleben und die veränderte Prognose als Schock erlebt werden kann, wird an der Reaktion der Abgrenzung deutlich. Marlene: »Gefreut hab ich mich nicht wirklich. Ich war wie (…) wie versteinert. Ich wollts auch (…) nicht wirklich wahrhaben. Also ich hab da nichts mehr an mich ranlassen. Also ich hab da wie so ne Mauer um mich rumgebaut und hab ihn auch nicht mehr auf den Arm haben wollen.« (Int. 18, 109)
Marlene nimmt sich als »wie versteinert« wahr, zieht sich emotional aus der Situation heraus, grenzt sich ab und lehnt auch den Körperkontakt zum Neugeborenen ab. Diese scheinbare Emotionslosigkeit, die Distanz zum Kind ist eine Elternreaktion, mit der – so nimmt Marlene es wahr – das Betreuungssystem nicht rechnet. Marlene antizipiert eine Erwartung von Seiten des Betreuungssystems an ein bestimmtes Elternverhalten, und stellt diesem das eigene Verhalten gegenüber. Während des Interviews, bei dem Marlenes Partner anwesend ist, entsteht folgender Dialog zwischen den Eltern über die Situation in den ersten Lebenstagen ihres Sohnes: »Wir waren auch kaum bei ihm. Die empfanden uns alle als etwas seltsam, ham wir im Nachhinein erfahren (…) oder unsere Reaktion als sehr seltsam.« (Int. 18, 114) »(…) Und wir waren wirklich distanziert (Name des Sohnes) gegenüber auch distanziert. Ich denk, dass viele andere Eltern wahrscheinlich weinend am Bett gesessen haben. Und wir haben fassungslos vor diesem Bett gestanden.« (Int. 18, 114–123)
Die Distanziertheit der Eltern befremdet die Betreuungspersonen auf der Kinderintensivstation, sie entspricht nicht dem Bild der guten, sorgenden Eltern. Die Eltern nehmen eine subtile Erwartung wahr oder haben selbst ein Bild, wie sich »normale« Eltern verhalten sollen: Sie sollen weinen und nicht fassungslos dastehen. Wenn Kinder längere Zeit überleben, zeigt sich bei manchen Frauen als eine Dimension die Ambivalenz der eigenen Gefühle in Bezug auf dieses Überleben und der Umgang mit dieser Ambivalenz. Lilly : »Ich glaub, im Nachhinein fand ich das echt am schwierigsten. Dieses dass ich natürlich mein Kind wie blöde liebe, ne. Das tut man, ich tu es einfach, aber ich hatte so das Gefühl, dass ich mit meinen ganzen anderen Gefühlen, mit meiner Trauer darüber, dass sie so schwer krank ist eigentlich, mit meiner Angst dadrüber, mit meinen Wünschen, dass sie weiterleben möge (…) und aber auch gleichzeitig wahnsinnig Angst davor zu haben. Ich hatte davor tierisch Angst. Und ich glaube auch gar nicht mal, dass ich eigentlich so unnormal da bin, aber dass das nicht beantwortet wurde. Also an keiner Stelle hab ich das wirklich das mal gefunden, also an Literatur oder an Berichten, das wird so völlig ausgeblendet. Das darf offensichtlich gar nicht sein. Und ich hab da (…)
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das ist mir echt schwer gefallen, da hab ich richtig dran zu knabbern gehabt, dass das so, dass ich da viele Schuldgefühle hatte. Ja, ich hatte da Schuldgefühle.« (Int. 15, 88–90)
Lilly liebt ihre Tochter »wie blöde«, hat Angst vor ihrem Sterben – wünscht sich ein Weiterleben und hat gleichzeitig »wahnsinnig Angst« davor, dass ihre Tochter weiterleben könnte. Der Wunsch nach dem Überleben des Kindes und die Angst vor seinem Sterben stehen der Angst vor dem Überleben des Kindes gegenüber. Diese ambivalenten Gefühle lösen Schuldgefühle bei Lilly aus. Sie empfindet das Sprechen über diese ambivalenten Gefühle als einen Tabubruch, als etwas das »ausgeblendet« wird in Berichten und Literatur zur Thematik »Behinderung«. Es gibt keinen Raum für diese Ambivalenzen und Ängste, die von Lilly als etwas wahrgenommen werden, das offensichtlich nicht sein darf. Im Kern geht es dabei um das Bild der »guten Mutter«, die ihr Kind bedingungslos lieben soll und ihrem Kind nur Gutes wünschen soll. Dies scheint – so nimmt es zumindest Lilly wahr – von Müttern behinderter Kinder mindestens im gleichen Ausmaß erwartet zu werden. Das Fehlen dieser Ambivalenzen in Berichten kann aber auch damit erklärt werden, dass den Müttern gerade bei der Entscheidung zum Weiterführen eine Missionsrolle zufällt oder zugesprochen wird, dass es schwer ist, über negative Aspekte einer Entscheidung zu sprechen, die eine Ausnahme darstellt und von vielen Frauen verteidigt oder zumindest erklärt werden muss. Gleichzeitig hat es aber auch mit dem Bild zu tun, das Mütter behinderter Kinder in der Öffentlichkeit abgeben sollen. Anne über die Entscheidung in Fernsehberichten: »Weil ich denk, es gibt einen offiziellen Umgang in der Öffentlichkeit, was man jetzt im Fernsehsendungen sieht. Der politisch korrekt ist, der schon dann den Behinderten jetzt auch des Recht zugesteht, am Leben zu sein, der dann auch immer Beispiele zeigt. Also ich denk jetzt nur an eine Sendung, also ich weiß net oder was des war, wo dann auch dieses glückliche behinderte Kind gezeigt wurde und ahh, eben ne Frau, die abgebrochen hat ja, also ich denk die Entscheidung der einzelnen Frau respektieren, egal ob Abbruch oder Austragen und nicht gscheiter sein als die Frau oder (…)« (Int. 1, 186)
Stereotype Bilder von »glücklichen behinderten Kindern« machen so auch für die Mütter selbst das Sprechen über Ambivalenzen schwierig und zu etwas »das offensichtlich nicht sein darf«, wie Lilly über die Angst vor dem Weiterleben ihrer Tochter ausführt: »Ich hatte davor tierisch Angst. Und ich glaube auch gar nicht mal dass ich eigentlich so unnormal da bin, aber dass das nicht beantwortet wurde. Also an keiner Stelle hab ich das wirklich das mal gefunden, also an Literatur oder an Berichten, das wird so völlig ausgeblendet. Das darf offensichtlich gar nicht sein. Und ich hab da (…) das ist mir echt schwer gefallen, da hab ich richtig dran zu knabbern gehabt, dass das so, dass ich da viele Schuldgefühle hatte. Ja, ich hatte da Schuldgefühle.« (Int. 15, 88)
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Die Ungewissheit und Angst vor dem Sterben des Kindes stellt für viele der Frauen eine extreme Belastung dar, einerseits das Gefühl, ständig für das Kind da sein zu müssen, es nicht aus den Augen lassen zu wollen und andererseits das Wissen, es jederzeit loslassen können zu müssen. Zoey : »Und dann hab ich für mich erkannt, warum is des jetzt so. Hab dann halt drüber nachgedacht, was jetzt eigentlich so des Problem ist und hab dann für mich selber erkannt, dass ich zu sehr dran denke, dass sie jetzt stirbt demnächst. Hab dann für mich erkannt also, dass es so nicht weitergehen kann für mich. Dass ich nicht immer daran denken kann, dass sie jetzt stirbt. Weil dann hab ich sie für mich nicht richtig angenommen und hab dann ebent also aktiv quasi angefangen, sie anzunehmen und dann war des ganz normal mit ihr. Ne, na ja, ganz normal wars nicht (lacht). Also ich hat das Gefühl, ich hab sie mehr angenommen. So.« I: »Wie hast du sie denn aktiv angenommen? Was hast du denn da gemacht?«
Zoey : »Ich habs verdrängt, dass sie stirbt. Also ich hab, was man halt so mit Babys macht. Viel rumgetragen, mich mit ihr beschäftigt. Ich glaub, am Anfang hab ich mich auch nicht so viel mit ihr beschäftigt. Des war irgendwie alles für mich zu viel.« (Int. 11, 112–113)
Zoey findet für sich als Umgangsstrategie die Verdrängung diese Angst vor dem Sterben ihrer Tochter und das »aktive Annehmen« des Kindes. Sie versucht, eine Form von Normalität in ihr Leben zurückzubringen, in dem sie das Baby so behandelt wie ein normales, gesundes Baby (vergleiche dazu auch den Abschnitt »Konstruktion des Kindes als Gegenüber«). Für viele der Frauen, deren Kinder unerwartete überleben, stellen sich in der Folge eine Reihe von Fragen. Viele dieser Entscheidungssituationen weisen für die Frauen Parallelen zur Entscheidungssituation nach der Diagnosestellung auf: Zeitdruck, Entscheidungserwartung, Informationsbedürfnis etc. Die Wahrnehmung der Entscheidungssituation reicht vom gemeinsam mit den Betreuungspersonen eine passende Entscheidung finden, sich gegen medizinische Entscheidungserwartungen durchsetzen müssen, bis zum Eindruck, die Entscheidung in einer Situation emotionaler Überforderung treffen zu müssen. Auch die Zeiträume, die für diese Entscheidungen zur Verfügung stehen, unterscheiden sich und manchmal müssen existenzielle Entscheidungen innerhalb sehr kurzer Zeit getroffen werden. Die Dimensionalisierung der Entscheidungsschwere reicht dabei von großen, existenziellen bis zu scheinbar kleine Entscheidungen: von Entscheidungen über vielleicht lebensrettende Herzoperation oder Wiederbelebungsmaßnahmen bis hin zu scheinbar unwichtigen Entscheidungen wie dem Stillen. Bei Marlenes Kind ist es so, dass in der Schwangerschaft ein Syndrom mit multiplen Fehlbildungen und inoperablem Herzfehler diagnostiziert ist. Die Diagnose ist so, dass die Eltern erwarten, das Kind würde nach wenigen
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Atemzügen nach der Geburt versterben. Über die Zeit unmittelbar nach der Geburt und die Entscheidung für die Operation des Herzfehlers erzählen Marlene und ihr Partner : Partner : »Und dann hab ich mir den Kerl angeguckt und / na gut, er hat (…) er hat halt anders ausgesehen als gesunde Kinder, schon klar, aber der hat nich so ausgesehen, als würde er jetzt die Segel streichen. (…) Ja (…) und dann wurde (…) ein Ultraschall gemacht, ein Herzultraschall. Da war ich mit (…) und ääh, der Arzt hat dann gesagt, er hat schon nen Herzfehler, nur (..) er wäre wunderbar zu operieren, es wär (Name des Herzfehlers), also wäre operabel und alles andere wäre auch zu machen, was er hat, ne. Und ääh (…) ja, das war halt schon ein (…) ein sehr bewegender Moment. Weil (…) wir hatten eigentlich mit was ganz anderem gerechnet. Ich auch (…) da waren auch, ich glaub zwei Ärzte, die ham das zugleich gesagt. Man kann ja (…) wie soll ich das jetzt sagen (…) wenn jetzt einer sagt, der hat zwar einen Herzfehler, aber der is operabel, dann kann ich sagen, okay, wir ham die Diagnose und du erzählst Mist. Aber dem war nicht so. Sondern die jetzt klipp und klar erzählt, okay, wenn ihr wollt kriegen wir den Kerl hin (…) Und ääh (…) dann bin ich dann zu ihr und hab gesagt, es sieht doch ein bisschen anders aus, wie uns bis dato beschrieben wurde und, ämm, wir können was draus machen. Ja. Und dann ham wer uns dann entschieden.« Marlene: »Ne. ne, du hast entschieden. Weil du bist in Kreißsaal reingeplatzt (lacht) und hast gesagt, der wird jetzt nach (Name der Uniklinik in anderer Stadt) verlegt, da wird alles / das stimmt / alles in Ordnung61. (lacht herzlich) Hinterher (lacht).« Partner : Das war für mich dann mehr oder weniger klar, ne. Das waren unsere Chancen (…) und (…) ja.« (Int. 18, 102–104)
Direkt nach der Geburt des Kindes sind die Eltern und Betreuungspersonen – hier die Kinderärzte – mit einer neuen, veränderten Situation konfrontiert. Mit dieser Situation wird nicht gerechnet, niemand der Beteiligten ist auf das Überleben vorbereitet und es gibt keine Absprachen im Vorfeld. Der Herzfehler erweist sich als weniger ausgeprägt und daher operabel und die Eltern stehen vor einer neuen Entscheidungssituation, die eigentlich keine Entscheidungssituation darstellt. In der emotionalen Situation nach der Geburt, mit dem lebenden Sohn vor sich und dem Angebot »Wenn ihr wollt, kriegen wir den Kerl hin.« scheint eine Ablehnung der angebotenen Operation nicht wirklich eine Ent61 Marlenes Sohn ist zum Zeitpunkt des Interviews zwei Jahre alt und schwerst geistig und körperlich behindert. Die Eltern pflegen ihn zu Hause. Die vorliegende Arbeit befasst sich zwar nicht mit dem Leben der Eltern mit den überlebenden schwerbehinderten Kindern. Es zeigt sich jedoch, dass neben den Belastungen durch die gesundheitliche Situation der Kinder, den Phasen von Überforderung, Sorge und gesundheitlichen Krisen und Krankenhausaufenthalten die strukturellen Bedingungen für die Eltern schwierig sind. Vor allem auch das ständige Kämpfen um die richtige Pflegestufe, die Genehmigung von Kostenübernahmen für Hilfsmittel und die Unterstützung durch Pflegedienste wird von vielen Eltern als zeitaufwendig und kräftezehrend wahrgenommen.
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scheidungsoption zu sein. Der Vater nimmt dieses Angebot als »unsere Chance« wahr. Das Kind wird somit verlegt und operiert und überlebt schwerstbehindert. Manche Frauen sind, wenn das Kind nach der Geburt auf einer Intensivstation versorgt wird, mit der Frage nach Reanimation ja oder nein konfrontiert. In diesen Entscheidungssituationen ist wie bei der Entscheidung nach der Diagnose die Betreuungssituation ein wichtiger Aspekt im Erleben der Situation. In dieser Situation scheint das Vertrauensverhältnis, ein Gefühl von EingebundenSein und der Zugang zu Informationen wichtige Aspekte für Entscheidungen. So gibt es Entscheidungssituationen, in denen Frauen den Druck wahrnehmen, einer antizipierten Entscheidungsoption zuzustimmen. Friederike erzählt: »Also, Informationsfluss, es war immer alles ein bisschen Glück. Es kam halt immer durch, wie schwer krank er ist und ja, ich konnt auch mit dem einen Oberarzt nicht, also unserem zuständigen Arzt. Und oder auch, dass immer ich in der Früh da war, hat ihnen nicht gefallen, weil da immer Visite ist und da musste dann halt jeder rausgehen, dass man halt dann des von den anderen Kindern nicht hört, weiß ich nicht. Man muss, es war einfach schwer, den Arzt zu erreichen, ihn dann zu fragen und was dann kam, war meistens negativ und ich / wir wurden dann auch immer gedrängt, ne Entscheidung zu treffen. Die ham wir dann immer vor uns hergeschoben: Was is, wenn ne lebensbedrohliche Situation eintritt, wie soll dann gehandelt werden? Solang keine Entscheidung vorliegt, wird alles gmacht. Ja. Aber sie wollten jetzt eine Entscheidung, dass wir sagen, es wird nicht alles gemacht. So haben wir des dann auch letztendlich entschieden. Aber des geht nicht von heut auf morgen. Aber wurden wir wieder angehalten, jetzt da eine Entscheidung zu treffen.« (Int. 3, 67)
Für Friederike sind es ähnliche Aspekte, die bereits die Entscheidung nach der Diagnose als belastend erlebt: Zeitdruck. Dazu kommt, dass die Betreuungssituation von Friederike als schwierig empfunden wird, sie fühlt sich als Störfaktor in den institutionellen Abläufen, Informationen sind schwer zugänglich. Ihre Umgangsstrategie ist, die Entscheidung zunächst aufzuschieben. Friederike nimmt eine Entscheidungserwartung gegen Reanimation wahr, fühlt sich aber gleichzeitig nicht informiert, der Arzt ist für sie nicht greifbar, setzt sich nicht wirklich mit ihr auseinander. Anders erlebt Lilly die Betreuungssituation, als sie schließlich mit ihrer Tochter in einer Kinderklinik aufgenommen ist. Wie eine solche Begleitung aussehen kann, zeigt sich an Lillys Geschichte: »Es is halt total schwer, einen Arzt zu finden, der bereit ist, einen so zu begleiten, dass er einen wirklich so informiert, dass man das auch entscheiden kann. Also überhaupt an diese Informationen heranzukommen, is so schwer (…) Ich hatte auch da noch mal Glück mit meinem Arzt. (…) Er hat dann auch, er war da auch wirklich ganz süß, des war ein (unverständliches Wort) Gespräch, weil er dann auch meinte, wenn sie sie operieren wollen, da müssen sie doch auch reanimieren bis dahin. Und ich so, ne, das is für mich gar kein Widerspruch, dass ich sage, ich würde sie unter Umständen ope-
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rieren, aber bis dahin muss sie es schaffen, bis dahin will ich keine Reanimation machen. Das ist schließlich ihr Leben. Ich würde sie operieren lassen, wenn ich das Gefühl hätte, sie leidet an ihrem Herzfehler, nicht an ihrer (Name der Chromosomenanomalie). (…) Er hat sich dann auch richtig schlau gemacht, er is echt richtig ins Internet gegangen und meinte hinterher, meint er so: ›Ich muss mich echt entschuldigen. Ich hab tatsächlich eher das Gefühl gehabt, das is, das es so ein apathisches Rumliegen nur is. Und so is es nicht. Also die Kinder sind dann auch echt da und nehmen teil und sind ganz süß. (…) Das sind echt ganz süße Kinder (…) Hmm.‹« (Int. 15, 114–115)
Lilly kann sich mit dem Arzt auseinandersetzen, es ist ein Gespräch auf Augenhöhe – der Arzt nimmt ihren Standpunkt ernst und informiert sich weiter. Schließlich revidiert er sein Bild der Kinder mit dieser Chromosomenanomalie und entschuldigt sich. Während Friederikes Arzt nicht erreichbar zu sein scheint, ein »echtes« Gespräch, ein Austausch nicht stattfindet, nimmt Lilly die Betreuungssituation als Begleitung wahr, die informiert und eine Entscheidung ermöglicht. Nach der Entlassung wird sie von einem ambulanten Krankenpflegedienst mehrere Stunden am Tag unterstützt und der niedergelassene Kinderarzt und die Hebammen, die sie in der Schwangerschaft und bei der Geburt begleitet haben, sind ebenfalls weiter in die Betreuung eingebunden. Manche Frauen nehmen auch die Entscheidung für das Stillen als existenziell wahr : »Er lebt jetzt und jetzt wird er gestillt!« (Int. 18, 113) Entscheidungen über das Stillen sind für viele Frauen hingegen nicht so einfach zu treffen, wie es für das Betreuungssystem erscheinen mag. So kann es aber auch für manche Frauen ein Ausdruck für die Annahme des Kindes sein, es zu stillen, ein Sich-Einlassen auf die veränderte Situation. Marlene: »Und dann kam noch ein Arzt, auch superjung. Wo ich gedacht hab, also der untersucht mich schon mal gar nicht, des kann er vergessen, da muss er jemand anderes holen. Der dann auch alles Mögliche hat wissen wollen und dann zu dem Schluss kam, ämm, ›Stillen ja nicht‹, wo ich sagte, doch (!) (…) Und dann guckt er mich an und meinte: ›Nein, Sie stillen nicht!« Und ich sag: ›Doch, ich werde stillen.‹ Und er sagt: ›Nein, er is ja auf Intensivstation.‹ Und ich sag: ›Doch, er lebt jetzt und jetzt wird er auch gestillt!‹« (Int. 18, 113)
Wie zentral das Stillen für manche Frauen sein kann, zeigt sich beim Blick auf Lillys Erleben anhand der Situation, dass ihre Tochter nicht gestillt werden kann, zu schwach zum Saugen ist und mit Magensonde ernährt wird. Lilly : »Und dann kam des auch recht schnell doch raus, dass sie nicht trinken kann (…) das is ja so ein zentraler Moment, dieses Stillen und dieses Kind ernähren, das ist so ein zentraler Bindungsmoment und der geht einem verloren. Also das ist was, ich fand das total schrecklich, total schrecklich, dass ich nur vor meinem Kind lieg und ihm dann Milch durch / die durch so ein Schläuchlein reindrücke. Also ich fand das schrecklich.« (Int. 15, 43)
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Stillen ist hier ein »zentraler Bindungsmoment«, das Kind nicht stillen zu können, bedeutet einerseits den Verlust des Körperkontakts, das Kind liegt nicht am, sondern neben dem eigenen Körper, andererseits bedeutet es darüber hinaus aber auch den Verlust, das Kind selbst ernähren zu können.
10.6.3 Dem Kind einen Platz in der Welt schaffen wollen Die Kategorie »Platz in der Welt schaffen wollen« umfasst eine Reihe von Unterkategorien, wie in Abbildung 7 gezeigt wird. Denn zum einen geht es dabei um die Konstruktion der eigenen Erinnerungen, aber auch um das Begreifen des Todes des Kindes; es geht darum, für das Kind sorgen zu wollen auch über seinen Tod hinaus, das Kind in die Familie integrieren zu wollen, um Einbindungs- und Abschiedsrituale, darum, das Kind zeigen zu wollen.
Abbildung 7: Dem Kind einen Platz in der Welt schaffen wollen
Alle diese Unterkategorien stehen in engem Zusammenhang mit den intervenierenden Bedingungen, die zusammengefasst als der Raum und die Zeit für Begegnung und Abschied benannt werden können. Sie umfassen sowohl Aspekte wie die Diagnose des Kindes – also die Lebenszeit des Kindes –, als auch die Bedingungen, die vom Betreuungssystem gegeben werden und bilden den Hintergrund für die Möglichkeiten der Frauen, Umgangsstrategien zu entwickeln. Im Folgenden sollen die einzelnen Unterkategorien beschrieben und Verknüpfungen und Verschränkungen mit anderen Kategorien aufgezeigt werden.
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Die intervenierenden Bedingungen werden nicht dabei als separater Text erzählt, sondern sind in den Erzähltext eingewoben. 10.6.3.1 Das Kind der Welt zeigen wollen Diese Unterkategorie umfasst verschiedene Dimensionen, zum einen ist es für viele der Frauen wichtig, dass Freunde, Familie und Nachbarn das Kind sehen. Sie umfasst die geteilte Erinnerung, den Stolz Mutter zu sein. Darüber hinaus gibt es Frauen, die Geburts- und Abschiedskarten an den Freundes- und Familienkreis verschicken, manche geben eine Todesanzeige in der Zeitung auf, um über ihr Kind zu informieren. Das Sehen des Kindes durch das Umfeld ist für manche der Frauen auch ein Zeichen der Anerkennung der Existenz des Kindes und der Wertschätzung für dieses Kind. Ein Aspekt dieses Zeigen des Kindes ist die Möglichkeit eines Teilens der Erinnerung im weiteren Verlauf: ein gemeinsames Erinnern mit Menschen, die das Kind auch gesehen haben. Ursel kontrastiert die Erfahrungen beim Tod ihres intrauterin verstorbenen ersten Kindes mit der Erfahrung des Todes ihrer Tochter. Damals haben nur sie und ihr damaliger Partner und die Seelsorgerin das tote Baby gesehen, für die Familie (Großeltern, Geschwister, Freundeskreis) ist es eine abstrakte Person, Fotos sind für Ursel nicht mit dem wirklichen Sehen des Kindes vergleichbar. Jetzt ist es anders, Freunde und Familie kommen kurze Zeit nach dem Tod der Tochter, geplant ist eine Tauffeier, die jetzt ein Abschied wird. Ursel: »Und sie (Anm.: Ursel bezieht sich hier auf den Sterbezeitpunkt ihrer Tochter.) hat sich auch so einen guten Zeitpunkt ausgsucht. Und dann waren wir halt Gott sei Dank dann / ne Stunde später waren dann alle Verwandten da. Ja. Und wir konnten des einfach noch mal alles erzählen und die ham des mitgekriegt und ham mit uns geweint und jeder hat sie dann gehalten und halt gstreichelt und angschaut und (…) dann ham mer sogar noch ein Kaffeetrinken gemacht, wo sie dann im Stubenwagen glegen ist (…) Und wir ham sie dann immer wieder auf dem Arm ghabt und immer wieder angschaut.« (Int. 20, 196–197)
Die Eltern können erzählen von ihrem Kind, es ist ein gemeinsames Betrauern und Abschiednehmen – das Kind wird von allen gehalten und berührt. Dies gleicht dem ersten Kennenlernen eines Neugeborenen und ist doch gleichzeitig ein Abschiednehmen. Indem das Kind real wird für andere Menschen, ein greifbarer, berührbarer Mensch, geben die Frauen ihrem Kind auch einen Platz in der Welt. Nicht länger nur die Frau als Mutter oder das Paar als Eltern betrauern das Kind, sondern es ist ein Kind, das, auch wenn es tot ist, dem Umfeld bekannt ist – sie haben es gesehen, berührt, gespürt – können sich an das Kind erinnern. Das Kind wird zu einer Person, die nicht nur eine »fiktive Vorstellung« ist, wie Elke erzählt:
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»Des war dann scho noch gut, dass mer da unten gmacht ham bei meinen Eltern. (Name des Partners) Schwester kam dann auch noch mit Familie und hat ihn angeschaut. Und einfach so, dass er dadurch halt bei vielen realer ist und nicht nur so diese fiktive Vorstellung dann Bauch und (…) keiner hat ihn gesehen. Sondern er ist jetzt halt einfach / er ghört jetzt wirklich dazu bei denen. Des war dann schon schön.« (Int. 17b, 47–48)
Elke stellt hier die erlebte Situation, das Kind wird angeschaut und gehört dadurch in ihren Augen auch bei anderen dazu, der Situation entgegen, dass »keiner ihn gesehen« hat – ihr Kind bei den anderen nur als abstrakte Vorstellung existiert. Das Kind wird integriert, »gehört dazu«. Das Versenden einer Geburtskarte, die gleichzeitig den Tod des Kindes mitteilt, ist eine weitere Umgangsform, wie Frauen versuchen, ihr Umfeld über ihr Kind zu informieren. Gleichzeitig stellt dies eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Abschied vom Kind dar. Eine der Frauen verschickt beispielsweise eine Karte, in der sie ihre Erfahrungen mit ihrer Tochter schildert und auf der Fußabdrücke des verstorbenen Kindes abgebildet sind. Auf der Karte für Elkes Sohn ist hingegen ein Bild des Babys nach der Geburt, sein Namen und sein Geburts- und Todestag. Mit dem Herzeigen des Kindes ist für manche der Frauen auch der Stolz auf dieses Kind, der Stolz die Geburt gut geschafft zu haben und vielleicht auch der Stolz auf die getroffene Entscheidung zum Weiterführen verbunden. Besonders deutlich wird dies an den Aussagen derjenigen Frauen, die von Teilen des Umfelds keine Reaktion nach der Geburt erleben. Elke: »Also ich war irgendwie so dann (…) man is stolz, man hat sein Kind bekommen. Und wenn es jetzt leben würde, würden einem alle die Bude einrennen. Jeder will des Baby sehen. Und, ämm, nur weil er gstorben ist, ja traut sich keiner oder will es keiner sehen. Des fand ich irgendwie ja schon schade. Also (…) Des hat mich schon irgendwo getroffen also von dem her (…) Man ist halt au so stolz drauf. Aber da is dann auf einmal da (…) des is ja au komisch, manche da in der Nachbarschaft die (…) ja (…) die schauen da nur weg so ungefähr (…) war ja gar nichts.« (Int. 17b, 40–49)
Während Elke emotionales Empfinden ähnlich wie bei den Geburten eines lebenden Kindes erlebt – Stolz, sie ist Mutter geworden und möchte dass dies auch wahrgenommen wird –, passt der Umgang ihrer Nachbarschaft nicht zu ihren Bedürfnissen, dass ihr Kind gesehen wird, eben nicht weggeschaut wird. Mit dem Anschauen des Kindes, der Wahrnehmung des Kindes als Person ist gleichzeitig aber auch die Wahrnehmung der Frau als Mutter verbunden: Wo das Kind nicht gesehen wird, nicht gemeinsam betrauert werden kann, da ist auch die Frau in gewisser Weise keine Mutter in diesem Umfeld. Manche Frauen erleben in ihrem Freundeskreis Hilflosigkeit, Schweigen, und wie Heidrun es nennt, »Nichtreaktion«:
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»Das ist etwas, was mich ganz arg enttäuscht hat, dieses Empfinden, dass ich von meinem Umfeld, dass dieses Thema nicht den nötigen Platz in ihrem Leben gewonnen hat, dass sie nicht in der Lage waren, meinem Sohn, der gehen musste, quasi auch in ihrer Gedanken- und Gefühlswelt, so hab ich des empfunden, des haben sie nicht an sich herankommen lassen, einfach gesagt ja nicht, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, also kein Telefonat, weil was könnt ich denn, wie könnt ich denen was ausdrücken, also auch im Schweigen, im gehörten Schweigen kann man was ausdrücken, man kann auch mal ein paar Zeilen schreiben. Diese Nichtreaktion, ich hab auch wesentlich weniger Glückwünsche bekommen, als damals bei meiner ersten Tochter und das hat mich sehr verletzt, da bin ich heute noch / werd ich heute noch richtig böse.« (Int. 8, 110)
Heidrun fühlt sich verletzt, ist wütend, sieht das Schweigen ihrer Freunde als Ausdruck davon, dass diese ihrem Sohn keinen Platz einräumen in ihren Gedanken und ihrer Gefühlswelt. Das Kind kann so keinen Platz in der Welt erhalten, es gibt keine geteilte Erinnerung, sondern Sprachlosigkeit. Eine weitere Dimension, warum Frauen sich wünschen, dass ihr Umfeld das Kind anschaut, ist das Gefühl, dass dieses Anschauen eine Wertschätzung für das Kind selbst darstellt. Anita: »Ja, weil i mir irgendwie dacht hab, weisch, a gsunds Kind, da kommt au jeder. (…) Und und begrüßt des und überhaupt so dieses / es isch so a Zeichen von Wertschätzung, find i, dass ma a Kind einfach (…) ja (…) dass mers kennenlernt. Oder, weisch, au später (…) des wird ja sonsch / sonscht bleibst irgendwie so unreal, wenn mir des jetzt nur hatten. Und sonst sieht des niemand oder kommt niemand und sieht des niemand und so.« (Int. 19, 78)
Hier wird deutlich, dass das Anschauen und Kennenlernen des Kindes von manchen der Frauen als eine Wertschätzung dem Kind gegenüber angesehen wird. Dabei beinhaltet das Kennenlernen des Kindes durch das Umfeld auch ein Stück Normalität. Ein Baby wird nach der Geburt von seinem Umfeld angeschaut und begrüßt – auch einem toten oder behinderten Kind steht dies zu. 10.6.3.2 Erinnerungen konstruieren Eine weitere Subkategorie von »Platz in der Welt schaffen« ist das »Konstruieren von Erinnerungen«, wobei dies sich sowohl auf konkrete Erinnerungsstücke als auch beispielsweise auf die bewusste Abschiedsgestaltung bezieht. Körperkontakt, Begreifen des Todes durch eine ausreichende Abschiedszeit und die Wahl des Abschiedsorts konstruieren die späteren Erinnerungen an das Kind und die gemeinsame Zeit ebenfalls.62 Durch dieses »Schaffen von Erinnerung« ist das Kind im eigenen Leben verankert. Fotos stellen dabei für viele der Frauen wichtige Erinnerungsstücke an ihr 62 Die Kategorien »Abschiedsort«, »Abschiedszeitraum« und »Körperkontakt« sind in den jeweiligen Abschnitten ausführlich dargestellt.
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Kind dar. Inken lässt beispielsweise eine professionelle Fotografin nach der Geburt Fotos der Familie mit dem Kind machen.63 Für manche der Frauen, deren Kinder ausgeprägte Fehlbildungen haben, ist auch das Abnehmen des Fußabdruckes des Kindes eine Möglichkeit, sich konkret an ihr Kind erinnern zu können. Viele der Frauen zeigen mir Erinnerungsbücher, die sie bereits während der Schwangerschaft für ihre Kinder angefangen haben zu führen und in denen sie alles, das sie an ihr Kind erinnert, dokumentiert und aufbewahrt haben. Manche dieser Erinnerungsbücher sind Tagebücher, in denen die Frauen sich mit ihrem eigenen Umgang mit Schwangerschaft und Tod auseinandersetzen, andere sind wie Fotoalben, die für Kinder angelegt werden: Ultraschallbilder, Bilder des Bauches, Bilder vom Neugeborenen. Viele der Frauen haben auch Kästchen, in denen sie beispielsweise Kleidung, Kuscheltiere, Sauger oder ähnliche Dinge, die dem Kind gehört haben, aufbewahren. Cosima: »Am Anfang wars sehr wichtig für mich, immer wieder reinschauen zu können und des Gfühl, des Kind net vergessen zu können. Aber es gibt au Zeiten, da möchte ich gar net hin (weint). Aber es ist gut, des zu haben. Vor allem des Album, des nomal durchgehen zu können. Wir hatten des Album au bei der Beerdigung dabei. Einfach für die Leute, die gern des Kind sehen wollten und sich des nicht getraut ham, weil wir ham den Sarg öffnen lassen vor der Beerdigung oder einfach noch mal zu sehen wie die Schwangerschaft verlaufen ist. Ham mer au a paar Sachen reingeschrieben. Für die, die des wollten, des war au ganz gut.« (Int. 3, 95)
Für Cosima ist das Album, das sie bereits im Schwangerschaftsverlauf anlegt, ein zentrales Erinnerungsstück an ihr Kind. Bei den meisten Frauen ist das verstorbene Kind auch in den Wohnräumen präsent, Bilder, Kerzen erinnern an das Baby. Für einige der Frauen ist zudem die bewusste Auswahl des Bestattungsortes etwas, wodurch sie sich einen Erinnerungsort schaffen, einen Ort, an den sie zum Trauern gehen können. Wenn das Kind noch eine Zeit lang am Leben ist, ist die Gestaltung der verbleibenden Zeit mit dem Kind ebenfalls ein Schaffen von Erinnerungsmomenten an dieses Kind. Das Erleben von Körperkontakt und Nähe mit dem Kind tragen zu einer Konstruktion der erinnerten Zeit als einen positiv erlebten gemeinsamen Zeitraum bei.
63 Auch auf Webseiten von Selbsthilfeorganisationen wird den Fotos ein wichtiger Stellenwert beigemessen und beispielsweise das Schwarz-Weiß-Fotografieren empfohlen (vgl. www. anencephalie-info.org).
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10.6.3.3 Familie konstruieren – das Kind in die Familie integrieren Beim »Platz- in-der-Welt-schaffen-wollen« geht es für viele der Frauen auch darum, dem Kind seinen Platz innerhalb der Familie zu geben: Es geht um die Konstruktion des Elternseins, um die Einbindung der Geschwisterkinder. Darüber hinaus umfasst diese Kategorie aber auch die Einbindung in den größeren Familienkreis, die Großeltern, Tanten etc. »(…) Hierhaben. (…) Ja irgendwie (…) warum war das so wichtig (…). Irgendwie (…) war das irgendwie so, dass (…) wenn er hier ist so als Familie ihm das zu zeigen so ja (…) das ist dein Zuhause oder das wär dein Zuhause gewesen. Hier wärst du aufgewachsen (…) Ja. Seine Schwester hat ihm dann das Zimmer gezeigt. So ›Das wär dann dein Zimmer gewesen.‹ und (…) Ja. (…) Und irgendwie (…) dass er halt auch hier war (…) und für uns nich nur die Erinnerung ist, ja Krankenhaus und (…) Friedhof, wo man jetzt halt den Platz hat. Sondern dass er halt tatsächlich auch hier gewesen ist. Und (…) irgendwie (…) sollte das so sein.« (Int. 14, 49)
Eltern – Partner Viele der Frauen erleben in der Abschiedszeit mit ihrem Partner eine enge Verbundenheit. Die gemeinsame Zeit mit dem Kind ist auch eine bewusste Konstruktion von Eltern-Sein für dieses Kind. Die verbleibende Zeit wird von den Frauen erlebt als eine Zeit, in der der Partner aktiv eine Vaterrolle einzunehmen versucht. Dabei scheint ein wichtiger Einflussfaktor, wie sich diese Vaterrolle ausdrückt die Bedeutungszuschreibungen an diese Vaterrolle zu sein. Der Partner von Dorothee begleitet die verstorbene Tochter noch auf den letzten Stationen bis zum Krematorium: »Also der war dann überall auch mit dabei. Weil er gesagt hat, das ist jetzt mein Part. Ich will sie jetzt beschützen, bis wir sie nicht mehr beschützen dürfen.« (Int. 16, 65)
Die Männer übernehmen »ihren Part« bei der Sorge für das Kind in der verbleibenden Zeit, aber auch über den Tod hinaus. Für Dorothees Mann umfasst dies das Beschützen des toten Kindes, das Da-Sein fürs Kind bis zur Beerdigung. Für andere Männer sind es Handlungen wie das Schreinern des Sarges oder die Organisation der Bestattung. Wenn Kinder noch eine kurze Zeit leben, ist das gemeinsame Sorgen und Kümmern um das Kind etwas, das das Eltern-Sein unterstützt. Dieses gemeinsame Eltern-Sein findet dabei auch Ausdruck in der Gestaltung der Abschiedszeit mit dem verstorbenen Kind. Dorothee: »Und sie lag dann halt 24 Stunden mit uns da zusammen, hat auch zwischen uns geschlafen, also wir ham geschlafen, sie nicht.« (Int. 16, 60)
Wie auch andere Frauen, verbringt Dorothee die erste Nacht nach dem Tod ihrer Tochter gemeinsam mit ihrem Mann und dem toten Kind. Das Verbringen einer Nacht mit dem verstorbenen Kind und das gemeinsame Trauern um dieses Kind
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führen zumindest für diese erste Abschiedszeit zu einer engen Verbundenheit bei vielen der Paare. Integration der Geschwister Die Integration des Kindes in die Familie umfasst insbesondere auch das Einbeziehen der lebenden Kinder. Alle Frauen lassen ihre Kinder das verstorbene Kind begrüßen und verabschieden. Bei Karin sind die älteren Kinder gleich nach der Geburt des Bruders da, lernen ihn lebend kennen und sind beim Sterben dabei. Karin: »Sie (Anm.: Karins beide ältere Kinder) haben ihn kurz nach der Geburt gesehen. Sie haben gesehen, dass er friedlich / ich glaub, des sagt man so / gestorben ist. Also dass es nichts Qualvolles war. Des hat ihnen viel Angst genommen. Und ich glaube, letztendlich ist für die ja entscheidend mein Umgang damit. Also wenn sie merken, dass ich gut umgehe damit, dann geht’s ihnen auch gut damit.« (Int. 9, 70)
Karin sieht für ihre Kinder dieses Dabei-Sein als etwas, das ihnen die Angst vor dem Sterben des Bruders nimmt, vielleicht auch dem eigenen Sterben. Dabei sieht sie ihren eigenen Umgang mit der Situation als Orientierung für die Kinder. Ihr kommt also eine Vorbild- und Sorgefunktion für ihre lebenden Kinder zu. Die Frauen wünschen sich, dass das Geschwisterkind bzw. die Geschwisterkinder das Kind nach der Geburt noch lebend kennenlernen können. Rabea: »Am anderen Morgen, so um halb 9 ham mer gsehen, dass sie noch lebt, dann hat mein Mann angerufen bei meine Eltern und hat gsagt, kommt doch bitte her, bringt auch unsere Große mit. Und die kamen auch noch genau rechtzeitig. Die ist ins Bett reingekrabbelt und hat gesagt ›Baby‹. Hat sie dann in Arm genommen und hat sie ganz vorsichtig gestreichelt, also wirklich so mit den Fingern. Die hat gemerkt, da stimmt was net und ja und kurz danach ist sie dann einfach eingeschlafen.« (Int. 7, 65–66)
An Rabeas Wahrnehmung des Kennenlernens des Babys durch die ältere Schwester wird deutlich, dass die Frauen dem Körperkontakt zwischen den Kindern eine wichtige Bedeutung zuschreiben. Durch Berührung entsteht dabei zum einen eine Verbundenheit zwischen den Geschwistern, darüber hinaus macht die Berührung des toten Kindes aber auch diesen Tod »begreifbar«. Viele der Frauen beschreiben den Kontakt der Kinder mit Adjektiven wie »liebevoll«, »vorsichtig«, »zärtlich« und sind berührt von der Verbindung, die sie zwischen den Kindern sehen. Ursel: »Und, ämmm (…) und sie (Anm.: die ältere Tochter) hat die (Name des Babys) / des Halten von der (Name des Babys) und dann musst sie se küssen, des war ganz ganz arg liebevoll so (…) Aber halt nur so kurz, wie es halt für ein zweijähriges Kind halt ist.« (Int. 20, 215)
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Die Wahrnehmung dieses Kontakts der Kinder bringt für manche der Frauen auch ein Stück Normalität zurück: Die Kinder nehmen das Baby als Geschwisterchen wahr und freuen sich. Elke: »Die Kinder ham ihn viel rumgetragen. Die (Name der Tochter) halt vor allem ganz stolz. Der (Name des Sohnes) eher weniger, der war da net so. Aber die (Name der Tochter) hat ihn ganz stolz durch die Gegend geschleppt.« (Int. 17b, 34)
Elke nimmt bei ihrer Tochter Geschwisterstolz auf das Brüderchen wahr. Die Tochter darf das Kind herumtragen, so wird das Baby real für die Geschwister und sie können auch den Tod des Kindes begreifen. So »zeigen« manche der Kinder dem verstorbenen Kind auch ihr Zimmer. Inken: »Seine Schwester hat ihm (Anm.: dem verstorbenen Kind) alles gezeigt. Hat ihr Zimmer gezeigt und bei jedem Raum, wo er da gewesen ist, überall ham wer ihn mit seinem Sitz hingesetzt und überall fotografiert und er musste überall mit hin.« (Int. 14, 44)
Wie tröstend die Wahrnehmung von Verbundenheit der Geschwister sein kann wird besonders deutlich auch an Heidruns Erzählung der verbleibenden Zeit bis zum Tod des einen Zwillings. Heidrun: »Die ham dann immer auf der Coach so zusammen gelegen mit einem Stillkissen. Also so ham sie selten gelegen wie da (zeigt auf Foto, auf dem die Kinder etwas auseinanderliegen), sondern sie ham eigentlich immer Köpfchen an Köpfchen, Näschen an Näschen und der eine hatte immer einen Arm um den anderen, immer. (…) Und wirklich, wenn der eine angefangen hat zu krähen, fing der andere, sobald die sich wieder irgendwo berührt haben, ja, wenn wir kamen auch, aber ganz anders, sobald die sich berührt haben, ist der andere ruhig geworden, des war wirklich ein unglaubliches Gefühl, das zu sehen wie nah die sich sind und dass einfach auch des erleben zu dürfen. Des hat jede Träne, die ich in der Schwangerschaft geweint hab, vollkommen überdeckt und des war ne sehr sehr schöne Woche wie gesagt.« (Int. 8, 75–76)
Heidrun nimmt die Verbundenheit der Zwillinge vor dem Tod des einen Zwillings als schön und tröstend wahr, es ist zum einen die körperliche Nähe, die die Kinder zu suchen scheinen. Darüber hinaus spricht Heidrun über die Nähe der Kinder fast wie über eine sorgende Beziehung, ein gegenseitiges Trösten und Beruhigen und Füreinander-Dasein. Für viele Kinder, wenn sie noch jünger sind, scheint das Begreifen, dass das Baby tot ist, zunächst schwierig – Tod ist abstrakt. Harriet erzählt über den Umgang ihrer jüngeren Tochter mit dem Tod des Bruders, der während der Geburt verstarb: »Und die (Anm.: die Tochter) hat nach der Geburt ganz lange gebraucht, das zu realisieren. Also, wir ham die Kinder dann als (Name des toten Kindes) geboren war, is die Nachbarin dann auch gekommen und wir ham den Kleinen dann auch den beiden
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gezeigt. (Name der älteren Tochter) hat ihn auch ein bisschen gestreichelt, (Name der jüngeren Tochter) mochte ihn nicht anfassen. Ämmm. Und die wussten dass er tot ist, weil der hat ja nicht gelebt. Die ham ihn ja gesehen. Wir ham denen ja auch erzählt, dass wir ihn beerdigen. Und trotzdem fing (Name der jüngeren Tochter) dann immer wieder an: ‹Wann kommt endlich die Hebamme und bringt meinen Bruder?‹ Und die war richtig einmal richtig sauer auf die Hebamme, so nach dem Motto, die bringt mir meinen Bruder nicht. (…) Dann irgendwann nach drei Wochen, als es mir dann auch besser ging, sind wir dann das erste Mal auf den Friedhof. Und dann sagte dann (Name der jüngeren Tochter) ›Hurra. Wir fahren zum Friedhof, wo (Name des toten Kindes) wohnt!‹ Und dann wars gut. Als sie dann am Grab gestanden hatte und hier wohnt (Name des toten Kindes), dann konnte sie das, glaub ich, irgendwie besser begreifen, dass er nicht mehr kommt.« (Int. 13, 60–63)
Harriet lässt ihre Töchter ihren verstorbenen Sohn sehen, sie verabschieden sich und scheinen zu begreifen, dass er tot ist. Die Endgültigkeit und Unwiederbringlichkeit des Todes sind für Kinder aber schwer zu begreifen. Der Sohn von Elke schlägt ihr beispielsweise vor, das Baby wieder auszugraben, damit sie nicht mehr so traurig sein muss.64 Die Frauen sehen sich damit konfrontiert, neben ihrer eigenen Trauer auch dem Kind den Tod des Babys verständlich zu machen – das Unbegreifliche erklären zu müssen. Manche Frauen wünschen sich im Rückblick, dass der Kontakt ihres lebenden Kindes mit dem verstorbenen Neugeborenen intensiver gewesen sei. Saskia: »Ja und (Name des Sohnes) hab ich, und des ist das Einzige, was ich im Nachhinein wieder bereue, (Name des Sohnes) hab ich ebent bei ner Freundin gelassen, oder Freundin war ebnt die Tagesmutter, die hatte dann gesagt, ja ich nehm ihn. Weil ich dann gesagt hab: ›Ich nehm ihn doch nicht mit nach Hause holen und (Name des verstorbenen Kindes) is da.‹ (…) Ich sach mal, beim nächsten Mal würd ich es nich mehr machen, da würd ich sagen holen. Denn als (Name des Sohnes) nach Hause gekommen is, als ich dann gesagt hab, ›Ihr könnt mir (Name des Sohnes) jetz bringen, ich bin soweit‹, (Name des verstorbenen Kindes) war ja dann schon weg (…) Und als er hier reingekommen is ins Zimmer geguckt, alles weg: ‹Wo is meine Schwester?!‹ (…) (weint).« (Int. 12, 226–227)
Rückblickend möchte Saskia ihren Sohn mehr einbeziehen, er kann zwar die Schwester kurz in der Klinik halten, den intensiven Abschied zu Hause orga64 Manchmal ist es auch so, dass die Frauen selbst das Annehmen der Endgültigkeit des Todes als schwierig empfinden, wie Karin, die hier von einem Gespräch mit einem Mädchen, mit dem sie beruflich zu tun hat, berichtet: »Es ist ja, ich arbeite im (Anm.: Name einer Kinderund Jugendeinrichtung) und hab mit einem kleinen Mädchen (Name des verstorbenen Kindes) Album angeguckt. Und dann hat sie mich gefragt: ›Und, ist dein Kind immer noch tot?‹ Und dann hab ich gedacht, ja kleine (Name des Mädchens), das ist das Problem. Mein Kind ist ja immer noch tot. Ich muss ja immer noch aushalten, dass er tot ist. Und das für den Rest meines Lebens.« (Int. 9, 66)
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nisiert Saskia aber für sich allein, bringt ihren Sohn bei einer Freundin unter. Saskia erlebt das Suchen ihres Sohnes als schmerzhaft, als wenn sie dem Sohn die Schwester genommen hätte. Viele der Frauen versuchen, für ihre Kinder Erklärungen zu finden, was Tod ist und wo das Geschwisterchen jetzt ist. Heidrun: »Und wir hatten dann Thema, in welcher Vorstellung sie an ihn denken und da sind wir dann auf die religiöse, auf das religiöse Thema zurückgegangen, einfach weil wir so groß geworden sind und weil es einfach und auch für Kinder von der Vorstellung her, er ist jetzt im Himmel bei Gott und der passt auf ihn auf und (Name des Partners) Mutter ist auch schon gestorben, dann war er mit der Oma. Und dann sind Kanarienvögel gestorben und die sind alle jetzt zusammen und vereint. (…) Dann hatten wir Karnickel und dann ist eins gestorben und dieses Karnickel ist jetzt auch beim (Name des verstorbenen Sohnes) da oben. Es ist eine sehr einfache und muss ich sagen tröstliche Vorstellung für die (Anm.: ihre anderen Kinder).« (Int. 8, 86–87)
Für manche der Frauen sind die kindlichen Erklärungsmodelle und Jenseitsvorstellungen tröstend, die Vorstellung, dass alle Verstorbenen im Himmel vereint sind. Für andere Frauen ist gerade die Tatsache, dass ihre Kinder den Tod nicht wirklich begreifen, sondern das verstorbene Geschwisterchen in ihr Leben integrieren, etwas, das sie als positiv erleben. Elke: »Ja. Ich sag, klar, mit den Kindern springt man draußen rum. Man ist abgelenkt und sieht die fröhlich hüpfen und ämm (…) mir fällt des jetzt au net schwer und die kommen schon immer wieder an und sagen, (Name des toten Kindes) und dann mal ich jetzt für ihn ein Bildchen und dann mach ich des / und der (Name des lebenden Sohnes) schenkt sein Laufrad dem (Name des toten Kindes), wo ich dann gsagt hab, da wer mer uns schwer tun, ihm des zu bringen (lacht) aber (lacht) alles was ihm zu klein is, schenkt er alles dem (Name des toten Kindes) (…) Also des macht jetzt (…) des find ich eher schön, dass er doch so lebt also irgendwo, dass die Kinder ihn auch irgendwo (…) haben als.« (Int. 17b, 83)
Die Kinder sprechen über das Geschwisterchen, malen ihm Bilder, geben Spielsachen weiter, als ob das Kind nur um eine Ecke gegangen wäre und jeden Moment zurückkommen könnte. Für Elke ist dies tröstend, sie nimmt diese Integration in die Alltagswelt der Kinder als eine Art indirektes Weiterleben des verstorbenen Kindes wahr. 10.6.3.4 Taufe als Abschieds- und Einbindungsritual In den Daten zeigt sich, dass für viele der Frauen bestimmte Rituale eine erweiterte Bedeutung bekommen. Hier soll exemplarisch die Bedeutung, die die Frauen in der Taufe des Kindes sehen, beschrieben werden. Für viele der Frauen (oder bei manchen Paaren deren Partner) ist es wichtig, dass ihr Kind noch getauft wird und sie organisieren diese Taufe bereits in der
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Schwangerschaft, sprechen mit einem Seelsorger bzw. Seelsorgerin, bereiten eine Taufkerze vor etc. Für manche Frauen ist die Taufe von so großer Wichtigkeit, dass, wenn nicht absehbar ist, wie lange das Kind nach der Geburt leben wird, der Vater des Kindes oder die Hebamme eine Nottaufe durchführen. Elke: »Ja. Getauft. Nach der Geburt eigentlich gleich. Die (Name der Hebamme) hat ne Nottaufe gemacht mit ihm. (…) Seine Geburtskerze angezündet und ham ihn getauft. Des war mir schon wichtig. Also des wollt ich auch, wenn ich jetzt nicht so (…) ja so arg katholisch gläubig bin, sag ich jetzt mal und mit Kirche auch. Aber des wollt ich dann schon. Weil die anderen beiden sind getauft und des sollt er auch haben. (…) Und der Pfarrer hat dann auch gefragt, ob er getauft ist und hat ihn dann auch gesegnet. Die Taufkerze ham mer dann auch angehabt, brennen ghabt hier (…) ämm, und der hat dann / der nimmt ihn dann ins (Name des Wohnorts) Taufbuch mit auf. Zwar ohne Nummer, weil er is ja nicht in (Name des Wohnorts) getauft worden ist, aber er nimmt ihn auf, hat er gesagt. Also (…) auch okay.« (Int. 17b, 27–29)
Für Elke ist die Taufe etwas, das ihr Sohn auch haben soll, so wie ihre beiden anderen Kinder. Auch wenn er nur kurz lebt, will sie für ihren Sohn das Gleiche tun wie für ihre anderen Kinder : Er soll gleichgestellt sein gegenüber den anderen Geschwistern. Für Elke ist es zudem von Bedeutung, dass ihr Sohn im Taufbuch der Gemeinde aufgenommen wird, er soll einen Namen haben und »registriert« sein: Er soll ein »jemand« in der Gemeinschaft sein und nicht vergessen werden.65 Bei Inken zeigen sich weitere Aspekte, die über die religiöse Bedeutung der Taufe hinausreichen. Sie sieht die Taufe auch als Ausdruck der »Anerkennung irgendwie, dass er dagewesen ist.« Die Taufe sieht Inken als Wertschätzung für die Existenz des Kindes, die sich auch in der Dokumentation und Veröffentlichung dieser Existenz ausdrückt. Gleichzeitig ist Taufe für Inken auch Ausdruck einer Normalität: Ein Kind wird geboren – es soll getauft werden: »Also jetzt das Taufen lassen / ich muss jetzt sagen, wir sind jetzt nicht (…) tiefreligiös oder so. Obwohl es irgendwie / gehörte das für uns (…) mit dazu.« (Int. 14, 46)
Wie Inken betonen viele der Frauen (vgl. Elke oben), dass sie nicht »tiefreligiös« sind. Vielleicht ist gerade dort, wo die gesellschaftlichen Anerkennungswerte nicht so klar sind, die Hinwendung zum Religiösen zu beobachten, auch als eine Art Zusage oder »Sicherheit«. 65 Martina Kraml verdanke ich den Hinweis darauf, dass sich im Taufgedanken auch ein uralter Gedanke, ein Stück Erbe des Christentums spiegelt – »Kann eine Mutter ihren Säugling vergessen? Bringt sie es übers Herz, das Neugeborene seinem Schicksal zu überlassen? Und selbst wenn sie es vergessen würde – ich vergesse dich niemals! Unauslöschlich habe ich deinen Namen auf meine Handflächen geschrieben, deine zerstörten Mauern habe ich ständig vor Augen!« (Jesaja 49/15–16)
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Für einige Frauen ist auch die bewusste Auswahl eines Taufpaten ein wichtiges Verbindungsstück ihres verstorbenen Kindes zu ihrem Umfeld, ihrer Familie. Bei manchen Frauen zeigen sich aber auch Aspekte religiöser Bedeutungszuschreibungen an die Taufe, die mit ihren christlich geprägten Jenseitsvorstellungen in Zusammenhang stehen. So sagt Inken im weiteren Gesprächsverlauf über die Taufe: »Wenn man sich das vorstellt, dass er da oben beim lieben Gott ist irgendwo, dass es dann auch alles seines Richtigkeit hat.« (Int. 14, 47) Für Heidrun ist die Taufe ihres Sohnes, mit dessen Tod in den nächsten Tagen sie rechnet, wie ein Abschiedsritual. Heidrun: »An dem Tag kam dann noch der Pfarrer, der Krankenhauspfarrer, und hat den (Name des Sohnes) dann getauft, das hatten wir vorher schon klargemacht, dass da einer kommt. Das war auch sehr einfühlsam und er hat (Name des Sohnes) damals ein Kreuz geschenkt, aus Südamerika gibt’s so Kreuze, so bunt bemalt, das war damals sehr schön. Da hab ich nur gedacht, merkwürdigerweise, es ist jetzt alles erledigt, jetzt könnt er auch gehen. Das war / da war ich ruhiger.« (Int. 8, 65–66)
Heidrun erlebt die Taufe als etwas, das vor dem Sterben des Kindes getan werden muss – als ihr Sohn getauft ist, hat sie das Gefühl, alles sei erledigt. Taufe ist für sie mit dem Gefühl der Vollständigkeit verbunden und mit Loslassen-Können. Eine weitere Komponente bei Heidrun ist, dass ihr Sohn wie ein gesundes Kind ein Taufgeschenk erhält. Diese Behandlung »wie ein normales Kind« in der Taufe wird auch von Anne positiv erlebt: »Um halb sechs in Kreißsaal und dann wurde der (Name des Sohnes) getauft und das war eigentlich ne sehr schöne Feier (…) Und das fand ich irgendwie sehr positiv und irgendwie ganz schön fand ich dann, dass es so behandelt wird wie ein normales Kind.« (Int. 1, 126)
Bei Anne zeigt sich darin die Sehnsucht nach einer »Aufhebung« der Mängel ihres Kindes: Dem Kind wird Würde gegeben, seine Würde anerkannt. 10.6.4 Raum für Abschied Der Raum, den Frauen für den Abschied von ihrem Kind haben, und die Bedingungen, die diesen Raum ermöglichen oder einschränken, werden im Folgenden dargestellt. Dieser Raum bezieht sich dabei zum einen auf den konkreten Raum, das Abschiedszimmer oder den Abschiedsort, darüber hinaus aber auch auf die Handlungen oder Praktiken und den Zeitraum, der für diesen Abschied zur Verfügung steht. Abschiedsraum – Raum für Abschied Diejenigen Frauen in der vorliegenden Untersuchung, deren Kind zu Hause stirbt – entweder bereits vor oder während der Geburt oder kurz danach –, aber
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auch diejenigen Frauen, deren Kind noch eine Zeit lang zu Hause lebt und dort verstirbt, haben das verstorbene Kind, bis es vom Bestattungsunternehmen abgeholt wird, bei sich in den eigenen Wohnräumen. Auch manche der Frauen, die im Krankenhaus geboren haben, wünschen sich, dass ihr verstorbenes Kind noch nach Hause kommt und organisieren sich den Transport des verstorbenen Kindes dorthin. Die Kategorie »Das Kind im eigenen Zuhause verabschieden« hat dabei unterschiedliche Dimensionen. Auf theoretischer Ebene ist das Heimbringen des gesunden Neugeborenen nach der Geburt im Krankenhaus, aus der Institution in die eigene Alltagswelt, das eigene Zuhause ein wichtiger Übergang im MutterWerden/Mutter-Sein. Nach und nach begrüßen die Familie, das nahe Umfeld das Neugeborene, gratulieren der Mutter, Mutter und Kind finden allmählich in einen neuen Alltag. Das Heimbringen des toten Neugeborenen kann für manche der Frauen vor diesem theoretischen Hintergrund als ein Rest Normalität interpretiert werden. Gleichzeitig werden mit dem Erleben des Kindes in der eigenen Umgebung auch Erinnerungen konstruiert, die mit Normalität mit dem Kind im eigenen Zuhause verbunden sind. Um ihr Kind von der Klinik nach Hause bringen zu können, brauchen die Frauen aber die Information, dass dies überhaupt möglich ist. Inken hat in der Klinik geboren, ihr Sohn wird von einem Bestatter abgeholt. Bei der Besprechung der Beerdigung äußert Inken, dass sie ihren Sohn gern zu Hause gehabt hätte. Der Bestatter bietet ihr dies an und bringt das tote Kind für einige Stunden ins Wohnhaus der Familie. Über diesen Abschied erzählt Inken: »Irgendwie (…) war das irgendwie so, dass (…) wenn er hier ist, so als Familie ihm das zu zeigen, so ja (…) das ist dein Zuhause oder das wär dein Zuhause gewesen. Hier wärst du aufgewachsen (…) Ja. Seine Schwester hat ihm dann das Zimmer gezeigt. So ›Das wär dann dein Zimmer gewesen.« und ja (…) Und irgendwie (…) dass er halt auch hier war (…) und für uns nich nur die Erinnerung ist, ja Krankenhaus und (…) Friedhof, wo man jetzt halt den Platz hat. Sondern dass er halt tatsächlich auch hier gewesen ist. Und (…) irgendwie (…) sollte das so sein.« (Int. 14, 49)
Die Eltern und das Geschwisterkind nehmen das Kind gemeinsam auf, zeigen ihm das Haus, machen Fotos vom Kind in den Zimmern, in denen es hätte leben sollen, wenn alles gut gegangen wäre. Auch bei anderen Frauen sind die Geschwisterkinder, wenn sie alt genug sind, bei diesem Abschied vom Kind eingebunden, nehmen für kurze Zeit das Kind als Geschwisterchen mit. Gleichzeitig ist dieses Herumtragen des Kindes durch die Lebensräume der Familie auch ein Abschiednehmen von diesem gemeinsamen Leben mit dem Kind und eine Auseinandersetzung damit, was nicht sein wird. Inken erzählt über die Begrüßung ihres Sohnes durch ihre Familie und enge Freunde:
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»Nachmittags sind dann auch noch Freunde und Verwandte gekommen und dann (…) irgendwie (…) er war da. Er saß auf dem Sofa mit seinem Kindersitz. Und er saß dann halt einfach mit dazwischen, so wie es eigentlich sein sollte.« (Int. 14, 49)
Als Familie und Freunde kommen, sitzt das tote Kind zwischen ihnen »so wie es eigentlich sein sollte« – aber eben nicht ist. Das Begrüßen und der Abschied des Kindes sind so etwas, was von Umfeld und Familie gemeinsam erfolgt. Die Existenz des Kindes kann so an Realität gewinnen und ins Leben integriert werden, die Frauen haben Bilder des Kindes in ihrer Alltagswelt in ihrer Erinnerung. Das Kind wird so zu einem Kind, das wirklich in der Familie, in den gemeinsamen Wohnräumen, wenn nicht gelebt, so doch existent war. Saskia hat ihre verstorbene Tochter nach Hause gebracht bekommen – das Organisieren dieses Transports ist für sie nicht einfach, denn einige Bestatter verlangen viel Geld oder lehnen den Transport des toten Kindes vom Krankenhaus nach Hause ab. Schließlich findet Saskia einen Bestatter, der ihre Tochter ohne Kosten mit einer anderen Überführung zu ihr nach Hause bringt. Dort ist sie einen Tag allein mit ihrer Tochter : »Für mich / ich wees, ich kann jetz nichts sagen, aber ich wollte auch so ein bisschen auch die Trennung rausschieben, so dieses Endgültige (…) also richtig beschreiben kann ich es jetzt nicht, warum ich sie unbedingt zu Hause haben wollte. Es war einfach so ein Gefühl. Ich / die muss nach Hause. Die gehört irgendwo hierher. Ich muss se erst mal wenigstens eine Nacht noch bei mir gehabt ham (…) Ich hab gesagt, okay, am nächsten Tag können sie sie wieder holen. Aber ich wollt sie / diese eine Nacht wollt einfach noch mal rauszögern oder wie auch immer oder wirklich nur wir beide ganz privat im privaten Raum zusammen sein oder vielleicht auch noch mal Fotos machen und so und ich hab sie och noch mal umgezogen. Ihr noch mal andre Sachen angezogen.« (Int. 12, 223)
Das Daheim-Haben ermöglicht Saskia, noch Zeit allein mit ihrer verstorbenen Tochter zu verbringen, im geschützten und intimen Raum des eigenen Zuhauses. Um ihre tote Tochter loslassen zu können, braucht sie diesen Zeitraum, in dem sie ungestört mit ihr sein kann.66 (Siehe unten) Für diejenigen Frauen, deren Kinder nie zu Hause waren, können Erfahrung der Lebenszeit und der Verlust im Rückblick unwirklich erscheinen. Alle Erinnerungen an ihr Kind sind mit einem »fremden Ort«, der Institution Krankenhaus, verbunden. Friederike: »Es ist dann ein bisschen unwirklich schon, also dadurch, dass ich ihn nie zu Hause hatte, ist es ein bisschen unwirklich.« (Int. 3, 95) 66 Auch andere Frauen, die ihre Kinder im Krankenhaus noch eine Zeit lang bei sich haben, betonen bei der Beschreibung von als positiv erlebten Betreuungssituationen nach dem Tod des Kindes dieses: »Es war immer jemand da, wenn wir was gebraucht hätten, aber man hat uns in Ruhe gelassen.«
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So ist die Existenz, das kurze Leben ihres Sohnes für Friederike »ein bisschen unwirklich«. Sechs Wochen nach der Geburt verstirbt Friederikes Sohn in der Klinik auf der Kinderintensivstation; sie hat ihn nur dort kennengelernt, in ihrem Daheim war er nie. Die gemeinsam gelebte Zeit findet in einer Institution statt, ist den Rhythmen und Bedingungen dieser Institution unterworfen. Gerade beim Abschied im Krankenhaus zeigt sich die im Folgenden beschriebene Kategorie der Abschiedszeit als wichtige intervenierende Bedingung für das Erleben des Abschieds. Abschiedszeit – Zeit für Abschied Die Rahmenbedingungen unterscheiden sich dabei stark. Frauen, die zu Hause geboren haben oder deren Kind nach einer kurzen Lebenszeit zu Hause verstirbt, können – zumindest die Frauen, die im Rahmen der vorliegenden Studie befragt wurden – ihr totes Kind noch eine Zeit lang bei sich haben, manche bis zur Beerdigung. Bei denjenigen Frauen, die in der Klink geboren haben, zeigt sich hingegen ein heterogenes Bild. Während in der Klinik manche der Frauen ihr Kind bis zu mehreren Tagen bei sich im Zimmer behalten können, gibt es auch Frauen, die ihr Kind nur kurz sehen können. Im Folgenden sollen die wichtigsten Aspekte, die mit dem »Zeitraum des Abschieds« in Zusammenhang stehen, beschrieben werden. Als wichtiger Aspekt des Abschiednehmens zeigt sich in den Daten das Begreifen des Todes. Für viele der Frauen stellt dabei auch das Wahrnehmen körperlicher Veränderungen des toten Körpers einen wichtigen Schritt dar. Für viele derjenigen Frauen, die den Zeitpunkt des Abgebens des Kindes selbst bestimmen können, zeigt sich ein schrittweiser Ablöseprozess vom Kind. Beispielhaft kann dies an Karins Erinnerung verdeutlicht werden: »Des war auch sehr schön, dass die Frau (Name der Bestatterin) vom Beerdigungsinstitut / die ist speziell für Kinderbestattungen zuständig. Die weiß sehr gut damit umzugehen. Und die uns dann auch ganz klar gesagt hat, nach 36 Stunden muss man normalerweise die Toten irgendwo anders aufbahren, aber des sei eine Ordnungswidrigkeit und sie würd niemanden erzählen, dass der Kleine bei uns bleibt. So kam des, dass er dann vier Tage bei uns geblieben ist. Aber sie hat ihn dann am letzten Tag, bevor er beerdigt worden ist, noch mitgenommen, weil sie gesagt hat, es wär einfach für unsere Seele gut, wenn wir ihn erst mal abgeben würden, bevor er beerdigt wird. In diesen vier Tagen war irgendwie so alles, so ganz viel immer noch Freude, dass er so da war und dass alles so gut gegangen ist. Auch Erleichterung drüber, was alles nicht Schlimmes passiert ist. Ich hatte natürlich auch ganz normal, kurz vor der Geburt eine eigene Todesangst. So dieses – was ist, wenn des alles nicht funktioniert und die Klinik weit weg und so und ja, des wurde alles in diesen vier Tagen noch verarbeitet (…) die Geburt, sein Sterben. Wir haben ihn dann den ersten Tag, die erste Nacht viel rumgetragen. Von Arm zu Arm alle hatten noch mal Gelegenheit, sich von ihm zu verabschieden. Und nach 24 Stunden
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hab ich schon gemerkt, jetzt möchte ich nicht mehr, ich möchte jetzt, dass er seine Ruhe hat. Und hab ihn in die Wiege gelegt. Dann ham wir ihn da noch rumgeschoben und die Kinder ham den Sarg angemalt und ham ihn immer hin und hergeschoben, weil es bei uns so eng ist. Aber hat so dazugehört auch. Und der Tod hat damit seinen Schrecken genommen. Dadurch dass man einfach so mit ihm umgegangen ist und er auch so da war. Ich weiß noch (…) wir sind losgegangen, um für seine Beerdigung etwas zu suchen aus dem Wald. So eine Art Grabstein, Holzklotz, um seinen Namen draufzumachen und einen Stein dazu. Wir sind dann losgegangen und ham ihn hier zurückgelassen und meine Mutter sagt dann so: ›Ja wie, du willst ihn hier so allein zurücklassen?‹ Müsst ich überall sonst auch und ich kann ihn ja nicht mitnehmen. Des ist jetzt alles Abschied! Trotzdem würd ich ihn gern ins Tragetuch packen und mit ihm in Wald gehen. Aber des wird nie möglich sein. Und da hab ich gemerkt, da hab ich schon ganz viel in der Schwangerschaft von Abschied genommen. Mir war klar, dass ich ihn nie im Tragetuch tragen werde. Und des wusst ich nachher nicht / doch / ein bisschen schon. Abschied nehmen davon. Da war viel Abschied von ihm selber, dem kleinen Jungen.« (Int. 9, 54)
Karin hat ihren Sohn vier Tage lang nach seinem Tod bei sich. Aus ihrer Geschichte lassen sich Stufen des Loslassens herausarbeiten, die sich auch bei anderen Frauen für den Prozess des Abschiednehmens zeigen. In den ersten 24 Stunden hat Karin viel Körperkontakt, trägt das tote Kind herum. Auch von den Geschwisterkindern und seinem Vater wird das Kind immer wieder gehalten. Nach einem Tag kommt für Karin der Punkt, an dem sie merkt, dass sie das tote Kind nicht mehr körperlich so nah haben möchte. Das Ablegen des Kindes in seine Wiege stellt einen ersten Abschied dar. Das Kind ist weiter im selben Raum – »gehört so dazu« – ist beispielsweise da, als die Geschwister seinen Sarg bemalen. Den nächsten Schritt des Abschieds stellt für Karin die erste räumliche Trennung dar. Sie lässt das tote Kind für einen kurzen Zeitraum allein zu Hause zurück, widersteht dem Impuls, das tote Kind im Tragetuch mitzunehmen. Für Karin ist dann ein weiteres Loslassen die räumliche Trennung durch die Abgabe des Kindes ans Bestattungsinstitut vor dem endgültigen Abschied durch die Beerdigung. Bei vielen der Frauen, die den Abgabezeitpunkt des Kindes selbst bestimmen können, verläuft die Ablösung vom Kind ähnlich schrittweise: vom engen Körperkontakt zum Ablegen im Bettchen und viel anschauen bis hin zur räumlichen Trennung nach den ersten Tagen, dem Transport des Kindes ins Bestattungsinstitut oder der Aufbahrung des toten Kindes in einem kühlen Raum im Wohnhaus. Zentral bei diesem schrittweisen Abschiednehmen erscheint das Begreifen des Todes im wahrsten Sinne des Wortes. Bei anderen ist es so, dass die Wahrnehmung von körperlichen Veränderungen des toten Kindes den Wendepunkt darstellt, an dem sie ihr Kind abgeben wollen. Anita:
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»Und wir hatten ihn dann vielleicht (…) bis halb zehn oder zehn am Vormittag da und dann is er aber schon / hat er sich einfach schon so verändert, weisch so. Dass ich dann gsagt hab, ich würd ihn lieber jetzt in Erinnerung ham, wie mer ihn hatten und jetzt net noch / wie lang, i weiß net, Stunden. Sie ham au gsagt, wir dürfen ihn jederzeit noch mal sehen oder so dann. Aber des wollt ich dann nimmer. Da ham mer ihn dann einfach abgeben.« (Int. 19, 76)
Während Anita schon nach einigen Stunden das Gefühl hat, ihren Sohn abgeben zu wollen, dauert für andere Frauen das »Begreifen des Todes« und schließlich Abgeben-Können des Kindes länger. Frauen erleben es dabei als unterstützend, wenn ihnen dieser Zeitraum auch in der Klinik zugestanden wird. So können manche Frauen ihre Kinder solange in der Klinik bei sich behalten, wie sie möchten, wie Dorothee erzählt: »Aber die ham uns erlaubt, einfach solang mit ihr zusammen zu sein, wie wir das Gefühl haben, wir könnten jetzt einen ersten Abschied verkraften. Und wir ham dann halt noch 24 Stunden mit ihr in diesem Kreißsaal verbracht. Also sie ham uns dann noch einen Extrabett reingestellt, dass wir da zusammen drin schlafen können. Und sie lag dann halt 24 Stunden mit uns da zusammen, hat auch zwischen uns geschlafen, also wir ham geschlafen, sie nicht.« (Int. 16, 60–61)
An Dorothees Erzählung wird deutlich, dass der Zeitraum des Abschiednehmens in engem Zusammenhang mit dem Ort des Abschiednehmens steht. Dorothee und ihrem Partner wird beides in der Klinik ermöglicht: Sie bekommen ein Bett, können beide im vertrauten Kreißsaal bleiben und bekommen den Zeitraum für ein selbstinitiiertes Abschiednehmen angeboten. Nach dem ersten Abschied in der Klinik braucht Dorothee auch in der folgenden Zeit noch viel Zeit mit ihrer verstorbenen Tochter ; die zwei Wochen zwischen dem Tod ihres Kindes und der Bestattung beschreibt sie folgendermaßen: »Und wir durften auch da jeden Tag hingehen und wir waren also jeden Tag stundenlang da bei ihr in diesem Raum gesessen und, ämm, mussten uns halt vorher immer anmelden, damit die des dann so ein bisschen schön herrichten. Und, des war so ein Kühlraum, aber wir hatten den so ganz für uns alleine. Und dann sind auch meine Familie ist immer wieder gekommen und hat gefragt, ob sie noch mal irgendwie gucken darf oder sich verabschieden darf. Da waren irgendwie viele da.« (Int. 16, 65)
In den 14 Tagen zwischen Geburt und Bestattung verbringen Dorothee und ihr Partner »jeden Tag stundenlang« bei ihrer verstorbenen Tochter und auch Familienmitglieder »besuchen« das Kind immer wieder. Für andere Frauen, die in der Klinik gebären und deren Kind in der Klinik stirbt, kann es schwierig sein, einen solchen intensiven Abschied zu gestalten. Sie sind abhängig von den jeweiligen institutionellen Gepflogenheiten der Klinik. So kann es sein, dass die Eltern zwar ihr verstorbenes Kind noch sehen können, der Zeitpunkt der Abgabe aber von außen initiiert ist, meist mit dem
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Argument, das Kind kühlen zu müssen: »bisschen kälter legen« (Int. 12, 202). Gerade ein als zu kurz erlebter Zeitraum kann von Frauen aber als belastend erlebt werden. Cosima: »Ich hätts vielleicht gern über Nacht bei mir im Zimmer ghabt, also länger bei mir ghabt, was net ging und was für mich au schwierig war, weil die Hebamme hat zerscht gmeint: ›Ja, Sie müssen dann noch mal in Kreißsaal kommen, wenns Ihr Kind sehen wollen.‹ Des wär für mich der Graus gwesen. Aber dann gings ja, dass wir es im Zimmer ham konnten und die Familie war grad da (weint) und konnt no gucken.« (Int. 2, 82–83)
Cosima hat innerhalb der Krankenhausstrukturen weder das Gefühl, den Abschiedsort noch den Zeitraum des Abschiednehmens wirklich beeinflussen zu können. Selbst der Abschied vom Kind im eigenen Zimmer scheint wie ein Zugeständnis der Hebamme, eigentlich hätte sie in den Kreißsaal kommen müssen. Ein Abschied im Kreißsaal bedeutet, dass die Frau sich wieder in einen Bereich begeben muss, wo gesunde Kinder geboren werden, eine erneute schmerzhafte Konfrontation also. Darüber hinaus bedeutet das »in den Kreißsaal kommen« für Cosima auch ein Verlassen des eigenen Zimmers, ein AktivWerden-Müssen, um das Kind noch sehen zu können. Der Kreißsaal erscheint hier im Gegensatz zum eigenen Zimmer nicht als Raum, der als eigener, geschützter Bereich wahrgenommen wird, in dem ein Abschiednehmen in Ruhe möglich zu sein scheint. Cosima kann ihr Kind nur kurz sehen, es wird auf ihr Zimmer gebracht und nach kurzer Zeit wieder abgeholt, ihr Wunsch wäre gewesen, ihr Kind vielleicht noch eine Nacht bei sich zu haben, aber die Frage danach stellt sich nicht. 10.6.5 Zwischenfazit der Phase »Begegnung und Abschied« Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse der Phase »Begegnung und Abschied« zusammengefasst dargestellt werden. Im Anschluss werden im Abschnitt Good Practice Aspekte von positiv erlebten Betreuungssituationen weitergeführt. Die Phase »Begegnung und Abschied« beginnt mit der ersten Begegnung mit dem Kind nach der Geburt und schließt mit der Beerdigung des Kindes ab. Sie umfasst die Aspekte der Begegnung mit dem Kind, der Konstruktion des Kindes als Person und Gegenüber, in die auch die Bindung zum Kind fällt und als zentrale Umgangsstrategie, dem Kind einen Platz in der Welt schaffen wollen. Es geht dabei in Bezug auf das Gesamtmodell der unterbrochenen Transition um das Thema des Mutter-Werdens bzw. Mutter-Seins. Beim unerwarteten Überleben des Kindes weist diese Zeit viele Parallelitäten mit der Zeit nach der Diagnosestellung auf: Ungewissheit, neue Entschei-
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dungssituationen und Umgangsstrategien – eine Adaption an die neue Situation des Lebens mit einem – bei einigen der Frauen – schwer pflegebedürftigen Kind, dessen Sterbezeitpunkt ungewiss ist. Dies sind die zentralen Ergebnisse: 1. Begegnung mit dem Kind als losgelöstes Wesen: Die Frauen nehmen das Kind nach der Geburt als eigenes Wesen losgelöst von ihrem Körper wahr. Das beinhaltet zum einen die Begegnung mit der Andersartigkeit des Kindes, die Konfrontation mit seiner Behinderung, Fehlbildung und seiner Endlichkeit. 2. Körperkontakt mit dem Kind: Körperkontakt ermöglicht zum einen das Wahrnehmen der Lebendigkeit und Körperwärme des Kindes, aber auch nach seinem Tod das Begreifen seines Tods. Das Kind zu wärmen und ihm Geborgenheit durch Körperkontakt zu geben, ist für manche der Frauen das einzige, was sie in der begrenzten verbleibenden Zeit für ihr Kind tun können. Wenn das Sterben des Kindes als geborgenes Einschlafen im Arm der Mutter erlebt wird, kann dies zur Wahrnehmung des Sterbens als »gutes Sterben« beitragen. 3. Das Kind als notwendiges Gegenüber vom Mutter-Sein: Das Kind als Gegenüber ist die Bedingung, aus der eine Beziehung zu diesem Kind entstehen kann. Durch die Zuschreibung von Bewusstsein, Persönlichkeitsmerkmalen und Handlungsfähigkeit konstruieren die Frauen ihr Kind als Gegenüber und auch ihre eigene Identität als Mutter. Der Umgang vom Umfeld und den Betreuungspersonen mit ihrem Kind wird von den Frauen als Zeichen der Wertschätzung für ihr Kind, aber auch als Anerkennung für das eigene Mutter-Sein wahrgenommen. 4. Ambivalenzen bei unerwartetem Überleben: Neben Freude erleben manche Frauen auch ambivalente Gefühle beim unerwarteten Überleben des Kindes; sie wünschen sich, dass ihr Kind nicht stirbt, haben aber auch Angst vor einem Leben mit behindertem Kind, vor den Grenzen der eigenen Belastbarkeit und vor der Stigmatisierung als Mutter eines behinderten Kindes. Die Bindungsentwicklung ist eng verwoben mit dem Sich-Einlassen-Können, mit dem Gefühl von Sicherheit bzw. Ungewissheit und Unsicherheit. 5. Konstruktion von Erinnerung: Durch das bewusste Erleben und Herbeiführen von positiv erlebter Zeit mit ihrem Kind und durch das Schaffen von Erinnerungsstücken, wie Erinnerungsbüchern, Fotos oder Fußabdrücken, konstruieren die Frauen sich wichtige Erinnerungen an ihr Kind und geben ihm so einen Platz im eigenen Leben. 6. Wunsch nach Anerkennung des Kindes: Vielen Frauen ist es wichtig, die Erinnerung an ihr Kind teilen zu können. Die Familie und der Freundeskreis sollen ihr Kind sehen oder zumindest über ihr Kind Bescheid wissen (Trauerkarten, Sterbeanzeige). Das Kind soll nicht vergessen werden, son-
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dern in die Familie integriert, in die Gemeinschaft aufgenommen werden, Spuren hinterlassen. 7. Abschiedszeitraum als Zeit für Loslassen: Viele der Frauen haben den Wunsch, ihr verstorbenes Kind noch einen längeren Zeitraum bei sich zu haben. Es zeigen sich unterschiedliche Muster des Loslassens. Für manche Frauen geschieht dies schrittweise als ein Loslassen des Kindes von engen Körperkontakt zu Ablegen und Anschauen im selben Zimmer über das Ablegen in einen anderen Raum bis hin zur Abgabe an den Bestatter bzw. Bestatterin. Andere Frauen nehmen einen inneren Impuls wahr, wann sie ihr Kind abgeben können. 8. Abschiedsraum als Abschiedsort: Vielen Frauen ist es wichtig, ihr Kind auch nach seinem Tod zu Hause haben zu können, was eine Integration des Kindes in die eigene Realität, das eigene Lebensumfeld erlaubt und die Konstruktion von Erinnerung im eigenen Umfeld schafft. 9. Abschiedsraum als Raum für Gestaltung des Abschieds: Die Frauen möchten ihr Kind nach seinem Tod bei sich haben; vielen ist es wichtig, dass ihre Familie und Freunde das Kind noch sehen können, und manche wünschen sich, dass ihr Kind getauft wird. Ob Frauen Gestaltungsraum für den Abschied von ihrem Kind haben, ist abhängig von den äußeren Bedingungen, etwa von der Klinik, dem Seelsorger bzw. der Seelsorgerin oder dem Bestatter bzw. der Bestatterin.
Positiv erlebte Betreuungssituationen – Beispiele für Good Practice Frauen erleben es als positiv, wenn ihr Kind von den Betreuungspersonen »wie ein normales Baby« behandelt wird. Zentraler Aspekt ist dabei das Erleben von Anerkennung und Wertschätzung für das Kind als Person unabhängig von seiner Fehlbildung. Dies zeigt sich beispielsweise in der emotionalen Involviertheit der Betreuungspersonen, im liebevollen Handling des Neugeborenen, nach seinem Tod im Bekunden von Beileid. Viele der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen wünschen sich, ihr Kind im eigenen Zuhause verabschieden zu können, und es zeigt sich – zumindest bei den im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen –, dass dies bei außerklinischen Geburten oder dem Sterben eines Kindes zu Hause als Normalität erlebt wird. Auch diejenigen Frauen, die ihr Kind aus der Klinik nach Hause bringen lassen, erleben die Zeit Daheim als wertvoll. Die Daten zeigen, dass ein solcher zeitlich nicht begrenzter Abschied – auch über mehrere Tage – ebenso im Klinikumfeld organisierbar ist. Dabei wird das eigene Krankenzimmer als geschützter und intimer Raum wahrgenommen und die Frauen äußern nicht den Bedarf nach speziellen Abschiedsräumen, in
Diskussion
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denen der Abschied als ein zeitlich limitierter Besuch beim verstorbenen Kind empfunden wird. Wenn Kinder unerwartet längere Zeit überleben, ist für Frauen die fachliche Begleitung wichtig; sie wünschen sich, informiert zu werden und eingebunden zu sein in Entscheidungsprozesse. Nach der Entlassung nach Hause erleben Frauen eine vernetzte Begleitung beispielsweise durch ambulante Kinderkrankenpflegefachkräfte oder einen Kinderarzt bzw. Kinderärztin und Hebamme als unterstützend.
11
Diskussion
Im folgenden Kapitel soll zunächst der Frage nachgegangen werden, wie die Qualität der Daten und des methodischen Vorgehens zu bewerten ist, aber zudem die Grenzen des Geltungsbereichs der Ergebnisse aufgezeigt werden. Dabei wird auch die Reichweite der Ergebnisse diskutiert, die Relevanz des herausgearbeiteten Phasenmodells und der Nutzen der Ergebnisse. Im Anschluss daran werden die herausgearbeiteten Konzepte mit Ergebnissen anderer Forschung und Theorien in Beziehung gesetzt. Das Kapitel schließt mit Empfehlungen für die Praxis ab, die sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse ergeben.
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Grenzen des methodischen Vorgehens
In der vorliegenden Studie bezieht sich der Sampleumfang auf Frauen, die nach dem pränataldiagnostischen Befund der »Nichtlebensfähigkeit des Kindes« die Schwangerschaft weiterführen. Das Sampling der Studie weist einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Frauen mit höherem Bildungsabschluss auf, nur eine der Teilnehmerinnen an der Studie bezieht Sozialleistungen; eine der Teilnehmerinnen ist alleinerziehend, alle anderen leben in einer heterosexuellen Beziehung. Zu Frauen mit Migrationshintergrund konnte kein Zugang gewonnen werden. Jedoch kann, auch wenn bestimmte soziale und kulturelle Gruppen nicht erreicht werden konnten, angenommen werden, dass die Defizite, die sich im Betreuungssystem gezeigt haben, für diese Gruppen mit hoher Wahrscheinlichkeit genauso gelten. Ob diese Gruppen eventuell weniger Kapazität haben, sich andere Betreuungsformen zu erarbeiten, oder aber möglicherweise Zugang zu anderen Ressourcen haben, darüber kann die vorliegende Untersuchung keine Auskunft geben. Die Zusammensetzung des Samples kommt zustande durch die Zugangswege zu den Teilnehmerinnen und die Freiwilligkeit der Teilnahme.
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Wie in anderen Untersuchungen im Forschungsbereich ist der Anteil an Frauen, die in einem sozialen, pädagogischen oder medizinischen Berufsfeld tätig sind, auffallend hoch (Baldus, 2006; Feldhaus-Plumin, 2005; Rapp 1999). Über die verschiedenen Samplingwege gelang es in der vorliegenden Studie aber, auch Zugang zu Frauen aus anderen Berufsbereichen zu gewinnen (vgl. Kapitel 8.3). Auch der hohe Anteil an geplanten außerklinischen Geburten unter den Teilnehmerinnen kann vermutlich auf den Zugangsweg zu Teilnehmerinnen über freiberufliche Hebammen zurückgeführt werden. Diesen Verzerrungen wurde versucht, durch theoretisches Sampling und die Suche nach kontrastierenden Fällen zu begegnen. Zu diesem Phänomen gibt es unterschiedliche Erklärungen: Zum einen kann es sein, dass Frauen aus diesen Berufsgruppen in einem überdurchschnittlichen Ausmaß über Erfahrungen mit der Thematik »Behinderung« verfügen und deshalb im Falle der pränatalen Diagnosestellung eher bereit sind, die betroffene Schwangerschaft fortzusetzen (vgl. Baldus, 2006). Zum anderen ergibt sich die Mutmaßung, dass diese Gruppe Frauen weniger Berührungsangst zur Teilnahme an einer Forschungsarbeit hat. Eine weitere Stärke der vorliegenden Untersuchung liegt darin, dass Frauen aus unterschiedlichen Bundesländern und Regionen Deutschlands befragt wurden. Auch die Betreuungssituationen umfassen ein weites Spektrum, das von frauenärztlicher über Hebammenbegleitung, Kliniken der verschiedenen Versorgungsstufen, über außerklinische und klinische Geburtsbegleitung reicht. Während in der vorliegenden Untersuchung auch Teilnehmerinnen außerhalb des medizinischen Settings Klinik oder pränataldiagnostisches Zentrum erreicht wurden, etwa über Selbsthilfegruppen oder Hebammen, und dadurch ein breites Spektrum an Teilnehmerinnen aufweist, erfolgte in anderen Untersuchungen zur Thematik der Zugang zu den Teilnehmerinnen fast ausschließlich in klinischen Zentren, sodass diejenigen Frauen, die eine außerklinische Begleitung wählten, nicht von der Stichprobenauswahl erreicht wurden67 (vgl. Chitty et al., 1996; Lalor et al., 2009; Statham et al., 2001). Bezogen auf das Erleben außerklinischer Begleitung kommt der Studie somit ein Alleinstellungsmerkmal zu. Durch diese große Bandbreite an Settingcharakteristika kann diese Studie sowohl auf die regionalen Differenzen in Bezug auf die zugänglichen Betreuungsangebote als auch auf das Erleben in den unterschiedlichen Betreuungsformen Hinweise geben. Darüber hinaus erlaubt diese heterogene Samplezusammensetzung Einblick in die Unterschiedlichkeit der individuellen Bedürfnisse betroffener Frauen. Eine solche Heterogenität und ein kontrast67 Berichte über außerklinische Begleitung finden sich dagegen häufiger in Büchern, in denen betroffene Frauen direkt über ihre Erfahrungen berichten, etwa bei Schäfer (2010), Kuebelbeck and Davis (2011) oder Reist (2006).
Diskussion
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reiches Sampling werden von Charmaz (2000) als wichtige Gütekriterien einer Grounded Theory Methodologie gesehen. Der retrospektive Charakter aller bis auf eines der Interviews erlaubt eine retrospektive Rekonstruktion der Verlaufserfahrung. Es ist bekannt, dass die Rekonstruktion einer Erfahrung in der Erinnerung nicht unbedingt der erlebten Erfahrung selbst entspricht (vgl. Welzer, 2008). Aus ethischen Gründen und aus Gründen der Erreichbarkeit der Teilnehmerinnen war eine Befragung von Teilnehmerinnen nach der Diagnosemitteilung zu Beginn der Studie ausgeschlossen worden. Gleichzeitig zeigt die Tiefe der Interviewdaten und die Offenheit der Teilnehmerinnen – beispielsweise auch über ambivalente Gefühle im Prozesserleben zu sprechen –, dass vielleicht gerade dieser Abstand zum akuten Erleben diese tiefe Reflexion ermöglichte. Zu einer Teilnahme, die eine solche retrospektive Rekonstruktion erfordert, melden sich möglicherweise eher Frauen aus bestimmten Berufsgruppen, die selbst ihr Leben mit reflexiven Anteilen bewältigen. Gegen Ende der Datensammlung konnte eine Teilnehmerin noch im Schwangerschaftsverlauf befragt werden; hier zeigten sich allerdings keine abweichenden Konzepte und Kategorien zum retrospektiv erhobenen Datenmaterial. Wie in Kapitel 8.3 ausführlich dargestellt, können die Zugangswege zu den Teilnehmerinnen zu einer Verzerrung der Ergebnisse geführt haben. So können etwa Ergebnisse bezogen auf die positive Einstellung gegenüber Selbsthilfegruppen darauf gründen, dass über Selbsthilfegruppen nur diejenigen Frauen erreicht werden, die Selbsthilfegruppen gegenüber eine positive Einstellung haben, die sich bewusst mit ihrer Erfahrung auseinandersetzen, an Vernetzung und Austausch mit anderen Betroffenen interessiert sind. Gleichzeitig bietet dieser Weg zur Kontaktaufnahme das Potenzial, Zugang zu Teilnehmerinnen zu gewinnen, die über ihre Situation reden und gewohnt sind, das zu tun. Eine theoretische Sättigung, wie die GTM sie im Idealfall erzielen möchte, war hier jedoch nicht angestrebt. Diese konnte jedoch in Bezug auf die Entwicklung der Kernkategorie, den Prozessverlauf und das Modell erreicht werden. Allerdings besteht die Möglichkeit, dass bei der Befragung weiterer Betroffener noch einzelne weitere Aspekte auftauchen könnten. Die Konzepte und das entwickelte Phasenmodell beziehen sich dabei auf die Perspektive der betroffenen Frauen, aber es fehlen andere Perspektiven, wie etwa die Perspektive des mitbetroffenen Partners oder auch diejenige von Experten. In einzelnen Bereichen könnte durch die Befragung dieser Gruppen nach weiteren Aspekten geschaut werden. Im folgenden Kapitel werden daher diese Aspekte aufgegriffen und Empfehlungen für weitere Forschungsfragen formuliert.
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Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
»Dragon parents have a lot to say about parenting. Why? Because we’ve had to redefine the act: Parenting with no thought to that dreaded future when there will be no child – parenting without a net.« aus: Emily Rapp (2013, S. 17), The Still Point of the Turning World
Die vorliegende Studie zur pränataldiagnostischen Diagnosestellung einer »nicht lebensfähigen« Fehlbildung des Kindes und dem Weiterführen der Schwangerschaft erlaubt einen neuen und einzigartigen Einblick in die Erfahrung von betroffenen Frauen in Deutschland. Wie aufgezeigt wurde, ist die Reichweite des Samples begrenzt, und es handelt sich beim entwickelten Prozessmodell um eine Theorie mittlerer Reichweite. Während andere Untersuchungen im Forschungsbereich Aspekte fokussieren wie etwa den Trauerprozess um das gesunde Kind (Lalor et al., 2009), die Einstellung gegenüber Behinderung (Hickerton et al., 2011) oder das Betreuungserleben der Frauen (Statham et al., 2001), erweitert die vorliegende Untersuchung diese Ergebnisse um die Perspektive der Diagnosemitteilung als Unterbrechung der Statuspassage Schwangerschaft. Mit der Perspektive auf Schwangerschaft als biografischen Übergang können Bereiche wie die Konstruktion von Konzepten zu Kind, Mutter-Werden und Mutter-Sein erfasst werden, ebenso der Umgang mit Ritualen und auch Aspekten, die die Interaktion der Frauen betreffen wie die Offenlegung der Schwangerschaft und der Umgang mit dem Umfeld und auch anderen Schwangeren (»Peers«) (vgl. DavisFloyd, 1992, S. 35, bereits angesprochen in Kapitel 6.3.2). Für diese Studie wurde ein Prozessmodell mit sechs Phasen entwickelt, um die Verlaufserfahrung der Frauen repräsentieren zu können. Dabei zeigt sich zunächst, dass bei einem Teil der Frauen der eigentlichen Diagnose eine prädiagnostische Phase vorgelagert ist, sozusagen der Weg zur Diagnose. Die Diagnose selbst wird von den Frauen als Einschnitt erlebt, der einen Neuausrichtungsprozess nach sich zieht, in den die Entscheidungsfindung eingebettet stattfindet. Dieser Neuausrichtungsprozess lässt sich in Abschnitte unterteilen: keine Passung haben, Informationen suchen, kontextualisieren, stabilisieren. Wenn ein gewisses Ausmaß an Stabilisierung erreicht ist, beginnt die Phase der Gestaltung der verbleibenden Schwangerschaft, die durch die Geburt beendet wird. Die letzte Phase des entwickelten Modells stellt die Phase der Begegnung und dem Abschied vom Kind dar. Die Ergebnisse geben auch Einblick in den Umgang mit Handlungen, die ebenfalls als Schwangerschaftsrituale gedeutet werden können. An der Gestaltung dieser Rituale, dem Abbrechen, der Wiederaufnahme, dem Vorziehen oder
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der Umgestaltung lassen sich Schlüsse auf die Neukonstruktion der Statuspassage ziehen. Im Folgenden sollen zunächst die zentralen Ergebnisse der Kernkategorie – »der Zusammenbruch und die Neukonstruktion der Statuspassage Schwangerschaft« – zusammengefasst und diskutiert werden und im Anschluss Prozessfäden, die sich durch alle Phasen dieses Modells erstrecken, aufgegriffen werden. Im Anschluss daran werden zentrale Ergebnisse aus den einzelnen Phasen mit bestehenden Forschungsergebnissen in Verbindung gesetzt. Das Kapitel schließt mit den sich daraus ergebenden Praxisempfehlungen und einem Ausblick für weitere Forschungsdesiderata. 11.2.1 Die Kernkategorie: Zusammenbruch und Neukonstruktion der Statuspassage Schwangerschaft Das Gesamtmodell zeigt die Erfahrung der Diagnose als Zusammenbruch und anschließenden komplexen Neukonstruktionsprozess. Als zentrale Kategorie zeigt sich die Unterbrechung der Statuspassage Schwangerschaft durch die Diagnose: die Erschütterung durch erste auffällige Befunde auf dem Weg zur Diagnose, der Schock durch die Diagnosemitteilung, die Neuausrichtung und Gestaltung der verbleibenden Schwangerschaft, Geburt und schließlich Begegnung und Abschied von dem Neugeborenen bzw. der Umgang mit dem – vielleicht nur kurzen – Überleben des Kindes. Die pränatale Diagnosestellung als ein solcher Einbruch in den Prozess des Elternwerdens wird auch von Cút¦-Arsenault und Denney-Koelsch (2011) beschrieben und als »arrested parenting« bezeichnet. Das vorliegende Modell zeigt diese Unterbrechung und Neu-Konstruktion der Statuspassage Schwangerschaft als komplexe Arbeit, in der die Frauen sich in verschiedenen Bereichen neue Konzepte und Strukturen oder zumindest andere Bedeutungszuschreibungen konstruieren müssen. Hier erwiesen sich im Forschungsverlauf biografische Perspektiven wie die Life Course Theory als hilfreich, um eine umfassende Perspektive zu ermöglichen, die sowohl die Kontexteingebundenheit als auch die Erfahrung als Prozess, der eingebunden in einen individuellen Lebensverlauf stattfindet, umfasst (vgl. Kapitel 6.3). Durch diese Perspektive kann das herausgearbeitete Modell Theorien zu Coping und Trauer (vgl. Kübler-Ross, 1971; Lazarus, 1990) durch die Perspektive der Unterbrechung einer Statuspassage erweitern. In der vorliegenden Untersuchung zeigt sich der Umgang mit der Diagnosestellung als Rekonstruktionsprozess, der nicht mit der Entscheidungsfindung nach der Diagnosemitteilung endet. Vielmehr ist die Entscheidungsfindung in diesen eingebunden. Diese Rekonstruktion, die als Bewältigungsarbeit gesehen werden kann, erfordert vielmehr eine Auseinandersetzung und Rekonstruktion
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Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
in unterschiedlichen Bereichen und in unterschiedlichen Arenen. Darin zeigen sich Ähnlichkeiten mit den Prozessen der Bewältigung chronischer Krankheiten, wie sie Corbin und Strauss (2010) beschreiben. In ihrer Arbeit stellen Corbin und Strauss (2010) dabei Körper, Biografie, Selbstkonzeption und Zeit als Bereiche heraus, in denen die Bewältigung für die Integration der chronischen Krankheit erfolgen muss. Die Autoren wählen dafür den Fokus auf die Partnerschaft und zeigen die Verwobenheit von Krankheitsverlauf und Partnerschaftsgestaltung und der gemeinsamen Bewältigung auf (vgl. Corbin und Strauss, 2010, S. 63ff., vgl. auch Kapitel 6.3.1). Gleichzeitig machen sie deutlich, dass diese Bewältigung innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen stattfindet. Für die vorliegende Arbeit zeigen sich diese Rahmenbedingungen als konzentrische Kreise: Partner, Familie und Geschwisterkinder, Umfeld, Freunde, Gemeinde, Betreuungssystem und gesetzliche Rahmenbedingungen, aber auch das Ausmaß der diagnostizierten Fehlbildung oder indirekt der Zeitpunkt der Diagnose. Im Bereich des eigenen Selbst, bezogen auf die Themenbereiche Biografie, Selbstkonzeption und Zeit, legen die Ergebnisse der vorliegenden Studie zudem nahe, dass durch die Diagnose nicht nur die eigene Identität in der Statuspassage Schwangerschaft im gegenwärtigen Moment der Diagnosemitteilung, sondern auch bezogen auf die Selbstwahrnehmungen der Schwangerschaft vor der Diagnosestellung erschüttert ist: die eigenen Kapazitäten und Fähigkeiten, Körpervorgänge einschätzen zu können in Bezug auf Mutter-Werden, ist unterhöhlt. Es stellen sich Fragen wie: Habe ich etwas getan, was Ursache der Fehlbildung sein kann? Gab es Vorzeichen, die ich nicht erkannt habe? Nicht nur die veränderte Zukunftsperspektive, sondern auch die eigenen Erinnerungen unterliegen also einem ständigen Rekonstruktionsprozess (vgl. dazu auch Welzer, 2008). Wird Schwangerschaft als ein biografischer Übergang – vom Noch-NichtMutter-Sein zum Mutter-Sein – gesehen, dem Ungewissheit und Unsicherheit immanent sind, so ist verständlich, dass sich der Prozess nach der Diagnosestellung »Nichtlebensfähigkeit des Kindes« nicht allein auf die Trauer um das gesunde Kind beschränken lässt, sondern vielmehr komplexe und vielschichtige Bereiche umfasst, wie den Umgang mit Zeit, das eigene Bild vom Mutter-Sein und dem Kind, eine Auseinandersetzung mit eigenen Sterbevorstellungen, den Umgang mit Partner, Geschwisterkindern, Familie und dem Umfeld, die Gestaltung der Betreuungssituation und viele weitere Bereiche. In allen diesen Bereichen findet eine Neupositionierung statt, die eigene Positionierung innerhalb der Statuspassage muss neu konstruiert werden. All dies geschieht nicht in einem abgeschlossenen Raum, sondern ist eingebunden in gesellschaftliche Rahmenbedingungen, gesetzliche Bestimmungen, aber auch verborgende gesellschaftliche Konstrukte von Normalität, Behinde-
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rung, Leiden und Tod sowie öffentliche Diskurse um diese Themen. So kann allein schon aus den in Kapitel 3 dargestellten Abbruchraten gefolgert werden, dass die offenbar »normale« Entscheidung nach positivem Befund die Entscheidung zum Abbruch ist. Dies kann dahin gehend verstanden werden, dass einem positiven Befund eine gesellschaftliche Abbruchserwartung quasi innewohnt. Während sich in Bezug auf den Schock der Diagnose Kategorien zeigen, die vergleichbar sind mit denen von Trauermodellen, so zeigen die Erfahrungen der in der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen, dass eine Orientierung an diesen Modellen jedoch zu kurz greifen würde, um den komplexen Neukonstruktionsprozess, der innerhalb der Statuspassage Schwangerschaft stattfindet, zu beschreiben. Denn die Kinder leben, auch nachdem die Diagnose mittegeteilt ist, die Schwangerschaft besteht weiter, der Bauch wächst. Die Frauen betrauern somit nicht den Tod eines Kindes, sondern dessen Anderssein und seine limitierte Lebenszeit. In der vorliegenden Untersuchung finden sich Aussagen über eine solche »doppelte Trauer«, ein Betrauern des Verlustes des imaginierten Kindes bei Diagnosemitteilung und dann das Betrauern des realen Kindes bei seinem späteren Tod. Eine solche »doppelte Trauer« beschreiben auch Jonas (1992) und Grassl (2003) für den Umgang mit dem Tod von Kinder mit Behinderung nach der Geburt: Nicht nur der Tod des Kindes, sondern auch seine Behinderung werden betrauert. Auch wenn eine alleinige Orientierung an Trauermodellen nicht weit genug geht, um diesen Zusammenbruch und die Neukonstruktion beschreiben zu können, so zeigen sich in der vorliegenden Untersuchung gerade in den Phasen Diagnosemitteilung und Neuausrichtung Überschneidungen zu Trauermodellen oder Modellen, die an diesen orientiert sind, wie etwa Lalor et al. (2009) Modell des »Recasting Hope«, das diese für den Prozess nach der Mitteilung einer schwerwiegenden pränatalen Diagnose entwickelt haben. Lalor et al. (2009) beschreiben darin die Erfahrung als Adaptionsprozess nach der Diagnosemitteilung, den sie in vier Phasen gliedern: »Assume normal«, »Shock«, »Gaining Meaning«, »Rebuilding«. Ihr Modell, das die Autorinnen »Recasting Hope« benennen, fokussiert die Bewältigung und die Entwicklung einer neuen Zukunftsperspektive, die über die betroffene Schwangerschaft bis in zu Folgeschwangerschaften hinausreicht und orientiert sich dabei an Modellen der Trauerbewältigung (vgl. Kübler-Ross, 1973) und des Stresscoping (Lazarus, 1990). Eine vorgezogene, vorweggenommene Trauer, wie sie etwa bei Angehörigen schwer Krebskranker, deren Sterben bevorsteht, beschrieben wird, findet sich in dieser Form aber nicht in den Daten (vgl. Kast, 1999, S. 51). Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen vielmehr, dass der Tod des Kindes nicht
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vorweggenommen werden kann: Der Tod wird dann betrauert, wenn er eintritt. Vielmehr zeigen die Ergebnisse, dass die Reihenfolge der Ereignisse und ihrer Bewältigung in gewisser Weise eingehalten werden muss, denn erst muss die Schwangerschaft als Statuspassage, als Übergang beendet sein und dem Kind als eigenständiges Wesen begegnet werden, bevor sein Tod betrauert werden kann. Gleichzeitig tauchen in Bezug auf den Umgang mit den eigenen ambivalenten Gefühlen der Betroffenen in den Ergebnissen der vorliegenden Studie dennoch Parallelen zur sogenannten Besorgnisarbeit, wie sie von Autorinnen für die Angehörigen Schwerkranker beschrieben werden, auf. So erinnern sich Frauen in der vorliegenden Untersuchung an ambivalente Gefühle im Prozessverlauf: die Angst vor einem Überleben des Kindes und die Angst vor einem Leben mit einem Kind mit Schwerstbehinderung steht der Angst vor dem Sterben des Kindes und der Hoffnung auf sein Überleben gegenüber. Ähnlich widerstrebende Gefühle, die häufig Schuldgefühle auslösen, beschreibt Brathuhn (2006) auch für Angehörige Schwerstkranker : zum einen die Hoffnung nicht aufgeben zu wollen, sich gleichzeitig aber zu wünschen, dass das Leiden des Kranken aufhört (Brathuhn, 2006, S. 198). Ähnlich ambivalente Gefühle zeigen sich in der vorliegenden Studie für die Zeit nach der Geburt und nach dem Tod des Kindes, die Frauen sprechen von tiefer Trauer aber auch von Erleichterung. Hinzu kommt aber, dass manche der Frauen das Sprechen über diese Erleichterung über den Tod des Kindes als ein Tabu empfinden, als etwas, über das nicht gesprochen werden sollte68. Prozessfaden Mutter-Werden und Kind-Konzeption Neben dem Gesamtmodell mit seinen Phasen zeigen sich verschiedene Prozessfäden, die sich durch alle Phasen des herausgearbeiteten Modells ziehen. Im Folgenden werden zunächst die Bereiche Mutter-Werden und Kindkonzeption diskutiert. In den Daten wird deutlich, dass nach einer Diagnosestellung in der Schwangerschaft bestehende Konzepte der Frauen zu ihrem Kind erschüttert werden; die fehlende gemeinsame Zukunft und die Infragestellung des Kindes als Gegenüber in der Mutter-Kind-Beziehung erfordern eine Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen und eigenen biografischen Erfahrungen (vgl. dazu Baldus, 2006). Die Ergebnisse zeigen auch, dass manche der Frauen direkt nach der Dia68 Einer der wenigen Erfahrungsberichte, in dem die Autorin die eigene Erleichterung über den Tod ihreskranken Sohnes anspricht und bekennt, im Falle die Diagnose in der Schwangerschaft gekannt zu haben, die Schwangerschaft abgebrochen zu haben, ist Emily Rapp. Rapp (2013) schreibt über die Erfahrung, ihren Sohn, der mit der Tay-Sachs-Erkrankung geboren wurde, bis zu seinem Tod im Alter von zwei Jahren zu begleiten: »When he died, I was glad he wasn’t suffering anymore. I was relieved, which was agonizing because he wasn’t here anymore but a little bit of ecstasy because he was free.«
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gnosemitteilung einen Abbruchsimpuls spüren. Die Bindung zum Kind ist unterbrochen. Diese Ergebnisse unterstreichen Statham et al. (2001) Schlussfolgerung, die beschreibt, dass es nach der Diagnose zu einer Unterbrechung und Aufschiebung der Bindung zum Ungeborenen komme. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Baldus (2006) für die pränatale Diagnosestellung und den anschließenden Entscheidungsprozess von Down-Syndrom. In den Ergebnissen wird deutlich, dass die Transition vom Noch-nichtMutter-Sein hin zum Mutter-Sein in Abhängigkeit von den eigenen Konzepten zum Kind erfolgt. Die individuellen Konzepte von Mutter-Werden, Mutter-Sein und die Bindung zum Kind stehen dabei in direktem Zusammenhang miteinander, wie sich auch in anderen Studien zeigt (Landsman, 1998; vergleiche auch Baldus, 2006). Als zentral zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung, dass für die Konstruktion einer neuen, eigenen Mutter-Identität das Kind als Gegenüber notwendig ist und dass dieses Gegenüber über die Zuschreibung von Bewusstsein, Persönlichkeit und Handlungsfähigkeit von vielen der betroffenen Frauen bereits in der Schwangerschaft konstruiert wird. Dabei wird deutlich dass die Bindungsentwicklung zum Kind und damit auch die Ausbildung der eigenen Identität als Mutter vor und nach der Diagnose bei den in der Studie befragten Frauen sehr unterschiedlich stattfindet und nicht unbedingt mit der Schwangerschaftswoche in Zusammenhang steht. Damit stellen die Ergebnisse die Theorien die die Bindungsentwicklung an bestimmten Phasen im Schwangerschaftsverlauf festmachen in Frage (vgl. Gloger-Tippelt, 1988). Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse, dass Bindung nach dem Bruch durch die Diagnose bei manchen Frauen auch vorgezogen wird, der Aufbau schließlich rascher verläuft als es vermutlich ohne die Diagnose gewesen wäre. Diese Neukonstruktion oder sogar das Vorziehen der Konstruktion vom Kind als Gegenüber aus dem Zeitraum nach der Geburt in den Schwangerschaftszeitraum zeigt sich als eine wichtige Umgangsstrategie in der vorliegenden Untersuchung. In dieser Neukonstruktion zeigen sich Parallelen zu den Ergebnissen von Landsmans (1998) Untersuchung von Müttern, bei deren Kindern im Kleinkindalter eine Behinderung diagnostiziert wurde. Auch diese Mütter müssen eine neue Mutteridentität entwickeln, bestehende Konzepte zu Kind und Mutter-Sein tragen nicht länger. Wie in den hier vorliegenden Ergebnissen auch stellt Landsman (1998) dabei fest, dass eine solche neue Konstruktion mit der Zuschreibung von Persönlichkeit und spezifischen Eigenschaften, bewusster Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit an die Kinder in engem Zusammenhang miteinander steht. In der vorliegenden Studie deuten viele Frauen etwa den Geburts- und Sterbeprozess als bewusst von ihrem Kind gesteuerte Handlungen. Um ihre Ergebnisse zu betonen, stellt Landsman (1998) ihre Ergebnisse denen von Weiss (1994) gegenüber, die bei Eltern, die Neugeborene mit Behinderung zur Adoption freigegeben hatten, Prozesse der Depersonalisierung
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dieser Kinder beschreibt (Weiss, 1994 in: Landsman, 1998). Die Personalisierung des Kindes, um es annehmen zu können, um einen Gegenüber konstruieren zu können, steht also der Depersonalisierung, um ein Kind abgeben zu können, gegenüber (Landsman, 1998). Ob ähnliche Depersonalisierungsstrategien von Frauen verwendet werden, die sich für einen Abbruch nach Pränataldiagnostik entscheiden, darf aufgrund vieler Untersuchungen zur Thematik »Abbruch nach pränataler Diagnose« oder auch »Trauer nach Abbruch« angezweifelt werden (vgl. Katz-Rothman, 1986; Rapp, 1999; Strehlau, 2003). Diese Untersuchungen zeigen, dass auch die Frauen, welche eine Schwangerschaft abbrechen zum einen um ihr Kind trauern, dass aber vor allem die Entscheidung für einen solchen Abbruch keine einfache ist. Unabhängig von einem solchen Diskurs weisen die Ergebnisse der vorliegenden Studie darauf hin, dass eine solche Personalisierungsstrategie wie die Zuschreibung von Persönlichkeit an das Ungeborene einen wichtigen Aspekt des Neukonstruktionsprozesses und des späteren Umgangs für die Frauen darstellen. Dies findet beispielsweise Ausdruck darin, dass es für die Frauen sehr wichtig ist, das Geschlecht ihres Kindes möglichst mit der Diagnose zu erfahren (auch diejenigen Frauen, die dies ohne Diagnosemitteilung nicht gewollt hätten), um bereits in der Schwangerschaft dem Kind seinen Namen geben zu können, in seinem Namen mit und über das Kind sprechen zu können. So können sie dem Ungeborenen eine Identität zuschreiben, die über die Diagnose hinausreicht, was auch in anderen Untersuchungen wie etwa derjenigen von Statham et al. (2001, S. 176) oder auch Baldus (2006) und Nijs (2003) beschrieben wird. Dass solche Zuschreibungen an das jeweilige Geschlecht deutlich unterschiedlich sein können, darauf weist Katz-Rothman (1986, S. 127–131) hin. Landsman findet bei den von ihr befragten Frauen noch die Frage nach der Kapazität des Kindes, Liebe geben und empfangen zu können, als zentralen Aspekt für diese Persönlichkeitszuschreibung (Landsman, 1998, S. 93). In der vorliegenden Studie zeigen sich Aspekte einer solchen Auseinandersetzung, wie Landsman (1998) sie beschreibt, insbesondere bei denjenigen Frauen, deren Kinder eine ausgeprägte geistige Behinderung und Einschränkungen der Sinneswahrnehmungen (etwa nicht sehen und/oder nicht hören zu können) haben – und zwar bei manchen der Frauen im Entscheidungsprozess, bei anderen erst nach der Geburt, wenn die Kinder entgegen der medizinischen Prognose länger überleben. Gleichzeitig schreiben manche der Frauen auch bestimmte, gute Verläufen wie etwa eine leichte Geburt, ihren Kindern zu und sehen diese guten Verläufe als Ausdruck der Liebe ihres Kindes, als Geschenk ihres Kindes an. Für die Mütter der vorliegenden Studie ist es wichtig, ihrem Kind die verbleibende Zeit in der Schwangerschaft gut zu gestalten, ihm positive Erlebnisse
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zu verschaffen und die Geburts- und Sterbesituation so zu gestalten, dass ihr Kind vor unnötigen Eingriffen beschützt, aber alle Interventionen, die es braucht und die ihm zustehen, erhalten kann. Das Kind soll in Geborgenheit geboren werden und sein Sterben nicht abgetrennt von seinen Eltern, sondern beschützt und ohne Schmerzen geschehen.69 Diese Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung bestätigen die Ergebnisse anderer Studien im Untersuchungsbereich. So finden sich in Ramer-Chrastek und Thygesons (2005) Untersuchung zur palliativen Begleitung von Ungeborenen ähnliche Aspekte als Komponenten einer »palliativen Begleitung« für das Ungeborene70. Dieses Sorgen-Wollen für das Kind findet sich zudem in Landsmans Arbeit, die die »advocacy for one’s disabled child« als einen zentralen Aspekt der neuen Mutteridentität nach der postpartalen Diagnosestellung einer Behinderung beschreibt (Landsman, 1998, S. 87). Der Wunsch, eine gute Mutter bzw. gute Eltern für das Kind sein zu wollen, der sich durch die Geschichten der Frauen in der vorliegenden Studie zieht, zeigt sich ebenfalls in Untersuchungen von Eltern älterer schwerstkranker Kinder und deren Entscheidungen zu Sterbebegleitung und medizinischer Versorgung. So beschreiben Hinds et al. (2009) dieses »Trying to be a Good Parent« als zentrales Ergebnis ihrer Untersuchung solcher Entscheidungsprozesse bei betroffenen Eltern. In der hier vorgestellten Studie zeigen sich im Umgang der Frauen mit der Diagnose noch weitere Parallelen zu Prozessen der Adaption, wie sie für eine spätere Diagnosestellung einer Behinderung nach der Geburt des Kindes im Kleinkindalter beschrieben werden. Diese zeigen sich etwa im Wunsch nach Normalität innerhalb der schwierigen Erfahrung, bezogen auf Schwangerschaftsgestaltung, Betreuung, Geburt und Sterben. So betonen viele der Frauen die Normalität bestimmter Bereiche, wollen beispielsweise die Schwangerschaft so normal wie möglich erleben und wünschen sich eine natürliche Geburt – sie verwenden Normalisierungsstrategien, um Normalität zurückzugewinnen und aufrechtzuerhalten. Hier spricht Landsman von der »Normalisation«, also Normalisierung des Kindes und aber auch der Normalisierung der eigenen Erfahrung (Landsman, 1998; vergleiche auch Statham et al., 2001). Dies ge69 Vergleiche dazu das Konzept des »engaged mothering«, das Sawyer (1999) für eine Gruppe afroamerikanischer Frauen für die Schwangerschaft als Transition zum Mutter-Sein beschreibt, und in dem sie das Sorgen für das Ungeborene bereits in der Schwangerschaft eine zentrale Komponente dieser Transition darstellt. 70 Seit einigen Jahren haben Eltern an manchen Orten die Möglichkeit, sich nach infaustem Pränataldiagnostikbefund in Palliativprogrammen, die an Hospize angebunden sind, begleiten zu lassen. Nachdem diese Integration in pädiatrische Hospizbegleitung zunächst in den USA stattfand (vgl. Breeze et al., 2007; Calhoun et al., 2003), beginnt sich ein solches Angebot mit der zunehmenden Etablierung von Kinderhospizdiensten auch in Deutschland zu verbreiten. Eine Linksammlung der verschiedenen Kinderhospize findet sich bei Leona e.V.: http://www.leona-ev.de/links/.
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schieht für manche der Frauen in der vorliegenden Untersuchung ebenso über den Kontakt zu anderen betroffenen Familien oder Selbsthilfegruppen, wie sich auch in Untersuchungen zu Frauen mit lebenden Kindern mit Behinderung zeigt, beispielsweise in Batemans (2011) Studie zu Müttern von Kleinkindern, bei denen Autismus diagnostiziert wurde. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen jedoch auch, dass solche Normalisierungswünsche der Frauen nach der Diagnosestellung manchmal dem ärztlichen Umgang nach der Diagnosestellung entgegengesetzt zu stehen scheinen. Statt der gewünschten »normalen« Schwangerenvorsorgeuntersuchungen erleben sich manche der Frauen zwischen einem wahrgenommenen Zuviel und einem Zuwenig, als Forschungsobjekte oder als nicht länger relevante Kundin, da ein »perfektes Produkt« nicht länger erreichbar ist. Zudem wird der Wunsch der Frauen, das Kind als Person zu sehen und zu behandeln, nicht unbedingt in der ärztlichen Betreuung wahrgenommen. So zeigen die Ergebnisse, dass Frauen es als negativ erleben, wenn das Kind in der ärztlichen Sprache zur Diagnose wird, wenn der Ultraschallbildschirm weggedreht wird oder bei Folgeuntersuchungen nur mehr die Fehlbildung im Blick zu sein scheint. Auch Janvier et al. (2012) finden in ihrer Befragung von Eltern von Kindern mit Trisomie 18 in Onlineforen ähnliche Spannungen zwischen den Wünschen der Eltern und dem medizinischen Umgang (vgl. Janvier et al., 2012). Prozessfaden: Der Umgang mit Schwangerschaftsritualen Der Wunsch nach Normalität zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung auch im Umgang der Frauen mit Schwangerschaftsritualen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine »gute Mutter« zu sein nicht nur etwas ist, was die Frauen für ihr Kind machen, sondern auch etwas, das sie für sich tun, um sich ihres Status zu versichern bzw. zu vergewissern. Wie in Kapitel 6.3.2 dargestellt, werden Übergänge und Statuspassagen von Ritualen oder Handlungen, die als solche Rituale gedeutet werden können, begleitet. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass mit der Diagnosestellung und dem Zusammenbrechen der eigenen Konzepte zu Mutter-Werden und Kind, dem Wegfallen der Zukunftsperspektive, viele dieser Rituale ihre Bedeutung für die Frauen verlieren oder zumindest infrage gestellt werden. Dabei legen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung auch nahe, dass die prozessartige Veränderung des Umgangs mit Ritualen in direktem Zusammenhang mit der Bindungsgestaltung zum Kind steht. So unterbrechen viele der Frauen bestimmte Rituale nach der Diagnosemitteilung, nehmen sie dann jedoch wieder auf, manchmal in veränderter Form und manchmal werden auch Rituale aus dem eigentlichen Zeitraum nach der Geburt in den Schwangerschaftszeitraum vorgezogen. Neben den klassischen Interpretationen von Schwangerschaftsrituale als Handlungen, die Sicherheit und Orientierung (vgl.
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Kapitel 4) zeigt sich, dass sich die individuelle Bedeutungszuschreibung, die die Frauen den Ritualen geben, verändern kann. So zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung der totale Zusammenbruch der Konzepte zu Schwangerschaft mit der Diagnosemitteilung auch daran, dass viele eigentlich als selbstverständlich wahrgenommenen Verhaltenskodices von den Frauen hinterfragt werden; nichts ist mehr, wie es schien. Internalisiertes Expertenwissen über Schwangerschaft, wie es beispielsweise auch Paff-Ogle et al. (2011) beschreiben, erscheint hinfällig, das »authorative knowledge«, wie Jordan (1997) es beschreibt (vgl. Kapitel 6.1), wird auf den Kopf gestellt, die Dominanz der Medizin, für manche der Frauen ist der Arzt bzw. Ärztin als »weiser« Begleiter durch die Statuspassage in seiner Rolle erschüttert, die versprochen geglaubte Sicherheit, der gute Ausgang ist nicht länger erreichbar (vgl. Friedrich et al., 1998). Manche Frauen haben sicher vor der Diagnosestellung schon eine kritische Haltung zur ärztlichen Begleitung und das kann, wie die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung nahelegen, bei manchen Frauen eine Ressource darstellen, die es ihnen überhaupt erst ermöglicht, sich die Möglichkeit des Weiterführens der Schwangerschaft als Alternative zum Schwangerschaftsabbruch zu erschließen. Gleichzeitig zeigen die Daten aber auch, dass andere Frauen vor der Diagnose großes Vertrauen in die ärztliche Begleitung haben, dann aber dieses Vertrauen so erschüttert sein kann – zum einen durch die Diagnose selbst, aber auch durch den als mangelhaft wahrgenommenen ärztlichen Umgang –, dass diese Frauen sich neue Arten der Betreuung suchen. So ziehen sich manche Frauen aus der ärztlichen Begleitung zurück. Dies kann auch (neben Aspekten des Betreuungserlebens, die am Ende des Diskussionskapitels aufgegriffen werden) als eine Erklärung gesehen werden, warum ebenfalls so viele der in der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen die Betreuung wechseln – zu einer anderen Ärztin oder in eine reine Hebammenbetreuung – und warum ein so hoher Anteil der Befragten – die Hälfte – eine außerklinische Geburt planen. Dieses Ergebnis findet sich in diesem Ausmaß nicht in anderen Studien zum Themenbereich, ein Grund dafür mag der unterschiedliche Zugang zu den Teilnehmerinnen sein. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass Frauen ein von ihnen als »richtiges Schwangerschaftsverhalten« eingeschätztes Verhalten im Entscheidungsprozess oder mit der Entscheidungsfindung wieder aufnehmen, darüber auch versuchen, Struktur und Normalität zurück zu gewinnen. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten aber auch Unterschiede zum in der Literatur beschriebenen »doing pregnancy right« von Frauen mit regulärem Schwangerschaftsverlauf und gesunden Kindern wie etwa Paff-Ogle et al. (2011) es beschreiben. Die Frauen in der vorliegenden Untersuchung nehmen dieses »richtige Verhalten« wieder auf, also achten auf gute Ernährung und vermeiden
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»verbotene« Nahrungsmittel, nehmen wieder Nahrungsergänzungsmittel wie Folsäure ein und versuchen so, weiter »normal« schwanger zu sein und gut für ihr Kind zu sorgen. Bei dieser Wiederaufnahme einer Verhaltensrichtschnur aus der Zeit vor der Diagnose geht es nach der Diagnose nicht länger darum, ein perfektes, gesundes Kind zu bekommen – ein »gutes Produkt«, wie Paff-Ogle et al. (2011) es nennen.71 Vielmehr ist dieses Tun für die Frauen in der vorliegenden Untersuchung ein Ausdruck ihrer Liebe für ihr Ungeborenes und auch ein Ausdruck der Annahme des Kindes. Darüber hinaus bringen diese Handlungen nicht nur der Frau selbst Normalität in die Schwangerschaft zurück, sondern geben nach Außen auch das Bild einer normalen Schwangeren ab. Es geht also nicht mehr um »Risk management«, wie Paff-Ogle et al. (2011) in ihrer Untersuchung »normal« verlaufender Schwangerschaften aufzeigen (siehe Paff-Ogle, 2011, S. 293), sondern um das vorgezogene Mutter-Sein für das Kind in seiner zeitlich begrenzten Existenz. So werden manche der Rituale zu einem Ausdruck des »alles für das Kind tun wollen«, des »gute Mutter sein wollen egal, wie die Umstände sind«, wie es weiter oben bereits diskutiert wurde. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass die betroffenen Frauen Handlungen und Rituale, die mit anderen Schwangeren in Zusammenhang stehen, meiden. So werden Kurse oder auch Sportangebote für Schwangere von vielen der Frauen in der vorliegenden Untersuchung abgebrochen, das gemeinsame Warten mit anderen Schwangeren im Wartezimmer des Arztes bzw. der Ärztin als belastend erlebt und vermieden. Gleichzeitig wünschen sich jedoch gerade die erstgebärenden Frauen eine Geburtsvorbereitung, nicht aber mit anderen Schwangeren zusammen, sondern allein; dies ergeben auch andere Untersuchungen (vgl. Chitty et al., 1996; Ramer-Chrastek und Thygeson, 2005; Statham et al., 2001). Hier zeigen die Ergebnisse auf, dass die betroffenen Frauen mit dem Spannungsbogen auf der einen Seite normale Schwangere sein zu wollen, auf der anderen Seite nicht länger der Gruppe der anderen Schwangeren zugehörig zu sein, Umgang finden müssen und dass dieser Umgang von den vom Betreuungssystem und persönlichen Umfeld gegebenen Bedingungen abhängig ist.
71 Paff-Ogle et al. (2011) weisen darauf hin, dass sie den Begriff »good product« als Ausdruck für das »perfect healthy child« verwenden (vgl. Paff-Ogle et al., 2011, S. 293). In dieser Sicht auf Schwangerschaft ist Schwangerschaft ein Produktionsprozess, der optimiert werden kann, und an dessen Ende das gesunde Kind als Produkt steht. Die Autorinnen diskutieren darüber hinaus, ob neben der Sicht auf die Mutter als Produzentin, nicht mittlerweile die Sicht auf die Schwangere als Kundin etabliert wurde, in der das technisierte medizinische System dieser Kundin verspricht, am Ende der Schwangerschaft ein solches »good product« zu liefern.
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Prozessfaden: Interaktionsgestaltung mit dem Umfeld Als zentral im gesamten Verlaufserleben zeigt sich die Unterstützung durch den Partner (vgl. Baldus, 2006). Hier lassen die vorliegenden Ergebnisse, bei denen keiner der Partner Druck zum Abbruch ausübte, vermuten, dass ein Fortsetzen nach pränataldiagnostischem Befund ohne die Unterstützung oder zumindest die Akzeptanz der Entscheidung durch den Partner sehr schwierig ist. Daneben erfahren die Frauen dieser Studie auch von ihren Familien fast ausnahmslos Unterstützung. Hier zeigen sich Unterschiede zu anderen Untersuchungen, in denen immer wieder auch Erfahrungen von Frauen beschrieben werden, die von ihren Familien zum Abbruch gedrängt und deren Entscheidung in keinster Weise akzeptiert wird (vgl. Baldus, 2006; Bruns und Foerster, 2011; RedlingerGrosse et al. 2002; Sandelowski und Jones, 1996). Es ist jedoch anzunehmen, dass sich bei weiterem theoretischem Sampling diese Erfahrung auch in den Ergebnissen dieser Studie wiederfinden würde. Wie wichtig der Partner aber für das Durchschreiten von gesundheitlichen Krisen ist, zeigt sich auch in anderen Bereichen, wie etwa der Forschung zu Brustkrebs-Coping (Ben-Zuur et al., 2001). Wie dort zeigen auch die Ergebnisse dieser Studie, dass der Partner dabei unterschiedliche Umgangsstrategien zur Bewältigung haben kann, und dass gerade auch durch diese abweichenden, teilweise entgegengesetzten und sich behindernden Umgangsstrategien Stress bei den beiden Partnern ausgelöst werden kann. Die Ergebnisse zeigen, dass die Frauen im Schwangerschaftsverlauf mit zunehmender Sichtbarkeit der Schwangerschaft Umgangsstrategien mit der öffentlichen Rolle als Schwangere finden müssen. Die Frauen sehen aus wie »normale« Schwangere und werden in der Öffentlichkeit in dieser Rolle auch wahrgenommen. Die Interaktionsstrategien der befragten Frauen unterscheiden sich dabei individuell stark. So ziehen manche Frauen sich zurück und meiden Kontakte, andere haben einen sehr offenen, konfrontativen Umgang und wieder andere Frauen wägen je nach Situation und Gesprächspartner ab, ob sie die Diagnose offenlegen, wieder andere schlüpfen in die Rolle der »normalen Schwangeren«. Hier zeigen sich Parallelen zu den Forschungsergebnissen von De Vitry-Smith et al. (2012), die 20 Frauen nach pränataler schwerwiegender oder letaler Diagnose in einer Klinik interviewten. Die Autorinnen beschreiben ebenfalls unterschiedliche Interaktionsstrategien, die sich mit denen der vorliegenden Untersuchung vergleichen lassen: abwägen, wem von der Diagnose erzählt werden kann und auch das vermeiden des Offenlegens und »normale Schwangere sein« in bestimmten Kontexten. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen zwar bei den befragten Frauen nur in geringem Ausmaß das Traumatisierungspotenzial durch den Small-Talk und die ungefragt erteilten Ratschläge, was
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De Vitry-Smith et al. (2012) beschreiben; allerdings wurde nach diesen Aspekten in der vorliegenden Studie auch nicht explizit gefragt. 11.2.2 Der Weg zur Diagnose als Automatismus Entgegen Untersuchungen aus den 1980er und 1990er Jahren (vgl. Katz-Rothman, 1986; Rapp, 1999), in denen die Amniozentese als »das« Pränataldiagnostikinstrument diskutiert wurde, zeigen die vorliegenden Ergebnisse klar den Routineultraschall als Eintrittspforte zur Pränataldiagnostik auf, wie auch die Untersuchungen von Baldus (2006) oder Feldhaus-Plumin (2005) zeigen. Der technische Fortschritt scheint zumindest bei den im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen zum Muster geführt zu haben, dass ein verdächtiger Befund scheinbar automatisch zu weiteren Untersuchungen führt und zwar auch bei denjenigen Frauen, die eigentlich keine Pränataldiagnostik möchten. In den Ergebnissen zeigt sich, wie auch die Ergebnisse von Baldus (2006), Feldhaus-Plumin (2005) und vieler anderer Autorinnen belegen, dass ein verdächtiger Befund Ungewissheit in einem solchen Ausmaß hervorruft, dass Folgeuntersuchungen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität von den Frauen als unvermeidbar empfunden werden. Die Daten der vorliegenden Studie machen deutlich, dass das vieldiskutierte »Recht auf Nichtwissen« im derzeitigen Vorsorgemodell nicht umgesetzt ist und dessen Umsetzung in der Realität an der Integration von Ultraschalluntersuchungen in das Versorgungskonzept der normalen Schwangerenversorgung scheitert. Ultraschall wird als Untersuchungsmethode dazu genutzt, nach Fehlbildungen zu suchen. Gleichzeitig lässt dieses Vorsorgesystem den Frauen aber wenig bis gar keinen Raum, sich gegen einen Ultraschall entscheiden zu können. Die Diskussion um ein Recht auf Nichtwissen zeigt sich vor diesem Hintergrund und den Berichten der Frauen als eine abstrakte Diskussion, die an der erlebten Realität der Frauen vorbeigeht. Neben den strukturellen Bedingungen, die eine ärztliche Schwangerenvorsorge ohne Ultraschalluntersuchung schier unmöglich zu machen scheinen, erscheint als ein weiterer Grund dafür insbesondere die Bedeutungszuschreibungen, die die Frauen selbst dem Ultraschall geben. So zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, dass während manche der Frauen nach der Diagnose keinen Ultraschall mehr wollten, andere den Ultraschall weiterhin als Möglichkeit wahrnehmen, ihr Kind sehen zu können und manche nur deshalb weiterhin in der ärztlichen Vorsorge verbleiben (vgl. Tegethoff, 2011). Bezogen auf den Diagnosezeitpunkt zeigt sich ein sehr differenziertes, heterogenes Bild: So wünschen sich manche der Frauen, dass sie die Diagnose früher gehabt hätten, weil sie sich dann eventuell für einen Abbruch entschieden hätten, andere Frauen dagegen sind froh, die Diagnose so spät erhalten zu haben, da sie
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davon ausgehen, dass so der Druck zu einem Abbruch geringer sei. Auf der anderen Seite äußerte keine der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Frauen, dass sie das Ergebnis nicht hätte wissen wollen. Die Frauen in der vorliegenden Studie bewerten die pränatale Diagnose im Rückblick dahin gehend als positiv, dass sie Zeit hatten, sich vorzubereiten sowie das Kennenlernen in dem Sinne vorzubereiten, dass sie es bewusst erleben und auch für ihr Kind positiv gestalten konnten. Dieses Ergebnis stimmt überein mit den Ergebnissen von Statham et al. (2001), auch wenn diese Autorinnen anzweifeln, ob eine solche Vorbereitung überhaupt möglich sei. Das Erleben und der Umgang mit dem Tod eines Kindes, das außerhalb des Uterus nicht oder nur kurz überleben kann, ohne eine im Vorfeld bekannte Diagnose. war nicht Inhalt dieser Studie. Insofern bleiben Überlegungen dazu rein hypothetisch. Die Ergebnisse der Studie lassen aber Rückschlüsse darauf zu, dass vielleicht wertvolle, verbleibende Zeit mit dem Kind für Begegnung und Abschied an medizinischen Maßnahmen verloren ginge. Hier dient die Diagnose auch der Vorbereitung einer von den Frauen mitgestalteten Geburts-, Begegnungs- und Abschiedssituation. Das Fehlen von Versorgungskonzepten im Wartezeitraum Als ein wichtiges Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zeigt sich, dass der Wartezeitraum bis zum Erhalt der endgültigen Diagnose als stressreich und belastend erlebt wird. Dies fällt zusammen mit dem Fehlen von Versorgungsangeboten für diesen Wartezeitraum. Vielmehr finden sich die Frauen in der Zeit zwischen Verdacht und Diagnosemitteilung in einer Art luftleerem Raum, in dem nur sehr wenige Unterstützungsstrukturen zur Verfügung gestellt werden, diese Zeit also irgendwie ausgehalten werden muss. Dieses Ergebnis findet sich auch bei Lalor und Begley (2007). Die Ergebnisse zeigen Überschneidungen mit Untersuchungen des prädiagnostischen Zeitraums einer schweren Erkrankung bei Eltern bereits geborener, älterer Kinder : Wie auch in der vorliegenden Untersuchung, erleben diese Eltern insbesondere die anhaltende Ungewissheit in diesem Wartezeitraum als sehr stressreich (Cohen, 1995). Andere Untersuchungen zeigen ebenfalls das Warten auf eine Diagnose als stressreichen Abschnitt eines Krankheitsverlaufs auf, so wie Giske und Gjengedals (2007) Untersuchung zum Wartezeitraum auf eine Diagnosestellung bei gastrischen Erkrankungen oder Pooles (1997) Untersuchung zum Warten auf eine Brustkrebsdiagnose. Als Umgangsstrategien, um Angst und Hoffnung balancieren zu können, zeigen sich in der vorliegenden Untersuchung Rückzug, Starre, Ablenkung, aber auch das Suchen von Informationen oder das Einbinden des nahen Umfelds.
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Diese Umgangsstrategien und ebenso die Möglichkeit, einer Art »Vorbereitung« auf die Diagnosemitteilung wie etwa auch Giske und Gjengedal (2007) sie beschreiben, stehen in engem Zusammenhang mit dem Ausmaß an Informationen, zu dem die Frauen Zugang haben. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass wenn Frauen gut informiert sind und bereits im Wartezeitraum Zugang zu Hilfsstrukturen wie Selbsthilfegruppen bzw. Beratungsstellen haben oder in bestehenden, vertrauten Therapie- oder Seelsorgezusammenhängen aufgefangen werden oder von einer vertrauten Hebamme weiter begleitet werden, sie bereits in diesem Zeitraum mit der Auseinandersetzung beginnen und zu einer Entscheidung über den weiteren Verlauf finden können. 11.2.3 Diagnosemitteilung Die Diagnosemitteilung selbst – manchmal bereits die Mitteilung des Verdachts – wird von den Frauen in der vorliegenden Arbeit ausnahmslos als Schock erlebt. Dieser Schock führt bei manchen der Frauen zu körperlichen Symptomen oder auch zu Ausfallerscheinungen, wie Erinnerungslücken (»Filmriss«) oder dem Verlust von Handlungsfähigkeit. Eine solche Reaktion auf die Diagnosemitteilung wird von verschiedenen Autorinnen wie van der Zalm und Byrne (2006), Baldus (2006), Feldhaus-Plumin (2005), Lalor et al. (2009), Wright (2008) und anderen ebenfalls beschrieben. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass weder eigene Vorahnungen noch Informationen im Vorfeld der Untersuchung noch eine lange prädiagnostische Phase auf die Diagnose vorbereiten und den Schock vermindern können und bestätigen damit die Ergebnisse anderer Studien (vergleiche Kapitel 4.1, Baldus, 2006; Black, 2011; Sandelowski et al., 1996b u. a.). Für die vorliegende Studie zeigt sich, dass nur ein kleiner Teil der Frauen nach der Diagnosemitteilung durch Gesprächsangebote oder die Möglichkeit des Rückzugs aufgefangen wurden. Die meisten der Frauen bzw. Paare wurden direkt im Anschluss an die Diagnosemitteilung nach Hause geschickt. Manche der im Rahmen der vorliegenden Studie befragten Frauen erhielten die Diagnose sogar nur telefonisch; dies zeigt sich auch in anderen Untersuchungen im deutschen Kontext (vgl. Kapitel 4.1, Baldus, 2006; Feldhaus-Plumin, 2005; Renner, 2006). Es stellt sich dabei die Frage, warum eine solche Mitteilung, wenn räumliche Gegebenheiten eine Mitteilung in der pränataldiagnostischen Praxis schwierig machen (z. B. lange Anfahrtswege) nicht durch die Gynäkologin bzw. Gynäkologen oder Hausärztin bzw. Hausarzt vor Ort stattfinden kann. Auch die Diagnose- und die Mitteilungssituation selbst werden sehr unterschiedlich erlebt. Als zentraler Faktor für das Erleben dieser Situation zeigt sich die Wahrnehmung von Eingebundenheit in den Diagnosevorgang. Als sehr schwierig erweist es sich, wenn Frauen retrospektiv erkennen, dass ihre Gynä-
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kologin bzw. ihr Gynäkologe im Vorfeld der Überweisung zum Pränataldiagnostiker bzw. zur Pränataldiagnostikerin Informationen zurückgehalten hat (vgl. Kapitel 4.1). In der vorliegenden Untersuchung nehmen Frauen auch das Ausgeschlossenwerden aus dem Diagnosevorgang selbst, das Erleben eines schweigenden Untersuchungsvorgangs als etwas wahr, das dazu führt, sich als »Untersuchungsobjekt« zu fühlen, Gefühle der Unsicherheit und des Kontrollverlusts werden dadurch verstärkt. Das Bedürfnis der Frauen, Informationen bereits im Untersuchungsverlauf zu erhalten, finden auch Lalor und Begley (2007) als wichtiges Ergebnis ihrer Untersuchung heraus; Statham et al. (2001) geben zudem an, dass bereits eine kurze Zeitverzögerung während der Untersuchung von Frauen bereits als sehr stressreich empfunden werden kann (vergleiche dazu Kapitel 4.1; Black, 2011; Walker et al., 2008). Die Ergebnisse zeigen, dass das Erleben der Diagnosemitteilung in engem Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Haltung der Diagnostikerin bzw. des Diagnostikers steht. Für das Diagnosegespräch zeigt sich somit die Wahrnehmung der Interaktionssituation »auf Augenhöhe« sowohl in Bezug auf die äußeren Bedingungen (liegend versus sich gegenüber sitzend) als auch auf die wahrgenommene (innere) Haltung des Diagnostikers bzw. der Diagnostikerin als bedeutsam. Die vorliegende Studie bestätigt die Ergebnisse von Lalor et al.s (2007) Studie, dass für die Frauen neben den medizinischen Informationen die Wahrnehmung von Aufrichtigkeit und Empathie der Untersucherin bzw. des Untersuchers wichtig ist. Manche der Frauen in der vorliegenden Untersuchung erlebten auch, dass während der Untersuchung die Haltung des Untersuchers bzw. der Untersucherin gegenüber dem Kind umschlägt: Das Kind wird zur reinen Diagnose – das Baby beispielsweise zum »Anenzephalus«. Vermutlich geschieht diese »Depersonalisierung« des Kindes, um eine Entscheidung der Eltern zu erleichtern und einen Abbruch somit »einfacher« zu machen. Eine solche »Verdinglichung« wird auch in anderen Untersuchungen von betroffenen Eltern beschrieben, wie etwa von Janvier et al. (2012). Im Vergleich mit Janvier et al. (2012) kanadischer Arbeit, fällt allerdings auf, dass die Frauen in der vorliegenden deutschen Untersuchung nicht mit extremen Depersonalisierungsphrasen konfrontiert wurden, sondern die Depersonalisierung subtiler und eventuell unbewusster geschah. Dieser vielleicht sensiblere Sprachgebrauch mag mit der Eugenikdiskussion in Deutschland und der Geschichte der Ermordung von Menschen mit Behinderung im Dritten Reich zusammenhängen. Allerdings wird gerade die direkte Verknüpfung von Diagnose mit einem Abbruchsangebot, von der manche der befragten Frauen berichteten, als eine solche Depersonalierung wahrgenommen. Dass für die Frauen aber bereits eine Bindung zum Kind besteht, es ihr Kind ist und bleiben wird, egal wie sie sich entscheiden, scheint im Moment der Diagnosemitteilung manchen Diagnostikern – zumin-
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dest in der Wahrnehmung mancher in dieser Studie befragten Frauen – nicht bewusst zu sein. Die Existenz des Kindes als erwünschtes Kind scheint dabei zudem durchaus von manchen Ärzten bzw. Ärztinnen missachtet zu werden. Demgegenüber steht die Erfahrung auch derjenigen Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, Trauerprozesse und Abschiednahme vom Kind als wichtige Aspekte in der Verarbeitung zu erfahren. Insofern kann eine Verdinglichung des Kindes mitnichten als hilfreich für Betroffene angesehen werden: Denn egal welche Entscheidung sie letztendlich treffen, empfinden die Frauen sich als Mutter (vgl. Janvier et al., 2012; Strehlau, 2003). 11.2.4 Entscheidungs- und Neuausrichtungsprozess Die Ergebnisse zeigen, dass es für die Entscheidung Muster gibt, dass aber ein breites Spektrum von Hintergründen zur Entscheidungsfindung beiträgt. So tritt ein verbindendes Merkmal hervor, dass die Frauen über ein gewisses Maß an Widerstandspotenzial verfügen müssen, um sich dem Automatismus des Abbruchs nach einem positiven Pränataldiagnostikbefund entziehen zu können. Baldus (2006) beschreibt für einen Teil der von ihr befragten Frauen DeNormalisierungsprozesse in der eigenen Biografie, die eine solche Entscheidung gegen den Mainstream ermögliche. Auch in anderen Bereichen der Medizin wird ein solches Widerstandspotenzial beschrieben, wie etwa von Huijer und van Leeuwen (2000) für die Verweigerung von Krebsbehandlungen. Annahmen religiöser Bindung als entscheidungskonstituierend, wie sie in vielen amerikanischen Untersuchungen beispielsweise bei, Chitty et al. (1996) oder auch Rapp (1999) Redlinger-Grosse et al. (2002), finden sich nur bei einer kleinen Zahl von Frauen in den vorliegenden Ergebnissen. Dagegen unterstützen die Ergebnisse die Annahmen von Hickerton et al. (2011), die der religiösen Bindung eine untergeordnete Rolle für die Entscheidung zusprechen. Die Analyse der Entscheidungsprozesse in den untersuchten Daten zeigt eine große Bandbreite von Zeitrahmen und Entscheidungsgrundlagen in den Entscheidungsmustern der Frauen. So muss für die Diagnose »Nichtlebensfähigkeit« das Entscheidungsmodell, das Marion Baldus für die Diagnose DownSyndrom herausgearbeitet hat, erweitert werden. Baldus (2006) beschreibt zwei Entscheidungsmuster, die sich ähnlich auch in den hier vorgestellten Ergebnissen finden: Die »Ergebnissicherheit«, bei dem die Entscheidung von Anfang an klar formuliert wird und die Alternative Abbruch nicht erwogen wird, und »Prozessorientierung«, in der die Entscheidungsfindung als ambivalenter Prozess erlebt wird, der innerhalb eines von den Frauen definierten Zeithorizontes stattfindet und an dessen Ende die klare Entscheidung für das Austragen der Schwangerschaft steht (Baldus, 2006). Jedoch legen die Ergebnisse der vorliegenden Studie nahe, dass es einen fließenden Übergang zwischen diesen beiden
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Typen gibt und auch Frauen, die sehr rasch zu einer Entscheidungsfindung kommen, im weiteren Schwangerschaftsverlauf Gefühle der Ambivalenz erleben können. Manche der Frauen die im Rahmen der vorliegenden Studie befragt wurden, entziehen sich dem Entscheidungszwang und der Zuschreibung von Verantwortung dadurch, dass sie die Entscheidung über seinen Sterbezeitpunkt an ihr Kind selbst abgeben, andere geben sie an eine höhere Macht – Gott oder die Natur – ab. Darüber hinaus findet sich bei manchen der hier befragten Frauen ein weiterer Entscheidungstypus: Frauen, die keine klare Entscheidung für das Weiterführen formulieren, sondern im Gegenteil, um das Weiterführen der Schwangerschaft ertragen zu können, die theoretische Möglichkeit des »Ausstiegs jederzeit« brauchen. Hier zeigt sich, dass Abbruch und Weiterführen sich nicht gegenüber stehen, sondern zwei Pole einer prozesshaften Entscheidung sind. Gerade das Recht, auch aussteigen zu können, eröffnet erst die Entscheidungsmöglichkeit, das Kind so lange wie möglich erleben zu wollen bzw. die Zeit zu bekommen, sich selbst dem Prozess zu stellen. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten zu den Resultaten von Redlinger-Grosse et al. (2002), die in ihrer Untersuchung mit zehn Paaren und vier Frauen, deren Kinder die pränatale Diagnose Holoprosenzephalie gestellt bekamen, resümieren, dass die Entscheidung ein sich kontinuierlich entwickelnder Prozess sei, der immer wieder im Schwangerschaftsverlauf hinterfragt werde. Dies führen die Autorinnen auf die fortdauernde Ungewissheit in Bezug auf den Gesundheitszustand des Kindes bei dieser speziellen Diagnose zurück, bei der das Ausmaß der Fehlbildung variieren kann (Redlinger-Grosse et al., 2002). Die Entscheidung treffen diese Frauen in der vorliegenden Untersuchung auf Abruf, ein Aushalten ist für sie nur mit dem Wissen eines »Notausstiegs« möglich. Diese Entscheidung auf Abruf ist nur möglich, weil das Ausmaß der Fehlbildungen der Kinder für diese Frauen die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch nicht in dem Ausmaß zu einer Entscheidung über Leben und Tod macht, sondern sie die Entscheidung als Entscheidung über den Sterbezeitpunkt, die Art des Abschiedes und Sterbebegleitung für ihr Kind sehen. Für Ramer-Chrastek und Thygeson (2005) sollte ein solches Angebot, eine betroffene Schwangerschaft jederzeit abbrechen zu können, zentraler Bestandteil einer perinatalen Hospizbegleitung für betroffene Eltern sein. Dabei zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, dass zwar keine der Frauen die Möglichkeit eines solchen Abbruchs in Anspruch nahm, es für manche der Frauen aber wichtig war, zu wissen, dass bei einer späten Entscheidung für einen Abbruch (also nach der 24. Schwangerschaftswoche) die Geburt eingeleitet werden würde und das Kind »natürlich« versterben könne, also kein Fetozid durchgeführt werden würde.
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Zeitdruck als zentraler Moment Wie auch in anderen Untersuchungen zeigen die Ergebnisse, dass der Zeitdruck, die Entscheidung innerhalb eines vorgegebenen Zeitrahmens treffen zu müssen, für die Frauen eine große Belastung darstellt – und zwar unabhängig davon, wie groß die gegebenen Zeitfenster sind (vgl. Feldhaus-Plumin, 2005). Die Frauen in der vorliegenden Untersuchung erlebten dabei alle Arten der zeitlichen Rahmensetzung als belastend. Damit stellen die Ergebnisse die Forderungen wie diejenige von Garrett und Margerison (2003), den Zeitrahmen für die Entscheidungsfindung klar zu begrenzen, infrage (vgl. Kapitel 4.1). Auch kann auf Grundlage dieser Ergebnisse bezweifelt werden, dass der Neuentwurf des § 2 SchKG vom 01. 01. 2010, in dem drei Tage Bedenkzeit zwischen Diagnosestellung und der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs eingehalten werden müssen, wirklich zu einer Verbesserung der Situation der Betroffenen führt. Die betroffenen Schwangerschaften der in dieser Studie befragten Frauen liegen vor dieser Gesetzesänderung und es können aus den Ergebnissen deshalb keine Aussagen getroffen werden, ob und wenn ja welche Auswirkungen diese veränderte gesetzliche Grundlage für das Erleben der Frauen bezogen auf den erlebten Zeitdruck hat. Allerdings zeigen die Ergebnisse dieser Studie, dass alle der befragten Frauen eine Schockreaktion nach der Diagnosemitteilung beschreiben und bei manchen Frauen innerhalb dieser Schockreaktion der Impuls einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen besteht, der sich später relativiert. In meiner Masterarbeit führte ich Gespräche mit Frauen, die direkt bei Diagnosemitteilung den Überweisungsschein zum Schwangerschaftsabbruch erhalten haben; ähnliche Vorgehensweisen werden auch von anderen Autorinnen beschrieben (Feldhaus-Plumin, 2005; Rost, 2007). Es ist zu hoffen, dass das Ziel des Gesetzes, Schwangerschaftsabbrüche in dieser Schocksituation zu vermeiden, erreicht werden kann. Und doch würde ich mutmaßen, dass die Festschreibung eines verpflichtenden Wartezeitraums von drei Tagen aus der Perspektive der betroffenen Frauen kaum Auswirkungen hat. Entscheidender scheint zu sein, eine Möglichkeit zu schaffen, die eine Art inneren Raum – einen Rahmen – eröffnet, in dem die Frauen ohne äußere Limitierung ihren Ängsten, ihren Hoffnungen und ihren Entscheidungsspielräumen nachspüren können, um den Prozess einer Neuorientierung anzustoßen. Kann dieser Raum nicht eröffnet werden, wird der Schockzustand möglicherweise lediglich konserviert. Eine zunächst institutionelle Limitierung des Zeithorizonts für die Entscheidungsfindung – die es im Übrigen meines Wissens nach bei keiner anderen medizinischen Diagnose gibt – sagt noch nichts über die Qualität dieses Zeitraumes. Zwar ist eine Forschung, wie Frauen die Auswirkungen dieses Gesetzes erleben, notwendig. Aus den Ergebnissen dieser Studie empfiehlt sich aber der Verzicht auf jegliche Nennung von Fristen und Zeitgrenzen für den Entschei-
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dungsrahmen bei Diagnosestellung »Nichtlebensfähigkeit des Kindes« und der Hinweis darauf, sich so viel Zeit wie notwendig zu nehmen. Der Zwang zur Entscheidung oder vom Recht, keine Entscheidung treffen zu müssen Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass die Frauen nach pränataldiagnostischem Befund den Zwang wahrnehmen, eine Entscheidung für oder gegen das Weiterführen der Schwangerschaft zu treffen – beide Optionen erscheinen gleichwertig als aktive Entscheidungen. Durch die neuen Untersuchungsmethoden und die Möglichkeit festzustellen, ob der Fetus eine Behinderung aufweist, haben Frauen zunächst die Chance, sich für oder gegen ein Leben mit diesem Kind zu entscheiden. Vordergründig bringt dies ein Mehr an Entscheidungsfreiheit und ein Weniger an dem Schicksal ausgeliefert sein. Diese Entscheidungsfreiheit kann aber umschlagen, wie Beck-Gernsheim im Zusammenhang Familienplanung feststellt: »Aus dem Entscheiden können wird die Pflicht zur bewussten Entscheidung.« (Beck-Gernsheim, 2006, S. 116). BeckGernsheim (2002) argumentiert, dass, auch bezogen auf pränatale Untersuchungen, ein gesellschaftliches Klima bestehe, das den Frauen scheinbar Entscheidungsautonomie zuschreibt, dies aber vor allen Dingen eine Ausweitung des Verantwortungsbegriffs darstelle (Beck-Gernsheim, 2002, S. 18). Viele der Frauen in der vorliegenden Untersuchung fühlen einen solchen Druck zu einer rationalen, bewussten Entscheidung. Sowohl der Verzicht auf Pränataldiagnostik als auch die Entscheidung, was nach einem positiven oder verdächtigen Diagnoseergebnis getan werden soll, müssen bewusst getroffen werden; die einzelne Frau muss die richtige Entscheidung treffen, sie trägt die Verantwortung für diese Entscheidung und die Konsequenzen daraus. Sie ist es, die für die Entscheidung einstehen muss. Autorinnen wie Hickerton et al. (2011), FeldhausPlumin (2005) und andere sprechen sich dabei für eine »informed choice«, eine informierte Entscheidung aus. Aber »informed choice« impliziert, dass ich mich informiere und dann eine selbstbestimmte, rationale Entscheidung treffe – die Ergebnisse stellen aber infrage, ob eine »informed choice« im Falle einer pränatalen Diagnosestellung oder generell bei existenziellen Fragen überhaupt möglich ist. Die Rolle von Information und psychosozialer Beratung Im Neuausrichtungsprozess ist für die Frauen zum einen die Auseinandersetzung mit Lebensthemen, zum anderen aber auch der Zugang zu Informationen über das Krankheitsbild, Ablauf von Schwangerschaftsabbruch, Sterbeprozess etc. wichtig, um zu einer Entscheidung zu gelangen und eine eigene Vorstellung über den möglichen Verlauf zu entwickeln. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen das Dilemma zwischen dem Diskurs in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik, in dem die
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psychosoziale Beratung einen zentralen Stellenwert einnimmt, und dem geringen Stellenwert von Beratung in den Geschichten der Frauen (vgl. Baldus, 2006; Feldhaus-Plumin, 2005). Aus den Interviews geht hervor, dass für viele der betroffenen Frauen im Entscheidungsprozess die psychosoziale und humangenetische Beratung nur ein zeitlich punktuelles Angebot im Neuausrichtungsprozess darstellt und für die einzelnen Frauen bis auf wenige Ausnahmen nur eine Randbedeutung in diesem Neuausrichtungsprozess spielt. Die Qualität und Relevanz von in Anspruch genommener Beratung wird von den Frauen sehr unterschiedlich eingeschätzt. Als große Hilfe erleben es Frauen, wenn ihnen der Zeitdruck genommen wird und sie praktische Hinweise beispielsweise zum Umgang mit ihrem Umfeld erhalten, ein Ergebnis, zu dem auch Feldhaus-Plumin in ihrer Analyse von Beratungsstrukturen kommt (2005). Für die Bewertung der Beratung zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung ein heterogenes Bild; während von den wenigen der Frauen, die direkt im Anschluss an die Diagnosemitteilung eine »auffangende« Beratung erhielten, diese positiv eingeschätzt wurde, zeigt sich für die Einschätzung einer späteren Beratung ein uneinheitliches Bild. Für manche Frauen ist sie wichtig für den Entscheidungsprozess, andere bewerten die Beratung als unwichtig, kritisieren zudem schlechte Qualität oder mangelndes Einfühlungsvermögen der Beraterin. Ein ähnliches Ergebnis in Bezug auf die Einschätzung der Beratungsqualität findet sich auch in der Untersuchung von Feldhaus-Plumin (2005). Die Ergebnisse der hier vorgestellten Studie legen nahe, dass eine Überweisung zur Beratung im Anschluss an die Diagnose für die meisten der befragten Frauen die Überweisung in humangenetische Institute bedeutet. Ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit ist es, dass diese humangenetische Beratung von den befragten Frauen mit der Zielsetzung, konkrete Informationen über den Zustand ihres Kindes zu erhalten, aufgesucht wird. Dieses Bedürfnis sehen die meisten der Frauen in der humangenetischen Beratung allerdings nur unzureichend erfüllt. So erleben viele die erhaltenen Informationen als zu abstrakt und nicht auf ihr Kind bezogen. Konkrete Informationen finden die befragten Frauen dagegen eher bei Pädiatern bzw. Pädiaterinnen, Kinderchirurgen und -chirurginnen und Kinderneurologen und -neurologinnen, die über praktische Erfahrungen mit betroffenen Kindern verfügen. Im neuen Gesetz § 2 SchKG, das eine Hinzuziehung von mit der Behinderung des Kindes erfahrenen Spezialisten fordert, sind Humangenetiker und Pädiater als solche Spezialisten aufgeführt. Aus Sicht der Ergebnisse dieser Studie wäre es sinnvoll, den Fokus dabei auf die praktische Erfahrung zu legen und den Frauen somit den Kontakt zu erfahrenen Pädiater bzw. Pädiaterinnen, Kinderchirurgen bzw. -chirurginnen und Kinderneurologen bzw. -neurologinnen zu ermöglichen. Als eine weitere wichtige Informationsquelle und Unterstützungsinstanz
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sehen viele der befragten Frauen auch Selbsthilfeorganisationen und Selbsthilfeforen und den Kontakt zu anderen betroffenen Frauen an, was die Ergebnisse der Untersuchung von Janvier et al. (2012) bestätigt. Gerade im Hinblick auf eigene Ängste vor dem äußeren Erscheinungsbild des Kindes, aber auch auf Umgangsstrategien und begleitende Rituale finden viele der Frauen bei anderen Betroffenen eine wichtige Unterstützung. Viele der Frauen engagieren sich später selbst in Selbsthilfeorganisationen und bieten sich als Kontaktperson für Frauen nach einer Diagnosestellung an.
11.2.5 Die verbleibende Schwangerschaft Kontinuierliche Begleitung Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass die Frauen sich auch über die Entscheidungsfindung hinaus in einem Neuausrichtungsprozess befinden. Dies findet sich auch in anderen Studien wieder. So beschreiben Lalor et al. (2009) die Neuentwicklung von Zukunftsperspektive als zentralen Aspekt für den Zeitraum der Schwangerschaft nach der Entscheidung. Ein genauer Blick in die Ergebnisse zeigt jedoch, dass sich die Situation, die Rahmenbedingungen, in denen sich Frauen nach einem Befund beispielsweise in Irland finden, grundlegend von der Situation in Deutschland unterscheidet. Zum einen stellt die Entscheidung zum Weiterführen der Schwangerschaft in Irland keine ungewöhnliche Entscheidung dar, sondern ist die Norm: Ein Schwangerschaftsabbruch ist auch bei pränataldiagnostischen Befunden nicht legal und Frauen, die einen Abbruch durchführen lassen wollen, sind gezwungen, nach Großbritannien zu reisen (Lalor et al., 2009). Zum anderen scheint das irische Gesundheitssystem, gerade auch weil die Entscheidung zum Weiterführen die Norm darstellt, auf einen solchen Schwangerschaftsverlauf nach Diagnosestellung besser eingestellt. Lalor et al. (2009) zielen mit ihrer Untersuchung auf die Verbesserung von bestehenden Strukturen ab. Im Gegensatz dazu legen die Ergebnisse dieser Studie nahe, dass es solche Strukturen in Deutschland nur selten und nicht institutionalisiert zu geben scheint. Die Entscheidung zum Austragen der Schwangerschaft nach der Diagnose »Nichtlebensfähigkeit des Kindes« stellt in Deutschland nämlich eine Ausnahmeentscheidung dar (vgl. Kapitel 3). Die Ergebnisse zeigen auf, dass das Gesundheitssystem nur unzureichend auf die Entscheidung der Weiterführung der Schwangerschaft vorbereitet zu sein scheint; betroffene Frauen fühlen sich häufig alleingelassen und müssen sich Unterstützungsstrukturen selbst erschließen und erarbeiten. Es ist in gewisser Weise dem Zufall überlassen, welche Art der Unterstützung Frauen vorfinden. So zeigen die Ergebnisse, dass es große Unterschiede bereits bei der
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Diagnosemitteilung bezogen auf die Eröffnung von Zugang zu Hilfsstrukturen gibt. Das deutschlandweite Sample zeigt, dass dieser Zugang zu und die Qualität von Unterstützung von der jeweiligen Diagnostikerin bzw. Diagnostiker, ihrer Empathie, Engagement und Qualifikation und von den individuellen Ressourcen der einzelnen betroffenen Frauen abhängig sind. Dabei stellte sich zudem heraus, dass es Frauen im ländlichen Raum eher schwer hatten, Zugang zu Unterstützungsinstanzen, die über die gynäkologische Regelversorgung hinausgehen, zu erlangen verglichen mit Frauen in großstädtischem Kontext. Die Information über internetbasierte Informationsquellen wie Selbsthilfeforen und auch der Verweis auf die Möglichkeit einer telefonischen Beratung können daher gerade für diese Frauen wichtig sein. In den hier vorgestellten Ergebnissen findet der Zugang zu Unterstützungsnetzwerken beispielsweise über in Qualitätszirkeln engagierte Pränataldiagnostikerinnen statt oder wird von Hebammen organisiert. Dabei ist es wichtig, klar zu trennen zwischen der Beratung während des Entscheidungsprozesses und kontinuierlicher Begleitung, die über die Entscheidungsfindung hinausreicht. Eine solche Begleitung wird von den befragten Frauen auch bei der Gestaltung der Schwangerschaft und auch der Planung der Geburt als hilfreich erlebt. Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen dabei die Ergebnisse anderer Untersuchungen im Untersuchungsbereich, wie diejenige von Statham et al. (2001), Lalor et al. (2009) oder Redlinger-Grosse et al. (2002), die zum Schluss kommen, dass betroffene Frauen von einer vertrauten Person begleitet werden sollen. So empfehlen Statham et al. (2001), dass die Frauen im Klinikzusammenhang eine Kontaktperson genannt bekommen, die als Schlüssel zu anderen Betreuungsinstanzen wirkt, Kontakte herstellt etc. Eine solche kontinuierliche Begleitung wäre im Übrigen auch für alle anderen Schwangeren empfehlenswert (vgl. Hodnett, 2008). Als hilfreich und unterstützend erleben es Frauen, wenn Betreuungspersonen bereit sind, sich auf ihre Situation einzulassen und dazuzulernen und sich mit der Fehlbildung und ihren verschiedenen Formen auseinanderzusetzen (vgl. dazu auch Redlinger-Grosse et al., 2002). Denn in den Ergebnissen zeigt sich, dass Frauen die Betreuung dann als hilfreich erleben, wenn der Fokus weiterhin auf das Kind gerichtet ist und die Frauen nicht den Eindruck einer fortdauernden Abbruchserwartung von medizinischer Seite haben (vgl. RedlingerGrosse et al., 2002). In der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass die Frauen es als hilfreich erleben, wenn sie mit erfahrenen Pädiaterinnen bzw. Pädiatern oder anderen Spezialisten in Kontakt kommen können und so Informationen über den möglichen Verlauf der Schwangerschaft und die Entwicklung des Kindes erhalten können. Dies zeigt sich auch in anderen Untersuchungen. MiquelVerges et al. (2009) befragten in ihrer qualitativen Untersuchung 22 Mütter von
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Kindern mit pränatal diagnostizierten Fehlbildungen, die mit einem möglichen Überleben nach der Geburt verbunden sind. Die Autoren arbeiteten fünf Bereiche heraus, die sie für das Erleben der weiteren Schwangerschaft als wichtig ansehen: 1. Die Möglichkeit der Vorbereitung auf die Zeit nach der Geburt etwa durch Gespräche mit Pädiater oder Pädiaterin und eine Führung über die Kinderintensivstation 2. Das Empfinden von fachlicher Kompetenz der Betreuungspersonen 3. Das Empfinden von Empathie und Kümmern aufseiten der Betreuungspersonen 4. Das Ermöglichen von Hoffnung auch bei Diagnosen, die mit einer erhöhten perinatalen Sterblichkeit in Verbindung stehen 5. Zeit in der Begleitung (Miquel-Verges et al., 2009, S. 83–84) Als eine solche Hoffnung für Diagnosen mit hoher peripartaler Mortalität, wie Miquel-Verges et al. (2009) es fordern, zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung in der Hoffnung, das Kind nach der Geburt lebend kennenlernen zu können. Um eine solche Hoffnung haben zu können, ist es für die Frauen jedoch wichtig, ein inneres Bild vom Kind zu entwickeln. Als wichtiger Einflussfaktor zeigen sich in diesem Neukonstruktionsprozess die Bilder, die die Frauen nach der Diagnose von der Fehlbildung ihres Kindes zu sehen bekommen, wie auch die Ergebnisse von Lalor et al. (2009) nahelegen. Sie weisen darauf hin, dass die Frauen neben den Informationen zum Erscheinungsbild des Kindes auch Informationen dazu benötigen, wie andere Betroffene mit einem solchen Kind umgegangen sind, um sich vorbereiten zu können und zu wissen, ob sie selbst dieses Kind annehmen können. Auch dabei zeigen sich für die vorliegende Untersuchung insbesondere Selbsthilfeforen als wichtige Informations- und Unterstützungsressourcen (vgl. auch Janvier et al., 2012; de Vitry- Smith et al., 2012).
Planung der Geburt Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass für viele der Frauen die Planung und Vorbereitung der Geburt einen wichtigen Aspekt im Neuausrichtungsprozess darstellt. Zentral ist dabei für alle Frauen ihr Wunsch danach, ihr Kind lebend kennenlernen zu wollen und ihm die verbleibende Lebenszeit nach der Geburt so schön wie möglich zu machen. Die Frauen wollen dabei selbst entscheiden können, welche Art der Versorgung sie für sinnvoll halten (vgl. Walker et al., 2008) Wie auch in Eden und Callisters (2010) Untersuchungen zu Eltern mit frühgeborenen Kindern in intensivmedizinischer Behandlung, die
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sterben, zeigt sich dabei für das Erleben der Eltern die Möglichkeit der Partizipation an medizinischen Entscheidungen als zentral. Bezogen auf die Wahl des Geburtsmodus unterscheiden sich die Ergebnisse der vorliegenden Studie von vorliegenden Untersuchungen aus den USA. In diesen US-Studien entscheidet sich gerade bei schwerwiegenden Diagnosen ein großer Teil der Frauen für eine selektive Kaiserschnittentbindung. So finden De Vitry-Smith et al. (2012) in ihrer Studie, dass sich 15 der 20 befragten Frauen, deren Kinder »serious or lethal diagnosis« im Schwangerschaftsverlauf erhalten hatten, einen Kaiserschnitt erhielten. Dagegen zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung ein auffallend hoher Anteil an Frauen – die Hälfte –, der eine außerklinische Geburt plante. Während diejenigen Frauen, die eine außerklinische Geburt planen teilweise überraschende Unterstützung von ärztlicher Seite erhalten, zeigen die Ergebnisse aber auch, dass andererseits der Wunsch nach einem geplanten Kaiserschnitt (»Wunschkaiserschnitt«) auf Widerstand auf medizinischer Seite stößt. Hier zeigt sich, dass die Bewertung des Risikos einer Schnittentbindung offensichtlich bei letaler Diagnose des Kindes höher eingeschätzt wird als bei gesunden Kindern; der Preis des erhöhten Risikos wird dabei nur bezahlt, wenn entweder ein gesunder Zwilling involviert ist oder das Leben der Mutter in Gefahr scheint72. Dabei zeigen die Ergebnisse, dass gerade Frauen, deren Kinder Anenzephalie oder andere Fehlbildungen haben, die mit einer hohen intrapartalen Sterberate in Verbindung stehen, sich retrospektiv zumindest wünschen, die Entscheidungsmöglichkeit über den Geburtsmodus und die relevanten Informationen zu den Geburtsoutcomes der verschiedenen Gebärmodi gehabt zu haben. Darüber hinaus legt etwa Jaquier et al. (2006) Umfrage unter Eltern, deren Kinder Anenzephalie hatten, nahe, dass diese Kinder den Geburtsvorgang mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit überleben, wenn eine Schnittentbindung vorgenommen wird (Jaquier et al., 2006). Es stellt sich daneben aber auch die Frage, warum ein Wunschkaiserschnitt für Frauen mit gesunden Kindern möglich ist, während er für Frauen mit toten oder fehlgebildeten Kindern nicht möglich sein soll. Somit zeigen sich auch hier wieder die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Frauen innerhalb des Medizinsystems. Ein weiteres Ergebnis weist darauf hin, dass für einige der Frauen der Wunsch nach einem natürlichen Verlauf der Schwangerschaft, einer normalen Geburt und einem würdevollen Sterben des Kindes zentral im Entscheidungs- und Neuausrichtungsprozess steht. Dieses eigene Bild von Schwangerschaft und 72 Vergleiche dazu Baumgärtner und Schach (2010), Ausführungen über den Wunschkaiserschnitt, und Kolip et al. (2012) Studie über die Kaiserschnittrate in Deutschland, in der die regional sehr unterschiedlichen Raten aufgedeckt werden und die auf hohe Rate an Wunschkaiserschnitten in bestimmten Regionen schließen lassen.
Diskussion
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Geburt als natürlichem Körpervorgang stellen die Frauen dem Bild des Schwangerschaftsabbruchs als medizinischem Eingriff in den eigenen Körper entgegen. Einen solchen Eingriff wollen sie nicht. Diese Ergebnisse finden sich so in keiner der vorliegenden Untersuchungen zum Forschungsgegenstand.
11.2.6 Die Geburt Die Ergebnisse der vorliegenden Studie geben Hinweise darauf, wie bedeutsam die Geburt für das Erleben der Frauen ist, und dass gerade die Geburt als Ende der Statuspassage Schwangerschaft einen wichtigen Übergang für die betroffenen Frauen darstellt (Ramer-Chrastek und Thygeson, 2005; Locock et al., 2005). Viele der Frauen erleben dabei die Geburt als eine Rückkehr zu einer gewissen Normalität, der Geburtsvorgang bringt die totale Konzentration auf sich selbst und Arbeit auf körperlicher Ebene mit sich. Auch für die Konstruktion des Kindes als Gegenüber, die wichtig ist für die Begegnung nach der Geburt und den späteren Abschied, kann das Erleben der Geburt als einen gemeinsam bewältigten Übergang so eine Ressource darstellen. Hier zeigt sich, dass manche der Frauen den Kindern eine aktive und handelnde Rolle für den Geburtsbeginn und Geburtsverlauf zuschreiben und eine schöne Geburt als Geschenk des Kindes erleben, wie es auch Nijs (2003) beschreibt. Ein Teil der Frauen in der vorliegenden Studie erlebt eine solche normale, ungestörte Geburt im außerklinischen Setting – in Form einer Haus- oder Geburtshausgeburt. Für diejenigen Frauen, die hingegen in einer Klinik gebären, zeigt sich, dass für das Erleben von Geborgenheit das Ausmaß der erlebten Anonymität oder Vertrautheit einen wichtigen Einflussfaktor darstellt. Dies findet sich auch in den Ergebnissen anderer Untersuchungen wie Lalor et al. (2009) oder Chitty et al. (1996) wieder. Aus deren Ergebnissen lässt sich die Empfehlung folgern, betroffene Frauen bereits in der Schwangerschaft im Kreissaal vorzustellen, wenn möglich eine Beleghebammengeburt mit einer ihr vertrauten Hebamme zu organisieren oder auch die ärztliche Versorgung so zu koordinieren, dass möglichst eine vertraute Person zur Geburt gerufen werden kann. Gleichzeitig stellen die Ergebnisse klar, dass viele der Frauen sich durch Entscheidungen zu Einleitung oder Notfallinterventionen wieder mit existenziellen Entscheidungen konfrontiert sehen. So zeigen die Ergebnisse, dass gerade Entscheidungen über die Einleitung der Geburt etwa bei einer Terminüberschreitung von einigen Frauen als Entscheidungen über den Sterbezeitpunkt des Kindes wahrgenommen werden und dadurch eine Parallele zum Entscheidungsprozess nach der Diagnose aufweisen. Denn gerade hier kommt es wieder zu einer Auseinandersetzung mit medizinischen Normen; und die individuelle Situation der Frauen sollte Beachtung finden.
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11.2.7 Begegnung und Abschied Nach der Geburt zeigt sich, dass die meisten Frauen die Begegnung mit dem Kind als innig und die verbleibende Zeit als gemeinsame Zeit erleben (Robinson et al., 1999). Der Sterbeprozess wird von keiner der Frauen als traumatisierend erlebt, vielmehr beschreiben die meisten das Sterben des Kindes als »Einschlafen«. In vielen Untersuchungen wird empfohlen, dass Eltern ihr verstorbenes Kind halten, berühren und beerdigen können (Cacciatore et al., 2008; Nijs, 2003; Unterthiner und Volgger, 2008). Diese Forderungen sollten mittlerweile zum Standard in der Versorgung von Müttern verstorbener Kinder gehören. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lässt Bedürfnisse der Mütter erkennen, die sogar über diese Empfehlungen hinausreichen. So zeigt sich, dass die Frauen Raum für die Begegnung und den Abschied von ihrem Kind brauchen, was sowohl den Zeitraum als auch den Ort des Abschiednehmens umfasst: Als zentral zeigt sich der Wunsch vieler Eltern, ihr Kind nach seinem Tod solange bei sich zu haben, bis sie es selbst abgeben wollen. Dieser Wunsch, Zeit mit dem verstorbenen Kind zu haben, wird auch in Davies (2005) Untersuchung von zehn Müttern älterer verstorbener Kinder deutlich, die in der Klinik, zu Hause oder in Hospizen verstorben waren, als ein zentrales Bedürfnis, um Abschied vom eigenen Kind nehmen zu können. Die Ergebnisse machen deutlich, dass ein Teil der Frauen versuchen, ihr Kind über seinen Tod hinaus im eigenen Zuhause zu haben. Alle Frauen in der vorliegenden Studie, die außerklinisch geboren haben, aber auch ein Teil der Frauen mit Klinikgeburt, haben ihr verstorbenes Kind ebenfalls mehrere Tage, manche bis zur Beerdigung bei sich zu Hause. Dies bedarf bei manchen der Frauen Vorbereitung und Durchsetzungskraft auch gegen der Klinik und dem Bestattungsunternehmen (vgl. Weber et al., 1997). Die Ergebnisse zeigen aber, dass dies für die Eltern wichtig ist, um das Kind auch in ihrem eigenen Lebensumfeld als real zu erleben und nicht nur im institutionellen Umfeld der Klinik. Ein weiterer Aspekt ist zudem der Versuch, so den Tod des Kindes begreifen zu können (vgl. Davies, 2005). Darüber hinaus dient das Zuhause-Haben des Kindes aber auch der Konstruktion von Erinnerung, wie es auch von anderen Autorinnen empfohlen wird (vgl. Nijs, 2003; Unterthiner und Volgger, 2008). So kann der spätere Umgang mit dem Verlust unterstützt werden (Romanoff und Terenzio, 1998; Woodgate, 2006). Beim unerwarteten längeren Überleben von ihren Kindern fühlen manche der Frauen ambivalente Gefühle; bei manchen kommt es durch die anhaltende Ungewissheit wieder zu einer Bindungsunterbrechung bzw. einem Bindungsaufschub. Die Frauen sehen sich erneut vor existenzielle Entscheidungen gestellt, sodass sich hier Parallelen zu den Ergebnissen von Studien mit Eltern
Diskussion
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extrem frühgeborener Kinder oder schwerkranker Kinder zeigen (vgl. Eden und Callister, 2010; Sharman et al., 2005). Ein weiteres wichtiges Ergebnis stellt dar, dass diejenigen Frauen, deren Kinder unerwartet längere Zeit überleben, sehr heterogene Unterstützungsangebote vorfinden, die von regelmäßigen Hausbesuchen eines Pflegedienstes bis zum völligen Fehlen professioneller Unterstützung reichen und dabei oft der Versorgungssituation in der Schwangerschaft entsprechen: Das heißt, wenn Frauen bereits in der Schwangerschaft durch ein Netzwerk versorgt waren, trägt diese Versorgung auch beim Überleben des Kindes weiter, und umgekehrt wenn bereits in der Schwangerschaft keine Versorgungsstrukturen vorhanden sind, müssen die Frauen sich diese auch nach der Geburt selbst erarbeiten. Wieder ist es aber Zufall, welche Art der Unterstützung die Frauen erhalten.
11.3
Empfehlungen für die Praxis
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die betroffenen Frauen individuell verschiedene Bedürfnisse haben. Von Vorannahmen wie etwa Annahmen zu Religiosität, gewünschtem Geburtsmodus, Umgang mit Technik etc. sollte Abstand genommen werden und individuelle Vorgangsweisen abgesprochen werden. Für die Praxis erscheint es somit wichtig, die Individualität der Bedürfnisse der betroffenen Frauen im Blickfeld zu haben und offen zu sein auch für unkonventionelle Entscheidungshorizonte. Die Ergebnisse zeigen, dass dies im Einzelfall auch die Erweiterung des Entscheidungsrahmens auf die Möglichkeit einer »Entscheidung auf Abruf« sein kann, eines Weiterführens der Schwangerschaft also, solange es tragbar für die Frau ist. Es lassen sich aus den Ergebnissen der Studie folgende generellen Empfehlungen herausarbeiten: – Diagnosemitteilung: Fortbildungsbedarf zu Diagnosekommunikation und die Notwendigkeit der Reflektion des eigenen Standpunkts auf Diagnostikerseite, um einen sensiblen Umgang zu ermöglichen. – Informationsbedürfnis: Offene Information bereits bei Verdacht und der Überweisung, Zugang zu breitgefächerten Informationsquellen auch nichtmedizinischer Art ermöglichen (andere Spezialisten, Selbsthilfegruppen etc.). – Kontinuierliche Begleitung: Angebot einer kontinuierlichen, empathischen, an den individuellen Bedürfnissen orientierten Begleitung durch den gesamten Schwangerschaftsverlauf und darüber hinaus. – Unterstützungsnetzwerk und Koordination: Vernetzung mit unterschiedlichen Akteuren ermöglichen, um Frauen eine an ihren individuellen Bedürfnissen orientierte Betreuung anbieten zu können (Mediziner unter-
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schiedlicher Disziplinen, Hebammen, Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Hospizvereine, Bestattungsunternehmen etc.). Unterstützung der Bindungsgestaltung zum Kind: Die Frauen wünschen sich eine Begleitung, die sie als Mutter anerkennt. Das Kind soll weiter als Kind im Fokus stehen und nicht auf die Diagnose reduziert werden. Vorbereitung auf Geburt und Sterben: Hier zeigen sich widersprüchliche Ergebnisse – manche Frauen möchten die Geburt akribisch vorbereiten, andere nicht. Frauen sollten daher ausreichende Informationen zur Wahl des Geburtsorts und zu den verschiedenen Geburtsmodi erhalten und in ihren Entscheidungen unterstützt werden. Auf ein unerwartetes Überleben des Kindes vorbereitet sein: Die betreuenden Akteure sollten auch auf das unerwartete Überleben des Kindes vorbereitet sein und den Frauen dann die entsprechende Unterstützung wie ambulante Kinderkrankenpflege und den Zugang zu Kinderhospizdiensten ermöglichen. Abschiedsgestaltung vom toten Kind: Frauen sollten Zeit haben, ihr Kind so lange zu verabschieden, wie sie es selbst für notwendig halten. Auch sollte Frauen ermöglicht werden, ihr verstorbenes Kind bei sich zu Hause zu verabschieden, wenn sie dies wünschen.
Grundsätzlich lässt sich die Koordination der Betreuungsangebote als zentrale Praxisempfehlungen formulieren. Diese Koordination sollte von einer Instanz übernommen werden, die die betroffenen Frauen kontinuierlich auch über die Geburt und den Tod des Kindes hinaus begleitet. Dementsprechend muss auch das Betreuungsangebot nach der Diagnosemitteilung auf eine kontinuierliche Begleitung der betroffenen Frauen ausgerichtet werden. Der alleinige Fokus auf psychosoziale und humangenetische Beratung wird den Bedürfnissen der betroffenen Frauen nicht gerecht, auch wenn dieses Angebot gerade auch im Anschluss an die Diagnosemitteilung für manche Frauen sinnvoll sein kann. Noch wichtiger erscheint, dass die Frauen Zugang zu Netzwerken erhalten, in denen ein interdisziplinärer Austausch stattfindet und den Betroffenen der Zugang zu Unterstützungs- und Informationsinstanzen auch außerhalb des gynäkologisch-medizinischen Betreuungssystems ermöglicht wird. Solche Instanzen können Professionelle wie Hebammen, Pädiaterinnen und Pädiater, aber auch andere Betroffene, Bestatter, Selbsthilfegruppen oder der Hinweis auf Filme73 oder Literatur und vieles mehr sein. 73 Katja Baumgarten, die selbst Hebamme und Filmemacherin ist, drehte 2001 einen dokumentarischen Film über ihre eigene Erfahrung mit Diagnose, Entscheidung, Schwangerschaft, Geburt und Tod ihres Sohnes, bei dem in der Schwangerschaft Trisomie 18 dia-
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Die Miteingebundenheit von Hebammen in solchen interdisziplinären Netzwerken ist dringend notwendig, um den Frauen den Zugang zu einer kontinuierlichen Hebammenbetreuung zu ermöglichen. Gerade die aufsuchende Arbeit der Hebamme, die ins Haus zur Familie kommt, steht im Gegensatz zur »Komm«-Strukturen anderer Unterstützungsinstanzen wie der »fremden« Praxis, der »fremden« Beratungsstelle. Ein solches Modell der kontinuierlichen Betreuung durch eine Hebamme sehen auch Lalor et al. (2009) als zentral für eine frauenzentrierte Versorgung nach einem pränatalem Befund an. Sie plädieren dafür, dass eine ausgewählte Unterstützungsperson auch nach der Geburt und dem Tod des Kindes und bei Folgeschwangerschaften Beistand leistet. In amerikanischen Studien findet sich zudem das Modell einer palliativen Begleitung, d. h. der Begleitung der Frauen bereits in der Schwangerschaft durch ein Kinderhospiz (vgl. Ramer-Chrastek und Thygeson, 2005). Dieses Modell ist in Deutschland noch nicht sehr verbreitet, aber es existiert eine steigende Anzahl regionaler Angebote.
11.4
Ausblick
Aus den Daten und Ergebnissen dieser Studie ergeben sich folgende Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung: Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass der Druck, eine Entscheidung innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu treffen, von vielen der Frauen als belastend wahrgenommen wird. Für die weitere Forschung wäre es sinnvoll zu untersuchen, wie die Frauen selbst die neue Regelung der dreitägigen Bedenkzeit zwischen Diagnose und Abbruch wahrnehmen und wie und ob sich zeitlich limitierte Regelungen auf die Entscheidung der Frauen auswirken. Die Ergebnisse werfen ebenfalls weiterführende Fragen zu einer palliativen Begleitung bereits im Schwangerschaftsverlauf auf. Dabei wäre es interessant herauszufinden, wie solche Programme in Deutschland an pränataldiagnostischen Zentren angebunden werden können und wie Frauen eine solche Begleitung erleben. Die Daten legen nahe, dass die verschiedenen, in die Begleitung der betrofgnostiziert wurde. Dieser Film ist für viele der befragten Frauen ein wichtiges Vorbild für die Planung der Geburt und sie sehen ihn als ermutigendes Beispiel. Mir scheint es, dass dieser Film in seiner Wirkung maßgeblich daran beteiligt ist, dass betroffene Frauen die Möglichkeit haben, den Geburtsort auszuwählen, dass Hebammen den Mut haben, solche Geburten zu Hause zu betreuen und Gynäkologen und Gynäkologinnen Einblick in diese Erfahrung bekommen.
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Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
fenen Frauen involvierten Berufsgruppen unterschiedliche Haltungen zu den einzelnen Aspekten des Themenbereichs Pränataldiagnostik (etwa Behinderung, Leiden, Sterben, Umgang mit Technik etc.) vertreten. So wäre es für zukünftige Untersuchungen interessant, die subjektiven Vorstellungen etwa von Gynäkologen bzw. Gynäkologinnen, Pränataldiagnostikern bzw. Pränataldiagnostikerinnen, Humangenetikern bzw. Humangenetikerinnen, Pädiatern bzw. Pädiaterinnen und Hebammen zu untersuchen und einander gegenüberzustellen. Gerade weil sich für die Begleitung von betroffenen Frauen eine vernetzte interdisziplinäre Versorgung anbietet, ist ein solches Verständnis für die Berufsauffassung des Kooperationspartners, aber auch die Reflexion des eigenen Berufsverständnisses elementar. Eine weitere Fragestellung könnte danach sein, wie sich berufsspezifische Diskurse in interdisziplinären Konstruktionsprozessen und -verhältnissen entwickeln und wie die Frauen in diesen Prozess einbezogen werden. In den Daten meiner Studie ist ebenfalls erkennbar, dass auch der Partner der Frau eng in den Prozess der Neuausrichtung eingebunden ist und ihm eine zentrale Rolle für die Unterstützung der Frauen zukommt. Für zukünftige Forschungen wäre es daher zum einen interessant, die Bedürfnisse der Partner nach einer solchen Diagnose zu erfassen, und sich zum anderen dem Umgang und den Herausforderungen für die Partner generell zu widmen. Einige der Frauen in der vorliegenden Studie haben seit der Diagnosemitteilung ein weiteres Kind geboren. Für weitere Untersuchungen wäre somit interessant, wie sich die Erfahrung, eine betroffene Schwangerschaft ausgetragen und das Kind verloren zu haben, auf die erneute Schwangerschaft auswirkt, wie diese erlebt wird, und welche Unterstützung Frauen sich nach solch schwierigen Erfahrungen wünschen.
12
Fazit
Ziel der vorliegenden Studie war es, die Erfahrung von Frauen zu untersuchen, die sich nach der pränatalen Diagnose »Nichtlebensfähigkeit des Ungeborenen« zum Weiterführen der Schwangerschaft entscheiden und damit zu einem tieferen Verständnis ihrer Bedürfnisse beizutragen und Empfehlungen für die Versorgung abzuleiten. Zu diesem Zweck wurden 20 Frauen, die die Diagnose im Schwangerschaftsverlauf erhalten hatten, retrospektiv zu ihren Erfahrungen befragt, eine Frau zusätzlich bereits während der betroffenen Schwangerschaft. Im Forschungsverlauf zeigte sich als zentrales Ergebnis bzw. als Kernkategorie, dass die Frauen die Diagnosemitteilung als Einschnitt erleben, der einen biografischen Bruch innerhalb der Statuspassage Schwangerschaft bedeutet und daher einen komplexen Neuausrichtungsprozess erfordert, in den die Ent-
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scheidung für das Austragen des Kindes eingebettet ist. Die Diagnose und die Entscheidung sind in diesem Neuausrichtungsprozess als dynamisches Teilstück zu verstehen, nicht als Endpunkt. Aus dem prozessartigen Verlauf ergibt sich, dass er als Ganzes in den Blick genommen werden muss und die Begleitung nach der Diagnosemitteilung nicht nur auf die Entscheidung fixiert sein kann. Im Zentrum dieses Neuausrichtungsprozesses steht indes die Entwicklung einer eigenen individuellen Form von Mutter-Werden und vorgezogenem Mutter-Sein in der limitierten gemeinsamen Zeit mit dem Kind sowie die Neukonstruktion von Konzepten zum Kind, die einen Umgang mit dessen Fehlbildung und der kurzen Lebenszeit ermöglichen. Was die Bindung zum Kind selbst betrifft, so konnte anhand der vorliegenden Ergebnisse gezeigt werden, dass diese bei vielen Frauen durch den Schock der Diagnosemitteilung unterbrochen ist und manche Frauen im Anschluss an die Diagnosemitteilung einen Abbruchsimpuls spüren. Ob eine Dreitagesfrist ein adäquates Mittel zur Entgegnung dieses Abbruchsimpulses darstellt, ist infrage zu stellen. Vielmehr spiegelt dies ein defizitäres Frauenbild wider, in dem Frauen zum einen vor einer übereilten Entscheidung geschützt werden sollen, zum anderen aber auch indirekt einen Zeitrahmen gesetzt bekommen, innerhalb dessen die Entscheidung getroffen sein sollte. Ein gut gemeinter handlungsentlasteter Zwischenraum wird also gleichzeitig zu einem Ultimatum, das der Tragweite der Zäsur in die Schwangerschaft nicht im Mindesten gerecht wird. Der einzelnen Frau wird so möglicherweise das Recht auf die Verfügung über ihre eigenen Entscheidungen, ihren eigenen Zeitbedarf genommen. Sie wird zu einem Fall, von einer Person zu einem Teil der Diagnose. Dabei zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zudem, dass von den Frauen gerade dieser Druck, innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens zu entscheiden, als belastend wahrgenommen wird und zwar unabhängig von der Dauer dieses Zeitrahmens. Was den Neuausrichtungsprozess und die Gestaltung der verbleibenden Schwangerschaft betrifft, zeigen die Ergebnissen, dass die Beziehungsgestaltung zum Kind und das Vorziehen von Bindung aus der Zeit nach der Geburt in den Schwangerschaftszeitraum wichtige Umgangsstrategien darstellen. Gerade weil die Lebenszeit des Kindes limitiert ist, ist es für viele Frauen hilfreich, ältere Geschwister einzubinden und so dem Ungeborenen früh einen Platz in der Familie zu geben. Diese Aspekte sollten in der professionellen Begleitung Beachtung finden. Obwohl das gesetzlich verbriefte Recht auf Nichtwissen besteht, zeigen die Ergebnisse, dass gerade dieses Recht auf Nichtwissen im ärztlichen Vorsorgemodell nicht umgesetzt ist und mit den derzeitigen Mutterschaftsrichtlinien auch nicht umsetzbar erscheint, solange Ultraschalluntersuchungen ein integraler Bestandteil der Vorsorge darstellen. Gerade in Bezug auf die neuen Un-
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Die Ergebnisse – Schwangerschaft als unterbrochene Statuspassage
tersuchungsmethoden unterstützen die Ergebnisse der vorliegenden Studie die Argumentationen, dass durch eine frühe Diagnosestellung gerade für die Entscheidung zum Weiterführen einer Schwangerschaft eine Situation geschaffen wird, in der die Frauen sich für diese Entscheidung verteidigen müssen, weil es rational noch weniger begründbar erscheint als das Fortsetzen bei einem späterem Befund. Dabei wird aber in den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung deutlich, dass es vielfältige Formen von Bindungsentwicklung zum ungeborenen Kind gibt und dass mitnichten ausschließlich die Schwangerschaftswoche ausschlaggebend für das Erleben von Bindung ist. Auch im feministischen Diskurs kommt es immer wieder zu einer seltsamen Vermischung verschiedener Ebenen und Ausgangslagen, wenn das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einer ungewollten Schwangerschaft mit dem Abbruch einer erwünschten Schwangerschaft mit fehlgebildetem Kind gleichgestellt wird. Die Möglichkeit aufzuzeigen bzw. offen zu lassen, eine Schwangerschaft mit einem fehlgebildeten Kind fortzuführen, heißt ja mitnichten, Frauen ihr Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch nach einer solchen Diagnose zu verwehren. Das Recht auf Selbstbestimmung und die Verfügung über den eigenen Körper sollte sich nicht auf das Recht auf Zugang zu einem sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch beschränken. Vielmehr umfasst es auch das Recht auf eine empathische und qualitativ hochwertige Begleitung, wenn Frauen sich gegen einen solchen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, auch bei einer vermutlich stark eingeschränkten Lebenszeit des Kindes. Vielmehr geht es darum, allen Frauen eine angemessene Begleitung zu ermöglichen, was auch das Weiterführen der Schwangerschaft beinhaltet. Der zentrale Punkt in den Auseinandersetzungen um das Recht auf den Schwangerschaftsabbruch findet sich im Selbstbestimmungsrecht der Frau über ihr Leben und ihren Körper. Die Möglichkeiten, aktiv in die Bewältigung und Gestaltung von Lebensereignissen einbezogen zu sein, Subjekt zu werden, sollte hier als Grundlage und Ziel feministischer Diskurse anerkannt werden. Das Ausspielen der beiden Optionen gegeneinander führt demgegenüber zu neuen normativen Erwartungen an ein »richtiges« Handeln der Frauen. Mit einem frauenzentrierten Ansatz, der sich an den Ressourcen der Frauen orientiert, kann die Entscheidung gegen einen Schwangerschaftsabbruch auch als Entscheidung gegen eine medizinische Interventionen gesehen und als Ausdruck von Vertrauen in die eigenen Körperabläufe unterstützt werden. Eine Begleitung, die die Entscheidung auch von diesem Standpunkt aus wahrnimmt und sich an ressourcenorientierten Ansätzen ausrichtet, kann das Körpergefühl der Frauen weiter stärken, die Geburt als Chance zur Verarbeitung nutzen und Unterstützung in der Gestaltung eines würdevollen Abschieds vom Kind bieten. Frauen müssen das Recht haben, sich nach einem positiven Befund für einen
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Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Insgesamt lässt sich aus den Ergebnissen jedoch der Schluss ziehen, dass innerhalb der derzeitigen Kontextbedingungen die Entscheidung gegen einen solchen Abbruch und das Fortführen der Schwangerschaft nach positivem Befund viele Frauen in eine Situation bringt, in der sie sich die Option »Weiterführen der Schwangerschaft« selbst erarbeiten müssen, ihnen diese in Ausnahmefällen nicht einmal als mögliche Entscheidungsoption genannt wird. Somit ist der Weg nicht geebnet, er muss erst frei gemacht werden! Die Ergebnisse dieser Studie zeigen zudem, dass Frauen, die die Schwangerschaft fortsetzen wollen, in Deutschland keine bundesweit gleichwertige Versorgung vorfinden, sondern die Qualität der zugängigen Betreuung je nach Region und Entscheidungsausgang große Unterschiede aufweist. Insofern steht zu hoffen, dass sich in Zukunft diese Situation für die Frauen dahin gehend verändert, dass wirklich alle Frauen die Wahl haben, eine betroffene Schwangerschaft abzubrechen oder fortzusetzen und unabhängig vom Entscheidungsausgang die bestmögliche Unterstützung zu erhalten.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Schwangerschaft als unterbrochene Transition Abbildung 2: Der Weg zur Diagnose Abbildung 3: Die Phasen des Neuausrichtungsprozesses Abbildung 4: Gestaltung der verbleibenden Zeit Abbildung 5: Die Phasen der Bindung Abbildung 6: Aspekte der Bindungsgestaltung nach der Geburt Abbildung 7: Dem Kind einen Platz in der Welt schaffen wollen
129 131 180 195 215 218 305
Tabellenverzeichnis
Tabelle Samplezusammensetzung
125–127
Die verwendeten Transkriptionsregeln
Die Transkription wurde angelehnt an die Regeln von Kallmeyer und Schütze (1976, S. 263) durchgeführt. Diese verwendeten Regeln sollen die Gespräche lesbar halten und die Gesprächsatmosphäre nachvollziehbar halten. Deshalb wurde Dialekt weitestgehend belassen. Die folgenden Regeln wurden verwendet: (Name) (Ortsangabe) und/ aber (…) (lacht) (Unterbrechung, es klingelt an der Tür) (lacht) ›wörtliche Rede‹
Anonymisierung Selbstunterbrechung/ Selbstkorrektur Pause im Gespräch nonverbale Äußerungen Einfügungen der Verfasserin Nonverbale Äußerungen Zitierte wörtliche Rede
Die Interviewauszüge, die in der Studie verwendet werden, sind als Zitate gekennzeichnet und entweder durch die Interviewnummer und Zeilenangabe oder das Pseudonym der Teilnehmerin gekennzeichnet.