Das Geheimnis der Oberfläche: Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons [Reprint 2010 ed.] 9783110935172, 9783484660090


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German Pages 339 [340] Year 1994

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Table of contents :
I. Einleitung: 'Wen kümmert's, wer spricht?'
Das Problem der 'Rückkopplung'
II. Vorlauf zur Wahrnehmung
1. Der vorgefaßte selektive Standpunkt
2. Das 'Weltgespräch'. Die Dialektik der Information
3. Das eingesetzte Augenlicht
4. Foucaults 'Diskurs'
Das letzte Kapitel der Subjektgeschichte oder das erste des Individuums
III. Moderne und Postmoderne. Der Diskurs der Zeit und der Diskurs des Raumes
Double House
1. Die Verflochtenheit der Diskurse
2. Das moderne Wissen und die postmoderne Enzyklopädie
Exkurs: Die 'atemlose Freude am Fahren'
IV. Kunst und Aura
Kunst und Werk
1. Die Repräsentation
Werk = Kunst = Wahrheit. Schiller: Das Werk als Antizipation der besseren Zukunft
2. Der Verweis
3. Der Akt des Verweisens
Das Identitätsproblem post-avantgardistischer Kunst
4. Cognitive mapping - die Gegenwart des Betrachters
Exkurs: All that Jazz
Die kunstgewollte Auflösung des Werks ins Wissen
Exkurs: KunstKunst und leere Form. Manierismus versus Design
Die Ausschmückung der Gegenwart - das Design
Exkurs: Minimal Art / Minimal Music
The hunt for the spirit
Exkurs: Wissen statt Werktreue
5. Die Aura
V. Der Tanz des Schamanen
1. Das (Ge)Redevermögen des Kunstbetriebs
Der bekannte unbekannte Meister
Die Einsicht in die eigene kognitive Kompetenz
2. Der ästhetische Baukasten
Ready modes, die Ideen auslösen sollen
3. The Life & Times. 'Lebens'-Stoff für die Bühne. Drei Beispiele
Stalin
Einstein und Patio
KA Mountain-Ideen
Exkurs: Materialien im Archiv der Byrd Hoffman Foundation
Iraklion-Katalog und Tagesraster. Die Unmöglichkeit, einen Verlauf zu rekonstruieren
4. Gegen die falsche Realität der Realität. Ein Kunstprogramm
Still-Real-Life. Die angestrebte Ununterscheidbarkeit von Kunst und Leben
Small activities
Exkurs: Sicht - Dinge - Schau - Sachen
Zeit als Erfahrung
Wahrnehmungsflächen: exterior und interior screen
Die Schrift und der Körper. Die Schrift des Körpers
Jeremias - Der (geliehene Mund im) Blick des Tauben
5. Echos vom Chor der Bilder
Split Panel
Ästhetische Therapie, therapeutische Ästhetik. Der Beginn der Arbeiten der Byrd Hoffman Foundation
6. Beispiele
Lächeln in Zeit und Raum. Die Smilers aus den CIVIL warS
Der Übergang Freud-Deafman - Drei Listen
Die Gegenwart als - vergangener - Krieg. Die CIVIL warS
VI. Rückblick
VII. Literatur
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Das Geheimnis der Oberfläche: Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons [Reprint 2010 ed.]
 9783110935172, 9783484660090

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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele Band 9

Bernd Graff

Das Geheimnis der Oberfläche Der Raum der Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitstitelaufnahme Graff, Bernd: Das Geheimnis der Oberfläche: der Raum der Postmodeme und die Bühnenkunst Robert Wilsons. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Theatron; Bd. 9) NE:GT ISBN 3-484-66009-0

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt

Der MANN Ha! Alles gibt es noch, so ist das nicht. Diese Zeit, die sammelt viele Zeiten ein; da gibt's ein Riesensammelsurium, unendlich groß ist das Archiv: Alles da, und ist zuhanden. Viele brauchbare Stoffe noch in den Beständen, im Fundus der Epochen. Das Beste freilich können wir nicht mehr halten in unseren Armen, nicht mehr tragen in den Köpfen - aber verschwunden, wirklich verschwunden ist in Wahrheit nichts, kein Reich und keine noch so winzige Gebärde Er ruft durch den Vorhangschlitz Los, los, ihr Überlebenskünstler! Nehmt euch, was ihr gebrauchen und erhalten könnt! Schafft und schleppt euch ab, überliefert, was noch zu überliefern ist! Für wen? Das fragt jetzt nicht Worüber verfügt der Mensch? Über viel, sehr viel Vergangenheit. Die allein ist reich, und die bleibt immer unerschöpflich. Und was fällt und abgetan wird, fangt alles auf, bewahrt es gut, denn dies Finale muß noch lange halten. zur FRAU Willst Du hinein? Willst du das Spiel von nahem sehen? Die FRAU nickt, sie gehen nach rechts ab Die FRAU Stellt sich heraus: ich täuschte mich, ich hatt' 'ne Vision, laß' ich mich krankschreiben Dunkel

Botho Strauß, Kalldewey Farce

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung: "Wen kümmert's, wer spricht?1 Das Problem der 'Rückkopplung'

. Vorlauf zur Wahrnehmung

l 11

16

1.

Der vorgefaßte selektive Standpunkt

16

2.

Das Weltgespräch'. Die Dialektik der Information

20

3.

Das eingesetzte Augenlicht

26

4.

Foucaults 'Diskurs' Das letzte Kapitel der Subjektgeschichte oder das erste des Individuums

31

ffl. Moderne und Postmoderne Der Diskurs der Zeit und der Diskurs des Raumes

40

46

Double House

46

1.

Die Verflochtenheit der Diskurse

51

2.

Das moderne Wissen und die postmoderne Enzyklopädie Exkurs: Die 'atemlose Freude am Fahren'

54 74

IV. Kunst und Aura

79

Kunst und Werk

81

Die Repräsentation Werk = Kunst = Wahrheit Schiller: Das Werk als Antizipation der besseren Zukunft

84 84

2.

Der Verweis

94

3.

Der Akt des Verweisens Das Identitätsproblem post-avantgardistischer Kunst

101 101

4.

Cognitive mapping - die Gegenwart des Betrachters Exkurs: All that Jazz

105 110

1.

VII

5.

Die kunstgewollte Auflösung des Werks ins Wissen Exkurs: KunstKunst und leere Form. Manierismus versus Design Die Ausschmückung der Gegenwart - das Design Exkurs: Minimal Art / Minimal Music The hunt for the spirit Exkurs: Wissen statt Werktreue

112 119 124 128 131 144

Die Aura

146

V. Der Tanz des Schamanen

160

1.

Das (Ge)Redevermögen des Kunstbetriebs Der bekannte unbekannte Meister Die Einsicht in die eigene kognitive Kompetenz

163 163 176

2.

Der ästhetische Baukasten Ready modes, die Ideen auslösen sollen

180 181

3.

The Life & Times 'Lebens'-Stoff für die Bühne. Drei Beispiele Stalin Einstein und Patio KA Mountain-ldeen Exkurs: Materialien im Archiv der Byrd Hoffman Foundation /rafc/i'on-Katalog und Tagesraster. Die Unmöglichkeit, einen Verlauf zu rekonstruieren

4.

VIII

Gegen die falsche Realität der Realität Ein Kunstprogramm Still-Real-Life. Die angestrebte Ununterscheidbarkeit von Kunst und Leben Small activities Exkurs: Sicht- Dinge - Schau - Sachen Zeit als Erfahrung Wahrnehmungsflächen: exterior und interior screen Die Schrift und der Körper. Die Schrift des Körpers Jeremias Der (geliehene Mund im) Blick des Tauben

189 189 193 196 196 198 204 206 210 214 222 224 230 251

5.

6.

Echos vom Chor der Bilder Split Panel Ästhetische Therapie, therapeutische Ästhetik. Der Beginn der Arbeiten der Byrd Hoffman Foundation Beispiele Lächeln in Zeit und Raum Die Smilers aus den CIVIL \varS Der Übergang Freud-Deafman - Drei Listen Die Gegenwart als - vergangener - Krieg. Die CIVIL warS

258 266 271 277 277 289 300

VI. Rückblick

311

. Literatur

317

IX

I. Einleitung: 'Wen kümmert's, wer spricht?1 Die Uhr mag stebn, die Zeiger fallen Es sei die Zeit für mich vorbei! Goethe, Faust l

Es war zu erwarten gewesen, daß der Plural der Modemismen nicht in den Monodiskurs einer Postmoderne übergehen würde. Postmodernismen folgen auf das, was modern war und unterschiedliche Artikulationsformen der Kunst, sich damit auseinanderzusetzen. Wenn diese Arbeit Postmoderne und die Bühnenkunst Robert Wilsons zu untersuchen angetreten ist, dann also nicht, um ein allumspannendes neues Epochenphänomen und eine dafür prototypische Kunst aus der Taufe zu heben. Doch gibt es eine Art 'Hintergrundstrahlung', die alle Postmodernismen durchzieht. Sie findet ihre Ermöglichungsbedingung im Verschwinden einer modernen Selbstverständlichkeit: Die Gewißheit, daß es der Zeit anvertraut ist, Aufgaben und Probleme einer Gegenwart in einem kontinuierlichen Prozeß zu lösen, schwindet unter dem Blick auf das Panorama eines unübersichtlich mit Zeitenbrocken und geschichteten Zeiten gefüllten Raumes. Am Ende des modernen Verständnisses, das eine linear gedachte Zeit privilegiert, öffnet sich der postmoderne Raum der Gegenwart. Anders gesagt: Der Diskurs einer sukzessiv sich entfaltenden Zeit bricht ab in einen diskursiven Orientierungslauf, der stets dieselbe Gegenwart durchquert. Dieses Postmodemeverständnis soll hier vorgestellt werden. Die Postmoderne, die man für Wilsons Theater deklarieren kann, hat andere Wurzeln. Zwar ist die Fragestellung, auf die es abzielt, sicherlich postmoderner Reflexion zu verdanken. Doch werden hier auch immanent kunsthistorische Überlegungen in Anschlag zu bringen sein, um die Innovationsleistung dieses Theaters zu erfassen. Eine Leistung übrigens, die nichts mehr mit dem Neuheits-impuls der klassischen Avantgarden gemein hat, die aber zweifelsohne an die Bedeutung heranreicht, die um die Jahrhundertwende der 'Abstraktion' für die Bildenden Künsten zukommt. Mit Postmoderne ist daher einerseits das gesellschaftliche Phänomen Postmodernität bezeichnet. Andererseits wird damit der Postmodernismus belegt, der als Versuch gelten kann, eben jene Postmodernität durch Kunst zu reflektieren. Tatsächlich aber sind diese Phänomene, da es sich um unterschiedliche Diskurse mit ihren eigenen historischen Voraussetzungen, Regeln und Organisationsschemata handelt, weder in den Bedingungen ihres Ordnungsgefüges noch in der Realität ihrer Exekution identisch. Kunst erweist sich seit der Entstehung eines bürgerlich autonomen l

Kunstdiskurses zwar stets als Subsystem ihrer Gegenwart, jedoch als eines mit eigener Konstitutionsform. Darum wird hier zuerst (in Kapitel ) die Genese eines für die Postmodernität signifikanten Raum-Diskurses untersucht, der, in Ablösung vom Zeitdiskurs der Moderne, die Einführung dieses gerade in seiner Unentschiedenheit treffenden Begriffs 'Postmoderne' legitimiert. Danach (in Kapitel IV) - sozusagen nach dem Aufriß des gesellschaftlich diskursiven Koordinatenkreuzes, in dem der Postmodernismus der Kunst anzusiedeln ist - soll das immanent kunsthistorisch bedingte Szenario für die postmoderne Produktion im Spannungsfeld von Form und Inhalt der Kunst aufgezeigt werden. Nach der Abkehr von den modernen Kunst-Paradigmen: Kontinuität, Regressionstabu und Kommunikabilität rechtfertigt es die Rede von nach-avantgardistischer, tatsächlich neuer Kunst und macht sie zugleich obsolet. Diese Trennung zweier diskursiver Segmente geschieht, um Bedeutungsbereiche für eine Standortbestimmung der Gegenwart eruieren zu können. Sie geschieht nicht, um auseinanderzudividieren, was doch zusammengehört. Darum sei auf das Kapitel l verwiesen, in dem die Notwendigkeit einer Re-Fusion dieser Teilbereiche thematisiert wird. Beide Gebiete, der Postmodernismus Robert Wilsons und sein epochales sozio-historisches Pendant, die Postmodernität, sollen demnach von dieser Arbeit untersucht werden. Dabei werden, so ist hier schon zu sagen, Wilsons Produktionen einer 'Kunst ohne Werke' subsumiert, die in Abgrenzung zu anderen postmodernen Varianten artifiziellen Sprechens analysiert werden muß. Eines dieser anderen Kunstverfahren, die jedoch auf dieselbe Problemlage der Postmodernität antwortet, sei hier zum Zwecke der Abgrenzung von Wilsons Theaterästhetik kurz genannt und exemplarisch vorgestellt: Es ist das Verfahren einer postmoderne Allegorese. Dieses kann eine Kontrastfolie zu Wilsons Theater bilden, das sich - auch postmodern - jedoch nicht allegorisch artikuliert, sondern jenseits von Sprache zu Kunst verhelfen will. Insofern beginnt die Untersuchung dem Begriff der Definition gemäß: Sie kommt von den Grenzen, schließt aus, was nicht zum Untersuchungsgegenstand gehört - und verweist damit auch ex negativo auf seinen Wirkbereich. Ästhetische Postmoderne, der Postmodernismus, so kann aber in erster Näherung an den verschiedene Artikulationsformen umfassenden Begriff gesagt werden, ist eine Kunst der nicht-lauteren, der maskierten, wenn nicht verschwundenen Sprache.l Das Beispiel für das allegorische Verfahren liefert der Co-Autor von The Forest, David Byrne, der auch die Musik zu den knee plays der CIVIL warS von Robert Wilson komponiert hat. Byrne war Chef der Talking Heads, einer 1

Diskutiert wird dieses Merkmal posönodemer Kunstproduktion, das mit Fredric Jameson auch als das "Sprechen in einer toten Sprache" bestimmt werden kann, im Kapitel 'IV. Kunst und Aura'.

Rock-Gruppe der siebziger und achtziger Jahre. In einem ihrer Songs, dem Stück Heaven, gelang den Talking Heads eine melancholische Zustandsbeschreibung des Paradieses, in der der 'Himmel1 als eine Bar der ewigen Tristesse vorgestellt wird. Danach ist die Unabänderlichkeit der himmlischen Zeitlosigkeit nämlich nur dazu angetan, den ennui der Erlösten zu fördern. Zwar - so heißt es in 'Heaven1 - begehre jeder Einlaß in die Bar called Heaven, doch bei genauerer Überlegung müsse sich herausstellen, daß dies schließlich der Ort sei, an dem nichts, wirklich nichts mehr geschehe: The place where nothing ever happens. Darum lautet die reformulierte 'Letzte Frage', wie denn die Unendlichkeit überhaupt ertragen werden könne, wenn dieser Geschehensstillstand zwar vom favourite song durch die Band in Heaven untermalt werde, aber auch nur von diesem und das auf immer. Folglich erweise sich das, was auf Erden als die nicht steigerbare Glückseligkeit der himmlischen Erlösung gehandelt werde, letztlich als dröge Party, die zudem - weil per definitionem ewig - niemals mehr ihr Ende finde. "It's hard to imagine", meldet sich da der Zweifel, "that nothing at all should be so exciting, should be so much fun."2 Der Spott, den der Song durch die Vorstellung vermittelt, daß am Ende aller Zeiten eine 'Himmelskapelle' nach Hitparadenmuster zur Ewigkeit aufspielen werde, kann sich - noch vor Nietzsche - auf die Vorleistungen eines prinzipiell Mythen zersetzenden Denkens berufen, das nicht glauben will, sondern wissen. Bezeichnet man dieses Denken generell als 'Aufklärung1 und Aufklärung wiederum als das Generalprojekt der Moderne, dann kann gezeigt werden, daß die Talking Heads mit ihrem Song eine Position beziehen, die postmodern genannt werden muß. Sie erkennt am Ende des letzten Programmpunktes der Moderne, der radikalen Kritik der Aufklärung an sich selbst, nicht den endgültigen Triumph des Wissens über den Aberglauben, sondern lediglich das Abgleiten der Vernunft in die Banalität eines nur noch kalkulatorischen Interesses an der denaturierten Welt Diese Postmoderne erleidet gewissermaßen ihr modernes Erbe: das Funktionieren von Vernunft. Doch nicht nur das. In dieser, wie in anderen postmodernen Äußerungen steckt zudem der Hinweis darauf, daß die nachmoderne Rationalismus-Kritik weiß, daß sie selbst sich auf dem Boden befindet, den sie als trügerischen entlarvt. Diese These soll nun am Beispiel des Songs der Talking Heads erhärtet werden. Für die Untersuchung relevant ist daran die - unten nachgezeichnete - Skizze einer Selbstortung von Kunstbeteiligten im postmodemen Kunstbetrieb. "Aufklärung ist totalitär",3 hatten Horkheimer/Adorno geschrieben. Sie dulde stets nur die Ordnung stiftende Tat eines Subjektes, das sich Natur wie 2 3

David Byrne / Talking Heads: Heaven. Auf: Fear of Music. Sire-Records, . . 1979. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt (1969) 1984. S. 10.

Götterhimmel mit vernünftigen Erklärungen Untertan mache - um immer nur sich selbst darin wiederzufinden und zu erkennen. "Die Antworten des Ödipus auf das Rätsel der Sphinx: 'Es ist der Mensch' wird als stereotype Auskunft der Aufklärung unterschiedslos wiederholt, gleichgültig ob dieser ein Stück objektiven Sinnes, die Umrisse einer Ordnung, die Angst vor bösen Mächten oder die Hoffnung auf Erlösung vor Augen steht. Als Sein und Geschehen wird von der Aufklärung vorweg nur anerkannt, was durch Einheit sich fassen läßt."4 Sucht man den waltenden Anthropomorphismus der menschlichen Rationalität, die ihre Statur und Welt im Reflex gewinnt, auch in den 'accidiosi' dieses von den Talking Heads angenommenen Himmelstresens, so wird offenbar, daß dessen wahrhaft erdverbundene Stammgastschaft ihr Reflexions-Arsenal nicht mehr aus heiliger Vernunft, sondern aus nur noch ärgerlichem Kalkül zu beziehen in der Lage ist. 'Fun1 und 'Excitement', das also, was die 'Barbesucher' dem Himmel als nicht erbrachte Leistung ankreiden, bilden im genannten Lied die Maßgaben für die Bewertung des Paradieses. In ihnen erkennt man die emotiven Reduktionsformen für die ewige Freude, als die Erlösung erlebt werden soll: überhaupt nichts ('nothing at all') soll damit zu vergleichen sein. Tatsächlich sind 'Fun' und 'Excitement' jedoch Kategorien für einen von der Werbung als geglückt gepriesenen Zeitvertreib. Stellen sie sich ein, gilt ein Erlebnis als der Banalität enthoben. Sie sind Gegenleistung für den Eintrittspreis, den man für die punktuelle Flucht vor dem Einerlei zu entrichten hat und stehen damit als Bringschuld in einer Kosten-Nutzen-Rechnung, die der vollends aufgeklärte Konsument als primäre Lebensaufgabe aufzustellen gelernt hat. Ärgerlich erweist sich dieses Kalkül hier nun deshalb, weil sich mit ihm ein 'Wille zur Genußbilanz' nur gegen denjenigen kehrt, der ihn aufbringt. Die Ewigkeit kann nach den Regeln eben dieser Vernunft kein Erlebnis sein. Zeitvertreib im Hort der Zeitlosigkeit ist eine contradictio in adjecto. Und dem Einerlei der Unendlichkeit entkommt man nicht mit dem Hit der Himmelslieder. Wenn es stimmt, daß "die Entzauberung der Welt" durch Aufklärung am Ende lediglich eine "vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils"5 hervorgebracht hat, dann ist mit ihrer postmodernen Überbietung nun der Sphärensprung erfolgt. Die 'Entzauberung des Himmels1 geüngt ihr allerdings nur um den Preis einer vollständigen Absorption jeglicher Aufklärung in die Bereiche des Konsums. Die Durchherrschung noch der Hoffnungsbereiche im Zeichen einer verabsolutierten Krämervernunft hinterläßt darum im Song nur Nighthawks Hopperscher Prägung, die je für sich Verlangen als auch fürderhin unstillbar erleben. Wenn aber, wie die Band um David Byrne konstatiert, eine instrumentalisierte Rationalität ihren Einsatz nurmehr zur Fällung von Kauf4 5

Ebd. Ebd. S. 7.

entscheidungen findet - und sich genau daran übersättigt -, dann kann sich im Fall der Talking Heads der kritische Blick nicht unbeteiligt auf die Verkehrung von Vernunft zur Einkaufsmentalität richten. Gerade wegen der Identität des Kritischen mit dem Kritisierten - die Talking Heads gehören auch zu den Bands, von denen die Fangemeinde favourite songs erwartet - durchbricht der Text die Ebene eines bloß beschreibenden Lamentos. Er ist involviert in das, was er beschreibt. Denn auch er verdankt das Recht reden zu dürfen nicht etwa der Richtigkeit seiner Aussagen, sondern eben jener marktkonformen Wohlgefälligkeit, die im Effekt für die Himmels-Bürde der unendlichen Langeweile verantwortlich gemacht wird. Er ist daher in dem Sinne doppelbödig, als unterhalb der Textschicht ein Wissen darum signalisiert wird, daß es nicht die Talking Heads, sondern die Gesetze eines anonymen Massenmediums sind, die die Töne vorgeben, nach denen hier gesungen wird. Hinter dem Bild des unendlichen Wartens auf ein niemals sich einstellendes Ereignis und mit dem Wissen um die leere Theatralität dieses mühseligen Momentes schimmert so noch etwas anderes durch. Es tauchen genau jene industriellen Fertigungsprozesse des Kunstbetriebes wieder auf, gegen die der Song als Negativ eines Sehn-suchtsimpulses vergeblich anrennt: Die unendliche Reproduzierbarkeit der Klangträger und die Ununterscheidbarkeit der favourite songs des Massengeschmacks stehen ein für die Situation der Vermarktung von Kunstprodukten in einem postavantgardistischen Ambiente. Die Bar called heaven ist das Zerrbild eines sehr irdischen Amüsierbetriebes für Pop-Kunst, in dem das Gegenwartsempfmden sein Jetzt wie einen unabänderlichen Rekurs des Identischen erfährt: Der favourite song wird abgelöst von den Wiederholungen seiner selbst. Es resultiert eine ereignislose Starre, in die sich das Muster der Selbstreferentialität eingebrannt hat. Dieser 'stehende Augenblick', ein nunc stans, vermittelt nicht Fülle und ermöglicht nicht Erfahrung. Er redupliziert sich lediglich in der Kür der Besten. Und das sind die, die sich auf dem Markt am besten behaupten. Somit steht dieser nunc stans lediglich ein für das Scheitern eines Experiments, das mit Form und Aussage gegen die interne Logik des Systems Kunst soetwas wie authentisches Erleben möglich machen wollte: nothing ever happens. Nur die Erinnerung an ein stilles Nichts nach der niemals abreißenden Kette der Chartbreaker, der Hitparadenstürmer, bleibt bei den Talking Heads daher letztes Rückzugsfeld gegen den Ausverkauf existentieller Sehnsüchte. Dieser Gestus, mit dem die Songautoren sich mit ihrem Text zugleich identifizieren wie davon distanzieren, hat in Aussageform überführt einen kunsthistorisch geläufigen Namen: Allegorie. Sigrid Berka ist in ihrer Arbeit über Mythos-Theorie und Allegorie bei Botho Strauß unter anderem jener Schreibweise nachgegangen, I;bei der der

Autor seinen Text als Fremdheit und Verlust erfährt."6 Gestützt auf eine These Foucaults, nach der der Philosoph sich einzugestehen habe, "daß es neben ihm eine Sprache gibt, die spricht und deren Herr er nicht ist, [...] daß sich an der Stelle des sprechenden Subjekts [...] eine Leere auf getan hat, in der sich eine Vielzahl von sprechenden Subjekten verbindet und auflöst, kombiniert und ausschließt",7 markiert sie für Strauß ein rhetorisches Mittel, das dieses Wissen um die Vergeblichkeit einer Suche nach authentischer Sprache, ein Wissen um "den Vorgang des Zitatzwangs am vollendetsten vollzieht: die Allegorie."8 Berka erkennt als Strukturales Merkmal der Allegorie, daß sie "auf einen Text verweist, mit dem sie nur noch formal, nicht mehr inhaltlich übereinstimmt."9 Insofern bedeutet Allegorisierung einen richtungslosen Verweis. Allegorische Texte stellen einen Zeichenbezug her, in dem der Referent nur noch als vorgängig, als nicht mehr repräsentierbar bedeutet werden kann. Diese poststrukturalistische Lesart der Allegorie vermag zwei Wesensmomente zu fixieren. Einerseits beschreibt die Allegorie danach einen Zirkel der Selbstbezüglichkeit, auf den ihn das "Gesetz der Nicht-Übereinstimmung, der Differenzialität"10 zwingt. Andererseits 'weiß' die Allegorisierung um ihre Verlustseite: ein Wissen, das sich sprechend die Sprachenthebung vorhält; ein Wissen darum, daß lediglich Schemen produziert werden können, die an die Erinnerung appellieren, sich das Verlorengegangene ins Gedächtnis zurückzuholen. "Lebeloses Leben"11 ist darum eine pointierte Charakterisierung für die Bewußtseinsprodukte eines postmodemen Metonymiezwangs, dem doch jeglicher Ausdruck, jeder angeschlagene (hohe, heilige) Ton nur zum Aufweis seines fundamentalen Verlustes und darum seiner Unerheblichkeit gerinnt Dies zu wissen und zum Gestaltungsprinzip für die Form zu erheben, läßt - nach der Einsicht in die Uneigentlichkeit des Sprechens - darum allenfalls noch Raffinesse und Ironie als letzte Banner der Souveränität des Autors über seinen Text zu. Die vorliegende Arbeit wird zeigen, daß Wilsons Theater sich nicht mit der von Byrne oder Strauß praktizierten Allegorisierung von Kunstaussagen und der darin gebotenen Prophetie der Leere zufrieden gibt. Der kunstvoll ummantelte Ausdruck eines Unbehagens an der Kulturindustrie, das gedrückt murrend, aber aufrecht in der Gesinnung, gegen den Strom ansingt, von dem es 6 7

8 9 10

11

Sigrid Berka: Mythos-Theorie und Allegorik bei Botho Strauß. Wien 1991. S. 97. Michel Foucault Vorrede zur Überschreitung. In: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt 1987. S. 37. Zit. nach: Berka, Ebd. S. 100. Berka, Ebd. Ebd. S. lOOf. Werner Hamacher: Unlesbarkeit. Einleitung zur Übersetzung aus dem Amerikanischen. In: Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt 1988, S. 11. Zit. nach: Berka, S. 101. Ebd. S. 105.

doch selbst getragen wird, ist nicht die einzige Form, in der Kunst der Postmoderne sich artikulieren kann. Soetwas wie Bedeutung mittels Kunst ist auch in der Gegenwart möglich. Die von Horkheimer/Adorno aufgerufene immer gleichlautende Lösung für das Rätsel der Sphinx kann nämlich jetzt auch Antwort geben auf die dem Kunstbetrieb gestellte, von Beckett übernommene Frage Foucaults: "'Wen kümmert's, wer spricht1?"12 Die einzig unhintergehbare Antwort auf diese Frage, daß es nämlich 'den Menschen' kümmert, wer spricht, vermag zur Basis für eine kunstvermittelte Kommunikation zu werden, die nicht zuletzt das Sprechen selbst, also die Kontur der Zeichen, zu ihrem Gegenstand macht. Die Gewißheit, daß eine wachgerüttelte Aufmerksamkeit über den offerierten Gegenstand hinaus immer auch sich selbst begreift, eröffnet der Kunst einen Weg, trotz Sprachohnmacht bedeutsam zu werden. Und diese Richtung hat die Theaterästhetik Wilsons ausdrücklich eingeschlagen. Ist das allegorische Sprechen der Postmoderne eine Kunstform, die sich selbst an die schweren Ketten der Unsagbarkeit gelegt sieht, eine Form, die allenfalls Bedeutungsrasseln hervorbringen will und kann, dann erweist sich, daß - wie im Fall der neueren Produktionen von Botho Strauß - der Zirkel der Selbstreferentialität, auf den sich diese Form gezwungen sieht, auch einer Spiralwindung mit Tendenz ins Hyperbolische und Hermetische gleichkommen kann. Zwar kann Allegorie in postmodernen Gefilden als "Mimesis an die Versteinerung des Materials zum Zitat",13 damit als adäquate Antwort der Form auf die Bedingungen des nach-avantgardistischen, durch Medien und Konsum vereinnahmten Kunstbetriebes durchgehen. Doch das allegorisch bemühte 'Lebelose Leben' vermag dem wirklichen zumeist keine Reverenz mehr zu erweisen. Noch die Reste von Sinn, Aussage und Bedeutung verflüchtigen sich in eben der Sprachohnmacht, an der die Allegorie doch so sehr leidet. Der sich steigernde Abstraktionsgrad dieser kühlen Künstlichkeit vermag demnach letztlich nur auf ein 'Sich-selber-Wissen' hinzuweisen. Das Theater Robert Wilsons - und das wird von vorliegender Arbeit zu zeigen sein - steht paradigmatisch für eine andere Ästhetik. Auch sie 'weiß' um das Unvermögen, die Stimme zu einem authentischen Sprechen erheben zu können. Während allerdings postmoderne Allegorie und Mythopoiesis bei aller Verlust- und Sollanzeige gleichwohl an der Hoheit des Kunstwerkes und des 12

13

Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Schriften zur Literatur. München 1974 S. 7, 11, 31. Foucault vermutet hinter dieser Frage eine nur 'gespielte' Nonchalance, die im heutigen Kunstbetrieb ihren Status als "eines der ethischen Grundprinzipien" (Ebd. S. 11) heutiger (literarischer) Kunstproduktion wohl nur verlöre und erst dann "gleichgültiges Geräusch" (Ebd. S. 31) würde, wenn das dahinter liegende diskursive Regelwerk völlig durchschaut wäre. Andreas Kilb: Die allegorische Phantasie. Zit. nach: Berka. A.a.O., S. 107.

ästhetisch vermittelten Zeichens festhalten, verdankt sich Wilsons Bühnenkunst demgegenüber einer Haltung, die bereit ist, Kunst nicht nur jenseits von Sprache, sondern gar jenseits des Kunstwerkes operieren zu lassen. Der historische Auflösungsprozeß des Werkes, dessen Ende die Kunst Wilsons bezeugt, beschreibt eine asymptotische Kurve in Richtung auf eine Kunst, die Wahrnehmung und Wissen vor dem Werk prominiert. Dieser Prozeß, der schließlich die Produktion von Aussage ganz dem kognitiven Agieren der Rezipienten überantwortet, wird hier (in den Kapiteln IV l, IV 2, IV 3) als dreistufiges Modell auf dem 'hunt for the spirit1 (IV 4) vorgestellt. Diese Untersuchung begreift demnach Wilsons Produktionen als eine Form postmoderner Kunsterkundungen, die nach der Aufkündigung einer ausschließlich ans Werk gebundenen Kunstabsprache möglich wie nötig geworden sind. Sie faßt dessen Theater jedoch nicht als Aufweis dieses Auf- bzw. Ablöseprozesses auf. Eines Prozesses, den man - wie etwa für Heiner Müllers Theater -, am treffendsten mit dem poststrukturalistischen Terminus der Dekonstruktion fassen könnte. Ins Zentrum dieses Theaters rückt vielmehr die Anleitung zu einer Rezeptionsarbeit, die das Kunstwerk bereits theoretisch durch die Erfahrung von Kunst substituiert hat14 Wilsons Ästhetik des StillReal-Life, die zu einer Rückverwandlung der Sicht der Dinge in eine Schau der Sachen verhelfen will, sind die Kapitel V 2ff gewidmet. Danach intendieren seine Bühnenereignisse ein Kunstereignis, das ebenfalls mit dem Begriff nunc stans belegt werden kann. Bezeichnet werden soll damit ein der Zeit enthobener Augenblick im Raum der Gegenwart, in dem Dinge zu Sachen zurück kartographiert werden können. Ein Rettungsversuch von Bedeutung über das Theater. Ein Versuch allerdings, der nicht eminente Konstrukte als Kommentare zu einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit erschaffen will. Die Kurzformel hierfür, die katalytisch als Arbeits- und Frage-Ursache wirkte, stammt von Phil Glass, der über die Bühnenkunst Wilsons sagt: "It's not a question of what [it] means[:] it's that it's meaningful."15 Damit opponiert diese Arbeit schon in ihrem Ansatz gegen die Behauptung, daß dieses Theater jegliche Offerte zur Kommunikation mit der Rezeption negiere. Theatre is communication, but Wilson's theatre is marked by refusals to communicate: no gesture of communicating with the audience: the intent to communicate is not signified: the performers do not by tone or gesture signify that they are performing for or addressing 14

15

8

Wild Dekonstruktion dariiberhinaus als kunstgeschaffene Möglichkeit begriffen, das freigesetzte, kontextbereinigte Material in seiner strukturellen Beschaffenheit erkennbar zu machen, eine Möglichkeit, die die Auflösung des Werks bereits verbucht hat, dann kann Wilsons Theater jedoch in der Hinsicht mit Dekonstruktion liiert werden, als es die in ihm gezeigten Dinge einer Dekonstruktion, die die Rezeption zu leisten hat, anheim stellt. Phil Glass Zit. nach: Laurence Shyer: Robert Wilson And His Collaborators. New York 1989, S. 218.

someone; the normal gestures of theatrical appeal [...] have been deleted from performancestyle and staging: [...] the oven claim to conformity to expectations is absent; neither the plays nor the players make out they are playing their part, no communication with the audience the information normally given is withheld: the structural elements normally conveying it (plot, continuity and coherence of action, characters, motivations) are absent; nothing makes sense; no communication between characters [...]; the figures do not relate; not only don't they hardly ever speak to one another, but most of the time they seem to be unaware of one another, move independently [...]; the characters don't say what they think, and express no feelings or emotions: the audience gets no psychological cues.16

Dagegen ist Michael Kirbys Argument zu erwidern, der den Kommmunikationsaspekt von Kunst im Sinne der Kommunikations-Maxime: 'Man kann nicht nicht kommunizieren' interpretiert hat: If an is believed to be communication, it will appear to be communication, even though the artist is not intending to create a symbol or a message. [...] We certainly cannot limit ourselves to the artists intent. Any work [...] becomes an open ended metaphor. The work is like anything on any level of consciousness with which we want to compare it. [...] If the comparison seems to be meaningful and important, it cannot be considered wrong or improper.17

Wilsons Theater, das hierzu eine Fülle heterogener 'lebensidentischer' Materialien bereitstellt, thematisiert in repetierenden Wendungen eine Universalraum gewordene Gegenwart, um sie der Erfahrung zugänglich zu machen. Es zeigt sie - etwa im Sinne einer explizierenden Demonstration - jedoch nicht. Es arrangiert vielmehr deren Bausteine und führt sie als Geheimnis vor. Robert Wilson beruft sich hierzu auf eine in der Kunsthistorie schon lange bekannte Ästhetik des enthüllenden Verbergens, das gerade im wiederholenden Aufweis vorhandener Dinge deren eigentliche Rätselhaftigkeit erkennbar werden läßt. Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche.18

Robert Wilson, der das bekannte Postulat Hugo von Hofmannsthals nahezu homolog für sein Theater wiederholt, will jedoch nicht eine Kunst eröffnen, die absichtsvoll mit vordergründigen Dingen spekuliert, sondern die der tatsächlichen Unbekanntheit dieser Dinge Raum für Spekulationen gibt: Das Geheimnis [liegt] an der Oberfläche - wir müssen im Theater zurückfinden zur Oberfläche.19 16

17 18

19

Stefan Brecht The Original Theatre of The City of New York. From the mid-60s to the mid-70s. Book 1. The Theatre of Visions: Robert WUson. New York/ Frankfurt/M. 1978 S. 211. Michael Kirby: Art of Time. Essays on the Avantgarde. N. . 1969 S. 47. Hugo von Hofmannsthal: Buch der Freunde. In: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd 15. Aufzeichnungen. Frankfurt 1959. S. 47. Robert Wilson in: Schauspiel Köln (Hg): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A tree is best measured when its down. Die Kölner Auffuhrung. Frankfurt 1984. S. 55.

An die Stelle einer Hermeneutik des Sinns tritt demnach, diese inkludierend, eine Hermeneutik der Sinne - ein Selbstverstehen als sinnliche Erfahrung. Für diese Rezeptionsaktivität wird hier Fredric Jamesons Begriff des cognitive mapping aufgegriffen (Kapitel IV 4). Die - leere - Form, in der sich dieser Postmodernismus artikuliert, kann maniriert genannt werden. Da Manierismus grundsätzlich als eine Kunsthaltung nicht als Stil - zu betrachten ist (siehe: Kapitel IV 4: Manierismus versus Design), soll die des postmodernen Manierismus' generell mit "Ironie" (Eco) charakterisiert werden: Ein Manierismus, der wissend in seine Kunstvergangenheit einwilligt, sein ironisches Spiel mit den Regeln der Kunst treibt und Kunstformen über Kunst macht - eine KunstKunst eben. Die spezifische Attitüde des Wilsonschen Manierismus' wird hier split panel genannt (Kapitel V 5). Jean-Franc.ois Lyotard hat für die Kunst eine Frage ausgemacht, um die, wie er sagt, die 'wichtigsten Werke' seit der Selbstthematisierung von Kunst durch die Avantgarde beständig kreisen. Mit ihr werde nicht nur auf das Arbeits- und Wirkungsfeld der Kunst hingewiesen, sondern auch nach der Ursache für Kunst überhaupt gefragt, ohne jedoch eine Antwort vorgeben zu wollen. Neben dem, was Kunst leistet, stehe - bis zum völligen Verschwinden des Inhalts - dem Werk daher auch eingeschrieben, daß es eine in ihren Gründen jeweils neu zu klärende Kunst ist, die seine Leistung vollbringt. Lyotard spricht von der 'philosophischen Seite' des Kunstwerks: Seit Duchamp ist [...] auffallend, daß es in gewisser Weise schwierig ist, Künstler zu sein, ohne zugleich auch Philosoph zu sein. Philosoph nun nicht in dem Sinne, daß man Platon oder Aristoteles gelesen haben muß, sondern insofern die Frage nach den Einsätzen zu stellen ist: was macht man eigentlich? Danach fragen die stärksten Werke von heute. Da spielt etwas äußerst Schweres hinein, das durchaus kern Gefallen ist, auch nicht einmal das mit Unlust gemischte Gefühl des Erhabenen, sondern eine Beziehung zu Zeit, Raum und Sensibilität [...] Es gibt Werke, die so angelegt sind, daß sie nicht selbst Ereignis sein wollen, sondern sie wollen dem, der dafür empfänglich ist, ihre Frage deutlich machen. Denn sie fragen [...]: 'Warum geschieht überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?'20

Diese Selbstthematisierung reicht - so ist leicht einzusehen - weit über die Gefilde der Kunst hinaus. Denn mit ihr werden zugleich auch die Gewißheit und die Gewißheiten desjenigen in Frage gestellt, an den Kunst sich wendet. Es ist eben die 'Beziehung zu Zeit, Raum und Sensibilität' aufgerufen, die nicht nur die Kunst verortet. Insofern sorgt der Reflex auf den Fragesteller dafür, daß "die Stellung des Menschen neu zu überdenken [ist]: in Bezug aufs Universum und auf sich selbst, [...] in Bezug auf seine Identität."21 Wenn es Kunst also 20

21

10

Jean-Francois Lyotard: Kunst heute? Gespräch mit Bernard Blistene. In: ders. et al.: Immaterialität und Postmodeme. Berlin (West) 1985. S. 63f. Ebd. S. 65.

gelingt, Felder aufzuweisen, auf denen die nackte Faktizität, das der empirischen Sicht Gegebene auf seine ursächlichen Abkünfte hin befragt werden kann, so hat sie damit nicht nur das Problem der Rolle und Situation der Kunst in post-avantgardistischen Zeiten und das Problem der Eigenlokalisierung der Rezeption aufgeworfen, sondern vor allem das Problem der Bedeutungsgeneration. Denn noch bevor über einen Grund für die Kunst nachgedacht werden kann, ist sie selbst schon in ihrem Gegensatz zum Leben Thema der Reflexion geworden. Die Frage nach dem 'Was und Warum', die Kunst stellt, referiert demnach auch die Frage nach dem 'Was und Warum' der Erkenntnis von Kunst. Und diese Frage ist insbesondere an Wilsons Theater zu richten. Da seine Arbeiten die Grundregeln der Dramaturgie, des Figurenaufbaus und -führung sowie der Hierarchie der Verweisungsverhältnisse außer Kraft setzen und jegliche Sinnzuschreibung oder Erklärung ausdrücklich von sich weisen (Kapitel V 4), wird zuerst, noch vor der Analyse der Wilsonschen Ästhetik und der Diskussion um Postmoderne folgender Problemkomplex in einem sukzessiven Dreischritt untersucht werden müssen: wie entsteht und wo konstituiert sich Bedeutung und wie wissen wir, was wir wissen? Dazu werden die Begriffe 'Interesse', 'Information' und 'Diskurs' aus den Arbeiten Poppers, v. Weizsäckers und Foucault aufgegriffen (Kapitel II: Vorlauf zur Wahrnehmung), um ein erkenntnistheoretisches Phänomen zu eruieren, das das 'eingesetzte Augenlicht' genannt wird (Kapitel II3).

Aus dieser Klemme, seh' ich wohl, ist nicht zu kommen. Lessing, Nathan der Weise

Das Problem der 'Rückkopplung' Diese Arbeit steckt in einem unausweichlichen, unauflöslichen Dilemma. Denn für sie gilt, daß ihre Untersuchung der Postmoderne an mehreren Stellen methodischen Aporien nicht auszuweichen vermag, die durch ein bestimmtes Verfahren der Überblendung von Forschungsresultaten auf die eigenen Prämissen und in aller Deutlichkeit hervortreten: - im Postulat des Nicht-Verstehens des Theaters Robert Wilsons schimmert das eben auf diese Weise Verstandene; - das entdeckt Kontingente erscheint in einer ordentlichen Ästhetik; 11

-

der Decouvrierung eines ubiquitären, indes kaschierten Diskurses der Macht folgt die Ahnung, daß gerade die Lüftung des Geheimnisses der Macht diese sich selbst verzehren lassen muß; - die Entdeckung der Fläche und des Raumes, die Linie und Zeit abgelöst haben sollen, wird formuliert mit der Konsequenz, ein Epochencharakteristikum in schönster Fortsetzung der epochenkategorialen Einteilungen des Zeitstrangs geortet zu haben; - die Rede vom Ende des Kunstwerks nimmt ihren Ausgang doch gerade von den 'Kunstwerken* des Robert Wilson. Postmoderne wird so erörtert und auch wieder dementiert. Auch wenn sie Transformationen im Zeitengefüge festzustellen gedenkt, fühlt diese Arbeit damit stets noch die gummibandartigen Rückhaltekräfte aus den angeblich vergangenen Zeiten, die sie methodisch immer wieder in eine alte Ordnung zwingen. Sie entkommt nicht ihrem Ursprung. Die folgenden Passagen sollen diese Problematik und das Verfahren, das sie aufzuzeigen vermag, veranschaulichen. Gernot Böhme hat zusammen mit seinem Bruder ein Buch verfaßt, das in höchst wissenschaftlicher Manier das 'Andere der Vernunft' - so sein Titel aufzeigen und (wieder) ins Recht setzen will. Die Böhmes weisen darin ab dem späten Mittelalter einen historischen Prozeß der steten 'Entleiblichung' auf, den sie in der Hypostase seines modernen Endstadiums für das letztliche Scheitern der Naturbeherrschung durch den Menschen verantwortlich machen. Schuld daran trage eine verabsolutierte Vernunft. 'Entleiblichung' steht hier als Begriff für die prototypische Erscheinung einer Entfremdung des Menschen auch von seiner eigenen Natur. Die moderne Beziehung zur Natur ist durch Trennung von der Natur konstituiert. Diese Trennung, die Auflösung des unmittelbaren Zusammenhangs mit der Natur, macht die Herrschaft über die Natur möglich und ist zugleich Ursprung ihrer empfindsamen Entdeckung. Die Natur ist das Fremde, das 'Andere der Vernunft'.22 Daß Vernunft nun wiederum Produkt dieses Spaltungsprozesses sein soll, daß ihr - und sei es nur zum Zweck der Kontrastierung - immer jenes 'Andere' weiter anhängt, von dem sie sich aus eigener Kraft absolutiert glaubt, darf als Coup dieser radikalen Vernunftkritik verstanden werden. "Man hätte", so heißt es apodiktisch, "von Freud oder auch von Nietzsche lernen sollen, daß Vernunft ohne ihr Anderes nicht ist und daß sie - funktional gesehen - durch dieses Andere nötig wird."23 Diese Vernunft trägt im historischen Prozeß allerdings immer schwerer an den wachsenden Wundmalen, die sie selbst sich im narziß22 23

12

Gemot Böhme: Das Andere der Vernunft. Frankfurt 1983. S. 32. Ebd. S. 18.

tischen Akt ihrer Entwurzelung von der Natur beigebracht hat. Darum sei dieses Andere - so der überdeutliche Appell - als authentischer Grund, als Erinnerung an "das verlorene Kindschaftsverhältnis zur Natur"24 zu fixieren, es sei endlich aus der denunzierten Appendix-Situierung im Schatten der Vernunft zu befreien und schließlich als das ursprungsmächtige Gegengewicht der Spontaneität zu Herrschaft, Zwang und Unfreiheit zu inaugurieren. Paradoxerweise sind es demgegenüber gerade aber diese vemunft-geleitete Reflexion auf dem eigenen Leib und die rational umsichtige Suche nach Resten archaisch vitaler Kräfte, auf die die Revision der Subjektivität stoßen will, die zur generellen Verlustanzeige führen müssen. Im Augenblick seiner Entdeckung verflüchtigt sich nämlich der Leib zum bloßen Epiphänomen des weiterhin machtvollen Monologs der Vernunft. Damit ist das generelle Problem angedeutet, um das es hier - wie auch für diese Arbeit - eigentlich gehen soll: es taucht häufig auf und wird - nicht nur im Fall Böhme, sondern ebenfalls für zahlreiche andere Theorien - zum Fallstrick dann, wenn man die Prämissen, Aussagen, Hypothesen einer Theorie in einem Akt der Selbstspiegelung jeweils wiederum auf diese selbst anwendet. Dieses Verfahren könnte man das einer theoretischen Rückkopplung nennen. Jürgen Habermas ist es, der in seiner Auseinandersetzung mit dem Theorem des 'Anderen der Vernunft' u.a. auf diese Weise vorgeht und über die resultierenden Aporien seinen Spott ausgegossen hat: Die Autoren führen die "Kosten der Vernunft' psychohistorisch vor Augen. Sie unternehmen diese Kosten-Nutzen-Rechnung unbefangen mit psychoanalytischen Argumenten und belegen sie mit historischen Daten, ohne freilich den Ort angeben zu können, an dem solche Argumente und Daten noch Gewicht beanspruchen dürften - wenn denn die These, um die es geht, stimmen sollte.25 Denn, so lautet sein korrektes Gegen-Argument: "Konsequenterweise müßte ihre eigene Untersuchung im Anderen der Vernunft einen der Vernunft schlechthin heterogenen Posten beziehen. Aber was zählen noch Konsequenzen an einem Ort, welcher der vernünftigen Rede a priori unzugänglich ist?"26 Habermas spielt einen Konflikt aus zwischen der der Glaubwürdigkeit verbundenen Konsequenz, die Böhme verpflichtet, die 'Lehre' aus eigenen Forschungsarbeiten zu 'ziehen1 und ihn daher eigentlich verpflichtet, sich "an einen Ort begeben [zu] müssen", der "von keinem Funken Vernunft mehr erhellt wird",27 und seiner generellen argumentativen Artikulationsverpflichtung, an 24

25 26

27

Ebd. S. 23. Jürgen Habennas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Voiiesungen. Frankfurt 1985. S. 352. Ebd. S. 353. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 356. 13

die sich Böhme offensichtlich als Wissenschaftler weiterhin gebunden fühlt. Darum kann es nun mit der als radikal vorgestellten Differenz, mit dem Kulminationspunkt des Entfremdungsprozeses in der Gegenwart so weit nicht her sein, da der Vernunft-Widerpart sich so geschmeidig den eingeschliffenen Artikulationsmustern eben jener Naturbeherrschung einfügt, die angeprangert werden soll. Also können Argumentationsverfahren und Resultate dieser Forschung in nuce als weiterer Beitrag zu - wie Habermas vorschwebt - genau jenem Einheitsdiskurs der Vernunft und dem sich historisch vollendenden Projekt der Moderne zugeschlagen werden.28 Habermas ist so der Doppelschlag gelungen, unbequeme Theorie gleichzeitig in und außerhalb seiner Moderne-Erörterung zu situieren, sie also für seinen Diskurs der Moderne drinnen und draußen zu halten. Generalisierend ist zu sagen, daß die Denkfigur des Entwachsens aus einer zur Kontrastfolie werdenden Ursprungsfeststellung ihre Kraft jeweils aus einem Spaltungsprozeß erhält, der noch im Moment höchster Abkehr seines Widerparts bedarf. Man ist aufgefordert, danach mindestens zwei Stränge zu denken: einen der vorgeblichen Korrektur oder Erweiterung, des wahren Ursprungs oder der brennend notwendigen Ziele und einen des Überwundenen, Falschen, Verwerflichen, historisch Obsoleten und Irregeleiteten, den der erstgenannte überwindet. Das 'Andere der Vernunft' im Beispiel trägt sogar beide Stränge im Namen. Die Strategie der Rückkopplung nun negiert diese Zweisträngigkeit. Sie reduziert auf losgelöste Resultate, die sie wie absolute Fakten behandelt und die sie mit der Spiegelung auf die generierende Theorie erneut in Anschlag bringt. Und so stolpern diese Theorien über ihre zu Fallstricken gewordenen, generalisierten Teil-Ergebnisse eigenen Arbeitens. Teil-Ergebnisse darum, weil der Zugewinn solcher Theorien nicht ausschließlich im gewonnenen Endergebnis, sondern schon in ihrer Differenzierungs- und Diskriminierungsleistung eben jenes zu diskutierenden status quo besteht. Diesen Erkenntnis-Aspekt unterschlägt das Rückkopplungsverfahren jedoch, ja muß es unterschlagen, wenn es nicht tautologisch die Forschungsresultate wiederholen oder andernfalls wieder auf die Ursprungsfragestellung zurückgeschleudert werden möchte. Während also diese Untersuchungen je Spiralwindungen um ihre jeweiligen Fragestellungen durchlaufen, leistet die Rückkopplung lediglich einen kognitiven Kurzschluß, der das gewundene Fortschreiten auf eine Kreisbahn zwingt. Die Rückkopplung tut also so, als habe es nie die 'Leiter der Erkenntnis' (Wittgenstein) gegeben, die ja - sogar im Bild 28

14

Es diskurspolitische Schlitzohrigkeit, daß Habermas die Ergebnisse der Böhmes in seinem Kontext der Moderne-Aufarbeitung diskutiert, bzw. sie zwischen Buchdeckel zwingt, die den Titel: 'Der philosophische Diskurs der Moderne' tragen. Noch das Aufbegehren wird damit als Bestandteil dessen ausgewiesen, wogegen aufbegehrt wird.

Ursprungsgrund und Zielort aneinander bindet und bei Erreichen des Zielortes zurückzulassen, zu verwerfen ist, wie Wittgenstein in Satz 6.54 deklariert: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)29 Und darum gilt: Was immer von den Vertretern des 'Anderen1 an 'ungeheuren1 Äußerungen erwartet wird, es werden stets 'vernünftige' Aussagen sein, über die sich reden und streiten läßt. Auch die 'Postmodernen1 fallen nicht aus der Zeit, sind Teil auch jener Geschichte, die die Moderne birgt. Die 'Unvernunft' der Aufklärungsgegner wird sich mit Gewißheit nicht im Aussagemodus artikulieren, der auch weiterhin - und eben nicht kontraproduktiv zu eigenen Resultaten - den Gesetzen diskursiver Logik folgt. Darauf hat auch Umberto Eco hingewiesen: Vernunft meint, daß der Mensch fähig ist, Abstraktionen zu produzieren und mittels Abstraktionen zu kommunizieren. Diese Auffassung scheint mir nicht in der Krise zu stecken. [...] Von der Krise der Vernunft sprechen heißt ja wohl, eine Abstraktion zu formulieren und sich seiner rationalen Fähigkeiten bedienen, um die Wirklichkeit einer bestimmten An der Aktualisierung dieser Fähigkeiten zu bezweifeln.30

29 30

Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. FrankfurtC11963) 1984. S. 115. Umberto Eco: Über die Krise der Vernunft. In: Merkur. Nr. 436.1985 S. 530-535. Hier: S. 531. 15

II. Vorlauf zur Wahrnehmung

Ich kehre von jeder schweifenden Betrachtung zurück und sehe die Felsen selbst an, deren Gegenwart meine Seele erhebt und sicher macht. Ich sehe ihre Masse von verworrenen Rissen durchschnitten, hier gerade, dort gelehnt in die Höhe stehen, bald scharf übereinander gebaut, bald in unförmlichen Klumpen wie übereinander geworfen, und fast möchte ich bei dem ersten Anblicke ausrufen: hier ist nichts in seiner ersten alten Lage, hier ist alles Trümmer, Unordnung und Zerstörung ... Goethe, Über den Granit

l. Der vorgefaßte selektive Standpunkt Der Begriff Vorgefaßter selektiver Standpunkt' stammt von Karl R. Popper. Popper hat diesen vor- und quasi-theoretischen Standpunkt als Fragehintergrund jeder Geistes- und Sozialwissenschaft ausgemacht und fordert nun dessen bewußte Einnahme vor jeder Untersuchung. Popper räumt dem Theoretiker für die Theorie-Erstellung und -Exekution die Position eines Demiurgen innerhalb der (Wissenschafts-)Welt ein: Theorien stehen für ihn nicht am Ende einer Beobachtung, sondern an deren Anfang; sie ermöglichen erst, Probleme zu erkennen und das Chaos erdenklicher Informationen mit Hilfe der "Vorab-Theorie1 (Popper) zu ordnen. In seinen berühmten Betrachtungen 'Das Elend des Historizismus1 beweist Karl R. Popper u.a. die Unmöglichkeit einer wissenschaftlich fundierten Prognose in den historischen Wissenschaften. Seine Argumentation ruht im wesentlichen auf dem unwiderlegbaren Satz, daß der Ablauf der menschlichen Geschichte deshalb nicht prognostizierbar ist, da das Wissen nicht prognostizierbar ist, das zu seiner Konstitution gehört.1 Im Rahmen dieser Erörterungen, die im Wesentüchen gegen die vermeinte Weltenlauf-Prognose der gerade auf Sozial-Empirie basierenden Sozial- und Geschichtswissenschaften marxistischer Prägung gerichtet sind, entwickelt Popper auch sein Modell der Differenzierung der Wissenschaften.2 Er widerlegt dabei schlüssig die Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher Arbeits- und Experimentierweisen auf die Geistes-, 1

2

16

Vgl. hierzu: das Vorwort zur englischen Ausgabe vom Juli 1957. In: Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus. Tübingen 1979, S. XIff, bes. S. Xlf. Wissenschaft ist demnach Theorie-Erstellung, -Prüfung und gegebenenfalls Theorie-Falsifikation: Theorien in den Exakt-Wissenschaften (Popper) operieren mit Generalia: in ihnen wird versucht, die Tragfähigkeit einer als Faktum gesetzten Theorie - Gesetze sind 'harte Theorien' - mit dem Experiment am Einzelfall und damit sie selbst zu falsifizieren; vermeintlich 'überzeitliche' Theorien fungieren in den 'interpretierenden' Wissenschaften als Verstehenshorizont und -muster für singuläre historische Ereignisse und als Grundlage für die Erstellung von Trends und Tendenzen.

Wirtschafts- und Sozial-Wissenschaften. Zur Argumentationsbasis wird das Fehlen gesetzesadäquater Gewißheiten in den historischen Wissenschaften. In den theoretischen Wissenschaften wirken die Gesetze unter anderem als Interessezentren, auf die Beobachtungen bezogen werden, als Standpunkte, von denen aus Beobachtungen gemacht werden. In der Geschichtswissenschaft können die allgemeinen Gesetze, die zumeist trivial sind, diese Funktion unter keinen Umständen erfüllen. Sie muß von etwas anderem übernommen werden.3

Poppers apodiktische Widerlegung des Glaubens an induktive Verallgemeinerungen, wie auch die Dementierung der Annahme synthetischer Urteile apriori (Kant) - also der Thesen, die Erkenntnis einmal bei passiver Beobachtung beginnen läßt und zum anderen der, daß Prämissen der Beurteilung klar und distinkt als Ergebnis reiner Vemunfttätigkeit sein könnten - gibt der im und mit dem Beobachter wirkenden Hypothese die Funktion eines Erkenntnis-Rasters. Popper erklärt sie zum Leitstern der Beobachtung. In keinem Stadium der wissenschaftlichen Entwicklung beginnen wir unsere Forschungsarbeit, ohne daß wir so etwas wie eine Theorie haben, etwa eine Hypothese oder ein Vorurteil [...], das auf irgendeine Weise unsere Beobachtungen leitet und uns dabei hilft, unter den unzähligen Objekten der Beobachtung die auszuwählen, die von Interesse sein können. [...] Und in den historischen, Geistes- und Sozialwissenschaften zeigt sich sogar noch klarer als in den Naturwissenschaften, daß wir unsere Gegenstände nicht sehen und beobachten können, bevor wir über sie nachgedacht haben. Denn die meisten Gegenstände, wenn nicht überhaupt alle, sind abstrakte Gegenstände, theoretische Konstruktionen. [...] Diese Gegenstände, diese der Interpretation unserer Erfahrung dienenden Konstruktionen, ergeben sich aus der Konstruktion bestimmter Modelle, die bestimmte Erfahrungen erklären sollen.4

Da Popper prinzipiell keinen Unterschied im Gebrauch von 'Vorwissen' in der Arbeitsweise von theoretischen Natur- und historischen Wissenschaften sieht, fordert er für die historischen, Sozial- und Geistes-Wissenschaften "die bewußte Einführung eines vorgefaßten selektiven Standpunktes",5 der als "Brennpunkt des historischen Interesses"6 fungiert. Wir schreiben die Geschichte, die uns interessiert. [...] Solche selektiven Standpunkte erfüllen in der Geschichtswissenschaft Funktionen, die denen der Theorien in der theoretischen Wissenschaft analog sind. [...] in der Regel lassen sich solche historischen 'Standpunkte' oder 'Einstellungen' nicht prüfen. Sie können nicht widerlegt werden, und scheinbare Bestätigungen sind daher wertlos, selbst wenn sie so zahlreich sind wie die Sterne am Himmel.7 3 4 5 6 7

Ebd. S. 117. Ebd. S. 106. Ebd. S. 117. Ebd. S. 118. Ebd. S. 117f.

17

Rudolf Lüthe hat den Begriff des vorgefaßten selektiven Standpunktes eingehend analysiert und folgende Definition vorgeschlagen: Selektiv ist dieser Standpunkt insofern, als er zum Auswahlprinzip wird, sich aus ihm die Auswahlkriterien ergeben. Vorgefaßt ist er, weil er seinerseits unter Vermeidung logischer Zirkel aus der historischen Forschung nicht zu begründen ist, er also aus 'vorwissenschaftlichen', nämlich pragmatischen Gründen 'eingenommen' wird. Ein Standpunkt schließlich ist er insofern, als er keine prüfbare Hypothese darstellt. Er ist auch nicht Resultat, sondern vielmehr Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung und entstammt einer praktisch-moralischen oder weltanschaulich-anthropologischen Grundhaltung des jeweiligen Historikers.8

Es empfiehlt sich, Poppers Diktum der 'Geschichte, die uns interessiert' wörtlich zu lesen. Mit dem Begriff des Interesses, des Dazwischen-Seins, hat Popper nämlich für seine Erörterungen einen terminus technicus eingeführt, der das Erkenntnis- und Weltdeutungsproblem auf den Punkt bringt: Die Dinge, die untersucht werden können, befinden sich nicht in Opposition zu ihrem Beobachter und sie zeigen sich nicht an sich; sie erscheinen von (Theorie-)Fall zu (Theorie-)Fall für den, der sich theoretisch, d.h. wissend unter die zu erkennenden Objekte gemischt hat. Anders: Wissenschaft funktioniert, indem jeweils die geahnt-gewußte Antwort die zu stellende Frage bedingt. Die Theorie selbst ist damit nicht Derivat aus Welterkenntnis, sondern deren Bedingung und als solche immer schon Besitz eines inter-essierten Individuums.9 Popper selbst hat diese Tatsache unmißverständlich in einem Gespräch mit C. F. v. Weizsäcker formuliert. V. Weizsäcker referiert: Er [Popper] sagt: 'In der Tat behaupte ich, daß es soetwas nicht gibt wie Instruktion von außerhalb der Struktur oder passiven Empfang eines Informationsflusses, der sich den Sinnesorganen einprägt. Alle Beobachtungen sind theoriegeprägt. Es gibt keine reine, uninteressierte, theoriefreie Beobachtung. Eine neue Theorie funktioniert genau wie ein neues mächtiges Sinnesorgan.'10

Die hier verwandte Metapher des Sinnesorgans, das - im Wortsinn wahr-nimmt, impliziert die von ihm vorgenommene Selektion der Wahrnehmung: nur das wird als Stimulus erfaßt, was die Struktur des Reizes aufweist, zu dessen Aufnahme und Verarbeitung das Organ in der Lage ist. Vor der 8

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Rudolf Lüthe: Zur Rolle von Interpretation und Imagination bei der Bildung historischen Wissens. Überlegungen im Anschluß an Karl R. Poppers Historik. (Vortrag) Aus dem Skript des Verfassers. Aachen 1984, S. 6. Was in den Fällen geschieht, in denen die den Erfahrungen zugrunde liegende Theorie durch eine Anzahl solcher Anomalien herausgefordert wird und ein Theorie-Umsturz eintritt, ist Gegenstand der Diskussion von Thomas S. Kühn, der in seinen Ausführungen den Präjudiz-Aspekt stärker als Popper betont, in: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. (1962) Frankfurt 1973. Carl Friedrich von Weizsäcker: Aufbau der Physik. München 1988. S. 209.

Wahrnehmung liegt die Potenz zu spezifischer Reizverarbeitung. Theorien sind als Sinnesorgane mithin auch Reizfilter. Nur so gelingt ihre Ordnungsfunktion. Das Organ - nicht der Reiz - ist also der Schlüssel zum Schloß der Erkenntnis.11 Ralf Dahrendorf hat sich hierzu geäußert: Karl Popper zerschmetterte den Anspruch auf ewig gültige Wahrheiten [...]. [Er] lehrte uns, mit der Ungewißheit zu leben und mit abgestuftem Wandel vorlieb zu nehmen.12

Mit Poppers Eintreten für eine nicht beobachterneutrale Erkenntnis ist nicht nur die Unumgänglichkeit einer Artikulation dieses gesetzten selektiven Standpunktes auch für diese Arbeit bedeutet, sondern zugleich ein erstes Positionslicht auf ihrer diskursiven Route zur Beantwortung der Frage nach der Bedeutungsgenese gesetzt. Es wird in Folge nicht darum gehen, die Aufweichung der scharfen Opposition von Subjekt und Objekt hin zu einer ausschließlichen Subjektpräsenz etwa im Sinne des zum Solipsismus tendierenden, philosophischen Konstruktivismus voranzutreiben. Programm soll sein, einmal den interessegeleiteten Dialog von Subjekt und Objekt als dialektischen Komplex der In-Formation zu markieren und das 'Sinnesorgan' Theorie der Ausführungen Poppers damit infor-mationstheoretisch zu untermauern, zum anderen sollen danach die transsubjektiven Erkenntnis-Hintergründe, die präformulierten Wahrheiten in den je aktuellen Diskursformationen, von denen Popper (noch) nicht sprach, als wirkende Kräfte sowohl in Geschichte und Kunst ausgemacht und für die Moderne-Postmoderne-Diskussion fruchtbar gemacht werden. Der vorgefaßte selektive Standpunkt ist das statische Zentrum in der Architektur geisteswissenschaftlicher Arbeit. Ein Standpunkt ist jedoch nicht ein Standpunkt. Auch wenn dieser 'Punkt' die Kreuzungsorte vorschreibt, an denen sich Fragen mit Antworten treffen, so ist er doch selbst allein schon deshalb nicht zu beschreiben, da er zu seiner Konturierung wieder in Anschlag zu bringen wäre. Da zudem dieser Standpunkt als Symptom einer Haltung beschrieben wurde, wären im Vorfeld schon soviele ihn Faktoren aufzulisten, daß jede Untersuchung, die in dieser Hinsicht aufrichtig sein wollte, im Treibsand der Selbstanalyse stecken bleiben müßte. Als Kraft ist er kein Phänomen. Er wird erkennbar im Abstecken seines von ihm anerkannten Geltungsbereichs. Diese Rekapitulation war bereits basale Notwendigkeit des hier operierenden vorgefaßten selektiven Standpunktes. Sie reicht indes nicht aus, ihn zu profilieren. Die Arbeit beginnt erst

1

! Siehe hierzu auch das Kapitel: Das eingesetzte Augenlicht! Ralf Dahrendorf: Das sonderbare Ende des Sozialismus. Wie es kam, daß eine historische Bewegung in die Irre führte. In: Die Zeit. Nr. 32 v. 4. Aug. 1989, S. 3.

12

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2. Das 'Weltgespräch1. Die Dialektik der Information Poppers Reflexionen suggerieren noch, Deskriptionen von Seiten der Theorie mit Kompromiß-Appell für die Forschung zu sein. Es sieht aus, als ob es die Wahl gäbe, sich in der Fülle der Objektiven1 Möglichkeiten zu verirren oder sich das Bekenntnis zum eher 'subjektiven' Standpunkt abzuringen. Ein bloßes Erkenntnis-Lifting qua Selektion ist diese Meta-Theorie der Wissenschaft allerdings nicht. Zwar funktioniert Wissenschaft, weil, wie Popper eruiert hat, je selektive Standpunkte den Schatten ihrer Ordnungsmacht auf kontingente Materialberge zu werfen und das Gerüst des Erkennens13 zu errichten vermögen. Zu zeigen wird sein, daß sie nur so funktioniert. Wesentlich schärfer noch als Popper hat Carl Friedrich von Weizsäcker die vorgängige Verstrickung des Wissenden in sein Gewußtes gefaßt. Er hat dabei die unaufhebbare Doppelnatur der Erkenntnis herausgestellt, die nicht weltentfernt ihr Weltgewebe konstruiert, sondern selbst als Bestandteil des einen physischen Komplexes Welt zugleich auch immer schon darin eingesponnen ist. 13

20

In diesem Argumentationsmodell taucht eine Doppelperspektive auf, die dem hier untersuchten 'Standpunkt' die Zentral-Position innerhalb einer Struktur und zugleich die Von sich selbst' unbeeinflußt ordnende, exkludierende Position außerhalb der Struktur einräumt. (Festzumachen an dem hier so genannten 'statischen Zentrum der Architektur historischer Arbeit1 und eben auch am 'Gerüst des Erkennens'. Der hier vorgestellte Standpunkt rasten demnach sein Material von außen und bindet es gleichzeitig als Legitimationszentrum von innen. Hier ist eine 'Aporie' berührt, die Derrida als symptomatisch für die metaphysischen Implikationen strukturellen Denkens herauskristallisiert hat. Er weist jedem Strukturmodell eine Zentrale nach, die den Aufbau jeweiliger Strukturen von innen kontrolliert und zusammenhält, zudem aber zugleich von außen ihre Grenzen bestimmt und so vom "Spiel" in ihrem Inneren ausgeschlossen bleibt Derrida diskutiert diesen Komplex im Zusammenhang seiner Anfechtungen einer metaphysisch legitimierten "Strukluralität der Struktur". Seine Analyse gipfelt im Konzept der 'de-zentrierten Strukturen'. Wiedergegeben wird hier sein Abgrenzungsargument gegen den klassischen Strukturalismus: "Dieses Zentrum hatte nicht nur die Aufgabe, die Struktur zu organisieren - es läßt sich keine unorganisierte Struktur denken -, sondern sollte vor allem dafür Sorge tragen, daß das Organisiationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen können. Indem das Zentrum einer Struktur die Kohärenz des Systems orientiert und organisiert, erlaubt es das Spiel der Elemente im Inneren der Formtotalität. Eine Struktur, der jegliches Zentrum fehlt, stellt das Undenkbare selbst dar. Doch das Zentrum setzt auch dem Spiel, das es eröffnet und ermöglicht, eine Grenze. Als Zentrum ist es der Punkt, an dem die Substitution der Inhalte, der Elemente, der Tenne nicht mehr möglich ist. Im Zentrum ist die Permutation oder Transformation der Elemente [...] untersagt. Man hat daher gedacht, daß das seiner Definition nach einzige Zentrum in einer Struktur genau dasjenige ist, das der Strukturalität sich entzieht, weil es sie beherrscht. Daher läßt sich vom klassischen Gedanken der Struktur paradoxerweise sagen, daß das Zentrum sowohl innerhalb als auch außerhalb der Struktur liegt. Es liegt im Zentrum der Totalität, und dennoch hat die Totalität ihr Zentrum anderswo, weil es ihr nicht angehört." Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. (1967) Frankfurt 1989, S. 422f. [Hervorhebungen: Derrida] [Der oben zitierte Term 'Strukturalität der Struktur': Ebd. S. 422]

Weizsäcker argumentiert primär nicht als Wissenschaftstheoretiker, sondern als (naturwissenschaftlich geprägter) Ontologe. Während Popper den Erkenntnisgewinn der (historischen) Wissenschaften in der Arbeitsweise des Deduzierens von Kristallisationspunkten des Interesses nach Richtmaß der Plausibilität gewährleistet sieht, erarbeitet v. Weizsäcker Erkenntnis grundsätzlich als das sich wechselseitig bedingende Verhältnis von Subjekt und Objekt aus dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Zentraler Begriff hierbei ist 'Information1, welcher wiederum gekoppelt ist an den Begriff der 'Wahrscheinlichkeit'. Beide, 'Information' und "Wahrscheinlichkeit1, sind - bei konsequenter Überlegung der von Weizsäcker eruierten Verkettung von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand - logische Derivate der Entropie-Hypothese aus dem 2. Hauptsatz. Die 'Information1 entspricht in etwa dem 'Interesse', dem apriorischen 'Dazwischen-Sein', das nach Popper als 'Erkenntniskanal1 fungiert (zu 'den Sachen' und zum Beobachter) und das dieser als ursächliches movens für die Dynamik der Erkenntnis eingeführt hat. Tatsächlich leistet die Philosophie v. Weizsäckers die Ausfächerung dieses grundsätzlichen Gedankens. Sie kommt dabei nicht von der Theorie, also von dem erkennenden Subjekt, sondern - über die aktuelle Information von der Objektseite. V. Weizsäcker beginnt apodiktisch: "Objekte, Gegenstände, gibt es nur für Subjekte, denen sie entgegenstehen."14 Damit ist ein programmatischer Grundsatz formuliert: zum einen impliziert diese Aussage, daß nur das Objekt ist, was für ein Subjekt als 'Ent-gegenstand' erscheint. Hier berührt v. Weizsäcker die Theorie-Klausel Poppers direkt, nach der nur das als Weltbestand wahrgenommen werden kann und wird, was für eine Subjekt-Theorie vorab Gegenstand sein könnte. Zum anderen weist in dieser Aussage der entscheidende Begriff des 'Entgegenstehens' auf eine reale Subjekt-Opposition, auf ein wirkliches 'Anderes'. Um dessen Vermittelbarkeit für ein Subjekt zu klären, führt v. Weizsäcker eine philosophische Konstruktion ein, die man als 'Dialektik der Information' bezeichnen kann. Zuerst muß jedoch ein mögliches Mißverständnis ausgeräumt werden. Information ist hier etwas anderes als im alltäglichen Sprachgebrauch. "Information", so erklärt neben v. Weizsäcker auch der Theoretiker der Physik, Paul Young, "must not be confused with meaning."15 Einer der 'Väter1 der Informationstheorie, Warren Weaver, hat bereits in der Grundlagenschrift dieser Forschung auf die Umbesetzung des Begriffs aufmerksam gemacht: The concept of information developed by this theory at first seems disappointing and bizarre - disappointing because it has nothing to do with meaning, and bizarre because it 14 15

Carl Friedrich von Weizsäcker: Aufbau der Physik. A.a.O., S. 530. Paul Young: The Nature of Information. N.Y., Westport, London 1987. S. 7 [Künftig zitiert: 'Young: + Seitenangabe]. 21

deals not with a single message but rather with the statistical character of a whole ensemble of messages, bizarre also because in these statistical terms the words information and uncertainty find themselves to be partners.16

'Information' gehört so einmal in den pragmatischen Kommunikationszusammenhang, der das -Beziehung-Treten' eines Subjekts mit seinen Ent-gegenständen abdeckt: Welt ist das, was mittels des Prozesses, der Information ist, verarbeitet werden kann. Information (In-Formation) meint aber auch das Formiert-Sein' der Materie, d.h. die als Form vorliegenden Bausteine der Welt. V. Weizsäcker erläutert diesen zweiten Aspekt am Begriff 'Hyle1: Das Won Hyle, lateinisch Materie, meint ursprünglich Holz; als Terminus meint es den Stoff, der die Form annimmt, der 'informiert' wird.17

Information ist nicht selbst Gegenstand, im allgemeinen Sprachgebrauch gleichgesetzt mit Inhalt einer Botschaft oder Wissen allgemein. Information ist auch nicht Bedeutung einer Nachricht. Inhalt, Bedeutung und Wissen stehen auf der 'Empfängerseite1 - am Ende des Prozesses, der insgesamt Information18 ist. Dies ist keine Neu-Definition, sondern eine Re-Definition, die sich an der Etymologie des Begriffs 'Information' orientiert. Paul Young hat sie herausgearbeitet: The word information derives from the latin informare (in + formare), meaning to give form, shape, or character to, therefore to be the formative principle of, therefore to imbue with some specific character or quality. Various meanings have been attached to the word during the course of its evolution [...]: putting in proper form or order, arranging, or composing; the giving of form, formative principle, or determinative character to, therefore imbuing with a 'spirit'. The connection with knowledge came from the idea of giving form to the mind - to discipline, instruct, or teach was to form or shape the mind, therefore to furnish with knowledge.19

Erkenntnis besteht nun nach v. Weizsäcker darin, daß der Aggregatzustand je aktueller, Objektiver' In-Formation der Welt von einem verstehenden Subjekt aufgenommen und in einem kommunikativen, d.h. sich mit der Welt austauschenden Prozeß - der Information - aufgenommen und als Nachricht oder Gehalt gedeutet wird. Dialektisch ist der Prozeß deswegen, weil - einerseits Objekte tatsächlich Subjekte in-formieren, d.h. ein Wissen vermehren, Sicherheit stiften und Bedeutungen akzentuieren; allerdings for16

17 18

19

22

Warren Weaver, in: Claude E. Shannon, ders.: The Mathematical Theory of Communication. Chicago 1949. S. 27. Carl Friedrich von Weizsäcker: Aufbau der Physik. A.a.O., S. 569. Grundlegende Arbeiten hierzu sind einmal Claude E. Shannon, Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication. A.a.O. u. Norbert Wiener: Cybernetics: or Control and Communication in the Animal and the Machine. Cambridge, Ma. 1965. Diese Hinweise verdanke ich Young: Nol, S. 8. Young: Nol, S. 6.

men sie nur insofern, als eine In-Formation des Objektes nur dann Objektiv1 vorliegt, wenn sie für ein Subjekt Informationscharakter annehmen kann, d.h. nach den Kriterien seiner - des Subjekts - spezifischen Prä-Formation: des Inter-esses, der Kompetenz und des Wissens formulierbar oder wißbar ist. Das objektive Form-Haben ist somit identisch mit dem aktuellen FormErkennen der jeweiligen prä-formierten Beobachtungsinstanz. - Darum formen andererseits Subjekte Objekte: die Reziprozität des Prozesses zeigt sich darin, daß die Erkenntnis ihr Form-/(Vor-)/Verstehen über die Objekte stülpt, also Form dem Chaos von Kontingenzen soweit entreißt, wie sie nach oben erwähnten Kriterien dazu in der Lage ist Es ist damit auch gesagt, daß der (mathematische) Wert einer Information bei Wiederholung desselben Austauschprozesses gegen Null läuft. Darauf hat Niklas Luhmann aufmerksam gemacht: "Eine Information, die sinngemäß wiederholt wird, ist keine Information mehr. [...] Sie ändert den eigenen Systemzustand nicht mehr."20 Umberto Eco faßt den bisherigen Erörterungsstand: Indessen darf der Wert Information' nicht gleichgesetzt werden mit dem Begriff, der mir übermittelt wird. [...] Für die Informationstheorie zählt die Anzahl der Alternativen, die zur eindeutigen Beschreibung des Ereignisses erforderlich sind. Und es zählen die Alternativen, die sich [...] als mit-möglich zeigen. Die Information ist weniger das, was gesagt wird, als das, was gesagt werden kann. Ehe Information ist das Maß für die Wahlmöglichkeiten bei der Auswahl einer Botschaft. [...] Die Information stellt die Wahlfreiheit dar, die beim Aufbau einer Botschaft besteht und ist deshalb als statistische Eigenschaft der Botschaftsquelle zu betrachten. Sie ist [...] der Wert der Gleichwahrscheinlichkeit von vielen kombinierbaren Elementen, ein Wert, der umso größer ist, je mehr Wahlen möglich sind.21 Form ist Wissen, bzw. Wissen von Form. Nur das kann Form des Objektes sein, was als solche erkannt, d.h. hier: in-formiert ist/wird. Die Objekte werden damit kraft der Prä-Formationen und der Potenz zum spezifischen Formerkennen zu Formen erst gemacht, erfahren darin ihre In-Formation.22 Damit ist In20

21 22

Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt 1987. S. 102; entsprechend argumentiert auch Eco: "Doch ist klar, daß die empfangenen Information schon eine Reduktion, eine Verarmung jenes endlosen Reichtums an möglichen Wahlen darstellt, die an der Quelle existieren." Umberto Eco: Das Offene Kunstwerk. (1962, 1967) Frankfurt/M. 1977. S. 99. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. A.a.O., S. 98ff. Die Quanten-Physik geht in ihrer Ausdeutung dieses Prozesses sogar noch einen Schritt weiter. Während in dieser Untersuchung der Informationsprozeß wie ein kognitiver Prozeß gedacht wird, der die Objekte 'an sich' unberührt läßt: die Informationskategorie wird wie eine Kompetenzkategorie gehandhabt, versteht die Quanten-Physik nach Heisenberg den Beobachtungsprozeß als tatsächlichen Austausch von Beobachter und Beobachtetem. Young referiert die Thesen John Wheelers im Anschluß an Heisenbergs Unschärfe-Theorie: The physicist John Wheeler has "suggested that even the term Observer' is too objective, that we should think ourselves as participants whose actions actually determine the 23

formation des Subjektes keine passive Aufnahme, sondern selbst aktives Informieren der Materie. Bislang scheint die Dialektik der Information eine reichlich komplizierte Metapher für einfache Wahrnehmungsgegebenheiten zu sein. Die Informationstheorie allerdings will tatsächlich physikalische Verhältnisse, will Energie-Transformationen beschreiben und operiert nicht bloß in der Nomenklatur mit den theoretischen Grundlagen und dem Wissensstand der theoretischen Physik und der Thermodynamik. Da es dieser Theorie gelingt, die Dialektik der Information grundsätzlich als 'physikalische Formel1 sowohl für die dynamisch gedachte Relation von Subjekt und Objekt als auch für die Möglichkeitsbedingung des Wissens einzuführen, charakterisiert sie Information als erklärbaren Ablauf nach denjenigen Übereinkünften, die Naturgesetze genannt identity of material particles and processes during the course of our interaction with them. [...] According to Heisenberg, since interactions between observer and observed (or participants) [...] involve a disturbance to the observed system by the act of observation [...], quantum theory does not and cannot say that a microparticle actually possesses an objective identity, but only a potential that becomes actualized during the process of observation (participation)." [Young: Nol, S. 54f] George Gale hat an anderer Stelle Wheelers Thesen zur tatsächlichen Abhängigkeit des Zustands des Universums von seiner Beobachtung referiert: "Gewöhnlich betrachtet man in der Quantenmechanik nur das als Realität, was man beobachten kann. Das heißt, allein durch den Akt der Beobachtung konstituiert sich Realität. An diese Vorstellung knüpft Wheeler an: Er [...] behauptet, daß ein Universum nur dann real sein kann, wenn es sich gerade so entwickelt, daß auch Beobachter entstehen, die etwas feststellen oder 'realisieren' können. Wheeler untermauert seine Ansicht mit dem anthropischen Prinzip: & gibt keine Gründe dafür, warum bestimmte Konstanten und Anfangsbedingungen ausgerechnet den Wert haben sollen, den sie tatsächlich haben - bis auf die Tatsache, daß andernfalls so etwas wie Beobachtung unmöglich wäre...' [...] Wheeler lehnt die übliche Sichtweise ab, daß Leben und Beobachtung eine zufällige Besonderheit eines Universums ausmachen, das sich unabhängig vom Beobachter entwickelt hat. "Die Quantenmechanik hat uns gelehrt, das genaue Gegenteil ernsthaft zu prüfen; möglicherweise ist der Beobachter für die Entstehung des Universums genauso wichtig wie das Universum für das Entstehen des Beobachters.'" (George Gale: Das anthropische Prinzip: kein Universum ohne Mensch. In: Spektrum der Wissenschaft - Scientific American. Internationale Ausgabe in deutscher Sprache. Heidelberg, Februar 1982. S. 90ff. Hier: S. 99) Demnach existiert Welt nur für die Beobachtung, bzw. nur für die Dauer jeweiliger Konfrontation, die selbst als Wirkkraft Beobachter und Beobachtetes, die Partizipienten dieser Konfrontation, transformiert. Damit wird der Begriff Identität zum jeweiligen Momentgelichte relativiert, ist Weltfundament einzig der Energiefluß, der seine Wandlungen als Kettung von Augenblicken der Beobachtung (von immer Neuem) immer neu durchläuft. Das ist ein Dammbruch der Theorie, die zwar das Faktum des Austausches anerkennt, aber die daran Beteiligten zu ihren Relationen erklärt. Auf den nun anschwellenden Konsequenzfluten, die daraus bersten und jede Bastion eines mit sich identischen Austragungsortes der Erkenntnis (= die Richtgröße noch jeder Relativitätsfeststellung) unterspülen, vermag die hier angestellte Untersuchung nicht als winziges, dem Untergang geweihtes Reflexions-Schiffchen zu segeln: das 'Große des [daraufhin, B.G.] zu Denkenden ist [ihr] zu groß.' [Heidegger].

24

werden; Information ist als der grundlegende, Erkenntnis stiftende Prozeß zu denken, in dem das Verhältnis von Subjekt und Objekt fundiert ist. Form ist weder Materie noch Bewußtsein, aber sie ist eine Eigenschaft von materiellen Körpern, und sie ist für das Bewußtsein wißbar. [...] Materie hat Form, Bewußtsein kennt Form. [...] Je mehr Entscheidungen an einem Objekt getroffen werden können, desto mehr Torrn' in einem allgemeinen, nicht notwendigerweise räumlichen Sinn des Wortes kann man an ihm erkennen. Diese Formenmenge ist Eigenschaft des Objekts und für uns wißbar.23

Anders gesagt: eine Relation Subjekt-Objekt, die nicht dialektische Information wäre, ist undenkbar, und: das Wissen hat nur eine Quelle - die Information. Erkenntnis ist danach ein raum-zeitlich determiniertes Produkt: bedingt (a) durch das thermodynamische Verhalten von Energie in der Zeit und (b) die Vorinformiertheit der Erkenntnis. Die Verbindung zwischen Information und Energie kann über den 'Entropie-Satz', den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik hergestellt werden. No observation or memory act can occur that does not increase entropy [...] before an intelligent being can use its intelligence, it must perceive objects, a process involving physical energies. [...] all measurements, observations, and so on made on a system [...] require energy, which must be drawn from the observed system.24

Angewendet auf den Sondertyp von ästhetischer In-Formation, gilt demnach, daß auch der Gehalt eines (Theater-)Kunstwerks sich je als Resultat des dialektischen Prozesses der Information ergibt und keineswegs statisch, etwa als 'Geist des Werkes' vorliegt. Auch das Kunstwerk wird gesehen als Fülle von Form-Optionen, die abhängig ist von der Prä-Formation wissender Subjekte. Unabhängig also davon, daß ästhetische Objekte sich einer negentropischen, formschaffenden Arbeit verdanken und angelegt sind, gilt, daß die scheinbare energetische Fixierung der Materie des Objekts nicht gleichbedeutend mit einer Fixierung seines Gehaltes für den Informationsprozeß ist. Form ist auch hier relativ zum Status des Vorwissens eines Beobachters zu denken. Es ist - in einem noch zu diskutierenden Sinn - daher äußerst sinnvoll, Wahrheit durch den hier entwickelten Begriff von wissensfundierter Erkenntnis (der jeweiligen Resultante von Informationsprozessen) zu substituieren.

23 24

Ebd. S. 166f. Young: NoI, S. lOf.

25

3. Das eingesetzte Augenlicht Theorie - so weit das Auge reicht. Aber auch nur so weit. War die letzte Arbeitseinheit scheinbaren Tautologien im Umfeld der Information gewidmet Form als Wissen von Form, Wissen und Gewußtes, Information und In-Formation -, so beschäftigt sich dieser Abschnitt dagegen mit einer 'augen-unscheinlichen1 contradictio in adjecto. Sie ist seinem Titel enthalten und besteht in diesem eigenartigen Term, 'Augenlicht', den die deutsche Sprache wie selbstverständlich benutzt, obwohl er eigentlich nicht das meinen kann, was er sagt: ein Rezeptiv-Organ sollte selbst nicht das produzieren können, zu dessen Empfang es ausgelegt ist. Selbst die verschiedenen Genitiv-Konstruktionen, die zwei Substantive einmal so aneinander binden, daß das Genitiv-Attribut dem Aussage-Subjekt und einmal dem Aussage-Objekt zugerechnet werden kann, vermögen diesen Widerspruch, der ein logischer innerhalb des Sprachgebrauchs ist, nicht aufzulösen. Das Augenlicht wird synonym für die 'Sehkraft des Auges1 verwandt, obwohl es eigentlich den Reiz bezeichnet, zu dessen Wahrnehmung das Auge bestimmt ist. Zum 'unlogischen' Gebrauch tendiert auch das Grimmsche 'Deutsche Wörterbuch'. Dort wird zum Stichwort 'Augenlicht1 vermerkt: augenlicht, n, lumen oculoium, die Sehkraft [...] dann auch, was in die äugen, den äugen leuchtet [...] häufig aber für auge.2^ Ein Auge nimmt Licht wahr und strahlt nicht selber. (Es sei denn - und so wird es zu verstehen sein -, daß das Auge als 'Spiegel des Seele' mit dem Sehen zugleich auch immer das Leuchten des innewohnenden, erkennenden 'Geistes' wiedergibt.)26 Aber dennoch ist diese Arbeit geradezu vernarrt in diese sprachlogische Unmöglichkeit, weil sie ihr hervorragend als Metapher für das bislang erarbeitete Wissens-Verständis dienen kann. Wissen ist das Augenlicht der Erkenntnis. Es 'strahlt', damit Sehen möglich wird. Nach dem Informationsmodell muß es als 'formschaffende Erleuchtung' bezeichnet werden. Das Licht, das entströmt, ist als das Vorwissen Prä-Formation, die als positiver Subjekt-Beitrag in den dialektischen Prozeß: Information einfließt. Nicht aktionistische Aufhebung der Welt ins damit überfrachtete Subjekt ist intendiert, sondern produktive Grenzverwischung. "Die Logik des Beobachters ist die Logik des beobachteten Systems",27 heißt es darum apo25 26 27

26

Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig 1854. Stichwort: augenlicht, Spalte 807. In diesem Sinne erläutert nach Grimm [Ebd.] auch Canitz dieses Wort: 'man spüret aus dem augenlicht oft der gedanken tiefsten grund'. Zit. nach: Siegfried J. Schmidt: Liquidation oder Transformation der Moderne? Vortrag beim Symposium 'Besichtigung der Moderne' RW-TH Aachen, 14. - 16. Jun. 1985. Aus dem Skript des Verfassers. Hier: S. 17.

diktisch bei Humberto R. Maturana - und mehr kann eigentlich nicht festgestellt werden. Doch noch ist nicht alles zum Wissen gesagt. Es macht die Welt des Erkennens sichtbar - so wurde behauptet - doch wer macht das Wissen? Wem eignet diese plastische Kraft? Wem verdankt es seine Herkunft? Bislang scheint ein Denken legitim, das Subjekt und 'sein1 Wissen in ein Verhältnis von 1:1 setzt, wobei das Subjekt als Urheber und Eigentümer seines Wissensschatzes aufgefaßt wird. Ein Subjekt - ein Leben - eine Erfahrung - ein Wissen: 'Wir wissen, was wir wissen, wir haben's teuer bezahlen müssen1 - heißt es etwa am Ende des Döblinschen 'Alexanderplatzes'. Stimmt, Franz Biberkopf, Du weißt es! Doch, wie kannst du wissen! Wenn Theorien im Informationsprozeß allein über Problemstände entscheiden würden, dann würden Probleme mit ihrer einmaligen Lösung endgültig fallen. Es gäbe zudem nur Problemsolitäre, bearbeitet von flottierenden Sätzen, die sich nicht einer Ordnung fügen könnten; es gäbe keinen wissenschaftlichen Austausch, der gerade ein Beteiligtsein an einem verbindlichen Wissen voraussetzt; Wahrheit kristallisierte sich als das heraus, was - rein statistisch - die meisten Sprach-Verweise auf sich vereinigte oder auf einer Skala plausibler Sätze am häufigsten in der Rubrik 'Antwort' auftauchte. In dieser Wissenseinsamkeit steht etwa das sich, die Welt, sein Wissen konstruierende Ich des Konstruktivismus.28 Das 'Weltgespräch' der Information ist hier reduziert auf das sonore Peilgeräusch des auf sein Echo wartenden Denkens. Wahrheit jedoch ist kein quantitatives Konzept. Poppers Falsifikation greift ja auch nicht 28

Das Wissen ist für den Konstruktivismus eher private Überlebenshilfe mit Ordnungsfunktion für den einzelnen Organismus als durch Sozialisation, Prägung und Lernen vermitteltes Gemeingut. So definiert es Ernst v. Glaserfeld: "Knowledge can now be seen as something that the organism builds up in the attempt to order the as such amorphous flow of experience by establishing repeatable experiences and relatively reliable relations between them." Ernst von Glaserfeld: An Introduction to Radical Constructivism. In: P. Watzlawick (Hg.): The Invented Reality. New York / London 1984. S. 39. In diesem Kontext wird die Wahrheitsdiskussion obsolet, da Verbindlichkeit des Wissens nicht garantiert ist. Da Aussagen über die Konstruktionen anderer nicht (mehr) gemacht werden können und Konstruktionen prinzipiell temporär sind - modulierbar durch Erfahrung -, werden Wahrheit und Aktualität der Konstruktion identisch - damit aber ist Wahrheit hinfällig geworden. Nach den oben skizzierten Prämissen folgerichtig erklärt der Konstruktivismus, daß Erfahrung und Erkenntnis zu Ordnungsinstanzen der Weltkonstruktion geworden sind, dazu dienend, ein Modell von Wirklichkeit überprüfend entweder am Leben zu erhalten oder gegebenenfalls zu verwerfen. Diese Relation von Konstrukteur und Artefakt, zu denen Subjekt und Welt geworden sind, hat Francisco Varela in einem 'Spiegel-Gleichnis1 vorgetragen: "We stand in relation to the world as in a mirror that does not tell us how the world is; neither tell us how it is not. It reveals that it is possible to be that way we are being, and to act the way we have acted. It reveals that our experience is viable." Francisco J. Varela: The Creative Circle: Sketches on the Natural History of Circularity. In P. Watzlawick (Hg.): The Invented Reality. Ebd. S. 322. 27

deshalb, weil eine neue Antwort erklärt, was sonst nicht verstanden werden konnte, sondern, weil sie besser und zutreffender als ihre Vorläuferinnen erklärt oder versteht. Wie aber ist das zu entscheiden? Was fungiert als tertium comparationisl Auf welchem Plateau steht der, der die Verbesserung entdeckt hat? Diese Bestimmung ist nicht von dem jeweils zur Hand genommenen Werkzeug, der Theorie, selber zu leisten, sondern von einer übergeordneten Instanz, einer Hyper-Theorie, dem Gesamt-Komplex je ausgedeuteter Welt, der Theorie und Wissenschaftler einschließt. Es existiert ein Wissen als Vorgabe für Theorien, das gewissermaßen als Rahmenbedingung ein Subjekt jeweils wissen läßt, daß es weiß - und, daß es gut und wichtig ist, das (so) zu wissen. Es signalisiert, "was als eine Erkenntnis oder eine Illusion, eine anerkannte Wahrheit oder ein denunzierter Irrtum, eine endgültige Erfahrung oder ein überwundenes Hindernis sich enthüllen und funktionieren wird."29 Es ist darum nicht paradox zu behaupten, daß vor dem Wissen ein Wissen liegt, das jenes erst ermöglicht und das jeder Erkenntnis als 'Taufgabe in die Wiege gelegt ist'. Der Subjekt-Beitrag zur Information formiert sich - wie Foucault richtig anmerkt - eben nicht aus "nebeneinander angehäuften, aus Erfahrungen, Überlieferungen oder heterogenen Entdeckungen stammenden und nur durch die Identität des sie besitzenden Subjekts verbundenen Erkenntnissen."30 Dieses Wissen vor dem Wissen wurde hier in seinem 'subjektiven Niederschlag' als Voraussetzung des Erkennens beschrieben: nämlich als Theorie-Vorschub für den Untersuchungs-Standpunkt und als PräFormation für den Informationsprozeß. Theoretische Vorannahme und Vorwissen wurden generell als Ermöglichungsbedingung der Erkenntnis gehandelt und damit charakterisiert als homologisierbare Größen von anthropologischer, selbst ahistorischer Konstanz. Es gilt nun, die Quelle dieses 'Lichtes für die Augen', das Wissen, in der Topographie des Sehens und Wahr-Nehmens zu lokalisieren und die Deskription seiner Kraft und Wirkung zu präzisieren. Aufgerufen wird ein theoretisches Konzept, das in der Philosophiegeschichte schon lange diskutiert wird. Manfred Frank macht die Erkenntnis der Wissensgrundierung als erkenntnistheoretische Position in der Folge der nachhegelianischen Philosophie fest.31 Er rekapituliert deren Argument, das sich nicht lediglich mit der Wi29 30

31

28

Michel Foucault: Archäologie des Wissens. (1969) Frankfurt 1973. S. 258. Ebd. S. 258. Sie berührt den 'Neutralen Monismus1. Gemeint ist eine Richtung, die Neutralität hinsichtlich der "Alternativen einer idealistischen oder einer materialistischen Erklärung des Bewußtseins-Phänomens" behauptet; sie wurde vertreten von Mach, James und Russell. "In Kürze besagt diese Position, Bewußtsein sei eine Eigenschaft von Beziehungen zwischen Elementen - und nicht eine solche zwischen einem Ich und einem Objekt." Beide Zitate: Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt 1984. S. 128.

derlegung einer 'absoluten Theorie' begnügt, sondern radikal mit ihr auch die Unhaltbarkeit eines absoluten (Selbst-)Bewußtseins konstatiert, das sich selbst als Grundlage und Referenz der Theorie setzen müßte, um deren Aussagen zu bewahrheiten. Das Bewußtsein oder auch: das Verständnis, aus welchem wir die Welt betrachten, ist nicht abermals ein Werk unseres Bewußtseins oder unseres Verständnisses, sondern eher etwas, das uns geschieht/widerfährt. Es gibt Bewußtsein, aber Bewußtsein ist kein ursprüngliches Phänomen, es ist kein Prinzip [...]. Wäre nämlich die Weltansicht ein Produkt unseres Bewußtseins, so könnten wir unsere Condiüo auch vollständig aus unserem Bewußtsein erklären: nichts wäre dunkel, alles wäre beherrschbar, die Welt läge als das aufgefaltete Buch vor unseren Augen, das wir selbst geschrieben hätten.32 Das (Vor-)Wissen ist nicht identisch mit Theorie oder Prä-Formation: es übersteigt die Theorie, die ein Problem selektiert hat; es bedingt die Prä-Formation, die In-Formation wahrnimmt. Theorien (Prä-Formationen) können als konkrete Anwendungen des (Vor-)Wissens bezeichnet werden: jene gehen in diesem auf, sie sind Fälle des Wissens. Es wird immer eine Form dieses Wissens geben, mit der Denken und Erkennen möglich wird, aber es wird nicht immer dieselbe Form sein. Diese scheinbaren 'Verweisungs-Zirkel' rühren von der historischen Relativität des Verstehens, das eine historisch invariable, identische Struktur aufweist. Manfred Frank nennt es auch das "immer schon eingesetzte Verständnis".33 Mit dieser Formel des Eingesetzt-Seins, die bereits im eingesetzten Augenlicht vorgegeben wurde, wird eine Wendung aufgenommen, die Frank bei Fichte ausgemacht hat. Er greift dessen Metapher auf, um damit die "Abgeleitetheit der Reflexionsleistungen" zu illustrieren, mit der "der Deutsche Idealismus - als letzte großartige Aufgipfelung der metaphysischen Auslegung des Seins als Verfügbar-Sein [...] - in die Phase der Selbstkritik eintritt"34 Fichte spricht demnach zur "Umdeutung des absoluten Selbstbewußtseins" von einer 'Kraft, der ein Auge eingesetzt ist'. [...] In dieser Formulierung wird ja das Auge der Reflexion, dem sich die Ursprünglichkeit des Sichwissens darstellt, der Kraft gegenüber auf den zweiten Platz verwiesen.35

Frank weist nun nach, daß das, was er Neostrukturalismus nennt, auf dieser Überlegung grundsätzlich aufbaut. Der Neostrukturalismus trachtet damit generell, die "Grundlosigkeit oder Zweitrangigkeit des Selbstbewußtseins - aus der sowohl die Geschichtlichkeit des Daseins wie die Unentrinnbarkeit der Struktur folgen",36 zu bezeichnen. 32 33 34

35 36

Ebd. S. 118. EM. Ebd. S. 119. Zit. nach: Frank, ebd. Ebd. S. 120. 29

Sie alle [die Neostrukturalisten, B.G.] variieren eigentlich die Fichtesche Formel vom eingesetzten Blick oder vom eingesetzten Auge - eine Formel also, die bildlich ausdrücken will, daß der Blick, unter dem wir unsere Welt erschließen, nicht von uns geschaffen, sondern uns eingepflanzt [...]: Sobald wir etwas als etwas sehen, halten wir uns bereits in einer (Heideggerschen) Lichtung des Seins, die sich in uns, aber nicht durch uns entfaltet.37 Das Wissen des 'eingesetzten Augenlichts' ist immer positiv, agierende Kraft. Es stellt als formende Matrix das jeweils Denkbare schlechthin dar: es ist der Urgrund des Erkennens, der Demiurg oder der big bang der Dinge. Es bürgt für Theorien und 'weiß', was wahr und falsch ist. Noch wenn es einem Problem seine Unlösbarkeit attestiert, hat es von ihm gesprochen, hat es formschaffend gewirkt und seine Urteils-Kompetenz erwiesen. Jeder vorgefaßte selektive Standpunkt leitet seine Berechtigung von diesem Wissen ab und jede Erkenntnis, die als solche wiederum jenes Wissen legitimiert, rechtfertigt seine Einnahme. So steht das Wissen am Anfang und Ende des Erkennens und ändert mit ihm gestaltwahrend seine Erscheinung. Es definiert, weil es die Formen interessierender Probleme als deren Grenzen absteckt und zurückweist, was 'außerhalb1 liegt; es differenziert, weil es seinen Zuständigkeits- und Aufgabenbereich unterscheidend herstellt, indem es Relevanz zuerkennt, Zugehörigkeiten feststellt, das Rauschen der Dinge filtert und solange das je Bedeutungsvolle vom je Belanglosen scheidet, bis es einen Satz zur Lösung erklärt; es systematisiert, weil es eine Hierarchie der Probleme erstellt und den Kodex der Gewißheiten, die Methoden und Begriffe zu ihrer Lösung ordnet; es läuft dem Erkennen voraus, ist pro-spektiv und nimmt - im Wortsinn - wahr. Dieses Wissen ist die Wahrheit, die Erkenntnis je sichert, sich in dieser manifestiert und den Horizont für Sinn darstellt. (Ein Horizont ist Grenze des Sehens sowohl wie umfassende Klammer des Sichtbaren.) So sind Forschungslücken nie echte Löcher des Wissenshorizontes, sondern weiße Flecken auf einer bereits existierenden Landkarte, also Desiderate dessen, was sich noch zu wissen lohnte in einer ausgedeuteten Welt. Nur das wird je zu erkennen sein, was von diesem Wissen erhellt worden ist. Es ist daher mit Foucault zu konstatieren, daß es "ein[en] Wille[n] zum Wissen, gibt [...], der im Vorgriff auf seine wirklichen Inhalte Ebenen von möglichen beobachtbaren, meßbaren und klassifizierbaren Gegenständen entwirft; ein Wille zum Wissen, der dem erkennenden Subjekt (gewissermaßen vor aller Erfahrung) eine bestimmte Position, einen bestimmten Blick und eine bestimmte Funktion (zu sehen, anstatt zu lesen, zu verifizieren, anstatt zu kommentieren) zuweist."38 37

38

30

Ebd. S. 120f. [Selbstverständlich reduziert Frank den Post- oder Neostrukturalismus nicht auf diesen einen theoretischen Aspekt; er erkennt darin lediglich eine weitere Übereinstimmung.]. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France. 2. Dez. 1970. München 1974, S. Ebd. S. 12f.

Dieses Wissen soll nun substituiert werden von einem Begriff des Wissens, der dem des Diskurses (und in Folge: der Ordnung) bei Foucault sehr nahe kommt. Er ist aber um eine Position diesseits des Subjektes39 bemüht und wurde deshalb, wenngleich später immer als Diskurs bezeichnet, mit dem Term des 'eingesetzten Augenlichts1 versehen.

Und sehe, daß wir nichts wissen können! Goethe, Faust l Of all the things I've lost I miss my mind the most. Losung auf amerikanischer Ansichtskarte

4. Foucaults 'Diskurs1 Für Foucault ist es eine bestimmte, historisch variable, autonom sich realisierende (An-)Ordnung des Diskurses, die das Augenlicht je einsetzt. Ausdrücklich spricht er von dem "kodierten Blick"40, der sehend eine Ordnung instal39

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Im Gegensatz zu Foucault, der die Festung des Subjektes wenigstens in seinen frühen Schriften zu schleifen angesetzt hatte, tendiert diese Arbeit für einen Erhalt derjenigen Instanz, die weiß, was sie sagt, wenn sie 'Ich' sagt. Insofern ist die implizite Bewußtlosigkeit, zu der Foucault dieses 'Gesicht am Meeresufer1 vergattert, ein schwer verdaulicher Brocken. Dennoch gelten alle wissenschaftlichen Sympathien Foucault und nicht etwa Thomas S. Kühn, der mit seinem Begriff des 'Paradigmas' eine ähnliche Plattform für das Wissen gebaut hat. Allerdings schleppt die Paradigmenhypothese einen Begriff von Fortschritt inhärent mit, der so nicht geteilt werden kann. Kühn beschreibt Änderungen des Weltbildes lediglich als Resultat von wissenschaftsinternen Paradigmenwechseln und muß sich darum in diesem Grundwiderspruch verfangen, einmal eine Theorie über die Dynamik des geleiteten Erkennens in der Wissenschaft zu formulieren, die keine Aussagen über die 'wirkliche Welt' machen kann, sondern stets von den Möglichkeiten und Perspektivvorgaben ihres Vorwissens geprägt ist und bleibt; zum anderen aber an einem Modell des perpetuierlichen Fortschritts festzuhalten, das Verbesserung lediglich konstatiert, 'real' jedoch nirgends ankern kann. Kuhns Problem dabei ist, daß er Paradigmata nur innerwissenschaftlich notiert, obwohl seine Thesen selbst von einem wissenschaftsextemen Paradigma getragen werden. Dieser still ertragene Grundwiderspruch im Kuhnschen Denken ist es, der die Paradigmenhypothese selbst wiederum als ein diskursgestützes Denken ausweist: Kuhns Paradigmen-Hypothese ist aus modernem Denken heraus geboren und wird von einem Optimismus getragen, der den historischen Prozeß Wissenschaft eigentümlicherweise als einen stetig fortschreitenden, weil weltdeckenderen begreift, obwohl er eigentlich einer unberechenbaren Aleatorik des Wandels beipflichten möchte. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966) Frankfurt 1990. S. 23. 31

licit, die allerdings - obwohl Werk - als 'historisches Apriori1 erscheint Die tatsächlich dahinter stehenden, historisch variierenden "Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen"41 und die "rohe Tatsache" vermitteln, "daß es Ordnung gibt",42 decouvriert Foucault in Folge als die in diesem Code zur 'Sprache1 gebrachte Form eben jener ursprünglichen, mächtigen Kraft, die er mit dem Begriff des Diskurses belegt. Tatsächlich gibt es selbst für die naivste Erfahrung keine Ähnlichkeit, keine Trennung, die nicht aus einer präzisen Operation und der Anwendung eines im voraus bestehenden Kriteriums resultiert. [...] Die Ordnung ist zugleich das, was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert. Und nur in den weißen Feldern dieses Rasters manifestiert es sich in der Tiefe, als bereits vorhanden, als schweigend auf den Moment seiner Aussage Wartendes.43 Diese Gründung des Wissens, das seinen 'nur darauf wartenden1 Dingen zur Sprache verhilft, wird von Foucault betrachtet als Aktion der Exklusion, Kritik und Reflexion unter vor-denklicher Leitung eines primären Diskurses, dessen Silhouette sich jedoch auf dem weißen Tuch der Wahrheit abzeichnet. Wahrheit ist immer Wahrheit eines Diskurses. Doch man darf Foucault nicht verharmlosen. Den "gelehrt ungenierten Kritiker und glücklichen Positivisten"44 hier als Zeugen lediglich für eine weitere Erkenntnis- und/oder Wissenschaftstheorie in die Riege derjenigen, die nicht 'nackten Auges' sehen, aufrufen zu wollen, wäre fatal, weil damit die Stoßrichtung seines philosophischen Impetus' umgekehrt würde. Foucault, der Morphologe der Wahrheit, ist Wissens-Theoretiker, dem Wissenschaft und Erkenntnis abhängige, also sekundäre Realisationsformen der ubiquitären Kraft 'Diskurs1 sind. Die Wissenschaft lokalisiert sich in einem Feld des Wissens und spielt darin eine Rolle; diese Rolle variiert mit den verschiedenen diskursiven Formationen und modifiziert sich mit ihren Veränderungen.45 Foucault unternimmt in seinen Arbeiten den Versuch, die holographischen Splitter des Diskurses in ihren spezifischen historischen Ausprägungen zum Mosaik der diskursiven (Wissens-)Formation einer Epoche zu rekonstruieren. 41

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Ebd. S. 22. Ebd. S. 23 [Beide Stellen, Hervorhebung: Foucault]. Ebd. S. 22. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. A.a.O., S. 48. (Die Stelle beschreibt den Charakter seiner methodologischen Vorgehensweise und lautet korrekt zitiert: "der Stil der Kritik [ist] die gelehrte Ungeniertheit, [...] das Temperament der Genealogie [ist] ein glücklicher Positivismus"). Michel Foucault: Archäologie des Wissens. A.a.O., S. 262.

Seine Mittel sind die archäologische Freilegung und die genealogische Notierung ihrer Konstitutionsmechanismen. Auch er beginnt mit der Infragestellung althergebrachter Gewißheiten: Man muß erneut jene völlig fertiggestellten Synthesen, jene Gruppierungen in Frage stellen, die man gewöhnlich vor jeder Prüfung anerkennt, jene Verbindungen, deren Gültigkeit ohne weiteres zugestanden wird.46

Fran9ois Ewald bewertet Foucaults Unternehmung dementsprechend als geduldige und minutiöse Arbeit des Archäologen und des Genealogen, bei der es nicht darum geht, nach dem Universalen, Zeitlosen, Ewigen [...] zu forschen, [...] sondern im Gegenteil darum, in jeder der Figuren, in denen wir uns erkannt haben, etwas Transitorisches, Singuläres und Sterbliches aufzuzeigen. Eine kritische Arbeit, mit der Foucault die oftmals beschämende und immer säkulare Herkunft unserer Gewißheiten, unserer Überzeugungen und unserer Wahrheit aufdeckt.47

Doch schon ist er verharmlost - scheint er selbst sich verharmlost zu haben. Michel Foucaults Denken überschreitet die Grenzen einer der Anthropologie verhafteten Historiographie. Es will sie sichtbar machen als Setzungen einer präsentistischen "Geschichtsschreibung, die ihre hermeneutische Ausgangssituation nicht überspringt und sich für die stabilisierende Vergewisserung einer doch längst zersplitterten Identität in Dienst nehmen läßt".48 Es darf darum keineswegs als Strategie der Umverteilung bislang erarbeiteter Grundbegriffe verstanden werden. Im Gegenteil: der Aufschrei aller bislang genannten Autoren bei der Gewärtigung, hier mit Foucault in einem Atemzug genannt zu werden, muß als fiktiver von nun stets mitgedacht werden: sie stehen an diametral ent-gegenstehenden, ja einander opponierenden Polen möglichen Weltverstehens, die einander so fremd sein müssen wie Teufel und Weihwasser. Und dennoch werden hier Teufel getauft. Denn auch Foucault analysiert und konstatiert wie etwa T.S. Kühn die vorgängige Verstricktheit des Wissenden in ein ihn übersteigendes Wissen. Nur: Foucault analysiert vom gegenüberliegendem Standort aus. Er kommt vom Wissen. Die Erörterung von Foucaults Diskursanalyse scheint nun möglich, da er das bislang Erarbeitete revolutioniert, seine Philosophie also an einen bestimmten Diskussionsstand ansetzt, diesen allerdings dann grundsätzlich umwälzt. Die Unterschiede zur Paradigmenhypothese Kuhns etwa sind eklatant. Während Kühn die (Aus-)Bildung des Wissenschaftlers über die Vermittlung von Wissensstandards durch die Gemeinschaft untersucht, eruiert Foucault die (Heran-)Bildung des Typus Wissenschaftler aus dem historisch variablen 46

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Ebd. S. 34. Francois Ewald: Foucault - Ein vagabundierendes Denken. In: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978. S. 7-20, hier: S. 7. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 293. 33

Formprinzip, das er das Wissen des Diskurses nennt. Bei Kühn erweist sich Geschichte als Kontinuum objektiver Verbesserung durch nutzbringende Veränderung der Sichtweisen, bei Foucault wird Geschichte gedacht als Serie kontingenter, einander inkompatibler, disparater Diskursschichten, die sich einer Gesamtinterpretation nur um den Preis der mutwilligen Schlichtung des Unvereinbaren, Ungleichzeitigen, Inhomogenen fügen lassen. Diskursanalyse ist darum eine strikt historistische Sondierung von Phänomenen. Bei Kühn regelt Wissenschaft Wissen, bei Foucault schafft Wissen Wissenschaft. Bei Kühn fungiert für ein einzelnes Bewußtsein das Paradigma als Leitstern der wissenschaftlichen Erkenntnis, bei Foucault funktionieren Wissenschaft und Wissenschaftler als historisch realisierte Leuchtspuren des diskursgegebenen Wissens, dessen Inhaber sie nicht sind. Bei Foucault wechselt das Wissen dann sprunghaft sein Statut - bei Kühn wächst es kontinuierlich. Foucault schließlich überantwortet dem Diskurs noch die Kraft, den Hunger nach Fragen zu schüren, die Kühn nur verwundert als Aufbrechen der Fremdartigkeiten, der Anomalien in ordentlichen Mustern notieren kann. Dies sind nicht Akzentverschiebungen zur Determination der Vorgängigkeit bestimmter Phänomene: das ist - darauf bringt es Foucault - eine Machtfrage. Das Wissen ist (für die Wissenschaft aber nicht nur für sie) die Realisationsform von Macht, die sich über das Reglement der Diskurse mitteilt. Der Diskurs ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen aufzulösen. Wir müssen uns nicht einbilden, daß uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu entziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen.49 Damit kehrt Foucault die berühmte Aussage des dritten Aphorismus im ersten Buch des Novum Organum des Francis Bacon um, der der philosophische Legitimationsgrund für wachsende Naturbeherrschung durch (natur-)wissenschaftliches Forschen und Experimentieren für die Moderne war: Menschliches Wissen und Macht fallen in eins zusammen, weil Unkunde der Ursachen uns um den Erfolg bringt. Denn der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr nachgibt, und was in der Betrachtung als Ursache erscheint, das dient in der Ausübung zur Regel.50 Wissen ist demnach nicht länger Macht, sondern: Macht ist Wissen. Das ist keine Tautologie. Das scheinbare Paradox des Diskurses ist nämlich, daß er von denen, die ihn konzipieren, formen und tragen, nicht als ihr Produkt be49 50

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Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. A.a.O., S. 36f. Francis Bacon: Neues Organ der Wissenschaften. (1620) Fotomechanischer Nachdruck der Übersetzung von Anton Theobald Brück. (Leipzig 1830). Darmstadt 1962. 1. Buch, 3. Aphorismus. S. 26.

griffen wird. Darum durchläuft diese herrenlose Kraft, eben weil sie das unerkannte Eigene ist, unberechenbare Metamorphosen mit Ungewisser Realisationsdauer. Sie vollzieht ihre Verwandlungen spontan und richtungslos.51 Foucault unternimmt den Versuch, den "Diskurs nicht vom Standpunkt der sprechenden Individuen aus zu erforschen, [...] sondern vom Standpunkt der Regeln, die nur durch die Existenz eines solchen Diskurses ins Spiel kommen".52 Mit dieser 'Kehre' geht einher, daß nun die Kraftvektoren umgekehrt und die Spektralfarben der Erkenntnis komplementär substituiert werden. Eine gravierende Schwierigkeit, das Foucaultsche Denken nachzuvollziehen, besteht darin, daß der Autor sich durch das Vexierbildhafte seines Diskursbegriffs legitimiert fühlt, diesen sowohl mit der Akzentuierung des Produkts in seiner Konstitution als auch mit der Akzentuierung der objektiven Gewalt in seiner Wirkung zu beschreiben. Insofern changiert die Rede Foucaults über den Diskurs zwischen der Deskription eines abhängigen Effekts und der Indizien-Beweisführung, die eine verursachende, archaische Gewalt überführt. Struktural 51

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Tatsächlich gleicht das Phänomen des Diskurses damit demjenigen, das in der Chaosforschung als Soliion diskutiert wird. Solitone sind solitäre Phänomene, die aus nichtlinearen Wechselwirkungen von einander inkompatiblen Einzelimpulsen resultieren. Berühmtes Beispiel für ein natürliches Soliton ist die seismische Wasserwelle - der Tsunami -, die sich der Aneinanderkopplung nicht dispersiver Einzelwellen verdankt. Solitone sind somit sich erhaltende Ordnungsphänomene, die aus chaotischen Anfangszustanden erwachsen. Es wird damit angenommen, daß sich "großräumige Ordnung spontan aus kleinräumigem Chaos entwickelt." [John Briggs, F. David Peat Die Entdeckung des Chaos. S. 182. S.u.!] Weitere Solitone sind der 'Große Rote Fleck' des Jupiters, ein atmosphärisches Soliton, das Energieverhalten und die Neigung zu energetischer Konzentration im atomaren Bereich von Metallgittem, eine Kerzenflamme, der nicht-dissipative Transport einer elektrischen Erregung auf Nervenbahnen etc. Die Physik, Biologie und Mathematik sprechen vom "Potential attraktiver Ordnungen" in chaotischen Systemen und von der "impliziten Kohärenz" komplexer Systeme [S. 186], die - wie Hologramme - das Merkmal der SelbstÄhnlichkeit ihrer Bausteine - der Fraktale aufweisen (Jedes Teil enthält "ein Bild des Ganzen, ein Spiegelbild gewissermaßen." [S. 163]). "Anfangs mag es als 'unnatürlich' erscheinen, auf diese Weise zu schauen, weil unsere Wahrnehmung der Welt noch immer stark von der Ästhetik der griechischen Philosophen und den Begriffen der platonischen Ideale und euklidischen Formen beeinflußt sind. Bei der Betrachtung der Natur wie auch der Kunst sind wir daran gewöhnt, Gestalten wie parallele Linien, Kreise, Dreiecke, Quadrate und Rechtecke herauszusuchen. [...] Je mehr sich jedoch die innere Natur des Chaos und der komplexen, subtilen Ordnung lebendiger Systeme - wie strömender Flüsse, rotierender Galaxien, Licht und Schall, Wachstum und Zerfall - unserer wissenschaftlichen Wahrnehmung enthüllen, umso mehr werden wir verstehen, wie statisch und begrenzt die platonischen und euklidischen Ideen sind. Regelmäßige, simple Ordnungen sind in der Natur durchaus Ausnahmen und nicht die Regel. Die wahren Archetypen der Natur liegen vermutlich näher an [...] 'seltsamen Attraktoren' und [...] Traktaten' als an den platonischen Körpern." John Briggs, F. David Peat: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos-Theorie. München Wien 1990. S. 162 [Alle hier zitierten Stellen und die Beispiele sind daraus entnommen.]. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. A.a.O., (Vorwort zur deutschen Ausgabe) S. 15.

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bleibt Foucaults Analyse dort, wo sie zwar variable Feldgrößen und -räume konstatiert, aber ihr Verstehen stets wie eine Matrix an die Phänomene anlegt, um sie zu Untersuchungsfeldern zu formen. Auf dieser Plattform lokalisiert Foucault jene 'Positivität' des Wissens, deren Definition und Skulpturierung zu einer sich geschichtlich in diversen Mutationsformen essentiell durchhaltenden Raumgröße er einige Aufmerksamkeit widmet. Er definiert das Wissen als diskursgegründetes Basislager, das Erkenntnis bedingt: Diese Menge von einer diskursiven Praxis regelmäßig gebildeten und für die Konstitution einer Wissenschaft unerläßlichen Elementen, [...] kann man Wissen nennen. Ein Wissen ist das, wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann. [...] Es gibt Wissensgebiete, die von den Wissenschaften unabhängig sind [...], aber es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis. Und jede diskursive Praxis kann durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert.53 Wissen ist demnach die bedingte Freiheit, die einer Epoche, einer Wissenschaft, einer Kunst ihre diskurs-getragene Rede über die Welt gestattet. Die Metaphorik des Raumes, in die das Wissen dann gekleidet wird, bezeichnet allerdings weniger die Begrenzung als vielmehr die Möglichkeit zur Entfaltung von individuellem Wissen. Foucault versteht es demnach als kollektiven "Raum, in dem das Subjekt die Stellung einnehmen kann, um von den Gegenständen zu sprechen, mit denen es in seinem Diskurs zu tun hat (in diesem Sinn ist das Wissen [...] die Gesamtheit der Funktionen des Blicks, der Befragung, der Entzifferung, der Registrierung, der Entscheidung, die das Subjekt des [...] Diskurses ausüben kann.)".54 Man wird sich dieses epistemologische Feld daher als durchfurcht von unzähligen individueller, aufeinander nicht abbildbarer Wissenslinien vorstellen müssen, die in unberechenbaren Konstellationen nach unvorhersehbaren Ereignismustern aufeinandertreffen, sich kreuzen, addieren oder aufheben oder als unerkannte Parallelen nebeneinander herlaufen. In einem 1967 vor Architekten gehaltenen Vortrag beschreibt Foucault die Besetzung des (semantisch ausgelegten wirklichen) Raumes mit je individuellen Geflechten von Erfahrungen und Zielsetzungen, die die Plazierung eines Individuums definieren. Wir leben nicht in einer Leere, innerhalb derer man Individuen und Dinge einfach situieren kann. Wir leben nicht in einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird. Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.55 53 54 55

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Michel Foucault: Archäologie des Wissens. A.a.O., S. 259f. Ebd.S.259f. Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990. S. 34-46. Hier: S. 38.

Es gehört mit zu der Brillanz, aber auch den Herausforderungen des Foucaultschen Denkens, daß die indizierte Größe Diskurs von beiden Seiten der Grenzziehungen betrachtet, d.h. nicht nur positiv als hintergründige Reglementierung eines System beschrieben wird (wie etwa die Prä-Formation oder das Paradigma), sondern gleichzeitig auch negativ als Ausschließungsmechanismus, der sich über sein 'Anderes' nicht minder de-fmiert. Habermas rekapituliert, daß erst das, "was aus dem jeweiligen Diskurs ausgegrenzt wird, [...] die spezifischen, aber innerhalb des Diskurses allgemeingültigen, d.h. alternativlosen Subjekt-Objekt-Beziehungen möglich"56 macht. Schon in "Wahnsinn und Gesellschaft' argumentiert Foucault so, daß sich im Rationalitätsdiskurs des 18. Jahrhunderts das Phänomen der 'Vernunft' nur habe herauskristallisieren lassen über eine begleitende Herausbildung und Ausgrenzung ihres Widerparts: des "Wahnsinns1. Die Erkenntnis des Wahnsinns setzt bei demjenigen, der sie besitzt, eine bestimmte Art voraus, sich vom Wahnsinn freizumachen, sich von vornherein von seinen Gefahren und seinem Zauber zu lösen [...]. Ursprünglich liegt darin die Fixierung einer besonderen Art, nicht wahnsinnig zu sein: ein bestimmtes Bewußtsein des Nicht-Wahnsinns, das für den Gegenstand der Gelehrsamkeit zur konkreten Situation, zur soliden Basis wird, von der ausgehend es möglich ist, den Wahnsinn zu erkennen.57 Bekräftigt und zu einer generellen Merkmalbestimmung wird diese binäre DeFinition des Diskurses dann in Foucaults Antrittsvorlesung am College de France. Dort heißt es programmatisch: Gewiß, auf der Ebene eines Urteils innerhalb eines Diskurses ist die Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen weder willkürlich noch veränderbar, weder institutionell noch gewaltsam. Begibt man sich aber auf eine andere Ebene, stellt man die Frage nach jenem Willen zur Wahrheit, der seit Jahrhunderten unsere Diskurse durchdringt, oder fragt man allgemeiner, welche Grenzziehung unseren Willen zum Wissen bestimmt, so wird man vielleicht ein Ausschließungssystem (ein historisches, veränderbares, institutionell zwingendes System) sich abzeichnen sehen.58 In dieser Vorlesung spricht er von "den Regeln einer diskursiven 'Polizei', die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß." Deren Ordnungsprogramm hilft, den "Raum eines wilden Außen"59 vom regulierten Gebiet des Wissens zu scheiden.60 Aussagen werden mit Hilfe dieses Differenzierungspotentials 56 57 58 59 60

Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 296. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. (1961) Frankfurt 1969. S. 479f. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. A.a.O., S.U. Ebd. S. 25 [alle Stellen]. "Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unbe37

des Diskurses ins 'Wahre' gehoben: es ist das Konstitutionskriterium der Wahrheit und Instanz ihrer Zusprechung. Innerhalb ihrer Grenzen kennt jede Disziplin wahre und falsche Sätze, aber jenseits ihrer Grenzen läßt sie eine ganze Teratologie des Wissens wuchern. Das Äußere einer Wissenschaft ist sowohl mehr bevölkert als auch weniger bevölkert, als man glaubt: es gibt dort die unmittelbare Erfahrung, die imaginären Themen der Einbildungskraft, die unvordenkliche Überzeugungen tragen und wieder erneuern; aber vielleicht gibt es keine Irrtümer im strengen Sinn, denn der Irrtum kann nur innerhalb einer definierten Praxis auftauchen und entschieden werden. [...] Ein Satz muß also komplexen und schwierigen Erfordernissen entsprechen, um der Gesamtheit einer Disziplin angehören zu können. Bevor er als wahr oder falsch bezeichnet werden kann, muß er [...] 'im Wahren' sein.61 Damit ist eine Facette des Diskurs-Denkens angedeutet, der Foucault große Bedeutung beigemessen hat: der Diskurs als Gesamtraum der beiden dialektisch aufeinander bezogenen Hemisphären des Innen und Außen, des Wahren und Falschen, die das Feld des Wissens in zwei konsumtive Hälften aufteilen, birgt in seinem Zentrum einen pulsierenden Willen (zur Wahrheit, zum Wissen),62 hinter dem Foucault dann weiter den sich historisch durchhaltenden 'Willen zur Macht1 (Nietzschescher Provenienz) decouvriert hat. Der Diskurs mag dem Anschein nach fast ein Nichts sein [...] Er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht.63 Die historische Relativität und Abfolge der Ordnungen, die diversen Diskurspraktiken und Transformationen der Zuschreibung von Wahrheit bringen Foucault dazu, generell als Macht den effizienten, sich in allen DiskursVariationen als identischen durchhaltenden Wirkmechanismus zu bezeichnen. Die Macht muß als etwas analysiert werden, das zirkuliert [...]. Sie ist niemals hier oder dort lokalisiert, niemals in den Händen einiger weniger, sie wird niemals wie ein Gut oder Reichtum angeeignet. [...] Und die Individuen [...] sind niemals die unbewegliche und bewußte Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente. Mit anderen Worten: die Macht wird nicht nur auf Individuen angewandt, sie geht durch sie hindurch.6*

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rechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen." Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Ebd. S. 7. Ebd.S.23f. "Der Wille zur Wahrheit stützt sich [...] auf eine institutionelle Basis: er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken [Pädagogik, System der Bücher, Verlage, Bibliotheken, Laboratorien]. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird." Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Ebd. S. 13. Ebd. S. 8. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978. S. 82.

Die als Diskurs-Wahrheit sich behauptende Macht kaschiert allerdings ihre treibende Kraft und ihr getriebenes Wesen: "Es ist", so vermutet Foucault, "als würden der Wille zur Wahrheit und seine Wendungen für uns gerade von der Wahrheit und ihrem notwendigen Ablauf verdeckt. [...] Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern."65 Macht ist dem Foucaultschen Denken das selbsttätig organisierende Prinzip des Diskurses. Der Machtbegriff Foucaults ist daher - wie Habermas feststellt - "subjektlos".66 Wir sind der Produktion der Wahrheit durch die Macht unterworfen und können die Macht nur über die Produktion der Wahrheit ausüben. [...] Wir müssen die Wahrheit sagen.67 Habermas beschreibt diese historisch variable Identifizierung von Wissen und Wahrheit unter den Auspizien des Phänomens Macht in summa als Auffächerung eines einzigen a-teleologischen Machtkomplexes. Foucault entdifferenziere "den Willen zum Wissen zu einem Willen zur Macht, welcher allen Diskursen, keineswegs nur den auf Wahrheit spezialisierten, auf ähnliche Weise innewohnen soll wie den Humanwissenschaften der spezifische Selbstbemächtigungswille der neuzeitlichen Subjektivität."68 Macht wird damit zum besitzanzeigenden Substantiv, Brandzeichen des Diskurses eher als Synonym für Herrschaft. Insofern ist die Geschichte der Diskursereignisse, die als das je verwirklichte "Wie der Macht"69 im historischen Feld aufscheinen, die Geschichte der Metamorphosen von Macht, die der Genealoge stoisch als Abfolge "an sich selbst sinnloser Strukturen"70 notiert. Foucault[s] Botschaft vom immer gleichen Machtzyklus der immer neuen Diskurs-Formationen, so schreibt Habermas, muß den letzten Funken von Utopie und von Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst ersticken.71 Tatsächlich wird jetzt ja eine Geschichte des 'Rauschens des Diskurses' zu schreiben sein. An die Stelle des geschichtlichen "System[s] homogener Be65 66 67 68 69 70 71

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. A.a.O., S. 14f. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 323. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A.aO., S. 76 [Hervorhebung Foucault]. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 317 [Hervorhebung Habermas]. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A.aO., S. 75 [Hervorhebung Foucault]. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 323. Jürgen Habermas: Die Krise des Wohlfahrtstaates und die Erschöpfung utopischer Energie. In: ders.: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt 1985. S. 141ff. Hier: S. 144. 39

Ziehungen", das mit "Stadien und Phasen [operiert], die in sich selbst ihr Kohärenzprinzip enthalten",72 setzt Foucault sein Modell der historio-konstruktiven Bewahrung von Ungleichzeitigkeiten. Insofern wird, wie Habermas ausführt "der Raum der Geschichte [...] fugenlos ausgefüllt von dem schlechthin kontingenten Geschehen des ungeordneten Aufblitzens und Vergehens neuer Diskursformationen; in dieser chaotischen Mannigfaltigkeit vergänglicher Diskursuniversen bleibt für irgendeinen übergreifenden Sinn kein Platz mehr."73

Das letzte Kapitel der Subjektgeschichte oder das erste des Individuums Einen besonderen Typ diskursiver Ordnung hat Foucault in der Geschichte entdeckt, "die die Menschen von ihren eigenen Ideen und ihren eigenen Kenntnissen zeichnen".74 In der Geschichte des Wissens erkennt Foucault das unverborgene Abbild des sich selbst darin zentrierenden Subjekts: Die Gewißheit, daß die Zeit nichts auflösen wird, ohne es in einer erneut rekomponierten Einheit wiederherzustellen; das Versprechen, daß alle [...] Dinge eines Tages in der Form des historischen Bewußtseins vom Subjekt erneut angeeignet werden können und dieses [...] darin das finden kann, was man durchaus eine Bleibe nennen könnte.75 Dieses 'transzendentale Obdach1 wird von Foucault gesprengt und seine Fraktale werden zu diskontinuierlichen Ereignisfolgen in einen historischen Gesamt-Raum Wissen' gestreut, um "eine Dezentralisierung vorzunehmen, die keinem Zentrum ein Privileg zugesteht, [...] [die] nicht [mehr dem] Sammeln des Ursprünglichen oder [der] Erinnerung der Wahrheit"76 dienen will. Man muß sich vom konstituierenden Subjekt befreien, [...] d. h. zu einer Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag. [...] Eine Form von Geschichte [ist zu finden], die von der Konstitution von Wissen, vom Diskurs, von Gegenstandsfeldem berichtet, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt.77 Die Rolle des autonomen, geschichtsmächtigen Subjekts wird von Foucault entlarvt als Sekundäreffekt der eigendynamischen Ordnung des Diskurses, die jenes erst herstellt und ihm erlaubt, in historisch spezifischer Weise zu 72 73 74 75 76

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Michel Foucault: Archäologie des Wissens. A.a.O., S. 19. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 297 [Hervorhebung Habennas]. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. A.a.O., S. 22. Ebd. S. 23. Ebd. S. 293. Michel Foucault: Dispositive der Macht. A.a.O., S. 32.

(inter-)agieten. "Wenn das Subjekt", so Manfred Frank, " ein Bewußtsein von sich hat, so wird es also vor allem das Bewußtsein einer schlechthinnigen Abhängigkeit sein."78 Foucault erklärt das sich selbst identische Subjekt zu einer historisch relativen Ausformung, "eine einfache[n] Falte in unserem Wissen, [die] verschwinden wird, sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird."79 Die anthropozentrierte Weltdeutung ist radikal aufgegeben zugunsten eines Denkens "in der Leere des verschwundenen Menschen",80 das davon absieht, "alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des Menschen selbst zurückzuführen", weil es aufgehört hat "zu denken, daß es der Mensch ist der denkt."81 "Foucaults Denken", so resümiert Renner, "ist explizit anti-anthropomorph".82 Peter Bürger sieht darin eine polemische Überlagerung der historischen Arbeiten Foucaults, die neben der Geschichtsaufdeckung ihre zweite Wirkungsabsicht als eine Kritik offenbare, die sich auf das moderne Denken nebtet Dieses sei, so lautet die These Foucaults, an einem Begriff des Menschen festgemacht-, der es in eine Reihe von Aporien hineintreibe. Die gravierendste dieser Aporien betrifft die Verdopplung des Menschen in ein empirisches Wesen, das Teil der Welt ist, und ein transzendentales, das sich der Welt als ganzes gegenüberstellt. Als empirisches Wesen ist der Mensch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, als transzendentales ist er Garant und Geltungsgrund der Erkenntnis. [...] Eine Kultur, [...] die auf der Selbstthematisierung des Menschen beruht, muß sich in der endlosen Wiederholung einer dilemmatiscben Struktur erschöpfen.83 Diese Radikalität des reinen Denkens vor der klaffenden Lücke des Verschwundenen Menschen' ist jedoch in Foucaults Spätschriften, wenn nicht gänzlich aufgegeben, so doch zumindest relativiert. So formuliert Foucault retrospektiv das Ziel seines Arbeitens ausdrücklich: Mein Ziel war es [...], eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu schreiben, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden.84 Das Subjekt ist ein historischer Effekt des Wirkens der Diskurse am individuellen Menschen. Die historistische Perspektive Foucaults richtet sich also auf 78 79 80 81

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Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? A.a.O., S. 123 . Michel Foucault: Ordnung der Dinge. A.a.O., S. 27. Ebd. S. 412. Ebd. Rolf Günter Renner Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne. Freiburg 1988. S. 218. Peter Bürger: Die Wiederkehr der Analogie. Ästhetik als Fluchtpunkt in Foucaults Ordnung der Dinge'. In: ders., Christa Bürger (Hg.): Alltag, Allegorie und Avantgarde. Frankfurt 1987. S. 114-121. Hier: S. 115. Michel Foucault: Warum ich Macht untersuche. Die Frage des Subjekts. In: Freibeuter 28 (1986): Gewalt - Monopol und Einzelhandel. S. 103-110. Hier: S. 103. 41

die Organisationsformen der Gegenwart, in der er historisch gegründete Realisationen der Diskursmacht entdeckt. Auch Foucault ist - im Popperschen Sinne - an Geschichte interessiert. Er erkennt im Subjekt das unterdrückte, strukturell matrizierte Individuelle, dem er die wahrhaft historische Aufgabe seiner Befreiung zum Individuum anheim legt. Sie besteht allererst darin, "die Formen des Widerstands gegenüber den verschiedenen Machttypen zum Ausgangspunkt zu machen. Und [...] [sie] besteht darin, diesen Widerstand als chemischen Katalysator zu gebrauchen, mit dessen Hilfe man die Machtverhältnisse ans Licht bringt, ihre Positionen ausmacht und ihre Ansatzpunkte und Verfahrensweisen herausbekommt."85 Es resultiert - gegen Descartes - eine am Kantischen Vordenken geschulte Ethik, die auf der generellen Zustimmung zur historischen Bedingtheit der condition humaine basiert und daraus ihr Hoffnungspotential abzuleiten imstande ist. Als Kant 1784 fragte: "Was ist Aufklärung?1, da meinte er: Was geht gerade vor sich? Was geschieht mit uns? Was ist das für eine Zeit, ein Moment, in dem wir leben? Oder mit anderen Worten: Was sind wir? Was sind wir als Aufklärer, als Teil der Aufklärungsbewegung? Vergleichen wir das mit der cartesischen Frage: "Wer bin ich?' Ich als einmaliges, doch universales und unhistorisches Subjekt? Wer bin ich - 'ich' ist für Descartes jeder, überall und zu jeder Zeit. Kant hingegen fragt etwas anderes: Was sind wir in diesem präzisen Moment der Geschichte? Kants Frage zielt analytisch zugleich auf uns und unsere Gegenwart. Dieser Blickwinkel der Philosophie ist, so denke ich, zunehmend wichtiger geworden.86 An der von Foucault aufgezeigten Abrißstelle des ent-deckten Subjekts muß sich folglich auch die Einheit der Menschheitsgeschichte befinden, die als teleologisch ausgerichtete Historic vorgestellt ist: sie wird von ihm stattdessen genealogisch gedacht in Kategorien der Transformation, Diskontinuität und ereignishafter Kontingenz. So bieten sich dem Diskurs-Historiker Zeitformationen als historische "Tableaus"87 dar oder 'Serien von Serien': es sind Ensembles historoider Polaroids, die als Momentaufnahmen das Diskurspanorama einer Epoche entwerfen. Historoid werden diese Fundsachen hier genannt, weil damit ein Paradox der Foucaultschen Anstrengungen bezeichnet werden soll, das in keinem wissenschaftsgängigen Begriff zu fassen ist. Foucault macht so ausdrücklich und konsequent ernst mit seiner Verneinung des geschichtsträchtigen Subjekts und dessen Identifikation als Funktion einer vorgängigen Ordnung, daß sich automatisch die Frage einstellen muß, für wen [von wem fragen wir erst gar nicht] Geschichte dann geschrieben wird. Das Paradox also lautet: wie kann Foucault einerseits gründlich jede histori85 86

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Ebd. S. 105. Ebd. S. 110. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. A.a.O., S. 20.

sehe Sinnhaftigkeit negieren, während seine Diskursanalyse andererseits so viel von diesem Sinn macht für eben jene Instanz, deren Auflösung "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand."88 ja theoretisch bereits gelungen schien. Die Ordnung der Dinge' weist sich ja doch aus als eine Form der Geschichtschreibung für Subjekte, die sie theoretisch so gar nicht mehr sein kann - und will! Der Rückkopplungsstratege Habermas - nichts anderes als Rückkopplung legt dieses Paradox frei - hat bereits spöttisch unter dem Stichwort des 'Abschieds von der Hermeneutik' auf diese Implikate aufmerksam gemacht: Die henneneutische Anstrengung zielt auf die Aneignung von Sinn, wittert in jedem Dokument eine zum Schweigen gebrachte Stimme, die wieder zum Leben erweckt werden soll. Diese Idee des sinnträchtigen Dokumentes muß ebenso radikal in Frage gestellt werden wie das Geschäft des Interpretierens selber. Denn [...] dies alles sind Werkzeuge einer unzulässigen Komplexitätsreduktion, sind Verfahren der Eindämmung des spontanen Überquillens von Diskursen, die der nachgeborene Interpret lediglich auf sich selbst zuschneiden, seinem provinziellen Verstehenshorizont gefügig machen will. Der Archäologe wird hingegen die gesprächigen Dokumente in stumme Monumente zunickverwandeln [...]. Der Genealoge tritt von außen an die archäologisch ausgegrabenen Monumente heran, um ihre Herkunft aus dem kontingenten Auf und Ab von Kämpfen, Siegen und Niederlagen zu erklären. Erst der Historiker, der alles, was sich dem Sinnverstehen erschließt, souverän verachtet, kann die Stifterfunktion des erkennenden Subjekts unterlaufen.89

Foucaults Arbeit selbst gilt ihm andererseits als "geniale Untersuchung",90 was ja heißen muß, daß sie einigen Sinn in der Geschichte vorgefunden und sinnvoll artikuliert haben muß. Das, was Foucault radikal konstatiert, könnte sich daher als etwas entpuppen, das in erster Linie gegen Positionen des Geschichtverständnisses in der Gegenwart rebellieren möchte. Das Subjekt der Gegenwart, das als erbbedingte Diskurslüge enttarnt wird, zum Individuum der Zukunft zu befreien, gelingt demnach auch Foucault nur über eine historische Anamnese, die weiterhin an den Adressaten gerichtet bleibt, den sie bereits als einen Sekundäreffekt entlarvt hat. Darum ist Foucaults Arbeit trotz einer vehement vorgetragenen Ablehnung jeglichen subjektzentrierten Geschichtsoptimismus1 gebettet in einen zutiefst metaphysischen Glauben an die Selbstheilungskräfte der Erkenntnis des Individuums durch historisch fundierte Aufklärung. Auch Foucault 'muß1 also die 'Wahrheit sagen'. Letztlich stimmt auch Habermas dieser inhärenten Gegenwartsperspektive des Foucaultschen Denkens zu, wenn er feststellt: Foucault will mit der Privilegierung einer Gegenwart brechen, die unter dem Problemdruck der verantwortlich übernommenen Zukunft ausgezeichnet ist und auf die die Vergangen88 89 90

Michel Foucault: Ordnung der Dinge. A.a.O., S. 462. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 294. Ebd. S. 303.

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beit narzißtisch bezogen wird. [...] Deshalb soll die Genealogie nicht nach einem Ursprung fahnden, sondern die Kontingenten Anfange der Diskursformationen aufdecken, die Vielfalt der faktischen Herkunftsgeschichten analysieren und den Schein von Identität, erst recht die vermeintliche Identität des geschichtsschreibenden Subjekts selber und die seiner Zeitgenossen auflösen.91 Foucault bricht damit aus der hier eröffneten Reihe der 'subjektiven WissensApologeten1, die dem Wissen eine historisch relevante Potenz für die Zukunft des Subjektes zusprechen wollen, eindeutig aus. Er wird angeführt, weil es der Diskursanalyse nicht nur gelingt, den Bedeutungshintergrund noch der Wissenschaften auszuleuchten, sondern auch eine Haltung einzunehmen, mit der ein "philosophisches Ethos [be- und gegründet wird, B.G.], das als permanente Kritik unseres historischen Seins beschrieben werden könnte."92 Demnach operiert diese Kritik eher als historische Untersuchung der Ereignisse, die uns dazu geführt haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen zu konstituieren und anzuerkennen. In diesem Sinne ist die Kritik nicht transzendental, und ihr Ziel ist nicht die Ermöglichung einer Metaphysik: [...] sie wird in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit auffinden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.93 Daß die Erkenntnis zur machtgespannten Fessel von Individuum und Objekt wird, daß das Reden über die Dinge das Aneignen der Sachen durch den Diskurs ist, muß als eine Essenz der Foucaultschen Philosophie bezeichnet werden, deren Konsequenzen in dieser Arbeit in der Diskussion um den ModerneDiskurs in Geschichte und Kunst erörtert werden sollen. Die Suche nach einer Matrix des Denkens, die das wissenschaftliche Interesse leitet, die jegliche Information präformiert, hat diese Arbeit zum Grund für Bedeutung, dem Diskurs geführt. Ab jetzt verdanken Kunst und Künstler ihr Wirkenkönnen nicht genialischer Urhebung, sondern einem diskursiven Passierschein, der Formen zur Kunst vorab legitimiert. Wilson besetzt eine Funktion innerhalb eines Diskurses, dessen eigener historischer Werdegang ein Wilson-Phänomen rechtfertigt. Ein diskursanalytischer Zugang wird darum nicht etwa nach einer Künstlerbiographie oder dem kolossalen Gesamt eines Werkes fragen, sondern vielmehr nach deren diskursiver Unumgänglichkeit für Kunst und Epoche. Wilson und seine Kunst sind demnach eher Indizien für die Verfassung rezenter Kultur als Kunst per se. Das, was dieses Theater zweifellos positiv offeriert, ist demnach zuerst nicht in seiner persönlich-künstlerischen Absicht, sondern in seiner epochal-kunsthistorischen Notwendigkeit zu 91

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Ebd. S. 293. Michel Foucault: Was ist Aufklärung. In: Eva Erdmann, Rainer Forst, Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Frankfurt/New York. 1990. S. 35-54. Hier: S. 45. Ebd. S. 49.

rekonstruieren. Also nicht: 'Was will dieses Theater und wie ist es um seine eigene Geschichte bestellt?', sondern: "Warum jetzt ein Theater des gespaltenen Wirklichkeitsausschnitts, des split panel!' Wilson wird damit zu einem Effekt, einer Wirkung, dessen Ursachen außerhalb seines Theaters liegen. Damit sind auch der Sinn, den diese Kunst macht, und das 'Wie' ihres Erscheinens zuerst nicht in ihr selbst zu finden. Obwohl die Diskursanalyse Kunst und Künstler nur als Niederschlag auf der kalten Scheibe des Diskurses anzuerkennen bereit ist, gelten die Sympathien dennoch Foucault, dem klaren Kritiker der Aufklärung; nicht nur, weil seine Analyse den Horizont einer Struktur erkennenden Historic des Wissens übersteigt. Vor allem, weil sich der Untersuchende selbst als nüchterner Betrachter und als deren Teil in die Welt, die er beschreibt, einreiht. Und das gerade aus Respekt vor seinem eigenen geschichtlichen Gewordensein und dem Wissen von seiner eigenen dilemmatischen Schwellenposition innerhalb der Diskurse, die er entlarvt. Das Manko, das Habermas Foucault anlastet, nämlich in seinem Gegendiskurs "nichts als die Machtwirkungen, die sie auslösen",94 zu sein und so perpetuierend zu verfestigen, ist in Wirklichkeit die geheime, an Nietzsche geschulte Stärke der Diskursanalyse, die bereit ist, den utopischen Glauben ursprünglicher, unvernetzter Rede fallenzulassen und sehr 'erwachsen' von den Dingen zu sprechen, die auch sie hervorgebracht haben. Die Historiker suchen [...] alles zu verwischen, was in ihrem Wesen den On verraten könnte, von dem aus sie blicken, den Zeitpunkt, an dem sie sich befinden, die Partei, die sie ergreifen, und die Unvermeidlichkeit ihrer Leidenschaften. Der historische Sinn, wie Nietzsche ihn versteht, weiß, daß er perspektivisch ist. [...] Er [...] ist entschlossen [...], allen Spuren des Giftes zu folgen, das beste Gegengift zu finden.95 Mit Dreyfus und Rabinow, die allerdings den Willen zur Wahrheit der auch Foucaults Werk durchzieht, unterschätzen, ist daher Foucault zu charakterisieren als jemand, der den Beruf des Intellektuellen [versteht] als einen, der die spezifischen Formen und Beziehungen identifiziert, die Wahrheit und Macht in unserer Geschichte eingenommen haben. Es ist nie seine Absicht gewesen, Macht per se zu verurteilen noch die Wahrheit darzulegen, aber seine Analyse zu benutzen, um Licht auf die spezifischen Gefahren zu werfen, die jeder spezifische Typ von Macht/Wissen produziert.96

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Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 330. Michel Foucault: Friedrich Nietzsche, die Genealogie, die Historic. (1974, S. 101). Zit. nach: Jürgen Habermas: Ebd. S. 330f. Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow: Was ist Mündigkeit? Habermas und Foucault über Was ist Aufklärung1. In: Eva Erdmann, et al. (Hg.): Ethos der Moderne. A.a.O., S. 63.

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III. Moderne und Postmoderne Der Diskurs der Zeit und der Diskurs des Raumes Und alle unsere Gestern führten Narren Shakespeare, Macbeth - "Wie lange habe ich geschlafen?' - '500 Kilometer.1 Wim Wenders, Bis ans Ende der Welt

Double House Von der New Yorker Künstlerin Jennifer Bartlett stammt ein pictoral-skulpturales Arrangement, 'Double House' von 1987, das nicht gedacht werden kann. Auf einer ca. 3x4m großen Leinwand ist das photorealistische Öl-Gemälde einer weißen, fensterlosen Holzhütte zu sehen, die sich in unmittelbarer Nähe des Betrachters befindet. Man sieht sie von ihrer Längsseite. Es muß Sommer sein, drückend-schwüle Hitze. Die Hütte, vielleicht ein Holzhaus für Kinder, befindet sich in einem englisch angelegten Garten im Schatten eines Baumes, dessen Geäst-Konturen sich auf Dach und Wände zeichnen. Das Haus weist auf dem Dach merkwürdige, uneinheitlich sortierte Holzschindeln von unterschiedlicher Größe und disparater Anordnung auf. Die Schindeln sind in demselben, blendenden Weiß der Hütte gehalten. Es hat den Anschein, als gäben Einfräsungen in eine massive Holzplatte die Schindel-Struktur des Daches nur vor. Im Gegensatz dazu wird die darunterliegende Wand von einheitlich schmalen, jalousie-artig horizontal gezogenen Holz-Paneelen gebildet. Dieses Haus steht noch nicht lange im Freien. Es ist nahezu unbefleckt, nirgendwo verwittert oder beschädigt. Kein Blatt und kein Ast ist jemals auf dieses Dach gefallen: unerträglich neu steht es zur Mittagszeit im menschenleeren, bedrängend ruhigen, Gewitter ahnenden Park. Aber etwas stimmt nicht. Durch die Mitte des Bildes verläuft eine vertikale Bruchkante. Sie wird erkennbar zuerst an dem unvermittelten Farbsprung, den das Hintergrundgrün der Parklandschaft aufweist. Es werden bei genauem Hinsehen sogar zwei Bildhälften in diesem Gemälde deutlich, die jede für sich ein unterschiedliches Tages-Licht, also eine unterschiedliche Tageszeit wiedergeben. Ja, die rechte Hälfte scheint dem drohenden Gewitter näher, die Farben sind ins Dunkle gebrochen, das Grün der Bäume und Sträucher, das Blau des Himmels sind um Nuancen satter, intensiver, weniger lichtdurchflutet, gleißend als auf der linken Seite. Die BaunvSchatten fallen dort schwerer auf Dach und Wand.

Und dieses Haus, das den Bild-Vordergrund so dominant behauptet, ist überhaupt nicht ein Haus - jedenfalls kein einheitliches Gebäude. Tatsächlich bricht an der Mittelkante des Bildes auch die Perspektive des Malers/Betrachters, der für die Sicht der rechten Hälfte einen wesentlich höheren Standort - vielleicht auf dem untersten Ast des schattenspendenden Baumes eingenommen haben muß als für die linke. Die rechte Hälfte gibt mehr Blick auf den Park frei als die linke; man kann hier besser über das Dach des Hauses hinwegschauen. Das Haus ist also auf dieser Bildseite "kleiner1. Folglich stoßen die Linien des Giebels und der Aufsichtwandstruktur der beiden Haushälften an der Bildmitten-Kante nicht bruchlos, sich einander 'nahtlos' fortsetzend zusammen, sondern wie die zwei Hälften eines Fotos, die man leicht übereinander versetzt aneinanderlegt. Und jetzt erst erkennt man, das dieses Bild gar nicht auf einer Leinwandbahn gemalt wurde, sondern auf zwei gleichformatigen Bahnen, die abstandslos nebeneinander gehängt wurden. Demnach haben wir es hier mit zwei Bildern zu tun, die ein und dasselbe Haus zu zwei verschiedenen Tageszeiten aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln wiedergeben. Warum haben wir das nicht gleich gemerkt? Weil vor den Leinwänden genau dieses unmögliche Haus als dreidimensional verwirklichter Holzkörper steht: in demselben Format, derselben Unberührtheit, derselben, vielleicht sogar noch einmal neu übertünchten weißen Farbe und derselben 'Bruchkante1, die seine Mitte durchtrennt und 'links' eine 'größere', 'höhere' Hälfte entstehen läßt als rechts. Insofern also 'porträtieren' die beiden Bahnen im Moment ihrer Zusammenlegung das Holzgebilde, das sich im Museumsraum befindet. Diesem Un-Ding wird also auf diese Weise eine unwirkliche Geschichte zugesprochen: es muß einmal in einem sommerlaunigen Park gestanden haben, den man nur in der Einheit von zwei unterschiedlichen Zeiten wiederzugeben in der Lage bereit scheint. Nein, es wird einmal in diesem Park stehen. Die Leinwände weisen auf den künftigen Ort des Hauses außerhalb des Museums. Ist es also nach dem Parkaufenthalt neu gestrichen worden oder zeigt das Gemälde dieses Haus in einer Zukunft, die es als einen der Verwitterung anheimgegebenen Schuppen in einem Garten vorsieht? Kam es vom Garten ins Museum oder kommt es vom Museum in diesen Garten? Nichts von alledem, denn das 'Museumshaus' porträtiert dieses Un-Gebilde, das entsteht, wenn zwei Momentaufnahmen einer intakten Hütte collagenhaft aneinandergelegt werden. Insofern also trägt das 'reale' Holzhaus die Signatur zweier Zeit-Zustände eines imaginären Holzhauses, das nie als ganzes in der Einheit von Ort und Zeit zu sehen ist (gezeigt wird), sondern nur in der Weise des sukzessiven Verfolgens seiner Bruchstücke. Indiziert wird es als das selbst konstant sich Haltende in zwei Stadien eines Gewitteraufzugs. Gelingt also 47

diesem so ruhigen, in seiner Solidität entspannten Gebilde im Museum die Fusion von zwei Zeiten seiner selbst? Natürlich ist auch das der pure Humbug: denn wir haben es hier mit zwei, genauer gesagt sogar drei unabhängigen Werkteilen zu tun, die unter der Flagge eines Titels nichts anderes wollen als den Übertritt aus der Zweidimensionalität des Bildes/der Bilder in die Dreidimensionalität des wirklichen Raumes. Es findet mithin die Exploration des Raumes durch ein Werk statt, das man als Gemäldeplastik bezeichnen könnte. Das 'Bild-Monument' wird so unmittelbar objekthafter Bestandteil der Wirklichkeit des Betrachters, die dadurch über die Schwelle des im Museum verwirklichten Hauses in die gespenstische Nicht-Wirklichkeit des Bildes hineingezogen wird - und vice versa. Eine Erlebnisskulptur also. Selbst das stimmt nicht. Denn alle drei Teile haben nichts miteinander zu tun. Wir sind der Macht der Autorfunktion (Foucault) und dem ein Ganzes suggerierenden Titel aufgesessen, die uns dazu verleiten, ein Werk anzunehmen. Wir wenden nur deshalb die Regeln und Selbstverständlichkeiten des Kunstdiskurses der Moderne sogar auf die schiere Unmöglichkeit hin an, die uns im Gewand dreidimensionaler und photorealistischer Verballhornungen der Zeit daherkommt. Alles stimmt und nichts. "Da man sich vor einem Bild befindet und zugleich in einer Skulptur bewegt, überschneiden sich die Wahmehmungsebenen."1 Die Lokalisierversuche, zu denen uns dieses Werk auffordert, werfen uns darum immer nur auf uns selbst zurück. Unsere Überlegungen führen zu keinem Ziel. Raumbefangen kleben wir am Anfang und kommen nicht weiter. Permanenter Beginn. Wir sind gezwungen, uns dem Fortgang der Zeit zu entheben. Und dieses Werk, das es augenscheinlich so nicht gibt, läuft beständig vor uns weg. Lachen wir also mit Jennifer Bartlett über einen gelungenen Kunstscherz, der uns über das Ende von Werk, das Ende von Zeit hinwegtröstet. Willkommen in der Postmoderne. Jennifer Bartletts Double House, das schon Titel das Verwirrspiel um seine Identität signalisiert (wir sehen es dann gleich viermal), ist charakterisiert durch die Verweigerung einer eindeutigen Abbildungsebene von Zeit und Raum. Raumaspekte des Gegenstands - in semi-kubistischer Darbietung seiner Flächen - und dessen Zeitaspekte - im epischen Aufruf seiner Historizität werden simultan geboten. Das Kunstwerk verfügt frei über seine eigenen Zeitkoordinanten und schafft seinen eigenen Raum. Das, was diese Hervorbringung auslöst, das Spiel mit den Koordinierungs- und Orientierungskapazitäten der Rezeption, ein Spiel mit dem Wissen, muß als signifikant für das postmoderne Kunstverfahren bezeichnet werden, das hier cognitive map1

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Annette Kampka im Begleittext zur Münchener Ausstellung 'Sieben amerikanische Künstler' vom April/Mai 1991 im 'Haus der Kunst'.

ping genannt wird. Im cognitive mapping verlagert sich die Kunst vom Werk in die Rezeption. Die ästhetische Hervorbringung der Postmoderne, die das Werk der Moderne ablöst, ist Material zur Kunst. Es ist eine Raumästhetik, die sich auf das kognitive Selbst-Ortungsvermögen des Betrachters erstreckt. Sie entblößt ihre Objektive', homogene, synchrone Ent-gegenständlichkeit zugunsten der inszenierten Behauptung heterogener, diachroner Gegenstandsmomente, die subjektiv 'erlebt1 werden können und die alle das 'Werk' ausmachen und aufbauen. Die rezipientenspezifische 'Ortszeit1 der postmodernen Kunst, die Rotationen des Denkens um ihre als Kippfiguren angelegten Nicht-Werke auslöst, soll nunc starts genannt werden. Hinter dem Plural von Deutungsmöglichkeiten, die das Kunstprodukt darin simultan offeriert und den Betrachter damit so allein läßt, daß er selbst sich im Moment seiner Irritation zum Thema [des Werks!] wird, erkennt diese Arbeit die Thematisierung des Aktes des Verweisens', die ihr als verbindendes Charakteristikum postmoderner Kunstproduktion gilt. Fredric Jameson hat dieser Kunstintention, die dem Wahrnehmenden nicht nur die Re-Konstruktion des Werks, damit seine Realität und Sinn-Konstitution in der Wahrnehmung überantwortet, sondern ihn sich selbst auch als den eigentlichen 'Produzenten des Kunstwerks' reflektieren läßt, die Kompetenz für eine 'spatialization' der Erfahrung zugesprochen: On the occasion of what first seems to be an encounter with a work of an of some kind, the categories of the mind itself - normally not conscious, and inaccessible to any direct representation [...] - are flexed [...]: perceptual paradoxes that we cannot think or unravel by way of conscious abstractions, and which bring us up short against the visual occasions. [...] We must understand that this can never become visible as objects in their own right, and that at every stage of the viewing process all we have are material occasions for it, in the form of what used to be thought as 'works of art'. This is the scene in which the conceptual operation spatializes, since it teaches us over and over again that the spatial field is the only element in which we move and the only certainty of an experience.2

Raum als Letztinstanz sicherer Erfahrung substituiert weltdeckende Wirklichkeit. Mit dem letzten Substantiv ist der Begriff gefallen, den diese Arbeit in seiner Wendung als der absolute Seinsgrund ja zu schleifen beabsichtigt. Aufgehoben werden soll die Objektive Wirklichkeit1 zugunsten einer der Erkenntnis im dialektischen Prozeß der In-Formation zugänglichen (Prä-)Formation der Welt. Wirklichkeit gerät so in den Sog der Geschichte, sie verliert ihre Unantastbarkeit als Subjekt-unabhängiger, immerwährender Grund und erscheint als angenommenes (Denk-)Modell, dessen Konstrukteur allerdings Fredric Jameson: Postmodernism and Utopia. In: Utopia post Utopia. Configurations of Nature and Culture in Recent Sculpture and Photography. Boston 1988 S. 11-35. Hier: S. 15. 49

nicht je ein einzelnes, sozusagen 'freies' Bewußtsein ist, sondern die geschichtlich gewachsene Redekraft des Diskurses. Wirklichkeit - auch die der Kunst! wird so ersetzt von historisch variierender Perspektive oder jeweiligem Erkenntnisimpuls, dessen Austragungsort erkennende Subjekte sind. Erkannt werden nur die Dinge, die der Diskurs zu wissen ermöglicht. Nichts ist, was nicht diskursiv vermittelt wäre. Die Antwort auf das Rätsel der Sphinx bleibt immer dieselbe. Es gibt nur uns. Zwei signifikante Wechsel in der diskursiven Formation sollen beleuchtet werden: Der moderne Diskurs der Zeit bricht in den postmodernen des Raumes. Der Epochentrabant Kunst schleift die Festung des modernen 'Werks1, um zu Denken selbst zu werden. Der methodische Vorlauf dieser Arbeit insistiert auf einer Zugangs-Perspektive, die hinter der Morphologie der Kunst-Artikulationen das je Gegenwartsrelevante im diskursiven Geflecht einer 'Epoche1 erkennen will. Kunst ist der Diskurs, mit dessen Rede die anderen Diskurse besprochen, gespiegelt, bzw. vor sich selbst gebracht werden können. Individualität von Werk und Künstler sind Besonderungen innerhalb dieses diskursiven Allgemeinen. Es werden daher auch andere als die Theater-Kunstwerke Robert Wilsons herangezogen, die ebenfalls als Antworten auf eine, damit verbindende, spezifische Problemlage der gegenwärtigen westlichen Kulturen gelesen werden. Beispiele hierfür sind u.a. die Arbeiten der New Yorker BildKünstlerin Jennifer Barüett, der Minimalisten Don Judd, Walter de Maria, des Jazz-Ensembles um Louis Clavis und die Minimal Music des Phil Glass, die insgesamt als Exempel für postmoderne Wissenskunst stehen sollen und somit in die Diskussion eines 'Neuen Manierismus', der KunstKunst der Postmoderne, einbezogen werden müssen. Das Programm der anstehenden Untersuchung wird nun sein, den RaumDiskurs der Postmoderne von dem der Zeit in der Moderne zu scheiden. Letzterer wird nicht lediglich um des Kontrastes willen aufgeführt werden müssen, sondern weil ersterer sich mit einiger Notwendigkeit, die sich historischem Verstehen erschließt, aus diesem speist. Nur auf den ersten Blick wird damit dem genealogischen Geschichtsverständnis Foucaults widersprochen. Jener sieht ja Kontingenzen und Unwägbarkkeiten den historischen Ablauf der Dinge bestimmen, den nur eine gewaltsam schlichtende Gegenwärtigkeit zur einheitlichen Geschichte verbindet. Foucault wird zugestimmt, daß nicht absehbar und einzusehen ist, warum sich gerade jetzt ein Umbruch der Diskurse von Moderne zur Postmodeme vollzieht. Denn das Sprengpotential für diesen Bruch mit der Moderne war in ihr immer schon angelegt. Sie hat es ausgehalten. Es hätte auch weitergehen können - mit der Moderne. Die Postmoderne weist also an nun dominant gewordenen Zügen nichts auf, was nicht auch schon in der Moderne schimmerte, damit 'modern' gewesen ist und früher oder 50

später (und anders) 'postmodern' hätte werden können. Insofern scheidet die Postmoderne von der Moderne lediglich die neue Mächtigkeit einiger ihrer spezifischen diskursiven Phänomene. Aber es gibt eine Plausibilität dieses Wandels, die in dieser Arbeit nun aufgezeigt werden wird.

Ich empfinde nun / Das Künftige im Jetzt Shakespeare, Macbeth

1. Die Verflochtenheit der Diskurse Postmoderne ist Signatur zum einen für eine generell historische Ortung der Gegenwart, die sich ihrem Begriff 'Post-Moderne1 nach nicht mehr oder nur noch durch wenige Versorgungsstränge der Moderne verbunden fühlt. Die Aufgabe steht an, die Qualität dieses Anderen mit dem Alten zu vergleichen. Zum anderen fungiert der Begriff 'Postmodeme' auch schon innerhalb der von ihm bezeichneten Gegenwart als Klassifikationssigle für einen Paradigmenwechsel innerhalb der Bildenden und Darstellenden Künste. So steht Robert Wilsons Theater, das hier untersucht werden soll, - wie jede Kunstartikulation in einem kunsthistorischen und einem real- oder epochalhistorischen Kontext, wobei dieser jenen umschließt. Die ständige Reziprozität und Reflexivität der Diskurse untereinander verbietet allerdings den Gedanken hermetisch separierter Einzeldiskurse. John Dewey hat dieses Phänomen für die Kunst in der Metapher von Bergspitzen gefaßt, die nicht lediglich integraler Bestandteil, sondern unzweifelhaft die Welt sind. Sie befinden sich daher nicht darin, sondern machen sie auf diese Weise aus. Bergspitzen schweben nicht frei, sagt Dewey, auch ruhen sie nicht einfach auf der Erde. Sie sind die Erde in einer ihrer [...] Erscheinungsformen.3

Gerade das macht es zum genuinen Werk, daß es als materialer Bestandteil der Objektwelt eben diese thematisiert. Dabei gilt, was Eco generell zum Verständnis der Kunst in Abgrenzung zur Wissenschaft angemerkt hat: Aufgabe der Kunst ist es weniger, die Welt zu erkennen, als Komplemente von ihr hervorzubringen. [...] Gleichwohl kann jede künstlerische Form mit höchstem Recht wenn nicht als Surrogat der wissenschaftlichen Erkenntnis, so doch als epistemologische Metapher angesehen werden: das will heißen, daß in jeder Epoche die Art, in der die Kunstformen sich strukturieren - durch [...] Umwandlung des Begriffs in Gestalt -, die Art wie Wissenschaft oder überhaupt die Kultur dieser Epoche die Realität sieht, widerspiegelt.4

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John Dewey: Kunst als Erfahrung. (1958) Frankfurt 1988. S. 9. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. A.a.O., S. 46.

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Kunst ist nicht nur passives Indiz, sondern sie erarbeitet Gegenwart. Kennzeichnung eines Phänomens als Postmoderne des Theaters meint darum das um die spezifischen Diskurs-Bedingungen der Kunsthistorie erweiterte, 'andere Instrumentarium' der Erkundung der diskursgeprägten Wirklichkeit (Postmoderne) im rein historischen Umfeld. Es wird hier darum ein Diktum des Philosophen Arthur C. Danto affirmiert, der nicht nur zum besonderen Fall wirklichkeitsduplizierender Kunst, den Alltagsintarsien in der Collage und den Exhibitionen des Gewöhnlichen, festhält: Was hat man gewonnen, wenn man Erscheinungen von der Welt absondert und sie auf einer reflektierenden Oberfläche darstellt? [...] Spiegel haben [...] einige bemerkenswerte kognitive Eigenschaften: es sind nämlich in ihnen Dinge zu sehen, die wir ohne sie nicht sehen könnten, nämlich wir selbst. [...] Spiegel und, verallgemeinernd gesagt, Kunstwerke geben uns nicht wieder, was wir ohne ihre Hilfe erkennen können, sondern sie dienen vielmehr als Werkzeug der Selbstenthüllung.5

Michael Kirby findet hierfür die Sentenz, daß Kunst nur als Leben rezipiert werden kann: Life is always the ground against which a work of art is experienced. Art is always perceived in terms of life.6

Selbstverständlich ist es aber nicht der Kunst-Diskurs allein, der neuen Werken Geltung verschafft. Das, was jeweils als Kunst gelten kann und jeweils gilt, ist gebunden an historische Absprachen, stillschweigende Übereinkünfte und Erwartungen an Kunst, sowie Organisation und Inanspruchnahme, mithin gesellschaftsrelevante Bedeutung des kunstdistribuierenden Apparates. Das neue Werk adelt sich nicht selbst. Obwohl jeder Text spezifisch 'eigene' Strukturen besitzt, [...] ist es allein der gesellschaftliche Bezug, der Literatur bedingt, ihre Werke als Kunst anerkennt oder verwirft. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Folie zerfällt jede (ontologisch begründete) Intention des Autors oder des Textes.7

Radikal gefaßt wird diese Sicht in einer Bemerkung des Malers Richard Paul Lohse. Es gibt keine Definition der Ästhetik ohne Definition ihrer gesellschaftlichen Basis.8

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Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt 1984, S. 28. Michael Kirby: Art of Time. A.a.O., S. 39. Heunut Schönhöffer: Krankheit im anglo-amerikanischen Drama der Moderne. Gesellschaftskritik im Spiegel der Machtanalyse M. Foucaults. Frankfurt/Bem/New York, Paris 1988. S. 29. Richard Paul Lohse. Vorbemerkung. In: dokumenta 7. Bd. 1. Katalog zur Ausstellung in Kassel 1982. S. 5.

Damit steht Kunst aber im Kontext ihres raum-zeitlichen Ortes, d.h. sie ist eine der kulturellen Leistungen des lokalen und geschichtlich gewachsenen Verständigungszusammenhangs über nicht nur die Kunst, sondern auch Aufbau und Grund der Welt. Das Theater Robert Wilsons ist also (neues) Theater nur, weil es die Sanktionen dieser Diskurse hinter sich weiß, die es als Kunst in der Zeit belobigen - und produzieren. Kunst antizipiert Form zum Wissen der Diskurse. Aber sie dekoriert es damit nicht. Sondern führt es vor (Augen). Sie enthüllt, um mit dem deutschen Maler Gerhard Richter zu sprechen, ihre 'transzendentale Seite ', "weil jeder Gegenstand als Teil einer im Letzten, Ersten, Grundsätzlichen unverständlichen Welt diese auch verkörpert" Er spricht vom "Gleichnis", in dem "diese unbegreifliche Wirklichkeit" von der Kunst geschildert wird und resümiert darum: "Die Kunst ist die höchste Form von Hoffnung."9 Ihre Werke erfüllen somit eine Schleusenfunktion. Sie halten das 'Rauschen der Diskurse' für den 'Bruchteil eines Kunstwerkes' auf, fixieren sie und entreißen sie auf das höhere Niveau der Reflexion. Man kann mithin ein Fazit zu Kunstwerken ziehen, das Fredric Jameson ans Ende seiner Analyse der Heidegger-Schrift Der Ursprung des Kunstwerks stellt, daß nämlich "das Kunstwerk in dem Streite zwischen Erde und Welt seinen Ursprung hat oder, wie man sagen könnte, in der Spannung zwischen der sinnlosen Materialität von Körper und Natur einerseits, der Sinnverleihung durch Geschichte und Gesellschaft andererseits."10 Jede Analyse von Kunstwerken hat darum zu versuchen, deren jeweilige, 'reale Basis' aufzuweisen und für ihre Untersuchung fruchtbar zu machen. Dies trifft selbst dann zu, wenn ein Werk sich in selbstbespiegelndem Ästhetizismus scheinbar völlig von der 'Real-Weit' abwendet, denn auch die explizite Nicht-Befassung der Kunst mit der Welt ist als Haltung Kommentar zu dieser. Es gibt keine Kunst im Vakuum; jedes Kunstwerk spricht als historisches und poetisches Dokument aus seiner und für seine Zeit. Kunst wendet sich in stummer Besinnung auf das geschichtliche Heute, ohne Besseres antizipieren zu können. [...] die Gestalt des Werkes trägt auch als Spiegel des Schreckens den Imperativ: Es muß anders werden!11

Darum also, um sie als authentisches Werkzeug der Selbstenthüllung zu fixieren, muß die Kunst-Artikulation Wilsons in den Kontext gestellt werden, der 9

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Gerhard Richter in dem Begleh-Beitrag zu seinen Exponaten auf der documenta 7. In: documenta 7, Bd. 1. Ebd. S. 85 [Alle zitierten Stellen]. Fredric Jameson: Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: A. Huyssen, K. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek 1986. S. 45-102. Hier: 52. Michael Grauer, Wenzel Jacob: Brechungen der Geschichte. In: documenta 8, Bd. 1. (Katalog zur Ausstellung in Kassel v. 12. Juni - 20.Sept 1987) Kassel 1987. S. 44-51, hier: S. 48. 53

dieses Funktionieren auch deutlich macht Darum muß die Wilson-Analyse ein Aufriß der Diskurse der Gegenwart begleiten. Und darum weist diese Dissertation im Untersatz das Stichwort auf, das sich anschickt, zum Epochaltitel zu werden: Postmoderne.

Schon wieder heute. Der wievielte Teil eines welchen Ganzen? Botho Strauß, Die Widmung

2. Das moderne Wissen und die postmoderne Enzyklopädie Es herrscht Forschungskonsens darüber, daß eine bestimmte, als historisches Ereignis verifizierbare Auseinandersetzung den endgültigen Schub zum epochalen Selbstbewußtsein der Moderne bewirkt hat. Von nun an beinhaltet der moderne Zeitbegriff nämlich die Konnotation des Neuen, das sich als das Bessere vom Alten abhebt. Die Begriffe 'modem', das Moderne' wurden in der europäischen Ästhetik und Kulturphilosopbie geläufig durch die sogenannte 'Querelle des Anciens et des Modernes', die 1687 Louis Perrault in der französischen Akademie auslöste, als er in einem Gedicht 'le siecle de Louis le Grand' die ausschließliche Autorität der antiken Schriftsteller angriff und ihnen nicht nur einen unabhängigen Wertanspruch, sondern eine Überlegenheit der neuzeitlichen französischen Literatur entgegenstellt.12

Peter K. Kapitza führt dazu weiter aus, daß Charles Perrault sein Gedicht "aufgrund der heftigen Angriffe von seilen des 'parti des Anciens' systematisch in seinem vierbändigen Parallele des Anciens et des Modernes (1688-1697) verteidigte".13 Der Streit entbrennt demnach darüber, in welches Verhältnis sich eine Gegenwart selbst zur Tradition setzen darf. Übereinstimmend werden von der [...] neueren Querelle-Geschichtsschreibung die Äußerungen antiker Autoren über das Verhältnis ihrer Gegenwart zur Tradition als die zum Ver12

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Fritz Martini: Modem, die Moderne. In: Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr (Hg.): Reallexikon zur deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Berlin 1965. S. 393; vgl. hierzu auch: H.U. Gumbrecht: Stichwort: Modem, Modernität, Moderne. In: Brunner, Conze, Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4 Stuttgart 1978. Gumbrecht sieht die 'Querelle des Anciens et des Modernes' ausgelöst "durch die offene Erklärung eines neuen Überlegenheitsgefühls der 'Modernes' gegenüber der Antike, welches auf dem Schluß aufbaute, der seit Descartes und Kopemikus manifeste Vorrang der Gegenwart auf der Skala der Perfektibilität der Wissenschaften müsse ihr Pendant in einer höheren Perfektion auch der Künste der eigenen Zeit haben." Peter K. Kapitza· Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. S. 9.

ständnis der Querelle notwendige Vorgeschichte angesehen. [...] Die Anciens griffen dabei gem zu sentenzenartigen Bemerkungen wie 'nullum est iam dictum, quod non sit dictum prius' [Eunuchus von Terenz], 'antiques sermones non ita, sicut antiqua pharmaca, spiritu exhalato vim perdere' [de exilio / Dion Cocceianus von Prusa], femer zu dem abgewandelten Cicero-Won, man wolle lieber mit den Alten irren, als mit den Neueren die wahre Ansicht haben. [Tusculanae disputationes][...] Aus dem Alten Testament wurde das resignative 'nihil sub sole novum' [Ecclesiastes 1,9] zitiert. Die Modernes stützten sich dagegen auf Sprüche wie 'dies diem docet' [123. Spruch des Publilius Syrus], 'veritas füia temporis' [Aulus Gellius Noctes Atticae , 11,7], 'in omni negotio longe semper a perfecto fuisse principia' [Seneca, Quaestiones naturales]. [...] So kann man beobachten, daß bis in das 18. Jahrhundert der Streit mit der Antike paradoxerweise auch seitens der Modernes noch weiterhin mit antiken Argumenten geführt wurde.14

Das Grundvertrauen ins historische Bessersein der Gegenwart speist sich aus dem epochal-komparatistischen Überwindungsdenken der Moderne, wobei die Macht zur Überwindung Appendix der Macht über die Natur qua Wissen ist Dieses Vertrauen legitimiert aus sich einen völlig abstrakten Begriff des Wissens, das sich in der Zeit im Dienste der Moderne anreichert und zur Deckungsgleichheit mit der Welt, damit zu Wahrheit, führen muß. Fortschritt ist das Symptom in der Gegenwart für das weiterentwickelte Wissen. Er macht das Abstraktum greifbar und verleitet zur optimistischen Projektion des Fortgangs der Wissensanreicherung. Die vollständige Herrschaft über die Natur wird somit nicht ausschließlich selbst Zweck, sondern gilt zudem als Spiegel der konsequenten Vervollkommnung des Wissens, das wie Gott - als Nicht-Gegenstand der Zeichen, hier des Fortschrittes, für sein Wirken bedarf. Wissen wird zum Affront gegen Autorität und Berechtigung des Alten, gegen das Ungeprüfte, lediglich Überlieferte. Es erhält demnach nicht nur einen Gegenstands-, sondern - vor allem - einen qualitativ besetzten Zeitindex. Es hat aber nicht nur schon Anteil an Zukünftigkeit, die der Fortschritt dann in die Gegenwart holt, sondern auch an Ewigkeit. Die Sätze der Naturwissenschaft, die Gesetze der Natur re-formulieren, wollen nie zeitlos sein, sondern für 'immer gelten'. Wissen ist so die abstrakt gelungene Realisation der besseren Zukunft in der Gegenwart Und Wissen ist verfügbare Wahrheit: es ist damit die Verwirklichung des göttlichen Prinzips im Menschen eine Vorstellung, die Petrarca noch als Hybris brandmarkt. An der Modernitätsschwelle zur fortschrittsorientierten Technokratie, die einen grundsätzlichen Umbruch in der Sichtweise menschlicher Umwelt beförderte, aber noch im ordo christianus, erschien es ihm noch viel bedeutsamer, die eigene Seele zum Zwecke ihres Heils als die Dinge der Welt zu erforschen. Petrarca bäumt sich daher noch auf gegen eine geradezu barbarische Vermessenheit des Menschen, sich den Dingen nur deshalb zuzuwenden, um sie gottähnlich zu beherr14

Ebd. S. 10. 55

sehen. 'Schon die Heiden - so seine Empörung - hätten es besser gewußt1. Er setzt dem auf dem Mont Ventoux (Provence) in Prophetemnmanier wahre Gottesnähe entgegen - sie äußert sich in einer als göttlich induziert ausgegebenen Reflexion. Petrarca erkennt das Menetekel, mit dem die numinöse Autorität sich suggestiv in Erinnerung ruft und Abkehr fordert. Während ich die einzelnen Dinge betrachtete, einmal den Blick zur Erde senkte, einmal Augen und Geist zum Himmel hinauf richtete, da griff ich unwillkürlich zu Augusünus Bekenntnissen, ein Büchlein, das ich immer bei mir trage. Gleich beim Aufschlagen des Buches traf ich auf die Stelle: 'Und da gehen die Menschen hin und bestaunen die Höhen der Berge, das gewaltige Wogen des Meeres, die breiten Gefalle der Ströme, die Weiten des Ozeans und den Umlauf der Gestirne - und verlassen dabei sich selbst' (Conf. X; 8, 15). Darüber erschrak ich, schloß das Buch, zürnte mir selbst, daß ich noch Irdisches anschaute, da ich doch längst schon von heidnischen Philosophen hätte lernen können, daß nur der Geist das einzig Große, Bewundernswerte sei. Ich hatte jetzt den Berg und seine Aussicht genug betrachtet, lenkte den Blick auf mein Innerstes und redete kein Wort, bevor ich wieder in der Ebene angelangt war. (F. Petrarca: Le Familiari. Buch IV, l, 26-29.)15

Für ihn ist nicht Welt der Text, der gelesen und besprochen werden soll, sondern die göttlich bestätigte Schrift der Auctoritas (das Aufschlagen der entscheidenden Seite), zu der Petrarca demütig schweigen, sich der Seelenprüfung unterziehen muß, solange er sich in ihrer Nähe (dem Berg) aufhalten darf. Aus der gegenläufigen Sicht der Modernen hingegen erweist sich der Bruch mit den Autoritäten als Befreiungstat, als endgültige Abschüttelung von der Last der Irrtümer der Alten. Von Seiten des Modernitätsverständnisses "kam die radikale Abkehr von aller geistigen Überlieferung nun nicht etwa einem Verlust von Wissen, sondern vielmehr einer Überwindung von Irrtümern und Vorurteilen gleich. Wir sind den Alten dankbar dafür1, so schreibt Fontenelle, 'daß sie uns den größten Teil der falschen Meinungen erschöpft haben, die man machen konnte."16 Damit steht der Fortschritt im Schatten des Wissens der Gegenwart. Er ist Folgeschritt - ein Index dafür, was dem bereits vorhandenen Wissen möglich ist, verspätet immer um die Phase, um die das Bezeichnende dem Bezeichneten hinterherläuft. Das Wissen ist die entelechische Kraft zur Selbstvervollkommnung im Menschen, deren positives Wirken jede Erkenntnis unter Beweis stellt. Sie wird ja als Fortschritt Realität. Als Kraft ist es Menschheitsbesitz der Moderne, als Kompetenz ist es individuelles Gut. Diese Individualität des Wissens, um das jeder einzelne sich stets 'strebend bemühen' muß, löst den durch Religion vermittelten Glauben an die Individualität des nach göttlichem Willen angelegten, vom einzelnen Selbst zu erlangenden Heils der Seele ab. Wie einst zu der der Seele gehört zur Ausbildung des Wissens nun 15

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Zit. nach: Tilo Schaben. Gewalt und Humanität. Über philosophische und politische Manifestationen von Modernität. Freiburg, München 1978. S. 27f. Ebd. S. 61.

Vermögen und Mut, Anstrengung und Willen des einzelnen zum Besseren. Die berühmten Sätze ums 'sapere aude!' Kants brauchen hier nicht eigens zitiert zu werden. (Die Moderne kann den Protest Petrarcas überhören, weil sie das auferlegte Gut des in Demut zu erreichenden Seelenheils durch das zu erarbeitendes Gut des über Erkenntnis zu gewinnenden Seelenheils substituiert.) Wissen ist die Realisation Gottes im Menschen und dessen Gnade erscheint als Sieg des Fortschritts in der Zeit. Nur, daß dieser Gott seinen Geist den Dingen nicht einhaucht, sie inspiriert, sondern ihn sich erkennend aneignet: das Wissen, die göttliche Kraft der Moderne, inhaliert die Welt. Es ist, als ob die mit ihrer Initialisierung verteufelte Erkenntnis des Menschen in der Geschichte einen rekursiven Prozeß durchlaufen hätte. Einen Prozeß, an dessen Ende - mit der Moderne - die spirituelle Nobilitierung steht. Einsichtig ist, daß damit das Bild von der Welt, die gewußt werden kann und wird, eine zum Wissen hin ausgerichtete Korrektur erfahren muß. Statt der christlichen Interpretation der Welt als eines Werks Gottes wurde die Vorstellung von der Welt als einer leblosen Maschine entworfen, die vom Menschen beliebig manipulierbar sei. Nach der klassischen wie christlichen Tradition sollte die Gesellschaft der Menschen ein Abbild der göttlichen Ordnung im Kosmos sein. Jetzt wurde sie als Artefakt konzipiert, dessen 'Wahrheit' sich erst bei seiner Verwirklichung herausstellen sollte.17

Der positiven Begrüßung des Wissens wird schier gleichgültig, was gewußt wird, solange nur immer mehr gewußt wird. Wissen partizipiert darum direkt am Neuheitsbegriff der Moderne - und damit an diesem Paradox, mit seiner Erlangung schon nicht mehr neu, sondern real, also veraltet zu sein Schaben rekapituliert diese Haltung der Moderne. "Die Vergangenheit sei bloß Vorbereitung der Gegenwart, wer jetzt lebt, sei an sich schon Gestrigen überlegen, da er in der Zeit und daher im Wissen weiter fortgeschritten sei. [...] So genügt eine zeitliche Distanz, um moderner und folglich wissender zu sein, oder wissender ist, wer sich für noch moderner als andere und diese zu Gestrigen erklärt.18

Diese Wendung, mit der die Moderne im Motiv des Fortschritts die Anreicherung des Neuen mit dem Besseren ihres Mehr-Wissens vollzieht - eine Aufladung des Neuen, die in diesem Begriff per se nicht mitschwingt19 -, darf in der 17 18

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Ebd.S.60f. Ebd. S. 67. Es kann wohl kein prägnanteres Beispiel für die Wirkung von Diskursen angeführt werden als dieses. Die Gleichschaltung von "heute1, 'neu' und "besser", die der Begriff modern in sich bündelt, ist mit rein historisch hermeneutischer Überlegung allein nicht zu fassen. Zwar ist die Konsequenz aus der Geschichte plausibel zu machen, mit der die Moderne sich auf sich selbst konzentrieren und alle normativen Grundsätze aus sich selbst schöpfen will, doch ist die Notwendigkeit der utopischen Belagerung des Neuen, das den historisch verwirklichten Fortschritt in sich begreifen will, nicht einzusehen. Denn ihre Gewißheit, daß die Wahrheit eine Tochter der Zeit ist, hätte ausgereicht, die Moderne - ohne Neuheit,

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Retrospektive jedoch keinesfalls fehlinterpretiert werden. Die Moderne genügt sich selbst nie. Modem [...] erhält die Konnotation des lediglich zeitlich Jüngeren, das qualitativ nicht zu bestimmen ist, sich aber negativ abbebt gegen eine frühere Epoche, die nicht nur vergangen ist, sondern deren Maßstäbe entweder nicht mehr erfüllbar sind oder nicht mehr gelten können. Das Bewußtsein von Modernität kann deshalb seit dem 19. Jahrhundert die höchst entwickelten künstlerischen und technischen Mittel mit dem Gefühl der Krise oder des Niedergangs im Moralischen oder Sozialen verbinden.20 Negation der Tradition ist ineinszusetzen mit Entlassung der Moderne zu sich selbst. Aber genau da hält es sie nicht. Jauß beschreibt das Perpetuum der Vergangenheits-Entledigung der Moderne als "einen nie beendeten Streit, der bei jedem Schritt vom alten zum neuen Stil, von Kunstepoche zu Kunstepoche und schließlich, im Prozeß der fortschreitenden und sich ständig beschleunigenden Neuzeit, von jeder Avantgarde zur nächsten wieder auflebte."21 Die eindimensionale Vorstellung von der verwirklichten Identität einer zukunftsstolzen Epoche nivelliert daher ihre permanente Unruhe, den ankunftslosen Aufbruch,22 zum bloßen historischen Differenzierungsmerkmal. Der modernen Emphase für den verwirklichten Fortschritt in der Gegenwart wohnt auch immer die Entdeckung von deren Unzulänglichkeit inne. "Moderne ist", wie Gorard Raulet schreibt, "keine analytische Kategorie, die positive Zustände

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ohne Zeitemphase - historisch zur Ruhe kommen zu lassen. Eine identifikationsstiftende Wirkung wäre allein von der Sicherheit ausgegangen, mit der gewußt wird, daß sich das Wissen mit der Zeit einstellen wird. Die Hoffnung, die ins Neue gesetzt wird, aber verkehrt die Verhältnisse und zeigt, daß die Moderne selbst weiß, daß sie sich mit der Eigeninterpretation der Vollendungsepoche historisch übernommen hat. Da die Realität eben anders als die epochale Losung aussieht, - Schiller spricht, die aktuelle Revolution in Frankreich meinend, in den 'Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen' gar vom "lärmenden Markt des Jahrhunderts" (unten zitiert) - und das Bessere eben nicht historisch abgewartet werden kann, signalisiert das Hoffnungszeichen, das dem Neuen verliehen wird, doch gerade, daß die Moderne eben nicht das historische Selbstvertrauen errungen haben kann, das sie vorgibt. In jedem Neuen, mit dem Zukunft antizipiert gedacht wird, steckt auch mangelnde Akzeptanz und die Flucht vor der Gegenwart. Eine in ihrem Wissen selbstgewisse Moderne hätte - als hypothetisches Modell in der Geschichte - der permanenten Emphase des 'Fortschritts' nicht bedurft, um sich historisch legitimieren und identifizieren zu können. Es ist der Diskurs, der die Moderne in den Fortschritt getrieben hat. Die Werbung setzt übrigens immer noch simpel auf das plazierte Signal 'neu', das dann pars pro toto - die Verbesserung automatisch mit anzeigen will. Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6, Darmstadt 1984, Stichwort 'modern, die Moderne'. S. 54ff. Hier: S. 54. Hans Robert Jauss: Der literarische Prozeß des Modernismus von Rousseau bis Adorno. In: ders.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt 1989. S. 67-103. Hier: S. 70. Schaben spricht vom "Prinzip einer ziellosen Dynamik" Tilo Schaben: Gewalt und Humanität. A.a.O., S. 68.

beschreibt, sondern vielmehr der wiederkehrende Ausdruck eines Krisenbewußtseins, das Zeiten des Umbruchs entspringt."23 Aber diese Krise, dieses geheime Unbehagen am Erreichten, ist der eigentliche motus continuus des Fortschrittsdenkens, das sich so im eigenen Verzehren die Nahrung für sein Fortleben spendet. Die zum Programm erhobene, perennierte Entwurzelung, die, Schrecken und Motor zugleich, die Moderne stets von sich wegtreibt, weil sie den Augenblick bereits als Sediment der Geschichte denunziert, die sie wegtreiben muß, weil sie nur so ihrem selbstgesetzten Auftrag gerecht wird, neue Zeit zu sein (die ihre Identität ja ausmacht), kann sich auf eine Zeitkonzeption berufen, die nicht um den Verlust des erlebten Augenblicks trauert. "Die Autorität des Neuen ist die Autorität des geschichtlich Unausweichlichen",24 heißt es für die Kunst auch noch bei Adorno, der in ihr das Korrektiv der Epoche und darin ihren historischen Legitimationsgrund ausgebildet sieht. Das Bewußtsein der permanenten Krise, als die Gegenwart sich herausstellt, und der angenommene Hoffnungsschein eines gegenwärtig bereits erlebbaren Futurs sind es, die auch Adorno umtreiben und ihn in dieses merkwürdige Zeiten-Gemisch verstricken, in dem 'jetzt' nur das immer 'Neue' seine zur Autorität verbrämte, historische Unausweichliche behaupten könne. Zugleich wird die durchs Neue erhellte Gegenwart von ihm erkannt als Lösung der Rätsel der Vergangenheit, die - als die unerledigte - eben auch noch Gegenwart ist Es ist dieses Amalgam der Zeiten, das, aus Erfahrung und Erwartung konstituiert, zum Ausdruck der Hoffnung aufs Bessere wird, die Gegenwart zu deren Schmelzpunkt erhebt und auf den schlichtweg transitorischen Punkt bringt: 'das fortgeschrittenste Bewußtsein und die avanciertesten Verfahrensweisen' [Adorno, s.u.!] spüren nämlich schon im Augenblick ihrer Artikulation die überbietende Nebenbuhlerschaft des Späteren. Adorno beschreibt Moderne dabei als den Schwebezustand, der es ihr ermöglicht 'normativ' wirken zu können - und nennt ihn - zu Recht - paradox: Moderne ist nicht Aberration, die sich berichtigen ließe, indem man auf einen Boden zurückkehrt, der nicht mehr existiert und nicht mehr existieren soll; das ist, paradox, der Grund der Moderne und verleiht ihr normativen Charakter.25 Adorno, der mit der 'Ästhetischen Theorie' Moderne auch über die Kunst definiert, setzt diese als positiven Boden noch jeder Kritik voraus. Lyotard hat ihn darum als "die letzte Rakete im Feuerwerk der modernen Kritik"26 bezeichnet. 23 24 25 26

Gerard Raulet Gehemmte Zukunft. Zur gegenwärtigen Krise der Emanzipation. Dannstadt, Neuwied 1986. S. 7. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt 1972. S. 38. Ebd. S.41f. Zit. nach: Norbert Bolz: Die Zeit des Weltspiels. In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 63,1986. S. 113-120. Hier: S. 113. 59

"Er", der Begriff der Moderne, so schreibt Adorno, "ist privativ, von Anbeginn mehr Negation dessen, was nun nicht mehr sein soll, als positive Parole. Er negiert aber nicht, wie von je die Stile, vorhergehende Kunstübungen, sondern Tradition als solche."27 Adorno hat die Negation eines Traditionsbezugs als eine Charakteristik der (künstlerischen) Moderne herausgestellt. In ihr berühren sich der Diskurs der Kunst und der Diskurs der Epoche, weil sie sich in der Attitüde der Abwendung vom Vergangenen entsprechen, zu dem immer auch schon die Gegenwart zählt. Die Moderne springt in die Neuheit, den Garanten des Mehr-Wissens, um nicht der Affirmation des Bestehenden und damit eines historischen 'Regresses' verdächtigt zu werden. Der Bruch mit der Autorität der Vergangenheit, als der die Traditionsverneinung der Moderne gelesen werden muß, setzt zugleich die Notwendigkeit frei, eine historisch legitimierte Normalität, die ihren Orientierungsrahmen bildet, aus sich selbst heraus zu begründen. Reinhart Koselleck hat die Skulptur, in die die Moderne ihre Identität setzt, treffend als die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen charakterisiert. Die Grunderfahrung des Fortschritts, wie er um 1800 auf seinen singulären Begriff gebracht worden ist, wurzelt in der Erkenntnis des Ungleichzeitigen, das zu chronologisch gleicher Zeit geschieht.28 Das Vergehen von Zeit, ein Begriff, der eigentlich ein Vanitas-Moment thematisiert, wird zum Kennzeichen des Voranschreitens des Wissens in der Zeit. Sloterdijk nennt die Moderne dementsprechend auch das "historische Experiment, das die Wahrheit dazu zwingen wollte, sich im Laufe der Zeit immer mehr 'herauszustellen'."29 Zeit ist die Dimension, in der die Andersartigkeit der Gegenwart als das Entschlacken von Vergangenheit erfahrbar wird. Die Zeit bleibt nicht nur die Form, in der sich alle Geschichten abspielen. Sie gewinnt selber eine geschichtliche Qualität Nicht mehr in der Zeit, sondern durch die Zeit vollzieht sich dann Geschichte. [...] Diese neue Erfahrungsformel setzt [...] einen ebenso neuen Begriff von Geschichte voraus, nämlich den Kollektivsingular von Geschichte, die [...] als Geschichte an und für sich gedacht wird.30 Zeit wird zum entelechischen Verwirklichungsprinzip. Historische Veränderungen werden als Voranschritte in immer kürzere Schrittfolgen gebracht. Mit der immer schnelleren Entfernung von der Vergangenheit erlebt der Diskurs 27 28 29 30

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Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. A.a.O., S. 38. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 1979. S. 324. Peter Sloterdijk: Nach der Geschichte. In: W. Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. A.a.O., S. 262-273, hier: S. 263. Ebd. S. 321.

der Moderne seine Gegenwart als bereits verwirklichte Zukunft und 'überspringt' sich damit gewissermaßen selbst. H. U. Gumbrecht hat diesen Komplex von Geschichte und Mensch historisch gefaßt. Unter der Signatur einer konsumtiven Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird Zeit ideologisch, und Zeit, welche 'gerichtet1 ist wie eine Handlung, bedarf eines 'Subjekts'. Sobald dann endlich die Stelle des 'Subjekts der Zeit1 von der Menschheit besetzt ist, werden auch alle Zeitläufe auf die 'eine Geschichte der Menschheit' bezogen [...]. Fast überflüssig ist es, noch hinzuzufügen, daß zum Ziel einer gerichteten Geschichte, deren Subjekt die Menschheit ist, die (Fähigkeit zur) Vervollkommnung der im Menschen angelegten Möglichkeiten wird.31 Im Licht dieses Zukunftsoptimismus wird Gegenwart bereitwillig zur ZeitSchleuse, in der lediglich kurzfristige Erfahrungskompetenz erworben werden muß, um Erwartungsdirektiven ausgeben zu können. Der Erfahrungsraum wurde seitdem [der Moderne] nicht mehr durch den Erwartungshorizont umschlossen, die Grenzen des Erfahrungsraumes und der Horizont der Erwartung traten auseinander. Es wird geradezu die Regel, daß alle bisherige Erfahrung kein Einwand gegen die Andersartigkeit der Zukunft sein darf. Die Zukunft wird anders sein als die Vergangenheit, und zwar besser.32 Fortschritt für die Moderne ist darum Gegenwartsverdrängung in lauter neuer Gegenwart! Botho Strauß bringt diese Überbietungstendenzen der Moderne auf die spöttische Formel: "immer dem anbrechenden Morgen hinterher, in Zeiten des Umbruchs Neues mit Neuem [...] vergelten".33 Die Selbstverständigung der Moderne darüber, Destination der historischen Trias von Altertum, Mittelalter inklusive Renaissance und Neuzeit zu sein, bewirkt gleichzeitig, daß "sich die Dimensionen, in denen sich bisher Erfahrung entfaltet und gesammelt hat",34 verschieben. Reinhart Kosellecks 'Beschleunigungsthese' hat das Fortschritts-Phänomen der Moderne und seine Implikationen als eine Zeitphysik zur Vervollkommnung beschrieben: Die Zukunft des Fortschritts wird durch zwei Momente gekennzeichnet: einmal durch Beschleunigung, mit der sie auf uns zukommt, und zum anderen durch ihre Unbekanntheit. Denn die in sich beschleunigte Zeit, d.h. unsere Geschichte, verkürzt die Erfahrungsräume, beraubt sie ihrer Stetigkeit und bringt immer wieder neue Unbekannte ins Spiel derart, daß selbst das Gegenwärtige ob der Komplexität der Unbekannten sich in die Unerfahrbarkeit entzieht.35 31 32 33 34 35

H. U. Gumbrecht: Posthistoire Now. In: ders., U. Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt 1985. S. 49. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. A.a.O., S. 364. Botho Strauß: Paare, Passanten. München / Wien 1981. S. 11. R. Koselleck: Vergangene Zukunft. A.a.O., S. 64. Ebd. S. 34. 61

Koselleck führt für das fundamental gewandelte Zeitempfinden den Begriff der Beschleunigung ein. Die Beschleunigung, zunächst eine apokalyptische Erwartung der sich verkürzenden Zeitabstände vor der Ankunft des Jüngsten Gerichts, verwandelte sich [...] in einen geschichtlichen Hoffnungsbegriff. Aber dieser subjektive Vorgriff in die herbeigesehnte und deshalb zu beschleunigende Zukunft erhielt durch die Technifizierung und durch die Französische Revolution einen unerwartet harten Wirklichkeitskern.36

Es scheint, als habe die Moderne aus der 'Not', historisch konsequent sein zu müssen [sie ergibt sich aus der veränderten Optik der Gegenwarts-Wahrnehmung als der "Opposition einer aus eigenem Recht lebenden neuen Zeit zu jenen vergangenen Epochen, von denen die Neuzeit sich abgesondert hat"],37 eine Tugend1 gemacht Die 'Not1 besteht darin, daß ein Heute, das sich als Vollendung aller Zeiten begreift, ein Morgen nur entweder als Vollendetere Vollendung' oder aber als Rückschritt begreifen kann. Insofern begreift sich dieses Heute nicht selbst, sondern definiert sich über die vage Differenz von anderen Zeiten. Die Tugend' besteht darin, mit dem Bewußtsein der beschleunigten Zeit und damit der beschleunigten Erwartungs-Befriedigung (also der Vollendeteren Vollendung') einen Freiraum erschlossen zu haben, in dem das historisch Mögliche mit dem historisch Tatsächlichen einhergeht, sich Zukünftiges und Gegenwärtiges mischen, das Jetzt sich selbst voraus ist. In diesem 'en avant' liegt das Bewußtsein von Fortschritt und Avantgarde verankert. Damit ist aber die zweite Implikation der modernen Grundannahme, Gipfel der Geschichte zu sein, angesprochen. Beschleunigung bedeutet - der Term impliziert es - daß jegliche Konstanz aufgehoben ist: es existieren nicht zwei identische (Geschwindigkeits-)Punkte auf einer Beschleunigungskurve. Auf Zeiten übertragen heißt dies, daß jede Gegenwart zum Nu, zum verschwindenden Augenblick wird. Das Zeitgefühl der Moderne meint ja eine "schlechthin transitorisch gewordene Gegenwart."38 Explizit kommt um die Jahrhundertwende (hier 1891) dieses Moderne-Bewußtsein zum Ausdruck: Wir stehen an der Grenzscheide zweier Welten; was wir schaffen, ist nur Vorbereitung auf ein künftiges Großes, das wir nicht kennen, kaum ahnen.39

Wenn nun die Postmodeme an die Moderne lediglich anknüpfen sollte und darin ein Differenzkriterium für beide Epochen gesucht wird, so wird es unauffindbar bleiben, denn Postmoderne setzt so nur fort, was die Moderne begonnen hat 36 37 38

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Ebd. S. 63. J. Habennas: Der Philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 25. Ebd. S. 25. Friedrich Michael Fels: Die Moderne. (1891). Zit. nach: H. U. Gumbrecht: Modem, Modernität . A.a.O. S. 121.

Erwin Chargaff etwa führt darum die Rede von der Postmodeme auf alten, nämlich modernen Fortschrittswahn zurück: Wir leben in Zeiten, die fast alles, was innen lieb und teuer ist, mit dem Präfix 'post1 verzieren. Vielleicht deutet sich damit die altbekannte Euphorie des Idioten an, der davon überzeugt ist, daß er sich auf dem Gipfel des geschichtlichen Fortschrittes befinde; besser als er werde es niemand machen. [...] Das ist aber alles dumme Heuchelei.40

Postmoderne schreitet zwar von der Moderne fort, schreibt aber dann gerade so an der Moderne weiter. Postmoderne wäre dann die runderneuerte Moderne. Ausdrücklich versteht Peter Koslowski Postmoderne darum als Reanimation der eigentlichen Kräfte Moderne, damit als historische Phase der Spätmoderne. Die Spätmoderne ist der Postmodemismus als Steigerung der Moderne, als Ästhetik der Vorzukunft und Überbietung des Gegenwärtigkeitsideals. Der Primat des Neuen fordert einer Moderne, die klassisch zu werden droht, ihre eigene Überwindung ab. Der Dämon des Neuen verlangt vom Neuen, das alt zu werden droht, die Potenzierung des Neuen. Die Neuen der Spätmodeme sind das Neue des Neuen.41

Damit wird terminologisch nur die Ungenauigkeit wiederholt, die auch schon die Rede von der Moderne so unpräzise gemacht hat. (Was eigentlich auch nur zu zeigen scheint, daß Postmodeme dann nichts als der Versuch einer nochmaligen Revoltensteigerung der Moderne sein kann.) Um die Postmoderne wirklich als Fülle der authentisch anderen Diskurse, der unemphatisch neuen Reden, herauszukristallisieren, die damit nicht bloße Möglichkeiten der Moderne wären, ist eine kleine Rekapitulation nötig. Moderne ist - das scheint gemeinsamer Nenner der daraus resultierenden Pluralismen und Ansatzpunkt für eine 'zweite Begründungsebene' des Begriffs Postmoderne zu sein - gekennzeichnet durch ihr symptomatisches Verhältnis zur Gegenwart: sie ist schlichtweg Übergang - sowohl epochal als auch kunsthistorisch: Das moderne Zeitbewußtsein verbietet jeden Gedanken an Regression, die Gegenwart versteht sich als ein Übergang zum Neuen; sie lebt im Bewußtsein der Beschleunigung geschichtlicher Ereignisse und in Erwartung der Andersartigkeit der Zukunft der epochale Neubeginn, der den Bruch der modernen Welt mit der Welt des christlichen Mittelalters und des Altertums markiert, wiederholt sich gleichsam mit jedem gegenwärtigen Moment, der Neues aus sich gebiert. Die Gegenwart verstetigt den Bruch mit der Vergangenheit als kontinuierliche Erneuerung. Der zur Zukunft geöffnete Horizont gegenwartsbezogener Erwartungen dirigiert auch den Zugriff auf Vergangenes. Die Geschichte gilt seit dem 40

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Erwin Chargaff (o. A.) Zit. nach: Siegfried J. Schmidt: Liquidation oder Transformation der Moderne? . A.a.O., S. 1. Peter Koslowski: Die Baustellen der Postmodeme. Wider den Vollendungszwang der Moderne. In: Neue Zürcher Zeitung. [Femausgabe] Nr. 82. v. 11. April 1986, S. 45f. Hier: S. 45f. 63

Ende des 18. Jahrhunderts als ein weltumgreifender, problemerzeugender Prozeß. In ihm gilt Zeit als knappe Ressource für die zukunftsorientierte Bewältigung von Problemen, die die Vergangenheit hinterläßt. Exemplarische Vergangenheiten sind verblaßt. Die Moderne kann ihre orientierenden Maßstäbe nicht aus Vorbildern anderer Epochen entlehnen. [...] Die authentische Gegenwart ist von nun an der Ort, wo sich Traditionsfortsetzung und Innovation verschränken.42 Insofern also ist es schwierig, jemals dem Überbietungskriterium und Beschleunigungsdenken der Moderne zu entgehen, da Novität, Radikalisierung, Vielfalt und Zeitverzehr auch die Epochenqualitäten der Moderne sind. Dieter Borchmeyer verweist daher auf den historisch neuen Gestus postmoderner Kunst, der eben darin besteht, das Wiederholungstabu der Moderne zu brechen. Er spricht von "revolutionären "Innovations'-Zwang", von dem "sich die postmoderne Ästhetik zu befreien versucht. Sie will deshalb auch nicht gegenüber der Moderne revolutionär-'innovatorisch' auftreten, die Selbstüberbietung der Avantgarden also nicht durch ein neues Ritual fortsetzen."43 Auf diese 'moderne' Aporie einer Postmodeme, die gerade als "konservative Revolution" (Borchmeyer) das 'unvollendet-unvollendbare Projekt Moderne' (Habermas) zum historischen Abschluß bringen will, und gerade auch auf deren 'beängstigende' Wirkung hat Sloterdijk hingewiesen: Sobald sich ein Bewußtsein meldet, das beansprucht, von einem Standort nach der Moderne zu sprechen, wird die Moderne durch diese Anmaßung aus der Reserve gelockt und zu dem Geständnis gezwungen, daß sie sich selbst als die Epoche begreift, auf die keine andere mehr folgen kann. Das Postmoderne-Gerede, das anfangs nur für Abwechslung sorgen sollte, zwingt die Moderne dazu, sich als Endzeit zu bekennen, das heißt als Ära, die keinen Zwischencharakter mehr haben will, sondern in die dauernde Gegenwart einer unbegrenzt perfektiblen Nachgeschichte übergegangen ist. Für die Moderne ist der bloße Gedanke an eine Postmoderne illegitim, weil ihrem Selbstverständnis gemäß der Nachfolger der Moderne nie ein anderer sein darf als wiederum die Moderne.44 Betrachtet man nun die ausdrücklich als postmodern bezeichneten Philosophen, also diejenigen, die als vorzeigbare Indizien für den Epochen-Umbruch fungieren (Lyotard hat sogar selbst ein Buch: The postmodern condition geschrieben), so gewinnt man den Eindruck, daß diese mit dieser Auszeichnung auch gar nicht soviel anfangen können und wollen: Ihab Hassan etwa reduziert Postmoderne auf die schlichte Notwendigkeit zur Nomenklatur: 42 43

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Jürgen Habennas: Die Krise des Wohlfahrtstaates . A.a.O., S. 141. Dieter Borchmeyer: Die Postmodeme - Eine konservative Revolution. Architektur als Paradigma. In: Erika Fischer-Lichte, Klaus Schwind (Hg.): Avantgarde und Postmoderne. Prozesse strukturaler und funktionaler Veränderungen. Tübingen 1991, S. 115-128. Hier: S. 118. Peter Sloterdijk: Nach der Geschichte. In: W. Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. A.a.O., S. 272.

But what better name [than postmodernism] have we to give this curious age? The Atomic, or Space, or Television Age? [...] Or better still, shall we simply live and let others live to call us what they may.45 Jean Fransois Lyotard definiert Postmoderne rückblickend auf die Moderne und sieht diese eher als deren Verfallsstadium: Der Begriff der Postmodeme verweist auf nichts anderes als auf das, was er ist, das heißt ein Won ohne besondere Konsistenz [...], dessen einziger Wert darin liegt, eine Mahnung zu sein. Er dient als Signal, daß etwas an der Moderne seinem Ende zugeht. Daher gilt die Frage der Postmodeme eher der Moderne.46 Und in der Kunst sei Postmodemität gar der Normalfall der Modernität, die Hervorbringungen der Avantgarde seien nie anders als je 'postmodern' aufgefaßt worden. Die Postmoderne ist schon in der Moderne impliziert, weil die Moderne in sich einen Antrieb enthält, sich selbst im Hinblick auf einen von ihr unterschiedenen Zustand zu überschreiten. [...] Die Moderne geht konsumtiv und ausdauernd mit ihrer Postmodeme schwanger.47 Damit wäre dann Huyssen bestätigt, der in der Postmoderne die Traditionslinien der Avantgarde fortgesetzt sieht. Er nämlich vertritt die These "daß sich die amerikanische Postmoderne der sechziger Jahre als eine späte und doch eigenständige Phase jener historischen Avantgardebewegungen lesen läßt, die in Europa schon im Zeitalter Hitlers und Stalins liquidiert worden waren."48 Radikaler noch faßt es Derrida, der argwöhnt, daß sich noch im Gestus der Epochal-Abrechnung, im Diktum des Umbruchs, der alte Geist der Moderne erhalte: Die 'post' und die posters, die sich heute [...] vervielfältigen (Poststrukturalismus, Postmodemismus) geben noch dem historizistischen Druck nach: alles macht Epoche, bis hin zur Dezentrierung des Subjekts, dem 'Post-Humanismus'. Als wenn man einmal mehr in einer linearen Abfolge Ordnung schaffen wollte, periodisieren, zwischen vorher und nachher unterscheiden wollte und die Risiken der Umkehrbarkeit oder Wiederholung, der Transformation oder der Permutation begrenzen wollte: Fortschrittsideologie.49 45 46

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Ihab Hassan: The Dismemberment of Orpheus. Toward a postmodern Literature. Madison / Wisconsin 1982. S. 263. Jean Francois Lyotard in einem Gespräch mit Samuel Weber. ZiL nach: S. Weber: TOstinodeme' und Poststrukturalismus'. Versuch, eine Umgebung zu benennen. In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 63. S. 105-111. Hier: S. 106. Jean Francois Lyotard: Die Moderne redigieren. In: W. Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. A.a.O., S. 204-214, Hier S. 205. Andreas Huyssen: Postmodeme - eine amerikanische Internationale? In: ders., Klaus Scherpe (Hg.): Postmodeme. A.a.O., S. 18. Jacques Derrida: Am Nullpunkt der Verrücktheit - jetzt die Architektur, in: W. Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. A.a.O., S. 215-232. Hier: S. 216. 65

Lyotard, Derrida und Sloterdijk ist zuzustimmen. Nach Kriterien der Neuheit, Andersartigkeit oder schlicht Heutigkeit betrachtet kann das Label Postmoderne als Epochen-Marke niemals vergeben werden. Dies aber ist eine Perspektivenproblematik, die sich aus Sicht des eingenommenen 'vorgefaßten selektiven Standortes' der Moderne ergibt. Wer Postmoderne also nur mit 'modernen Augen' zu betrachten befähigt ist, kann in ihr nichts anderes als eine weitere Ausfächerung der Moderne erkennen. Denn jede Neuerung trägt als Qualitätssigle den Stempel der Moderne. Die Postmoderne ist neu. Also ist sie modern. Insofern wird Postmoderne, wenn sie mehr und etwas anderes sein soll als ein lediglich neuer Begriff, ein neuer Schlauch für den alten Wein Moderne, mittels einer nicht länger epochal neuen Perspektive zu betrachten und nach einem anderen als dem des Neuheitskriteriums zu bewerten sein. Man muß schon auf die Seite der Postmoderne übergewechselt sein, um sie zu erkennen - und es zeigt sich, daß sie gerade dadurch den Epochal-Wechsel vollzogen hat, daß sie ihn ohne jede Zeit-Emphase gemeint und ausgesprochen hat: Postmoderne wird dann verstanden als unaufgeregte Notierung der Gegenwart, die ohne jede Fortschreibungstendenz und ohne Zukunftssuggestion auskommt. Immerhin ein erster Hinweis. Extrapoliert man die Formel Kosellecks von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, dann ist ein - nicht mehr dem Fortschrittsglauben verhafteter Zeitpunkt denkbar, zu dem keine Erfahrung mehr irgendeine in die Zukunft gerichtete Erwartung auslösen könnte: das vollständige, endgültige Auseinanderbrechen der Konstellation von Vergangenheit und Zukunft, von Erfahrung und Erwartung, das keine verbindende Klammer mehr kennt; die unendlich groß gewordene Kluft oder "Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung [die in der Moderne ja, B.G.] dauernd neu, und zwar auf immer schnellere Weise überbrückt werden [mußte], um leben und handeln zu können."50 Dieser Zeitpunkt ist entweder das Gewahrwerden des Erreichens der perfekten Zukunft: das Paradies auf Erden, in dem jede Erwartung sich auf- und eingelöst hat51 - oder aber er ist der Punkt, an dem das schiere Verlangen nach 50 51

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Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. A.a.O., S. 369. Gehlen beschreibt den Moment des Innewerdens, der Erfahrung der Moderne, sich in diffus verästelten Grenzbereichen zu befinden, als "denjenigen Zustand [...], der eintritt, wenn die darin [in der Moderne, B. G.] angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Bestanden alle entwickelt sind. Man hat auch die Gegenmöglichkeiten und Antithesen entdeckt und hineingenommen oder ausgeschieden, so daß nunmehr Veränderungen in den Prämissen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden. [...] Ich [Gehlen] exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind, so daß der Rat, den Gottfried Benn dem einzelnen gab, nämlich "Rechne mit deinen Beständen!', nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist." Arnold Gehlen: Über kulturelle Kristallisation (1961). In: Studien zur

Bewältigung der Gegenwart in einer authentischen, tatsächlich weltorientierten Erfahrung die Erwartungspotentiale für die Zukunft neutralisiert und in Gegenwartssorge umschlägt. Niklas Luhmann erkennt im Arrangement mit einer Augenblickskultur, in der Experten immer präziser ermitteln, und andererseits im Moralismus die letzten Versuche, sich in einer unüberschaubar und unlösbar gewordenen Welt zurechtzufinden. In ihr wird Wissen durch Problem-Spezifikation konzentriert, bzw. Handlungsmaximen werden dekretiert, um der Orientierungslosigkeit einer Gegenwart, die ihre Zukunft nicht mehr weiß und wissen kann, Setzungen minimaler Unanfechtbarkeiten, bzw. präformulierter, scheinbar stabiler Wahrheit entgegenzuhalten. Ohne Zweifel erschrecken wir heute, wenn wir unsere Gesellschaft betrachten, die wir so, wie sie ist, weder gewollt noch hervorgebracht haben. [...] [Wir] sind immer weniger davon überzeugt, daß der Schlüssel zur Zukunft in der ökonomischen Vorsorge allein liegt und daß wir, hätten wir nur genug Geld, sorgenfrei leben könnten. [...] Es fehlt daher an Verständnis für die Hoffnung, daß wir, wenn nicht in der Gegenwart, so doch in der Zukunft, die Rationalitätsversprechen der Aufklärung einlösen könnten. Es fehlt der Glaube an die magische Rückführung der Probleme in die Einheit einer Zukunft. Auch wenn es nicht so weitergebt, wie Marx meinte, heißt das ja nicht, daß es besser werden muß. [...] Wir haben es in dieser Wirklichkeit mit prekär stabilisierten evolutionären Errungenschaften zu tun, mit mühsam normalisierten Unwahrscheinlichkeiten, [...] mit technisch möglicher Auflösung und Rekombination der Elementarstrukturen der Materie und des Lebens. Wenn die Geschichte für uns eine Richtung hat, dann die auf ein immer neues, immer komplexeres Re-Normalisieren des Unwahrscheinlichen. [...] Mir fällt auf, daß in dieser Situation auch die Möglichkeiten problemspezifischer Analysen und die Ansprüche an die Genauigkeit des Denkens gewachsen sind. Wer dem nicht gewachsen ist, hat nur noch die Möglichkeit, moralisch gegenanzueifern. Auf diesem Wege gibt es freilich kaum mehr Hoffnung.52

Dieser Zeitpunkt ist femer denkbar als Kristallisationspunkt der Ununterscheidbarkeit von Gegenwart und Zukunft, an dem die Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten der Gegenwart so groß werden, daß Zukunftsprognosen auch auf die Gegenwart angewendet werden, also die Einsicht einer Differenz von Möglichem und Wirklichem aufgehoben ist. Erwarten im Koselleckschen Sinn ist dann schlichtweg nicht mehr möglich, bzw. die wirkliche Erfahrungslosigkeit ist bereit, mit allem zu 'rechnen'. Nicht-Erwartung und Alles-Erwartung sind hier deshalb identisch, weil die

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Anthropologie und Soziologie. Neuwied / Berlin. 1971. Zit. nach: E. Sens / H. Hartwig: Nach-Kultursuche: Anfänge. In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 63. A.a.O. S. 15-21. Hier: S. 16. Niklas Luhmann: Replik auf die "Zeit-Umfrage unter Wissenschaftlern, Künstlern, Intellektuellen: Hat die Hoffnung noch eine Zukunft?1 In: Die Zeit, Nr. l v. 26.12.86, S. 29ff. Hier: S. 30.

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nicht erfahrene Gegenwart genauso 'irreal1 ist wie die Zukunft: eine Ansammlung von - weil nicht erfahrenen - unerwarteten Gegebenheiten und Ereignisauslösern.53 Dieser Zustand schafft eine stehende Gegenwart. Und als solche ist sie schon in Kosellecks Terminologie impliziert. Denn wo soll die 'Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit' anzusiedeln sein, wenn nicht auf einer Zeitfläche, auf der alle Zeit-Momente verteilt nebeneinander liegen. Die Rede von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen meint die Dispersion der Ereignisse auf einer Fläche, bzw. ihre Verknüpfung zu einem Netz paralleler und sich kreuzender Zeitstränge. Nur in einem so erweiterten Augenblick (gleichzeitig) sind Geschehnisse unterschiedlicher Zeitstufen (ungleichzeitig) realisiert. Diese Ausdehnung der Gegenwart resultiert aus dem Unvermögen der Erfahrung, die sich simultan darbietenden Eindrücke der Gegenwart mit Hilfe des Wissens aus der Vergangenheit heraus zu verarbeiten. Die Konzentration von Gegenwart hat Konsequenzen für das Verständnis von Zeit, die sich von der Linearität des Vektors zu einem Zeitamalgam gegenwärtiger Augenblicke aufbläht, einem Raum der Möglichkeiten, in dem Erfahrungen gemacht werden müssen, aber nicht gemacht werden können. Von Koselleck wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die "sich so beschleunigende Zeit der Gegenwart die Möglichkeit [benimmt], sich als Gegenwart zu erfahren."54 Die derart abzuarbeitende Gegenwart ist - wenn auch in anderem als dem fortschritts-optimistischen Sinne - die verwirklichte Zukunft, vollendete Gegenwart: sie bildet dann den Erwartungshorizont im Koselleckschen Sinne, auf den Erfahrungsräume hinarbeiten. Odo Marquard hat die resultierende Unüberschaubarkeit der gleichzeitig realisierten Zeitstufen der Gegenwart für eine wachsende Illusionsbereitschaft der Menschen verantwortlich gemacht. Seine Argumentation basiert auf einem als ursächlich vorgestellten Zusammenhang von Erfahrung und Erwartung. Erwartung ist wissensgestützte Prognose, also die Leistung einer Projektion vorgängiger Erfahrung: Marquard nennt sie "das Remedium gegen Weltfremdheit, und zwar [...] das einzige."55 Eine Welt, die sich durch Innovationen real 53

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Weil dieses Modell nicht linear sein kann, da es ja keineswegs so ist, daß eine konstante Menge an Erfahrungen eine ebenso große Menge an Erwartungen hervorbringen muß, drückt die augenscheinliche TTiese der Prognostizierbarkeit der Zukunft durch abbildende Wendung der Erfahrung in Erwartung auch bei Koselleck keine Gesetzmäßigkeit aus, da es sich hierbei "nicht um schlichte Gegenbegriffe [handelt], sie indizieren vielmehr ungleiche Seinsweisen, aus deren Spannung sich so etwas wie geschichtliche Zeit ableiten läßt." Koselleck: Vergangene Zukunft . A.a.O., S. 356; "Erfahrung und Erwartung sind nicht statisch aufeinander zu beziehen." Ebd. S. 359. Ebd. S. 34. Odo Marquard: Krise der Erwartung. Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes. Konstanz 1982. S. 27.

ständig verändere, lasse jedoch verläßliche, d.h. dauerhafte Erfahrungen nicht mehr zu: "Weil aber heute die Dementierkraft der Erfahrung zunehmend leerläuft, verliert das Realitätsprinzip in wachsendem Maß die Chance, sich geltend zu machen. [...] Es trennt sich die Erwartung von der Erfahrung und wird weltfremd. Die Menschen verwandeln sich zu erfahrungslosen Erwartern."56 Orientierungsfähigkeit und Prognostizierbarkeit der Ereignisse seien damit verloren: Durch die zunehmende Innovationsgeschwindigkeit der modernen Welt wächst zugleich die Veralterungsgeschwindigkeit der Lebenserfahrung; denn durch das steigende Tempo des Wirklichkeitswandels nimmt die Möglichkeit ab, Erfahrungen zu Erwartungen zu stabilisieren und damit für spätere Situationen applikabel und durch neue Erfahrungen enttäuschbar zu machen.57 Die erfahrungslosen Erwarter sind dann nicht mehr in der Lage, "sich realistisch auf unsere wirkliche Lebenswelt einzurichten: die Erde auf Erden". In unserer Beschleunigungswelt kehren - wo sie sich durch immer schnellere Innovationen immer schneller verändert - jene Situationen immer seltener wieder, in denen und für die wir unsere Erfahrungen erworben haben. Darum rutschen wir - statt durch stetigen Zuwachs erfahrener und weltkundig, d.h. erwachsen zu werden - zunehmend in die Lage derer zurück, für die die Welt überwiegend neu, fremd und undurchschaubar ist: in die Lage der Kinder.58

Damit aber werde die Erwartung bodenlos, fremdbestimmt, unrealistisch. Fortschritt, der dann um die Gegenwartsstelle kreist, löst sich indes nicht auf. Er büßt seine Regentschaft als Signum eines epochalen Einheitsdiskurses nicht ein, aber er verändert seine Qualität. Aufgegeben als epochales Einheitskriterium, dem das Vertrauen der Moderne gewiß war, wendet er sich nun, nach der perpetuierlichen (Um-)Gestaltung der Außenwelt, einem anderen Austragungsort zu. Er greift nicht nur als 'Erwartungsenthemmer' auf die Innenwelt der Erfahrungslosen. Er wird ein Teil von ihnen. Das Gewicht dieses neuen Fortschritts verlagert sich - weg von der Zukunftsverwirklichung - auf die Seite der solitär vorgenommenen Gegenwartsbewältigung: sei's im Konsum, sei's in der Anreicherung privater Wissensbestände, sei's in der Auslotung aller Grenzen des physisch-psychisch Ertragbaren, sei's in der angestrengtesten Durchleuchtung aller Mikrofasern der krankenden Seele. Höchste Mobilität herrscht in allen Dimensionen. Fortschritt, den niemand mehr der Zeit anzuvertrauen vermag, wird so zum entelechischen Verwirklichungspostulat des Konsumenten. Dieser 'Fortschritt' ver56 57

58

Ebd. Ebd. S. 27.

Odo Marquard: Die moderne Entwirklichung der Wirklichkeit. St. Gallen 1987 (= Aulavorträge, St. Gallen, Nr. 40). Beide Zitate: S. 10. 69

kennt jedoch seine historische und politisch-soziale Basis und 'überholt' sie gleichsam. Er ist prinzipiell anti-utopistisch, weil er sich am Machbaren, nicht mehr am Möglichen abarbeitet. Seine Vorgabe ist nicht das kollektiv zu erreichende, zukünftige Neue, sondern das private bessere Jetzt. Was hierfür neu ist, hat seine Engbindung an die Zeit verloren. Das Gegenwärtige, das Verfügbare also, wird gesammelt und verbraucht. Die Situierung der Ereignisse, die nach dem Ausstieg aus kollektiver Epochenerfahrung nur noch endemische Qualitäten besitzen können, das Ungleichzeitige, das an gleicher Stelle geschieht, bewirkt, daß die Gegenwart sich nun als nur fragmentarisch vollendet präsentiert. So wird sie von dem Medientheoretiker Neil Postman beschrieben. Er spricht von einer "Welt der Bruchstücke, in der jedes Ereignis, bar jeder Verbindung zur Vergangenheit, zur Zukunft oder zu anderen Ereignissen für sich steht, [in der] alle Kohärenzerwartungen verblaßt sind."59 Gegenwart ist dann eine diskontinuierliche, nicht notwendige Form, ein Raum der Fülle von Antizipationen und Resultaten einstmals transitorischer Geschehnisse. Sie ist überladener Augenblick, dem in seiner Gesamtheit keine geschichtsmächtige Erfahrung ein sinnstiftendes Ziel noch abzuringen vermöchte. Hochauflösung der Dinge zu separierten Fraktalen. In Baudrillards Zitat, das folgt, sollte das Wort 'Welt' daher auch als 'Zeit' gelesen werden. Unsere so schönen Strategien der Geschichte, des Wissens, der Macht löschen sich selbst aus. Und zwar nicht so sehr, weil sie gescheitert wären (vielleicht waren sie zu erfolgreich), sondern sie erreichen bei ihrem Fortschreiten einen dead point, wo ihre Energie umschlägt. [S. 68] [...] Nicht ich selbst bin gleichgültig oder ungeduldig. Vielmehr scheint es die Welt zu sein [...]. Es ist nicht mehr an uns, ihr einen Sinn zu geben oder nicht, indem wir sie transzendieren oder über sie nachdenken.60 Ereignisse liegen nun gestreut im Raum der Gegenwart vor, sie werden verfügbar, aber um den Preis des Verlustes ihrer verbindenden Ordnungslinien. Sie bilden musterlose Einzelheiten, über die ein postmodernes Wissen erst und je In-Formation einholen muß. Norbert Bolz zitiert in seinen Überlegungen hierzu unter anderem Robert Seidenberg, der das Auskristallisieren von Zeit im Raum in die wunderschöne Metapher einer Vereisung gekleidet hat. Die Geschichte löst sich auf [...]. Absehbar ist ein finaler Zustand absoluter Aushärtung. [...] Das statische Zeitalter, das die Stabilität der Prähistorie wieder erreicht hat, kontinuiert sich ohne Krisis, ohne Freiheit. Und das heißt letztlich ohne den Menschen: 'he himself vanishes from the scene - lost in the icy fixity of his final state in a posthistoric age' (R. Seidenberg).61 59 60 61

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Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt 1985,. S. 136f. Jean Baudrillard: Das Andere selbst. Wien 1987. S. 68 u. 75. Norbert Bolz: Die Zeit des Weltspiels. A.a.O., S. 114.

Die Postmoderne ist erschütterungslos und unerschüttert gegenwärtig. Es ist keinesfalls so, daß die Zeit, daß Geschichte von nun an nicht weiter fortlaufen würden; aber sie transgredieren diese Gegenwart nicht mehr: sie durchqueren lediglich ihren Raum. Ich meine, daß alles schon passiert ist, glaubt denn auch Jean Baudrillard. Die Zukunft ist schon angekommen, alles ist schon angekommen, alles ist schon da. [...] Wir sind die realisierte Utopie. [...] Die Dinge laufen noch, aber wir wissen, daß sie ins Leere laufen. Es wird keine theatralische Umstürzung mehr geben. [...] Es ist nichts mehr zu erwarten. Das Schlimmste, das erträumte Endereignis, worauf die Utopie baute, die metaphysische Anstrengung der Geschichte usw., der Endpunkt liegt schon hinter uns. Wir befinden uns in der Hypertelie. Das heißt, wir sind längst über den Endzweck hinausgeschossen. Und das ist die wahre Revolution.62 Hyperkomplexität und Sinnverlust sind Symptome einer erfahrungswirklich werdenden Fragmentierung des - doch geteilten - Individuums [!] zu Codes, Diskursen, Texten und Bildern. Die Diffusion technologisch dominierter Rationalität in die letzten Winkel der Existenz, die Dominanz einer instrumenteilen Vernunft über das orientierungslos gewordene Bewußtsein prägen oberflächlich die "Grundverfassung unserer Zeit".63 Tatsächlich sind es jedoch die bereitwillige Preisgabe von Alternativkonzepten nach dem Zusammenbruch der Ideologien und das schnelle Arrangement mit dem Faktischen, die die endgültige Auflösung des modernen Fortschrittsdenkens in die Absurdität einer hermetisch werdenden Kultur der Mittel befördern. Im Zeitalter des Flugverkehrs und der Telekommunikation wird Heterogenes abstandslos und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur neuen Natur. So entsteht technologisch die Gesamtsituation der Simultaneität [...] differenter Konzepte und Ansprüche.64 Der oben zitierte Welsch sieht darin einerseits Chance und Ausgangspunkt für Suchbewegungen in Richtung auf unverwundet-unverwundbare Ich-Residuen in einem "Kooperationsmodell von Postmoderne und Technologie".65 Er diagnostiziert eine "Praxis von Pluralität, die nicht mehr vereinigungs- oder konkordanzversessen, sondern kollisions- und irritationsbereit ist" [S. 37], wobei "das Technologische sich - bis zur sektoriellen und funktionalen Re62

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Jean Baudrillard, in: D. Kamper, et al. (Hg.): Der Tod der Moderne. Eine Diskussion. Redner: J. Baudrillard, G. Bergfleth, H. Folkers, U. Gerhard, M. Gerhardt, H. Hesse, D. Kamper, G. Kimmerle, G. Mattenklott, M. Rutschky, H. Schröter, U. Sonnemann. Tübingen 1983, S. 104. Wolfgang Welsch: Die Postmodeme in Kunst und Philosophie und ihr Verhältnis zum technologischen Zeitalter. In: Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Technologisches Zeitalter oder Postmodeme? München 1988. S. 36-72. Hier: S. 39. Ebd. S. 39. Ebd. 71

striktion - dem pluralen Orientierungsset der Postmoderne"66 integriere. Allerdings vermag auch er die Gesamtheit divergierender Auf- und Ausbrüche der Epoche nicht mehr auf ein Fortschrittsziel hin zu bündeln. Er räumt daher ein, daß eigentlich nur noch eine durch Ästhetik wieder gebändigte Wahrnehmung dem Fortlauf auf dieser Kreisbahn des Vorhandenen zu widerstehen mag.67 Seitdem Bilder und Imagination leitend geworden sind, stößt begriffliches Denken an eine Grenze und wird umgekehrt ästhetisches Denken kompetent. Der Wirklichkeitswandel von einer Wirklichkeit der Konstruktion zu einer der Imagination - verlangt den Übergang zu einer anderen Form des Begreifens. [...] Ein solches Denken geht von Wahrnehmungen aus. [...] Ästhetik hat primär mit Wahrnehmungen zu tun; deren privilegierte Sphäre aber ist die Kunst.68 Wenn Wolfgang Welsch dann allerdings den rein künstlerisch-ästhetischen Bezirk überschreitend vom "postmodernen Wirklichkeitsdesign"69 spricht, dann identifiziert er zwar korrekt Wirklichkeit und ihre diskursspezifische Rezeption als Produkt, reduziert aber mit diesem Begriff (gesellschaftliche) Existenz zur bloßen Ausgestaltung eines wie unabänderlich Faktischen. Wer seine Wirklichkeit 'designt', hat nämlich sie und sich verloren. Was dann gut und richtig, wahr und falsch ist, ist nämlich nur je gut und richtig, wahr und falsch. Die Brownsche Molekularbewegung dieser Postmoderne wird darum zum Topos für eine Freiheit vor Ort, die sich von ihrem Ursprung nicht mehr lösen wird, die das technologische Gesamt weder zu überblicken noch zu reflektieren vermag und noch das Sammeln reaktionärer Kräfte als Beitrag zum Vielfältigkeitsdiskurs verbucht.70 Außerdem erhält das, was darunter dennoch alle gleich 66

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Ebd. S. 37 u. 63. Siehe zu diesem Komplex den Abschnitt Der Verweis'. In ihm wird die Möglichkeit besprochen, mit der auch schon moderne Kunstwerke den Epochen-Diskurs konterkarieren konnten. Belegt wird sie mit dem nur scheinbar paradoxen Begriff des uneinholbaren Präsens der Formen. Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmodeme-Diskussion. Weinheim 1988: Einleitung S. 41f. Wolfgang Welsch: Unsere postmodeme Moderne. Weinheim 1987. S. 30. Daß diese vermeintlich offene Dialogbereitschaft, die das Bekenntnis zu einem postmodernem Pluralismus jeder Option und jedem Denken offeriert, nicht nur die wahre Verelendung und Verlust kollektiver utopistischer Modelle verharmlost, sondern auch in den Sog längst abgehalfterter Ideologien geraten kann, zeigt die neugewonnnene Hoffähigkeit der nouvelle droite in Frankreich. In einem 'Appell an die Wachsamkeit1, publiziert in Le Monde, warnten daher 40 Intellektuelle vor einer eilfertigen Unbedenklichkeitserklärung ultrarechten Gedankenguts. Maurice Ölender, der Initiator dieses 'Appells', erkennt in den neu-rechten Propagandisten "Profiteure des grenzenlosen Dialogs, der unter dem Deckmantel des Pluralismus selbst Antidemokraten Redefreiheit gewähn. [...] Wer sich mit Rechtsextremen auf ein Podium begibt, darf sich nicht wundem, wenn alle Diskurse gleichwertig, gleichermaßen diskutabel werden." Er legitimiert damit eine normative Setzung im Angesicht der munter werdenden Rechten, die unter dem Stichwon der 'Konservativen Revolution' Kultur dadurch erneuern wollen, daß sie antiliberalen und na-

im Kapitalismus postmoderner Couleur tun, die Auszeichnung der Einzigartigkeit. Der faktische Stillstand, der Konsumption ist, wird über den rhetorischen Umweg der Arbeit am Produkt 'Ich' (und seinem Design der Wirklichkeit) das Gütesiegel der Entwicklung zum Besseren verliehen. Unangetastet bleiben jedoch die Grundkonstellationen von Arbeit, Macht und Kapital. Dem ewigen Strom der Produkte werden lediglich Waren und Güter, Bilder, Erlebnisse und das Wissen der Jahrhunderte, die 'Traditionsbestände', entrissen, damit es gelinge, im 'Jetzt' das ego reagens als festen Ort, als private Bleibe im Zentrum einer rotierenden Scheibe zu erhalten. Denn "die Subjekte wissen sich weder in 'sich1 noch in ihren Umwelten als 'bei sich daheim'. Dem radikalen Denken enthüllt sich am Selbst-Pol die Leere und am Welt-Pol die Fremdheit, und wie sich ein Leeres in einem Fremden 'selbst1 erkennen soll, kann sich unsere Vernunft beim besten Willen nicht vorstellen."71 Auch Sloterdijk, von dem dieses Zitat stammt, spricht daher für die Gegenwart von einfem] eigentümliche[n] Gefühl von Zeitlosigkeit, das hektisch ist und ratlos, unternehmerisch und entmutigt, im lauter Zwischendrin gefangen. [...] Das Morgen nimmt den Doppelcharakter von Belanglosigkeit und wahrscheinlicher Katastrophe an [...]. Die Vergangenheit wird entweder zu einem akademischen Hätschelkind oder zusammen mit Kultur und Geschichte privatisiert und [...] zu Miniaturen von dem, was es einst gegeben hat, zusammengezogen.72 Diese 'Zeitlosigkeit im lauter Zwischendrin', die Sloterdijk konstatiert und dabei den epochal signifikanten Wechsel ausspricht, ist Raum der Gegenwart. Zu ihm - so scheint's - gibt es nach der Moderne keine Alternative. Man muß auf den Nu zurückfallen, nachdem man Zukunft als Gegenwart und Gegenwart als Vergangenheit durchschritten hat. Denn jetzt werden, der syllogistischen Logik dieser Zeitenanlage gehorchend, Vergangenheit und Zukunft eins in einer zu Raumgrößen mutierten Zeit- und Zeitenakkumulation. Ihn festzuhalten, wie es etwa der Kunst des cognitive mapping gelingt, vermag - zumindest im Ansatz ihm die Stirn zu bieten. Ihn zu begrüßen, befördert zumindest Ideologie, mag es auch wider besten Willens geschehen. Die Affirmation der Zersplitterung des Fortschritts in die Pluralität subjektiver Fortschritte kaschiert allerdings

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tionalistischen Wiedergängem zu Eintritt und Wort in einem alten Herrschaftsdiskurs verhelfen wollen. "Man kann über alles, aber nicht mit allen reden", setzt Ölender dagegen. "Man hat das Recht, nein zu sagen und Rechtsextremisten aus der Debatte auszuschließen." Insofern also gibt es allen Grund, das zufriedene Lächeln über das schöne Nebeneinander gefrieren zu lassen, das sich der Pluralismus in guter demokratischer Tradition anfänglich zurecht, jedoch zu früh aufgesetzt hat. [Alle Zitate, sowie der Hinweis auf den Diskussionsstand in Frankreich sind Iris Radisch: Nicht gesellschaftsfähig?' entnommen. In: Die Zeit, Nr. 32, v. 06. August 1993, S. 35. Siehe hierzu auch: Jürg Altwegg: Die rotbraune Allianz. In: FAZ, Nr. 185, v. 12. August 1993, S. 23]. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt 1983. Bd. 2. S. 935. Ebd., Bd. l, S. 199. 73

kaum den qualitativen Wandel, der damit faktisch einhergeht. Denn statt der Demokratie von Redebeteiligten kristallisiert sich Exklusivität von Redeberechtigten heraus. Daß in den vornehmeren Kreisen nun wieder offen "Klartext geredet"73 wird, kann darum nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit derartigen Redebeiträgen die neu aufgerufenen Grundsatzfragen autoritär und parteilich beantwortet werden und im Schutz vorgeblicher Pluralität das wahrhafte Ziel eines wirklichen Pluralismus, einer wirklichen Multikultur von kleinlichen Chauvinismen torpediert wird. Damit es augenscheinlich weitergehen kann, ist also Fortschritt intemalisiert. Das Vakuum, das die Postmoderne im Angesicht der verschwendeten Zeit und des 'Haufen Zeugs1 (Botho Strauß) aus der Geschichte empfindet, wird so wenigstens mit einem neuen falschen Versprechen gefüllt: Ein Wegweiser zum Pluralismus der zur gefährlichen Harmlosigkeit nivellierten Differenz steht daher an der letzten Ausfahrt der Moderne. Exkurs: Die 'atemlose Freude am Fahren' Am 16. August 1989 veröffentlicht die Süddeutsche Zeitung eine Annonce des Autokonzerns BMW. Unter der Schlagzeile "Warum BMW-Fahrer eine gute Kondition haben1 erscheint folgender Text: Eine mögliche Ursache ist die Automatische Umluft Control (AUC) [...]. Die AUC ist eine innovative Technik, die dafür sorgt, daß hohe Schadstoffkonzentrationen nicht in den Innenraum gelangen. Ermöglicht wird dieser wirksame Schutz durch einen hochempfindlichen Sensor am Kühlergehäuse. Er mißt den Schadstoffgehalt der Außenluft. Bei einer überproportionalen Verschlechterung werden die Klappen des Belüftungssystems automatisch auf Umluftbetrieb geschaltet. Das kann in stark frequentierten Kreuzungsbereichen sein, in dichtem Stop-and-go-Verkehr, in Unterführungen und Tunnelpassagen oder in unmittelbarer Nähe von Tankstellen. In Kombination mit der Klimaautomatik sorgt die Automatische Umluft Control für die Erhaltung einer guten körperlichen Konstitution. Und dieser Vorteil ist ein wichtiger Sicherheitsfaktor beim Fahren. Ist die eingeatmete Luft sauber, fördert dies die Reaktionsschnelligkeit, das Konzentrationsvermögen und das Wohlbefinden des Fahrers [...]. So ist AUC ein Beitrag für mehr Sicherheit beim Autofahren.74 Hier wird Stoff den Konsumenten geboten, die schon alles haben. Vorgegeben wird die Notwendigkeit, den einzelnen im isolierten Automobil der Firma vor den Schadstoffen einer von moderner Technik geprägten Umwelt abzuschirmen. Man tut es mit einem persuasiven Trick. 73 74

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Wolf Lepenies. Zit. nach: Jürgen Habermas: Gelähmte Politik. In: Der Spiegel. 47. Jg., Nr. 28, v. 12. 07. 1993. S. 50-55. Hier: S. 55. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 186 v. 16. Aug. 1989, S. 25.

Innovative Technik war in der Moderne immer ein Stück Welt-Eroberung, ein Sieg menschlicher Fertigkeit und Freiheit über die Natur der Ent-Gegenstände; ein Sieg rationaler Macht durch die Erstellung abstrakter Ursache-Wirkungsmechanismen: die Kraft-Aufbietung gegen Naturkräfte erfolgte gezielt, um das Gegebene zum Beherrschten zu machen; etwa im Versuch, Entfernungen und Steigungen zu überwinden oder Unwegbarkeiten zu überbrücken. Man stellt Kausallinien auf, die das komplexe Ganze in eine überschaubare Menge von Einzelschritten separiert. Leistung der Moderne war, der Natur dadurch zu trotzen, daß man sie - sie durchschauend - überbietet, sie sich selbst dienstbar macht. Hier erscheint jedoch ÄTw/fwr-Landschaft - und dazu gehört auch der Autofahrer selbst - als eine Quasi-Natur, der es zu entkommen, bzw. die es zu beherrschen gilt. Die Rolle des Widerparts hat - über die Zwischeninstanz seiner eigenen Emanationen - der Mensch selbst übernommen. Man behält die Geste der Natur erorbernden Technik, füllt aber die Hülse Natur, die gedemütigt und längst als überwundene Selbstverständlichkeit nur noch als der befahrbare Raum benutzt wird, mit den selbstproduzierten Bedrohlichkeiten der Kultur. Das ist der Trick. Geschützt werden soll ja vor genau den Schadstoffen, die die eigene Präsenz als Verkehrsteilnehmer auch produziert. Das innovativ bereicherte AUCAuto soll vor den Emissionen bewahren, die es auch selbst hervorbringt. Die Firma suggeriert die käufliche Sicherheit durch Kontrolle eines Details, das jedoch nicht zu separieren ist und vermeidet so die konsequente Sicht aufs Ganze: den unendlichen Regreß nämlich, der daraus resultiert, daß jedes umluft-kontollierte Auto binnenlogisch genau zu der Ursache wird, vor deren Wirkung die Kontrolle schützen soll: jede Fahrt mit Umluft-Kontrolle macht weiteren, verstärkten Einsatz der Kontrolle notwendig. Unterdrücker und Unterdrückter sind identisch. Dazu schweigt BMW. Man schafft so einen unendlichen Bedarf und beweist die einlinige, typisch moderne Blickrichtung nach vorn aufs bloße Neue. Die Kontrolle im Kühler (vorn) übersieht jedoch das Zurückliegende, das nun Überholte, nämlich das eigene 'Hinterteil': es wird vorn neu und unaufhörlich (automatisch) kontrolliert und hinten schlicht vergessen. Das ist modern. Diese Werbung enthält außerdem eine Lüge. Saubere Luft fördert weder Konstitution noch Reaktionsvermögen: sie verhindert diese nur nicht wie die schlechte Luft, die durch die side-effects der Vorgänger aus der Reihe innovativer Technik geschaffen wurde: der 'stark frequentierte Kreuzungsbereich, dichte Stop-and-go-Verkehr, die Unterführungen und Tunnelpassagen oder unmittelbare Nähe von Tankstellen1 sind ehemalige Segnungen modemer Technik. 75

Und sie, die Vorgängerinnen der hier vorgestellten 'Innovation', sind nun hazardous to your health. Doch nicht daran, sondern an der Überbietung nach altem Muster wird gearbeitet. So betoniert man den Widersinn, daß ein 'Betriebsfehler der Moderne' zum Normalzustand wird, demgegenüber man den eigentlichen Normalzustand: saubere Luft zur innovativer Technik bedürfenden Ausnahmesituation erklärt. Man will nun wieder kaufen können, was zuvor dem Konsum, der weiterhin obsiegen soll, geopfert wurde. So schafft man so den postmodernen circulus vitiosus der Kehricht beseitigenden Kehricht-Erzeugungs-Maschine, an dem nur der Konzern seine 'teuflische1 "Freude am Fahren" haben kann. Es entsteht das treffendste Bild, die Allegorie für die sieche Epoche im Stadium des Designs (der entfesselten Technik): in sich geschlossen, ohne Zustrom von außen, kreist immer dieselbe Luft im Inneren, bis der Erstickungstod eintritt. Man beatmet sich mit eigener Abluft, ist aber gegen das böse Außen gefeit - automatisch, kontrolliert, im Glauben innovativ. Ein Sieg des Machbaren über die Vernunft. Das perfekte Wissen verabsolutiert sein Gewußtes und isoliert es bis zur Hochauflösung der Zwecke. Es funktioniert alles', hat Heidegger schon in seinem berühmten 'Spiegel'-Lamento dazu gesagt. "Das ist gerade das Unheimliche, daß es funktioniert und daß das Funktionieren immer weiter treibt und zu einem weiteren Funktionieren und daß die Technik den Menschen immer mehr von der Erde losreißt und entwurzelt. [...] Wir brauchen keine Atombombe, die Entwurzelung des Menschen ist schon da. Wir haben nur noch rein technische Verhältnisse. Das ist keine Erde mehr, auf der der Mensch heute lebt.'75 Wir befinden uns in der Totengräberphase der Moderne, die nun im Design und im Rausch der Mittel ihre Begründung und Begründer bestattet - im Luftsarg von BMW, erhältlich gegen Aufpreis, zzgl. 15 % MwSt. Wir werden im Stau an ihn denken. "Die Prämissen der Aufklärung sind tot, nur ihre Konsequenzen laufen weiter",76 so folgert Habermas, der die Diagnose mit einer Gehlen-Paraphrase zum Ende der Geschichtsutopie der Moderne auf die Formel bringt. Dennoch sind diese homologen Befunde in Wissenschaft und Kunst keineswegs in ihren Ursachen identisch. Der Verlust von Gehalt und der Verlust von Utopie, der sich 'formal' gleich ausnimmt, beruhen auf Umbrüchen in zwei Diskursen, die jeweils andere Ursachen und Verlaufsgeschichten haben. Beim Versuch einer hlstoriographischen Ortung der Gegenwart und einer Kunst in ihr arbeitet diese Untersuchung an einem (Post-)Moderne-Verständ75

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Martin Heideggen Gespräch mit dem SPIEGEL (23. Sept. 1966): Erschienen unter dem Titel: Nur ein Gott kann uns retten. In: Der Spiegel. 20. Jg, Nr. 23 v. 21. Mai 1976. S. 193219. Hier: S. 210, 219. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S.U.

nis, das - sozusagen - als Hintergrundstrahlung und Folie rückwirkt für die Aufdeckung und Benennung rezenter Mentalitäten. Diese flottieren um eine Vielzahl verschiedener Problemkonstellationen und haben eine Fülle von einander widersprechenden Standortbestimmungen und Zerfallsdebatten (des Subjekts, der Sprache, der alles bergenden Diskurse) gezeitigt, die am Ende des Denkens von Metaphysik, Subjektidentität und Systemerhalt nur als postmodern bezeichnet werden können. Der Begriff Postmoderne ist darum hier nur als terminologischer Einheitsversuch, als Meta-Kategorie divergierender und miteinander schwer kompatibler Diskurserhebungen, Abkunftsreflexionen und Selbstvergewisserungen in Theorie und Ästhetik zu werten. Obwohl sie scheinbar einen Epochalbegriff adaptiert, zeigt sich diese Untersuchung damit nicht an der sensationellen Enthüllung eines neuen Zeitalters interessiert, sondern an dem Aufweis einiger 'Nebenwirkungen* und Ausfallerscheinungen des 'alten1. Postmoderne ist der Diskurs einer angekommenen Moderne. Er blickt auf die End-Moränen des Wissens am Ende der Zeitdiskurses. Insofern beerbt er seinen Vorgänger. Da er jedoch diskursiv mit anderem 'Augenlicht' ausgestattet ist, kann er nicht lediglich als der KorrektivDiskurs beschrieben werden, der auch weiterhin im Rahmen des alten verbleibt. Postmoderne erscheint dieser Arbeit daher gleichzeitig als das in den Raum der Gegenwart aufgelöste, allerdings seine Herkunft noch bezeugende Ende der modernen Einheitsvorstellung von linearer Zeitlichkeit, als Abkehr von teleologischer Zeitgewißheit, die sich emphatisch des je Neuen als Qualität sui generis und als des Indizienbeweises für die Einlösungen eines Zukunftsversprechens bediente. Warum es generell zum Bruch der Postmoderne mit der Moderne jetzt kommt, ist nicht rational zu fassen, sondern nur diskursiv belegbar. Gehlens Äußerungen zur 'Posthistoire', der Ratschlag, jetzt mit den 'Beständen zu rechnen', wird mehr als zwanzig Jahre später entdeckt als sie gefallen sind. Warum solche Befunde jetzt virulent werden, obwohl sie doch schon so lange bereitstanden, ist leichter zu beschreiben als zu verstehen. Die Ernüchterung nach der Abkehr vom Glauben an den Fortschritt, der paradigmatisch als Signum für das Wirklichkeitsempfinden einer sich schlichtweg transitorisch begreifenden 'neuen Zeit' markiert werden muß, sowie die Erkenntnis der Komplexität einer den subjektiv überschaubaren Erfahrungs- und Wissensraum sprengenden Problemlage innerhalb des entropischen Ortes Gegenwart müssen darum als signifikant für einen historisch bedeutsamen Diskurswechsel begriffen werden. Gestützt auf die Geschichtsphilosophie Poppers und die erkenntnistheoretischen Überlegungen von Weizsäckers und Foucaults sieht sich diese Untersuchung berechtigt, den Ansatz Reinhart Kosellecks zu extrapolieren, der die Epoche-Markierung der 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' für die Mo77

derne-Erörterung eingeführt und praktikabel gemacht hat. Auf einen die Komplexität der gegenwärtigen Geisteslage jedoch vereinfachenden Nenner gebracht kommt der hier unternommene Deutungsversuch einer Postmoderne damit zu dem Resultat, daß das Schwinden der Zeitlichkeitsemphase und die Erkenntnis der 'Nach t-Schattensei ten' des instrumentellen Gebrauchs der Vernunft Gegenwart als einen schwer überschaubaren Raum geöffnet hat. Erfahrungslose, damit erwartungsinkompetente Subjekte sehen sich der gewaltigen Aufgabe konfrontiert, ihre eigene Vorhandenheit auszuloten.

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IV. Kunst und Aura

Cyprian Was schert mich die verwirkte Lebensordnung? Daran kann ich nichts ändern. Botho Strauß, Der Park Man ist ebenso Zeitbürger, als man Staatsbürger ist Friedrich Schiller, Ästhetische Erziehung

Die erkenntnistheoretischen Überlegungen für dieses Projekt und die damit eng zusammenhängende Erstellung von Leitlinien zu einer Anatomie der Wahrnehmung sind abgeschlossen. Sie dienen nicht nur der Konturierung des hier verwandten Postmoderne-Begriffes. In Folge ermöglichen sie die Wertsetzung und Re-Definition der Funktion einer Ortszeit-Ästhetik für die 'Fülle des Augenblicks'. Eingeführt wird für die Kunst der Gegenwart der Prospekt einer Wahmehmungs- und Erkenntnis-Kartographie, die den Wahrnehmungs-, Erkenntnisprozeß selbst zum Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung macht. Kunst, die sich auf der 'Jagd nach dem Geist' ('hunt for the spirit1) befindet, lokalisiert sich im thematisierten Akt des Verweisens (cognitive mapping) ohne Werke. Die Analyse hat darum nun die Aufgabe, die - neben der epochalen - zweite Kategorie des diskursiv vermittelten Wissens in ihrer spezifischen Historizität heraus-zukristallisieren. Auch sie fordert die Form der Kunst-Artikulationen der Gegenwart heraus: es ist die Kunst selbst Untersucht werden soll eine kunstdiskursive Folge, die in ihrem Niederschlag der sukzessiven Auflösung des Kunstwerks vorgestellt wird. Drei historisch realisierte Erscheinungsformen des Kunst-Verständnisses werden betrachtet. Betitelt werden die Stadien des dreigliedrigen Modells der Werk-Auflösung mit Präsentation von Gehalten, dann mit Verweis auf den Gehalt, der in der Avantgarde der Kunst-Kontext selbst sein kann, schließlich mit Thematisierung des Aktes des Verweisens, als Bezeichnung für die Kunstanstrengung zum cognitive mapping im momentanen Kunstbetrieb. In den divergierenden Auffassungen darüber, was Kunst und wie sie zu erreichen sei, dokumentieren sich spezifische Haltungen zum Werk. Sie bilden jeweils die Folie, vor der Kunst-Hervorbringungen, das Material zur Kunst, eingeschätzt wird. Denn der bürgerliche Kunstbetrieb handhabt die von ihm verhandelten Werke immer schon im Lichte seines Wissens von Kunst. Dieses kommt zuerst, jene haben sich zu fügen. Dieses Wissen behauptet sich gerade dann, wenn die Verbindung zwischen Werk und Kunst von der modernen Vor79

Stellung, nach der das Werk nur, wenn sein Anteil an Kunst an ihm selbst ersichtlich wird, als Werk angesprochen werden kann, zu der postmodernen Setzung umgekehrt wird, mit der der Kunstbetrieb sein Material über die Auratisierung des Künstlers zur Kunsthervorbringung erklärt. Eine Engbindung von Kunst und realisiertem Werk war und ist im bürgerlichen Kunstbetrieb nicht-notwendig. Auch wenn für diesen bürgerlich-autonomen Bereich, der der Kunst zugewiesen ist, also für Künstler, Ästheten und Kunst-Theoretiker, keineswegs je selbstverständlich gilt, daß die Kunst, über die gesprochen wird, jeweils auch realisiert ist, so verfügen die Kunstschaffenden und -Verstehenden eben doch über das Wissen darüber, was Kunst, zu der sie sich zurechnen, ist (oder war) und was sie zu leisten imstande ist, bzw. wäre, wenn es sie denn (schon) gäbe. Auf dieser Reflexionsebene treffen zum Beispiel Schiller und Beuys aufeinander. Selbst wenn Schiller Werk nur als Kunst denken kann (und darum über Kunst und nicht Werke spricht), heißt das nicht, daß alle realisierten Werke dann auch mit dieser Kunst identifiziert werden. Für Schiller gibt es eine Kunst der Werke jenseits der realisierten Kunstwerke. Über diese Kunst schreibt er in den 'Briefen1. Wilsons ästhetischer Entwurf demgegenüber wird eine Kunst ohne Werke vorsehen, die sich nie gegenständlich realisiert, die die Rezeption für sich - auf der Grundlage eigenen Wissens - herstellt. Sein thematisierter Akt des Verweisens dient dem cognitive mapping, der raumgewinnenden Selbstortung des Denkens. Wenn das Werk1, bzw. seine Substitution primärer Fixpunkt des Untersuchungsinteresses wird, dann werden damit - wenn auch nur um Bruchteile versetzt - erst sekundär Überlegungen dazu mitangestellt, was Kunst ist, sein könnte oder zu sein hat. Dennoch behauptet sich Kunst werkunabhängig als episteme, als diskursives Feld, auf dem Artefakte situiert werden, und es kursieren stets sehr reale Vorstellungen zur Kunst, die nicht ausschließlich von verfügbaren Werken gedeckt werden. In ihnen wird gewußt, wovon gesprochen wird. Darum ist mit der - hier in einem dreistufigen Schema rekapitulierten - Auflösung der Werke, die im Kunstbetrieb der Postmoderne ihre Perfektion erfährt, gerade nicht das Ende der Kunst bezeichnet.

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Kunst und Werk Was ist das für eine komische Einheit, die man mit dem Namen "Werk1 bezeichnet? Michel Foucault, Was ist ein Autor?

Als 'Werk' wird hier generell das Material zur Kunst verstanden. Es ist das Geschaffene, dem man in historisch divergierender Weise je Kunst beimißt. Diese Relation von Kunst und Werk ist gebunden an das Entstehen eines Begriffs vom bürgerlichen, autonomen Bereich der Kunst, der als Kunstsphäre eigenen Rechts (und eigener Geschichte) aus der Lebenspraxis (P. Bürger) ausgegliedert ist. Dieser Kunstbereich, der Diskurs Kunst, wird hier als der Kunstbetrieb bezeichnet. Die Beziehung zwischen Werk und Kunst verändert sich historisch in der ästhetischen Einschätzung. Sie geht aus von einer Identifizierung, die Kunst mit dem Werk - etwa als das Schöne - unmittelbar vor Augen hat, bzw. als diese Identität ideal denkt, und die sich dementsprechend sogar dann die Umkehrung dieser Relation gestattet: das Werk ist Kunst und Kunst ist Werk; in dieser Vorstellung existiert so etwas wie ein verbindlicher Kunstbegriff, ein Kriterium, mittels dessen Werke etwa vom Dekor (Manierismusproblem)1 geschieden werden können. Wenn Hegel an Werken der (romantischen) Kunst das Ungenügen notiert, das Absolute adäquat darzustellen, eben sinnlich erfahrbar zu begreifen, dann richtet sich seine Feststellung gegen die Unangemessenheit sinnlich erfahrbarer Konkretion des Absoluten. Nach Hegel ist die Kunst nur imstande, es in seinem Enfaltungsprozeß unmittelbar objekthaft zu repräsentieren. Insofern ist Kunst das für sich invariable, unumstößliche - und darum eben vergangene Mittel der Selbstartikulation der Wahrheit, der Idee als Schönheit, die jetzt allenfalls an ihr erinnert werden kann. Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern, was die Kunst sei wissenschaftlich zu erkennen.2

Die Auffassung einer grundsätzlichen Identität, mit der Kunst und Werk korreliert werden, verliert ihre Unabdingbarkeit: Etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird eine Adäquatheitsrelation angenommen: das Werk, das sich für die Kunst ausspricht, verweist nun mittels Form auf seinen Gehalt. Es steht nicht mehr unmittelbar für Wahrheit als Kunst, sondern für einen Gehalt, eine Bedeutung, eine Aussage, die produziert wird. Kunst ist es, die eine 'Kommunikation1 zwischen Werk und Betrachter herstellt und legitimiert. Es 1

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Gemeint ist hier nicht das Phänomen des historischen Manierismus', sondern die kunsthistorische Kategorie. Vgl. hierzu: das Kapitel zum Manierismus und zur postmodernen KunstKunst! Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. 2 Bde. (Hg.: F. Bassenge.) Frankfurt. O.J. S. 21.

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gibt nun ein explizites Bewußtsein dafür, daß man sich auf dem Feld der Kunst aufhält. Werke präsentieren nicht mehr - unmittelbar als Kunst - Wahrheit, sondern Werke repräsentieren nun mit ihren Verweisen die Kunst selbst. Das Werk hat - nach unterschiedlichen Gesichtspunkten - den Nachweis erbracht, daß es in diesen Kunstbereich gehört. Am Werk wird über die subjektive Haltung des Künstlers, die Notwendigkeit oder das unbedingte Muß zur Kunst hinaus, eine verbindend-verbindliche Kondition ablesbar, die es für die Rezeption formuliert. Als Besonderung ist es dem Allgemeinen angemessen. Es kann dahin transzendiert werden. Während der Vorstellung einer Werk-KunstIdentität die Frage nach dem Kunstgehalt der Werke nicht nur völlig gleichgültig sein kann, weil sie nach Wahrheit sucht, sondern sogar völlig absurd erscheinen muß, weil Werke nur Werke als Kunst sind, ist dem Bewußtsein von der Kunst der Avantgarde, die Formen auf Gehalte verweist, genau diese Frage allererste Herzensangelegenheit. Das Vertrauen der Avantgarde noch in ihre Nicht-Werke zur Kunst, die als Formen jedoch weiterhin auf ihre Gehalte verweisen - und damit kunstgetreu bleiben - dokumentiert auch ihr Vertrauen auf den funktionierenden Bereich der Kunst. Von hier aus soll schließlich das Leben angegangen (repariert) werden. Für sie gibt es eine fiktive, lebensbessere Kunst, nämlich die, die in Lebenspraxis überführt und unmittelbar wahr und so wirksam wäre. Solange diese dann werklose Kunst nicht realisiert ist, muß der avantgardistischen Vorstellung gemäß versucht werden, diese Kunst über Werk-Verhöhnungen, die in Folge allerdings vom Kunstbetrieb zu Werken erhoben werden, wirksam werden zu lassen. Demgegenüber begreift der Kunstbegriff des hier untersuchten Robert Wilson, der als Postmoderner die Erfahrungen der vergeblichen, gescheiterten Befreiungsversuche der Kunst durch die Avantgarde bereits als Wissen verbucht hat, Kunst je als das Erlebnis der Rezeption, dem seine Re-Produktion von gewußten Materialien zuarbeiten will. Bleibt also die Annahme von Kunst überhaupt fraglos gewiß (lediglich die Vorstellungen von dem, wo und was Kunst ist, sein kann oder sein soll, schwanken historisch), so differieren das Zutrauen in die Möglichkeiten und die Besetzungen derjenigen Instanz, die Kunst erweisen, befördern oder auslösen soll: die künstlerisch-ästhetische Hervorbringung innerhalb des Kunstbetriebes, die Werk genannt wird. Kunst ist dem bürgerlichen Kunstbetrieb nicht selbst, sondern nur über Werke, aber für das Bewußtsein ist sie es, die die werkformulierten Position(en) zum Leben ermöglicht. Kunst ist durch Werke erwiesen, bzw. in ihnen steckt die (zugesprochene) Kompetenz, Kunst zu erreichen. Sie steht dahinter allerdings als eine sehr konkrete Bedingung. Deshalb sind nicht die Werke selbst 'Kunst', sondern Kunst ist der (historisch gewachsene) Rahmen für die Spiele, Formen auf Gehalte verweisen zu lassen, die man die Werke nennt. 82

Kunst zeigt sich also nicht unmittelbar in einzelnen Werken, sondern erweist sich stets als das Gesamt aller Werke des Bereichs, die zu ihm schon gehören. (Man lokalisiert Duchamps Urinoir erst in der Kunst, bevor es 'Werk1 wird.) Werke fungieren dementsprechend als Mittler zwischen diesen Antipoden: Leben können sie als Arte-Fakte nicht sein, und Kunst ist das Dahinter der Werke. Nicht alle ästhetischen Formen sind auch Kunst. Geregelt werden diese Setzungen je vom Kunstbetrieb. So ist der Kunstbereich endgültig und vollständig vom Leben geschieden. Im Bemühen der historischen Avantgardebewegungen, diesen Bereich zu verlassen, dokumentiert sich ja - wie übrigens auch in der gegenteiligen, ästhetizistischen Auffassung -, daß Kunst dem Leben als autonome, ja absolute Sphäre gilt. Mit diesem Generalkonsens hat die Postmodeme in zweifacher Hinsicht gebrochen. Das Vertrauen zum einen in die unmittelbare Vermittlungsinstanz Werk ist verloren. Kunst kann darum auch werklos werden. Sie entbehrt dann jeder direkten Affinität zu den nur noch als Material gedachten Vehikeln zur (tatsächlich unberechenbaren) Erlebens-Kunst. Die vorausgesetzte Engbindung des Objektes an die Kunst und damit die Frage der Angemessenheit der einen Form für ihren Gehalt gelten dann als obsolet gewordene Instanzen der Selbstbeschränkung des Materials. Sie bezeugen der Postmoderne einen statischen Begriff von Kunst. Da die Postmoderne als Album der Zeiten definiert werden kann, variieren Formen wie Bildunterschriften von einer zur nächsten Seite. Es gibt für diese Zeitenkollektion kein verbindliches Kriterium (nicht einmal im Plural), das eindeutig Kunst auszumachen gewährleisten würde. Damit wächst die Bedeutung der Rolle der Kunstvermittlung: des Kunstbetriebes. Zum anderen ermöglicht gerade diese Werklosigkeit, Kunst an den lebensnächsten Ort zu situieren. Sie wird Erfahrung eigenen Denkens des Rezipienten. Kunst ereignet sich jetzt in einem material-bereiteten Raum je für die Rezeption. Kunst selbst - so die postmoderne Vorstellung - siedelt damit nicht im gesellschafts-separierten, lebensfernen Reservat, sondern im lebendigsten aller Biotope: im Denken selbst. Postmoderne Formen sind Anlässe zum (jedem!) Denken von (allen) Gehalten, wie wiederum Gehalte Anlässe für Formen sein können. Selbst ehemalige Kunstwerke der Moderne, die dort Form für Gehalt verwiesen, werden der Postmoderne zum Anlaß für ihre Form. Orgien des Zeichenhaften. Alles kann mit allem verbunden werden, alles kann bedeuten. Solange an der Werkkategorie der Moderne festgehalten wird, solange diese Form-Gehalt-Bezüglichkeit wie eine conditio sine qua non der Kunst gehandelt wird, solange wird Postmodeme nur mit dem kunsthistorischen Terminus des Manierismus, des eklektischen Formen-Diebstahls zu belegen sein. Tatsächlich verflüchtigt sich diese Annahme jedoch bei der Gewärtigung einer nun werklosen Kunst, die nicht im 83

Objekt, sondern im Wissen (auch vom Objekt!) anzusetzen ist. Nur die Weise des Arrangements von Materialien soll daher hier mit dem Term KunstKunst belegt werden. Er will also eine Verfahrensweise und eine Haltung zu Kunstformen ausdrücken, nicht Bezeichnung sein für die entstehende Form selbst, um jede Konfusion mit Kunstwerken des Manierismus zu vermeiden. Erste Station, an denen innerhalb des bürgerlich autonom gesetzten Bereichs der Kunst ein dreistufiger Prozeß von der 'Wahrheit' über den 'Gehalt' vermittelt durch 'Werke' - zur Wahrnehmung des Seins festgemacht werden kann, sind für diese Arbeit Schillers Überlegungen zur Ästhetik, die er in den 'Briefen zur ästhetischen Erziehung' formuliert hat.

l. Die Repräsentation Werk = Kunst = Wahrheit Schiller: Das Werk als Antizipation der besseren Zukunft Schiller setzt einen in der Hinsicht intakten Werkbegriff voraus, daß darin schon die Möglichkeit zur Präsentation von (auch außerzeitlichen) Inhalten vorgesehen ist. "Ich möchte nicht gem in einem Jahrhundert leben und für ein anderes gearbeitet haben", bedingt sich Schiller aus, der darum "dem Bedürfnis und dem Geschmack [seines] Jahrhunderts eine Stimme einzuräumen"3 wünscht. Die unbedingte, unmittelbare Wirkungsabsicht, die sich Schiller in den 1795 in den 'Hören' veröffentlichten 'Briefen' damit ausdrücklich anzuzeigen genötigt fühlt, ist interessant. Offensichtlich wird daran, daß dem ästhetischen Korrespondenten offensichtlich schon eine selbstverständliche, indes hier unwillkommene Möglichkeit aufscheint, das gegenwärtige Tun mit dem Index der Zukünftigkeit zu versehen. Er existiert bereits in dem typisch modernen Zeitenamalgam der zukunftsvernetzten Gegenwart, für die der Augenblick die schlichtweg transitorische Zeitschleuse auf dem Weg in ein glücklicheres Futur ist. Darum gibt es einen ganzen ästhetischen Brief einnehmenden Appell an die Aufnahmebereitschaft des "lärmenden Markt[es] des Jahrhunderts",4 die ästhetische Vermittlung der Freiheit als Remedium für die "Notdurft der Materie"5 schon für die Gegenwart ernst zu nehmen. Die konkrete Heilkraft der 3

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Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Werke in drei Bänden. (Hg.: G. Göpfert.) Bd. . München 1966. S. 445-520. Hier: Zweiter Brief. S. 446. Ebd. S. 447. Ebd. S. 446.

Kunst, die zwar "dem Geschmack des Zeitalters [noch, B.G.] fremd ist", werde sich aber dennoch unumgänglich erweisen, "weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert"6 Selbstverständlich steckt auch im folgenden Entwurf der "ästhetischen Utopie, die der Kunst eine geradezu sozial-revolutionäre Rolle zuschreibt"7 der programmatische Vorwurf in die Zukunft, in der Kunst "als eine kommunikative Vernunft [begriffen ist, B.G.], die sich im 'ästhetischen Staat' verwirklichen wird."8 Insofern bleibt auch für Schiller Zukunft die utopische Verheis-sungsstelle für eine unter den Wirren der Revolution und den Greueln des 'terreurs' problematisch gewordene Gegenwart. Doch stellt die Anzeige seines Arbeitsethos' den Versuch dar, die Gegenwart in Richtung auf jene ästhetische Zukunft auf den Weg zu bringen. Schillers zukunftsgetragene Gegenwartsarbeit formuliert so nichts geringeres als den Anspruch, Geschichte mit und durch Kunst machen zu wollen. Tatsächlich beginnt Schiller damit, seine Botschaft im Gewand rhetorischer Skrupel zu lancieren: Seine Ästhetik greife an den weltbewegenden Diskursen des "Vernunftgerichts" vorbei, so bestätigt er möglichen Argwohn, nach denen "die Blicke des Philosophen wie des Weltmanns auf den politischen Schauplatz geheftet [werden], wo jetzt, wie man glaubt, das große Schicksal der Menschheit verhandelt wird." Er wirft sich eine anscheinende "tadelns-werte Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Menschheit [vor], dieses allgemeine Gespräch nicht zu teilen"9 - und bezieht genau daraus seine Rechtfertigung. Denn die Distanz zur Gegenwart eröffnet genau den Raum, von dem aus ihre Kritik möglich wird. Schiller nutzt das an Begriffen Kantischer Philosophie geschulte Argumentationsmodell10 für eine von Seiten der Ästhetik kommende Kritik der Moderne gerade dazu, ihr Denken auf sich selbst anzuwenden und so ihren Anspruch mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Schiller ist der erste Rückkoppler. Denn woher noch [...] diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Liebt, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten? Das Zeitalter ist aufgeklärt, das heißt, die Kenntnisse sind gefunden und öffentlich preisgegeben, welche hinreichen würden, wenigstens unsere praktischen Grundsätze zu berichtigen. Der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten [...]. Die Vernunft hat sich von den Täuschungen der Sinne und von einer betrüglichen Sophistik gereinigt, und 6

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Ebd. S. 447. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 59. Ebd. Friedrich Schüler Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 447. Ich "will nicht verbergen, daß es größtenteils Kantische Grundsätze sind, auf denen meine Behauptungen ruhen werden". Ebd. S. 445. 85

die Philosophie selbst, welche uns zuerst von ihr abtrünnig machte, ruft uns laut und dringend in den Schoß der Natur zurück - woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind.11

Damit schlägt Schiller eine Saite an, die noch beim Duo der späten Aufklärungskritik, Horkheimer/Adorno, schwingen wird; jene fragten angesichts faschistischer Erkenntnisdämmerung, "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt."12 Und tatsächlich diagnostizieren Horkheimer/Adorno wie auch Schiller die Verleumdung einer die Vernunft noch übergreifenden Wahrheit als Ursache für diese Stagnation in der Entwicklung der Menschheit, die sich in "blinder Herrschaft" (Horkheimer/Adomo) bzw. im "Konflikt blinder Kräfte" (Schiller) selbstsüchtig in der von ihr entzauberten Welt eingerichtet hat. So entlarven Horkheimer/Adorno die "falsche Klarheit" der Aufklärung als den "anderen Ausdruck für den Mythos".13 Schiller macht den Mangel an realitätsgewappnetem Mut, die Vernachlässigung des 'aude' im 'sapere aude1, dafür verantwortlich, daß einerseits 'ermüdete und abgespannte Menschen1 (Schiller) zu Fertigformeln für die Regulation ihrer existentiellen Bedürfnisse greifen, während andere vor der Wahrheit fliehen und "den Dämmerschein dunkler Begriffe [...] den Strahlen der Wahrheit vor[ziehen], die das angenehme Blendwerk ihrer Träume verjagen."14 Das Dilemma der Aufklärung ist, nach Schiller, ihre hermetisierende Differenzierung der Sphären von Vernunft und Sinnlichkeit, damit die Zersplitterung einer bei den Griechen noch vorfindlichen, essentiellen Ganzheit der Gattung Mensch. Diese Zerstückelung sei - so seine Diagnose - Resultat des historischen Prozesses der Zivilisation, ein Phänomen der Kultur selbst: "Die Kultur selbst war es, welche der neueren Menschheit diese Wunde schlug."15 Der intuitive und der spekulative Verstand verteilten sich jetzt [mit der Aufklärung, B.G.] feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern [...]. Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen.16

Tschierske kommentiert Schillers Fazit des Scheiterns der Aufklärung keineswegs als einen "nur verfrühten 'Betriebsunfall' [...], sondern als Folge ihres al11

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Ebd. S. 461. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt 1971. S. 1. Ebd. S. 4. Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 461f. Ebd. S. 455. Ebd.

lein theoretischen Stils der Weltaneignung, des Primats von Verstandes- und Vernunftbildung."17 Was Schiller an der Aufklärung tadelt, so resümiert er dessen Gedankengang weiter, ist das einseitige anthropologische Modell von Freiheit, das ihr zugrundeliegt: die konsequente Überbetonung der Ratio und die mit dieser einhergehende 'Verleugnung der Natur', deren Verlust nicht Befreiung bedeutet, sondern den unfreiwilligen Rückfall in Barbarei.18

Schiller hat damit eine "abstrakte Gegensetzung von Sinnlichkeit und Verstand, Stofftrieb und Formtrieb" herauskristallisiert, die "die aufgeklärten Subjekte einem doppelten Zwang [unterwirft]: dem physischen Zwang der Natur wie dem moralischen Zwang der Freiheit, die sich beide um so fühlbarer machen, je hemmungsloser die Subjekte die Natur, die äußere ebenso wie ihre eigene innere Natur, zu beherrschen suchen."19 Diese Hypertrophierung hybrider Natur-Halbheiten habe damit die ursprüngliche Ganzheit des Menschen zerschlagen, der nun nur noch als Repräsentant eines spezifischen Diskurses auszumachen sei, als "Bruchstück [...], ewig nur das eintönige Geräusch des Rades im Ohre, das ihn um treibt [...], ein Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft"20 und nicht mehr als repräsentativer Vertreter einer intakten Gattung: Das Bild der Gattung [ist] in den Individuen auseinandergeworfen - aber in Bruchstücken, nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen.21

Habermas resümiert die von Schiller aufgezeigten Konsequenzen als SelbstEntfremdungserscheinungen einer auseinanderdriftenden Humanität: So stehen sich am Ende der naturwüchsig dynamische und der vernünftig ethische Staat fremd gegenüber; beide konvergieren nur im Effekt der Unterdrückung des Gemeinsinns.22

Damit stehen beide, Schiller und das dialektisch-kritische Ensemble Horkheimer/Adorno, zwar außerhalb dessen, was sie als 'halbherzige' (Schiller) Aufklärung attackieren. Gleichzeitig stehen sie jedoch unter der Fahne einer Aufklärung der Aufklärung über sich selbst, damit einer Radikalisierung der Kritik, die sich stets noch an dem, was sie selbst hervorbringt, kritisch abzuarbeiten bereit ist. Darum benennt Schiller ausdrücklich auch den "Zirkel", in dem seine Moderne-Kritik augenscheinlich kreist und gleich auch das Remedium, diesen auszuhebeln: 17 18

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Ulrich Tschierske: Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität. Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers. Tübingen 1988. S. 55. Ebd. S. 56. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 61. Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 455. Ebd. S. 454. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 61. 87

Die theoretische Kultur soll die praktische herbeiführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen sein? Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen · aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müßte also zu diesem Zweck ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller politischen Verderbnis rein und lauter erhalten. [...] Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.23 Kunst soll 'Charakter veredeln1; Kunst also soll den Mut zur Vollendung der Aufklärung beflügeln. Damit wird Kunst direkt an eine historische Situation gebunden. Das 'Ideal', als das sich Kunst dann erweisen werde, wenn es dem Künstler gelingt, den Bund "des Möglichen mit dem Notwendigen"24 zu schließen, ist zeitlos nur im Hinblick auf seine Realisation, nicht aber im Hinblick auf seine aufklärungsheilende Rolle. Kunst will konkrete Antwort auf eine spezifische historische Situation sein. Die Wirkungsabsicht der Kunst ist, so Schiller, die Korrektur eines Mangels erlebter Aufklärung; der Stoff für die Kunst wird daher - schon über die Person des Künstlers - der Gegenwart verpflichtet; ihre Form allerdings sei der utopischen Quelle der Schönheit, "dem reinen Äther einer dämonischen Natur"25, abzuringen: Der Künstler ist zwar Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. [...] Wenn er Mann geworden ist, so kehre er [der Künstler, B.G.], eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.26 Damit wird dem Künstler allerdings zugemutet, eine Position der Authentizität zu besetzen, die - stets von jener angefochten - titanenhaft gegen die feinverteilende Willkür der Zeit zu verteidigen ist. Und Schiller weiß, daß die Verwirklichung dieser Aufgabe vom rechtschaffen(d)en Künstler-Gemüt, das ja Anteil hat an seiner Zeit, allein nicht zu realisieren ist. Zu groß ist das zu Leistende, zu bedeutend die Aufgabe: die Inkorporation des Ideals nämlich "in Täuschung und Wahrheit", das auszuprägen sei "in die Spiele seiner [des Künstlers] Einbildungskraft und in den Ernst seiner Taten, [...] in allen sinnlichen und geistigen Formen [, die] schweigend in die unendliche Zeit" geworfen sein wollen.27 Schiller assoziiert darum die Kunst-Saat mit entelechischer Selbstvollendungspotenz, die auf nichts anderem beruht als eben jenem Zeit-Optimis23 24 25

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Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 462. Ebd. S. 463. Ebd. Ebd. Ebd.

mus, den eine Epoche - die Moderne - geprägt hat. Zwar gibt es das, wonach die Menschheit gegenwärtig schon verlangt, noch nicht. Doch wirkt das, wovon man die Gewißheit späterer Gegebenheit hat, eben doch schon: hier durch die Kunst. Der Gegenwart muß diese Ahnung einer zukünftigen Realisation der Wahrheit genügen - im moralisch gerechtfertigten, 'not-wendigen' Andenken gegen die schlechte Gegenwart wird schon bessere Zukunft antizipiert. Damit ist ein ideales Zeit-Paradox formuliert, das dem Un-Zeit-Charakter dieser Wahrheit angemessen ist: das Wahre hinterläßt seine Spuren in der Gegenwart, verweist so auf seine vorhandene Präsenz, obwohl es in Zukunft erst sich verwirklichen wird. Darum also genügt es, mit Kunstwerken in der Gegenwart richtungsweisend zu bleiben, die Wahrheit, die nicht direkt, nur in Schönheit, zu artikulieren ist, anzudeuten und auf die Selbstheilungskraft der Idee, des historisch Besseren in der Zeit, zu vertrauen. Der reine moralische Trieb ist aufs Unbedingte gerichtet, für ihn gibt es keine Zeit, und die Zukunft wird ihm zur Gegenwart, sobald sie sich aus der Gegenwart notwendig entwickeln muß. Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist. Gib also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und der Schönheit zurufen, [...] gib der Welt [...] die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen.28 Mit dem Schein der Wahrheit behauptet Schiller aber eben nicht auch schon ihre Umsetzung in gesellschaftliche Wirklichkeit. Zu der wird die schließlich befreite Gattung im ästhetischen Staat verpflichtet. Darauf verweist Berghahn: Im Schein der Kunst wird mögliche Vollendung antizipiert, aber nur als Schein, denn seine Realisierung steht schon nicht mehr bei der Kunst, ist Aufgabe der Gesellschaft.29 Aber selbst dieses Urvertrauen in die Wahrheit offenbarende Zeit reicht nicht allein hin, die Kunst mit den Kompetenzen des Remediums - in der und für die Zeit - zu versehen. Die Kunst ist zudem an eine Stelle außerhalb der Vorhandenheit, der Wirklichkeit der Dinge zu situieren. Nur ihre Exterritorialität, ihr Trabantendasein, das Wahrheit im Schein der Schönheit Von außen1 auf die Wirklichkeit reflektiert, vermag im Konnex mit ihrer Überzeitlichkeit die Distanz sicherzustellen, die eine nicht-involvierte, nicht zu involvierende Kritik verlangt Wahrheit wird damit zu dem reinen Abstraktum befreit, das sich weder im konkreten Gegenstand über eine Dauer, noch in einer zeitlichen Determination als historisch fixierbares Phänomen (be-)greifen läßt. Schiller verweist auf diese Konstruktion der Wahrheit - im Vorfeld Hegels - in der Rede vom Versuch, das 'Absolute1 zu fassen. 28

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Ebd. S. 464. Klaus L. Berghahn: Schiller. Ansichten eines Idealisten. Frankfurt 1986. S. 151. 89

Da uns die Erfahrung nur einzelne Zustände einzelner Menschen [...] so müssen wir aus diesen individuellen und wandelbaren Erscheinungsaiten das Absolute und Bleibende zu entdecken [...] suchen. Zwar wird uns der trans-zendentale Weg eine Zeitlang aus dem traulichen Kreise der Erscheinungen und aus der lebendigen Gegenwart der Dinge entfernen [...], aber wir streben ja nach einem festen Grund der Erkenntnis, den nichts mehr erschüttern soll, und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern.30 Klaus Berghahn entdeckt in dem Autonomie-Status, den Schiller der Kunst zur Wahrung ihrer "wirkenden Kraft"31 verleiht, die Bedingung der Möglichkeit, "sich kritisch zur depravierenden Lebenspraxis [zu] verhalten und den Vorschein einer befreiten Menschheit [zu] bewahren."32 Die Negation der gesellschaftlichen Wirklichkeit im autonomen Kunstbegriff fordert geradezu kontrafaktisch den Vorschein auf eine humanere Welt. Schiller macht die Autonomie und den schönen Schein zum Garanten einer utopischen Funktion der Kunst. Indem er die kritische Qualität der Kunst in die autonome Form verlegt, kann sie Widerstand leisten gegen das Realitätsprinzip.33 Peter Bürger faßt Schillers Gedanken dahingehend, "daß die Kunst, gerade weil sie jedem unmittelbaren Eingreifen in die Wirklichkeit entsagt, geeignet ist, die Totalität des Menschen wiederherzustellen. [...] Die Errichtung einer vernünftigen Gesellschaft [wird] abhängig gemacht von einer [...] über die Kunst zu verwirklichenden Humanität."34 Der Kunst gelinge die Herstellung und Aufrechterhaltung eines "mittleren Zustands"35 befreiter Sinnlichkeit, der gleich weit von dem Extrem ausschließlich triebhaft-egalisierender Natürlichkeit wie dem der ausschließlich berechnend-trennenden Vernunft entfernt liegt. Die Vermittlerposition besetzt die Schönheit. Letztere ist - so Schiller - "das gemeinschaftliche Objekt beider Triebe, das heißt des Spieltriebs".36 Da sich das Gemüt bei Anschauung des Schönen in einer glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und dem Bedürfnis befindet, so ist es eben darum, weil es [...] dem Zwange sowohl des einen als des anderen entzogen [ist].37 Insofern also vereinigt die Kraft der Schönheit die auseinanderklaffenden Extreme wieder zu einem harmonischen Ganzen - und rettet so die fehlgeleitete 30 31

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Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 468. Ebd. S. 470. Klaus L. Berghahn: Schiller. A.a.O., S. 137. Ebd. S. 141. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt 1974. S. 62. Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 499. Ebd. S. 480. Ebd.

Aufklärung auf der höheren Ebene einer nun auch über sich selbst aufgeklärten vernüftig-natürlichenMenschheits-Ganzheit. Im ästhetischen Zustand, so Berghahn, macht der Mensch die besondere Erfahrung, daß die Schönheit vernünftig wird und somit die Vernunft natürlich.38 Konsens herrscht darüber auch bei Tschierske, der in der Denkfigur des ästhetischen Zustands Schillers prospektiven Kitt für die durch Kunst initiierte Re-Union der durch die historisch gewordene Aufklärung zerborstenen, anthropologischen Einheit von Natur und Vernunft erkennt. Besteht die problematische Hinterlassenschaft der Aufklärung in der Abspaltung und Isolierung von Natur und Vernunft, so versuchen die 'Briefe1 den Begriff der Natur unter den veränderten Bedingungen der 'ästhetischen Veredlung' auch für die Vernunft zu retten und sind so unterwegs zu einem anthropologischen Modell, das Natur und Vernunft als zusammenwirkende Einheit versteht.39 Die Resurrektion der gegenwärtig in kontextlose Fälle zersplitterten Menschheit ist ein Programm, das Schiller der Kunst übereignet. Es besteht in der Verdichtung zum positiven Allgemeinen der Gattung für dasjenige Besondere, das noch lediglich als Abgesondertes zu denken ist. Sie gelingt für Schiller nur um den Preis einer als 'wirk-liche Schönheit' kaschierten, noch indes un-wirklichen Präsenz eben der abstrakten, politisch relevanten Wahrheit, zu der die Zeit selbst sich finden werde. Die Gegenwart kann mit dem Kunst-Werk lediglich die immanente Raum-Größe für die künftige Realisation dieser Utopie bereitstellen. Die Kunst ist mithin ein autonomes Nichts: nicht in Koordinaten des Raum-Zeit-Kontinuums zu fassen; erkennbar nur am Glimmen über-zeitlicher, über-dinglicher Wahrheit in ihrer Werk-Emanation des Schönen. Das Werk, das diese Kunst, ihre Idee, repräsentiert, erhebt sich nur im Schein dieser Kunst über seine bloße Materialität: es trägt die Signatur einer anderen, zukünftigen Zeit; es bildet und besetzt als schönes die Stelle, den Fluchtpunkt in der Zeit für jene noch unausdrückliche Wahrheit, die nur als (Wider-)Schein zu formulieren ist. Damit ist das Werk - obschon nicht selbst Realisation der Idee der Kunst - dennoch der einzig konkrete Ort der Vermittlung der nicht-räumlichen, überzeitlichen Idee "ästhetischer Freiheit"40 innerhalb einer sich selbst entfremdeten Gesellschaft. Es ist konstanter Fokus der Verheißung im Raum und für die Zeit: sinnlich erfahrbarer Richtungsanzeiger der Wahrheit, damit authentischer Hoffnungsträger für das 'falsche Leben' in den "Fluten der Veränderung".41 38 39 40 41

Klaus L. Bergbahn: Schiller. A.a.O., S. 142. Ulrich Tschierske: Vemunftkritik und ästhetische Subjektivität. A.a.O., S. 56. Friedrich Schüler. Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 499. Ebd. S. 469. 91

Schiller formuliert ein modernes Kunstprogramm des vorausweisenden Bedeutens. Seine Kunsttheorie gilt der erlebten Wirklichkeit. Insofern erhält auch schon Schillers Beitrag zum Diskurs Kunst seine Richtlinien vom Diskurs der Epoche. Das Werk der Kunst, obschon lediglich Repräsentant eines noch nur scheinhaft formulierten Geltungsanspruchs innerhalb einer politischen Realität, wird dennoch unendlich ernst genommen, ist es doch für diese Realität der einzig mögliche Garant für die Revolutionierung - wie Habermas sagt der Verständigungsverhältnisse. Gegenüber der Auflösung von Kunst in Leben, die die Surrealisten später programmatisch fordern, die Dadaisten und deren Nachfolger provokativ herbeiführen wollen, beharrt Schiller auf der Autonomie des reinen Scheins. Wohl erwartet er von der Freude am ästhetischen Schein die 'totale Revolution' der 'ganzen Empfindungsweise'. Aber der Schein bleibt nur solange, wie er allen Beistands der Realität entbehrt, ein rein ästhetischer. [...] Weil sich die Gesellschaft nicht nur im Bewußtsein der Menschen reproduziert, sondern auch in deren Sinnen, muß die Emanzipation des Bewußtseins in der Emanzipation der Sinne wurzeln - muß die 'repressive' Vertrautheit mit der gegebenen Objektwelt aufgelöst werden.42 Das Werk ist schon für Schiller nicht, was es ist Es ist nicht die realisierte Wahrheit, zu der es verhelfen soll. Es be-deutet deren Existenz in der Zukunft. Seine materielle Bestimmung ist, Katalysator für einen ästhetischen Prozeß zu sein/werden, mit dessen Hilfe Menschen erneut zu sich selbst finden sollen. Schiller beschreibt das Werk selbst, den Träger der Schönheit, darum auch nur in den allgemeinsten Raum-Kriterien, die die Vorstellung des Raumes (wie auch Kant) für die unendlich möglichen Bewegungen des "menschlichen Geistes" je de-finieren und die "leere Unendlichkeit" der Einbildungskraft auf die Gestaltung seiner Form, die Schönheit, fixieren. Das Endlose des Raumes und der Zeit ist seiner [des Menschen] Einbildungskraft zu freiem Gebrauch hingegeben, und weil, der Voraussetzung nach, in diesem weiten Reiche des Möglichen nichts gesetzt, folglich auch nichts ausgeschlossen ist, so kann man diesen Zustand der Bestimmungslosigkeit eine leere Unendlichkeit nennen. [...] Wir gelangen also nur durch Schranken zur Realität, nur durch Negation oder Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung unserer freien Bestimmbarkeit zur Bestimmung.43 Schönheit allein bewältigt allerdings noch keine Kunsttat. Das Werk, dem die Initiation dieses weit-rettenden Prozesses überantwortet wird, tritt in dem Augenblick als Kunstwerk zurück, in dem es den "freien Denkkräften" zum Mut zur Selbständigkeit verhelfen hat. Damit ist die zweifache Utopie formuliert, daß eine Kunst, die es noch nicht gibt, unmittelbar durch Schönheit auf ein Bewußtsein, das es noch nicht gibt, sondern von ihm erst hergestellt wer42 43

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Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. A.a.O., S. 63. Friedrich Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen. A.a.O., S. 488f.

den soll, einwirken soll. Unerschütterlicher Repräsentant dieser kathartischen Befreiung zum Absoluten durch die in autonome Lebensfeme gerückte Kunst ist deren Real-Artikulation des Werkes. Der Gedanke ist die unmittelbare Handlung des absoluten Vermögens, welches zwar durch die Sinne veranlaßt werden muß, sich zu äußern, in seiner Äußerung selbst so wenig von der Sinnlichkeit abhängt, daß es sich vielmehr nur durch Entgegensetzung gegen dieselbe verkündigt. Die Selbständigkeit, mit der es handelt, schließt jede fremde Einwirkung aus, und nicht insofern sie beim Denken hilft [...], bloß insofern sie den Denkkräften Freiheit verschafft, ihren eigenen Gesetzen gemäß sich zu äußern, kann die Schönheit ein Mittel werden, den Menschen von der Materie zur Form, von Empfindungen zu Gesetzen, von einem beschränkten zu einem absoluten Dasein zu führen.44 Schiller, als Theoretiker und Künstler, ist hier aufgeführt als Repräsentant einer vor-avantgardistischen Kunst-Haltung zum Werk. Die Idealisierung der Geltungsmöglichkeiten von zeitloser Kunst, als dem epochal unbelasteten und unantastbaren Refugium der Vereinigung von Wahrheit zu Schönheit, ein Regime für den ästhetischen Staat andeutend zu installieren, bewegt sich um einen soliden Kern der Gewißheit: Kunst artikuliert sich in eindeutigen Werken, sie funktioniert als Werk. Dieses ist stabiles Medium der Freiheitsbewegungen von autonomer Kunst; es ist ort-zeit-determinierte Objektivation von Wahrheit durch Kunst. Sie kann überhaupt nur deswegen autonom werden, weil sie - wenn realisiert - über ihren tüchtigen Repräsentanten in der Gegenwart verfügt. Die Freiheit der Kunst verdankt sich also der direkten Einbindung des Werks in das Leben, für das es ist. Die Kunst mag problematisch erscheinen, das Werk selbst ist es - jedenfalls für Schiller - nicht Damit wird dem Werk eine Eigenständigkeit, eine Souveränität attestiert, die seine Schaltfunktion zwischen Kunst und Leben unmittelbar ermöglicht. Zwar wird das Kunstwerk in Hinsicht der Form-Gehalt-Problematik, die ihren wahrhaftigen Ausdruck gerade in raum-zeitlicher Nicht-Fixierbarkeit finden muß, stets auf den Hinweis auf ein es übergreifendes 'Mehr1 verpflichtet, doch erweist es sich mit dieser Be-Deutung als einzigartig und universell einsetzbar, mithin als zuverlässig und integer. Dieser Werk-Begriff steht dem postmodernen, tatsächlich rein orts- und gegenwartsverpflichteten antipodisch gegenüber: hier ist es, zu was es wird, ist darum nichts und alles. Erinnert sei darum an das Diktum von Phil Glass zum Werk Wilsons: auf die Frage nämlich, was die Theaterstücke eigentlich auszusagen und welche Bedeutung sie hätten, antwortete er: "They are what they are. They don't mean anything."45 44

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Ebd. S. 489. PhU Glass im Interview mit Howard Brookner. Dieser hat über die Entstehung der CIVIL 93

2. Der Verweis Grundsätzlich behält auch das Kunst-Verständnis der Reform- und Avantgardetendenzen der 'Klassischen Moderne1 den Anspruch bei, Dinge zu produzieren, die 'mehr sind' als ihre wahrnehmbare Materialität. Aber das Werk ruht nicht mehr als Einheit von Form und Gehalt in sich. Form und Gehalt lösen die zwingende Bindung, werden voneinander unabhängig. Das Werk verliert die fast sakrale Weihe authentischer Wahrheitsformulierung. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wird es von einem Künstler individuell operationalisiert und beginnt, gleichzeitig auch seine kunstgeschichtlichen Abkünfte und somit das mit zu thematisieren, was es nicht mehr ist. Es grenzt - als Form gegen Formen aus. Der Diskurs der Kunst fordert nun Selbst-Reflexivität. Die Kunst erfahrt sich als Kritik ihrer verfügbaren Mittel: die Frage der Angemessenheit, die Frage der Notwendigkeit bringt sie in Konkurrenz zueinander. Maurice Maeterlinck etwa hat die Inakzeptanz von Vorläuferschaft in die Ablehnung eines hilflos bemühten Bühnen-Realismus gekleidet: Hamlet trat auf. Ein einziger seiner Blicke zeigte mir, daß er nicht Hamlet war. [...] Er sagte Dinge, die er nicht dachte, den ganzen Abend erging er sich in Lügen. Deutlich erkannte ich, daß er Ziele verfolgte, ein Schicksal hatte, aber es waren sein persönliches Schicksal, seine persönlichen Ziele, und die, die er gleichzeitig darstellen wollte, schienen mir daneben unsagbar verschieden. [...] Er versuchte vergeblich, mich für die Erschütterung einer Ewigkeit zu interessieren, die nicht die seine war und die schon durch seine Gegenwart in den Bereich des Fabelhaften verbannt war. Die elfenbeinerne Pforte schloß sich für immer über Hamlet, und so ist es mit allen großen Werken, die ich auf der Bühne gesehen habe.46

Das Werk gerät über diesen 'internen Zusatz' der Re-Flexivität so in MutationsBewegung, daß es keineswegs mehr seinen Gehalt unmittelbar repräsentiert, sondern nur noch auf ihn als seinen individuellen verweist. Die Engbindung Form-Gehalt löst sich damit auf in ein Assoziationsgeflecht von möglichem Gehalt und möglicher Form. Diese ist nicht mehr Besonderung der Wahrheit als Werk, sondern von nun an zweckdienlicher Hinweis. Der Impressionismus etwa malt nicht Sonnenblumen, sondern verweist über die Form auf eine Emotion, die der Gehalt Sonnenblume ausgelöst hat. Von diesem Standpunkt aus argumentiert auch Kandinsky, der das Werk genau zu dem macht, was Hegel noch zu verneinen gelang: zu einem

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warS einen Film angefertigt, der Interviews mit Wilson, Schauspielern, Freunden Wilsons enthält, aber auch eine Dokumentation des Werkes von Wilson beinhaltet. Dieser Film wurde am 6. Juli 1984 im deutschen Femsehen (ZDF) ausgestrahlt. Zahlreiche Hinweise, die in dieser Arbeit verwandt wurden, sind diesem Film zu verdanken. Maurice Maeterlinck. Prosa und kritische Schriften. (Hg. v. Stefan Gross) Bad Wörishoven 1983. Hier Androiden-Theater (Ein paar Überlegungen I: Theater) S. 52.

"nützlichen Werkzeug zur Realisation eines außerhalb des Kunstbereichs selbständig für sich geltenden Zwecks".47 Kandinsky nennt es ein Mittel, seine Materie "eine Vorratskammer, aus welcher der Geist das in diesem Falle Nötige auswählt."48 Kunst wird so Transmitter' des Geistigen; Form ist - man muß ab jetzt Künstlernamen nennen! - Kandinskys Mittel zum Seelenstimulus. Das vom Künstler richtig gefundene Mittel ist eine materielle Form seiner Seelenvibration, welcher er einen Ausdruck zu finden er gezwungen ist Wenn dieses Mittel richtig ist, so verursacht es eine beinahe identische Vibration in der Seele des Empfängers. [...] Es gibt keinen Menschen, welcher die Kunst nicht empfängt.49 Kandinsky spricht außerdem davon, daß "nicht die Form (Materie) im allgemeinen [...] das wichtigste [ist], sondern der Inhalt (Geist)."50 Darum sind ab jetzt zu gleicher Zeit verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst denkbar, die den Gehalt befördern können. In diesem Sinne heißt es denn auch: Da die Form nur ein Ausdruck des Inhaltes ist und der Inhalt bei verschiedenen Künstlern verschieden ist, so ist es klar, daß es zu derselben Zeit verschiedene Formen geben kann, die gleich gut sind.51 Zu beachten haben ästhetische Hervorbringungen von nun an allerdings die Frage der Angemessenheit der Form für ihren Gehalt. Eine Frage, die erst aufkommen kann, wenn ein Wissen darüber hervorgebracht ist, welche Formen der Kunst bereits zugerechnet wurden. Die Werke bekommen damit auch eine Zeitmarke: man stellt sie in historische Reihen. Man weiß um ihre Vorgänger, die Formen, an die sie anschließen. Die historische Abfolge der Formen wird schließlich mit der Avantgarde in eine Gleichzeitigkeit des Verschiedenen und - zugleich auch - Möglichen transformiert, die insgesamt die Kunst ausmachen. (Die moderne Zeit - im Verständnis - der Avantgarde sammelt noch Formen ein. Die postmoderne Zeit wird Zeiten - auch die der Moderne - einsammeln.) Für Werke der Avantgarde bedeutet dies konsequenterweise, daß ihre Neuheit erst im Angesicht des bereits Historischen das Qualitätssiegel des Legitimen, Möglichen, ja Notwendigen erhält. Insofern monologisiert Kunst nicht mehr als die Wahrheit und zeigt sich nicht mehr selbst als das Gute im Schö47 48 49 50 51

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Einleitung in die Ästhetik. (Hg. Wolfhart Henckmann) München 1985 S. 83. WassUy Kandinsky: über die Formfrage. In: ders. / Franz Marc: Der Blaue Reiter (1912) Dokumentarische Neuausgabe v. Klaus Lankheit München 1965. S. 132-182. Hier: S. 132. ders.: über Bühnenkomposition. In: ders. / Franz Marc: Der Blaue Reiter. A.a.O. S. 189 208. Hier: S. 192. ders.: über die Formfrage. A.a.O. S. 132-182. Hier: S. 140. Ebd. S. 139. 95

nen (Werk), sondern sie steht hinter einem Dialog der Werke mit anderen Werken, dem Kampf der Form um Formen, die je von der Warte einer ästhetisch gewonnenen Erkenntnis den Zustand der Welt besprechen sollen. Wenn der Gehalt nicht mehr identisch mit der Form der Werke sein muß und sich darin - in dieser Identität - nicht mehr die Kunst selbst ausdrücken muß, gewinnt die Form eine Freiheit 'für sich1. Abstrakt werden können Werke ja erst, wenn sie selbst nicht mehr ihr Kunstsein - es dokumentierend - mit sich tragen müssen; wenn ihnen - im Gegenteil - die generell attestierte Möglichkeit zur Kunst neue Freiheitsgrade eröffnet. Darum kann Edward Gordon Craig eine Abkehr vom überkommenen Naturalismus und die Hinwendung der Bühnenwerke zu einer 'noblen Künstlichkeit1 fordern, die zu ihrer Legitimation nicht 'naturgetreue Abbildlichkeit', sondern 'Notwendigkeit1 zur reflektieren habe: Avoid the so-called 'naturalistic' in movement as well as in scene and costume. The naturalistic stepped in on the stage because the Artificial had grown finicking, insipid: but do not forget that there is such a thing as noble artificially [...]. Therefore we have to put the idea of natural or unnatural action out of our heads altogether, and in place of it we have to consider necessary or unnecessary action.52

Das, was Kunst ist, bildet stets - bis zur Identität von Werk und Kunst - die Folie für die Karriere der Formen. Kunst erst stiftet die Möglichkeit des Verweisungs-Verhältnisses zwischen Formen und Gehalten. Sie erst - so funktioniert der Kunstbetrieb - adelt überhaupt Formen zu Werken. Die Form ist damit nicht mehr Garant eines verbindlichen Gehaltes: sie ist nicht mehr schön und nicht mehr wahrheits-identisch: sie ist selbst-identisch. Kunst spricht sich als Form aus. Ästhetizismus und art pour I art sind nichts anderes als Kunst-Formen, deren Gehalt Form selbst ist. Ein Rückkopplungsphänomen. Der Gehalt triumphiert hingegen dennoch über die Form derart, daß sie nur noch zum materialen Index für ihn als ein in letzter Konsequenz unausdrücklich, un-formbar Allgemeines wird, das hinter der erfahrbaren Erscheinungswelt - aber keineswegs unausweichlich in der Zukunft - liegt. Kandinsky spricht von Vibrationen der Seele und nicht von unmittelbarer Anschauung. Doch verflüchtigt sich der Gehalt im Moment seines größten Triumphes. Zur Grunderfahrung gehören von nun an nämlich das Bewußtsein der generellen Aufspaltbarkeit von Realität in Realitäten und die prinzipielle Skepsis einer einzigen, einheitlich verbindlichen Wirklichkeit gegenüber. Deren Substitution durch artifizielle Konstrukte hat m.E. zuerst Ste"phan Mallarmo formuliert. 52

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Edward Gordon Craig: On the Art of the Theatre. New York 1980 S. 35.

In seinem prosa-poetischen Bericht 'Un Spectacle Interrompu' grenzt er in den Eingangsreflexionen die Wirklichkeit der Stadt gegen die wirkliche Stadt der Träume und Träumer ab und adressiert erste an die Genügsamkeit durchschnittlicher Intelligenz, die sich im Begreifen des Vorfindlichen erschöpft, dem er mit seinem Bericht über das Kunst-Produkt der Wirklichkeit zuvorkommen will, zuvorkommen muß. "On doit par exemple s'ortonner qu'une association entre les räveurs, y sejoumant, n'oxiste pas, dans toute grande ville, pour subvenir ä im journal qui remarque les ovenements sous le jour propre au itve. Artifice que , bon a fixer l'intellect moyen entre les mirages d'un fait [...] Je veux, en vue de moi seul, ecrire comme eile frappa mon regard de poöte, teile Anecdote.1 avant que la divulgent des reporters par la foule dresses ä assigner ä chaque chose son caratere commun. [It is surprising [...] that there exists no association of dreamers living in every big city, to support a journal observing events with the viewpoint peculiar to dreams. What an artifice reality is, suitable only to fix the attention of the average intellect in the mirages of a fact. [...] I want to write, for the benefit of myself alone, a certain anecdote, as it struck my poet's gaze, before reporters, set up by the crowd to assign each thing its common character, divulge it.]53 Das Werk wird funktional als Verweis, als Signal oder Fenster für ein hinter der Oberfläche der Wirklichkeit liegendes Reich reiner Erkenntnis, die mit Kunst für die intellektuelle Wahrnehmung angesprochen werden kann. Werner Haftmann deutet diesen Schritt zum Verweis jedoch weniger als selbstgewissen Aufbruch zu 'neuen Ufern' der Realität - ein Schritt, der die Kategorie des Gehaltes dann sicherlich aufgewertet hätte -, als vielmehr als Ausdruck einer differenzierenden Erfahrung von Wirklichkeiten. Es handelt sich um eine vertiefte Erlebnisweise der gegenständlichen Welt aus einer besonderen, die gesamte Verhaltensweise des modernen Menschen zur ihn umstehenden Erscheinungswelt verändernden Erfahrung. Die Einsicht war, daß die gegenständliche Welt gar nicht so fraglos existiere, daß sich erst hinter ihrer Erscheinung das Reich größerer Erkenntnis erschlösse, daß sie sich allein schon durch die Art des Betrachters und in der Weise des Betrachtens in oft unerwarteter Weise definierte.54 Die Formen, die sich diese Erlebnisweisen dann suchen, sind an den Künstler gebunden. Form wird zur Inkunabel eines unverwechselbaren, persönlichen Stils. Tatsächlich sind die Regeln für den Einsatz der Kunst dieser selbst entnommen ("studying the other arts").55 Sie insistiert auf der Differenz zu den 53

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Stephane Mallarmo: Un Spectacle Interrompu (An Interrupted Performance). Übersetzt von und zitiert nach: Ursula Franklin: An Anatomy of Poesis. The Prose Poems of St6phane Mallarmd. Chapel HUI 1976. S. 227 [Hervorhebungen B. G.]. Werner Haftmann: Einleitung zu: documenta [1]. Kunst des 20. Jahrhunderts. Internationale Ausstellung im museum fridericianum in Kassel. 1955. S. 15-22, hier: S. 18f. Edward Gordon Craig: On the Art of the Theatre. A.aO., S. 35. 97

Lebens-Wirklichkeiten und nimmt sich die Freiheit, diese in ihren Kunstbereich zu integrieren. In diesem Sinn hat Christine Poggi die Realitätsintarsien der Arbeiten der Kubisten gedeutet: The Cubists introduced 'real life' objects into their collages that normally are referential in different contexts: labels, newspapers, calling cards, imitation wood paneling, mirrors etc. These objects, removed from their familiar context take on more than one level of meaning. This dislocation and the device of doubling pictorial signs were [...] means of highlighting the arbitrary nature of all representation.56 Die Reflexivität der Kunst hat ein Bewußtsein hervorgebracht, das um die genuine Kunsthaftigkeit, die Differenz zum Leben all ihrer Hervorbringungen weiß. Kunst wird an- und besprechbar. "We must understand", sagt E.G. Craig zum Verhältnis von 'art' und 'everyday life1, "that the two things are divided, and we must keep each thing in its place".57 Und daraus resultieren schließlich Dilemma und Chance der Kunst des Verweisens: Kunst des Verweisens, die auf das Leben wirken will, besetzt einen Raum eigenen Rechts und eigener Sprache. Der Diskurs der Kunst siedelt damit - wie auch schon für Schiller - außerhalb der Lebenspraxis, weiß aber jetzt nicht mehr die von jenem verbürgte Redemacht hinter sich. Sie resultierte daraus, daß Form und Gehalt einander unmittelbar als wirkende Wahrheit entsprachen. Wirksam konnte Kunst für Schiller, auch für Hegel ja sein, weil sich nur in ihr sinnlich erfahrbar auszudrücken vermochte, wonach das Leben verlangte: Wahrheit, Humanität, Freiheit. Die Zerschlagung dieser Einheit, die das entstehende Formbewußtsein der Kunst historisch spiegelt, negiert die Möglichkeit des direkten Zugriffs auf das Leben überhaupt: damit ist die Möglichkeit unmittelbarer Wirkung der Kunst - selbst als Verheißung - ein für allemal verstellt. Das Ende dieser Gewißheit bedeutet aber auch einen Zugewinn an interner Freiheit: die Dissipation der Einheit von Form und Gehalt in ein Verweisungsverhältnis befreit die Formen zu Potenzen des Sagbaren, die gleichberechtigt und gleichzeitig abgerufen werden können. Es kann darum die Kategorie des Fortschritts in der Kunst keine Rolle spielen: da die jeweiligen Gehalte lebensunberührt sind und bleiben, macht die (Schillersche) Jagd auf das Futur per adäquater Form jetzt keinen Sinn mehr. Die Formen des auf ihre fernen Gehalte Verweisens erhalten den Status historischer, situationsangemessener Kommunikationsaufnahmen in der Marge zwischen Künstler und Rezipient. Hieraus erwächst die Bedeutung des persönlichen Stils und der Botschaft. Die 56

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Christine Poggi: Marinetti's Parole in Liberia and The Futurist Collage Aesthetic. In: Anne Coffin Hanson (Hg.): The Futurist Imagination. New Haven, Connecticut 1983. (Katalog zur Ausstellung) S. 10. Edward Gordon Craig: On the Art of the Theatre. A.a.O., S. 35.

Formen sind jetzt immer Ausdruck des Versuchs einer Lösung konkreter Problemlagen und Fragestellungen mit dem Mittel der Kunst. Sie sind damit - in dieser Kunstsphäre - losgelöst von dem, was die Moderne am deutlichsten geprägt hat, dem Diskurs der Zeit. Das ist es, was die Kunst seitdem eindeutig charakterisiert: der Verlust der Schillerschen Utopie, Kunst und Künstler aus zukünftigen Zeiten für die Gegenwart zu gewinnen (...'furchtbar wie Agamemmnons Sohn'), eröffnet andererseits die Möglichkeit, mit Kunst als dem einzig zeitlosen, nur rezenten Bereich (innerhalb) der Moderne, unmittelbar in und an der Gegenwart - sogar utopisch - zu arbeiten. Der Gegensatz ist also: nicht Rettung der Gegenwart durch Wahrheits-Kunst aus utopischen Gefilden, sondern Realisation aller 'Ebenen' der Gegenwart mit vielleicht utopischem Ausblick. Mit der befreiten Form ist in die Kunst das Präsens der Wirklichkeit eingezogen, das an die Stelle des Futurs der Utopie im Schillerschen Werk tritt. Kunst, die mit Form auf nicht-verwirklichte Gehalte verweist, verfolgt in den historisch gewordenen Avantgardebestrebungen jedoch noch mehr als nur das Ziel, anders, vielleicht unmittelbarer zu kommunizieren. Sie will, was sie niemals kann, nämlich die sie selbst bergende Gegenwart, die von ihr jetzt -präsennert wird, mit ihrem Mittel der Form verändern. Dazu muß sie sich jedoch ihres rein präsentischen autonomen Bereichs begeben, um sich selbst, jetzt quasi von 'Außen', in ihrem Autonomie-Status für die Lebenspraxis zu reflektieren. Schon im 'Voraus-' der Avant-Garde liegt der Hinweis auf den Fall in die moderne Zukunfts-Zeit. Die Avantgardebestrebungen lassen sich lesen als zeitvemetzte Selbst-Kritik der Kunst an ihrer durch Formen-Freiheit gewonnenen Zeitlosigkeit - schon darin liegt ihr Scheitern begründet. Zum Gehalt, auf den die avantgardistischen Formen verweisen, wird jetzt die Situation der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Peter Bürger, der - hinlänglich bekannt - dieses Moment für die Avantgardebewegungen vornehmlich der Bildenden Künste untersucht hat, diagnostiziert das Scheitern der Intention, Kunst von ihrem (wirkungslosen) Autonomie-Status innerhalb des Epochaldiskurses zu befreien und in eine durch sie korrigierte Lebenspraxis überführen zu wollen. Nachdem der Angriff der Historischen Avantgardebewegungen auf die Institution Kunst gescheitert, d.h. Kunst nicht in Lebenspraxis überführt worden ist, besteht die Institution Kunst als von der Lebenspraxis abgehobene weiter. Der Angriff hat sie jedoch als Institution erkennbar gemacht und damit die (relative) Folgenlosigkeit der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft als deren Prinzip. Alle Kunst nach den historischen Avantgardebewegungen hat sich in der bürgerlichen Gesellschaft dieser Tatsache zu stellen; sie kann sich entweder mit ihrem Autonomie-Status abfinden oder Veranstaltungen unternehmen, um den Status zu durchbrechen, sie kann jedoch nicht [...] den Autonomie-Status einfach leugnen und die Möglichkeit unmittelbarer Wirkung unterstellen.58 58

Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. A.a.O., S. 78. 99

Weil Wissen auch bedeutet, ein Gedächtnis für die Ereignisse zu bewahren, erweist das Scheitern der avantgardistischen Intentionen eine Verfestigung, ja verstärkte Eingrenzung des Sonderbereiches Kunst innerhalb des Diskurses der Zeit: die Erfahrung der Selbstthematisierung der Kunst bewirkt einerseits die Vereitelung jedes weiteren Versuchs der Kunst, über die Werke unmittelbar Einfluß auf die gesellschaftliche Wirklichkeit nehmen zu können. Zudem ist von nun an jede Artikulation, die als zum Kunst-Diskurs zugehörig auszumachen ist, Kunstwerk auch in dem Sinne, daß es das Mal der Erinnerung an diesen vereitelten Versuch der Avantgarde trägt. Auch Peter Bürger stellt diese Tendenz fest. Er notiert die Ghettoisierung allerdings als eingeleitet von einer gleichzeitig einsetzenden, sukzessiven Verkümmerung des Gehalt-Aspektes, die bereits mit die Avantgarde-Periode einsetze; diese These kann in ihrer Radikalität so hier nicht vertreten werden, wenngleich dem Faktum der Realisation dieser historischen Tendenz grundsätzlich zugestimmt werden muß: Die inhaltliche Seite des Kunstwerks, seine 'Aussage', tritt immer weiter zurück gegenüber der formalen Seite, die als das im engeren Sinn Ästhetische sich herausdifferenziert. Diese Prädominanz der Form in der Kunst etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts läßt sich produktionsästhetisch als Verfügung über Kunstmittel, rezeptionsästhetisch als Ausrichtung auf die Sensibilisierung des Rezipienten fassen. Wichtig ist es, die Einheit des Prozesses zu sehen: Kunstmittel werden als Kunstmittel in dem Maße verfügbar, wie zugleich die Kategorie Inhalt verkümmert.59 Es sei dagegen hier die These formuliert, daß die Kategorie Inhalt nicht zugunsten der Formseite verkümmert, sondern, daß auch Form für die Avantgarde zum Inhalt der Werke wird. Werke sind auch als Resultate eines Kunst-Wissens zu begreifen, das sich damit Werke schafft - selbst dann, wenn diese intentional eben nicht Werke im herkömmlichen Sinn sein sollen. Peter Bürger führt dazu aus: Was die Werkkategorie angeht, so wird sie nach dem Scheitern der avantgardistischen Intention der Rückführung der Kunst in Lebenspraxis nicht nur restauriert, sondern sogar erweitert. Das objet trouvo, das Ding, das gerade nicht Resultat eines individuellen Produktionsprozesses ist, sondern zufälliger Fund, [...] ist heute als Kunstwerk anerkannt. Damit verliert das objet trouvo seinen Charakter als Antikunst, wird autonomes Werk neben anderen im Museum. [S. 78f.] [,..] Was die gesellschaftliche Wirkung der Werke betrifft, so wird diese nicht durch das Bewußtsein bestimmt, das die Künstler mit ihrem Tun verbinden, sondern durch den Status ihrer Produkte. [...] Auch die Bemühungen um eine Aufhebung der Kunst werden zu künstlerischen Veranstaltungen, die unabhängig von den Absichten ihrer Produzenten Werkcharakter annehmen.60

59 60

Ebd. S. 25. Ebd. Sn. 78f. u. 80.

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3. Der Akt des Verweisens After you have painted a white dot on all-white canvas, where do you go from there? Marco Brasz Das Identitätsproblem post-avantgardistischer Kunst Glaubt man dem amerikanischen Maler David Hockney, so hat sich die Kunst heute von den Schlachtfeldern im Kampf um ihre Anerkennung zurückgezogen. Die Idee einer ewigen Avantgarde, die immer und immer andauert, scheint mir völlig absurd zu sein. [...] [Avantgarde!] - als ob es sich um einen Kampf handelte. Das klingt eher nach 1910 [...] Der Kampf für die moderne Kunst ist [heute] gewonnen. Ein gewisses Spiessertum ist zwar noch vorhanden, aber es ist nicht mehr das, was es einmal war; und die großen Schlachten, die man heute nur allzu leicht vergißt - denn vor vielen Jahren fanden Schlachten statt -, sind gewonnen. Die moderne Kunst hat gesiegt, weil sie im Recht war. Deshalb ist die Idee einer immer noch währenden Schlacht unsinnig und setzt ein Drama voraus, wo es gar kein Drama gibt.61 Die Avantgarde ist als Kunstphänomen institutionalisiert. Dire Ambitionen, Kunst und Leben mit den Mitteln der Kunst zu versöhnen, gehören zum Schatz historischer Erfahrung. Hockney hat einen Standpunkt innerhalb der Kunst bezogen, von dem aus er den Diskurs der Kunst betrachtet. Peter Bürger spricht davon, daß, "während die politischen Intentionen der Avantgardebewegungen [...] uneingelöst geblieben sind, [...] ihre Wirkung im Bereich der Kunst kaum zu überschätzen" ist62 Mit der Besetzung von zu Recht eingenommenen Positionen durch den Kunst-Diskurs ergibt sich für die Kunst der Nach-Avantgarde allerdings ein Problem besonderer Art: das Identitätsproblem außerhalb der Kunst Innerhalb der gesamtgesellschaftlich diskursiven Formation ist die Frage nach Wirkungsabsicht und Legitimation der Kunst neu aufgeworfen. Wie jetzt zu zeigen sein wird, kristallisiert sich als Kern dieses Problems der Kunst nach der Avantgarde das Werk selbst heraus. Es scheitert an seiner Verpflichtung zu Neuheit. Eine Verpflichtung, die man mit Adorno die Tradition des Traditionsbruchs nennen könnte. Die Stellung der gegenwärtigen Kunst zur Tradition, die ihr vielfach als Traditionsverlust angekreidet wird, ist von der Veränderung innerhalb der Kategorie Tradition selbst be61

62

David Hockney: Ich habe immer Zweifel. Erinnerungen an die frühen Jahre. (Vorabdruck aus der Autobiographie My early Years'.) In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 10, vom 13/14. Jan. 1990, S. 189. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. A.a.O., S. 80. 101

dingt. In einer wesentlich nicht-traditionalistischen Gesellschaft ist ästhetische Tradition a priori dubios. Die Autorität des Neuen ist die Autorität des geschichtlich Unausweichlichen.63 Damit versieht Adorno die eigentlich immer rückwärtig gewandte Perspektive der Moderne [in der Kunst] allerdings mit dem Mal historischer Notwendigkeit, die nach einer Befreiung des Menschen aus dem Strudel der Zeiten, nach einem Innehalten und Innewerden verlangt. Kunst heißt nicht, Alternativen zu pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre [immer neue, B.G.] Gestalt, dem Weltenlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.64 Rückwärtig ausgerichtet ist diese Perspektive, weil ihr im Begriff des Neuen immer die Komparation mit dem Nicht-Mehr des Vorhandenen, als dem überholt oder vergangen Gedachten inhaliert: Neuheit an sich kann es nicht geben. Neuheit ist eine Zusprechung im Hinblick auf etwas, das dagegen als 'alt' oder 'überholt' - oder wie Adorno auch sagt - als 'falsch' gedacht wird. Das als Kunst freizulegen, verlangt jedoch nach eben jener dann janusköpfigen Zeiten-Perspektive, die nach vorn blickend das Neue will, um dem Alten zu entkommen. Nach hinten gewandt erkennt sie und kritisiert sie es. "Darum üben sie [die Kunstwerke, B.G.] Kritik auch aneinander" und "ein Kunstwerk ist der Todfeind des anderen",65 weil es um den geschichtlichen Großauftrag geht, den Verfehlungen und Aufschüben des Vergangenen, dem die Gegenwart demnach zugeschlagen wird, mit dem Korrektiv des Neuen habhaft zu werden. Versenkung in geschichtliche Dimension müßte aufdecken, was einst ungelöst blieb; nicht anders ist das Gegenwärtige mit dem Vergangenen zu verknüpfen.66 Im diesem Moment, das Versenkung freilegt, erfülle sich das historische Prinzip der Erschließung von Wahrheit. Deren endliche Einlösung gelinge in der Kritik des Erreichten als Versuch der Auflösung des Grundwiderspruchs moderner Rationalität, nach dem Mittel zu Zwecken verkehrt oder - wie Adorno sagt - die Mittel fetischisiert wurden. Kunst rebelliert gegen diese Art von Rationalität selber, die über die Zweck-Mittel-Relation die Zwecke vergißt und Mittel zu Zwecken fetischisiert. Solche Irrationalität im Vernunftprinzip wird von der eingestandenen und zugleich in ihrer Verfahrensweise rationalen Irrationalität der Kunst demaskiert.67 63 64 65 66 67

Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. A.a.O., S. 38. Theodor W. Adorno. Noten zur Literatur . Frankfurt 1965. S. 114. Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. A.a.O., S. 59. Ebd. S. 38. Ebd. S. 71.

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Adorno wendet sich ab von den "ewigen Stafettenläufen", "als ob eine Generation, ein Stil, ein Meister dem nächsten die eigene Kunst in die Hand gäbe",68 weil nur mittels abrupter Neuheit und nur für einen Hoffnungsmoment die Einnahme eines nicht-involvierten, mithin nicht-faktischen, un-zeitlichen Standorts gelingt, von dem aus das Ganze überblickt werden kann. Neuheit ist je der produktive Bruch mit dem Gewesenen, das damit zugleich überschaut und beurteilt werden kann. Kunst wird die Kraft zur Selbstheilung der Rationalität attestiert. Moderne Kunst also vollbringt die Leistung einer Kritik des Bestehenden vom Standort einer sich historisch notwendig erweisenden Wahrheit, die durchschimmert an der 'neuen Form1. Denn ihr gelingt, die Narben und Wundmale, die das Vergangene geschlagen hat, offensichtlich werden zu lassen. Darum heißt es zum einen, daß der "Wahrheitsgehalt der Kunstwerke fusioniert [ist] mit ihrem kritischen" und zum anderen, daß "die Spuren in Material und Verfahrensweisen, an die jedes qualitativ neue Werk sich heftet, [...] die Stellen [sind], an denen die vorauf gegangenen Werke mißlangen."69 Tatsächlich aber gelingt Neuheit in der Kunst nur als immer neue Wendung des über avancierteste Form sich artikulierenden Gehaltes gegen das 'immer falsch' Gewesene. Es gelingt nie als ultimativer Befreiungsschlag, der ein Land der Wahrheit eigenen Rechts endgültig eröffnen würde. Kunst vermag keinen ihr [der Gesellschaft] jenseitigen Standpunkt zu beziehen; Opposition gelingt ihr einzig durch Identifikation mit dem, wogegen sie aufbegehrt.70 Zur Faustformel Adornos für eine Kunst der Moderne wird damit das Diktum: "Moderne ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete."71 Damit aber ist die Unmöglichkeit ausgesprochen, die diese Kunstthesen durchzieht: wenn Werke je neu sein sollen, können sie nicht gleichzeitig Kunst nur dadurch sein, daß sie das bereits Vorhandene als mimetische Nachbildungen wiederschaffen oder sich in ihrer Form daran assimilieren. Denn dann wäre Kunst nur auf der ständigen Suche nach neuen Formen zur Darstellung desselben Leidens an der Gegenwart. Aufzuheben ist dieser Grundwiderspruch nur darin, daß das Neue nicht nur als Verwirklichungsform der falschen Vergangenheit, sondern gleichzeitig eben auch als Brückenkopf für das Zukünftige gedacht werden kann. Zur Form verschmelzen hier die Zeiten. Adorno ist in seiner 'Ästhetik' modern also in dem Sinne, daß er im stets neuen, per se lebensfernen Kunstwerk die einzig mögliche Instanz der unan68

69 70 71

Ebd. S. 38. Ebd. S. 59 [Beide Zitate]. Ebd. S. 201. Ebd. S. 39. 103

tastbaren Wahrheit für eine notwendige und auch potente Kritik der Epoche entdeckt. Eine Kritik durch Dopplung der Vergangenheit als Gegenwart; weil nur die Kunst die Kontinuität des Falschen zu brechen vermag, erweist sie sich als das historisch fundierte 'Muß1 einer zu sich selbst kommenden Rationalität. Gerade darin aber stellt sich Kunst jedoch als zur Reaktion gedrängt, als 'reaktionär1, heraus, weil sich Verhärtung und Entfremdung selbst, die Kunst mit diskursspezifischer, wahrheitsgewisser Rationalität je aufspüren und attackieren will, auf dem Zug der Zeit befinden. Es ist die Crux dieses Denkens von Kunst und Epoche, in ihnen die zeitfixierten Antipoden innerhalb derselben Zeit zu entdecken. Die Option, in Kunst das Refugium jener historisch berechtigten Wahrheit erkennen zu wollen, derer die falsch voranschreitende Epoche bedarf, sieht sich unausweichlich dem Faktum konfrontiert, sich ständig und immer wieder neu beeilen zu müssen, um dem 'Voran' der Epoche das 'Avant1 der Kunst wenigstens auf selber Höhe entgegen schleudern zu können. Im Moment des Aufleuchtens der auf die Dinge mimetisch aufgelegten Wahrheit im "fortgeschrittensten Bewußtsein"72 muß dieses angesichts der ebenfalls fortschreitenden Mittelfetischisierungen einer nur noch instrumentellen Vernunft eigentlich schon hoffnungslos veraltet erscheinen. Tatsächlich wird dann die neue Notwendigkeit an die Kunst herangetragen werden müssen, neu und traditionsbrechend, dem falschen Morgen hinterher, avanciertere mimetische Formen zu entwickeln. Denn "Moderne ist Kunst [...], in der die avanciertesten und differenziertesten Verfahrensweisen mit den avanciertesten und differenziertesten Erfahrungen sich durchdringen."73 Die Identitätsbildung einer nach Authentizität strebenden Avantgarde-Kunst - gegen die "falsche Versöhnung"74 mit der Lebenspraxis - kann demnach trotz ihrer unhintergehbaren Form-Gegenwart historisch betrachtet werden als diejenige, welche an die Form und damit an drei Bedingungen geknüpft war: Kontinuität, Regressionstabu und Kommunikabilität. Kontinuität ist der geheime Motor der Avantgarde, die bei allem Fortschreiten doch immer den verläßlichen Grund der Kunst für ihre nächsten Schritte voraussetzt. Das Wissen um die eigene Herkunft - unabhängig davon, ob sie sich als geradlinige Fortsetzung eines Impulses oder als erklärter Bruch geriert - erfordert gerade den Dialog mit der eigenen Geschichte: neue Werke finden ihre Gegenwärtigkeit nur über die vorgängige historisch-kritische Selbstvergewisserung. "Ein Künstler muß", so Adorno, "über den einmal erreichten Standard seiner Periode verfügen."75 72 73 74 75

Ebd. S. 57. Ebd. Ebd. S. 385. Ebd. S. 37.

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Regressionstabu ist der Kampf gegen das Wissen um die bereits existierenden Hervorbringungen von Kunst, deren Folgenlosigkeit ja Grund für die Attacke war. Es ist die Pflicht zur Neuheit, in die sich avantgardistische Kunst nehmen muß, will sie ihrem eigenen Anspruch, den vorhandenen Kunst-Fakten Voraus' zu sein, gerecht werden. Neuheit also nicht um ihrer selbst, sondern um der Kunst willen. Regression wäre auch die Verkehrung des 'Avant'. Adorno, der das "Neue [als] urteilsloses Urteil"76 in dieser Hinsicht beschrieben hat, sieht im Zwang zur Neuheit, auf den die Avantgarde der Moderne sich verpflichtet, die einzige Möglichkeit zur Befreiung vom Druck gesellschaftlicher Realität: Abstrakt ist die Moderne vermöge ihrer Relation zum Dagewesenen; unversöhnlich dem Zauber, kann sie nicht sagen, was noch nicht war und muß es doch wider die Schmach des Immergleichen wollen. [...] Das Neue ist keine subjektive Kategorie, sondern von der Sache her erzwungen, die anders nicht zu sich selbst, los von Heteronomie, kommen kann. Kommunikabilität schließlich ist das Mittel, mit dem avantgardistische Kunst das Antidot der von der neuzeitlichen Wirklichkeit uneingeschüchterten, freien Erkenntnis artikulieren muß. Da durch und als Kunst eine Kommunikationssituation hergestellt werden soll und damit sie wie "jeder Text [...] gleichzeitig sowohl ein bestimmtes spezielles als auch ein universales Objekt"78 modellieren und präsentieren, also exemplarisch vor-führend verweisen kann, muß die Avantgarde, die zugleich neue Zeichen des Verweisens (Regressionstabu) auf dem Boden der Kunst (Kontinuität) etablieren will, den Minimalkonsens über jedes Sprachkunstwerk erfüllen: sie muß prinzipiell zur Sprache gebracht werden können, damit sie selbst reden und über sie gesprochen werden kann. Ein jedes Element einer künstlerischen Struktur existiert als Möglichkeit in der Struktur der Sprache und - ganz allgemein - in der Struktur des menschlichen Bewußtseins.79

4. Cognitive mapping - die Gegenwart des Betrachters Das Kunsterwachen verwies mit seinen Hervorbringungen entweder auf die meta-physikalischen Implikate innerhalb oder hinter der Wirklichkeit, bzw. 76 77

78 79

Ebd. Ebd. S. 40. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. Hier: Kapitel 8 - Die Komposition des Wortkunstwerks. S. 300ff. Hier: S. 303. Ebd. S. 375. 105

thematisierte als Avantgarde mit ihren Gegenwarts-Verweisen die eigene Situation innerhalb des Diskurses der Zeit. Das, was zu erlangen war, sollte über verfügbare Formen, die auf Gehalte verwiesen, erreicht werden. Tatsächlich hat das Scheitern des Versuchs, mit Form unmittelbar Einspruch erheben zu wollen, die Kunst - über die Gegenwart des Werks hinaus - als Kunst der Gegenwärtigkeit fixiert. Die Zeitebene der Kunst wird so sehr und ausschließlich auf die Gegenwart gestreckt, daß Kunst-Vergangenheit - wie Bürger ausführte - als vorliegende Gleichzeitigkeit von - auch weiterhin jederzeit - möglichen Ausdrucksformen begriffen werden muß. Zukunft der Kunst kann daher auch in der Postmoderne - nur noch im Minimalkonsens gedacht werden kann als weitere Fortschreibung des menschlich-kreativen Moments, das sich artikulieren wird. Es wird Formen geben. Radikal formuliert hat Adorno diese undurchsichtige Perspektive mit dem ersten Satz seiner Ästhetischen Theorie: Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.80

Das Faktum, als das das Werk erscheint, ist zugleich Ausweis dessen, daß nur diese eine Möglichkeit - gegen alle anderen - als vorgestellte adäquate Form der Arbeit der Kunst an der Gegenwart ergriffen worden sein will und kann. Das macht ihre jeweilige Gegenwärtigkeit aus und sie ist es, die der Rezipient wieder-erlebt. Im Moment der Rezeption, der ihre Spanne umfaßt, gibt es nur das Werk und seinen Betrachter in der offerierten Gegenwart des Werks. Rein theoretisch darf es darum seit und mit dem Aufbrechen der Einheit von Form und Gehalt in der Moderne keine Kunstgeschichte mehr geben. Die Kunst des Verweisens - so hieß es - habe die völlige Gleichzeitigkeit aller Kunstmittel eröffnet. Die Einzelwerke stehen seitdem als Formen reiner Gegenwart vor dem Betrachter, der in ihnen die Antwort auf eine Problemstellung sieht. Ein Bühnenentwurf von Appia wird nicht alt oder älter. Die Figurinen des Triadischen Balletts etwa sind formal Gestaltung des menschlichen Körpers, die Gegenwart bleiben, solange es Menschen gibt. Es gibt daher keinen Fortschritt in der Kunst, kann ihn nicht geben, weil Formen seit der Avantgarde immer einzigartige Ergebnisse von Wahlen sind, ästhetische Mittel, die Korrespondenten aus dem (Be-)Reich möglicher Gehalte sein können für eine innegehaltene Rezeption. Das Zeitmaß des Fortschritts wechselt wohl zwischen schnell und langsam, immer aber ist es Fortschritt. [...] Die Kunst [hingegen] muß immer wieder von vom anfangen [...].81

80 81

Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. A.a.O., S. 9. Georg Dehio. Zit. nach: Stephan Waetzoldt: Vorbemerkung zu: Rudolf Zeitler (Hg.): Die Kunst des 19. Jahrhunderts (= Propyläen Kunstgeschichte Bd. 11). Berlin 1966. S.U.

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Warum aber sind sie doch auch als historische Dokumente zu verstehen, warum opponiert ihnen das Gegengewicht des je Neuen, das ihre Gegenwärtigkeit doch immer wieder (neu) zu untergraben scheint? Weil moderne Kunst einen Gehalt thematisiert, der dem historischen Kontext entnommen ist Die Antwort, als die sie erscheint, ist zeitfixiert durch die Frage, auf die sie rekurriert. Kunstgeschichte notiert in dieser Hinsicht also Stellungnahmen der Kunst zu Lücken, Ungereimtheiten, Widersprüchen, Reibungspunkten und Notwendigkeiten zum Wissen der Diskurse, die deswegen historisch werden, weil es die Diskurse sind, auf die sie sich beziehen. Insofern stehen moderne Kunstwerke wie Ausrufezeichen hinter den Sätzen der Geschichte. Und an ihnen sind sie zu erkennen, mit ihnen sind sie zu identifizieren. Darum wird auch die Form zeitspezifisch durch die Formen, an die sie anschließt, die sie ausschließt - mit denen sie kommuniziert. Darum verbietet sich für den Zeit-Diskurs das Kunstmittel ready modes ein für allemal, weil es im Wissen der Gegenwart unlösbar an die Kunst-Taten der Avantgarde getaut ist. Dieses Wissen verdichtet die vorhandene Kunstaussage und ihre Wirkungsabsicht zu einer Vokabel, zu einem Konglomerat von Altbekanntem, zu einer Position im Raum. Heute, sagt der Filmregisseur Howard Hawks, ist jede Geschichte nur noch eine alte Geschichte, alles ist schon erzählt worden. Folglich liegen Originalität und schöpferische Kraft nur noch in der Art und Weise, wie man erzählt.82

Wenn alle Geschichten schon erzählt worden sind, bedeutet dies, daß kein neuer Erzähl-Faden mehr von Anfang zum Ende gespannt werden kann. Das Wissen des Endes verkürzt jede Erzählung ums Wesentliche: ihr Entwickeln in der Zeit. Und mit genau diesem Wissen im Raum-Diskurs der Gegenwart will und kann Postmoderne in der Kunst spielen, wenn sie das Wiederholungstabu der Moderne durchbricht und die alten Kunstmittel erneut aufgreift Es ist also nicht Frevel an der Geschichte, sondern Vorführung der Gegenwart, die mit dieser Wissens-Spiegelung intendiert ist. So bleibt auch die postmoderne Form diskursvernetzt und damit historisch eingebunden. Jedoch nicht nur in dieser Hinsicht. Das Faktum der Form ist auch aus einem anderem Grund in den historischen Kontext zu stellen. Michael Kirby hat es getan und darauf verwiesen, daß Kunstform trotz ihrer Gegenwärtigkeit historisch variabel bleibt, weil die Rezeption, die die Kunst-In-Formation ja aufnimmt, im historischen Prozeß steht und sich damit wandelt. 82

Howard Hawks. ZU. nach: Film. Zeitschrift des evangelischen Pressedienstes. 6. Jahrgang, Juli 1989. S. 29. 107

Even though consciousness precedes perception, certain perceptions are able to change the limits or basic character of consciousness itself. It is upon these changes that the significance of art depends. [...] And since the consciousness of man changes, the work of art created now will not be experienced in the same way in the future [...]. From this point of view, all an is mental rather than physical. Of course, this makes the aesthetic experience subjective and relativistic, but it would require an absolute godlike omniscience to be aware of all the factors that could contribute to the experience of any work and to make the manifold experiences of all men objective.83 Weil Kunst in dieser Hinsicht 'mental1 zu nennen ist, somit als eine Weise des Wissens bezeichnet werden kann, variiert die Anschauung ihrer Form mit dem historischen Stand der Kunst-Erfahrung. Das Wissen kristallisiert historisch divergierende Begriffe und Fragestellungen aus den Objektivationen, überschaut und scheidet sedimentiertes Material von relevanten Marksteinen, ordnet immer wieder neu und formuliert Abstrakta, die Verweise und die Bestimmung kategorialer Zugehörigkeiten zulassen. Daß das Theater Wilsons hier hauptsächlich im Hinblick auf vorlaufende Artikulationen der Bildenden Kunst untersucht wird, ist beispielsweise eine solche, aus historischer Distanz zu diesen Ursprüngen heraus erst mögliche Verfahrensweise, die Wilsons eigene Lesart seiner Kunst allerdings auch beim Wort nimmt. Denn er bedeutet ausdrücklich - über die selbst hergestellte Analogie zu ihren Aufbauprinzipien - die Nähe zu, ja Verschmelzung seines Theater mit den Hervorbringungen in den Bildenden Künsten: Der Hintergrund für meine Arbeit ist die Malerei und die Architektur. [...] Mich interessiert mehr eine FORM als eine Situation mit einer narrativen Struktur, mit einer Geschichte.84 83 84

Michael Kirby: Art of Time. A.a.O., S. 60f. Robert Wilson. In: Theater heute. Nr. 13/1981 (Jahrbuch) S. 77ff. Hier: S. 77 [Hervorhebung im Text]. Die Äußerungen Wilsons, die das Visuelle als primär statisch Bildhaftes, das Formbetonte des strukturierten Raumes seiner Arbeiten hervorheben, sind Legion. Sie reichen vom albernen Bekenntnis: "I like straight lines" [Typoskript im Folder: Bonnie Marranca Book Theatre of Images', Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: Letter for Queen Victoria B] bis hin zum generellen, an Einstein On the Beach dargelegten statement zur Architektur von Bildund Tonschichten im Interview mit dem Architekten John Szto: Wilson 'My works are thoroughly architectural. [...] Whether it is silence or spoken words, the pictures are architectural arranged. Einstein is an architectural book of pictures that is independent from Philip Glass' music. [...] They come together. They are like screens. First, I work on a visual book...that is one screen. Then, I work on a book of light, which is another screen. Then, I work on a visual book of gestures. Then, I work on an audio book of sounds and words - the text. Then I put all these layers of screens together and I adjust them so that they line up and, when they do, I crossreference them so that they are slightly out of line with each other.' Szto: 'It is a very three-dimensional way of thinking of the theater.' Wilson: 'Yes. They are all thought about independently...'" Robert Wilson: Interview mit John Szto, New York, März 1985: Postmodernism in Sight and Sound. The Collaborative Works

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Andererseits gerät Form auch in der Hinsicht in 'historische Bewegung1, wie das Wissen über ein Werk selbst variiert. Barocke Allegoriendarstellungen oder afrikanische Skulpturen werden unterschiedlich rezipiert, je nachdem, ob die Formen 'erkannt1, ob die Gehalte, auf die diese Arbeiten verweisen, gewußt werden oder nicht. So ist auch Kunst In-Formation, deren diskursspezifische Bedeutung im Wissen je formiert werden muß. Gertrude Stein nennt Rezeption wie Produktion darum 'Composition'. Sie hat darauf verwiesen, daß mit dem gelebten Leben je die Werke sich wandeln. Sie, die in kuriosen Flexionen Sätze in der Art um einen Gedanken baut wie of Robert Wilson and Philip Glass. Zitiert aus dem Exemplar der Verscbriftung im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. . Box: 11-12 Robert Wilson Interviews: S. 12f. Nur um einen weiteren, analogen Beleg anzuführen, sei Wilsons Verfahrensschilderung zur Arbeit an den CIVIL warS angeführt. Dort spricht er von der im Vorfeld entstandenen "Serie von Zeichnungen, die die Struktur ausfüllten". Er führt dann hierzu aus: "Und ich fand heraus, daß einzelne Themen durchgehen würden, [...] bis die optischen Kapitel ineinander verwoben schienen wie ein Wandteppich, mit optischen Themen, die wiederauftauchten mit Variationen und mit Themen, die offenbar als Ganzes für sich standen. Es war nichts, das eine Geschichte erzählte, aber etwas, das abstrakt, graphisch sich zusammenfügte." Robert Wilson: the CIVIL warS - a construction in space and time. Ein Gespräch. In: Schauspiel Köln (Hg): Robert Wilson. The CIVIL warS. Die Kölner Aufführung. Frankfurt 1984. S. 41ff. Hier: S. 41; Bonnie Marranca mag für den wissenschaftlichen Zweig dieser Auffassung zu Wilsons BilderTheater stehen: sie sagt u.a. zu Wilsons 'Queen Victoria': "Just as Happenings had no immediate theatrical antecedents, the Theatre of Images [...] has developed from numerous non-theatrical roots. This is not to say that this movement disregards theatrical practices of the past: It is the application of them that makes the difference. [...] Spatial, temporal and linguistic concepts are non-theatrically conditioned. Extra-theatrical influences have had a a more formative impact. Cagean aesthetics, new dance, popular cultural forms, painting, sculpture and the cinema are important forces that have shaped the Theatre of images. It is also logical that America, as highly technological society dominated by aural and visual stimuli, should produce this kind of theatre created, almost exclusively, by a generation of artists who grew up with television and movies." Bonnie Marranca (Hg): Introduction. Zu: The Theatre of Images. New York 1977. S. XI Vielleicht gibt Martha Grahams Bemerkung über ihre eigenen Bewegungsgemälde diesen Sachverhalt der kunsthistorischen Verwurzelung Robert Wilsons in der Bildenden Kunst am eindeutigsten wieder. Ein Exemplar des Graham-Interviews befindet sich an exponierter Stelle in der Freud-Box der Byrd-Hoffman-Collection. Es ist von Wilson damit direkt mit seinem Frühwerk korreliert und rechtfertigt deshalb die Übertragung auf seine eigene Bühnenkunst. Martha Graham: "I remember the day I saw my first exhibit of modem paintings, and I saw my first Matisse and Gauguin and well, I had never seen such a glory. I realized then that I wasn't mad, not crazy, that I had ancestors who had walked this way before me. It has to do with the explosion of a spirit, and the defiance of hidebound tradition. Perhaps you might call my work painting with movement: it has color, it has continuance of line, it has shock and should have vibrancy." Martha Graham: Interview mit der New York Times. In: New York Times v. 2. Oktober 1970. Zit. nach: dem 'Clipping' im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: - Life and Times of Sigmund Freud [Hervorhebung: B.G.]. 109

die Kubisten malen, wiederholt einen Gedanken nicht einfach, sondern rotiert in immer neuen An-Sätzen um ihn, bis er - wie von allen Seiten betrachtet - in Worte gefaßt, aus-gesprochen ist. Auch sie insistiert auf dem 'KompositionsEffekt' der Wahrnehmung in der Zeit, die ihren Gegenstand je neu umläuft. So folgt für die Betrachtung (ausdrücklich: Composition) der Kunst: The composition is the thing seen by everyone living in the living they are doing, they are the composing of the composition that at that time they are living is the composition of time in which they are living. It is that that makes the living a thing they are doing. [...] Nothing changes from one generation to another except the thing seen and that makes a composition.85

Exkurs: All that Jazz Schätzt der Django-Reinhardt-Preisträger Louis Sclavis die folkloristischen Klänge seiner bretonischen Heimat so sehr, daß er von ihnen sogar das Solo seines Drummers Francis Lassus unterbrechen läßt? Will er nur die Präsenz alter, überlieferter Instrumente in seiner Jazz-Formation Creation Indigene nicht in Vergessenheit geraten lassen? Es ist ein Skandal, daß ein Jazz-Drummer-Solo von Traditionsmusik zerhackt wird, daß die Lust auf den freilaufenden Wirbel der Schläge frustriert wird von getragenen Weisen aus alter Zeit. 4 Klarinetten, l Baßklarinette, l Sopransaxophon und l Drehleier begehen auf dem Jazz-Festival in Moers 1991 dieses Sakrileg, zerstören die Ordnung der Jazz-Dinge und verstoßen gegen das geheime Naturgesetz eines jeden Konzertes: das integere Solo ist Versprechen sowohl ans Publikum wie an den Solisten. Doch nun vermengt es sich mit Geschichte. Immer wieder fahren die alten Melodien dazwischen, ruptieren den Beat, ver- und zerstören die Arbeit des Drummers am klangschillernden, pulsierenden Gebäude seines Solos. Ihm allein sollte die Bühne gehören, er ist - weil alle darauf warten - ungeteilter Aufmerksamkeit gewiß, er allein hat jetzt das Recht auf Rhythmus, Tempo und Stärke des Klangs. Im Solo gehorcht ihm nämlich ab jetzt auf Zeit die Zeit. Das Solo ist der Versuch, den Lauf der Töne, ihre Abfolge in der Zeit anzuhalten. Der Versuch, sie umzukehren, die vielen Schläge zu einem zu machen. Ein Gescheppere, das Zeit als Ton ist. Der Solist multipliziert sich in seine Extremitäten, die - scheinbar unabhängig voneinander und nur geheim koordiniert - den kontinuierlichen Ablauf der Zeit zerschlagen. 85

Gertrude Stein: Composition as Explanation. (1926) In: Carl von Vechten (Hg.): Selected Writings of Gertrude Stein. New York 1962. S. 511-524. Hier: S. 516.

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Zerstörung des Gleichmaßes, der Einheit der Zeit und deren Substitution durch die anhaltende Gegenwart der Klangsequenz im Rhythmus. Nuancierung und Facetten-Aufweis des einen Momentes, Anreicherung des reinen Tones mit Perkussion. Auffaltung des einen Schlages in das Geviert der hämmernden Extremitäten. Folge und Wechsel als ein Ding: BIG-BANGING THE DRUM, um Zeit - und nicht ihr Vergehen - zu zeigen. Das ist ein Solo. Der Drummer arbeitet, um der Zeit mehr mitzugeben als die Struktur eines einheitlichen Taktes, der ruhigen Gleichlauf und einlinige Sukzession bedeuten würde. Das Drummer-Solo ist die Auflehnung des Jazz gegen die Vergänglichkeit. Erweckt wird das Instrument, um gegen jede Aleatorik und jede Kakophonie für die Dauer des Solos jene Figur aus Klang entstehen zu lassen, die der Zeit dadurch trotzt, daß sie ihr ein Zuviel unterschiebt: der rasende Schlag beweist, daß er weniger Zeit benötigte als er hat. Aufgehalten und verlangsamt wird Zeit dadurch, aufgefächert in ihre wie das Ganze behandelten Bruchteile. Das Drummer-Solo ist eingebunden in die Gesamtstruktur des Konzertes. Es hat seinen festen Platz. Und jeder weiß es. Es existiert ein Wissen ums Solo. Und dieses Wissen desavouiert Louis Sclavis in Moers. Die eingestreuten Weisen der Folklore-Musik aus der Auvergne und die Klarinetten-Einsätze in Anlehnung an die traditionelle Musik der Bretagne beladen den durch das Drummer-Solo entstehenden Klang-Augenblick nicht nur zusätzlich mit den neuen Tonarten der Blasinstrumente und der Drehleier. Die komplexen und strengen musikalischen Strukturen und die Reichhaltigkeit der traditionell komponierten Musik stehen wie Gegengewichte neben der Explosion der Drums. Dem, was dem Solo gelingt, mischt sich bereits etwas unter, das dem entstehenden Präsenz des Solos die Vergangenheit schon prospektiv attestiert: es ist das Wissen um den Jazz, das dem spontanen Erleben stets vorauseilt. Das Drummer-Solo ist je die aktuelle Einlösung des allzeit stehenden Versprechens des Jazz, Gegenwart zu vertonen. Mithin aktualisiert Jazz nurmehr das Wissen darum, daß es Gegenwart durch Jazz gibt. Dieses Wissen kehrt Louis Sclavis gegen sich selbst, wenn er dem zum traditionellen Genre gewordenen Jazz im Drummer-Solo andere traditionelle Genres zugesellt. Die Brücke dazwischen ist die Präsenz des Zuhörers und dessen Abstraktionsleistung, mit der Musik als Wissen veroriet ist. Jazz wird von Sclavis ent-aktualisiert. Er wird zur amerikanischen Folklore degradiert, die der Franzose mit der regionalen Musik seiner Heimat legitim kreuzen kann: historische wie kontinentale Differenzen der musikalischen Artikulation werden amalgamiert zur Gegenwart des Klangwissens überhaupt. Die Zeit in seinem Solo sammelt gewußte Zeiten ein. Herausgerissen aus der musikalischen Un-

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mittelbarkeit des Klang-Augenblicks, distanzieren sich dem Auditor sowohl Solo als auch Folklore-Einschub in die Ferne von Musik-Vokabeln, die - beide - lediglich zitiert zu werden scheinen. Sie sind nur noch ihr eigenes Wissen, das aufgerufen wird: ein Aktualisieren und Erinnern von bereits vorhandenen Musik-Abstrakta. Insofern sind damit die engen Grenzen und Zonenränder auch des Genres 'free jazz' gesprengt: die Kehre zum Wissen bereichert das musikalische Konstrukt Gegenwart des Drummer-Solos um die Präsenz des Auditoriums. Hinzugefügt wird der Gegenwart des musikalischen Moments die Gegenwart des erlebenden Zuhörers. Die Gegenwart, die jetzt offeriert werden kann, ist reibungsvoll, spannungsgeladen, widersprüchlich, aufregend - sie ist die eigenen Wissens. In der Transzendierung des Jazz zum Wissen liegt seine endgültige Befreiung. Gerade weil es die Gegenwart des Drummer-Solos als ungebrochene nicht mehr geben kann, da ein Wissen über sie existiert, das sie in die Vergangenheit treibt, wird der Raum frei für die Überblendung der Gegenwart durch Musik mit der Gegenwart des Wissens um Musik. Und die wird nicht mehr vor-gestellt, sondern herbei-gerufen. Sie ist immer schon und war schon immer da. 'Free Jazz1 wie der der Creation Indigene ist ultimative Musik: sie weiß sich selbst in ihrer Entfaltung. Ein Danach ist unmöglich. Er bleibt Bewegung im de-finierten Raum. Die kunstgewollte Auflösung des Werks ins Wissen Kunst der Postmoderne nun wäre unter anderem daran zu erkennen, daß diese Konditionen: Kontinuität, Regressionstabu und Kommunikabilität in ihr nicht mehr zur Geltung gelangen. Sie ist tatsächlich daran zu erkennen, denn sie hat das Werk, das jene Appelle in sich trug, aufgelöst. Der 'Sieg der Moderne' ist - wie Hockney ausführte - nun historisches Faktum innerhalb des Diskurses der Kunst. Jedoch sedimentiert im Wissen das selbstreflexive Verweisspiel um den Kunstdiskurs zu der Kunsttat und das Zeitwiderstehen der Formen der Kunst zu der Kunsterfahrung der Epoche. Die generelle Aufspaltbarkeit von Gehalt und Form ist Ursache dafür, daß die Kunst in einem nun vollends isolierten Bereich innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit angesiedelt ist. Der Diskurs hat jetzt ein Wissen davon produziert, daß Kunst auf ihre Gehalte verweist und daß sie sich dazu in freier Wahl ihrer Form-Möglichkeiten bedient. Der Kunst-Diskurs wird so von innen und außen scharf gegen die Wirklichkeit abgegrenzt. Das Dilemma der künstlerischen Moderne war ja ihre Unfähigkeit, trotz bester Absichten keine wirklich effektive Kritik bürgerlicher Gesellschaft und ökonomisch-technologischer Modernisierung artikulieren zu können. Vor allem das Schicksal der Avantgarde hat ge112

zeigt, wie die Kunst selbst dort, wo sie gegen das Prinzip des «l'art pour l'art» rebellierte, um Kunst und Leben in einer neuen Weise zu verknüpfen, letztlich immer wieder ins ästhetische Ghetto zurückgedrängt wurde.86 Der Versuch eines Emanzipationsprozesses der Kunst vom Autonomiestatus, mit dem sie behaftet ist, die hier eruierte Zeit-Losigkeit ihrer Formen, die doch allererst Bedeutung, Sinn und neue Lebenspraxis freilegen und für das historische Subjekt erobern wollte, wurde als die Kunst-Attitüde aller Kunst-Attacken markiert, ausgegrenzt und mithin unschädlich gemacht. Es gibt nun das Wissen von der Widerborstigkeit avantgardistischer Kunst, das der Postmoderne entgegenschlägt. Für die Revolte der Postmodeme gegen die Tradition laßt sich sagen, daß ihre besondere Anstößigkeit [...] heute niemanden mehr schockiert. All [es] [...] gilt in institutionalisierter Form als Gütezeichen offizieller westlicher Kultur. Ästhetische Produktion ist integraler Bestandteil der allgemeinen Warenproduktion geworden. Der ungeheure Druck, immer neue Schübe immer neuer Waren [...] mit steigenden Absatzraten zu produzieren, weist den ästhetischen Innovationen und Experimenten eine immer wichtiger werdende 'strukturelle' Aufgabe und Funktion zu.87 Jameson bezeichnet das Dilemma der postmodemen Kunst, die sich ohne Aussicht auf eine neue Chance zur Verwirklichung ihres historisch gewordenen Auftrags ununterscheidbar ins Sortiment der Waren der Gegenwart gereiht sieht: sie ist ja längst - jedoch ganz und gar anders als sie wollte - in der Lebenswirklichkeit aufgegangen; das süffisante Gesellschafts-Spiel um die Etymologie des Wortes 'Kunst' kann um eine Facette bereichert werden: Kunst kommt weder von 'Können', noch von 'Künden': 'Kunst' kommt von 'Kunde' und 'Kundschaft'. Es gilt darum für die 'immer-noch-avantgardistischen1 Blütenträumer in der Reihen der Kunstproduzenten wie -rezipienten weiterhin das, was ihnen Hans Magnus Enzensberger bereits 1962 ins Stammbuch geschrie-

ben hat: Immer rascher verschlingt die Geschichte die Werke, die sie zeitigt. Von nun an sind die Künste ihrer eigenen Historizität als Drohung und Stimulans eingedenk; aber es bleibt nicht bei dieser Veränderung des Bewußtseins. Der Sieg des Kapitalismus macht aus ihr eine handfeste ökonomische Tatsache. Er bringt das Kunstwerk auf den Markt. Damit tritt es nicht nur zu den anderen Waren, sondern auch zu jedem anderen Kunstwerk in ein Verhältnis der Konkurrenz. Der geschichtliche Wettstreit um die Nachwelt wird zu einem kommerziellen Wettbewerb um die Mitwelt. [...] Doch begnügt sich die Bewußtseinsindustrie auf die Dauer nicht damit, den Markt der Künste durch ihre Auguren beobachten zu lassen. Sie versucht, sich gegen den Wechsel des Wetters zu versichern, indem sie es selber macht. Der Trend von morgen wird von ihr, wenn nicht geradezu erfunden, so doch proklamiert und befördert. Die Zukunft des Kunstwerks wird verkauft, 86 87

Andreas Huyssen: Postmodeme. A.a.O., S. 34. Fredric Jameson: Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. A.a.O., S. 48f. 113

noch ehe sie eingetroffen ist. [...] Aber diese Zukunft hat nicht nur immer schon begonnen; sie ist auch, wenn sie auf den Markt geworfen wird, jeweils schon vorbei. Das ästhetische Produkt von morgen, heute angeboten, gilt übermorgen schon als Ladenhüter. [...] Der Satz von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen wird verwirklicht, indem man die Kundschaft zur Vorhut ausbildet, die mit dem Neuesten bedient werden will und Zukunft gleichsam als Konsumgut verlangt. Selbstverständlich lädt eine solche ökonomische Verfassung zu niederträchtigen Manövern ein. Sie ermöglicht die Entstehung einer Avantgarde als Bluff, als Bucht nach vorn, der das Gros, aus Angst zurückzubleiben, sich anschließt.88 Damit ist der scheinbar unüberwindliche Hiatus zwischen Wirken-Wollen ('Arbeit in und an der Gegenwart') und Sprechen-Können (tönende Waren) für eine Kunst der Werke in der Nach-Avantgarde ausgewiesen. Jede Artikulationsform innerhalb des Diskurses Kunst ist als solche zu identifizieren. Die Avantgarde hat sich mit ihrer Selbstthematisierung nur umso erkennbarer konturiert. Eindeutig und umißverständlich ist als Kunst auszumachen, was sich innerhalb des historisch abgesteckten Feldes der Kunst (des Kunstdiskurses) artikulieren will. Kunst bringt immer nur Kunst hervor. Und deren Folgenlosigkeit - im Bürgerschen Sinne - ist Inbegriffen im historischen Wissen. Hannes Böhringer hat es spöttisch auf eine Formel gebracht: Kunst ist, was die Institution, das System Kunst als Kunst wahrnimmt. Innerhalb ihrer Bannmeile sind farbige Dinge im Zweifelsfall Kunstwerke.89 Provokation zum Beispiel gelingt einzig in diesem Bereich, Grenzen sind nicht mehr zu überschreiten: sie ist keine Ungeheuerlichkeit mehr sondern lediglich noch eine 'kontrollierte Explosion' auf dem Kunst genannten Übungsplatz des Denkens. Und damit - anders als sie wollte - ein Teil eben des normierten Lebens, dessen Tabus doch mit der Provokation durchbrochen werden sollten. Danto bezeichnet Warhols Brillo-Boxes, die 1964 in der Stable Gallery, N.Y., ausgestellt wurden, als den konkreten Markstein, an dem die Kunst der Werke des Verweisens zuletzt eine Regelverletzung des Lebens probierte und danach endgültig zu ihrer eigenen Philosophie geworden ist. Nach meiner [A. Dantos, B.G.] Ansicht liegt die unvermeidliche Leere der herkömmlichen Definitionen von Kunst darin, daß sie alle auf Merkmalen beruhen, die von den WarholSchachteln [den Brillo-Boxes, B.G.] für eine solche Definition von Kunst als unerheblich erwiesen werden; so daß nach irgendeiner Revolution in der Kunstwelt die gutgemeinte Definition an den kühnen neuen Werken einfach abprallt. Jede haltbare Definition muß sich demnach gegen solche Revolutionen wappnen. Ich neige zu der Ansicht, daß mit den Brillo-Schachteln die Möglichkeiten tatsächlich abgeschlossen sind und daß die Geschichte 88 89

Hanz Magnus Enzensbergen Die Aporien der Avantgarde. In: ders.: Einzelheiten. Frankfurt 1962. S. 290-315. Hier: S. 298f. Hannes Böhringer: Attention im Clair-Obscur: Die Avantgarde. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute. A.a.O., S. 14-33. Hier: S. 17.

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der Kunst an ein Ende angelangt ist. Sie ist zwar nicht zum Stillstand gekommen, ist aber in dem Sinne an einem Ende angelangt, daß sie zu einer Art von Bewußtsein ihrer selbst übergegangen und wiederum in gewisser Weise zu ihrer eigenen Philosophie geworden ist.»

Jedes Werk trägt schwer an der Last dieses Wissens um die Fixationen nach Ort und Zeit, die sich fortan in die Form seiner Gegenwart mit einschreiben. Die Vergangenheit konditioniert, belastet, erpreßt uns. Die sogenannte historische Avantgarde [...] will mit der Vergangenheit abrechnen, sie erledigen . [...] Dann geht die Avantgarde weiter, zerstört die Figur, annuliert sie, gelangt zum Abstrakten, zum Informellen, zur weißen Leinwand. [...] Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde (also die Moderne) nicht mehr weiter gehen kann, weil sie inzwischen eine Metasprache hervorgebracht hat, die von ihren unmöglichen Texten spricht. Die postmodeme Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.91

Ecos Empfehlung thematisiert die Form für die Form der Auseinandersetzung der Kunst mit ihrer eigenen Vergangenheit, die das historische Projekt der Kunst, wahrhaftig - damit unmittelbar! - zu sein, als Kunst der Post-Avantgarde fortsetzen könnte. Ironie wäre dann der Friede, den eine endlich zur Ruhe gekommene Avantgarde mit ihrer Geschichte schließen könnte. In diesem Sinne erkennt auch Dieter Borchmeyer die "Epatez l'avantgarde!"-Attitüden (Borchmeyer) der Postmodeme: Gegen den Kanon des [der Avantgarde, B.C.] Verbotenen richtet sich die Ästhetik der Postmodeme in erster Linie. [...] Hat die Avantgarde lange genug die Tradition diskreditiert, so wird nun die Tradition zur Avantgarde.92

S.D. Sauerbier hat demgegenüber nun eine These aufgestellt, nach der die eigentliche Bewegungsohnmacht der Kunst nach der Avantgarde - das Zappeln der Werke im Spinnennetz der Wirklichkeit des Wissens - zwei 'Auswege' zuläßt. So diagnostiziert er - nach dem vergeblichen Anrennen noch der AntiKunst gegen das Bollwerk des vereinnahmenden Wissens - einmal eine Intensivierung der Beschäftigung mit rein kunstrelevanten Problemen. Kunst eskamotiert das eigene Wissen um die Vergeblichkeit von Grenzüberschreitung und richtet sich ein auf dem betont künstlerisch-künstlichen Feld der Werk-Erprobungen: sie wird "Meta-Kunst". Zum anderen - und dieser Strang soll nun verfolgt werden - vermag Kunst sich einen unmittelbaren Zugriff auf Wirklichkeit dadurch zu 'erschleichen', daß sie diese spiegelt. Damit wird der Rezeption anheimstellt, das dem Erleben 90 91 92

Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O., S. 12f. Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose (1983). München 1984. S. 77f. Dieter Borchmeyer: Die Postmodeme - Eine konservative Revolution. A.aO., S. 126. 115

Überantwortete als Kunst-Kommentar zum Wissen der Diskurse auszudeuten. Auch er - wie der bereits zitierte Danto - beeilt sich gleich hinzuzufügen, daß die Präsentation von Wirklichkeitsfragmenten in und als Kunst keineswegs als wirkliche Dopplung der Wirklichkeit aufgefaßt werden kann. Denn im Gestus des Vor-Zeigens findet eine Exemplifikation statt, die das Fragment schon dadurch ent-wirklicht, daß es aus seinem gewohnten Kontext heraus- und in den Kunstdiskurs gehoben wird. Die Wirklichkeit der Wirklichkeit wird an einem anderen Ort des Wissens zu einer anderen Wirklichkeit umgezeugt. Richtete sich Antikunst gegen das 'System der Künste', das Prädikat oder die Klassifikation als 'Kunst' mit ihrem Geltungsanspruch überhaupt, so geht vormalige Antikunst nun zur Produktion von Meta-Kunst-Werken über [...]. Die Reduktion des Kommunikationssystems 'Kunst' auf die unmittelbare gesellschaftliche Lebenspraxis vermindert die sinnliche Erkenntnis in gedanklichen Abbildern oder Entsprechungen der Repräsentation auf die der Präsentation von bloßen Gegenständen deiktischen Vorzeigens, welche dann erst durch Leistungen der Rezepüon zu bezeichnenden oder bedeutenden Dingen oder Ereignissen werden können - Präsentation oder 'Zurschaustellung' ist hingegen bereits eine Verweisung durch Exemplifikation, welcher selbst präsenzgebundene dingliche und personale Gegenstandsbedeutung zugrundeliegt.93 Kunst der Postmoderne verfahrt demnach einmal intradiskursiv in der Selbstbespiegelung der von ihr erreichten Möglichkeiten, bzw. kaschiert interdiskuriv in der Spiegelung der Wirklichkeit, die sie ins Ghetto der Wirkungslosigkeit abgeschoben hat, ihr subversives Weiterwirken-Wollen. Eco hat es generell das Kunstwollen genannt.94 Den Versuch, damit das Werk als postmodernes zurückgewinnen zu können, startet Wolfgang Lange: Zwar huldigt man der "bricolage1, dem ironisch verspielten Umgang mit dem durch die Avantgarde restlos freigesetzten semantischen und ikonographischen Material, Imitationen aber oder Rückgriff auf klassizistische Verfahren sind in dieser Ästhetik ebenso tabu wie in der Moderne. Was auch die Postmodeme noch verlangt, sind Werke, die aus dem Bewußtsein der Gegenwart heraus entstanden sind, mithin Authentisches - nur daß Authentizität heute weder Originalität noch Innovation bedeuten muß, weder Formexperiment noch Zertriimmeningsswut.95 Tatsächlich aber ist es gerade die Kategorie 'Werk', die sich dem historischen Blick als untaugliches Mittel zur Gegenwartsanalyse präsentiert. Kunst, die weiterhin an ihrem interdiskursiven Projekt arbeiten will, erkennt das Versa93 94 95

S. D. Sauerbier: Gegen Darstellung. Ästhetische Handlungen und Demonstrationen. Die zur Schau gestellte Wirklichkeit in den zeitgenössischen Künsten. Köln 1976. S. 80f. Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose. A.a.O., S. 79. Wolfgang Lange: Eklektizismus und Epigonentum heute. Die 'Langsame Heimkehr1 des Peter Handke. In: Merkur, Nr. 3,1985. S. 256-263. Hier: S. 262.

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gen, mit kunstgeschaffenen, Objektiven' Mitteln unmittelbar Einspruch erheben zu wollen. Eine Kunst, die den Werkbegriff aufrechterhält, um ihre Vergangenheit nun mit Ironie zu transgredieren, würde die 'Aporien der Avantgarde' zementieren und damit die generelle Misere des Zeitdiskurses fortschreiben. Darum verschreibt sie sich vielmehr der Aufgabe, zu Alternativen innerhalb eines Bewußtseins zu stimulieren. Das Wissen selbst soll 'flimmern'. Kunstmittel hierzu sind die durch Transposition in 'fremde' diskursive Kontexte zum Changieren gebrachten Real-Gegenstände. Kunst erscheint darum als reine Form, der scheinbar die Gehalte abhanden gekommen sind. Da Kunst nur in ihrem Ausdruckskanon formgebunden ist und auch bleibt, allerdings damit nun bedeutungsbereinigte Zeichen gesetzt werden, wird sich die Rezeption von der vorangenommenen Klammer zwischen Form und Gehalt verabschieden müssen, die einst Charakteristikum des Werks war. Es hat eine Re-Definition der Erwartung an Kunst stattzufinden, die Form nicht mehr am intendierten Gehalt mißt, sondern den vordergründig und scheinbar eindeutig fixierbaren, mitunter banalen Gehalt, auf den verwiesen zu werden scheint, als Anlaß für Form selbst - an sich - erkennt. Nicht mehr: Was sagt die Form?, sondern: Welche Gehalte löst die längst bekannte Form aus. Und: was löst die Form neben dem Gehalt noch aus? Gelingt es ihr, auch die Rezeption für eine Produktion einzusetzen, die Kunst abseits der Werke schafft? Spiegelt sie und spielt sie mit Wissen? Einer daraus resultierenden, augenscheinlich allzu bereitwilligen Geschmeidigkeit urbaner artifizieller Produktion, die nicht Widerstand leistet gegen die völlige Vereinnahmung ihrer Artefakte, sondern sich anscheinend zu einem weiteren Tonträger' im Gigantismus der Massenkommunikation herabwürdigen läßt, gilt es auf den Grund zu gehen. Es muß ja nicht alles Talmi sein, was verkäuflich glänzt. Achille Bonito Oliva etwa beschreibt eine postmodern polyvalente RaumKunst. Er behauptet die Befreiung der Sprache von der Aussage und von der Bedeutung für die postmodeme Malerei. Painting is now free to deprive language from meaning, tending to consider the language of painting entirely interchangeable, removing it from fixation and mania and delivering it to a practice which sees value in inconstancy [...] The continuity of different styles produces a chain of images, all of which work on the basis of shifting and progression which is fluid rather than planned. In this way meaning is bewildered, attenuated, made relative, and related to other semantic substances which float behind the recovery of the innumerable systems of marks. There results a son of mildness of the work, which [...] dissolves in multidirectional digression.96 96

Achille Bonito Oliva: The International Transavantgarde. Milano 1982. S. 6-20. ZU. nach: Fredric Jameson: Postmodernism and Utopia. A.a.O., S. 26.

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Die Ordnung des Werks ist gesprengt. Seine Trümmer flottieren im Raum. Sie werden noch - anscheinend nur zum Zweck der Anwendung (practice) - zu flüchtigen Ketten inkommensurabler Glieder (chain of images) gereiht, die sich aber gleich wieder im Nu (nunc stans) verlieren (dissolve in multidirectional digression). Dahinter steckt nicht der Experimentierwille der Spat-Avantgarde, auch nicht die nackte Lust auf Erhaltung des Kunstbetriebs und schon gar nicht die Attitüde des 'Machen wir das Beste draus!1. Daß sich die 'postmodeme Konstellation (Renner)1 'wild at heart and weird on top' (David Lynch) präsentiert, also anscheinend unbestimmt entflammt und bedeutungsverwirrt, hat andere Gründe. Die Postmoderne des nunc stans ist formal ja nicht historisch 'neu', nicht 'anders' als die Moderne - sie entfaltet vielmehr deren Möglichkeiten. Der Hinweis darauf also, daß schon in der Moderne angelegt war, was jetzt postmodern genannt wird, ist - aus moderner Sicht - berechtigter Einspruch. Aus postmoderner Perspektive ist er redundante In-Formation, die lediglich dazu angetan ist, den Willen zur geradlinigen Fortschreibung der Geschichte zu dokumentieren. Doch nicht die Form der Dinge hat sich mit der Postmoderne in der Kunst und ihrer Kehre zum Wissen geändert. Aber die Weise, nun das Wissen zu prominieren. (Kunst-Historisches) Wissen ist Voraussetzung für Dekonstruktion. Eine Kunst des nunc stans mißachtet moderne Verdikte gegen benutzte Form, sie verfügt über ihre Geschichte - und sie tut es und kann es tun, weil sie auf das verzichtet, was der Zeit der Moderne lieb und teuer war: sie verzichtet auf die Kategorie desjenigen Gehaltes, der über seine Form aufgerufen wird. Gehalt durch Form wird als Möglichkeit des Wissens schlicht vorausgesetzt. Tatsächlich wendet sich diese Kunst des Postmodemismus damit an jemanden, der für moderne Kunst nur eine sekundäre Rolle gespielt hat, weil er immer schon vorausgesetzt war: sie richtet sich an den Betrachter selbst. Die Möglichkeit, das Empfindungsvermögen zu aktivieren, wird jetzt zur Chance für Rezeption und Kunst. Denn Tatsache ist, daß der 'historische' Minimalismus - konträr zu seinen Intentionen - doch verhandelbare Werke (Dilemma: Avantgarde!) hervorgebracht hat. Es trifft zu, was Ursula Meyer als Konsequenz noch der freiwillig unternommenen Objekt-Reduktionen in der Land/Concept-TMinimal Art angeführt hat. Die Objekthaftigkeit ihrer Hervorbringungen wurde lediglich verlagert, zum Teil orts-fixiert oder minimiert, nicht aber vollständig aufgelöst. Sie haben damit den Kunstbetrieb nämlich in keiner Weise 'aus dem Tritt' gebracht: In the late sixties artists had to face the horrifying possibility (horrifying especially in the context of the ongoing war) that the investment consumer, often incorporated, was metamorphosing the artist's aesthetic object into the market place's commodity. The strategy 118

most often offered as a counter to this metamorphosis was, of course, to make art which was objectless, art which was conceived as uncollectible and unbuyable because intangible. [...] [but] it became obvious to the artists that temporary, cheap, invisible, or reproducible art has made little difference in the way art and artist are economically and ideologically exploited.97

Exkurs: KunstKunst und leere Form. Manierismus versus Design Tatsächlich ist diese Form-Hoheit über den Gehalt in der Kunst, abzugrenzen gegen eine sich daneben etablierende Form ohne jeglichen Gehalt, eine nicht mehr gegenwärtige, sondern nur noch und ausschließlich aktuelle Form, die nichts will als die Nobilitierung ihres scheinhaften Augenblicks: Design, Dekor, "das jede Provokation verliert, weil es selbst in die Chefetagen der Konzerne und Büros der Politiker vordrängt."98 Die offensichtliche Verfügbarkeit der Formen führt von Seiten des Kunstbetriebes zu einer äußerst platten WertSchätzung, die sogar Hervorbringungen einstmals integerer Produktion der Einheit von Form und Gehalt nur noch taxiert: Ob Leonardo oder Picasso, Jasper Johns oder Chagall - klingende Namen, klingende Münze: der wahre Wert eines Kunstwerks entspricht seinem Warenwert. Bild ist eben soviel wert, wie zwei Leute bereit sind, dafür zu zahlen', heißt es bei Christie's.99 Damit sind die Rahmenbedingungen angedeutet, mit denen der Kunstbetrieb die ihm scheinbar frei verfügbaren, besser: veräußerbaren Formen der Kunst umgibt. John Shearman führt eine Jahreszahl für die Geburt des Kunst-Konsums der Werke an: Ab etwa 1520 werden Kunstwerke einzig deswegen bestellt, weil der Auftraggeber zum Beispiel 'einen Michelangelo' besitzen möchte, das heißt ein Exemplar seiner beispiellosen virtü, bzw. seiner Kunst: Thema, Format und sogar der Bildträger - das alles spielte keine Rolle.100 Manierismus, der im folgenden als Chiffre für diese kapriziöse Kunstfreude eingeführt und behandelt werden soll, ist tatsächlich eine der eigentümlichsten Kunsterscheinungen; der kunsthistorischen Forschung fiel und fällt es schwer, dieses Phänomen einheitlich zu definieren. So dient der Begriff bis heute einerseits der Stilbezeichnung einer Kunstepoche nach der Renaissance (etwa 1520 Tod Raffaels - bis etwa 1650 "klares1 Hochbarock), und andererseits ist er Bezeichnung für eine epochenunabhän97

Ursula Meyer: Conceptual Art. N.Y. 1972. S. 14f. Rolf Günter Renner: Die postmoderne Konstellation. A.a.O., S. 27. 99 Joachim Riedl/Karlheinz Schmid: KUNST. In: Die Zeit. Nr. 14 v. 27. 03. 1987, S. 49ff. Hier: S. 50. 100 John Shearman: Manierismus. Das Künstliche in der Kunst. Frankfurt 1988. S. 49. 98

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gige Qualität für Werke der Kunst im Sinne von 'Extravaganz1 und 'Fülle'. Letztere ist eigentlich die Ursprungsbedeutung des Manierismus. Zugrunde liegt das Won "Maniera1 (Art und Weise), synonym verwendet mit dem lateinischen 'modus'. Schon um 1390 fand es im Malereitraktat des Cennini Anwendung im Sinne des Individual-Stils eines Künstlers, einer Nation oder eines Zeitalters.101

Eine erste und entscheidende Wertung erfährt dieser bis da neutrale Begriff im Traktat 'Le vite dei pi eccelenti architetti, pittori e scultori italiani..." (Florenz 1550) des Kunsttheoretikers Vasari,102 der an bestimmten Kunstwerken des 16. Jahrhunderts kritisierte, daß sie 'alia maniera de Michelangelo' oder 'de Raffaelo' geschaffen seien. Damit ist der Grundstein gelegt für den überaus hartnäckig sich erhaltenden Verdacht, daß mit dem Manierismus unoriginelle, langweilige Nachahmung und unschöpferische Epigonalität zu verbinden sei. Es war üblich, so Shearman, daß manieristische Künstler Formen oder Kompositionselemente, die ursprünglich als Ausdrucksmittel entwickelt worden waren, nun in einer nicht-funktionalen, eben kapriziösen Weise einsetzten.103

Das kann - bei aller Kritik - dennoch als Vollendung und Ausreizung bis zum Äußersten gerühmt werden: Vasari definierte Vollkommenheit in der Malerei als Reichtum der Erfindung, absolute Vertrautheit mit der Anatomie und Umwandlung von Schwierigkeit in Leichtigkeit. Dolce meinte sogar, daß 'Leichtigkeit die Grundlage von Meisterschaft in jeder Kunst1 sei.104

Es kann aber auch als Fehlentwicklung gegeißelt werden. So heißt es in einer kritischen kunsthistorischen Studie des Jahres 1672: Weil aber die Dinge hier auf Erden niemals im gleichen Zustand beharren und das, was zum Gipfel gelangt ist, im ewigen Wechsel zwangsläufig wieder herabstürzen muß, sah man auch die Kunst [...] schnell niedergehen, so daß sie, eine Königin, niedrig und gemein wurde. [...] Die Künstler verdarben, indem sie das Studium der Natur aufgaben, die Kunst mit der Maniera oder, wollen wir sagen, phantastischen Idea.105

Giovanni Pietro Bellori, von dem diese Erläuterung stammt, behauptet zweierlei: erstens deklassiert er den (historischen) Manierismus als Dekadenzerscheinung einer Hochkunst, der einen Hang zum "Bizarr-Phantastischen oder [...] der Marotte"106 vorhält, und zweitens benennt er einen Kunst-Antagonis101

Georg Kauffman (Hg): Propyläen Kunstgeschichte, in 12 Bänden. Bd. 8. Die Kunst des 16. Jahrhunderts. Berlin. o.J. S. 77. 102 Diese Information stammt von: Jaques Bouquet: Malerei des Manierismus. Die Kunst Europas von 1520-1620. München 1963. S. 11. 103 John Shearman: Manierismus. A.a.O., S. 21. 104 Ebd. S. 20. 105 Giovanni Pietro Bellori: Le vite dei pittori, scultori e architetti modemi (!). Rom 1672. Zit. nach: Fritz Baumgan: Renaissance und Kunst des Manierismus. Köln 1963. S. 194. 106 John Shearman: Manierismus. A.a.O., S. 20. 120

mus gestalterischer Vorwürfe: einerseits die von ihm hochgeschätzte Nachahmung der Natur und andererseits die verschmähte Emanation, Bildwerdung einer künstlerischen Idee. John Shearman nennt Lodovico Dolce als denjenigen, der diese Feststellung, keineswegs ausschließlich als Vorwurf gedacht, zuerst getroffen hat. Er führt dann allerdings zu Bellori auch weiter aus: Der Venezianer Lodovico Dolce (1S57) wies auf eine allgemein beklagte Tendenz zur Reduzierung künstlerischer Arbeiten auf ein Stereotyp hin, nämlich auf maniera. Unter maniera wurde eine gewisse Verfeinerung und eine Entfernung von der Natur verstanden, und das konnte auch gut oder auch nicht gut sein. [...] Für Bellori, Theoretiker im 17. Jahrhundert, war maniera - jenes Übel, das zwischen Raffael und Rubens den Niedergang der guten Malerei herbeigeführt hatte - ein in der Phantasie des Künstlers erzeugtes Ideal, das nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf practice, also auf stilistische Konvention und technische Meisterschaft gründete.107 Der Begriff 'Idee1 (oder 'Ideal'), der alle Traktate zum Manierismus durchzieht, ist durchaus als terminus technicus zu werten. Er verweist auf die 'IdeenLehre', eine säkularisierte Platon-Adaption,108 des Malers Frederico Zuccari. Sie beschreibt eine subjektive Kunst, die sich mehr von der (geistigen Vorstellung als von der sinnlichen Wahrnehmung leiten läßt. Der 'disegno intemo' [innere Zeichnung] wird mit einem Spiegel verglichen, der Vorstellung und Gegenstand des Sehens ist. Die menschliche Phantasie bildet - wie der Traum und wie Gott - neue Arten und neue Dinge. Das geistige In-Bild des Künstlers hat also demiurgische Kraft. Die bloße Nachahmung der Natur erscheint als Kopie der Kopie.109

Als kopierte Kopie erscheint die Naturdarstellung, weil sie nur für ein Abbild einer mit Fehlem behafteten Realisation des göttlichen Bauplans gehalten wird, das - selbst fehlerhaft - Gottes Welt nur um weitere unzulängliche Nachahmungen bereichere. Der von den Manieristen des 16. Jahrhunderts gewählte Ausweg beruft sich auf die mentale und intellektuelle Potenz des Künstlers, (phantastische) Wirklichkeiten, 'Ideen' konstruieren zu können, die mit dem Mittel der (Natur-)Deformation, der absichtsvollen Hintergehung des Augenscheinlichen einen gesteigerten Ausdruck, eine 'realere1 Wirklichkeit darzustellen erstrebte. John Shearman, der die Eleganz und mondäne Weitläufigkeit der manieristischen Arbeiten wie auch deren auf Wirkung ausgeklügelte Präzision betont, nennt die Charakteristika dieses Manierismus': 107 108

Ebd. S. 16.

Die Idee wird "zu einer menschlichen Potenz." Gustav Rene Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Hamburg 1957. S. 44. 109 Rene Hocke: Malerei der Gegenwart. Der Neo-Manierismus. Vom Surrealismus zur Meditation. Wiesbaden/München 1975. S. 208. 121

Die Bezeichnung [Manierismus], die einer Epoche gegeben wurde, leitet sich also von einer Qualität her, die kurz nach dieser Epoche als ihr prägnantes Merkmal angesehen wurde, und von einer Qualität, die vor und während dieser Epoche überaus geschätzt wurde. [...] Gefragt sind jetzt Ausgeglichenheit, Verfeinerung und Kompliziertheit, Kunstwerke, die elegant, durchgeistigt und über das Natürliche hinaus idealisiert sind: außerordentlich kultivierte Treibhausgewächse. [...] Manierismus, das ist, kurz gesagt, der elegante

Stil.11«

Der historische Manierismus beruft sich also auf die aufzeigbare Unvollkommenheit der Welt, der er die auch als Korrektur aufzufassende Alternative dutch Kunst entgegensetzt. Einher geht damit eine ungeheure Aufwertung des Künstlers zum Demiurgen nach seiner Idee: Wichtig war, daß der Künstler 'divino' sei in dem Sinne, daß er zu seinem Material in einem gottähnlichen Verhältnis stehe. Diese Idee war eigentlich nicht neu, denn die Vitruvsche Sicht des himmlischen Schöpfers als eines göttlichen Architekten war schon 1435 von Alberti umgekehrt worden: 'Jeder große Künstler [...] wird sich wie ein Gott fühlen!m

Diese 'Vergottung' des Künstlers rührt von der Bewunderung für seine offensichtliche vorzügliche Könnerschaft, eigene Weltkonstrukte zu erfinden und zu präsentieren. Der historische Manierismus kennt ja noch die Wahrheit der Werke, die auf ihren Urheber zurückstrahlt Die historischen Manieristen befinden sich mit ihrem Postulat, Korrektiv zu sein, im erklärten Gegensatz zur klassischen, mathematisch fixierten Proportionslehre Albrecht Dürers, der durch intensives Naturstudium dem göttlichen Geheimnis auf die Spur kommen und mit seinem Werk eine schönere, weil exakter rekonstruierte Natur darstellen wollte als der bloße Augenschein sie ermöglichte.112 Formuliert wurde hingegen bei den Manieristen das Ideal der s-förmigen 'figura serpentinata', deren naturfeme Proportionierung mit einer Flamme verglichen wurde. Zugunsten der Ausdruckssteigerung also gab man unnatürliche Proportionen, überlängte Figuren, verzerrte, gedrehte, scheinbar knochenlose Körper. *13

Da es dem Manieristen um die Idee, die intellektuelle Gestalt ihrer Werke ging, war es ihnen gleichgültig, daß sie Vorlagen Verfeinerten1, grob gesprochen: Renaissance-Meister kopierten, wenn sie ihren Vorstellungen in Entwurf und Gestus entsprachen. Ihre handwerklichen Fähigkeiten, ihr gestalterisches Können indes blieben unbestritten - und wurden zur Voraussetzung, überhaupt rezipiert zu werden. Damit ist der Konkurs dieser Verfeinerungskunst eingeleitet. 110

John Shearman: Manierismus. A.a.O., S. 18. Ebd. S. 55. 112 Dieser Hinweis auf die Dürersche Proportionallehre ist bezogen von: Hans Mielke: Manierismus in Holland um 1600. Kupferstiche, Holzschnitte und Zeichnungen aus dem Berliner Kupferstichkabinett. Berlin 1979. S. 16ff. 113 Ebd. S. 17. 111

122

Er [der Manierismus] war Fürstendiener geworden [...], er war an allen Höfen um 1600 beimisch. [Hervorzuheben wäre insbesondere der Prager Hof Rudolph II (1576-1612), an dem Giuseppe Arcimboldi tätig war, B.G.] Was man in allererster Linie jetzt von Malern, Bildhauern und Architekten verlangte, war soviel wie möglich an Kunst, wobei 'Kunst1 in dem Sinne gemeint ist, in dem wir etwa von Kochkunst sprechen, also die Fähigkeit, geschmackvoll, womöglich neu, abwechslungsreich, auch mit pikanten und rätselhaften Sachen überraschend zu sein, anzuregen, anzurichten.114

Mit seiner Degeneration zur Dekorationskunst ist das Ende des intellektuellen Anspruchs des Manierismus besiegelt: verkommen zur abhängigen Ausstattungskunst, zur Mode, die einen gewissen (finanzstarken) Markt zu versorgen hat, verkümmert der (kunst-)revolutionäre Aspekt dieser Kunsthaltung zur bloßen Effekthascherei. Der Künstler wird hochdotierter Virtuose, ein Artist der Kunstsprachen. In der kunsthistorischen Systematik ist damit das Ende des Manierismus bezeichnet. Epochenunabhängig weiter existiert jedoch der Manierismus-Topos als Negativwertung für alle geistlosen Verfallserscheinungen von Kunsthochphasen. Eindeutig ist Kants Manierismus-Ablehnung: Maniriert heißt ein Kunstprodukt nun alsdann, wenn der Vortrag desselben auf die Sonderbarkeit angelegt und nicht der Idee angemessen gemacht wird. Das Prangende (Precise), das Geschrobene und Affectirte, um sich nur vom Gemeinen (aber ohne Geist) zu unterscheiden, sind dem Benehmen desjenigen ähnlich, von dem man sagt, daß er sich sprechen höre, oder welcher geht und steht als ob er auf einer Bühne wäre, um angegafft zu werden, welches jederzeit einen Stümper verräth.115

Leere Form über Formen zu verfertigen, lautet also der Vorwurf,116 den man dem Manierismus gemeinhin macht. Tatsächlich aber entdeckt die Kunst in ihm nur sich selber: sie ent-wickelt die durch Reflexion (an-)erkannten Möglichkeiten vorangehender Meister, um in ihrem genuine, explizit nicht-natürlichen Bezirk alternative Möglichkeiten zur Natur zu erfinden. Sie 114

Erich Hubala (Hg): Propyläen Kunstgeschichte. A..&.O. Bd 9 S. 23. Immanuel Kant Kritik der Urtheilskraft (1790). Zit. nach: Fritz Baumgan: Renaissance und Manierismus. A.a.O., S. 197. 116 Hocke behandelt den Manierismus generell als antithetisches Moment zu klassischen Perioden; für ihn bezeichnet es "alle künstlerischen und literarischen Tendenzen, die der Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgend einer Klassik gleichzeitig sein." (Die Welt als Labyrinth. A.a.O., S. 207) Dieser Antagonismus ist nur bedingt aussagekräftig. Den Manierismus als antiklassischen, überzeitlichen Gestus (Ausdrucksgebärde) zu bezeichnen, verlagert sein Definitionsproblem auf das der Klassik. Diese aber definiert sich wiederum über den Manierismus. Es entsteht ein circulus vitiosus, dem Hocke zum einen über das Meta-Phänomen des Kunst-Absoluten und zum anderen über die Hufskonstruktion des "problematischen Menschen" (Ebd. S. 226) zu entkommen sucht. Aus heutiger Sicht nur mit geringem Erfolg. Dieser Arbeit scheint daher lediglich Hockes Beschreibung des Phänotyps 'Manierismus' brauchbar, der definiert wird als eine Folge-Kunst, die voraussetzt, aufbaut ins Detail geht und mit ihren Materialien spielt. 115

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destilliert also die Kunstessenz aus den Überlieferungen, um wahrhaftiger sein zu können, als es der Realitätssinn des Augenscheins erlaubt Das Epitaph für Raffael von Tebaldeo lautet denn auch: Quid minim si qua Christus tu luce persist!. Naturae ille Deus, tu Deus artis eris. (Welch Wunder, wenn Du wie Christus im Licht überdauern solltest? Er war der Gott der Natur, Du wirst der Gott der Kunst sein.)117

Manierismus ist eine Kunsthaltung, kein Stil. Der verführerisch naheliegende Versuch, den postmodernen Manierismus unmittelbar epochal anbinden zu wollen, etwa in der Art, daß Epochal-Krisen ein historisches Beben darstellen, dessen Ausläufer immer auch die Kunst erfassen, verbietet sich wegen seiner Prämissen. Hier würde nicht nur ein 'historisches Gesetz1 unterstellt, es würde zudem eine Unmittelbarkeit von Kunst und Epoche postuliert, in der jene identitätslos in dieser aufginge. Die Bedingungen für das Manierismus-Phänomen sind jedoch jeweils neu zu klären. Damit ist aber gleichzeitig auch gesagt, daß die Kunst der Postmoderne zu keiner 'anderen Zeit1 entstehen kann: sie ist historisch fixiert. Der Umbruch im Diskurs des Wissens und der Manierismus bedingen nicht einander, aber sie bestimmen das Klima der Postmoderne: der epochale Paradigmenwechsel, die Lokalisierung des Wissens im Raum nach der Beschleunigung des Wissens in der Zeit und die Spiegelung dieses Wissens durch eine postmodern manieristische Kunst bilden ihre Parameter. Dieser Manierismus, im Gegensatz zu seinen historischen Vorläufern, bezieht sich allerdings nur formal auf Kunst. Er zielt aber auf das Wissen - unter anderem auch auf das von Kunst. Wegen dieser Dopplung der Thematisierung von Kunst, einmal als aufgegriffene Form und einmal als gezeigtes Wissen, sei der postmodeme Manierismus hier KunstKunst genannt. KunstKunst der Form in der Postmoderne, sei sie noch so minimalistisch, ist Kunst als Wissen - ohne Werke. Der so erweiterte und zugleich eingeschränkte Manierismus-Terminus muß allerdings zu Fehleinschätzung führen, wenn er nur als Losung für eine werkgebundene Formenkunst gebraucht würde, die sich in Wiederholungen und bloßer Verfeinerung gefällt. Auch sie gibt es im nunc stans. Sie wird hier jedoch unter einer anderen Chiffre geführt. Die Ausschmückung der Gegenwart - das Design Neben dem Diskurs, den man manieriert, kunstkünstlich nennen könnte, hat sich ein Diskurs über die Dinge etabliert, der intendiert und ausschließlich in der Behandlung ihrer Oberflächen schwelgt. In ihm feilt der Geschäftsgeist am 117

Zit. nach: John Shearman: Manierismus. A.a.O., S. 65.

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Status quo. Zum Manierismus fehlt der Feinsinn und das Gespür fürs Wissen. In ihm begnügt man sich mit der Sicherheit des Vorhandenen und exponiert sich in der Auffaltung des Möglichen. So daß nachher, gleichviel, Mögliches neben Möglichen steht, aber nicht wie im Pluralismus der KunstKunst, sondern mit stets demselben Resultat. Noch in jeder Vereinzelung Massenware. Überholt schon im Augenblick ihrer ersten Erscheinung. Die Marmor-Fassaden der Postmoderne-Nachbauten, die Zinnen, Giebelchen, Kreis- und Dreiecksfenster aus dem Setzbaukasten noch am Sozialbau (Aachen, Mauerstraße) künden nicht von (wiedergewonnener) architektonischer Freiheit, Souveränität und Witz, sondern von gestalterischer Pflichterfüllung. Man muß sich die Schau der Mode (nur) leisten können. Ein Endspurt ins Geschmäcklerische hat eingesetzt. Nicht nur beim Bau. Nicht länger sollen die gestalteten Dinge ohne Steigerungsattribut gedacht werden. Und daran schon erkennt man ihre Expansion auf der Fläche: Die neuen Dinge benötigen - über das Steigerungsattribut - ihr altes Gegenüber, mit dem sie sich vergleichen. In diesem postmodemen Komparativ steckt der Wille zum Arrangement mit dem Faktischen. Alles, wie's ist und war, nur gestalteter. Nichts, was sich nicht ad infinitum noch anders herrichten ließe - zur behaglichen Einrichtung in einer gegenwartsidentischen, zufallsdomestizierten Zukunft. Organisation der Lebensumstände zum schöneren Schein für alle Zwecke in allen Lebenslagen. Ausgestaltung noch der Nischen. Verfeinerung als Steigerung des Vorhandenen und Verbesserungsvorschläge ums Mobiliar. Aber nicht einer, der die 'Einrichtung' hinterfragen oder abschaffen würde. Die Sitzgruppe bleibt Sitzgruppe, der Couchtisch Couchtisch, der Wasserhahn Wasserhahn. Nicht einer, der Schönheit das Nie-Mehr-So-Leben nennen würde. Der Superlativ will dementsprechend die je real gewordene Spitze signalisieren - und die endgültige Unterwerfung unter das Material. Kotau vor der Kulminationsform der Dinge. Nur keine bloße Vorhandenheit mehr! 'Super' sind die Dinge dann - oder Vom Feinsten'. (So jubilieren sogar beim Tor' die Sportreporter in italienischen Leinen-Anzügen.) Der Singular des Superlativs, verliehen als Auszeichnung für die Augenblicks-Attraktion im schlechterdings Nicht-Differenzierbaren, will, daß ein Ding erreichten Anteil an der allseits, allzeit erstrebten Höchststufe habe; er wird vergeben zum Ausweis angenommener Authentizität im Gesamt des faktisch Immer-Gleichen, des nicht belangvoll Unterscheidbaren. Das Feinste - egal, woher es kommt und was es ist - ist das Äußerste, zu dem die Welt gegenwärtig zu veranlassen ist. Als solches soll es - durch nichts als sich selbst - die dauerhart arbeitenden Angestellten des Gegenwarts-Betriebs adeln, in dem man - entsagungsbewußt - 'sich ja sonst nichts gönnt'. Ein Weniges nur - aber das erlesen. Mehr Gestaltung ist 125

beim besten Gestaltungs-Willen nicht zu haben. Mehr gibt der Markt an derartiger Entlohnung jetzt nicht her. Sicher aber später. Und darum sind diese schalen Steigerungen mit dem alten Zeitindex versehen: sie werden überboten werden, gewiß: durch nichts als das simple Neue, das nur anders ist. Und die Aufmerksamkeit richtet sich dann von ihm, dem ehedem Äußersten, das sie jetzt vergessend nivelliert, auf andere Superlative des Augenblicks. So lebt das Design von anscheinend echter Differenz. Es ist nicht selbst, sondern nistet sich ein in das von ihm überholte Andere. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Neu-Arrangement der Dinge doch nur die Ausfaltung eines immer schon vorhandenen Details zur Gesamt-Charakteristik einer Oberfläche. Sie wird unter Wettbewerbsbedingungen präsentiert, damit sie sich zur Zeit auf Zeit behaupte. Design besteht so in der Ausfransung - sei sie noch so reduktiv des einmal - vor allem durch Kunst! - Erreichten: man verändert das Vorhandene im Hinblick aufs Anderssein, das eben nur durch die Differenz, den Vergleich ersichtlich wird. Und darum bleibt es - anders als Kunst - stets gegenwartsverhaftet und vergangenheitskonditioniert: Die Mode mag wechseln, das Bewußtsein bleibt identisch. Keine Erschütterung durch Kunst, sondern freudige Unterbrechung der Betriebsamkeit. Ein Innehalten, kein Innewerden. Es bleibt also - bis auf den einmalig gelungenen Überraschungscoup beim Betrachten eines Wäschekorbs als aufgerissenes Froschmaul, der Swatchuhr als Spiegelei, des Toasters als Toast - alles beim Alten. Design ist Lobpreis der Dinge durchs schnelle Geschäft. Sie tragen - über Komparativ und Superlativ das überwunden Geglaubte wie eine peinliche Last mit sich. Schrill, dezent, extravagant, mondän, 'echt' - ein Wall von Attributen daher, damit man zur Sache bloß nicht komme. Darum trachtet man nach der Zerfaserung der Oberfläche in (noch) exotische Bereiche, die jedoch augenblicklich absorbiert sind: der Zigarrenkuli, das Wellpappenbett, der Leuchtstuhl, den schiefen Tisch, die Renaissance der 70er Jahre-Plastik - man hat das jetzt. Und dann nicht mehr. Denn es bedeutet - auch im Aufguß - nichts. Der Wasserkessel von Alessi als Kegel mit Bauhaus-Griff und niedlicher blauer Taubenpfeife ist dröges Zuviel am Gegenstand, ist Kitsch, nicht Kunst. Resultat eines Veränderungswillens, der sich an der Vorgabe 'Wasserkessel' abgemüht hat. Er bleibt Wasserkessel mehr nicht! -, dessen höchster Esprit, feinster Witz, schon beim ersten Abwasch abhanden kommt: das Preisschildchen. Mit Wasser gekocht, damit Wasser koche - doch niemand kocht Wasser mehr in Wasserkesseln. Wozu auch? Es gibt doch Designer-Elektrokocher. (Hat das eigentlich jemand bemerkt?) Was Design und Dekor für Unverwechselbarkeit oder - dem Kunden - für Stil verkaufen, ist nichts anderes als die signalisierte Einlösung des Versprechens, daß faktischer Konsum-Konformismus in progressive Individualität 126

des Käufers umschlagen werde, sobald nur die für neu ausgegeben Dinge gewählt und bezahlt werden. Nicht für sich errungen, nicht für sich geschaffen, sondern gekauft. Man besitzt durchs Bezahlen. Mehr ist nicht nötig. So bleiben alle Konsumenten. Und es sind und bleiben die Dinge. Manchmal werden sie gefährlich, fahr(-)lässig(!) (siehe BMW-Exkurs!), immer aber verschwenden sie sich in Zeit. Charles Jencks, 'graue Eminenz' neo-klassizistischer Architektur, räumt nun ein, daß auch von kunstproduzierender Seite aus gezielt für den Kunstmarkt gearbeitet werde: Negatively there is a strong desire to speak to the gallery, achieve more commissions and follow a fashion that will bring undoubted commercial reward. Those who damn 'postmodern classicism' as kitsch and consumer pabulum are pointing to an undoubted half truth, and always present danger.118

Lyotard erläutert diese Gefahr der Standortlosigkeit in lauter Kunst. Er verweist auf das Fehlen verbindlich-verbindender ästhetischer Kriterien und greift - wie auch Jencks - für eine der Folgen einen Germanismus auf, allein mit dem das Oberflächenverhalten von KunstKunst und die Verströmung in die Dinge durchs Design zu verbinden wären: By becoming kitsch, art panders to the confusion which reigns the 'taste' of the patrons. Artists, gallery owners, critics, and public wallow together in the 'anything goes', and the public is one of slackening. But this realism of the 'anything goes' is in fact that of money; in the absence of aesthetic criteria, it remains possible and useful to assess the value of works of art according to the profits they yield.119

Und so ist die größte Herausforderung seit der Avantgarde für die Kunst in der Postmoderne skizziert: der Kunstbetrieb Verzeitet' Kunst und Künstler wie Designer-Spekulationsobjekte. Dagegen Verraumt' sich die Kunst, indem sie im von ihr initiierten Akt im des Verweisens das fraktale Wissen der Gegenwart zur Echolotung animiert. Eine Exaltation der Werke, der Versuch zur konkreten Grenzüberschreitung der Diskurse als Selbstthematisierung der Situation und Rolle der Kunst im Diskurs der Epoche (wie noch in der Avantgarde), muß jetzt - aus historischem Wissen heraus - zum 'Absturz des Systems1 führen. Daß Kunst mit Werken den Lieferanteneingang eines Geschäfts bedient, weiß die Postmodere um den Preis der eigenen Haut - und so wehrt sie sich, indem sie ihn - augenscheinlich - bedient. Es muß also nicht immer sofort und ausschließlich Geschäftsgeist oder Mißverstehen von historischer Situation sein, die das Überborden gehaltloser Form auch in der Kunst bewirken. 118 119

Charles Jencks: Post-Modem Classicism. The New Synthesis. London 1980. S. 14. Jean-Francois Lyotard: The Postmodern Condition. A Report on Knowledge. Minneapolis, Minnesota 1984, S. 76. 127

Exkurs: Minimal Art / Minimal Music Die Kunst gewordenen Resultate dieser Wissens-objekt-Ertastungen im Raum sind minimalistisch genannt worden, "because they were mostly non-illusionist works wich drew attention to the physical qualities of objects and the nature of materials".120 Bigsby führt für diese Präsentation des Faktischen den Arbeitsbegriff "photorealism",121 bzw. anders und besser: "hyperrealism"122 ein. Der erste Begriff kann insofern irreführend sein, als er eine lediglich naturalistische Wiedergabe impliziert, die aber hier nicht gemeint ist. Bezeichnet werden soll der Realismus eines Röntgenblicks, ein Minimalismus der vereinzelten Objekte, der subkutane Wesenheiten, die Fasern des Gewebes erspähen möchte. Bigsby formuliert: "The real is perceived precisely in terms of planes, colors, fragments, discontinuous gestures, reflections, refractions, reductions, redactions."123 Er führt für das Theater dazu aus: Translated into theatrical terms this implies a shift from Stanislavski's illusionism, whereby an object or a gesture provokes an affective memory - precisely prompting an emotional recall - towards the stance of Richard Foreman who has said of his theater, 'everybody should wake up. Begin to see, listen, touch, taste, smell but in such a way that it is THINKING and not passive acceptance. The world of signs is to be replaced by a world of perceptions.124 Einer der ersten, der diese andere Idee vom Kunst-Werk formuliert hat, ist Allan Kaprow, dessen Aktionen der '18 Happenings in 6 Parts' 1959 in der New Yorker Reuben Gallery stattfanden. Er erläutert: I decided it was time to increase the responsibility of the observer.125 Entsprechend lauten dann die Ausführungen zu seinen Happenings: I warned the audience that the actions will mean nothing clearly fonnulable so far as the artist is concerned. Equally the term 'Happening' was meaningless: it was intended to indicate something spontaneous, something that just happens to happen.126 Auch Eve Sonneman beschreibt die Haltung der Produzenten von Happenings und Performances generell als nicht intentional kommunikativ. Happenings 120 121

Christopher Bigsby: Art, Theatre And The Real. In: Maurice Couturier (Hg.): Representation and Performance in Postmodem Fiction. Montpellier 1983 S. 135.

Ebd. Ebd. S. 141. 123 Ebd. 124 Ebd. S. 137. 122

125

Zit. nach: Roselee Goldberg: Performance Art. From Futurism to the Present. New York 1988. S. 128. 126 Zit. nach: Roselee Goldberg: Performance Art. Ebd. S. 130. 128

und Performances werden damit zu einem unspezifizierten Gegenüber für eine auf sich gestellte Rezeption: The audience was given a multiplicity of choices in the final wotks: to observe meaning in gestures, motion, perceptual changes [...] in invented time sequences between frames. The audience could build its own syntax of esthetic pleasure or intellectual work. It was open.127 Der Diskurs der Kunst öffnet sich dem Rezipienten, der nun notwendiger Teil ihrer Hervorbringungen wird. Von Cage, Kaprow, Cunningham, aber auch Pollock und Y. Klein, von Beuys, Nitsch und der Fluxus-Kunst Vostells entstehen Kunstaktionen, die Assoziations- oder Akkumulationsbedeutungen hervorbringen und in denen die Vermittlung selbst semantisiert wird. Daneben treten die Stichworte 'Materialgerechtigkeit und Formbewußtsein', die die Möglichkeit begreifen, den Eigenwert der Trägermedien für bewußte Erfahrung oder Sensibilisierung der eigenen Erfahrungsfähigkeit zu erfassen. Das Medium wurde/wird Botschaft für den, der die Unmittelbarkeit des Stoffs, der Gebärde als Entdeckung seines eigenen Erfahren-Könnens aufzunehmen bereit ist. Die Form der Präsentation und seriellen Repetition von Wirklichkeitsausschnitten als Geste, Bruchstück oder Kadenz markiert eine kunsthistorische Position, die - in Übernahme des Begriffs aus der bildenden Kunst - generell für die Kunst als Minimal Art oder Minimalismus bezeichnet werden kann. Die Begriffe leiten "sich von jenen exakt strukturierten Objekten ab, die im Frühjahr 1966 auf der Ausstellung 'Primary Structures' [N.Y., E.G.] [...] Aufsehen erregten."128 Benannt wird damit der "Versuch, die spezifischen und physikalischen Materialeigenschaften so deutlich wie möglich zu machen - Farbwerte, Oberflächen-Reflexionen, Transparenz, Dichte, Textur."129 Diese Kunstrichtung strebt "zu einer weitgehend entindividualisierten Kompositionsform mit Beschränkung auf wenige formale Darstellungsmittel":130 Die Dimension von Proportion soll durch die Einfachheit der Form zum künstlerischen Erlebnis werden. Die Grundformen sind als zeitlose Konstanten konzipiert, ihre Klarheit und Uberschaubarkeit sollen das Wesentliche veranschaulichen. Schmückendes Beiwerk wird weggelassen. [...] Einfache, geometrische Primärstrukturen, serielle Reihung gleicher Teile, glatte Oberflächen, Verzicht auf jegliches strukturierendes Detail sind entscheidende Stilelemente.131 127

Eve Sonneman. ZU. nach: Henry M. Sayre: The object of performance. The American Avant-Garde since 1970. Chicago 1989. S. 6. 128 Propyläen Kunstgeschichte. Bd. 13. Kunst der Gegenwart. 1940-1980. Frankfurt, Berlin, Wien 1985, S. 92. 129 Ebd. S. 93. 130 Stichworte Minimal Art - Minimaüsmus. In: Lexikon der Kunst. In 12 Bänden. Malerei Architektur - Bildhauerkunst. Bd. 8. Freiburg, Basel, Wien 1989. S. 177. 131 Ebd. S. 177f. 129

Die Minimal Art ist kunstintern Reaktion sowohl auf Kubismus als auch auf die Pop Art, die ebenfalls jeweils auf die wahrhafte Komplexität (hinter) der je nur in Selektionen wahrgenommenen Wirklichkeit hinweisen wollten. Sie destilliert aus diesen beiden Richtungen Haltung und Form zu einem Dritten, zu der Unmittelbarkeit des dem Objekt direkt ausgesetzten Betrachters. Mit dem Kubismus verbindet die Minimal Art die Vorstellung an eine an sich selbst zu demonstrierende Wirklichkeit, die durch das Kunstwerk zur Anschauung gebracht werden kann. Wie die Pop Art kaschiert die Minimal Art ihre Aussagemodi daher in Werken, die wie Spiegelbilder von Formen der Wirklichkeit erscheinen: i.e. für die Pop Art: Thematisierung des (künstlich isolierten, dann seriell reproduzierten) Gegenstandes als eines Idols oder Fetischs der Medien- und Warenwelt, bzw. für den Minimalismus eines StrukturFragments in Wechselwirkung mit und selbst Bestandteil der von ihm bezeichneten realen Raumproportionen. Auf diese fundamentalen Zusammenhänge ist schon früh aufmerksam gemacht worden. Max Imdahl hat die Problematik der Wirklichkeitsthematisierung durch die Pop Art bereits 1968 beschrieben: Thematisien [von der Pop Art, B.C.] ist das reflektierte Verhältnis des Betrachters zur Wirklichkeit in deren unveränderter Gegenwart. [S. XV] [...] Die Rückgewinnung des Gegenstandes durch Pop Art geschieht nicht im Sinne des Naturalismus. [...] Warhols Seriographien werden nicht je als Darstellung der Marilyn Monroe selbst, sondern als Reproduktion, das heißt als das vom Individuum bereits abstrahierende Bild erfahren, nicht als Portrait, sondern als das die Reproduktion bereits voraussetzende Idol der Massengesellschaft. [...] Nicht die Wirklichkeit selbst, sondern ihr Bewußtsein in der Öffentlichkeit ist von Interesse.132 John Leering weist auf den Zusammenhang von Minimal Art und Kubismus hin: In der Erkenntnis, daß er von einem fixen (Renaissance-)Gesichtspunkt aus nicht alles sehen kann, geht der Kubist um den Gegenstand herum, betrachtet ihn von allen Seiten und integriert die so gewonnene Vielheit der visuellen Informationen (bezüglich des Gegenstandes in seiner räumlichen Umgebung) zu einem Gesamtbild für den Betrachter. Der Minimal-Künstler hingegen geht aus von der auch dem Betrachter im Geiste vertrauten Form des Objekts (oder einer Zusammenstellung von Objekten) und fordert den Betrachter auf, die in der gegebenen räumlichen Umgebung des Ausstellungsraumes durch Positionswechsel sich ändernden Relationen auf sich einwirken zu lassen. Beim Kubisten wirkt das Gemälde als 'Bild' der vom Maler gewonnenen Erfahrung, beim Minimalkünstler als 'Gestalt' der beim Betrachter konkret ausgelösten Erfahrungen.133 132

Max Imdahl: Probleme der Pop Art. In: Katalog l zur documenta 4, Kassel 1968, S. XVII. Hier S. XV, XVI. 133 John Leering: Post Painterly Abstraktion. In: documenta 4, Katalog 1. A.a.O., S. XVIIXIX. Hier: S. XVII. 130

The hunt for the spirit Je deutlicher den Menschen die Wahrnehmung schwindet, desto mehr Bilder müssen sie sich machen Peter Buchka

Die Konfrontation primärer Strukturen mit dem von ihnen beschriebenen, besetzten Raum, das In-(neue)-Kontexte-Bringen der Objekte und ihrer Umgebung soll Aussagen erlauben sowohl über die Kondition der Welt als auch über die Wahrnehmungsgrundlagen des Betrachters in ihr, der Relationierungen und Proportionierungen der Objekte im Raum ja erst herstellt. Insofern diente die Wirklichkeitsdopplung in diesen Kunstbewegungen auch der Spiegelung des Betrachters. Darauf hat Fredric Jameson verwiesen: As for conceptual art [...] one is tempted to say, every problematization or dissolution of inherited form leaves us high and dry in space itself. Conceptual art may be described as a Kantian procedure whereby, on the occasion of what first seems to be an encounter with a work of art of some kind, the categories of the mind itself - normally not conscious, and inaccessible to any direct representation or to any thematizable self consciousness or reflexibility - are flexed, their structuring presence now felt laterally by the viewer like musculature or nerves which we normally remain insensible. [...] Perceptual paradoxes that we cannot think or unravel by way of conscious abstractions, and which bring us up short against the visual occasions.134

Die Serie 'reiner Quader' eines Don Judd muß das Wissen erschüttern, weil sie eine zeitlose Grundform als das so seltsam Unbekannte im Diskurs der Zeit enthüllt Auf die Epiphanie - er gebraucht diesen Begriff selbst135 - seiner Musik hofft Phil Glass, der mit seiner Minimal Music das Konzept einer nicht-narrativen Klangfülle verficht, um ausdrücklich Gegenwart hörbar zu machen, vor Ohren zu führen: Die Musik befindet sich außerhalb der gebräuchlichen Zeitskala, sie ist 'nicht-erzählend' in einem erweiterten Gefühl für die Zeit komponiert. So kann es vorkommen, daß einige Hörer, die die üblichen musikalischen Strukturen oder 'Landmarken' vermissen, mit der tatsächlichen Wahrnehmung der Musik in Schwierigkeiten geraten. Doch wenn feststeht, daß nichts im üblichen Sinn 'passiert' und daß stattdessen die graduelle Vermessung musikalischen Materials die Aufmerksamkeit des Hörers herausfordern kann, mag er vielleicht eine neue Art der Aufmerksamkeit entdecken, eine, in der weder Gedächtnis noch Vorwegnahme (die psychologischen Maximen der barocken, klassischen, romantischen und modernen Musik) eine Rolle in der Qualität musikalischer Wahrnehmung spielen. Es 134 135

Fredric Jameson: Postmodernism and Utopia. A.a.O., S. 15. "I noticed that the emotional quickening or Epiphany of the work [i.e. seine Bearbeitung des Beckett-Stiicks 'play1 mit Lee Breuer, Paris 1965, B.C.] seemed to occur in a different place in each performance..." Phil Glass: Music by Phil Glass. Edited and with supplementary material by Robert T. Jones. New York, 1987. 35f. 131

wäre zu hoffen, daß dann Musik frei von dramatischen Strukturen, als reines Klangmedium, als Gegenwart wahrgenommen wird.136 Wim Mertens weist darauf hin, daß die Musik von Phil Glass keinerlei vermittelnde Funktion zwischen einem imaginären Gehalt (auf den ja dann nur modern verwiesen würde) und der Rezeption übernehmen möchte: The listener will need a different approach to listening, without the traditional concepts of recollection and anticipation. Music must be listened as a pure sound-event, an act without any dramatic structure.137 Henry M. Sayre belegt das Gesamt von Aufführenden, Aufführung und Rezeption daher mit dem Begriff der Situation, die jedoch nie 'vollständig, ganz, intakt' genannt werden könne: The an [...] is, furthermore, purposefully undecidable. Its meanings are explosive, ricocheting and fragmenting throughout the audience. The work becomes a situation, full of suggestive potentialities, rather than a self-contained whole, determined and final.138 Tatsächlich ist hierzu aber jener 'Diskurssprung' nötig, der die Dinge erst erkennbar werden läßt: das aus seinem Diskurs heraussezierte Ding und der 'reine Klang' offenbaren ihre Eigentlichkeit erst im neuen Diskursrahmen. Die 'Realität1 in Museum oder Theater ermöglicht jenes doppelte, produktive double bind des erschreckenden Wiedererkennens, das einmal aus der Konfrontation mit dem Gewußten an einen fremden Ort und zum anderen aus der Relevanz heischenden Isoliertheit seiner nackten Präsenz resultiert: es behauptet seine Wirklichkeitsdenotation als nicht-kommentierte und entindividualisierte Spiegelung des Wissens. So sagt Glass zu den Künstlerintentionen zu Wilsons Einstein On the Beach: Fundamental to our approach was the assumption that the audience itself completed the work. The statement is no mere metaphor, we meant it quite literally: In the case of Einstein On the Beach, the story was supplied by the imaginations of the audience, and there was no way for us to predict, even if we had wanted to, what the 'story1 might be for any particular person.139 Unabdingbar wird hierzu das, was die Kunst der Avantgarde als ihr Manko verachtete: Lebensferne. Der Diskurs der Kunst muß, um die Realität der ande136

Phil Glass in der Dokumentation des "Metamusik-Festivals l und 2' Berlin 1974,1976. Zit. nach: Georg Quander: Vom Minimal zum Maximal. Zum Problem der musikalischen Disposition, der Zeitstruktur und der Wirklichkeitsstufen in Phil Glass' Oper Satyagraha. In: Otto Kolleritsch (Hg): Oper heute. Formen der Wirklichkeit im zeitgenössischen Musiktheater. Wien/Graz 1985, S. 228-243. Hier: S. 230. 137 Wim Mertens: American Minimal Music. La Monte Young, Terry Riley, Steve Reich, Philip Glass. London/New York 1983. S. 88. 138 Henry M. Sayre: The object of performance. A.a.O., S. 7. 139 Phü Glass: Music by Phil Glass. A.a.O., S. 35. 132

ren Wissensdiskurse produktiv spiegeln zu können, auf seiner nicht-lebenspraktischen Eigenständigkeit insistieren. Arthur C. Danto erläutert diese Bezüglichkeiten in seiner Diskussion dessen, was er Mimesis nennt: Sobald anerkannt wird, daß eine Darstellung [...] der Realität hinreichend ähnlich anzurechnen ist, [...] können sich Fälle einer besonderen Art einstellen: man kann eine Realität mit ihrer eigenen Nachahmung verwechseln oder, was noch wahrscheinlicher ist, man kann eine Nachahmung mit der von ihr bezeichneten Realität verwechseln. [...] Deshalb müssen Künstler, die sich dem Programm der Mimesis verpflichtet haben, besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um diese beiden symmetrischen Fehler zu vermeiden. Genau dies muß eine der Funktionen des Theaters sein, in dem das, was auf der Bühne verfolgt wird, in eine Distanz genickt und kraft Konvention aus jenem Rahmen der Überzeugungen ausgeschlossen wird, in dem das genaue Ebenbild dieses Dinges hineingehören würde, wenn man es für real hielte.140 Außergewöhnlich kann die mimetisch in Kunst eingegangene Realität nur werden, weil sie in einen ostentativ ir-realen, ungewußten diskursiven Kontext, eben die Kunst, gebracht wird. Darum also muß Wilson auf dem extrem künstlichen Rahmen seiner Produktionen bestehen, damit er das in minimale Fraktale zerstückelte, in einen Gegenwartsraum gestreute Wirklichkeitsmaterial vorführen kann. Robert Wilson betont daher Künstlichkeit seiner Räume in Abgrenzung von intendiert nichtillusionären Räumen, die er etwa in Performances vorfindet: In meinem Theater sah man nicht die Seile, die die Prospekte bewegten, man sah nicht die Lichtquellen, womit die Gesichter beleuchtet wurden. Mir ging es nicht darum, etwas bloßzustellen. In den sechziger Jahren machten fast alle Performances im totalen Raum, wo man von allen vier Seiten zusehen konnte. Ich habe das nie gemocht. Ich mag kein Theater, das ohne Form [!] ist. [...] Ich habe lieber einen streng definierten Raum. Wir bekommen überall soviel zu sehen, wo immer wir sind. Es ist sehr schwierig, richtig zu sehen und zu hören in einem offenen Raum. Wenn man wirklich etwas sehen und hören will, ist ein Theater mit Proszenium das beste.141 Ist der Kunst-Raum als Rahmen für die Kunst gewährleistet, dann kann darin wiederum jedes nicht-illusionistische Vorzeigen von Real-Gegenständen stattfinden, die 'wirklich zu sehen1 eben jene Dislozierung ins synthetische Ambiente gerade erst ermöglicht. Es sind damit die Intentionen des Don Judd als authentische Möglichkeiten postavantgardistischer Kunst zu affirmieren, der mit seinen Arbeiten explizit auf die 'Denkfähigkeit' des Rezipienten abzielt. Die drei Dimensionen sind der wirkliche Raum. Dadurch erledigt sich das Problem des Realismus und seiner illusionistischen Darstellung, des Raumes innerhalb und um be140 141

Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O., S. 46. Robert Wilson: Die Balance zwischen den Wachträumen der Zuschauer und meinen eigenen Bildern finden.' Gespräch mit Robert Wilson. In: Theater heute, 13/1981 S. 77ff. Hier: S. 78. 133

stimmte Markierungen und Farben hemm. [...] Die verschiedenen Grenzen der Malerei haben aufgehört zu existieren. Ein Kunstwerk wird so eindrucksvoll sein, wie es die Denkfähigkeit erlaubt. Der wirkliche Raum ist wesentlich ausdrucksstärker und spezifischer als Farbe auf einer ebenen Fläche.142 Phil Glass hebt am Beispiel Einstein On the Beach hervor, daß seine und Wilsons Arbeit nie intentional Inhalte vermitteln wollte, sondern daß die Bedeutungs-Assemblage dieser "poetic vision" von der Rezeption leisten gewesen sei. It never occurred to us that Einstein On the Beach would have a story or contain anything like an ordinary plot. [...] the title merely provided an occasion for which a theatrical/visual work could be constructed. It functioned as a kind of attention point around which this theater could revolve, without necessarily becoming its primary subject. [...] the portrait of Einstein that we would be constructing replaced the idea of plot, narrative, development, all the paraphernalia of conventional theater. [...] The point about Einstein On the Beach was clearly not what it 'meant' but that it was meaningful as generally experienced by the people who saw it.143 So sagt denn auch Christopher Bigsby über den Form-Aspekt der Kunst Wilsons: Robert Wilson's is plainly not a political an. Though he uses figures such as Stalin, Freud, and Einstein in his work, these are simply accommodated as objects drained of ideological force. They are less historical markers than formal structures, simple features in a world which offers to incorporate all aspects of existence without raising questions as to social or moral provenance, or public meaning.144 Mit diesem statement ist die innerhalb der Kunst sich vollziehende Entwicklung zu hochgradiger Stilisierung und Abstraktion formuliert, die Gattungsgrenzen aufhebt. Bigsby beobachtet so innerhalb Theaters eine Tendenz zu einer reinen, durch Malerei und Skulptur inspirierten Bildlichkeit. So führt er zum Theater Wilsons weiter aus: The human form is deliberately drained of spirit while the environment, which has no spirit to lose, becomes charged with nostalgia. [...] The stasis of the object, however, is familiar and acceptable and though these works have been described as supercool, in fact, by an act of displacement, the objects have perhaps been invested with a spirit expelled from the human bodies. [...] There is an opposition between self and the world, but this is rendered less by stressing the coldness of the world than by draining the human form of its animation and breathing warmth into the setting, or at least charging it with the force of nostalgia."* 142

Don Judd in: Propyläen Kunstgeschichte. Bd. 13. Kunst der Gegenwart. A.a.O., S. 93. Philip Glass: Einstein on the Beach. In: ders. : Music by Phil Glass. A.a.O., S. 32f. [auch 'poetic vision']. 144 Christopher Bigsby: Art, Theatre, And The Real. A.a.O., S. 145. 145 Ebd. S. 156. 143

134

Als Ent-Gegenstand im dialektischen In-Formationsprozeß ist das Objekt ja der Ort nicht nur einer Begegnung von Selbst und Nicht-Selbst, sondern auch Wirkstätte des Diskurses als Wissen und Erfahrung, die mit ihm zu Information umgeschrieben, trans-formiert werden. Auf diesen Aspekt, nach dem im Fetisch: Objekt damit nicht nur das verlorengegangene Andere zelebriert wird, sondern auch das Wissen, das sich selbst begegnet, hat der Psychologe R.L. Gregory 1966 hingewiesen. The seeing of objects involves many sources of information beyond those meeting the eye when we look at an object. It generally involves knowledge of the object derived from previous experience, and this experience is not limited to vision but may include the other senses; touch, smell, hearing, and perhaps also temperature or pain. Objects are far more than patterns of stimulation: objects have pasts and futures; when we know its past or can guess its future, an object transcends experience and becomes an embodiment of knowledge and expectation.146 Prominenteste aktuelle Vertreterin dieser Theorie ist Susan Sontag, die mit ihren Essays zur 'Erotik der Kunst1 ein Kunstprogramm jenseits der Interpretation vorgelegt hat. Ihre Überlegungen begleiten zeitgleich die seit den 60er Jahren aufgenommene Bewegung der Kunst zum Rezipienten. Susan Sontag versteht ein Werk denn auch dahingehend, daß es der Katalysator für eine durch den Intellekt unverfälschbare Welt-Erfahrung sein könne.147 Dire Betrachtungen fassen das lebensferne, präsentische System Kunst implizit als conditio sine qua non auf, die für den Rückgewinn an Erfahrung veranschlagt werden muß. Sie führt für den hier verwandten Begriff der kognitiven Religion, der den Glauben an die rationale Durchdringbarkeit der Dinge durch den Geist mit der Zeit meint, den der Hypertrophie des Intellekts ein: In einer Kultur, deren Dilemma die Hypertrophie des Intellekts auf Kosten [...] der sensuellen Begabung ist, ist Interpretation die Rache des Intellekts an der Kunst. [...] Heute geht es [jedoch] darum, daß wir unsere Sinne wiedererlangen. [...] Unsere Aufgabe ist es [...], den Inhalt zurückzuschneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt. [...] Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.148 An anderer Stelle bezeichnet sie Kunst als "instrument for modifying and educating sensibilty and consciousness"149 oder "modern art functioning as kind of

146

R. L. Gregory: Eye and Brain: The Psychology of Seeing. (1966) Zit. nach: Michael Kirby: Art of Time. A.aO., S. 36. 147 Speziell zum Stichwort Erotik der Kunst' ist an ihre Analysen im Umkreis von 'Kunst und Antikunst' gedacht. Susan Sontag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Reinbek 1968. Hier: Gegen Interpretation. S. 9ff. Hier: S. 18. 148 Ebd. Sn. 13 u. 18. 149 Susan Sontag: On culture and the new sensibility (1965) In: Against Interpretation. And other Essays. N. Y. 1967. S. 301. 135

shock therapy for both confounding and unclosing our senses".150 Denn, so lautet ihre grundsätzliche These, es sei dem Intellekt in der wissensüberreizten Welt des 'urban jungle1 nicht mehr möglich, sich einen gerichteten und gesicherten Pfad durch den Wust von Informationen zu bahnen, die auf ein grundsätzlich überfordertes, orientierungsloses Bewußtsein einströmen. Wissen erscheine daher als ungeordneter, gleichwohl nie ausfüllbarer Speicher: ein Informations-Molloch, dem in täglichen Pflichtrationen Material zugeführt wird. We know more than we can use. Look at all this stuff I've got in my head: rockets and Venetian churches, David Bowie and Diderot, nuoc nam and Bic Macs, sunglasses and orgasms. How many newspapers and magazines do you read? For me, they're what candy or Quaaludes or scream therapy are for my neighbors. I get my daily ration from the bilious Lincoln Brigade veteran who runs a tobacco shop on 110th street, not from the blind news agent in the wooden pillbox on Broadway, who's nearer my apartment. And we don't know nearly enough.151 Nicht genug wird je gewußt sein. Und doch - wie Sontag ausführt - bedeutet jedes weitere Anwachsen nur noch eine irritierende Auffaltung des bereits Gewußten. Das Wissen ist enthierarchisiert und statisch. Es hat seine maßgebliche Funktion innerhalb des Diskurses verloren, wenn es nicht mehr prospektiv als Weltverstehen einzusetzen ist, wenn mithin nicht mehr gewußt wird, wofür gewußt wird. Da nun 'strukturell überlastete Subjekte1 (Habermas) sich dennoch weiterhin daran zu heften versuchen wie Sisyphos an seinen Felsen ("Sisyphus, I. I cling to my rock"),152 muß - konsequent - die letzte Ordnungstat des übermannten Bewußtseins ("If you don't understand, you cannot master")153 in schizophrenen Doppelungen seiner inkongruenten Wissensumwelten bestehen. Die Unfaßbarkeit von Wissen und Wißbarem sondert die Welt in Welten des unverstandenen Bekannten und des - hoffentlich - wißbaren Unbekannten: "Actually, this world isn't one world-now."154 Sogar deren Verfall liegt noch in diesem Sinne vor, kann noch gewußt werden und ist darum nur im Paradox des Untergangs ohne Untergang zu fassen. The end of the world. This is not the end of the world.155 Nicht mehr in der weiteren Fortschreibung des diskursiv vermittelten Wissens wird die Möglichkeit zur Rückführung aus dieser Sackgasse des Intellekts begriffen. Für Sontag ist es die Kunst, die - über die Reanimation seiner elemen150

Ebd. S. 302.

151

Susan Sontag: Debriefing. In: I, etcetera. N. Y. 1978, S. 32 - 52. Hier: S. 38.

152

Ebd. S. 52. 153 Susan Sontag: On culture and the new sensibility (1965). A.a.O., S. 301. 154 Susan Sontag: Debriefing. A.a.O., S. 48. 155 Susan Sontag: I, etcetera. A.a.O., S. 246. 136

taren Erfahrungsmöglichkeiten - das im Wissen aufgespaltete Subjekt noch einmal zu sich selbst befreien kann. Neue Sensibilisierung nivelliere kulturelle Fallhöhen und weise auf argumentative Widersprüche, in die sich - nach Sontag - eine Gesellschaft verstricken muß, die in der 'ständigen Überbetonung des Inhaltsbegriffs' sich von den eigentlichen Sachen entfernt habe. Ihre Erläuterungen hierzu laufen über einen Argumentationsstrang, der in dieser Arbeit schon mit Dewey aufgegriffen wurde. Ein Kunstwerk [...] ist ein Erlebnis, nicht aber eine Aussage oder die Antwort auf eine Frage. Kunst handelt nicht nur von etwas; sie ist etwas. Ein Kunstwerk ist ein Teil der Welt, nicht bloß ein Text oder Kommentar über die Welt. Ich sage nicht, daß das Kunstwerk eine Welt erschafft, die sich ausschließlich auf sich selbst bezieht. Natürlich beziehen sich Kunstwerke [...] auf die reale Welt - auf unser Wissen, unsere Erfahrung, unsere Werte. [...] Ihr wesentliches Merkmal jedoch ist, daß sie nicht zu begrifflichem Wissen führen [...], sondern zu einer An von Erregung, einem Engagement, einer Wertung im Zustand der Hörigkeit oder der Faszination. [...] Das Wissen, das uns die Kunst vermittelt, [ist] ein Erlebnis des Stils oder der Form des Wissens, nicht aber die Kenntnis einer Sache.^ Die Rezeption, die diskursbefreit Dinge erfahren soll, wird nicht mehr zum Lesen von neuer (Kunst-)In-Formation veranlaßt, sondern zum haptischen Erspüren von Oberflächenkonsistenzen. 'Gegen den Sinn und für die Sinne1 könnte also die postmoderne Kunst-Losung lauten, die Sontag ausgibt. Irgendwann in der Vergangenheit [...] muß es einmal ein revolutionärer und schöpferischer Akt gewesen sein, Kunstwerke zu schaffen, die auf verschiedenen Ebenen erlebt werden konnten. Heute ist das nicht mehr der Fall. Heute wird dadurch ein Prinzip des Übermaßes gefördert, das das größte Problem des modernen Lebens darstellt. [...] Die Interpretation setzt ein sinnliches Erlebnis des Kunstwerks als selbstverständlich voraus und basiert darauf. Aber dieses sinnliche Erlebnis läßt sich heute nicht mehr voraussetzen. [...] Unsere Kultur beruht auf dem Übermaß, der Überproduktion; das Ergebnis ist stetig fortschreitender Rückgang der Schärfe unserer sinnlichen Wahrnehmung.157 Anders als Leslie Fiedler, der als letztmöglichen Impetus der Kunst den Versuch erkennt, eine Kultur durch Trivialitätsausschöpfung über sich selbst in Kenntnis zu setzen158 und damit noch soetwas wie den Anspruch von Ge156

Susan Sontag: Über den Stil. In: Kunst und Antikunst. A.a.O., S. 25. Susan Sontag: Gegen Interpretation. S. 18. 158 "Möglichst weit weg von Kunst und Avantgarde, weit entfernt von Innerlichkeit, Analyse und Anspruch, daher immun sowohl gegen Lyrizismus als auch platten Kommentar. [Junge Schriftsteller] [...] wählen dasjenige Genre, das sich der Exploitation durch die Massenmedien am ehesten anbietet, den Western, Science-fiction und Pornographie." Leslie A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben. Wieder-Abdruck in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmodeme-Diskussion. Weinheim 1988. S. 57-74. Hier: S. 62. 157

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wahrwerdung kollektiv erzeugter Verhältnisse durch Kunst vertritt,159 betont Susan Sontag die Potenz der Kunst zur Freilegung der subjektiven Wahrnehmung, die nicht auf ihre kulturelle Vernetzung hin überprüft und aufgeklärt, sondern auf ihre ureigene plastische Kraft hin befreit werden soll. Sontag verficht daher ein entschiedenes 'Ja' zum 'reinen' Gegenstand, der lediglich unter einem sensorisch qualitativen Gesichtspunkt sui generis zu identifizieren sei, nicht aber etwa als Argument innerhalb einer gedanklichen Hierarchie. The point is that there are new standards, new standards of beauty and style and taste. [...] From the vantage point of this new sensibility, the beauty of a machine or the solution to a mathematical problem, of a painting by Jasper Johns, of a film by Jean-Luc Godard, and of the personalities and music of the Beatles is equally accessible.16° Susan Sontags ästhetisches Prinzip beruht auf der Vereinzelung des Objektes im Hinblick auf seine Erfahrungsofferten. Die diskursive Kontextlosigkeit der Dinge wird gerade zur Voraussetzung ihrer Erfahrung. Insofern kann sie mit einer Haltung kokettieren, der die Entdeckung von Kontingenzen schon als intellektuelle Arbeit verdächtig ist. Denn damit wird den Dingen ein Ordnungsraster überblendet, das andere als ästhetische Kriterien zu seiner Exekution anwendet. Die Unterschiedslosigkeit, in der die Dinge als nur vorhanden akzeptiert werden, wird affirmiert als Anreiz zu einem entertainment durch Dinge. Jürgen Peper hat Susan Sontag deswegen die übereilte Preisgabe des kritischen Moments der Kunst vorgeworfen: Offenbar ermöglicht jetzt eine inzwischen noch weiter entschwundene Kultur neue Höhen künstlerischer Indirektion. Aber wie das unfreiwillig enthüllende Bild in Sontags Begründung zeigt, gibt es gar keine Vorstellungswelt mehr, und damit auch keine diesbezügliche Indirektion: Vor dem Hintergrund der frischen und erfrischenden Sinnesbewußtseinsaktivitäten [...] werden die 'gedanklichen Vorstellungen' in Sontags Bild totes, 'gelagertes Mobiliar in unseren Köpfen'.161 159

Fiedler plädiert in seinem programmatischen Aufsatz 'Cross the Border Close the Gap' so für die produktive Vermischung aller Artikulationen innerhalb der Kultur. Er votiert - aus Gründen der Anamnese - für eine formale Trivialisierung, damit der Blick frei werde auf ein unverstelltes Panorama kultureller Befindlichkeit. Für eine Schau des wuchernden Banalen innerhalb einer Kultur, die eben jene Banalitäten hervorbringt. Fiedler geht - anders als Sontag - den Weg intellektueller Aufklärung weiter. "The newsboy saying SHAZAM in an abandoned subway tunnel becomes Captain Marvel; the reporter with glasses who sucking his civilian garp in a telephone booth, is revealed as Superman, immune to all but kryptonite - these are the appropriate images of power and grace for an urban, industrial world busy manufacturing the Future. " Leslie A. Fiedler: Cross the Border - Close the Gap. (1970) In: A Fiedler Reader. New York 1977. S. 290. 160 Susan Sontag: On culture and the new sensibility. A.a.O., S. 304. 161 Jürgen Peper: Postmodemismus: Unitary Sensibility (Von der geschichtlichen Ordnung zum synchro-environmentalen System) In: Amerika-Studien - American Studies. Jg 22., Heft 1. Stuttgart 1977, S. 66. 138

Demgegenüber wird hier die These vertreten, daß Kunst, indem sie die vorgeblichen Intaktheiten von Vorstellungswelten als Resultat diskursiver Prozesse decouvriert, weiter zur Quelle aller Realitätsgeneration vordringt: dem Wahrnehmungen herstellenden, in-formierenden Denken, also dem Wissen (der Diskurse) selbst. Susan Sontag verlagerte mit ihrem theoretischen Impuls das Problem der Kunst von der 'Erkenntnis1 auf die 'Erfahrung'. Sie behielt dabei allerdings die Ordnungsinstanzen des modernen Kunstdiskurses als letztlich konstante - scheinbar unverwundet-unverwundbare - Größen bei: das Werk, den Rezipienten, den Prozeß der Kunstvermittlung. Die postmoderne Theorie des Raumes wird jedoch auch diese 'Unversehrtheiten1 schleifen. Damit aber wird die Rezeption, die nun vorgestelltes Material erfahrt und somit als ihr Wissen be-greift, zum alternativen 'Werk' postmoderner Kunst. Diese Leistung wird hier mit dem Term der Thematisierung des Aktes des Verweisens', des cognitive mapping versehen. Sie bereichert das Feld der Kunst um die Größe des Rezipienten. Form und Gehalt sind nun so weit voneinander getrennt, daß die Rezeption in die Lücke dazwischen paßt. Mit George Segal teilt diese Untersuchung nämlich eine Diagnose, nach der die Situation der Kunst - nach dem Auf bruch in die Ideologie und dem Rückzug in die Innerlichkeit (outward/inward explosion) der 60er und 70er Jahre - heute generell beschrieben werden kann als ein "hunt for the spirit".162 Damit will Kunst Erfahrung von Kunst werden. Die Kurzformel für diese Thematisierung des Aktes des Verweisens durch Kunstwerke stammt von Phil Glass: "It's not a question of what [it] means[:] it's that it's meaningful."163 Im Entwurf des sich selbst als Teil eines Be-Deutungs-Prozesses in der Gegenwart erkennenden Subjektes kann damit die Transzendierung des Besonderen ins Allgemeine gelingen. Die Rilkesche Aufforderung 'Du mußt dein Leben ändern!', die im Angesicht einer klassischen Statue empfunden wurde, wird in der Gegenwart rückverwandelt in die postmodeme (Wieder?-)Entdeckung 'Du lebst - in dieser Welt.' Kunst, die dieses cognitive mapping ermöglicht, kann formal - wie auch der Minimalismus - als Kunst der manierierten Form bezeichnet werden: Sie hebt sich als Kunst der Werke auf, um als Kunst der Kartographie des Wissens wieder neu, nicht modern, zu entstehen. Fredric Jameson, von dem der Begriff des cognitive mapping übernommen wurde, versteht darunter eine kunstermöglichte Spiegelung des Wissens auf der Grundlage der faktischen Situation des Wissenden im Raum der Gegenwart. 162

George Segal. Zit. nach: Christopher Bigsby: A Critical Introduction to 20th Century American Drama. (3 Bde) Cambridge 1982-1985. Bd. 3.: Beyond Broadway (1985). Kapitel III The theatre of images: art, theatre and the real. S. 147-164. Hier S. 147. 163 Phil Glass Zit. nach: Laurence Shyer: Robert Wilson And His Collaborators. A.a.O., S. 218. 139

Sie führe zu einer Selbstortung, die wiederum Auskunft geben kann über die reale Befindlichkeit des Subjektes, über seine Herkunft und prospektive Richtung. Eine Kunst, der dies gelinge, arbeite an der Ideologisierung des Subjektes' in dem Sinne, daß sie den Versuch unternehme, auch die "imaginären Beziehung des Subjekts zu seinen realen Existenzbedingungen"164 zu repräsentieren. Jameson skizziert so eine art which held [...] to its fundamental object - multinational capitalism - and yet which achieved the breakthrough to some as yet unimaginable new mode of representing it in which we might again begin to grasp our positioning as individual and collective subjects and regain the capacity to act and to struggle which is at present neutralized by our spatial and social confusion. The political form of postmodernism [...] will have at its mission a renewal of cognitive mapping.165 Fredric Jameson, der - wie Sontag - den signifikanten Wandel der Artikulationsweise und Motivationslage in der Kunst der Postmoderne diagnostiziert hat, führt diesen allerdings noch auf eine weitere Ursache zurück. Er macht die Aufweichung eines geschichtsmächtigen Subjektes, die mit der Auflösung von Historic in den Raum parallelisiert werden muß, außerdem dafür verantwortlich, daß die Kunstproduktion ihre Artikulationsmodi wandeln mußte und gewandelt hat Vom Verweisen, das einen intakten Begriff sowohl des Gehaltes, auf den verwiesen wird, als auch der Form, mit der verwiesen wird, wie auch des interagierenden Adressaten, für den auf etwas verwiesen wird, reduziert sich Kunst auf das Zeigen, das weder Gehalt noch Form (als Ge-Formtes) noch Interaktion benötigt: es listet lediglich auf, was da ist. Insofern überbietet Jamesons These noch die Sontags, die ja 'nur' Kontextlosigkeit des Wissens im urbanen environment als Ursache für eine Rückbesinnung der Kunst auf die Bereiche primärer Wahrnehmungsstrukturen ausmachte, damit eine Entschlackung des Wissens für denjenigen forderte, der weiß, dessen mentale Potenzen also gleichwohl im Sinne einer Wirklichkeitsrückgewinnung für regenerier- und reaktivierbar gehalten werden. Wie Sontag macht damit auch Jameson eine grundlegende Krise des Diskurses der Moderne für den Umbruch im Diskurs Kunst verantwortlich, sieht darin das Subjekt allerdings nicht lediglich - über 'sein' Wissen - erfaßt, sondern grundsätzlich - als 'reflexive Entität' - erschüttert. Jameson ist im Gegensatz zu Sontag schon ganz auf die Seite der 'Postmodernen' übergewechselt. Er erkennt eine Problematik, die sich wie die 'Verkehrung' der von Sontag eruierten UrsacheWirkungsverhältnisse ausnimmt: nicht der Zerfall der Ordnung der Diskurse in entropische, hyperkomplexe Unüberschaubarkeiten, die alle ihre Elemente zu 164 165

Fredric Jameson: Zur Logik der Kultur. A.a.O., S. 98. Fredric Jameson: Postmodernism and Consumer Society. In: Amerika-Studien - American Studies 29/1 1984. S. 55-73. Hier S. 73.

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Vorhandenheit nivellieren, bereitet die Konfusion des Wissens und fördert die 'Hypertrophie des Intellekts1 (Sontag), sondern gerade umgekehrt, der Zerfall des geschichtsmächtigen Subjektes als Folge des Endes des Diskurses der Zeitlichkeit, der Verraumung von Zeit und Zeiten,166 schüttet auch die Kulturleistung Welt zu einem 'Haufen Zeugs1 (B. Strauß) auf: If the subject has lost its identity, that is its capacity to persist over time and to organize its past and future into coherent experience, then it's hard to see how the cultural productions of such an object could be anything but 'heaps of fragments'.167 Das Bewußtsein, "in einer Zeit der Synchronie und nicht der Diachronie"168 zu leben, setzt mit einemmal die Gegenwart von all den Aktivitäten frei, die sie festlegen und als praktischen Handlungsraum bestimmbar machen würde. [...] Eine überwältigende Materialität der Wahrnehmung kommt auf [...]. Die Anwesenheit von Welt [...] schiebt sich mit erhöhter Intensität vor das Subjekt, das aufgeladen wird mit einer undefinierbaren effektiven Last.169 Lothar Romain spricht hierfür von der "Maßlosigkeit des Objektiven", die "alle Anstrengungen, subjektive Kompetenz durchzusetzen und aufzubauen überwältigt."170 Die grundsätzliche Aufhebung der Distanz, die Unmittelbarkeit des Gleichzeitigen in einem ubiquitären, wahmehmungssprengenden "Hyper-Raum", der von keinerlei adäquaten Veränderung des Subjekts begeleitet wurde, führt für Jameson zu grundsätzlichem Verlust der Orientierung in Erinnerung und Erfahrung und läßt zweckbestimmte und gerichtete Handlung unmöglich erscheinen. Meine Hauptthese ist, daß es mit dieser [...] Verwandlung von Räumlichkeit [...] gelungen ist, die Fähigkeiten des individuellen Körpers zu überschreiten, sich selbst zu lokalisieren, seine unmittelbare Umgebung durch die Wahrnehmung zu strukturieren und kognitiv seine Position in einer vermeßbaren äußeren Welt durch Wahrnehmung und Erkenntnis zu bestimmen. Und so meine ich, daß die beunruhigende Diskrepanz zwischen dem Körper und seiner hergestellten Umwelt [...] selbst als Symbol und Analogen für ein noch größeres Dilemma stehen kann: die Unfähigkeit unseres Bewußtseins [...], das große, globale, multinationale und dezentrierte Kommunikationsgeflecht zu begreifen, in dem wir als individuelle Subjekte gefangen sind.171 166

Er spricht von einer "great transformation - the displacement of time, the spatialization of the temporal." Fredric Jameson: Postmodernism and Utopia. A.aO., S. 12. 167 Fredric Jameson: Postmodernism and Consumer Society. A.a.O., S. 62. 168 Fredric Jameson: Zur Logik der Kultur. A.a.O., S. 60. 169 Ebd. S. 72. 170 Lothar Romain: Die Moderne nach der Postmodeme. In: documenta 8. Katalog zur Ausstellung in Kassel 1987. Bd. l, S. 87-96. Hier: S. 88. 171 Ebd. S. 89. 141

Es kommt für Jameson so zur "eclipse of historicity, the loss of any vital imaginative sense of the past, in all its radical difference from us, and the concomitant incapacity to imagine or project radically different futures."172 Im Unterschied zu Foucaults Geschichtsvorstellung, der die Prozeßhaftigkeit einer Objektiven' Geschichte bestreitet, nicht aber die formende Kraft der Diskurse, Ereignisse zu ihr zu konstituieren (Geschichte also ist Produkt der Diskurse!), negiert Jameson am Ende der Moderne noch die Fähigkeit - von wem auch immer - solche Wissens- Konstrukte überhaupt noch herstellen zu können.173 Gegenwart ist für Jameson reine, auch erlebte Kontingenz, während Foucault Kontingenz als den tatsächlichen Befund hinter der Ordnung der Diskurse entdeckt. Foucault decouvriert - Jameson deskribiert. The privileged classes of the First World Society (and the consumers of its postmodernisms) run the risk of forgetting their memory - historical as well as existential - in a 'new1 space from which older forms of place have disappeared, and in which the things and buildings in which memory could materially and libidinally be invested have been replaced by constructions without depth.174 Jameson diagnostiziert als eine der 'Nebenwirkungen' der 'Ver-Raumung' ("a space of praxis")175 der auf den Augenblick fixierten Erfahrung nach dem "Zusammenbruch der Zeitlichkeit"176 eine Kunst "der Imitation", der vollendeten Vergangenheit, die sich an den "Masken und Stimmen, die im imaginären Museum einer neuen weltweiten Kultur lagern", zu schaffen macht.177 Er nennt sie eine Kunst des 'Pastiche', die definiert wird als das "Sprechen in einer toten Sprache, [...] [als] neutrale Praxis der Mimikry ohne die an ein Original gebundenen Beweggründe der Parodie, ohne satirischen Impuls, ohne Gelächter und ohne die Überzeugung, daß außerhalb der vorübergehend angenommenen mißgestalteten Rede noch so etwas wie eine gesunde, linguistische Normalität existiert."178 Selbstverständlich trägt demgegenüber Jamesons Projekt einer prospektiven (in den Raum schauenden!) Ästhetik die Signatur der Hoffnung darauf, daß Wissen wieder sinnstiftend anwendbar werden kann, daß der nunc stans von 172

Fredric Jameson: Postmodernism and Consumer Society. A.a.O., S. 62. "Aus historischer Sicht wäre zu ergänzen, daß die [...] Produktion von Ideologien in verschiedenen historischen Situationen ganz unterschiedlich ausgeprägt ist, vor allem aber, daß es historische Situationen geben kann, in denen dies überhaupt nicht möglich ist. Genau dies scheint unsere Situation in der gegenwärtigen Krise zu sein." Fredric Jameson: Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. A.a.O., S. 99. 174 Fredric Jameson: Postmodernism and Utopia. A.a.O., S. 14. 175 Fredric Jameson: Postmodernism and Consumer Society. A.a.O., S. 63. 176 Fredric Jameson: Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. A.a.O., S. 72. 171 Ebd. S. 62. 178 Ebd. S. 62.

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der Kunst in einem sehr spezifischen Sinne ideologisch ('Ideen lehrend') überschaubar gemacht werden wird und so Möglichkeiten "zu funktionaler und lebendiger Produktivität"179 wieder erkannt und verwirklicht werden können. Abkunfts-Reflexion muß in Herkunfts-Reflexion übergehen - also nicht mehr der temporale Beginn, sondern die spatiale Ausgangslage muß hierzu erfahren werden. Damit bestreitet Jameson also keineswegs, "daß wir die Welt und ihre Totalität auf abstrakte oder 'wissenschaftliche' Weise erkennen können"180 oder "daß dieses Wissen [über die Welt] nicht erkennbar oder erreichbar wäre".181 Er bringt aber dagegen in Anschlag, "daß es [das Wissen selbst, B.G.] jetzt nicht mehr repräsentierbar ist" und sich so "eine Kluft, ein Riß zwischen existentieller Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis"182 ergibt. In der Form progressiver (in den Raum schreitender) Kunstobjekte erkennt Jameson daher den aufweisenden Spiegel der bruchstückhaften Welt: "Fragmentation within one picture - dyptich framing, sequential collage, scissored images, which may be best called screen segmentation";183 er bezeichnet dieses Kunstverhalten auch als einen "surrealism without the unconscious".184 Er stecke darin der Versuch einer Problematisierung des neu semantisierten Raumes. Kunst habe ihn hinterfragungswürdig zu machen. Darum sei die "Lehrfunktion von Kunst"185 innerhalb der Kultur neu zu bestimmen, denn disalienation involves the practical reconquest of a sense of place and the construction of a spatial but also a social world in which the relationship of the individual subject to his or her community becomes transparent and representable.186 Avantgardekunst muß vor dieser Anforderung passen, denn eines steht fest: wir können nicht zu einer ästhetischen Praxis zurück, die auf historischen Verhältnissen und Problemstellungen basiert, die nicht mehr die unseren sind. Ein unserer Situation angemessenes Modell der politischen Kultur muß [...] die Frage des Raums zur wichtigsten Problemstellung machen. Die Ästhetik dieser neuen [...] Kultur möchte ich daher vorläufig als die eines Kartographierens der Wahrnehmung und der Erkenntnis (cognitive mapping) definieren.187

Dieses cognitive mapping soll als 'Repräsentation (der imaginären Beziehung des Subjekts zu seinen [...] realen Existenzbedingungen)' einer wiederermög179 Ebd. S. 99. 180 181

Ebd.

Ebd. 182 Ebd. 183

ders.: Postmodernism and Utopia. A.a.O., S. 29. Ebd. S. 26. 185 ders.: Logik der Kultur. A.a.O., S. 96. 186 Fredric Jameson: Postmodernism and Consumer Society. A.a.O., S. 72. 187 ders.: Logik der Kultur. A.a.O., S. 96. 184

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lichten Relationierung der Wahrnehmungsdaten dienen und so vermitteln zwischen der Totalität der Wahrnehmungen des Gegenwarts-Raums und der Situation des Subjekts in ihm. Glaubt man Joseph Beuys, so ist die Gegenwart bei der Kunst an der richtigen Adresse, denn alles menschliche Wissen stammt aus der Kunst Jede Fähigkeit stammt aus der Kunstfähigkeit des Menschen, das heißt: kreativ zu sein. Woher soll es anders stammen können.188

Exkurs: Wissen statt Werktreue Der Diskurs entläßt sein Kinder. Frank Castorf benutzt Wissen, um Gehalt en bloc zu zitieren. Seine Zerstörungen klassischer Werke durch Gebärde, Schrei, Spaß, Traum, Spiel, Acappella-Arie und viel Wasser sind Form. Verharren im schimmernden Augenblick, Auslotung der Möglichkeit nicht-vergehender Zeit, Annäherung und völlige Entfernung vom Text. Unvermittelte Sensationen und Wechsel von Stimmungen. Sinn-Fallhöhen und Formpossen. Sie geschehen ohne Bemühungen um neue Variationen zu bekannten Gehalten - auch wenn die Kritik seine Inszenierungen noch vor dem Hintergrund eines vermeint angestrebten Gehaltes interpretieren will und seine Nicht-Einlösung dann bemäkelt.189 Castorf s Arbeiten bleiben reine Oberfläche, um dieses Spiel mit dem Wissen um ehemalige Gehalte zu beginnen. Es setzt schon mit dem ersten Auftritt Tassos da ein, wo Peymann aufhörte: Castorfs Tasso bringt die weinerliche Hofgesellschaft mit seiner 'Flugschule1 auf Trapp. Castorf setzt damit keinen neuen Inhalte. Ausgelotet werden die Untiefen im alten. In den Hintergrund tritt das Werkgeschehen - in den Vordergrund die Kolorierung von 'Helden1 zu skurrilen, in ihrer Banalität ungeheuerlichen Existenzen in Echtzeit. 188

Joseph Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler. Gespräche auf der documenta 5, 1972. Frankfurt 1975. S. 73. 189 "Und dann spricht Tasso die auf der Bühne oft verschwiegenen Schlußverse: die schwache Möglichkeit einer Versöhnung von Politik und Kunst. So läuft die Aufführungsmaschine nach zwei Stunden doch noch in Goethes Zentralbahnhof ein. Übrig bleibt ein pauschaler Freiheitsruf. Menschliche Einzelheiten werden nicht geboten." Georg Hensel: Wie man mit dem Hammer inszeniert In: FAZ. v. 28.10.1991. "Warum zertrümmert Castorf im Residenztheater nicht das Münchner Telephonbuch oder die Aufsatzheft seiner Schulzeit? Vermutlich deshalb nicht, weil sich niemand dafür interessieren würde. Castorfs Zertrümmerungen werden zum Ereignis durch das, was da für die Dauer einer Vorstellung zertrümmert wird. [...] Außer Goethe zertrümmert er auch ein wenig das Theater." Jürgen Busche: Die Kunst Klassik zu zertrümmern. In: SZ. 04.11.91. Beide zur Münchner Tasso'-Inszenierung. 144

Im Programmheft zu Tasso ist ein Interview mit Castorf abgedruckt. Darin heißt es: "Wenn man sich das Stück anschaut, blickt man eigentlich auf einen ruhigen See ohne Wellen. Aber darunter, unter dieser glatten Oberfläche, wüten Ungeheuer." Des Regisseurs Figuren werden deswegen so schrill, weil Leer-Steilen nicht zugunsten des Werkverlaufs akzeptiert und mitgeschleppt, sondern grotesk mit Realia des Hier und Jetzt gefüllt werden. Castorf interessiert sich also genau da für das Dramenpersonal, wo das Stück es allein läßt, bzw. darüber hinweggehen will. Castorf stülpt eine inwendige, Lust-Frust-Haß-Architektur der einzelnen Figur auch dort nach außen, wo sie unbeobachtet bleiben wollte, wo das Interesse des Werks sich von ihr weg verlagert hat oder vorgegebene Personaldaten zur glatten 'Helden'-Oberfläche interpoliert werden sollten. Er bereichert damit das Drama an den Abriß-Stellen der Figurenskizze, wo die werkgegebene Konturierung aussetzt, wo der dramatische Duktus nicht mehr die einzelne Figur fokussiert, sondern eine Rede, ein Ereignis, eine Konstellation etc. privilegieren möchte, um 'weiterzukommen' - in der Handlung, der Erzählung, der Ausformung eines anderen 'Charakters'. Dieses Insistieren auf Ausleuchtung der bemerkenswerten Abgründe in einer Figur stört den vorgegebenen, reibungslosen Ablauf des Stücks deshalb, um aus heiligen Schemen der Theatergeschichte leibhaftige Zombies in einem wüsten Plastikland der Postmodeme zu eruieren, die Goethe, Godot und Godzilla zugleich zu bewältigen haben. Die ausufernde Präsenz des so vermaledeiten Personals verhakt sich damit in der Textur eines feinen Wissens-Gespinstes, das einst das Werk war. Keine psychologisierende Innenschau, sondern monströse Hybridisierung, triviale Verallgemeinerung eben der Besonderungen, die 'dem Werk' herauszuskulpturieren überlassen war: Castorf umschreitet den Ennui des veröffentlichten Menschen im nunc stans der Postmoderne. Die Bühnendekoration und das Interieur des Zuschauerraumes gehen nahtlos ineinander über. Sie pflanzen sich ineinander fort. Es resultiert ein inszenierter Gesamtraum, der hier wie dort Wirklichkeit und Kunst ist. Als Haufen von Trümmern erscheint folglich das um diese 'Füllsel' bereicherte, indes überschrittene Stück. Der ursprüngliche Gehalt wird - auf der Stelle - zertreten. Solche Inszenierungen machen keinen ordentlichen Sinn, aber sie sind gerade darum sinnvoll. Wissen ersetzt Werktreue. Wissen ist Werktreue.

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5. Die Aura Hollein, der Architekt, demonstriert auf der documenta 8 - mit der Zeigelust der Ironie - eine neue Kunstbefindlichkeit. Er zeigt die Konvertierung der Bedeutung von Werk und Künstler. In einem Saal, der einige der Meister-Werke europäischer Maltradition ausstellt - erkennt man die exakte Verkehrung der modernen diskursiven Proportionen: das Hinweisschild mit dem Namen des Künstlers und dem Werktitel wird zu Gemäldegröße aufgeblasen, das Werk selbst erscheint daneben als kleiner Verweis auf den Künstler. Das 'name-tag' wird Bild, das Bild wird zur Dcono-Vokabel. Man betritt den Saal und schaut auf die Galerie großer Namen, jenem Schwarz auf Weiß der Autorfunktion, dem man sich in gewohnter, museumserprobter Ehrfurcht nähert, um auf einer schmächtigen Tafel daneben als InFormation eben die Farb-Anbringungen zu vernehmen, die einst 'das Bild' genannt wurden. Damit ist das Problem, um das es im Folgenden geht, illustriert. Wer nämlich Kunstwerke als manifeste Orte dessen, was Kunst ist oder sein kann, auflöst, gerät unter den Druck einer Begründung. Zu fragen ist jetzt nämlich, was es ist, das Kunst nun (noch) als Kunst auszeichnet. Der berühmte, inzwischen schale Witz, daß jemand im Museum interpretierend über einem Feuerlöscher grübelt, könnte ja jetzt banale Wirklichkeit geworden sein. Wie scheidet der Diskurs der Kunst, der Kunstbetrieb, fortan die Dinge von Kunst? Das ist die Frage. Ein Teil der Antwort ist, daß den Hervorbringungen der Kunst bislang etwas eignete, bzw. verliehen wurde, das ihnen sogar noch im avantgardistischen Protest gehörte, nun aber, da es die Werke in der Postmodeme so nicht mehr gibt, fehlen muß: die Aura. Aura gilt dieser Arbeit als das 'Gemeinsame, das die Gegenstände in der Kunst besitzen', von dem auch Danto vorschlägt, es als Differenzkriterium für Kunst dem Werk zuzuschlagen, um es vom 'realen Ding' zu scheiden. Meine Behauptung ist durchweg die, daß ein Kunstwerk nicht auf seine Basis eingeebnet und genau mit dieser identifiziert werden kann, denn dann wäre es das, was das bloße Ding selbst ist - ein Viereck aus roter Leinwand, eine Gruppe von schmutzigen Reispapierbahnen oder was auch immer. Es wäre jeweils das, woraus das reale Ding selbst bestand, das wir dem Kunstwerk zu subtrahieren vorschlugen.190

Aura, die den Werken mitgegeben wurde, ist das gemeinsame Etikett aller Kunst. Sie entrückt die Kunst aus dem Diskurs der Dinge. Wenn jetzt der Werk-Begriff im Kunstbetrieb dissolviert wird, besetzt die Aura, derer Kunst auch weiter als ihres einzigen Differenzkriteriums unbedingt 190

Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. A.a.O., S. 159.

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bedarf, einen neuen Ort. Und zur Tatsache wird, daß Feuerlöscher + Aura nun tatsächlich Kunst ist, während das Ding neben ihm nichts anderes ist und nichts anderes sein kann als ein Feuerlöscher. Die These dieses Kapitels lautet: Die Aura gehört nun dem Künstler. Das Augenmerk der Rezeption richtet sich auf ihn, weil sie im 'Kunstbetrieb' keines Gegenstandes, Werks, mehr habhaft wird, vor dem sie ankern kann. Es geht bei dieser Aura-Umschreibung innerhalb der Kunstbetriebes also darum, das auratische Moment funktional in der und für die Kunst zu erhalten. Aura bleibt die Ermöglichungsbedingung für die Auseinandersetzung mit Kunst. Die bürgerliche Autonomie-Ästhetik basiert auf dem intakten Vertrauen in das, was Walter Benjamin die 'Aura' des Kunstwerks, als "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag",191 genannt hat. Dieser Aura ist für Benjamin der Kultwert des Werks assoziiert. Marleen Stoessel erläutert die Benjaminschen Thesen zum Kultwert, dessen Transformation in 'Originalität' und 'Einmaligkeit' ein Bestehen des Werks in der bürgerlichen Kunst gewährleistet. Sie spricht von den 'tradierten Qualitäten der Kunst': Diese sind seine 'Einmaligkeit' und 'Originalität' oder, mit einem anderen Ausdruck, sein "Kultwert1, in dem sein ehedem sakraler Charakter im säkularisierten bürgerlichen Dasein überdauert. Ihm korrespondieren 'Echtheit' und 'Autorität' des Kunstwerks, mit denen sein einmaliges Dasein sich materiell ausweist und im historischen Gedächtnis fixiert.192 Für Benjamin steht außer Frage, daß im historischen Prozeß der "Verfall der Aura"193 bedingt sei durch den Verlust von ortsfixierter Einmaligkeit. Massenhafte Reduplikation verursache eine Bedeutungs-Umschreibung von Vorhandenheit in Sichtbarkeit des Werks, das damit seinen Kult- in einen Ausstellungswert transformiert. Das auratische Kunstwerk besetze hingegen - so Benjamin - seinen spezifischen Ort gerade als rezeptionsfreie Größe. Darin sei seine Herkunft aus dem Ritual ausgewiesen und so vom Ausstellungswert zu unterscheiden, den das nicht-auratische Re-Produkt unter Bedingungen der potentiellen Vervielfältigung stattdessen erlangt habe. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des 'echten' Kunstwerks hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte.194 191

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. (1963) Frankfurt 1977, S. 15. 192 Marleen Stoessel: Aura. Das vergessene Menschliche. Zur Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin. München 1983. S. 24. 193 Walter Benjamin: Das Kunstwerk. A.a.O., S. 15. 194 Ebd. S. 16. 147

Aus dieser Relevanz fürs Ritual speise sich der von seiner Dinghaftigkeit abgehobene Kultwert des Werks, mit dem die organische Synthese vom Besonderen des Werks und Allgemeinen des Ritus1 vermittlungslos gesetzt, d.h. zu einer der tatsächlichen Anschauung sogar unbedürftigen Realisation gebracht werde. Es ist das Wissen um diese im Werk unmittelbar gelungene Verschmelzung dialektisch-antagonistischer Pole, die es schon in bloßer Vorhandenheit legitimieren. "Von diesen Gebilden ist [...] wichtiger, daß sie vorhanden sind als daß sie gesehen werden".195 Ja, zu wissen, daß es diese Werke gibt, die der Profanität enthoben sind, reicht dem Rezipienten des Benjaminschen 'Kultwerks1 aus, die Einheit stiftende Kraft der Kunst zu erleben. Hier liegt die Analogie zu Schillers Begriff der Schönheit, der ein solch auratischer ist. Auch Schiller überspringt die unmittelbare Arbeit der (interpretierenden) Vermittlung am Werk, aus der sich die Heilkraft der Kunst ja je erweisen müßte. Autonome Kunst wirkt allein im Wissen und wissenden Vertrauen auf Schönheit ohne die permanente Anstrengung einer direkten sinnlichen Konfrontation oder unendlich zu wiederholende und wiederholte Arbeit des Begriffs in verstehender Auslegung. Aura ist der Benjaminsche Terminus für das, was hier das 'autonome Nichts' der Kunst für das repräsentierende Kunstwerk genannt wird. In jenem wird dieses Nichts der Kunst bedeutet genauso wie es selbst sich so einzigartig und unverrückbar im Wissen manifestiert. Die These dieser Arbeit ist nun zum einen, daß der Autonomiestatus der Kunst für den Diskurs stets dieser Kategorie des Auratischen bedarf und stets (auch heute) auf ihr beruht, daß aber, zum anderen, das postmodeme 'Werk der Gegenwartstreuung des Bewußtseins' selbst eben diese Kategorie eingebüßt hat. Sie aber wurde vom 'Kunstbetrieb' an den Künstler weitergereicht. Das Auratische Moment der Kunst in der Postmoderne ist der Künstler selbst. Wilson steht hier als Beispiel eines Repräsentanten jenes 'autonomen Nichts', ohne das Kunst nicht (und im aufgelösten, in den Raum gestreuten Werk schon gar nicht) auszumachen ist. Diese Verschiebung ist also zwingend notwendig, wenn eine Artikulation innerhalb des Kunstdiskurses der Postmoderne noch als solche auszumachen sein soll. Das Auratische verleiht sich der Künstler allerdings nicht selbst und es geht nicht in diesem auf, sondern es wird ihm verliehen als Bestandteil dessen, was Foucault die Autorfunktion genannt hat. Diese letzte These richtet sich damit vehement gegen Benjamins Diktum einer unwiderruflichen Auflösung der Autonomie der Kunst nach dem Verlust kontemplativer Funktion und kultischer Authentizität des Werks.196 195 196

Ebd. S. 19. "Indem das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer Autonomie." Ebd. S. 22.

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Sie richtet sich auch gegen die Benjamin-These eines Transfers des Werks zu einem sich in Exhibitionen verbreitenden Produkts der Zeit, das allerdings von Benjamin stürmisch begrüßt - mit dem Zugewinn politisch wirksamer Relevanz ausgestattet sein soll. Damit berge die "von der Technik veränderte Sinneswahrnehmung"197 ein Element des Fortschritts. Das berühmte Schlußwort des Kunstwerk-Essays grenzt dazu die ästhetische Selbst-Verklärung des Faschismus gegen die fortschrittlich-kritische Politisierung einer vom Kommunismus in seinen Dienst gerufenen, ent-auratisierten Kunst ab: So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.198 Am anschaulichsten hat Benjamin diese These in seiner Interpretation der Photographie ausgeführt. In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Dieser weicht nicht widerstandslos. [...] Keineswegs zufällig steht das Portrait im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder abgestorbenen Lieben hat der Kultwert seine letzte Zuflucht [...] Wo aber der Mensch aus der Photographie sich zurückzieht, da tritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen. [...] Sehr mit Recht hat man von ihm [dem Pariser Photographen Atget, B.G.] gesagt, daß er die Pariser Straßen aufnahm wie einen Tatort. [...] Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget, Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre verborgene politische Bedeutung aus. Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmten Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen.199 Peter Bürger hat an Benjamins Thesen grundsätzlich kritisiert, daß jene einen Zusammenhang stiften wollen, den der Autor selbst in seiner Ausschließlichkeit nicht aufrecht erhält. Tatsächlich knüpft Benjamin ja die Veränderungen innerhalb des Systems Kunst, die eine veränderte Rezeption stimulieren, als deren Folge er AuraVerlust konstatiert, notwendig und direkt an die Veränderungen eines technischen Reproduktionsapparates. Bürger führt in seiner Kritik hierzu aus: Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, als hätte Benjamin eine Entdeckung, die er dem Umgang mit avantgardistischer Kunst verdankt, [...] nachträglich materialistisch fundieren wollen. Dieses Unterfangen ist jedoch nicht unproblematisch, denn damit würde der entscheidende Einschnitt in der Entwicklung der Kunst [...] ein Resultat technologischer Veränderungen. Emanzipation bzw. emanzipatorische Erwartung werden hier direkt an Technik geknüpft. Nun ist aber Emanzipation ein Vorgang, der zwar durch die Entwicklung der Produktivkräfte befördert werden kann, [...] der aber nicht unabhängig vom 197

Ebd. S. 44. Ebd. 199 Ebd. S. 21. 198

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menschlichen Bewußtsein gedacht werden kann. [S. 38] [...] Was Benjamin entdeckt, ist die Formbestimmtheit der Kunst [...]; hier liegt das Materialistische seines Ansatzes. Dagegen ist das Theorem, dem zufolge die Reproduktionstechniken die auratische Kunst zerstören, ein pseudomaterialistisches Erklärungsmodell.200 Bürger, der anmerkt, daß auch von und nach der Avantgarde "Kunstwerke produziert worden sind",201 insistiert nun nicht auf einer Untersuchung des sich darin unvermindert weiter haltenden Moments der Aura. Da, wie Bürger richtig festhält, Benjamin zudem die nicht unproblematische These aufstellt, "auratische Kunst und individuelle Rezeption"202 als deren notwendige Voraussetzung aneinanderzuketten, soll nun hier dagegen die These aufgestellt werden, daß Kultwert und Austeilungswert, den Benjamin ja ersteren ablösen sieht, nur als Metamorphosen eines Begriffs von Wert - oder Aura - gedacht werden können, der notwendig - in welchen Transformationsstufen auch immer - auf Gegenstände, bzw. Funktionsträger des Diskurses Kunst appliziert werden muß, um diese von den Dingen zu scheiden, die Nicht-Kunst sind. Aura ist - wie unten nachgewiesen werden wird - generell als "spezifische Form der Wahrnehmung, die man als 'Besetzung1, als 'Projektion' beschreiben könnte",203 zu definieren. Aura ist der Artikel vor Kunst. Im Zuge der wesentlichen Verlagerung des 'Werks1 vom Gegenstand der Erfahrung (von Wahrheit) zur Erfahrung des Gegenstandes wird die auratische Nobilitierung des Künstlers als notwendige Strategie des um seine 'Werke' gebrachten Kunstbetriebs ersichtlich. Ohne die Umschreibung der Aura auf die andere Kunstproduktions-Größe, den Künstler, sind die Produkte der Kunst heute, da die Kategorie Werk preisgegeben wurde, als gehaltvolle nicht mehr von der Realität des nicht-artifiziellen Raumes zu scheiden. Das muß auch Benjamin gedacht haben, als er den Künstler als fortan 'aufgebaute personality' vorstellte: Der Film antwortet auf das Einschrumpfen der Aura mit dem künstlichen Aufbau der 'personality' außerhalb des Ateliers. Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht.204 Der Kunstbetrieb benötigt die 'Aura' dringend, um die in seinem Rahmen hervorgebrachten Äußerungen als Kunst auszuweisen. Das heißt nicht, daß das 'Werk' von nun an keinen Inhalt mehr haben kann. 'Gehaltvoll' ist ein Werk 200

Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. A.a.O., Sn. 38,40. Ebd. S. 78. 202 Ebd. S. 36. 203 Marleen Stoessel: Aura. A.a.O., S. 46. 204 Walter Benjamin: Das Kunstwerk. A.a.O., S. 28.

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noch darum, weil es als 'Erfahrungsauslöser' um eben dieses Merkmal von ungestalteter Realität differiert. Mit anderen Worten: im heutigen Kunstbetrieb kann - wirklich - alles "Werk1 werden, weil allem Gehalt - im Sinne von InFormation - innewohnt. Das "Werk1 der Postmoderne bleibt so stets das, was es je ist - ein Gegenstand auf Zeit, dessen Material ein Präsens des Denkens offeriert. Damit hat es jetzt tatsächlich seine Aura eingebüßt.205 Denn Marleen Stoessel muß zugestimmt werden, daß die 'Ferne' in Benjamins Kurzdefinition der Aura (s.o.!) nur interpretiert werden kann in dem Sinn, daß diese Ferae nur die zeitliche Feme sein kann und Räumliches, der mehr oder minder nahe Gegenstand, ihr einziger möglicher Erscheinungsgrund. [Die einmalige Erscheinung] bedeutet dann das Gewärtigwerden eines Anderen qua Erscheinung eines Gegenstandes, der dadurch selber als ein anderer, als ein von seiner empirischen Identität zugleich unterschiedener erscheint. Die auratische Erscheinung definiert sich damit durch ein Undefinierbares an ihr selbst, durch etwas, was gerade über die Grenzen herkömmlicher Bestimmungsformen hinausweist. Wenn definieren Grenzen ziehen heißt, dann spiegelt die Definition der Aura sprachlich den Vorgang der Ent-grenzung selbst.206 Alle Zeitphänomene besetzen im Raum der Gegenwart Positionen, deren Koordinaten als Distanz vom Betrachter zu bilanzieren sind. So wird die Zeit-Implikation der dem Aura-Begriff inhärierenden Ferne, den Stoessel für den Benjaminschen Kontext zu Recht herausgearbeitet hat, bei dieser Transformation ebenfalls in einen Raum-Aspekt umgeschrieben werden müssen. Die Aura, die die Autorfunktion im Kunstbetrieb erhält, kann nun - analog zu Benjamin definiert werden als 'einmalige Erscheinung (zeit-räumlicher) Feme so nah sie auch sein mag'. 'Zeit-räumliche Ferne1 besagt hierbei einmal, daß die 'Unnahbarkeit' (Bürger) des Künstlers, der die Autorfunktion (s.u.!) besetzt hält, sich ableitet aus jener verbindenden Spur zwischen sich und den Produkten, die im Vorstellungsvermögen des Betrachters alle "Werke1, aber auch alle Äußerungen des Künstlers zu seinem "Werk" als dessen 'Stil' miteinander korreliert: der Künstler wird mithin das Unverwechselbare durch das aus markanten Punkten destillierte, dann wieder einzeln über die "Werke1 rückgestreute Wissen um Charakter, Herkunft und Nachbarschaft seiner Werke überhaupt 205 Ygj hierzu: Peter Bürger, der kritisiert, daß die "technische Reproduzierbarkeit der Kunstwerke eine andere (nicht-auratische) Rezeptionsweise erzwinge", weil "die technische Entwicklung nicht als unabhängige Variable aufgefaßt werden" [Bürger, Avantgarde, S. 41] dürfe und dann festhält, "daß auch nach den Avantgardebewegungen Kunstwerke produziert worden sind" [Bürger, Avantgarde, S.78]. Er betont dagegen, daß die "Kategorie des Kunstwerks [...] von den Avantgardisten zwar nicht zerstört, wohl aber total verändert" wurde [Bürger, Avantgarde, S. 69], mithin, daß neben den von Benjamin eruierten, qualitativ neuen Ausstellungswert des avantgardistischen Kunstwerks für die "klassische Avantgarde' auch weiterhin noch das auratische Moment gehört, mit dem die 'Institution Kunst' (Bürger) ihre Emanationen privilegiert und somit kennzeichnet 206 Marleen Stoessel: Aura. A.a.O., S. 45f. 151

(und seiner Äußerungen darüber), die in Zeit und Raum aufgesucht werden können: der Künstler wird über den Stil zum tertium comparationis seiner 'Hervorbringungen'; damit erhält jedes Einzel-Werk seinen Status als dasjenige, welches auf einem Zeitstrahl des spezifischen Stils an einem bestimmten Punkt in Schaffensnachbarschaft von anderen "Werken" dieses Stils lokalisiert werden kann. Selbstverständlich bedeutet Auratisierung des Künstlers nicht die jeweilige nominelle Sanktion, sondern generell Ausstattung mit Aura derjenigen Instanz innerhalb des Kunstbetriebs, die Foucault die Autorfunktion genannt hat. Es handelt sich um den Autor. Und zwar nicht um den Autor als sprechendes Individuum, das einen Text gesprochen oder geschrieben hat, sondern um den Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts. [...] All die Erzählungen, Gedichte, Dramen oder Komödien, die man im Mittelalter mehr oder weniger anonym zirkulieren ließ, werden nun danach befragt (und sie müssen es sagen), woher sie kommen, wer sie geschrieben hat. Man hat verlangt, daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufügen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt. [...] Das Individuum, das sich daran macht, einen Text zu schreiben, aus dem vielleicht ein Werk wird, [nimmt] die Funktion des Autors in Anspruch. Was es schreibt und was es nicht schreibt, was es entwirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es an banalen Äußerungen fallen läßt - dieses ganze differenzierte Spiel ist von der Autor-Funktion vorgeschrieben, die es von seiner Epoche übernimmt oder die es seinerseits modifiziert. Und wenn es das traditionelle Bild, das man sich vom Autor macht, umstößt, so schafft es eine neue Autor-Position, von der aus es in allem, was es je sagt, seinem Werk ein neues, noch verschwommenes Profil verleiht.207

Es ist nun nicht paradox zu behaupten, daß die Position im Kunstbetrieb anonym bleibt, obwohl sie mit dem auratisierten Autor besetzt ist. Der Schriftsteller als Person tritt hinter diesem Autor zurück. So ist der Autor in erster Linie nicht identisch mit dem Träger eines Eigennamens, sondern mit der Ordnungsgewalt für den Diskurs, die von seinem Namen ausgeht. Funktional werden im Sinne des Diskurses kann ein Autor insofern, als mit ihm als ihrem Adressanten Nicht-Werke operabel gemacht werden können. Es ist - sobald ein Name die Autorfunktion im Diskurs auf diese spezifische Weise besetzt hält - damit gleichgültig, was wer, keineswegs aber wer was gemacht hat, solange er im Diskurs funktioniert. (Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Aura, die Wilson anhaftet, so verblichen ist, daß nicht mehr jede seiner Produktionen automatisch von allen Starkritikem des bundesdeutschen 207

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. A.a.O., S. 19ff.

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Feuilletons gewürdigt wird.) (Im folgenden Foucault-Zitat sei - da es hier um den gesamten Komplex der Künste geht - bitte zu 'Wort', bzw. 'Text' immer 'und Werke' ergänzend hinzugedacht!) Ein Autorname ist nicht einfach ein Element in einem Diskurs (der Subjekt oder Ergänzung sein kann, die von einem Pronomen ersetzt werden kann usw.); er hat bezogen auf den Diskurs eine bestimmte Rolle: er besitzt klassifikatoriscbe Funktion; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er eine Inbezugsetzung der Texte zueinander. [...] Schließlich hat der Automame die Funktion [anzuzeigen, B.C.] [...], daß dieser Diskurs nicht aus alltäglichen, gleichgültigen Worten besteht, nicht aus Worten, die vergehen, vorbeitreiben, vorüberziehen, nicht aus unmittelbar konsumierbaren Worten, sondern aus Worten, die in bestimmter Weise rezipiert werden und in einer gegebenen Kultur ein bestimmtes Statut erhalten müssen. Man könnte schließlich auf die Idee kommen, daß der Autorname nicht wie der Eigenname vom Inneren des Diskurses zum realen, äußeren Individuum gebt, sondern, daß er in gewisser Weise an die Grenze der Texte drängt, daß er sie zuschneidet, ihren Kanten folgt, daß er ihre Seinsweise offenbart oder wenigstens, daß er sie kennzeichnet. Er macht das Ereignis eines bestimmten Diskurses sichtbar, und er bezieht sich auf das Statut dieses Diskurses innerhalb einer Gesellschaft und in einer Kultur.208 Dieser Autorfunktion entkommt Robert Wilson auch dann nicht, wenn er von Beginn an seine Produktionen stets mit Co-Autorschaft diverser Kollaboratoren versieht. Die Autorfunktion innerhalb des Kunstdiskurses wählt man nicht, sondern sie wird zugewiesen, um Kunstprodukten damit die vermeint authentische (Urheber-Jsprache zu verleihen, die an die Stelle des Originals tritt. Interessant - wenngleich nur plausibel - ist darum, daß auch Wilson selbst seiner eigenen Aura bedarf, um sich im Diskurs ausweisen und behaupten zu können. Trotz der Assoziationen mit anderen Künstlern möchte er betrachtet werden als authentischer Urheber eines Gesamtwerks, also als originaler Verfasser aller Teile, die auf ihn rückbezogen werden können zu einem Gesamt von Existenz und Werk. Foto, Film, Skizze und sukzessives Management eines Projektes werden zum Teil der Kunst, da sie sich derselben Urheberschaft verdanken. Robert Wilson konnte darum bei den CIVIL warS so verfahren, daß er im Vorfeld aller Teilstücke - zu deren Finanzierung - Verkaufsausstellungen seiner Bühnenskizzen arrangieren und einen Film-Report der Produktion herstellen ließ. Auf Künstleraura deutet des weiteren schon die Einrichtung und Bestückung eines eigenen Archivs, das jetzt in der Butler Library der Columbia University verwaltet wird.209 208 209

Michel Foucault: Was ist ein Autor? A.a.O., S. 17. Die Columbia University, die das Wilson-Archiv der Byrd Hoffman Foundation verwaltet, hat ihre Sammlung nicht rein chronologisch, sondern nach Art und Inhalt der Werke geord153

Wilson scheint zudem auf seinem 'Werk' als einem eifersüchtig zu bewachenden Besitzstand zu bestehen. Zwar sieht der Wilson-Stil die Kooperation mit anderen Künstlern geradezu vor - aber genau darin besteht ein Spezifikum dieses Stils, der zur Erhaltung seiner Unvenvechselbarkeit nicht die spätere Dislozierung in Einzelbeiträge zuläßt. Diese Vermutung wird bekräftigt durch einen Protestbrief, den Lucinda Childs (auch sie eine Kollaboratorin) an Phil Glass richtet, der als Komponist der Musik von Einstein On the Beach offensichtlich geplant hat, eine Schallplatte nur mit seiner Musik ohne die in der Oper dazugesprochenen Texte wiederum unterschiedlicher und keineswegs originär Wilsonscher Provenienz herauszubringen. Lucinda Childs, die die Choreographie für diese Oper besorgt hat, berichtet sogar von einer Korrespondenz intermittierender Anwälte. Dear Pbil, I just heard that your lawyer has informed Bob's lawyer of your intention to do the "Einstein'-record without the text. [...] What you did tell me [...] was simply that Bob had the power to take out the words. [...] I do wish to say that your statement about Bob sounded totally weird to me. It made as much sense as if Hitler were to have threatened to bomb Germany even off chance that Winston Churchill might choke on his tea biscuit. [...] I imagined that Bob would never take the words out voluntarily, and it is a known fact now that it is the last thing on Earth that he wants. [...] The most important thing about the text is the concept in relation to the opera which is Bob's and I feel it should be represented, I also value all of the performances of the text in relation to the music.210

net. Das Werk also ist Zuordnungskategorie, so daß bspw. Materialien zu Einstein On the Beach der Aufführungen von 1984 dem File Einstein On the Beach subsumiert sind, das auch Material der Inszenierungen von 1976 enthält. Die Werk-files sind nach Alphabet systematisiert, weisen allerdings vor ihrer Numerierung noch eine römische Klassifikationssigle auf, die sie einer von 9 Grobkategorien zuordnet. Im zitierten Fall bedeutet "Box -12 Robert Wilson Interviews' also, daß es sich um die 12. Box der Kategorie II: General Files mit dem spezifischen Inhalt: Robert Wilson Interviews handelt. Dieses System hat natürlich den gravierenden Nachteil, daß neue Produktionen Wilsons nach Titel alphabetisiert der Boxensequenz 'untergeschoben' werden müssen und so die vormalige Ordnung stören. In Konsequenz tauchen deshalb mitunter auch Buchstaben hinter der Klassifikationssigle auf. So etwa: 'Box III-A Cosmopolitan Greetings' vor 'Box -4 Deafman Glance'. In Zukunft werden daher, um Verwirrungen zu vermeiden, die Boxen mit ihrer vollständigen Signatur zitiert werden, d.h. mit Klassifikationssiglen, vollständigen Produktionstiteln und - mit einem Semikolon abgesondert - den von der Columbia University verliehenen Inhaltsdeskriptionen, die immer dann auftauchen, wenn zur Archivierung einer Produktion mehr als eine Box benötigt wurde. Also etwa: 'Box III-C Death Destruction and Detroit; Research'. Angesprochen sind so: die Kategorie : Production Files; 'C': der alphanumerisch-systematische Ort innerhalb dieser Kategorie; 'Death Destruction and Detroit': der Titel des Stücks; 'Research': der Titel der Inhaltsdeskription dieser Box. 210 Lucinda Childs: zweiseitiger Brief an Phil Glass v. Aug. 27, 1978. S. 1. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: -F Einstein On the Beach. 154

Glass, der natürlich auch an der Konturierung und dem Erhalt seiner Aura im Diskurs Interesse hat, verweist hingegen darauf, daß seine Musik unabhängig und frei von den Texten, allenfalls orientiert an den wilsonschen Zeichnungen zum potentiellen B (ihnenverlauf entstanden sei. Demnach kann dasselbe Interesse in einem Diskurs, an dem zwei Individuen partizipieren, der Wille zum Erhalt von Aura, nachträglich vollständig auseinander dividieren, was nur für die Rezeption wie 'ein Werk' anmutet In der von ihm selbst verfaßten Monographie - auch dies eine Arbeit zur Stützung von Autorfunktion - zu sich und seinem Werk schreibt Glass zur entscheidenden ersten Arbeitsphase an Einstein On the Beach: Our 'libretto1 already begun to take shape in form of the [...] sketchbook of visual themes. That became the basis for the music I soon was to begin writing. As for the text, both sung and spoken, that would be developed during our rehearsal period, still almost a year away.211 Die Paula Cooper Gallery, N.Y, die Galerie Fred Jahn, München, und die XPO Galerie, Hamburg, offerieren auch weiterhin Skizzen; die Robert Wilson Works LTD., N.Y., eine von der Byrd Hoffman Foundation separierte Firma, vertreibt hauptsächlich Bühnenrequisiten, die von Wilson entworfenen Stühle, als Kunstwerk-Teile seiner Produktionen.212 Im Zentrum dieses Geflechts von Produkten und Produktionen steht als Gravitationsfeldgröße die Aura Wilsons. Mit Künstler-Aura wird allerdings nicht nur der lebende Künstler beliehen; sie wird auch rückwirkend vergeben. Marcel Duchamps ready modes waren als Protest-WERKE gedacht. Sie wollten, als scheinbar ebenbürtige Kunstwerke in den Kunst-Diskurs lanciert, den Begriff der Kunst erschüttern, dem nun solche Fertigprodukte als Kunst untergeschoben wurden. Als Werke verweisen sie 211

Phil Glass: Music by Phil Glass. A.a.O., S. 32 (Tatsächlich ist eine Platte - wie Glass berichtet - mit Texten - allerdings ein Jahr vor Childs Protest- produziert worden: "In spring of 1977 we reassembled our company at the Big Apple Recording Studios [...] and taped the complete Einstein On the Beach. Mr. Johnson [Samuel Johnson: neben L. Childs und C. Knowles Autor von Texten in Einstein On the Beach, E.G.] recorded his speeches in both English and French, though only the English version was finally used. [...] Finally CBS Records picked up the rights and rereleased Einstein under their own CBS Masterwoiks label, complete with the original packaging." Ebd. S. 56. 212 Abbildungen der neben den Zeichnungen zu Verkauf stehenden Möbel der Inszenierungen können in den Galerie-Katalogen der Paula-Cooper Gallery, N.Y., eingesehen werden. Das dort erhältliche Designer-Gut aus kunsthandwerklicher Produktion entspricht in etwa dem, wofür das Zeit-Magazin Nr. 28 v. 5 Juli 1991 seine gesamte Ausgabe zur Verfügung stellte. Es ist darum - wenngleich bereichert mit den änigmatischen Text-Assoziationen Heiner Müllers - nichts anderes als ein Waren-Katalog, der nur darum nicht zum Werbeprospekt wird, weil er einmal kein Preisverzeichnis enthält (die Paula-Cooper Gallery ist da verbindlicher) und zum anderen, weil diesen Gegenständen Künstler-Aura zugeteilt ist, die den rein dekorativen Bereich des Designs in Richtung auf auragesättigte "Werke1 eines Künstlers der Bildenden Kunst öffnen. 155

also auf die Unhaltbarkeit des tradierten Werkbegriffs der Kunst und ihrer darauf fixierten Position in der bürgerlichen Gesellschaft. Das war ihre Intention. Gehandelt werden sie heute jedoch als die ready modes des Marcel Duchamp. Interessant für den Kunstbetrieb kann darum am signierten Urinoir von 1917, am signierten Flaschentrockner von 1920 nur die Signatur Marcel Duchamps sein, die allein diese Gegenstände als zum Diskurs der Kunst gehörig ausweist. Denn Urinoir und Flaschentrockner sind keine Werke, sondern ausgestellte Massenprodukte. (Es ist doch bezeichnend, daß nicht in jedem Museum ein beliebiges Urinoir als 'Werk' anzutreffen ist. Zwar würde jedes seine Funktion als kunsthistorisches Dokument genau wie das Duchamps' erfüllen; doch um die Bedeutung dieser Werke1, die auch durch andere Alltags-Gegenstände bezeichnet werden könnte, ist es dem Kunstbetrieb nicht zu tun.) Es ist allein die Aura des Namens, die den Alltagsgegenstand scheinbar zum 'Original1 macht und so - auch die kunsthistorische - Bedeutung anzeigt. Die Galeristin Annina Nosei aus New York schildert am Beispiel 'ihres' Graffiti-Malers Jean Michel Basquiat aus Brooklyn, wie sie einen NAMEN in den Betrieb lanciert. Ich setze seine Arbeiten billig an und bot sie entschlossenen Kunden, die schon 25.000 Dollar ausgegeben hatten, für zusätzlich 1.000 Dollar an. Das funktionierte ganz gut. Diese Sammler legten sich frühzeitig fest, sie erzählten es ihren Freunden und plötzlich war Basquiat in vielen Sammlungen neben viel bekannteren Malern vertreten.213

Ein Name unter Namen ist plötzlich vertreten. Er wird synthetisch auratisiert. Er wird geadelt über den Namen der Galeristin und die der Künstler, die eigentlich eingekauft wurden. Über die Werke wird nichts gesagt. Die Auratisierung der Autorfunktion geschieht innerhalb des Kunstbetriebs und für ihn; sie ist Resultat eines (kunst-)historischen Prozesses und - zunächst jedenfalls keinesfalls böswillige oder zynische Strategie der Kunst-Verkäufer, die nun mit 'leeren Werken' handeln. Ohne die Auratisierung der Autorfunktion wäre eine Kunsttat wie die letzte Beuys-Aktion 7000 Elchen, die die Bundesrepublik mit einem Netz von Eichenpflanzungen überzog, nicht denkbar - ja nicht einmal nachvollziehbar wäre die Intention dieser Aktion, die Beuys mit einem Appell zum 'Ins-Rechte-Denken der Begriffe' angibt: Erst, wenn wir die Grundzusammenhänge des sozialen Organismus neu überdenken, die 'Revolution der Begriffe1 geleistet haben, wird damit der Weg frei sein für eine Evolution ohne Zwang und Willkür. [...] Mit den Begriffen ist immer eine sehr weittragende Praxis verbunden, und die Art und Weise, wie über einen Sachverhalt gedacht wird, ist entscheidend dafür, wie man diesen Sachverhalt angeht - zuvor: wie und ob man ihn überhaupt versteht.214 213 214

Zit nach: Joachim Riedl/Karlheinz Schmid: KUNST. A.a.O., S. 51. Joseph Beuys: Zur Aktion 7000 Eichen. In: d7, Katalog Bd. 2. Kassel 1982, S. 44ff. Hier S. 45.

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Entsprechend wäre eines der ersten Werk-Dekonstrukte, das silent work 4'33 von John Cage am Black Mountain College von 1952, gar nicht, im Nachhinein erst recht nicht mehr auszumachen. Dabei handelt es sich um ein 'Event' als "piece in three movements during which no sounds are intentionally produced. [...] David Tudor sat at the piano for four minutes and thirty three seconds, moving his arms three times".215 Erst die Namensnennung John Cages in Verbindung mit der Zeit- und Ortsangabe macht dieses Nicht-Ereignis zur kunsthistorisch relevanten Position, die diskutierbar wird, über die so erst überhaupt gesprochen werden kann. Zeit-räumliche Feme, die zur Definition herangezogene Charakteristik der Aura, resultiert aber auch aus jener Doppelsträngigkeit des Begriffs Ferne, der ja nur Sinn macht im Bezug auf die Positionierung zweier Koordinaten, des Künstlers und des Betrachters, zueinander. In 'Wilson' kongruiert die Gesamtheit seiner Arbeiten, die sofort den Hintergrund jeder neuen Produktion bilden. 'Der neue Wilson1, der Parzifal, den die Hamburger Oper gerade auf dem Spielplan hat, ist schon Kunstwerk, noch bevor man ihn gesehen hat. Diesem Namen steht die Hamburger Oper für die Erarbeitung einer Inszenierung - Parzifal - zur Verfügung - und das, obwohl man seit reichlich 20 Jahren nicht so sicher weiß, was es ist, das von dieser Aura-Größe hervorgebracht wird. Die Aura Wilsons macht dann unerhörte Eintrittspreise schon bei den Haupt- und Generalproben zulässig, die als Vorpremieren gehandelt werden. Es ist nicht mehr das Werk, an dem noch heftig geprobt wird, das als auratisch.es rezipiert wird, es ist das Wissen um die gemeinsame, auratische Autorschaft noch der unvollständigen und entrücktesten Wilson-Arbeiten, die solche Praktiken zulassen.216 Damit aber wird die ferne Nähe der Aura als reales Kriterium zur Kategorisierung des Neuen für die Erfahrung paradox. Marlene Stoessel ist zuzustimmen, die dieses Phänomen bereits aus dem Aura-Begriff Benjamins ex215 216

Roselee Goldberg: Perfonnance Art. A.a.O., S. 126. Bezeichnend ist hierfür zum Beispiel der spontane Einbau Christopher Knowles' an einem der ersten Aufführungsabende in The Life & Times of Joseph Stalin, B AM, 1973. Wilson berichtet: "I was doing 77t« Life & Times of Joseph Stalin at BAM and Chris happened to be coming to New York the first weekend of the performance so I invited him to come. His mother brought him backstage to my dressing room just before the beginning of the performance and I asked him if he'd like to be in the opera tonight? He didn't say anything. [...] I asked him several times. His mother wanted to know what he would do. I said I didn't know. His mother said: 'He can be in the play but not for very long'. So I took Chris by the hand and we went out in front of the house curtain and I said, Emily likes the T.V. Em. Em. Em.' [Knowles: ] 'Em. Em. Em. Emily likes the T.V. Because Emily watches the T.V.[...]'Em. Em. Em. Emily likes the T.V.' [Wilson: ] We went on that way together. We did another dialogue later in Act One and then his mother said it was time for Chris to go home and go to bed." Robert Wilson in: Laurence Shyer: Robert Wilson And His Collaborators. A.a.O., S. 71f. 157

trahiert hat und die daraus den Schluß zieht, daß Aura nicht eine tatsächliche Erscheinung sein kann, sondern einen Vorstellungsinhalt, eine Angelegenheit der Rezeption meint. Aura ist also ein Wissen, nicht eine Eigenschaft des erlebten Produktes. So wie die Feme angewiesen ist auf ein Objekt, an dem, durch das, als das sie erscheint, ist sie selber qua Erscheinung zugleich auch verwiesen auf ein Subjekt, dem sie erscheint. Da wiederum die gegenständliche Erscheinung der bloßen Anschauung bleibt, was sie ist, kann die Erscheinung einer (zeitlichen) Feme an einem empirischen Gegenstand, die Erscheinung eines Gegenstandes als zugleich anderer, nur in der Wahrnehmung des Subjektes begründet sein. Im strikten Sinn ist die Aura darum nicht ein äußerlich Erscheinendes, sondern nur als Vorstellungsinhalt möglich. [...] Entgegen anthroposophischer Auffassung bezeichnet daher Benjamins Aura nicht eine konkret wahrnehmbare Erscheinung, sondern [...] eine Erfahrung. [...] Die Erfahrung der Aura bezeichnet daher eine spezifische Form der Wahrnehmung, die man alsTCesetzung1,als 'Projektion' beschreiben könnte.217

Begreift man Stoessels Begriff der 'Projektion' vor der Folie des hier skizzierten In-Formationsbegriffes, so wird deutlich, daß der Kunstdiskurs die Objekte, die von ihm als in-formierte gehandelt werden, nur 'sprechend' machen kann, wenn ihrer In-Formation die Aura der Autorfunktion - verabredungsgemäß pojiziert - beigestellt werden kann. Kunst-In-Formation in der Postmodeme braucht die ferne Nähe eines Urheber-Namens, damit sie im Reflex auf eine mentale Selbst-Orientierung des Rezipienten, als cognitive mapping, wahrgenommen werden kann. Diese Auratisierung der Autorfunktion, deren Vollendung nun zu erleben ist, setzt nicht erst mit Robert Wilson ein, sondern ist markant für die Bildende Kunst der Nachkriegszeit, vor allem dann ab etwa Mitte der 60er Jahre mit den Kunst-Tendenzen: Pop-, Land-, Minimai-Art und Performance-HappeningKunst zu konstatieren. Die Auratisierung des Künstlers ist es ab dann, die eine Produktion als zum Kontext Kunst gehörig ausweist. Die materialen 'Spuren', die Kunst hinterläßt, etwa die Bahnen Nitschs und Yves Kleins, die Quader Don Judds, sind als 'Werke' nur noch erkenntlich, weil ein auratisierter Künstler-Produzent auf sie verweist, dem die distanziert-involvierte Fähigkeit zur adäquaten Brechung der Gegenwart im Spiegel eines sich der Kunsthistorie verdankenden Kontextes zuerkannt wird. Ohne diese Auratisierung des Künstlers durch den Kunstbetrieb, der für die Kunsthaftigkeit seiner Produktionen einsteht, wäre Kunst sonst - über den Appell an den Rezipienten und ihre Verankerung in dessen kognitive Kompetenz - die völlige Untermischung ins Leben gelungen. Wilson kann also auf den interior screen (s.u.!) seiner Zuschauer setzen nur, weil er als eindeutig identifizierbarer Inhaber der Autorfunktion als Kunst 217

Marleen Stoessel: Aura. A.a.O., S. 46

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die divergierenden, nicht zu bestätigenden Prozesse, die sich auf diesem Schirm abzeichnen, wieder auf sich zurückbindet. Das kognitive, intime Erlebnis der Theaterarbeit Wilsons kennt vorab die auratische, konstante Referenzgröße der Künstlerperson Wilson, die es zur Kunst erst macht. Unabhängig davon ist sicherlich die Technik zu betrachten, die Wilson aufwendet, um das Kunst-Signal seiner Produktionen selbst intakt zu halten: gemeint ist die inzwischen extreme Behauptung der absoluten Distanz zwischen Zuschauer und Produktion mittels der Betonung des Guckkastens, des eigenständig artifiziellen Einsatzes von Licht, der gewaltsamen Setzung von hypertrophierten geometrischen Grundformen als ülusionszerstörern, den portablen Mikrofonen und der Verlangsamung der Bewegungen zu somnambulem Leben in einem raumgestalteten Szenario. Allerdings betreibt das, was sich so sehr und so angestrengt als 'Werk' gibt, dessen Auflösung. Tatsächlich steckt hinter aller bemühten Künstlichkeit zuallererst die ungefilterte Wirklichkeit selbst. Die Theaterproduktionen Wilsons thematisieren über die Weise ihrer Hervorbringungen auch die Reflexion über ihre Hervorbringung. Der Akt des Verweisens ist Rückkopplung des Denkens auf sich. Wilsons "Werke1 sind mithin mentale Ereignisse, gestiftet von einer aura-projizierenden Rezeption, die, als eigentlich produktiver Teil des Diskurses Kunst, erst rezipierend herstellt, was sie als vorgestellt anzutreffen erwartet. Tatsächlich gestattet diese Um-Besetzung des Erfahrungsgegenstandes der Aura, die sich - wie Stoessel ja anmerkt - einer Projektion des Betrachters verdankt, größtmögliche Freiheitsgrade der Kunsterfahrung bei der Rezeption von "Werken1. Durch die Aura der Autorfunktion an sie herangeführt, werden sie als Raum-Kunstwerke des cognitive mapping jetzt erst recht Gegenstand der Auseinandersetzung.

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V. Der Tanz des Schamanen1 Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön. Goethe, Faust I

Die Theaterkritik und -forschung quittierte Wilsons Produktionen bislang mit recht blumigen, bisweilen Daseinshorizonte2 umspannenden Worten. Doch zeigt sich Wilsons Kunst - im Spiegel der Kritik - als ein changierendes Chamäleon und mithin schon längst als das, was daraus gemacht wird. So konkurrieren miteinander unvereinbare Meinungen: Stefan Brecht vermutet, daß Wilson immer nur sich selbst auf die Bühne bringe oder gebracht habe;3 je nach Gusto läßt sich diese Vermutung der Original-These von John Rockwell subsumieren, der es fertigbringt (in dieser Zuordnung!) Wagner mit Wilson zu vergleichen: "Like Wilson, Wagner was an original."4 Dazu mag der Epigonen-Verdacht, den Peter Iden gegen Wilson hegt, allerdings genauso wenig passen wie der Beliebigkeits-Vorwurf, den Günter Rühle den Stücken ge-

"The effect was that of a shaman performing a ritual." Libe Byrak über Wilsons Tanz in der Soloperfonnance: Baby [i.e. Baby Blood (An Evening with Baby Byrd Johnson and Baby Blood, Spring Street] von 1967. Zit. nach: Stefan Brecht: The Original Theatre of the City of New York. A.a.O., S. 32. "Bodies and persons emerged as the impenetrable holy objects they really are [...] Wilson demonstrates [...] that profundity and holiness re-enter the theatre through the proper articulation of the landscape aspect of the drama." John Perrault: Art. In: Village Voice. 1. Jan. 1970 [zu The Life & Times ofSigmund Freud]; "Most societies, from tribal to traditional Islamic, Christian, Buddhist etc., have built into them the ability to transcend through ordinary action. [...] As Robert Wilson said to me, even sweeping the floor can be like this, but in fact, for most people it is not. [...] The Byrds [...] are experimenting with possible numinous actions. This is the main purpose of their slowing everything down: to extract from it all the light it holds, light which for us is lost in the rush." Peter Wilson: The Seven Storey Mountain of Love. In: 6th Festival of Arts / Shiraz, Persepolis. (Veranstaltungsprogramm vom 8. Sept. 1972). The images "are [...] the sublimating materialization of imagination: what Wilson sees made visible to us. [...] They are not signs at all. They are Wilson, shaped up to show forth. In them, Wilson makes himself visible, tho' neither as man nor as producer of theatre, but as a reflective conflux of imaginary. That this iconography, the markings of an individuality, may denote a personality, is, at least in Wilson's intention, incidental." Stefan Brecht: Theatre of Visions. A.a.O., S. 203. "Like all great innovators of the theater, Robert Wilson is a bona-fide original. [...] Great originals manifest such a powerful artistic personality that influences are subsumed to them." John Rockwell: Robert Wilson's Stage Works. Originality and Influence. In: The Contemporary Art Center, Cincinnati; The Byrd Hoffman School of Byrds (Hg): Robert Wilson. The Theater of Images. New York 1984. S. 10 - 31. Hier: S. 10. [Beide Stellen].

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genüber geäußert hat.5 Wilson und Wilsons Kunst machen es den Berichterstattern allerdings auch nicht leicht. Die Konzentration auf reine Bildhaftigkeit, die Zerdehnung von Zeit, der Verzicht auf Narration, auf Herausbildung, Kontinuität und Motivation von Handlung, sowie die Unvermitteltheit der Bühnen-Charaktere hebeln die gewohnten Standards der Bühnenkritik6 aus und zwingen die Rezeption in den Schwitzkasten der Wahl zwischen bloßer Nacherzählung des anfangs-, end-, uferlos Belanglosen7 und der interpretatorisch-deskriptiven Überbietung der Produktionsereignisse - zuweilen in Wortschäumen8. Im deutschsprachigen Diskurs-Raum ist deshalb über das Ereignis Kunst, das Wilson inszeniert, an Erkennbarem gegenwärtig kaum mehr auf dem Markt als Aufführungs-Bilderbücher - etwa das der Zeitschrift 'Parkett'9 voller perfekt-perfide arrangierter Hochglanz-Photos. Robert Wilson hat seine Weise der Aufbereitung des Materials, die dieses Kritiker-Dilemma bewirkt, oft beschrieben. Nirgendwo jedoch so komprimiert wie in den Besprechungen zu dem Kölner Teil der CIVIL \varS: Zuerst machte ich, eher willkürlich, eine Struktur, etwas aus fünf Akten. Ich weiß nicht genau, wieso fünf, aber fünf war die Entscheidung. Dann unterteilte ich die Akte... [...] Und dann, ohne den Inhalt des Textes oder des optischen Buches zu kennen, arbeitete ich ausgehend von diesem Diagramm. Dann habe ich Diagramme gezeichnet und in meinem Peter Iden: Death of a Thief. In: Theater heute. Nr. 4 /1979. S. 14; Günther Ruble: Die Vision ins Nichts. In: Theater heute. Nr. 4 / 1979. S. 6ff. Hier: S. 4. Nur um zwei Beispiele für die Überforderung auch der mnestisch Kompetenten zu nennen, sei einmal auf Bonnie Marrancas Deutung des Letter for Queen Victoria verwiesen, die nach detaillierter Auflistung der Bühnenvorgänge mutmaßt: "Queen Victoria is an exercise in the sharpness of sense perception. Wilson seems to ask: How many of the audience can remember, speeches, situations and themes carried from one act to another?" B. M. (Hg): The Theatre of Images. New York 1977. S. 42. Für Günther Ruble schien dagegen erwiesen zu sein, daß im Theater Roben Wilsons "die Rezeptionsfähigkeit auch des gebildeten Publikums [sie!] für verborgene Inhalte überschritten ist." G.R.: Die Vision ins Nichts. In: Theater heute, Nr.4/1979, S. 9. "The rest of the piece was quiet and pastoral. [...] Bob seamed like he was making an elaborate survey, but he wasn't doing anything with a practical purpose that I could see. A bunch of keys, a toothbrush, and a sink-stopper dangled from his waist. His progress was stop and go in a spastic rhythm." Jill Johnston: Byrd woMAN. In: Village Voice v. 7. Nov. 1968. "It is in another language, one that has its meaning on another level than this one I'm playing with at the moment. It's a slow steady language, it's content accumulated through years of work and is elusive as any esoteric communication. It's a projection of Wilson's head. [...] What Wilson is making is mysteries." Michael Smith: Theatre Journal. In: Village Voice v. 20. Dez. 1973; Franco Quadri wird von einem "Wilsonianismus1 als einer neuen Kunstrichtung sprechen. Franco Quadri: Roben Wilson oder die Entdeckung der Zeit. In: Schauspiel Köln (Hg.): The CIVIL warS. Die Kölner Aufführung. Frankfurt 1984. S. 18. Vgl.: Parkett. Schweizer Kunstzeitschrift in deutscher und englischer Sprache. Nr. 16. Zürich, Mai 1988. 161

Apartment [...] babe ich die Wände mit Papier bedeckt und angefangen, Zeichnungen und Skizzen zu machen, wie die Bühnenbilder aussehen würden, und ich bekam eine Serie von Zeichnungen, die die Struktur ausfüllten. [...] Es war nichts, das eine Geschichte erzählte, aber etwas, das abstrakt, graphisch sich zusammenfügte. Und dann, losgelöst davon, habe ich einen Text geschrieben, ohne an einen bestimmten Inhalt zu denken. Ich nahm Worte, die ich die Leute auf der Straße sagen hörte, in Restaurants, in der U-Bahn, in Taxis, im Radio, im Femsehen, ich hatte Bruchstücke von Gedanken und Ideen und all das hatte ich auf Karteikarten, ich legte die Karten auf den Fußboden und ordnete sie und schnitt sie aus und ließ sie abtippen. Und dann nahm ich die Zeichnungen von der Wand und setzte auf ähnliche Weise Texte zusammen zu einer akustischen Struktur.10

"My head becomes like a T.V.", schreibt er an anderer Stelle, "I keep a television on at low volume and I incorporate phrases I hear into my text [...] leaving it untouched and in its original order once the words are on the page."11 Denn "vor dem Inhalt und allen anderen, mehr literarischen Ideen betrachte ich die Sache eher abstrakt."12 Darum kann Trevor Fairbrother nach Einstein On the Beach das Dargebotene denn auch nur im Befund vom formvollendeten, hermetischen Kunstwerk 'retten1: "Zwar [war] vom Erzählerischen her überhaupt nichts klar als Dichtung aber war das Ganze vollkommen und in sich geschlossen."13 Handelt es sich deshalb nur um eine polierte Oberfläche, deren Präsentation Kritiker Bekanntes ["keine Fremdheit"] in "vertrauter Unscharfe [!]" erleben läßt, ein "akribisches Exerzitium", das nicht mehr entwickelt "als eine Aura der Kälte",14 die zu erzeugen jedoch einer "Beschwörung irrationaler MärchenÄngste, [der] gefühligefn] Feier der Bewußtlosigkeit, [dem] Triumph einer mit ihrer Kälte kokettierenden 'reinen' Ästhetik"15 gleichkommt? Ohne Seelenschründe und Kälteaura, dafür weniger (vertraut) unscharf erscheint Wilson in den frühesten Besprechungen. Gynter Quill, Lokalredakteur des Waco News Tribunes, vermag sich in seinen Reportagen, die seit 1965 die 10

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Robert Wilson: the CIVIL warS - a construction in space and time - ein Gespräch. In: Schauspiel Köln (Hg): The GIVE, warS. A.a.O., S. 41-55. Hier: S. 41f. Robert WUson: ...I thought I was hallucinating. The Drama Review 21/1977. S. 76. Robert Wilson: the CIVIL warS - a construction in space and time - ein Gespräch. A.a.O., S. 43. Trevor Fairbrother: Überdehnt Robert Wilson's Einstein-Chair. In: Parkett. Nr. 16, Mai 1988. A.a.O., S. 83. Alle Zitate: Michael Merschmeier: Menschen, Tiere, Sensationen. Robert Wilson's CIVIL warS - des Monsterprojekts zweite Etappe im Schauspiel Köln. In: Theater heute, 3/84, S. 26. Reinhard Kill: Robert Wilson's CIVIL warS in Köln. Visionen eines Guru. In: Rheinische Post, Nr. 18 v. 21. 01. 1984. S. 16. Siehe auch: "wen die Ritualisierung von Ausdrucksformen nicht überzeugt, den wird lediglich Langeweile überkommen." Amine Haase: Auf der Suche nach vergessenen Träumen. Beobachtungen bei den Proben zu CIVIL warS. In: Kölner Stadtanzeiger Nr. 11 v. 13.01.1984, S. 32.

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Aktivitäten des wohl berühmtesten Sohnes der Stadt begleiten, lediglich zu (s)einem lakonischen "Robert Wilson is News again" durchzuringen.16 Dennoch lassen sich zwei Hauptströme des internationalen Redeflusses des Diskurses über Wilson ausmachen. Der eine umspült - so oder so - das Gegebene: Man beschreibt die Produktionen und läßt, wo der Erkenntniswille auf Grund läuft, den Meisterkünstler selbst zu Wort kommen. Es ist diese objektverhaftete Zugangsweise, die in dem oben angedeuteten Dilemma steckt. Die andere, wesentlich ergiebigere, benutzt die Produktionen jedoch als Schleuse zu eigenem Wissen. Und erfährt Kunst so als ein Erlebnis kopoduktiver Partnerschaft.

l. Das (Ge)Redevermögen des Kunstbetriebs Es wird erschreckend still. [...] Es wird noch stiller. Mr. Wilson ist da.17

Der bekannte unbekannte Meister Im Februar 1991 erscheint in dem amerikanischen Magazin Time1 ein Artikel zu Person und Werk Robert Wilsons. Sein Autor, William A. Henry III, ist sich der Tatsache bewußt, daß der Bekanntheitsgrad Wilsons in den USA nicht annähernd an den in Europa und Asien heranreicht und sieht sich daher genötigt, den Künstler und die Charakteristika seiner Produktionen noch einmal vorzustellen. He stands apart from the traditions of realism, naturalism and what might be called the theater of empathy. [...] Wilson does not wish to be decoded: he wants the spectator to guess and to find meaning in the act of guessing.18

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Quills Berichterstattungen erfolgen kontinuierlich seit dem 30. Juni 1965 (über 'Modern Dance') im Waco News Tribune; sie enthalten lediglich Stations- und Produktionsannoncen, jedoch keine Deutungsansätze zu den "unconventional plays", allenfalls würdigendes Lob und "much credit for the sheer ambition of his company". So zu KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE: Gynter Quill: Robert Wilson Is News Again. Waco News Tribune. 11.09.72. Sn: 2-W5. Christel Weiler: Das Stück ist so verdammt einfach, darum ist es so schwer zu machen.' In: Theater heute, 12/1985 S. 33ff. Hier: S. 35. William S. Henry : Home Is Where the Art Is. Robert Wilson, the most famous American director in Europe tries again to be 'understood' back in the U.S. In: Time (International Edition) No. 8, Feb. 25,1991. S. 70.

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Interessant ist an diesem Artikel, daß er den "most famous american director in Europe" einem amerikanischen Lesepublikum erneut annoncieren muß, obwohl Wilsons künstlerische Wurzeln in Amerika liegen und andere Kontinente vor etwas mehr als 20 Jahren19 auf ihn überhaupt erst aufgrund seiner New Yorker Karriere aufmerksam wurden. Tatsächlich hat Wilson seit dem Debakel von 1984, dem Jahr, in dem seine CIVIL \varS wegen Geldmangels in den USA, Los Angeles, nicht aufgeführt werden konnten, lediglich vereinzelte Gastspiele von 'europäischen' Produktionen in den Staaten gegeben20 und ist deshalb anscheinend schon nicht mehr Verhandlungsgröße erster Wahl im schnell-lebigen, -vergessenden,21 in erster Linie rein kommerziellen amerikanischen Theater-Kunstbetrieb. Der heimische Diskurs weiß seinen Wilson nicht mehr, während der Theater-Diskurs in Deutschland ihn dagegen vielleicht bald nicht mehr wissen möchte. Und das macht die Sache spannend. Denn (die Aura) Wilson steckt augenblicklich in der Klemme. Auf die Formel gebracht hat das generelle Dilemma Marie Hüllenkremer, nach der Wilson im bundesdeutschen Feuilleton "vom Wunderknaben zum Prügeljungen"22 mutiert ist. (Erwachsen werden sah diese Richtung der Rezeption ihn dabei jedoch nicht.) In Deutschland wird der Diskursposition Wilsons nämlich neuerdings die gefährliche Nähe ihres Verfallsdatums bedeutet. Seitdem Wilson vorhandene Stoffe für seine Inszenierungen des Wissens adaptiert, bläst ihm ein kalter Wind aus dem Lager der Werkverfechter entgegen, also denjenigen, die an 19

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Die erste Arbeit Wilson's, die in Europa zu sehen war, war The Deafman Glance, April 1970, Nancy und Rom; von Mai bis Juli folgten diverse Aufführungen in Paris und Amsterdam. Es sind: CIVIL warS (American Production of the German Section), Loeb Drama Center, Cambridge, Feb.- März 1985; The Golden Windows, BAM (i.e. Brooklyn Academy of Music, N.Y.), Okt.-Nov. 1985; Hamletmachine, New York University, Juni 1986; Quartet, Loeb Drama Center, Cambridge, Feb.- März 1988; The Forest, BAM, Dezember 1988. Schnell-lebig deswegen, weil es umfangreichere amerikanische Veröffentlichungen zu Wilson und seinem Theater aus der jüngeren Vergangenheit gibt: etwa das 'Performing Arts Journal', das der Alkestis-Produktion 1986 ein detailliertes sogenanntes "casebook" gewidmet hat, das sich explizit an der "in-depth examination" dieses "unique theatre-event" interessiert zeigte: "The casebook will feature interviews with the creators, publication of textual documentation, illustration, and introductionary materials", heißt es im Editorial des Performing Arts Journal. 28. Vol. X., No. 1. N.Y. 1986. S. 78-115. Erwähnenswert, weil sicherlich auch noch nicht vor allzu langer Zeit in den USA erschienen ist in diesem Zusammenhang sicherlich der Katalog zu der von der Byrd Hoffman Foundation, Inc. arrangierten Ausstellung in Cincinnati, der ausführliche Hintergrundinformationen zu Werk, Person und Werdegang Wilsons, aber auch seiner School ofByrds lieferte. Vgl.: The Contemporary Art Center, Cincinnati; The Byrd Hoffman School of Byrds (Hg): Robert Wilson. A.a.O. Marie Hüllenkremer: Gespreizte Hände, gewinkelte Arme. In: Die Zeit. Nr. 14 v. 29. März 1991.

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eine Authentizität des über de-finite Form zu erreichenden Gehaltes glauben. Nach dem Hamburger 'ParsifaF von 1991, jener Wagner-Zerarbeitung Wilsons, etwa grübelt der Zeit-Kritiker Heinz Josef Herbort über der Frage: Was stimmt denn noch? [...] Nicht daß der Theater- und in Sonderheit der Opembesucher für autistisch gehalten werden müßte, der die Offenheit der Interpretation nicht verarbeiten kann. Aber vielleicht darf hier noch der Begriff des 'Werkes' herangezogen werden, der möglicherweise ein obsoleter, hoffnungslos antiquierter Standpunkt - dem Interpreten eine wie eindeutig auch immer gewählte Entschiedenheit, vielleicht sogar etwas wie 'Werktreue' abverlangt.2' Die Transmutation des 'Werkes' in die Hochauflösung des Denkens in der Postmoderne zieht natürlich auch die 'Werktreue' in ihren Sog. Solange noch am alten Werk-Begriff der Moderne und seinen qualitativen Erfordernissen und Mächtigkeiten festgehalten wird, muß Herborts Eingangsfrage ein schlichtes: 'Es stimmt nichts mehr!' beschieden werden. Weil intentional nun alles auf alles verweisen soll - und auch verweist, solange die Rezeption nur Geduld, Energie und Wissen hat, die Dinge aufeinander zu beziehen - verläßt der irritierte Zuschauer Wilson-Abende zwar angeregt, aber sonst in seiner Hoffnung auf Konfrontation mit bedeutungsvollem Werk enttäuscht. Damit aber kann man jetzt augenscheinlich leben. Und das ist ein gewichtiger zweiter Grund, den nur noch "lieben Bob"24 nicht mehr zu mögen. Denn A) man kennt nun die Rätsel, B) man bevorzugt dagegen die 'Bilder im eigenen Kopf (Henrichs), C) daher streicht man jeglichen Kunstanspruch und deklariert zur Revue, was einst verstörte. So sieht das Zentralorgan des deutschen Theaterkunstbetriebs, Theater heute, den den Nachkriegstheaterdiskurs so mysteriös illuminierenden Stern des Amerikaners nicht nur sinken, sondern gar schon geborsten. Roben Wilsons theatralische Mysterien sind, im Ganzen betrachtet, immer lesbarer und freundlicher, immer eingängiger und narrativer, immer kommensurabler geworden, als hätte das Scheitern der 'Bürgerkriege' [i.e CIVIL warS, B.G.] den Regisseur ein für allemal das Fürchten vor seinen eigenen Ambitionen gelehrt. Der stürzende Meteor des Menschheitspektakels ist in tausend bunte Theaterideen zersprungen, mit denen Wilson [...] die düsteren deutschen Bühnen überglänzt.25 "Spektakel ohne Kern" nennt Benjamin Henrichs die Black-Rider-Arbeit Wilsons von 1990, die für ihn "keine Seele - allenfalls ein kaltes Herz" habe, das 23 24 25

Heinz Josef Herbort: Ist der Kaiser nackt? Robert Wilson inszeniert Richard Wagners 'Parsifal1. In: Die Zeit, Nr. 14 v. 29. März 1991, S. 58f. Hier: S. 59. Andreas Kilb: Der Teufel und der liebe Bob. In: Theater heute, 6/1990 S. 4ff. Hier: S. 4. Ebd. 165

nur die "Gefallsucht" seines Urhebers, "seinen Kinderdrang, von allen, aber auch allen, geliebt zu werden"26 widerspiegele. Henrichs richtet den nostalgisch gefärbten Blick zurück auf Wilsons einstige, geheimnisreiche Größe, die er in der Gegenwart korrumpiert sieht zum "Terror der Nummernrevue". Aus dem "Spiel vom Fragen" seien nur noch "glitzernde Höhepunkte" in nahtloser Aufeinanderfolge geworden: Einstmals herrschte in Wilsons Theater die Leere, heute die Fülle. Heute wird der Zuschauer glänzend bedient, 'damals' wurde er leise gelockt. Einst hatte Wilson den Stolz des Propheten (eines Propheten ohne Botschaft), jetzt hat er die charmante Beflissenheit des großen Showmasters. Er läuft der Liebe des Publikums nach; statt seine Arbeit, seine Bilder zu machen, weit weg vom Lärm der Theaterwelt [...]. Wilsons Theater 'früher1 hatte manchmal das Zeitmaß einer anderen Welt. [...] Heute rast sein Theater selbstzufrieden auf der Stelle.27 Wilson macht eben 'seine Arbeit nicht mehr': es kann nun eine Form-Sprache zwar nicht verstanden, jedoch - vernommen werden, die den Bilder-Zauber des "texanischen Welt- und Mysterien theaters"28 zerstört. Die Folge von rätselhaften Ereignissen in Raum und Zeit wird nicht mehr als das Mysterien gebärende Zusammenprallen des Unvereinbaren erlebt, sondern als eben nur noch lose Folge. So ist dann gleich "das Furchtbare [...] zum Ornament, die [...] Formenwelt zur hübschen Formgebärde"29 degradiert. Es "tut [der deutschen Wißbegier einfach, B.G.] nicht [mehr] weh",30 mit einem akademisch ausgefeilten, zur Lesbarkeit tendierenden "Inszenierungsstil"(!)31 und nicht einem erwarteten, hermetisch verschlossenen Theater des Nicht-Wissen-Könnens konfrontiert zu werden. Das Sakrileg soll daran festzumachen sein, daß Wilsons Produktionen geradlinig, mutmaßlich narrativ oder nur noch schön geworden sind und sich nun in schon gewohnt mechanisch exekutierter Weise die 'tausend bunten Ideen1 zur Klarheit "sauberer Moderne"32 verdichten. Die Rätsel, an die die deutsche high-brow-Kntik. sich so hübsch gewöhnt hatte, sind nun als 'Stil' absorbiert. "Alle Wunder noch einmal?" fragt denn auch Benjamin Henrichs, der allein für die Konstanz an Präzision, Qualität und Witz seiner Polemiken gegen Wilson einen Journalisten-Preis verdient hätte. 26 27 28

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Benjamin Henrichs: Der bunte Reiter. Robert Wilson triumphiert - und verkauft dafür seine Seele. In: Die Zeit, Nr. 15 v. 6. April 1990. S. 65f. Hier: S. 65. [Alle Stellen]. Ebd. S. 66. [Alle Stellen]. Ebd.

Andreas Kilb: Der Teufel und der bebe Bob. A.a.O., S. 4. Ebd. S. 4. Ebd. S. 5. Jürg Stenzl: Neutralisierter Lohengrin. Robert Wilsons Wagner-Inszenierung in Zürich. In: SZ, Nr. 222 v. 25. Sept. 1991. S. 13.

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Und Keith Jarrett spielte wieder Klavier, und auch die Tiere waren wiedergekommen. Die beiden Saurier (der große und der kleine) leider nicht. Aber ein Panther war da, ein Drache und eine riesige, weiße Spielzeugmaus. Sie drehte ihren schweren Kopf ins Licht, ihre roten Augen glühten - und aus. Obwohl das Publikum jauchzte, kam sie nicht wieder, die Maus. Und wieder saß man bis Mitternacht im Theater, und wieder hörte man am Ende dieselben sonderbaren Sätze: 'das sind meine walnüsse / ich spiele mit ihnen / wenn ich gehe / das hilft beim denken.'33 Tatsächlich aber sind die abmahnenden Kritiker trotz der Dauersteuerkartenplätze in der ersten Reihe über die Jahre hinweg keinen Deut schlauer aus dem Theater Wilsons geworden. Der Kunstbetrieb, der Diskurs, dem Wilson seinen internen Ort verdankt, behauptet sich aber auch in seinem Nicht-Erkennen und darum nun gegen ihn. Gerügt wird der weiterhin unverstandene Perfektionismus der großkaliberigen Rätselmaschine, die genau deshalb ins Kreuzfeuer der Kritik gerät, weil man zuviel schon über sie - nicht aus ihr! - weiß. Der deutsche Kunstbetrieb verfügt jetzt eben über seine Produktionserwartung an Wilson, ein Wissen, das er mit jedem theatral präsentierten Rätsel nur noch bestätigt sieht. Gewiß ist die Sonderbarkeit. Man erklärt in der Wiederholung zum Ornament, was einst das Furchtbare in der Form gewesen ist, versammelt die Wunder im Duplikatenzoo und bemäkelt die Gebärde schon als Gebärde, obwohl und gerade auch weil deren Intention - verabredungs-, also diskursgemäß - weiterhin undurchschaubar bleibt. Insofern kritisiert sich die Kritik - als Kritik eigenen Wissens - selber. Jedoch, weil es der Diskurs ist, der die Dinge macht, wird diesem geheimnisklaren Wilson das von ihm produzierte Wissen nun zum Verhängnis. Es ist Werner Burkhardt, der die sich einstellende unaufgeregte Erschütterungslosigkeit, jenes interesselose Wohlbehagen im sattsam Bekannten, auf die, wie es scheint, nun kursierende bundesdeutsche Faustformel zum Theater Wilsons gebracht hat. Wenn alle Geschehnisse so vorsätzlich verrätselt sind, so hermetisch wie kokett alle Interpretationen von sich weisen, immer Fragen nur aufwerfen und nie beantworten wollen, erliege ich von Zeit zu Zeit der Versuchung, mit Miles Davis 'So what?' zu sagen.34 'So what?' Dabei war man mehr als ein Jahrzehnt lang wegen dieser schönen Nichtigkeiten in die 'Großen Häuser' der Republik geströmt, um anschließend ganze Gazettenseiten mit Erlebnisberichten zu füllen. Die Irritation des 33

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Benjamin Henrichs: Die ästhetische Riesenmaus. Roben Wilson versucht an der Berliner Schaubühne die Fortsetzung einer Theaterlegende. In: Die Zeit, Nr. 11 v. 6. März 1987. S. 66. Werner Burkhardt: In Schönheit stirbt die Blues-Frau Bessie Smith. 'Cosmopolitan Greetings' von George Gruntz, Robert Wilson und Rolf Liebermann in Hamburg. In: SZ, Nr. 135 v. 14. Juni 1988. S. 10. 167

Gewußtseins35 war vollkommen. "Individuelle Erinnerung ist die Tiefenstruktur für eine mögliche (aber nicht notwendige) Erkenntnis der Abläufe. Noch 35

In diesen Neologismus sollen sowohl Bewußtsein als auch das TJnbewußtsein' fließen, das Wilson nach Meinung mancher Rezensenten auf die Bühne bringe und damit in eine surrealistische Tradition rücke. Bigsby etwa spricht von einem 'New Surrealism of the 1960s', zu dem Wilson aufgrund seines "desire to generate images through juxtaposition and to liberate the marvellous from the prosaic" gehöre. (Christopher Bigsby: A Critical Introduction. A.a.O., S. 186) Es soll nun hier nicht diskutiert werden, inwieweit die surrealistischen 'Konfrontationen eines Regenschirms mit einer Nähmaschine im Operationsaal' tatsächlich Unbewußtes zu Tage gefördert haben. Formal sind sie Kombinationen von Wissensbestandteilen in für sie fremden Kontexten. Insofern könnte man den Surrealismus durchaus als homologen Vorläufer der Kunst Wilsons bezeichnen. Auch er strebt das authentische Denken an, jenen "automatisme psychique pur, durch den die wirkliche Tätigkeit des Denkens, frei von jeglicher Kontrolle und frei von jeglicher ästhetischen oder moralischen Befangenheit dargestellt wird." (Manifest des Surrealismus (Breton) 1924. ZU. nach: Tilo Schaben Gewalt und Humanität. A.a.O., S. 293) Tatsächlich aber ist dem Surrealismus noch jenes moderne Vertrauen ins Werk eigen, das die Kraft besitzen soll, auf seinen Gehalt zu verweisen. Die Erfahrungskunst Wilsons aber ist ihr Gehalt als Realität. They are what they are', hat Phil Glass konstatiert und Bigsby selbst erkennt: "They are [...] not about experience. They are experience." [Bigsby: Critical introduction. A.a.O., S. 170]. Auch wenn Aragon - im berühmten Brief an Breton (s.u.!) - The Deafman Glance als Einlösung seiner surrealen Intentionen begreift, kann Wilson nicht in die direkte Nachfolgschaft dieser Tradition gestellt werden, da hier Wissen selbst zur Aufführung gebracht wird: es mag auch das averbale Wissen des taubstummen Raymond Andrews, das sehr real ist, in The Deafman Glance sein. Analog ist mit Überlegungen zu Gesamt-KunstwerkTheorien zu verfahren. Die intendierte Aufhebung der Differenz von Kunst und Leben und deren Synthese zu einem einheitlichen Weltganzen auf einer Ebene, die nur über Werke der Kunst zu erreichen ist, ist von Bazon Brock zu Recht als letztlich hypothetisches Postulat und Gedanken-Konstrukt ausgemacht worden. "Ein Gesamtkunstwerk ist nicht seine eigene Verwirklichung, sondern ein Postulat in Gestalt des Gesamtkunstwerks, das gegen alle historische Erfahrung und prinzipiellen Einwände dennoch aufrecht erhaltene Postulat, die Welt als Einheit zu verstehen und das eigene wie das Leben der anderen auf diesen Zusammenhang hin auszurichten." (Bazon Brock: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. In: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. Katalog zur Ausstellung in Zürich, Düsseldorf, Wien. Februar - November 1983 S. 25) Ein 'Gesamtkunstwerk1 existiert demnach als komplettes, reales 'Werk' ebenso wenig wie die "Werke* Wilsons. Dennoch gilt - etwa für Georg Fuchs -, daß die "Überwindung der rohen, häßlichen Materie durch den Machtwillen des Künstlers mit dem Ziel der qualitativen Änderung, also Veredelung, der Materie und des Lebens" [Lenz Prütting: Die Revolution des Theaters. Studien über Georg Fuchs. München 1971 (= K. Lazarowicz (Hg): Münchener Beiträge zur Theaterwissenschaft. Bd. II) S. 86] ganz der Suggestions-Kraft der von Künstlerhand zu Werken destillierten Urgewalten, also einer intakten Oppositionskunst anvertraut wird. Von ihr soll die Eröffnung "unendlich vertiefter Perspektiven in die Unendlichkeit der Lebensmöglichkeiten und in die nun triumphierende Harmonie des Lebens" ausgehen: sie ist der präsumtive Auslöser für das erstrebte Gesamtkunstwerk und muß als solches noch jedes andere Werk als Über-Werk überbieten. "Jedes Drama, welches unsere Seelen dahin bringt, ist echte dramatische Monumentalform." [Fuchs: Die Schaubühne der Zukunft. Berlin und Leipzig 1905. S. 104].

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darf man 'dümmer1 sein als das Sichtbare - und genießen.36 Genossene Ratlosigkeit scheint auch das Resultat beim 'Zeit-Raddatz' gewesen zu sein: "Dieses Theater interpretiert die Welt nicht mehr, es entwirft schleierhafte Bilder von ihr - und ertränkt sie sogleich im Nebel der Schönheit."37 So setzt schon zu Beginn der deutschen Rezeption nach Death, Destruction & Detroit (I) im Februar 1979, Berlin,38 eine kontrovers geführte Diskussion um dieses Phänomen ein. Nicht nur ehrfurchtsvolle Bewunderer findet die Theaterkunst Robert Wilsons, sondern - von Anfang an - auch erbitterte Gegner. Peter Idens Urteil ist radikal: Für die Sprachlosigkeit seiner Veranstaltungen beruft sich Wilson auf den allgemeinen Sprachverfall [...]. So reproduziert er in Dialogfetzen Fragmente banal-dramatischer Situationen des Alltags [...]. Es soll daraus in gleichsam einem einzigen Augenblick [!] ein Konzentrat ungezählter Tragödien oder Glücksfälle des Lebens entstehen. Doch was entsteht wirklich? Eine kalte, höhnische, hoffnungslose Absage an jede [...] Möglichkeit von Sprache selbst. [...] Es kann aber kein Theater geben ohne ein [...] Vertrauen auf die Verbindlichkeit von Wörtern. [...] Am Ende haben wir nichts anderes als Sprache und müssen sie gebrauchen. Die vollständige Negation von sprachlichem Zusammenhang negiert nicht nur das Theater: sondern auch unsere Möglichkeit zu leben. [...] Was sich als äußerste theaterästhetische Position behaupten möchte, ist tatsächlich das durch organisatorisches Geschick in das Zentrum des Kulturbetriebes lancierte Epigonentum.39 Vielleicht ist es genau das, was Peter Iden an diesem Abend erfahren mußte: Daß es - außersprachlich vermittelt - diese Möglichkeit 'zu leben', die Möglichkeit eines ausschließlichen 'Vertrauens auf die Verbindlichkeit von Wörtern', mit denen sich intakte Werke artikulieren, für die Postmoderne nicht mehr geben kann. Gegen Iden stellt A. Wirth Wilsons Kunst als einen hermetischen, selbstgenügsamen Diskurs vor, "so daß man nach dem Epilog wieder den Prolog spielen könnte, ohne die Kohärenz des Stückes zu gefährden."40 Demgegenüber versichert wiederum Ellen Levy, daß "Wilson Geschichte [beschwöre, sie!] durch das Zitieren ihrer herausragenden Persönlichkeiten und 36 37 38

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Michael Merschmeier Menschen, Tiere, Sensationen. A.a.O., S. 22ff. Hier S. 25. F.J. Raddatz: Die Aufklärung entläßt ihre Kinder. In: Die Zeit. Nr. 27 v. 29. Juni 1985 S. 9. Death, Destruction & Detroit (I) muß als erste große, für eine bundesdeutsche Bühne Hallesches Ufer - konzipierte Produktion bezeichnet werden, die gleichwohl nicht den Beginn der Theaterarbeit Wilsons in Deutschland markiert. Wahrgenommen - aber auch nur das - wurde Wilson bereits nach der Solo-Performance To Street: One Man Show, Bonn 1975, den Gastspielen von Einstein On the Beach, Hamburg: Deutsches Schauspielhaus (Okt. 1976); / was sitting on my patio this guy appeared I thought I was hallucinating (= in Folge: / was sitting on my patio...) (mit Lucinda Childs), Berlin: Theater des Westens und Stuttgart· Württembergisches Staatstheater (Juni 1978), sowie Dia Log/Network (mit Christopher Knowles), München: Münchner Theaterfestival (Okt. 1977). Peter Iden: Death of a Thief. A.a.O., S. 14. Andrezej Wirth: Bob Wilsons Diskurs des totalen Theaters. In: Theater heute. Nr. 4/1979. S. 14. 169

historische Zeit mit dem langsamen Tempo und der ungewöhnlichen Länge seiner Stücke [evoziere, sie!]."41 Ellen Levy scheint keines dieser Stücke gesehen zu haben. Denn sonst hätte ihr auffallen müssen, daß das Individuum, das sie in privilegierter Stellung wähnt, in Wilsons Arbeiten niemals den Gegenstand szenischer Konzentration oder gar historischer Auseinandersetzung bildet. Helmut Schödel gesteht ein, daß er darum die "Nacht nach dem Ereignis [i.e. Alkestis, Stuttgart 1987] schlaflos verbrachte]", weil in Wilsons und Müllers Welt ohne Subjekte, in der Menschen und Stimmen immer anonymer werden, [...] nur noch ab und an monolithisch einzelne Worte [herausragen]. [...] Ansonsten sind die Geräusche der Welt deutlicher als die Sprache der Menschen.42 Darum nennt er die beiden Urheber dieses Stücks "zwei wahre Monster". Den akzeptablen, zugleich auch kleinsten gemeinsamen Nenner für alle WilsonAnalyse hat Erika Fischer-Lichte gefunden. Für sie ist Wilsons Bühnen-Kunst "weder das Resultat eines bedeutungserzeugenden Prozesses, noch der bedeutungserzeugende Prozeß selbst", sondern vielmehr "das Resultat von Dekonstruktionen und andererseits diese Dekonstruktionen selbst."43 Hans-Thies Lehmann faßt die Nicht-Dechiffrierbarkeit der Bedeutungen und Sinngehalte von CIVIL warS ebenfalls keineswegs als tatsächlich bloße Sinn- und Bedeutungs-Leere auf, sondern als planmäßige Subversion aller gewohnten Kategorien des Theaters. Er räumt allerdings (zu Recht) ein, daß auch diese Auslegung dem Angebot zur Eigen-Semantisierung abgewonnen ist, die darum 'einzig als Fiktion der Auslegung' deklariert werden muß. Er stellt fest: Die Veikennung jedenfalls, hier werde gar nichts ausgesagt oder mitgeteilt, löst sich auf, wenn Bedeutung als etwas verstanden wird, das unter der Kette der Signifikanten 'flottiert', vom Gesamtprozeß hergestellt wird [...]. Dann erweist sich Wilsons Praxis in der Tat als dekonstruktiv: nicht bloßes Ignorieren oder nur abstrakte Negation von Sinnstrukturen, sonderen deren planmäßige Subversion. (Es bedarf nicht eigens der Betonung, daß diese Intentionalität einzig als Fiktion der Auslegung auf die Strukturen des Theaters bezogen wird, nicht auf ein subjektives Meinen oder Wollen des Inszenators.)44

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Ellen Levy: Robert Wilson: Theatergeschichte als Geschichte. In: Parkett. A.a.O., S. 70 73. Hier: S. 72.

Helmut Schödel: Landschaft, jenseits des Theatertodes. In: die Zeit, Nr. 18 v. 24. Apr. 1987. S. 51 [Alle Stellen]. E. Fischer-Lichte: Jenseits der Interpretationen. Anmerkungen zum Text von R. Wilsons/ H. Müllers CIVIL warS. In: A. Schöne (Hg): Kontroversen, alte und neue. Bd. II. Tübingen 1986. S. 200 [Wie die folgende Analyse zu zeigen hofft, kann Wilsons Arbeit nicht als Dekonstruktion bezeichnet werden, wenn darunter der Aufweis einer immanenten Werkstruktur verstanden wird. Dekonstruktion wird hier für die Arbeit der Rezeption zu veranschlagen sein, die im cognitive mapping vor sich selbst gebracht wird. Hans-Thies Lehmann: Robert Wilson, Szenograph. In: Merkur. 39. Jg, Heft 7. Stuttgart 1985. S. 559.

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Die konsekutive Entfaltung des Materials (Form für Gehalt) oder die planmäßige Subversion des Theaterbetriebes durch De-Konstruktion finden intentional - von der Urheberseite aus - nicht statt. Weder für noch gegen das Theater ist Wilsons Kunstbemühen gerichtet.45 So fordert Jörg John Ruhe nach fernöstlich philosophischem Muster im Angesicht der rätselhaft offengelegten, enthierarchisierten Fülle der Dinge. Da die Stücke nun einmal so sind, wie sie sind, dieses "Theater keinen Anfang und kein Ende, [...] keine geschlossene, fixierbare, formulierbare Botschaft" kenne und darin "jede Sequenz [...] gleichgewichtig, jedes Geschehen gleichwertig" sei, sei es nötig, "diese Welt intensivster Spannung" jeweils "im punktuellen Erleben und von jedem Zuschauer einzeln"46 mit Sinn auszustatten. Damit "unmittelbare Erfahrung47 - ist das Stichwort in Deutschland gefallen, das fortan aus dem deutschen Kunstbetrieb um Wilson nicht mehr wegzudenken ist. Den endgültigen Schritt zur Anerkenntnis der kunstproduktiven Rezeption, vollzieht für die deutsche Kritik wiederum Benjamin Henrichs bei Death, Destruction & Detroit ( ), acht Jahre nach den ersten Erschütterungen durch Wilsons "Traumtheater". Die Rezeption - so die Erkenntnis - erobere je ihr eigenes Stück für sich. Darum glaubt man von nun an nicht mehr uneingeschränkt an den "magischen Zusammenhang" (Henrichs) der Bilder aus der "Wilsonmaschine" (Henrichs), sondern betont fortan "die schönste aller Illusionen: daß die Bilder auf der Bühne die Bilder aus dem eigenen Kopf sind."48 Denn ab jetzt sind diese 'Bilder1 das 'Werk' - und kein Meister hermetischen Wissens existiert mehr, der sie pflanzte. Der Zuschauer muß das Material (die abertausend Bilder, Texte, Töne) mischen, neu zusammensetzen, mit eigenen Bildern und Erinnerungen kombinieren. Der Zuschauer erst ist der letzte Regisseur, der Schlußredakteur des Spektakels. Wilson baut das Paradies nicht selber, er gibt uns Karten und Wegweiser, stellt Lichter und lirlichter auf. Je weiter man ihm folgt, desto glücklicher ist man am Ende - und umso gründlicher betrogen. Zuletzt hat man (und das macht Wilson zum Ärgernis für alle Theaterteutonen) weder eine frohe noch eine kritische Botschaft in Händen. Man ist einer Fata Morgana nachgegangen - das Theater hat ein Trugbild produziert und ist Wüste geblieben.49 Die in diese Trugbilder anscheinend völlig vernarrte FAZ bleibt zwar nicht in der "Wüste" stecken, verzieht sich aber mit ihrem Wilson in eine Entertainmentoase, die von einem bunten Revuehimmel überzogen ist. Robert Wilson wird aus dem Kunstdiskurs herausgelobL Die FAZ rühmt denn auch eher den 45 46 47

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Siehe hierzu die Kapitel 'Still-Real-life1 ff in dieser Arbeit. Jörn John: Der Sinn gehört in die Sphäre der Selbstbedienung - sagt Wilson. [Zu: Dialog/Curious George, Rotteidam, Juni 1980] In: Theater heute, 9/1980 S. 28f. Hier: S. 29. Ebd. S. 28. Benjamin Henrichs: Die ästhetische Riesenmaus. A.a.O., S. 66 [Alle Stellen]. Ebd. 171

"Treibstoff als die "Maschine", also mehr die "Kultfigur des Avantgardetheaters" als deren Produktionen, zu denen ihr nach Death, Destruction & Detroit (II) nur einfällt, daß es erste Anzeichen dafür [gibt], daß die Deutschen aufhören, bei Robert Wilson etwas zu vermissen, daß sie anfangen, mit ihm glücklich zu werden, und seine magischen Revuen als das zu genießen, was sie immer starker werden: großes Entertainment.50 Damit ist die hausprägnante Besetzung der Autorfunktion mit spezifischer Aura vollzogen und die Generallinie vorgegeben, auf die die FAZ ihre Leserschaft für diese Kunst seitdem einschwören möchte: "Es sieht einfach gut aus."51 Gezeichnet wird ein smarter Sei-ohne-Sorge-Wilson, dem es - wie im Black Rider - mit seinem zauberhaften Theater gelinge, einen "kalt und schön inszenierten Entlastungsangriff für alle schlechten Gewissen und alle dunklen Geschichten"52 zu fliegen. Auch der FAZ tut nichts mehr weh. Bis auf das Editorial hat sich der redaktionelle Teil des Zeit-Magazins Nr. 28 v. 5 Juli 1991 zurückgenommen, um Robert Wilson das 'In-Formations'Feld ganz der Dokumentation seiner als Bühnenrequisiten angefertigten Stuhlserie zu überlassen zu können. Heiner Müller hat dazu einige Kurztexte verfaßt. Eine ganze Sommerloch-Ausgabe wird "dem künstler" anvertraut zur Verwirklichung dieser "ungewöhnlichen idee - nirgendwo sonst hat es das in dieser konsequenz gegeben." Dieses Zeitmagazin will nämlich "ein gesamtkunstwerk sein".53 Frau Hüllenkremer, die den Editorial-Text verfaßt hat, geht sehr leichtfertig mit dem Begriff Gesamtkunstwerk um, denn tatsächlich entfaltet sich hier nicht die Summe aller Künste zur Essenz eines allumspannenden und -übersteigenden Gesamt, sondern es erfolgt eine willkürliche Plazierung von Sitz- und Liegemöbel-Reproduktionen, die als (Gesamt-)Kunst wohl nur deswegen deklariert wird, weil ein gesamtes Zeitmagazin damit gefüllt wurde. So muß - im Gegenzug - die Frage erlaubt sein, ob Robert Wilson, der das Magazin ja "ersonnen, konzipiert und bis in letzte detail bedacht hat", auch die Auswahl der gesamtkunstwerkexperimentbegleitenden Werbung besorgt hat, die auf die equilibrierten Fragilitäten Wilsons und zwei Müllersche Statements "Salome - der Tod — Johannes der Täufer ist eine Frau" die "kleine REWEWarenkunde (109. Folge)" ansiedelt? "Hier sollten Sie Ihre Nase 'mal reinstecken!", heißt es da, "Ein Kräutergärtchen aus 'Estragon, Oregano, Schnittlauch, Petersilie, Brunnen- oder Gartenkresse". Wir wissen es nicht und wer50 51 52 53

Müry Andres, Wolfgang Wesenen R.W. Feature zu Robert Wilson im Frankfurter Allgemeine Magazin. Heft 404,48. Woche v. 27. Nov. 1987. S. 12-22. Hier: S. 22. Gerhard Stadelmaier: Der Freischütz im Nadelwald. In: FAZ: Nr. 78, v. 2.4.1990. S. 33. Müry Andres, Wolfgang Wesener: R.W. Feature zu Robert Wilson. A.a.O., S. 20. Marie Hüllenkremer: Editorial zum Zeit-Magazin Nr. 28 v. 5 Juli 1991. S. 3 [Alle Stellen].

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den darauf auch nie eine Antwort des Herausgebers erhalten können, denn "das ist der phantasie des betrachters überlassen, das soll jeder für sich herausfinden, erspüren, erdenken, denn nichts ist eindeutig an einem kunstwerk, nichts leicht verständlich und damit oft schnell vergessen." Dieses Zeit-Magazin ist kein "gesamtkunstwerk", sondern eine eitele Frag-Unwürdigkeit, die sich von einem IKEA-Katalog nur insofern unterscheidet, als sie über einen prominenteren Texter verfügt und auf eine Preisliste der einzeln zu beziehenden Stuhl-Stücke verzichtet. (Die Paula-Cooper Gallery, NYC, wird entzückt sein, über die Preisvorstellungen der Robert-Wilson-Works LTD., Varick Street, NYC, des 'Möbelvertriebs' der Byrd Hoffman Foundation, Inc., Auskunft zu geben.) Das Wunderland des Banalen ("Disneyland")54 trug der Aura Wilson mitunter fast sakrale Würdigungen ein. Die Bewunderung der Rätselhaftigkeit kippt auf ihrem Höhepunkt um in eine fassungslose Verehrung ihres Produzenten. Probenberichte geraten zu Kronzeugen-Aussagen derjenigen, die die Bühnenmagie des Meisters bekunden. Das spürt man bei Wilson: er weiß genau, wohin er will, und alle helfen ihm, dorthin zu kommen, weil er Räume öffnet, weite, wunderbare Räume [...]. Das ist sein Versprechen: Er nimmt dich mit, dorthin, woandershin.55 Ute Mings berichtet von einer Epiphanie bei den Proben des Münchner Schwanengesangs von 1990: Plötzlich da und steht im Raum, wie vom Himmel gefallen(!). Ein Herr [Wilson, B.G.] mit Brille, groß, ganz in Schwarz gekleidet, der erst die eine, dann die andere Schulter bewegt, als spürte er die Spannung im Raum darauf lasten. Er sagt nichts. Alle sehen ihn an. [...] Es gibt keine Musik, auch kein besonderes Licht, doch plötzlich steht die Zeit still, und jener Augenblick ist zu ahnen, an dem Dinge und Bewegungen sich so erhellen, daß der Raum um sie groß wie die Welt wird.56 Diese Verkitschung ist kein spezifisch deutsches Phänomen. Auch hier gibt es bereits 'Traditionslinien'. Ann Wilson, die im Programmheft von The Deafman Glance (Feb./März 1971, BAM, N.Y.) als verantwortlich für special effects und 54

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"How can the naive and childlike imagery of Disneyland on a mountain top be harmonized with the prodigious plastic beauty of plays that plunge their roots into the most obscure depths of human experience?" Jacques Lonchampt: Huit Jours Sur La 'Montagne de L'Ame1 de Bob Wilson. In: Le Monde, 14. Sept. 1972. Zit. nach der von Byrd Hoffman Foundation, Inc. besorgten Übersetzung im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE. Ulrike Kahler: 'Milk it or Move it.' (zur Hamburger Inszenierung von Müllers 'Hamletmaschine') In: Theater heute, 12/1986 S. 4ff. Hier: S. 5. Ute Mings: Robert Wilsons Gespensterstunde. In: Theater heute. 2/1990 S. 33ff. Hier: S. 33f. 173

Altardekoration (!) ausgewiesen ist, hat - ohne Datierung, wahrscheinlich aber in dieser Zeit - unter dem Titel 'Figures of Transformation' einen Panegyrikus auf Wilson verfaßt. Ausgeschmückt und durchwoben wird das Kompilat von Passagen aus Werken und Berichten von "Christ, Dante, Blake, Proust, Flaubert, Nerval, Pater, Carnbell, Ovid, Botticelli, Indians." Konsequent nennt sich Ann Wilson, die nicht mit Robert Wilson verwandt ist,57 denn auch nicht 'Autor' dieser Aufzeichnungen, sondern 'Bibliographer'. What Robert Wilson shows us is a correction from Reality to Realization [...] (Proust) "Magic of magic lantern, or a kaleidoscope or the shadows of stained glass on the floor in juxtaposition with other forms' All this imaginary to lead us further into the unconscious dream we all dream - A blending in his work of a sympathy for humanity in its uncertain condition, [...] (Ovid) 'As for the raven, which was hoping for a reward for revealing the truth, Phoebus decreed that never again should it be numbered among white birds.' This is a miracle play, composed of mythological [!] archeology. Bob has used his own archeology on all our mythologies. Every one can compose his own mythic life out of the life revealed on stage.58 57

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Cindy Lubar, Kap. IV, S. 8. Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, ob Wilson seine Aktivitäten ausdrücklich dokumentieren läßt oder ob diese Dokumentation von ihm nur geduldet oder gefördert wird: es existiert jedenfalls ein Typoskript von Cindy Lubar, einem der frühesten Mitglieder der Byrd Hoffman School ofByrds - sie wirkte bereits mit in The Life a Times ofSigmund Freud mit (Dez. 1969, BAM, N.Y.) -, die darin die ersten Produktionen Wilsons auflistet und ihren Inhalt zu beschreiben versucht. Ihre Aufzeichnungen umfassen ca. 250 Typoskript-Seiten, die in 13 Kapiteln die Geschichte der Arbeit Wilsons von Beginn bis zu Einstein On the Beach aufzurollen versuchen. Diese Arbeit bemüht sich nicht um eine Deutung des Werkes, sondern versucht eine akribische Deskription. Sie ist aber nicht nur deswegen interessant, weil hier eine Produktionsbeteiligte Hintergrundinformationen auch zu den Probenarbeiten zu liefern weiß, sondern vor allem deswegen, weil Roben Wilson von dieser Arbeit gewußt hat und sie selbst mit Informationen und Erläuterungen zu Entstehung und Ablauf der frühen Werke bestückt und sie abschließend korrigiert hat. So existiert eine drei Seiten lange Typoskriptfassung, die handschriftlich Korrekturen und zusätzliche Informationen sowie eine Zeichnung des 'stage-settings zu 'theater-activity (März 1968, Bleeker Street Cinema, N.Y.) von Wilson aufweist. Das in der Dokumentation vorliegende Kapitel hierzu weist dann den Text mit den eingearbeiteten Korrekturen und Ergänzungen auf. Die Zeichnung zeigt das von Jill Johnston in ihrer Kritik beschriebene und bei Stefan Brecht, Theatre of Visions'. A.a.O., im Photo abgebildete [S. 42, 43] 'Byrd-House' [ein Kubus aus holzgerahmten Stoffbahnen mit den Schriftzügen Byrd' und 'House' auf gegenüberliegenden Seitenwänden] mit darüber hängender Glasscheibe). Angeblich - Auskunft sowohl der Bibliothekare der Butler Library als auch von Seth Goldstein, Byrd Hoffman Foundation [Schauspieler in der amerikanischen Re-Produktion des deutschen Teils der CIVIL warS, (März 1985, Loeb Drama Center, Cambridge)] - sollte aus diesen Aufzeichnungen eine Dissertation werden. Das Projekt wurde nicht fertiggestellt. Daß alle 13 Kapitel dieser Arbeit C. Lubars in gleicher Weise bebeut wurden, ist anzunehmen, jedoch nicht so eindeutig wie im Fall 'theater-activity I' nachzuweisen. Das Typoskript Lubars ist undatiert. Es befindet sich im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III-3 Byrdwoman. Ann Wilson: Figures of Transformation. A story about Bob Wilson and his Byrds. S. 2 Ar-

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So gibt es eine vornehmlich amerikanische Tradition' in der Wilson-Rezeption, die im Bilder-Arrangeur auch den Guru einer (Fan-)Gemeinde sehen möchte. Sie will den Eindruck des aufrechten Theatermanns Wilsons in der Mitte seiner Gemeinde - der Mitarbeiter in der Byrd-Hoffamn-Foundation vermitteln und versorgt ihn so mit dem, wonach der Kunstbetrieb zuallererst verlangt: mit Publicity.59 Das sollte mitbedacht werden, wenn die wissenschaftliche Rede - wie zufällig - auf ganz bestimmte Metaphern zur 'besten und zutreffendsten Erklärung' zu Funktion und Bedeutung der Figur Wilsons im Byrd-Hoffman-Geflecht kommt. Robert Wilson als '(theatrical) messiah1 ist das aus erkennungsdienstlichen Gründen aufbereitete ARTefakt für den Kunstbetrieb.60 Wilson has a compelling charisma. [...] They [the members of the Byrd Hoffman School of Byrds] were ordinary people of every age, shape and race, from the most varied of professional backgrounds. The best and closest explanation was that Wilson functioned as a theatrical guru, and in some deep sense those who gathered around him then thought of him as a (theatrical) messiah.61 Zu diesen "Weichzeichnern1 ist auch der Herausgeber einer der umfassendsten Publikationen zu Wilson zu zählen, die sich jedoch nahezu ausschließlich mit seinen Kollaboratoren beschäftigt.62 Laurence Shyer entwirft in der Einführung des von ihm besorgten Bandes 'Robert Wilson' Robert Wilson als den allermenschlichsten Übermenschen und zeichnet ihn als den gütigsten primus inter pares. Es ist Arbeit am Mythos einer genialen, wirkmächtigen Übernatur,

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chiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: IH-4 The Deafman Glance. Selbstverständlich steht auch diese Arbeit unter dem Auspizium durch sich selbst beizustellen, wovon sie handelt: diese Dissertation basiert auf der allgemein akzeptierten Voraussetzung, daß sich die Tätigkeiten des Herrn Wilson dem diskursiven Wissenstyp Theaterwissenschaft subsumieren läßt. Die fertige Dissertation kann wiederum von Wilson benutzt werden, seine Hervorbringungen als immerhin wissenschaftstauglich zu deklarieren. So gesehen stützen wir uns also gegenseitig. Damit sind zugleich auch Äußerungen aus dem Umfeld positiv sanktioniert, die eigentlich nur in ein Kaffeekränzchen gehören: "Bob decided he didn't want to work with a large group of people. He didn't want this intense and continuous activity in his loft anymore. There were a lot of people who were really dependent on that situation and they had a very hard time readjusting their lives. A couple of people threatened suicide because they weren't chosen to work on A Letter for Queen Victoria, which was the first time Bob actually cast one of his plays. It went even deeper than a family. Some people were so connected to Bob and his work, it seemed unthinkable that he shouldn't ask them to be part of it." Sheryl Sutton. ZU. nach: Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 61. J. Rockwell: Robert Wilson's Stage Works. A.a.O., S. 17. Wilson selbst wird lediglich an einigen Stelle wiedergegeben. Der Abschnitt von und auch über Christopher Knowles enthält Passagen eines gemeinsamen Gesprächs. Vgl.: Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 77ff. 175

einer mit Visionen beschenkten, rastlos-ruhenden Lichtgestalt. Wilson - auch nach Shyer ist er eine entsagungsvolle Jesusfigur des Kunstbetriebes. Perhaps Wilson's greatest gift has always been bis responsiveness to people. He has an uncanny ability to draw the best from those around him [!] and almost effortless assimilates their ideas and talents into his own aesthetic. [...] He must have people around him to flesh [!] out his mental scenario [...] and help clarify his vision [!] while it is evolving. [...] The associates he has gathered around him [!] fulfill his need for friendship [!], as they must, since he has eliminated almost everything from his life that is not directly related to his work.63 Zwar erweise sich, so der Foundation-Intimus Shyer, dieses Theater als uninspiriert, nicht thematisch greifbar und nicht-notwendig - no "motivating idea, organizing theme or even expressive urge" -, als reines Hüllen-Werk und eigentliche Kunst-Mogelpackung - "layer upon layer but no core"64 -, doch liege genau darin die Zauberkraft dieses Theaters. Shyers Erklärung des WilsonPhänomens vergeht vor lauter Aura erliegender Bewunderung - und die - so der Gestus - muß als Erklärung genügen: "I give you [!] time", läßt man Robert Wilson lediglich unkommentiert sagen: Time "to reflect, to mediate about other things than those happenings on the stage. I give you [!] time and space [!] in which to think."65 Wilson unterm Heiligenschein - unkennbar, unnahbar, vor allem aber diskursiv unantastbar - das hat die offizielle, Byrd Hoffman Foundation, Inc. -konfirmierte Ausgabe Robert Wilsons zu sein. Vor allem aber: nur das! Robert Wilson. Dreamer. Businessman. Genius. Fraud. Child of Wonder. Monster. Alone, even hi the midst of his collaborators. Lost in his own spectacle and his success, the mystery-maker who is his own greatest mystery. Never pausing to consider his purpose or his goal, never stopping lest he stop altogether, he continues on his solitary, unknowing journey. And who can say where it will end?66

Die Einsicht in die eigene kognitive Kompetenz Mit dieser Saga hintergeht die Hofberichterstattung Positionen, die die professionelle Rezeption bereits einmal inne gehabt hat. Abseits von der Berufung aufs Künstlerdiktum67 und einer reiner Beschreibung - "I only can describe 63 64 65 66 67

Laurence Shyer: Introduction. Zu ders.: Collaborators. A.a.O., S. xiiif. Ebd. S. xvii [Beide Stellen]. Ebd. S.xvi. Ebd. S.xxf. Vgl. etwa: "Says he: Tm not interested in psychology at all.1" William S. Henry III: Home Is Where the Art Is. A.a.O.; oder: "'Elaborating', Wilson said that what he was trying to do

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these events."68 - wußte auch die nordamerikanische Kritik schon einmal besser, wie sie jenseits ihrer intellektuellen Kapazitäten mit diesem Theaterphänomen umzugehen habe. Ellen Stodolsky beschreibt bereits das cognitive mapping, das sie bei der The Life & Times of Joseph Sfa/tn-Produktion erfahren hat, in der Metapher einer 'Übung für Neuronen und Synapsen'. So much is happening at once that you repeatedly notice with a start that something you were watching five minutes ago has disappeared, or is about to do. This multiplicity of activity is carried on at a pace of such extreme slowness that time melts into meaningless infinity. [...] Wilson's productions bombard you with so much sensory information that you must necessarily miss a good portion of it. He is attempting, though, to get us to use our perceptual mechanisms more fully. Wilson's pieces are, in a way, exercises for neurons and synapses.69 Akrobatik des eigenen Hirns. Daß auf letzteres gezielt wird, ist ein Nenner, auf den zuerst - in Amerika und überhaupt - der Künstler-Kollege Richard Foreman die Emanationen Wilsons gebracht hat. Zugleich ist damit auch der Ansatz des zweiten, wesentlich interessanteren Haupt-Erläuterungszweiges zu den Produktionen Wilson markiert, der eigene Deutungsmuster an dieses Theater anlegt. Foreman hat in seiner Besprechung der frühen Wilson-Produktion The Life and Times of Sigmund Freud von 1969 dagegen bereits - den Akt des Verweisens ausdrücklich hervorhebend - angemerkt: Up until now, leading theoreticians and practitioners of theatre have seen its procedure as a series of strategies designed to manipulate audiences in various predetermined, aimed-atways (to translate an idea into «stage terms», to evoke a specific emotion in response to a specific object, etc). Wilson is one of a small number of artists who seem to have applied a very different aesthetic to theatre - one current among advanced painters, musicians, dancers, and film-makers - a non-manipulative aesthetic which would see an create a «field» situation within which the spectator can examine himself (as perceptor) in relation to the «discoveries» the artist has made within his medium, then presented to the spectator with maximum lucidity [...]. Wilson [...] returns to a healthier «compositional» theatre in which the directorial effort is [...] a sweet and powerful «placing» of various found and invented stage objects and actions - so placed and interwoven as to «show» at each moment as many of the implications and multi-level relations between objects and effects as possible.70

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was 'gear a climate on stage which is like what we are experiencing in our minds.'" Phil Thomas: Wilson's Plays Fill Stage. In: AP Newsfeature v. 16. Febr. 1971 [Ankündigung zu The Deafman Glance v. Feb./Marz 1971, BAM; Premiere: Dez. 1970, University Theatre, Iowa City]. Deborah Jowitt: Life Pageant. In: Village Voice v. 28. Mai 1970. Sie schildert ihre Eindrücke der Produktion The Life & Times of Sigmund Freud [Premiere: 18. Dez. 1969, BAM (i.e. Brooklyn Academy of Music, N.Y.)]: Folge-Aufführungen vom 22-3 Mai 1970, BAM. Ellen Stodolsky: Theater that moves. In: Dancemagazine, Vol. XLVIII, Apr. 1974 S. 51. Richard Foreman: Speak out the arts. The Life and Times of Sigmund Freud. In: Village 177

Und zu The Life & Times of Joseph Stalin führt er aus: With logic and causality destroyed, the objects before us are transmitted into alien artefacts, enigmatic and undefinable. In this context, bodies become strange things we've never seen before, things whose meaning remains a secret.71 Foreman und andere Autoren nach ihm bleiben nicht bei den Selbstzeugnissen Wilsons, dem Kitsch und Kult um Wilson oder der eigenen Unerfahrung stehen, sondern entdecken gerade in der offenbar werdenden Rätselhaftigkeit die Chance, die zu ergreifen der wahrnehmenden Rezeption tatsächlich Erkenntnisfortschritt bedeuten könnte. Wahrnehmungs-explizit wird - wie Foreman Marcia B. Siegel, die die Thematisierung des Aktes des Verweisens direkt in Wilsons Werken entdeckt. Wilson is interested not merely in the fantasies and odd perceptions that the mind eventually produces, but in its process of arriving at them. What he does is less like a diary or a psychoanalytic interview than a film of the entire mental apparatus with all its dross and irrelevancy, before the significant events have been selected out. [...] The symbols are consistent and, though often violent, not emotionally disturbing. Wilson probes the brain clinically and allows us to examine his findings without getting blood spattered on us.72 Allerdings ist es keinesfalls eine 'klinisch1, d.h. rational exakte, schonungslos aufdeckende Anamnese des urbanen Intellekts, des geheimnis-entfremdeten Geistes und seiner Inhalte, die auf der Bühne vorgezeigt werden. Zwar zeigt das cognitive mapping Wilsons Inhalte des Wissens in räumlicher Auffaltung, insofern ist Marcia B. Siegel zuzustimmen - aber es zeigt sie langsam, sehr langsam, schöpfungsgeschichtlich langsam. Ebenfalls sehr früh wurde nämlich der gegenteilige Effekt des Fremdwerdens, die Mystifizierung des Details im Wissen als das eigentliche Faszinosum im Theater Wilsons ausgemacht, das - in abend- und ortsfüllender Länge und Breite - mit der extremen Verlangsamung von Bewegungs-impulsen und mit der Präsentation isolierter, damit fokussierter, bedeutungs-aufgeblasener Fragmente aus der Realität einhergeht, die ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt werden. Es ist Eugene lonescu, der diesen weiteren Schritt auf der von Foreman eröffneten Rezeptionsebene tut, indem er in den aufgezeigten Wissens-Fragmenten nicht nur Appell und Möglichkeit zu rezeptiven Ursache-WirkungsErstellungen erkennt, sondern Kondensate der Bedingungen der Existenz überhaupt, der condition humaine. Gleichzeitig bindet er Wilson in den

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Voice, New York, Uanuar, 1970 o.S. (abgedruckt auch in: Stefan Brecht: The Theatre of Visions. A.a.O., S. 4250. Richard Foreman: Interview mit Ellen Stodolsky. In: Ellen Stodolsky: Theater that moves. A.a.O., S. 51. Maria B. Siegel: A Theatre Of the Mind's Eye. In: Boston Herald Traveler v. 21. März 1971 [Zu The Deafman Glance].

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kunsthistorischen Kontext, damit in den Kunstbetrieb ein, indem er - fälschlicherweise73 - Wilson mit Beckett assoziiert: Beckett bas succeeded in creating a few minutes of silence on the stage, while Robert Wilson was able to bring about silence that lasted for hours! He has surpassed Beckett in this: Wilson being richer and more complex with his silence on the stage. The silence is silence that can speak. However, what is interesting about both, Beckett and Wilson, is the fact that they are above politics. They are interested in the existential, not social destiny of man. In this, Wilson has gone further than Beckett, for [...] he conjures up the whole tragedy of man and his history. Wilson speaks of the metaphysical defeat of man. The whole of existence has been condensed [...] to an apocalyptical end: but this end, at the same time, announces the arrival of a new Adam and a new Eve who will start again a new cycle.74 Es ist das fremd gewordene Gewöhnliche als Numinoses, das sich erst nach seiner zeit-räumlichen Extension zu offenbaren scheint - es ist die zur Liturgie aufbereitete Demonstration der Oberfläche,75 die Wilsons Theater so geheimnisvoll, religiös erscheinen läßt: das Wissen erfährt sich selbst als großes, indes entdecktes Geheimnis. Denn: An object on stage is at the same time existing on the stage and vicariously within the viewer.76

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Beckett ist - wie der Surrealismus - werkgebunden. Die Absurdität der Existenz zeigt sich als der Gehalt, auf den das Werk verweist. Darum steht der moderne Beckett dem postmodemen Wilson, dessen Hervorbringungen ihr Gehalt nach dem Akt des Verweisens je sind, allenfalls als homologer Vorläufer eines nur auf den ersten Blick gleichen Fonnengebrauchs zur Verfügung. Eugene lonescu: Interview in der Belgrade Literary Gazette vom 16. Sept. 71 /Issue Nr. 399, das Vladimir Predic geführt hat Beauty is only a REFLECTION OF SOMETHING LONG FORGOTTEN AND LOST. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: Clippings 3 [Anlaß für dieses Interview über Wilson ist dessen Auftritt beim Bitef Festival v. 14. Sept. 1971. Laurence Shyer schreibt über Wilsons Performance: "Wilson's performance seems to have consisted mostly of incomprehensible mumbling and humming delivered into a microphone while he slowly peeled two onions. A discussion followed during which Wilson concealed himself behind a curtain and answered most questions with the word 'dinosaur'. This encounter may have lasted as long as 12 hours." Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 295. [Wilsons Text wird unten zitiert]. "One can simply appreciate works of art on the surface." Robert Wilson: Interview mit John Szto, New York, März 1985: Postmodernism in Sight and Sound. The Collaborative Works of Robert Wilson and Philip Glass. Zitiert aus dem Exemplar der Verschriftung im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: 11-12 Robert Wilson Interviews: S. 9. Interview mit Eugene lonescu. In: KHYITEVNE NOVRINE v. 16. Sept. 1971. Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: 11-12 Robert Wilson Interviews (Translation: Byrd Hoffman Foundation). 179

2. Der ästhetische77 Baukasten A man would have to be an idiot to put work into art that didn't make sense to him. Stefan Brecht über Robert Wilson

Es ist These dieser Arbeit, daß Wilsons Kunst eine adäquate Antwort sowohl auf die innerkunstbetrieblichen Erfahrungen mit der historischen Kategorie 'Werk1 als auch auf eine der dringendsten Problemstellungen der Gegenwart zu liefern vermag. Es kann - wie Eco festhielt - kunstintern kein 'unschuldiges1 Material mehr geben. Das Werk ist erfahrungs-gesättigt, benetzt mit (Kunst-)Geschichte (historischem Wissen). Es ist eine 'handfeste ökonomische Tatsache' (Enzensberger), und die Idee einer andauernden Avantgarde ist überholt durch die längst 'zu Recht eingenommenen Positionen' (Hockney) bzw. durch die historische Grund-Erfahrung der "(relativen) Folgenlosigkeit der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft" (Bürger). Man weiß soviel schon von avantgardistischen Kunst-Bestrebungen zur Erschütterung des status quo, daß man sie einplanen und verrechnen kann, ja, daß man selbst ihre kritischen Appelle benutzen kann, um - im Design - Warenoberflächen zu veredeln. Der Diskurs obsiegt. Eine Kunst, die für diese historische Situation authentische Erfahrungen ermöglichen will, wird anders operieren müssen und operieren können als eine, die hierzu über Werke Aussagen machen will. Die Crux des Postmodernismus ist dabei, daß sein Gegenstand der Entdeckung nicht die fremd gedachte Welt ist, sondern die Realität dieses eigenen Wissens. Das Problem ist - wie Susan Sontag ausführte - ihr Zuviel an Wissen, nicht das Zuviel der Welt. Die Gleichzeitigkeiten, die man ungleichzeitig nennt, weil so wieder eine objekthafte Differenz von ihnen hergestellt werden kann ('Die Dinge sind dann ja eigentlich asynchron, nicht ihr Wissen von ihnen'), sind bereits existierende Segmente des eigenen Wissen. Die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit ist daher Synonym für das Unvermögen des Wissens, das bereits Bekannte in seiner faktischen Gleichzeitigkeit zu erfassen und begreifen.78

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'Ästhetisch1 wird hier zuerst im Sontagschen Sinne als das, was die Sinne betrifft, was sich - unabhängig etwa von künstlerischer oder schöner In-Formation - den Sinnen, der Wahrnehmung bietet und erfahrbar wird, dann im Sinne des Künstlerischen, dessen, was Kunst ist, bzw. das, was zur Kunst führt und dann als Kunst begriffen wird, und erst dahinter auch im trivial etablierten Sinne des aufscheinend Schönen der Form gebraucht. Diese Umformulierung ist keinesfalls als inhärente Kritik an Kosellecks Ausdruck zu werten. Sie ist lediglich der Versuch, seine wertvolle Arbeit hier fruchtbar zu machen.

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Ready modes, die Ideen auslösen sollen Es wird in Wilsons Theater nicht - nicht einmal ex negativo - auf einen konsistenten Gehalt des Kunst-Stücks verwiesen. Kein Gehalt, kein Thema, keine Bedeutung begegnet, nicht einmal die Bild werdende Einlösung des Titelversprechens sind auszumachen. Evidenz ist nicht - Sinn per Auge - an die Sichtungs-Kapazitäten der Retina gebunden: Eine Vor-Stellung der Bedeutung findet nicht statt. So ist Bonnie Marrancas conclusio zum 'Werkcharakter1 der Kunst Wilsons zuzustimmen, die hier über das verbal-akustische Alltagsmaterial in seinem Theater ausführt: Wilson's theatre is composed of 'ready-mades' - bits and pieces of overheard conversation, cliches, newspaper, television, radio and movies. This is theatre as assemblage-art. Words are used merely for their sound and music value; language is completely throw-away and meaningless in content [...] scream, song, grunts and shrieks are frequent as are fabricated words like spups, pirup, hap, hath. Pure sound is important too, as gunshots, bomb blasts, horses hooves, and train whistles. It absolutely has no meaning.79 Die selbstgewählt strenge Manier Wilsons reiht Bekanntes an Gewohntes in einem schwerkraftlosen Ambiente, ohne 'ihr Geheimnis preiszugeben.'80 Bedeutung für sich zu finden, ist - so wird immer wieder von Wilson betont Aufgabe der Rezeption. Er versteht sich nicht mehr als moderner, innovative Form schuldender, Welt verändernder Künstler ("It isn't my objective to change the world."81), sondern als Connoisseur der Präsentation von Gedanken- und Gegenwartsfundsachen. In Kurzform soll das explizite Freihalten der Darbietung von Absicht, Sinn und Bedeutung nach diesem Ansatz gestatten that: anything can trigger an idea.82 So überläßt Robert Wilson mit beredtem Schweigen (etwa im Bild des 'Zwiebelschälens'83) das Sagen und Fragen ausgerechnet diesen Produktionen. 79 80 81 82

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Bonnie Marranca (Hg.): The theatre of images. Robert Wilson. A Letter For Queen Victoria. A.a.O., S. 41. Paraphrase des SZ-Probenberichtes zu The Forest: Wilsons Wald gibt sein Geheimnis nicht preis'. SZ, Nr. 232, vom 7. Okt. 1988, S. 47. Robert Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S. 18. Robert Wilson in einem Interview mit Arthur Bartow vom Dezember 1982, New York. S. 6. Zit. aus dem Skript dieses Interviews im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: -12 Interviews. Robert Wilson: "Und ich habe dann das gemacht, was ich die Arbeitsphase A nenne [...] Es war wie das Schälen von Zwiebeln und dabei zu versuchen, das ganze Werk im Auge zu behalten." Zit. nach: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche TeU von The CIVIL warS. A.a.O., S. 45; auch an anderer Stelle: "Für mich ist die Arbeit an einem Stück, als ob man eine Zwiebel schalt. An den ersten paar Tagen sagt man, gut, es hat sieben Akte, dann kommt was anderes, dann macht man im Workshop drei oder vier Mal einen Durchlauf. 181

Wir machen Theater, damit der Zuschauer es in seinem Kopf zusammensetzen kann. [...] Fragen muß die Darstellung.84 Dieses Theater präsentiert sich dem ersten Blick als Freisetzung menschenmöglicher Bühnen-Mittel, denen Objektiv' (am Objekt) Zwecke fehlen. Sie sind kontext-entblößt, nicht-notwendig, aber verfügt. Sie sind in ihrer seltsamen Ordnung nur da. Und erscheinen darum so hypertroph. Die Kompositionsregeln bleiben verborgen. Es resultiert ein labyrinthisches Archiv aus Vorhandenem, ein 'Riesensammelsurium' aus Zeiten und Dingen, die sich keiner rational kohärenten Zuordnungs-Praxis beugen. Es wird nicht mehr verwiesen. "Das Geheimnis [liegt] an der Oberfläche", lautet ein Credo Wilsons denn auch, "wir müssen im Theater zurückfinden zur Oberfläche."85 Aber war es das auch schon? Behauptet sich die Sinn-Leere auf einer Designerbühne im Gestus der 'Letzten Großen Geschmacks-Frage'? Wohnt man einem Theater der nur noch exquisiten Primärreize bei, vor, hinter und über dem der Betrieb der Diskurse unvermindert weitergeht? Ist dieses technisch perfekte, provokationslose, störungsfrei sich autoexekutierende Theater die postmoderne Negation einer Antwort auf die drängenden Fragen, die auch weiterhin an Kunst gerichtet sind? Ist das dann das wirkliche 'Ende der Kunstperiode', ist Beliebigkeit in satter Materialkreuzung der wirklich allerletzte, der nie mehr verhallende dernier Cri am Ende der Zeitlichkeit? Der in verschiedenen Erscheinungsformen zu beobachtende TheaterkunstKonsumismus - ein Begriff Heiner Müllers - schafft nämlich nur unzufriedene 'Kunden'. Er verrechnet nach Kaufmannsmanier die "Kosten" für das "Futter fürs Unbewußte", das Ticket zum "Innenlebentrip" mit Nutzen und Wert der "hypnotischefn] Rituale"86 - und kommt in die roten Zahlen. Heiner Müller hat diesen Konsumismus gebrandmarkt und demgegenüber für die Freiheit und auch 'demokratische1 Pflicht des Zuschauers zur eigenen Semiose der KunstElemente plädiert:

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Und dann hat man Zeit und Raum zum Nachdenken. Dann fängt man wieder an und macht einen Durchlauf. Das ganze Ding macht man immer wieder." Robert Wilson im Programmheft zu The Forest. O. S. (i.e. das Workshop bedielte, fünfte Kapitel des Programmheftes) Berlin 1988. Robert Wilson: Be Stupid. Interview mit Frank Hentschker et al. In: Exploison of a Memory. Heiner Müller - DDR. Ein Arbeitsbuch. Berlin 1988. S. 61-69. Hier: S. 63 u. 64. Robert Wilson in: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 55. Reinhard Kill: Robert Wilsons CIVIL warS in Köln. Visionen eines Gum. A.a.O., S. 16: "Das Unbegreifliche - hier soll's bloß ahnend gefühltes Ereignis werden, Futter fürs Unbewußte. [...] Wem solch hypnotische Rituale genügen, der kommt in Köln auf seine Innenlebentrip-Kosten.

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Was mich interessiert bei Wilson [...] ist, daß er den Bestandteilen, den Elementen von Theater die Freiheit läßt. [...] Wilson interpretiert nie [...]. Da ist ein Text [...], aber er wird nicht bewertet und nicht gefärbt und nicht interpretiert. Er ist da. Genauso wie ein Bild da ist. [...] Dann gibt es ein Geräusch, und das ist auch da und wird nicht interpretiert. Das finde ich wichtig. Es ist ein demokratisches Theaterkonzept Die Interpretation ist die Arbeit des Zuschauers, die darf nicht auf der Bühne stattfinden. Dem Zuschauer darf diese Arbeit nicht abgenommen werden. Das ist Konsumismus, dem Zuschauer diese Arbeit abzunehmen, das ist Vorkauen. Das ist kapitalistisches Theater. Aber es ist das Vorhandene und das Übliche.87

Die in 20 Jahren Rezeptionsgeschichte angefallenen, tausendfachen Repititionen des Kunst-Wirken(-Wollen)s Wilsons, die sich die Kraft, Autorität und Stichhaltigkeit ihrer Argumentation beim Künstler einzuholen gedenken, die sich aus seinem Werk' nicht mehr schöpfen lassen, sind dagegen wertvoll nur im Hinblick auf das endgültige Nicht-mehr, das sie anzeigen: diese Kunst spricht nicht mehr - sie reflektiert die an sie gerichteten Fragen und zeigt zurück auf den Fragesteller. Foreman, lonescu und Müller haben gegen eine modische Beliebigkeit Marken gesetzt, die wegweisend für die Analyse dieser Ästhetik sein können. Es ist nämlich für Wilsons eine Kunst auszumachen, die sich von den Dingen fortbewegen und ihr diskursives Korsett dadurch sprengen will, daß nicht mehr sie kunstkonform rede t, sondern nur noch zur Sprache verhilft. Insofern ist wesentlich interessanter, nach der spezifischen Weise und den Implikationen der Wilsonschen Aufbereitung des Wissens dieser Diskurse für den thematisierten Verweisakt zu fragen, als im 'Haufen Zeugs' nach Interpretationsverdächtigem zu fahnden. Statt also Material umzuwälzen, es zu filtern und die sicherlich vorhanden Bruchstücke von Sinn zu einem dann löcherigen Kunstwerk zusammenzulegen, muß ein Denken vorgestellt werden, das dieses Aufschütten von Material durchaus sinnvoll begründet. Es kann also nicht darum gehen, an den Künstler, hier besser: Material-Bereiter keine Fragen mehr zu stellen, sondern es muß vielmehr darum gehen, seine Antworten nicht mehr werk-, sondern kunst-orientiert zu bewerten. Und das geschieht hier für eine Bühnenästhetik der Postmoderne, die nicht selbst Kunst sein will, sondern die Bedingungen dafür schaffen möchte. Es artikuliert sich eine KunstKunst, die scheinbar erschütterungslos und uninteressiert weiß. Mühelos schwelgt sie im Reichtum undurchsichtiger Kompositions-Einfälle in sauber aufgeräumten Mischungsverhältnissen. Gesprochen werden Floskel und Jargon, die auch in Wilsons Theater nicht signifikant werden. Texte hintermalen Bilder, zu denen sie nicht gehören können und Rede-Impulse scheinen der Kreisbahn unendlicher Repetition nicht mehr 87

Heiner Müller in: Olivier Ortolani: Oie Form besteht aus dem Maskieren': Ein Gespräch mit dem diesjährigen Büchner-Preisträger Heiner Müller. In: Theater heute Jahrbuch 1985 S. 88-93, hier S. 93. 183

entkommen zu können. Der weiter unten zitierte Absatz aus den knee plays von Einstein On the Beach mag hierfür stehen ("These are the days my friend and these are the days my friend."), aber auch der zur monoton wiederholten Sentenz gebrachte, logische Kurzschluß aus The Life & Times of Joseph Stalin, nach dem 'Emily das Fernsehen deshalb liebt, weil sie es schaut' ('EMILY LIKES THE TV BECAUSE EMILY WATCHES THE TV1) [Beide Beispiele stammen von Christopher Knowles]. Re-flektiert (zurückgebogen) wird akustischer Diskursmüll: Töne und Floskeln aus dem up and down der urbanen Existenz als luftige Sprechblasen: "Liebe ohne Untergang is easy said and schwer getan" stammt aus dem Black Raider. Das Folgende aus A Letter for Queen Victoria: I have to take five pills a day to keep me going One blood pressure pill two vitamin pills two diabetic pills Without them, I'd just collapse.

So lauten die ersten Sätze der 'Queen1 aus A Letter for Queen Victoria. Sie wird danach den Arm heben, dreimal schreien und damit das Ende der Einleitungsszene vor dem ersten Akt signalisieren. Der 'Richterspruch' aus THE TRIAL in Einstein On the Beach ist Deklamation 'radikaler Grundsätze1 einer trivialitätendurchsetzten Woman's-LiberationIdee. Sie scheint von 'Grünen Witwen' und geknechteten 'Suburb-Hausfrauen' ersonnen worden zu sein. Das 'Urteil' richtet sich gegen die "male chauvinist pigs", pocht auf den Geist der Wohlanständigkeit - und wird von einem Mann gesprochen: In this court all men are equal. [...] But what about all women? [...] Just yesterday I talked with a woman who is the mother of 15 children. She said 'Yes, I want to be liberated from the bedroom.' [...] She has a nephew who is just 10 years of age. Sometimes the nephew says Tm going to the forbidden Name-Store'. The little fellow is too modest to say Tm going to the A & P'. [...] The hand that changes the diaper is the hand that rules the world. The woman's day is drawing near It's written in the stars The fall of men is very near proclaim it from your cars! Sisters, rise! Your flags unfurl! Don't be a little girl [!]! Say "Down with men! Their power must end! Women shall rule the world!88 88

Judge's speech, Text von Samuel M. Johnson. (1984) Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-F Einstein On the Beach.

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Daraufhin wird ein Bett zu leuchten beginnen und sich zum Himmel erheben. Wer hier die quasi-symbolischen Parallele zwischen dem 'verurteilten Bett' und der Befreiung vom Schlafzimmer ausmacht und beginnen möchte, sie auf inhaltliche Ausdeutbarkeit hin zu überprüfen, sei allerdings gewarnt. Dies ist der 'Richterspruch1, der 1984 für die Wiederaufnahme von Einstein On the Beach in den USA von Samuel M. Johnson geschrieben und gesprochen wurde. Die sozusagen - Originalversion der 'judge's speech1 von 1976 lautet völlig anders. Sie behandelt naiv-schwärmerisch die Attraktivität der Stadt Paris und die Faszination, die sie auf Touristen ausübt. (Das 'Urteil1 von 1976 wird weiter unten zitiert.) Projektionen einzelner Bilder und Endlosschleifen von Filmausschnitten sind in Wilsons Theater wichtige inszenatorische Mittel. Film-Projektionen in CIVIL warS zeigen minutenlang Gesichter in Nahaufnahme. Endlosschleifen verfolgen danach immer wieder den Flug eines kreisenden Seeadlers und den richtungslosen Eisschollengang eines Polarbären. Licht legt sich auf regungslose Körper und Körperteile, auf Bühnenteile und Requisiten. Es erleuchtet sie oder rückt sie in geheimnisvolle Dunkelheit. Bühnenrequisiten und -Aufbauten werden durch Lichtwechsel zu stehenden Bildereignissen, und lichtdurchtränkte blow ups von Banalitäten werden zu Szenarien. Im Schwanengesang werden Reihen präparierter Zuschauerbestuhlung in leichenfahles Licht getaucht Eine leere Weinflasche und ein totes Rebhuhn in goldenem Licht - dahinter weht eine Zeitungsseite über tag-grau beleuchtetem, mysteriösem Luftschacht - werden zum Ensemble für ein bühnen-punktuelles Stilleben der Vergänglichkeit: Vanitas in den Städten. Ein Arrangement qua Licht, das gängige Motive der Malerei mit einem Stück aus dem Filmvokabular der Tristesse mixt. In der 'Lighting Sequence And Description' für den zweiten Akt zu The Deafman Glance, die hier in einem Ausschnitt zitiert wird, sind die Dramaturgie des Lichts, die Ereignishaftigkeit der Lichtwechsel dokumentiert, die an die Stelle jeglicher Bühnenhandlung treten, aber auch die gewollten Redundanzeffekte, die Einzelheiten auf der Bühne durch Licht in ihrer Erscheinung intensivieren: There should be a greenspot on the frog at the head of the table; there should be careful illumination of the three people at the table, there should be no shadows on their faces. The lighting dims, almost to blackout, with Raymond illuminated by the spot. When the Goatwoman's House starts burning, the light changes - there are rings of light that fill entire stage, working outward from the center (where Raymond sits on the swing) which is dark Purple, then Red Purple, Then Red, then Orange, and beyond that Yellow. That's plenty of Red, in rings.89 89

Lighting sequence and Description The Deafman Glance (Iowa, Dec. 15, 1970) aus den 185

Sind an dieser Stelle von The Deafman Glance die 'Doppelungen' durch Illumination (Frog - greenspot; burning house - rings of Red) noch unmittelbar einsichtig, (wie auch bei den durch Lichtbränden entzündeten Miniatur-Städte in The Life & Times of Joseph Stalin und CIVIL warS) so scheint der Einsatz von (farbigem) Licht sonst vor allem der 'Verdunkelung' von Bedeutsamkeit zu dienen. Licht wird damit zu einem Kompositionselement, das entweder die beleuchteten oder selbstleuchtenden Gegenstände stimmungsvoll verrätselt oder aber das Bühnengeschehen zu einer Lichtorgie rhythmisiert, deren Kraft und Geschwindigkeit die Rezeption mitunter kaum folgen kann. Für ersteres denkt man an die wundersame Leuchtkraft des rotierenden blauen Kubus1 in der Alceste oder des herabschwebenden schwarzen Quaders, die rotglühende Teufelsnase und die eisblau leuchtenden Steine in The Black Rider, aber auch an die schwarzgraue, zeigerlose Uhr aus dem Einstein-Akt THE TRIAL. Für letzteres an den 'Flashbulb'-Tanz Wilsons vor der Muster generierenden Glühbirnenwand aus dem SPACE SHIP INTERIOR von Einstein On the Beach. Seinen Ruf als Theaterzauberer hat Wilson nicht zuletzt wegen dieser Lichtmagie erhalten. Es erleuchtet bekannte Dinge zu Wundern. Die Ausgestaltung von Sitzgelegenheiten und die kuriose Kombination von Stuhl und Licht sind weitere Dauerthemen. In A Letter for Queen Victoria strahlen Spots aus den Thronen. Aus der Lehne des Overture Chair1 der Overture zu MOUNTAIN AND GUARDenia TERKACE-Produktion90 ragt eine Fackel. Der Frei«/-Chair wird so grell beleuchtet, daß das Schwarz seines Holzes nicht vom Schwarz des von ihm geworfenen Schattens zu unterscheiden ist. Es ist dies die einzige Metapher, die mit dem historischen Freud in Verbindung gebracht werden kann: Das Bewußte und sein Schatten, das Unbewußte bis zur Ununterscheidbarkeit beleuchtet - analysiert! Der EinsteinChair aus Metall-Rohr fällt durch Disproportionalität auf: er ist viel zu schmal und wesentlicher höher als breit. Auch hier könnte eine Parallele zum historischen Einstein und zu seiner Relativitätstheorie, der Disproportionalität der Gegenstände bei 'Licht'-Geschwindigkeit vermutet werden. Doch nicht einer der unzähligen Bühnen-Einsteins wird in die Nähe dieses Stuhls gebracht, son-

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'General Notes1 zu The Deafman Glance. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance. Overture ist hier der Titel der ersten Vorproduktion der Arbeit KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE, die vor dem Shiraz-Festival als 24-stündiges Dauerereignis noch im Loft der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. in der Spring Street, New York, gezeigt wurde. Auf acht Aufführungstage ist dann die KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE-Prodvkuon dann zu bringen, wenn zu den 7 Tagen eigentlicher Vorstellung (29. Sept. 1972) noch der l Tag (31. Aug. 1972) hinzugezählt wird, an dem diese Teile der Overture for KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE1, die in der Spring Street, NYC und in der Royaumount Residency, nördlich v. Paris entstanden ist und jeweils voraufgeführt (Apr. 1972 NYC, Mai-Juni 1972, Royaumount) wurde.

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dem Lucinda Childs sitzt darauf als Angeklagte? oder Zeugin? in THE TRIAL. Daß Robert Wilson 1993 mit seiner Stuhl-Installation 'Loss of Memory' einen Skulptur-Preis auf der Kunst-Biennale in Venedig gewinnt, liegt nicht zuletzt daran, daß bei allen Produktionen dem Design für diese Dekorationen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erinnert sei an die Flying Bench aus The Deqftnan Glance und The Life & Times of Joseph Stalin, an die sackartig ausgepolsterten Joseph-Stalin-Chaiis und an das Empire-Sofa aus dem vierten Akt von CIVIL warS, aus dem sich die pralinenübersättigte Königinmutter Friedrichs II nicht mehr befreien kann und von zwei 'Bühnenarbeitern' weggetragen werden muß. (Der 'Erlkönig' zur Musik Schuberts wird bekanntlich dazu von einer erhängten Frau gesprochen, der bereits erwähnte Adler zieht seinen endlosen Kreis, Friedrich reitet auf einem Trojanischen Pferd und trägt in dieser Szene eine Maske, die, das belegt in Wilsons CIVIL warS-Unterlagen eine Ansichtskarte aus dem Kölner Römisch-Germanischen Museum, die exakte Kopie einer etruskischen Kultmaske darstellt.) Unabhängig davon erscheinen banale Elemente der Körpermotorik und unwillkürliche Gesten des Alltags, die präzise wiederholt und zu Bewegungen, Hand- und Fußstellungen aufbereitet werden, die eine rituelle Bedeutung suggerieren. Nur welche, bleibt offen. Gezeigt wird die Gebärde, deren Vollzug nach einem unbedingten Muß ausschaut, deren tatsächliche Motivation jedoch unklar bleibt. Jogger in roten Shorts und viktorianisch hochgeschlossen gewandete Damen mit Krähen-Präparaten überqueren seit The King of Spain immer wieder die Bühne. Das synchrone Kopfkratzen der Sekretärinnen aus Hamletmaschine gehört dazu wie die unendliche Verbeugung, in die die Japaner bei ihrer Begrüßung in den knee plays (9. Bild) der CIVIL warS einfallen. Vor-Annahmen der Rezeption erfüllen sich allerdings nie. Die Hoffnung zum Beispiel, den häufig zuvor gezeigten 'uprooted tree' in den CIVIL warS zum Bild gewordenen Wortspiel um-inszeniert zu sehen, wird düpiert. Gedacht ist an jenen mit seiner Krone zum Erdboden weisenden Laubbaum, der bekannt ist aus dem 2. Akt von Letter for Queen Victoria, der aber auch später in The Forest wieder aufgehängt wird: man erwartet ihn wie den herabschwebenden, dann sanft pendelnden Stuhl, der seit den Tagen Freuds in fast jeder Produktion verläßliche Gelegenheit bedeutet, die drei Dimensionen des Raumes, ausgewiesen in jeder Kanten-Verbindung aus waagerechten, senkrechten und querverstrebten Leisten, zu erinnern. Der Untertitel der CIVIL warS lautet A tree is best measured when its down, und so hätte aus dem gefällten doch zumindest wieder der umgedrehte Baum aus den alten Stücken werden können. Aber in den CIVIL warS wird er überhaupt nicht geboten. Wilson inszeniert also das Bekannte, das doch unerwartet und - vor allem durch Licht - unheimlich aufscheint: einen um seine Längsachse rotierenden 187

'General Lee1, der vor dem Bullauge der Nautilus auftaucht, zum Beispiel (CIVIL warS: Rome-Section), die Inkarnation einer Ansichtskarte (Death, Destruction & Detroit I) oder die Projektion der Niagara-Fälle auf einer Häuserwand (Edison). Farbig illuminiert werden unscheinbare Details. Und Lichtmuster erstrahlen unvermittelt nur für sich. Es klingt und leuchtet, es dreht sich und bewegt sich. Warum diese Dinge gezeigt werden, bzw., warum manche nicht, ist einer rational Verstehen suchenden Betrachtung nicht ein-iicftrig.91 Eingeklagt für den Kunstbetrieb scheint also die Berechtigung, lediglich Vorhandenes stilisiert oder auch unbehandelt in fremde Kontexte bringen zu dürfen. Beansprucht wird ein Eigenrecht des Unscheinbaren, Überflüssigen und Überhörten, ausführlich zu werden. Arrangiert wird das Triviale und Belanglose, das ganz und gar Kunst Unwürdige, das selbst keiner Kunst-Maßnahme zur Bedeutungssetzung unterzogen wird. Wohl aber höchster Anstrengung zu präziser Exekution. Komponiert werden dazu Bild-Motive aus Geschichte und Geschichten, die nur zur Lieferung von vorgeformten Bildversatzstücken heranzitiert werden. Bekannt ist sicherlich, daß die Kriegsfotografien des Amerikanischen Bürgerkrieges von Mathew B. Brady Vorlagen bildeten bei der Ausgestaltung des Zeltlagers, einem der Kriegsschauplätze im 3. Akt, Szene E der CIVIL warS. Daß die Figur der hypertrophen Frau mit der elefantiasistischen rechten Hand aus Akt I, b (Dutch-Section, Rotterdam), die sogenannte 'Big Lady', die direkte Nachbildung einer Hexe auf einem 1640 entstandenen Holzschnitt "Bewitched woman and suitor, from A Certain Relation of the Hog-faced Gentlewoman"92 ist, wird erst aus den Unterlagen der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. ersichüich. Der Innenraum des zweiten Aktes aus The Forest, der zwar stark an das 'Ingenieur-Büro' aus Langs 'Metropolis' erinnert, ist einer Vorlage aus 'F. Jack Hurley (Hg.): Industry and the Photographic Image. 153 Prints from 1850 to the Present' nachempfunden.93 Es ist kein Zufall, daß das Bühnenbild im Black Rider, etwa die Gestaltung der Bäume vor weißem Hintergrund, aber auch die weiße Maske der Schauspieler, an expressionistische Filmkulissen und Schminkweisen erinnert. Im Folder zu dieser Produktion finden sich mehr als zwanzig Standfotos und Filmprints aus Robert Wienes 1919/20 in Berlin entstandenen Film 'Das Kabinett des Dr. Caligari'. Sie zeigen Studio-Ausstattung und Rollenportraits aus diesem Film. 91 92

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Siehe zum Term der Sicht den Abschnitt: Sicht - Dinge — Schau - Sachen. Kopie des Holzschnittes im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-C CIVIL warS.

Das Buch befindet sich in den 'Research'-Unterlagen zu The Forest.

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Ein weiteres Beispiel für die Nachbildung eines Bühnenbildes ist das 15. Bild im 2. Akt (es ist das 7. dieses Aktes, das 15. des Stücks) von Death, Destruction & Detroit 7, Berlin 1979. Der Bühnenraum wird hier dominiert von 'Zwei Monstern' (So auch der Titel des Bildes [Es sind übrigens die, deren Fehlen B. Henrichs in Death, Destruction & Detroit II ja bereits 'moniert' hat]) Den Hintergrund, ein gemalter Bühnenprospekt, bildet die exakte Reproduktion einer Postkarte von 1932, auf der die 'Stately Royal Palms, Florida1 zu sehen sind. Ein letztes Beispiel: Die Ausstattung mit Flagge, Straßenanzug und Hut des 'Fat Man', der ebenfalls in dieser Produktion in der achten und sechzehnten Szene (Beide sind RACING CARS IN WHITE DESERT betitelt) die Zielfahrten der dreißiger-Jahre-Rennwagen mit seiner Miniatur-Flagge abwinkt, entstammt einem Zeitungsausriß ungenannter Herkunft, das dieses Motiv der Zieleinfahrt solcher Rennwagen zeigt, die von einem solchen Zielgeber abgewunken werden. Postkarte und Zeitungsphoto befinden sich in den 'Research'-Unterlagen zu Death, Destruction & Detroit I im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: III-F Death, Destruction & Detroit.

3. The Life & Times. 'Lebens'-Stoff für die Bühne. Drei Beispiele Stalin The Life & Times of Sigmund Freud behandelt weder Biographie noch Zeitgeschehen Freuds, ja sieht 'Freud' selbst nur in einer kurzen Pantomime vor und handelt von nichts. Er ist das erste Beispiel für eine Reihe von historischen Figuren, die in Wilson-Stücken titelgebend erscheinen, dann jedoch lediglich als Ingredienzien merkwürdigster Mixturen gezeigt werden. Daß es auch der Stalin-Produktion nicht um Stalin oder seine Zeit geht, ist schon daran ersichtlich, daß - wie Shyer dünn anmerkt - "political considerations"94 eine Neubetitelung dieser Produktion für die Aufführungen im Theatro Municipal in Sao Paulo im April 1973 notwendig erscheinen ließen und auch umgesetzt wurden. Dort hieß sie The Life & Times of Dave Clark.95 Tatsächlich dient auch der neue Pro94 95

Laurence Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 299. Siehe hierzu Calvin Tomkins: Time to think. In: The Contemporary Art Center, Cincinnati, et al. (Hg.): The Theater of Images. A.a.O., S. 59: "At one point, his play had carried the alternate title The Life & Times of Dave Clark, mainly because the Gulbenkian Foundation had indicated that in Brazil there would be a problem about donating funds to anything 189

duktionstitel nicht etwa dem dann subversiven Lancieren eines weiterhin politisch brisanten Stoffes. Inhaltlich ist diese politische Vorsichtsmaßnahme nicht zu begründen, denn nicht Stalin bildet das Zentrum dieser Arbeit, sondern das Leben um ihn herum. Allerdings nicht im historisch eindeutigen, sondern in dem Sinne, daß damit Zeit und Leben der Produzenten dieser Theaterarbeit selbst bezeichnet werden. (Der Genitiv ist als Objektivus' zu betrachten.) Stalin wird so zum Generalnenner für einen Ausschnitt aus dem Kontinuum der Suche Wilsons nach der Sache.96 Stalin ist Marke für einen Arbeitsabschnitt. Er fungiert als zentraler Knotenpunkt (und Attention-Getter für die Rezeption!) im Netzwerk aller möglichen Assoziationen und Fund-Sachen, die dann auf der Bühne gezeigt werden. Dazu gehört auch die Rekapitulation einer Probe für diese Stalin-Produktion, die - von den darin namentlich genannten so auch gespielt - in das Stück einfließt. Doch hält diese Probe nicht in quasi-naturalistischer Ebenbildlichkeit Einzug in das Stück, sondern zur Sache bereitet. Ersichtlich wird dies an dem stilisierenden Zeitraster, der die Vorgänge anhält und an drei Stellen über die Wiedergabe des Probenverlauf gelegt ist. Cindy Lubar gibt diese Passage aus dem siebten Akt in ihrem Produktionsüberblick wieder. Die Namen sind wie folgt zu ergänzen: Bob = Robert Wilson; Stefan = Stefan Brecht; Scotty = Scotty Snyder. Man with tree: was supposed to wait for the word revelation. I don't know what we're doing. Is this supposed to get louder and louder or not? Pause Is it, Bob?' Sound continues but quieter for 40 seconds Bob: 'So this one ends quieter. (Pause) I know this is really difficult so can you try to get this?' Scriptgirl: 'It's funny that everyone is talking louder and louder until Stefan asked if everyone should talk louder and louder and the everyone got quiet and then Bob said 'So this one will end quieter'.' Bob yells: 'Blackout!' Man with tree: 'Wait a minute, just before this blackout everyone was supposed to scream and I was supposed to say 'therefore'.' Scriptgirl: 'Is Bob supposed to say 'Blackout' or not? Stefan just said everyone was supposed to scream and he was supposed to say 'therefore' before the blackout.' Woman with Book (looks at Stefan): 'Stefan, if you're smart you'll just keep quiet. You have to memorize every goddamned thing you say.' Scotty: 'You have to memorize every goddamned thing you say.'

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with 'Stalin' in the title. Dave Clark was an obscure Canadian criminal whom Wilson had heard about. Two weeks before the opening, Wilson confined to a friend that he could just as well have based the play on Clark, and that 'all those stories and associations' with Stalin weren't necessary." Siehe zu diesem Begriff der Sache, der hier als technischer Term eingeführt wird, den Abschnitt Sicht - Dinge - Schau - Sachen!

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Chorus laughs for 10 seconds Everyone: Well. Ok. Ok.1 [...] Man with tree: Therefore' Ten second pause - Blackout.97 In Lubars Aufzeichnungen findet sich auch Robert Wilsons Darlegung des Kompositionskonzeptes zu The Life & Times of Joseph Stalin. Es ist die Offenlegung einer abstrakten Synthese von Bauteilen zur Kunst, die sich ausschließlich produktions-inhärent an der Wechselwirkung und -beziehung der bilderzeugenden Produktionselemente untereinander orientieren sollen: The play is symmetrical. The first act, The Beach, is in relation to the 7th act, The Planet. The second act, The Victorian Drawing room, is in relation to the 6th act, The Victorian Bedroom, the 3rd act, The Cave, is in relation to the 5th act, The Temple, the 4th act, The Forest, is in the Center. The prelude to Act 2, The Facade of a Victorian House on Fire, is in relation to the prelude to act 6: The Facade of a Victorian House.98 Die Titel-Figur (besser: die Titelfiguren, denn Stalin ist eine Mehrfachrolle) des Stücks erscheint nicht an exponierter Zentralstelle. Sie wird überwuchert von einem extensiven Zelebrieren von Details, die teilweise bereits aus früheren Wilson-Produktionen bekannt sind und teilweise in spätere Produktionen einfließen werden. Die Akte: THE BEACH, THE VICTORIAN DRAWING ROOM und THE CAVE ziehen sich mehr oder minder identisch seit The King of Spain bis zu The Life & Times of Joseph Stalin durch; THE FOREST, bekannt aus The Deafman Glance, wird sogar einmal ein eigenes Stück werden. Es ist - so scheint es tatsächlich - alles dasselbe (Lebens-)Ding.99 Cindy Lubar berichtet über The Life & Times of Joseph Stalin. Sie schildert die Höhepunkte des vierten Aktes und den Übergang in den folgenden. (Julia Busto, die von Lubar erwähnt wird, ist die alternative Besetzung für Raymond Andrews, der nicht in allen Stalin-Aufführungen präsent war): 97

98 99

Cindy Lubar: Kapitel Vin. The Life & Times of Joseph Stalin. S. 17f. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: III-3 BYRDwoMan, Ebd.S.lf. Vgl. hierzu Wilsons Äußerungen in Journal da Tarde: "All my life I have worked on only one piece. [...] Originally the piece was called The King of Spain. Other names were The Life & Times of Sigmund Freud, The Deafman Glance, The Life & Times of Joseph Stalin. But as the piece is seen as the life of everyone, the name Dave Clark is used to capture that commodity." Unsigned: Dave Clark. Of his life, or the King of Spain or the Deafman's Glance it's all the same. In: Journal da Tarde. v. 10. April 1974. (Übersetzung Byrd Hoffman Foundation, Inc.) Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: Clippings 3; siehe hierzu auch "It's always the same thought, it's always the same thought. [...] So, in sum was the work, it's like a continuum." Robert Wilson in einem Interview mit Carol Mullins vom 6. August 1974. S. 3 Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: 11-12 Robert Wilson Interviews. 191

In the fourth act there are now two flying benches: one of them is for Raymond [Andrews] (Julia Busto) and the other is for Stalin (myself). [...] The banquet table now accommodates two people at a time instead of three: Stalin, as the man with the large eye, with one of his two wives at a time. While Stalin is seated with his first wife, the waiter pours wine. The first wife raises her glass and says To the Frog'. The Frog belches. After serving fish, the waiter sneezes and Stalin says 'Don't sneeze! Don't sneeze!' [...] In the central scene, one of the two identically dressed Stalins (Wilson) eats an apple. Both Stalins suddenly jump out of their armchairs and just as suddenly return to static seated positions. Stalin's first wife dies dramatically. As Paul Robeson's recording of love you', Wilson mimes his singing while kneeling at the bed of the dead wife. [...] Between acts 4 and 5 is a scene involving Alexander Graham Bell, Helen Keller, and Ann Sullivan sitting close together and alternately receiving energy charges. They bolt out of their seats. This tableau ends with The man with glass' making a phone call and saying 'Fire, Fire.' The curtain rises immediately and the sound of bombs is heard. The interior of the Temple glows with a golden-white light. Egyptian hieroglyphs are painted into the back wall. Three clusters of sun rays traverse the stage along a diagonal. Stalin sits in a glass box stage right, smoking a pipe. Through the otherwise opaque wall Marie Antoinette and George Washington are seen atop a long staircase. They take nearly the length of the act to descend from the top step. The stage is filled with groups of eighteen-century square dancers, wearing lace trimmed muslin tailcoats and knickers and tight bodice and hoop-skirted dresses. Quick or arrested movements are sometimes interjected into an otherwise smooth and gracious square dance to the accompaniment of 20th century instrumental music.10° Die 'Fliegenden Bänke1 und der 'Frosch' stammen aus The Deafman Glance; "The banquet table ' ist ebenfalls Element in The Deafman Glance, Alkestis und CIVIL warS. Die Figurendopplung der Titelfigur wird auch in Einstein On the Beach vorgenommen. Das fulminante Ende des letzten, siebten Aktes bildet der von einem der 'Stalins' dirigierte Pachelbel-Kanon - ein musikalisches Sterbeszenario, besungen von Neu-Gierigen, die ihre 'News' bereits mit Füßen treten. Im Hintergrund brennt Moskau: The sound of the Chorus builds in volume, frequency and intensity. 'Hap, Hat, Hath, Hap', 'Chick Collect Clickick Collecting' A bassoon plays a tone. A backdrop of a snowcovered Moscow burning descends downstage. On one side of the stage Sheryl, as Stalin, stands atop a short staircase. A crowd rushes in from the opposite side wearing overcoats and newspapers tied around their feet. Stalin gestures three times for them to stop. Stalin has a phone conversation. The chorus takes flashbulb pictures of Stalin talking on the phone. He/she returns to his original position atop the stairs and after a brief pause leads the group in singing to the 'Pachelbel Chorus'. End of piece.101 Richard Schechner glaubt, daß The Life & Times of Joseph Stalin als Sigle für einen Arbeitsabschnitt in Wilsons 'Leben und Zeiten1 steht. Er hält diese Produktion - ganz im Sinne Wilsons - wegen der Fülle der Selbstzitate für eine Rekapitulation der gesamten, bis dahin fertiggestellten Arbeiten. Er nennt The 100 101

Cindy Luban Kapitel Vffl. The Life & Times of Joseph Stalin. A.a.O., S. 7ff. Ebd. S. 17f.

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Life & Times of Joseph Stalin darum eine Retrospektive und schildert seine Eindrücke vom 'rituellen' 'social event', das dieses Nacht-Spektakel für die ausharrenden Zuschauer auch bedeutete: Each of Stalin's seven acts had been performed before, either as pan of Wilson's earlier works or as independent pieces. Thus the twelve-hour performance in the opera-house was in a sense retrospective. [...] People selected for themselves what parts of Wilson's opera to pay attention for, and what parts to absent themselves from. When they went to rest, socialize, have a refreshment, prepare for a return to the opera house, or whatever, the spectators were not ignoring the performance, they were adding a dimension to it. The social end of the coop was as important to Stalin as the aesthetic end.102

Einstein und Patio Auch Einstein On the Beach kennt gleich mehrere stumme, mitunter Violine spielende Einstein-Figuren. Ein Strand jedoch, der etwa wie in The King of Spain, The Life & Times of Sigmund Freud und auch in The Life & Times of Joseph Stalin immerhin nominell einen der Aktivitäten-Schauplätze abgibt, der einen dieser 'Einsteins' dann auch Einstein On the Beach zeigen würde, ist nicht vorhanden. Phil Glass berichtet darüber, wie es - eher zufällig - zu diesem Titel, dem abstrakten Anlaß für theatrale Form, kam. We began with the subject. Since neither of us knew what that would be, this involved lengthy discussions. [...] I recall that Bob proposed Charlie Chaplin as the major character of our work, but I couldn't see how that could be done. [...] Adolf Hitler was another of Bob's suggestions, but this subject was too loaded'. I countered Hitler with Mahatma Ghandi [...]. At one point, Bob suggested Albert Einstein, and that immediately clicked. [...] The actual title of our proposed work appeared somewhat later. [...] The title in its original form was Einstein On the Beach on Wall street. Bob said, 'What do you think?' I said, like it.' I don't think we ever discussed the title again. Somewhere along the way, the title was shortened, but I don't recall when or why. [S. 29] [...] I am sure that the absence of direct connotative 'meaning' made it all easier for the spectator to personalize the experience by supplying his own special 'meaning' out of his own experience, while the work itself remained resolutely abstract.103 Daß also der Titel nicht einmal produktionsintern für die unhintergehbare Identität des Produzierten einsteht, ist nicht nur am Beispiel The Life & Times of Joseph Stalin zu belegen, das zwei Titel für eine Produktion kennt, sondern auch für den umgekehrten Fall, der am deutlichsten mit / was sitting on my pa102 103

Richard Scheduler Performance Theory. New York, London 1988. S. 196f. Phil Glass: Music by Phil Glass. A.a.O., S. 29, 33 [Siehe auch: Kap. Exkurs zu Minimal Art / Minimal Music']. 193

tio this guy appeared I thought I was hallucinating geschildert werden kann. Nach den Unterlagen im Archiv der Byrd Hoffman Foundation und den Rezensionen zu den Theater-Aufführungen dieses Stücks ist Patio dadurch charakterisiert, daß zwei Akteure (Wilson, L. Childs) in einem bürofeudalen Ambiente einzeln und nacheinander denselben Text sprechen, nachdem sie sich zuvor jeweils vier Minuten lang höchst eigen-willig bewegt haben. Anweisungen zu Bühnenaufbau und -Ablauf führen auf: The stage is set but dark except for a spotlighted telephone on a small aluminium table downstage left. The telephone begins ringing continuously 10 minutes before the curtain. [...] The lights come up to reveal a room as the phone stops ringing. The blackdrop is a black wall with 3 open arches. Behind the arches very bright light suggests an open space. Against the black wall there is an illuminated glass shelf, on which is a spotlighted wineglass. Upstage right a man [...]. He ignores his surroundings and moves in a totally self absorbed manner following his own thoughts in silence for 4 minutes.104 Die später angefertigten Storyboards von Tom Woodruff zeigen demgegenüber einen völlig anderen Auftakt. Er selbst schreibt über die Arbeit an der Entstehung seiner Zeichnungen zu / was sitting on my patio this guy appeared I thought I was hallucinating: The storyboards for Patio were done several years after I have first seen the show in New York. We worked in Lucinda Childs' loft and she went through her movements very slowly. We'd both walk around looking at her and trying to figure out things that could be visually interesting in terms of television. Then I would have to draw it. [...] Bob added a new section with a cube falling from the sky but the movement structure of the stage play was basically maintained.105 Verfolgt man allerdings die gezeichnete Geschichte, dann wird ersichtlich, daß sowohl die im Text zum Bühnenaufbau skizzierte 'Handlung' als auch der Raum-Entwurf bis zur Unkenntlichkeit dem Neu-Einfall des 'Stürzenden Würfels' subordiniert sind. Das läutende Telephon und der Aluminium-Tisch sind ganz aufgegeben. Stattdessen wird der vormals bespielte Raum nun als Inneres eines Würfels ausgegeben, der, vom Himmel gefallen, nun auf einem Meer schwimmt und langsam abzusinken beginnt. Die Darstellung des Sturzes und des Absinkens nimmt mehr als zwei Drittel, nämlich 28 von 39 insgesamt zum Stück gezeichneten Bildern ein. Gleiches gilt für den Vorgang des anschließenden Auftauchens des Würfels, der Lucinda Childs als einzigen Passagier dieses Elementar-Raumes freigeben wird. Das auf diese Vorgänge gerichtete Interesse dominiert auch die Figuren-Führung und -Betextung, Wortlos und 104

Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-C / was sitting on my patio this guy appeared I thought I was hallucinating. 105 Tom Woodruff. Zit. nach: Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 183. 194

regungslos: also ohne seine eigentümlichen Bewegungen und ohne Text, verfolgt der Mann seinen Untergang, der ersichtlich wird an dem steigenden Wasserspiegel und den auftauchenden Fischen, die außen um die weit mehr als drei Fensterbogen herumschwimmen. Der Randvermerk zu dem Bild, das die Unterwasser-Sequenz eröffnet lautet: "Shutters go up to reveal underwater scene."106 Der Wechsel zu Lucinda Childs erfolgt nach dem weiteren Einschub des nautischen Verhaltens des nun wieder in der Totalen gezeigten Würfels. Der Kubus, der sich jetzt auf dem Meeresgrund befindet, beginnt, langsam zur Oberfläche aufzutauchen. Die Fensterverschläge öffnen sich und erlauben den Blick auf die stehende Lucinda Childs, die sich auf ihrer Plattform (die Seitenwände des Würfels sind bis auf wenige Stützen aufgerollt) zu drehen beginnt Ein als Kamera-Schnitt angewiesener Perspektivwechsel ermöglicht, Childs darauf wieder im geschlossenen Würfel zu zeigen. Doch wieder öffnen sich die Seitenwände. Allerdings folgt keine Unterwasser-Szene, sondern eine Abwandlung der ersten Childs-Sequenz, die erneut, nun mit einem Sektglas in ihrer Hand, Drehbewegungen auszuführen beginnt Anscheinend spricht sie auch - im zweiten Bild nach dem Kamera-Schnitt - den einzigen Satz der Produktion: 'Dont shoot!'107 Diese Storyboards zu I was sitting on my patio ..., die erstellt wurden, um als mögliche Bild-Vorlagen für Kamera-Einstellungen von späteren Verfilmungen dienen zu können, machen deutlich, daß dieses Stück von Wilson nicht als eine selbstidentische Produktion aufgefaßt wird, deren unangetasteter Fortbestand zu sichern und entsprechend in andere Medien zu übersetzen wäre. Auch sie wird erkennbar als wachsendes Konglomerat von Bildvorstellungen, an das Wilson selbst nach Jahren noch völlig neue Bauteile und Kompositionsideen heranträgt. Die zugesetzten Ideen entwickeln ja nicht die vorhandene Konzeption, sondern benutzen sie, um neue Motive daran festzumachen, die die alten verdrängen. Wilson verwendet also auch die eigenen Produktionen wie Material von einer Baustelle. Er de-konstruiert seine eigenen Arbeiten. Er trägt ab, erweitert, resynthetisiert und baut erneut auf. Patio wird nicht als Vergangenheit betrachtet, die in ihren Bestand fixiert, sozusagen bildversiegelt, archiviert würde, auch nicht als konkrete Problemstellung, nach der eine immanente Kompositionsgestalt zu immer besserer Klarheit entwickelt würde, sondern als 'Idea in Motion',108 als Lebens-Stück, das - so schildert es Woodruff - aus der Erinnerung heraus re-aktiviert und, mit 106

Einzusehen sind diese Produküons-Skizzen mit den Randvennerken Tom Woodruffs im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-C / was sitting on my patio this guy appeared I thought I was hallucinating. 107 Es ist allerdings auch möglich, daß mit dieser Phrase die prägnante Körper- und Armhaltung der skizzierten Childs-Figur auf diesem Bild belegt werden soll: sie wird dort mit erhobenen Armen gezeigt. 195

den Ideen der Gegenwart versehen, neu gestaltet wird. Ein Stück, das mitwächst, also, aber kein Werk. Ausdrücklich rät eine Notiz zu Patio, die der Text-Verschriftung der "Theater-Version' beigefügt ist, potentiellen Stückeverwertern zu Freiheiten in Besetzung und Textgestaltung: It is not necessary that the play be always cast in a similar manner. The first act could just as easily played by a woman and the second act by a man, or the cast could very well consist of two men and two women. In the latter case if the actress should wish to find substitutes for those words (like 'man' and 'fellow') having sexual connotations the author has no objections.10"

KA Mountain-Ideen Eine der frühesten MOUNTAIN AND stammt vom März 1971. Sie ist nichtssagend. darin eine choreographische Basisvorstellung. Wilson - auf einem Abreißzettel 'The Plaza Datum3. März 1971:

GUARDenia TERRACE-Ideen Formuliert wird in einem Satz Sie befindet sich - typisch für a Sonesta Hotel1 und trägt das

Ka - everyone moving exactly the same - N.Y. City110 Das ist nun keinesfalls die Grundidee, aus der heraus das Stück KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE nachvollziehbar entwickelt worden wäre. Es wird sich vermutlich auch daraus entwickelt haben, aber die genauen Entwicklungs-Stränge sind wohl nicht rekonstruierbar. Signifikant an dieser HotelNotiz ist auch weniger ihr Inhalt, als vielmehr die Tatsache, daß sie archiviert wurde. Exkurs: Materialien im Archiv der Byrd Hoffman Foundation Mit einer solchen Notiz eröffnet Wilson eine 'list of ideas' zu den Produktionen, hier zu KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE, die eben nicht eine Idee entwickeln oder zu einer Geschichte führen, sondern auf dem abgesteckten Feld, dessen Grenzen lediglich durch den Produktions-Titel, nicht 108

Anspielung auf den Namen der Jugendgruppe aus Waco, Texas, die 1965 "Modern Dance' von Robert Wilson aufführte. Sie hieß Ideas in Motion. 109 'Post-Script' betitelte Beifügung zur Textfassung von I was sitting on my patio...Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-C / was sitting on my patio this guy appeared I thought I was hallucinating. 110 Robert Wilson: Production Note zu KA MOUNTAIN l dauert: March 3, 1971 - Notiz auf Abreißtettel 'The Plaza - a Sonesta Hotel'. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE. 196

aber durch einen Inhalt oder einen Gegenstand der Auseinandersetzung markiert sind. Sie versammeln Ideen zu einem Kabinett möglicher Bildmomente. So muß denn die oben zitierte 'Idee' einer identischen Bewegung auch nicht notwendig in diesem Stück realisiert werden, ja kann sogar aus anderen, bereits erarbeiteten Produktionen stammen - wie etwa der jetzt so genannte 'FreudChair', der in fast jeder Produktion von The King of Spain bis zu The Black Rider vom Schnürboden herabhängt - oder aber in spätere einfließen - wie etwa die Sequenz THE CAVE, die bereits für The Life & Times of Sigmund Freud konzipiert war, ihre endgültige Ausformung jedoch erst in The Forest erfuhr. Tatsächlich beinhalten spätere 'Listen1 zu KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE dieses Moment der Gruppenbewegung auch nicht mehr. Bemerkenswert ist daran aber noch etwas anderes. Die Erkenntnis der Unhaltbarkeit von durch Form auf Gehalt verweisenden Kunstwerken in der Postmoderne zeigt sich auch darin, daß Produzenten wie Wilson ihre Hervorbringungen als eindeutig definierte Einheiten negieren und ihre spätere Identifikation dadurch erschweren, ja verunmöglichen, daß sie einem Konglomerat von Mutanden eines Stückes denselben Titel geben und deren Manifestationen, verstreut mit einem Wust von sonstigem Material als anscheinend sichtenswerte Archivalien einlagern. Die - kunstbetrieblich lediglich ermöglichte - Schau der Sachen (s.u.!) zum cognitive mapping gibt mit der Aufführung Material zur Kunst an die produktive Wahrnehmung weiter. Aber dieser Prozeß, der nach den ästhetischen Vorstellungen Wilsons die Kunst ist, die die Aufführung lediglich auslöst, ist nicht archivierbar - und über noch so exakte Registrierungen und Kollektivierung des Überstandes wohl auch nicht rekonstruierbar. Tatsächlich steckt in der gewollten Unordnung, der freien Mischung aus kunstbetrieblichem und privatem Zeug - 'It is a mass' sagte mir der mit der Zusammenstellung der Wilson-Kollektion beauftrage Archivar - nicht etwa Geringschätzung der eigenen Arbeit oder ihrer späteren Erforschung, sondern eine konsequent verfolgte, interne Logik des Gedankens an ein Nicht-Werk für Kunst, in der die Differenz von Kunstbetrieb und Leben aufgehoben ist. Archiviert wird nämlich alles, was in die Periode der Beschäftigung mit einer Produktion fällt und als Ding zur Sache somit auch gehört. Die 'list of ideas', die der sichtende Re-Konstrukteur im Wilson-Archiv dann als Fragmente der Kompositions-Tableaus vorfindet: Merkzettel und stichwortartige Reflexionen, Photokopien und Textauszüge unbekannter Herkunft, die mit kuriosen Marginalien, knappen Kommentaren und irritierenden Verweisen versehen sind,111 befinden sich ne111

So befindet sich im 'Stalin'-Umfeld die Photokopie eines Friedrich-Engels-Zitats aus 'AntiDühring': "This is precisely the Hegelian nodal line of measure relations, in which, at certain nodal points, the purely quantitative increase or decrease gives rise to a qualitative leap..." Versehen ist diese Stelle mit der Marginalie Wilsons: PING, PINT, PINK, PINE1. 197

ben Sponsoren und Schauspieler-Namen, Rechnungen und Bühnenverträgen, die nun nicht mehr erkennbar zusammengehörend in den 'Grauen Boxen1 der Butler Library der Columbia University einlagern. Die archivierten Dokumente repräsentieren nicht das historisch gewordene Werk, sondern die technischmateriellen Begleitumstände, ohne die Kunst nicht realisiert werden könnte. Als solche aber haben sie nur Wegweiser-Funktion. Sie sollen gar nicht bedeuten, was sie anzeigen könnten. Und so fehlen Orts-, Datums-Angaben und Urheberschaftsnachweise auf archivierten Gegenständen; darum tauchen produktions-relevante Hinweise neben Gasthausrechnungen und Servietten auf; darum lagern inhaltlich weder thematisch noch systematisch zusammengehörende Blätter in offenen Ordnern - von jedem Benutzer neu sortiert - im Archiv der Byrd Hoffman Foundation. Die materialen Reste sind eben nur Dinge zur Kunst, Überbleibsel eines vergangenen (Er-)Lebens. Der Produktionstitel wird zur Sigle, unter deren Zeichen Kunst möglich wurde, zur Marke für einen (Er-)Lebens-Zeit-Raum: für den Zuschauer betitelt er die Spanne der Aufführung und seine Erinnerung daran; archiviert wird Wilsons eigener. 7rdt//on-Katalog und Tagesraster. Die Unmöglichkeit, einen Verlauf zu rekonstruieren Die nächstdatierte, ausdrücklich KA MOUNTAIN betitelte Notiz vom 14. September 1971 - dem Tag der 'Dinosaur'-Performance anläßlich des BITEFFestivals in Belgrad112 - verfolgt völlig andere Bild-Vorstellungen: -

Lighted Egyptian Boat Passing behind Pyramid Begin each day sitting eyes unfocussed the focussed - taking notes and reading them to each other

Eine andere Photokopie zur The Life & Times of Joseph Sta/m-Produktion, die Dialectical and Historical Materialism' betitelt ist, wird von Wilson ebenfalls mit einer - hier allerdings aufschlußreichen - Randbemerkung versehen und dadurch kommentiert. An dieser Stelle heißt es: "Hence we must not base our orientation on the strata of society which are no longer developing, even though they at present constitute the predominant force, but on those strata which are developing and have a future before them, even though they at present do not constitute the predominant force." Damit, daß Wilson diese Stelle mit der bekannten, in The Life & Times of Joseph Stalin auch tatsächlich eingebrachten Non-SenseKausalsatzkette von Christopher Knowles versieht - er vermerkt 'EMILY LUCES THE TV BECAUSE EMILY WATCHES THE TV'-, signalisiert Wilson, wen er für die zukunftsträchtige, noch durch rationale Prädominanzen unterdrückte Wirkmacht hält: es ist jene 'power over the wild beasts', die vierte, natürliche Dimension des (Rationalen) Schweigens, für die Knowles und Andrews bereits exemplarisch einstehen. Beide Stellen: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-B The Life & Times of Joseph Stalin. 112 Siehe hierzu das Kapitel: Die Schrift und der Körper, die Schrift des Körpers. 198

-

Old people sitting - people from old folks home - sweaters, hats etc We learn how to sit like old people People standing for a day long time making only hand gestures in a line with staff that passes Sunset in Youngs. 6:15 pm Sept. Woman in black robe with path of sand leading to a house Light lit within sleeves (flashlights) - as coming from hand.113

Im Juli 1972 wird Wilson auf Kreta verhaftet. Er wird kurz vor dem Premierendatum gegen Kaution freigelassen (Igor Demjen sagte mir, Aristoteles Onassis habe sie gestellt) und fliegt sofort in den Iran, wo die Proben zu KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE bereits begonnen haben. Noch aus dem Iraklion-Gefängnis stammen diese 'Jail Notes' - vom 7. Juli 1972 -, die persönlich adressierte Ablauf- und Regie-Anweisungen sowie eine detaillierte Requisiten- und Materialliste für den Probenbeginn des 7-Tage-Opus' enthalten. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Aufzeichnungen ist noch ungewiß, ob Wilson überhaupt an dem KA MOUNTAIN-Projekt wird teilhaben können. Diese Ideenliste führt in 88 bezifferten Absätzen völlig verschiedenartige Requisiten, aber auch Vorschläge zur Lautuntermalung auf, die allerdings nicht mit Sicherheit Auskunft geben können über die tatsächlichen Ereignisse dieses lokalen 'Arrangements am Berg', das als 7-tägige Nachschöpfungsgeschichte den Gipfel an Materialaufwand in Wilsons Kunstschaffen bedeutet. Auch hier muß damit gerechnet werde, daß eine Vielzahl der georderten Elemente nicht zur Aufführung gelangt ist. Zudem läßt die offenkundige Heterogenität der bestellten Materialien keine Rückschlüsse auf ihre Verwendung zu. So werden zum Beispiel in Absatz "6) lots of white fabric for many, many, many rooms of white" geordert, in den Absätzen "14) a train conductor's uniform" und in "15) make a stuffed dog like a golden retriever - red dog - doesn't have to move sits in front of fire place". Die 'animalische Seite' dieser eklektisch-mythischen Genesis der KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE-Prodvkuon soll mit den Materialien der § 18-23 abgedeckt werden. Dort wird in "18) a turtle shell - real one" gewünscht, in "19) a large wooden Trojan horse where people can come from", in "20) a giant snake - 40 feet long - note: correction from previous instructions - big enough for people to be inside of + for an old man to crawl in its mouth - the snake crawls out of a hole - spits out a frog and a flower", in "21) an enormous fish such as whale or other kind of fish", in "22) frog to be spit out by snake" und in "23) skeleton of giant fish (maybe paper mach6) to be seen another day - large enough for people to be inside bones". 113

Robert Wilson: Production Note, betitelt 'Ka - 9/14/71 Belgrade, Yugoslavia' [BITEF Festival, B.C.], datiert 10/22/71. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE. 199

Damit wäre eine phantastische Arche Noah gefüllt. Wozu dann in Absatz 24 "an old fashioned radio like from the 30's or 40's if possible" bestellt wird, bleibt unklar. Ob daraus dann dieses, hier von Igor Demjem noch herzustellende Arrangement tönte, ist ebenfalls nicht mehr rekonstruierbar: "46) Igor - an hour long tape of two sounds or tones like a bell - (1) ding - (2) dong pause - (1) ding - (2) dong - pause - (1) ding - (2) dong) - pause over and over for an hour with a pause of a few seconds in between each set of two tones". Cindy Lubar hat diese Notizen nach Diktat in Kreta verschilftet; angehängt ist der Auftragsliste ein von Wilson persönlich abgefaßter, dringlicher Appell an seine Stellvertreter vor Ort: John D'Arcangelo (verantwortlich für Kostümschneiderei), Mel Andriga und S. K. Dünn (Byrd-Mitglieder und Schauspieler in Shiraz). John, Please co-ordinate all work - Make a workschedule - everyone should work together to find and build materials. [...] Kit and I [i.e. Cindy Lubar] may not be there for a while Ann and Andy too - we may have to be here for the trial and we don't know yet when the trial will be. [Am Rand Text in Wilsons Handschrift:] John, Mel, S.K. - Please, see that everyone works - conditions should be as lax as they were in Royamont - I may not get there at all - in which case much more detailed instructions will follow - thank you, don't worry - try to be very polite - and charm every official (S.K. talk to them - also T.V.) they can be of enormous help - last year [Peter] Brook offended them + it made a lot of problems - Thanks again, much love - Bob.114

Die Abläufe in Shiraz zu rekonstruieren, ist, ausgerüstet lediglich mit den Notizen Wilsons unmöglich, da seine Verlaufsskizzen undatiert sind, und somit nicht eindeutig festzumachen ist, was unverwirklichtes Konzept und was tatsächlicher Aktivitäten-Plan ist. Cindy Lubars Aufzeichnungen geben nur einen groben Abriß der Ereignisse wieder. Sie führt zuerst zum Untertitel der KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE-Produklion, der "a story about a family and some people changing" lautet, ausdrücklich an, daß mit dieser 'family' nicht lediglich eine fiktive Gruppe gemeint ist, sondern die tatsächliche 'BYRD HOFFMAN-Family', die diese Produktion zur Aufführung bringt. Auch hier gibt es die explizite Ineinssetzung von Kunst und Kunstschaffenden, die über die Brücke des Wilsonschen Kunstbegriffs zu realisieren ist. The family and the people changing are not just characters to be seen on the platforms and mountain. They are also us as we have worked to develop this piece. ^15 114

Robert WUson: Traklion-Jail-Notes', datiert: July 7th, 1972. Aufgezeichnet von C. Lubar. Angehängt sind eine Nachricht Lubars und ein persönliches Schreiben Wilsons an 'John, Mel & S.K'. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: - KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE. 115 Cindy Lubar: Kapitel VI. Ka Mountain. S. 13 Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-3 BYRDwoMan. 200

Sie skizziert den Grundriß dieser Produktion: Certain characters, themes and audio elements occur on a daily basis, such as the trumpets from Aida, the pine tree ritual, an unknown woman pointing the way and laughing, man of flame, telephone ringing, ten women carrying a white panel overhead, stick man in a rectangle zone, men carrying a tree branch, a gold couch carried, air raid sirens and Jim Neu's radio announcements. These announcements are unexpectedly broadcast throughout the platform scenes. Each one begins with the words 'Attention, please! Attention. This is a national bulletin and we are interrupting the programming regularly scheduled at this time', [...] The theme for the first day is birth, [...] the element water, subthemes are reflected performances, fire and water separation, broken earth, an old man feeding his son. The navel is a dinosaur in a mound of earth [...], in the cube room are knives pointing up from the floor and fire sticks in the belly of a whale, the historic architectural structure is Stonehenge. [...] The theme of birth and the element of water carry into the second day, whose subthemes are old man separation, water gathered into rivers and lakes, and people tied up [...]. The architectural structure, an obelisk. The word FEAR is written on the interior wall of the cube room. The navel is an egg in a mound of earth. The mountain is zigzagged with black and white waves and covered in many places by hundreds of small, stuffed fabric fish. At the base of this mountain are boats. One can walk through the mouth of a giant whale and see Noah's ark at the top of the peak. [...] The element of the third day is earth, the season spring, the navel is a small green tree in a mound of earth. The cube room has no entrance, but a small window through which one can see grass growing, the architectural structure is the Pantheon. [...] The theme of day 4 is puberty, the season summer, the element earth. Subthemes are earth - divided - and heavens (male), earth (female). The navel is a small globe in a mound of earth. In the cube room is a sacred horse. The Arc de Triomphe is the historic structure. [...] The theme of the fifth day is marriage, the season fall, the element air, subthemes and elements are: old man return, family wedding, sun, noon, stars, Indian life, snakes and insects, people and trees. [...] The interior of the cube room is straw, with a castle inside it. The navel is a wing in a mound of earth. [...] The theme of the sixth day is burial, the season winter. [...] Related elements are sand, clouds, rain and, as well as a stained glass window, the garden is a jungle garden, in the cube room a gray green palm and snow, and the navel is a fish in a mound of earth. Two hundred (toy) missiles point up from the ground of this peak. [...] The theme of the seventh day is death, the season winter, the element fire, the color white, the navel is a gardenia in a mound of flour. In the cube room are a bird's nest, holy sinners of the world and celestial chants. In the garden are flowers growing out of the snow. A white ape, a two dimensional New York City and a pagoda stand near the top of the peak. Perched on the highest point of Haft Tan is a large dinosaur. ^ "

Wilsons Typoskripte zu KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE stellen einen gerasterten Tagesplan vor. Es handelt sich um zwei Aufrisse, die einmal die thematischen Tagesschwerpunkte und einmal die intendierten Aktivitäten für die sieben Tage auflisten. Übereinstimmungen mit den 'Gefängnis-Ideen' sind nicht ersichtlich. Nur zu einem Tag, dem sechsten, gibt es im Archiv in der Butler Library der Columbia University eine ausführlichere Verlaufsan116

Ebd. S. 16ff. 201

Weisung, die allerdings auch nicht zu einem wirklichen Eindruck vom KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE-Geschehen verhilft und Aufschlüsse über die Ereignisse zuläßt. Tatsächlich entsprechen die ausführliche Liste und der Tagesgesamtplan nur in einem Punkt einander: dem Tanz der Frau mit Schlangen und Vogel. Diese Teile der Listen werden auch nicht deshalb wiedergegeben, um anschließend das 168-Stunden-Spectaculum wenigstens partiell analytisch aufbereiten zu können, sondern um einen Eindruck von der in erster Linie von visuellen Gesichtspunkten dominierten Material- und Themen-Verknüpfungsweise im Produktionsstil Robert Wilsons zu vermitteln. Zugleich soll die Wiedergabe dieses Materials eine Vorstellung von der Art des Bestandes im Archiv der Byrd Hoffman Foundation eröffnen. Skript I enthält thematische Tagesentwürfe mit Typoskript-Einträgen, die von Wilson revidiert wurden. Skript führt Aktionspläne auf einer Activity Usf. Midnight-Sunset für jeden Tag auf.117 Skript I zeigt folgenden Raster (handschriftlich am Fuß der Seite) für jeden Tag: (nicht alle Rubriken sind jeweils ausgefüllt): Color / Season / Navel / Garden / Animal / Vegetation / Theme / Room / Mell Grid / Plays / Props / Costumes / Actors / Construction. Die Activity List weist folgenden Raster auf: Stunden-Angaben, neben denen die Aktivitäten aufgeführt werden, Grob gegliedert von der Tageszeitangabe: Midnight / Dawn / Noon / Sunset. Zunächst soll der sechste Tag nach Skript I zitiert werden. Sixth Day Color: Season: Navel: Garden:

grey brown winter Jungle

Animal: Vegetation: Theme: Room: Mell Grid: Plays:

Burial

Cindy at desk / white rooms/ zoo / rockets

Props: Costumes: Actors: Construction: 117

KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE: Zwei Typoskripte. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE.

202

Midnight l 2 3 4 5 6

man of flame a story about a family a story about a family a story about a family a story about a family a story about a family Dawn yellow veiled people gathering sticks building wall pine tree dance golden youth descending glowing stone blinds old man passes through battle field

8 9 10 11 12

Noon 1 2 3 4 5 6

old man fights with draped woman Cindy sings The Stickman Indians capture Sue Pine tree dance Buddhas under tree Sunset Cindy at desk Kit and Sue Story for Hope and Raymond platform activities platform activities platform activities

7 8 9 10 11 12 _*„

Sixth Day KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE Activity-List White Room: Cindy at desk old man theme - Return Fish and turtles old man travels to golden City / old woman comes to him and takes him to place of many men and they feast - chief blesses him and he leaves a rich man Dance play (3 women and table) Wilson Dance: 1 pull burning log out of fire dancing 2 Hitting my leg with stick dancing 3 then collapse dead

203

Alley cat board yellow veiled people - many Tower Cindy - Singing Relating to Family Living play - canned laughter, people screaming to music, people have more and more powder (older) put on as play progresses Black dress with orchid woman sings Bell score: 2 Bells - pause - 2 Bells - pause - 2 Bells - pause people in mud carrying a dead body someone's hair being cut Family white room = in bed with girl dancing table, pitcher, glass and fruit Black Bear knocking on door woman sitting with stone glowing in front of her woman as teacher Family white room - remembering last act of Butterfly Figure with skull on book Teacher opens door and old man appears Many poles, some with cross pieces at top / some with sheets and suddenly they well at table with a bottle of wine on it (white table cloth) Family white room III - white elephant that descends from heaven woman looking at glowing stone Sue and Gerard sitting with lots of fire-food, eating, smiling men walking with suitcases woman with bird on her head, dancing with two snakes in her hands people carrying sticks, bring them - drop them in pile walk away up mountain Andy's image someone's feet lifted up golden youth someone singing with head down on concrete soldiers approaching a very small model city - next day seen closer Room with hair dryer at beginning

4. Gegen die falsche Realität der Realität. Ein Kunstprogramm Belegt man die Formattitüde Wilsons generell mit dem Term KunstKunst, so ist deren Überbietung in der De-Konstruktion und Erweiterung eigenen Materials, als die sich das Paf/o-Beispiel lesen läßt, als KunstKunstKunst zu bezeichnen. Diese Terminologie würde, solange Wilson sich selbst eigene Stücke - unter Beibehaltung ihres ursprünglichen Titels - zur totalen Umschreibung freigibt und zum Ausgangsmaterial für völlig neue macht, ad infinitum fortzupflanzen sein. Darum macht es keinen Sinn mehr, dieses Kunst-Verhalten immer weiter (und immer zu spät) mit dem Vokabular der Werk-Interpretation fassen zu wollen.118 Die KunstKunst Wilsons ist damit nicht zu fassen. Sie er118

Dies ist nicht lediglich die Schwierigkeit der Rezeption, die über die Arbeit eines noch le-

204

öffnet hingegen eine Möglichkeit abseits bekannter Alternativen. Den Verweis Wilsons auf den Betrachter und dessen eigene Bedeutungsarbeit also, den Hinweis auf den interior screen, der den Objektiven' Gehalt des Werkes substituieren soll, gilt es demnach, ihn in seinen spezifischen ästhetischen Ansätzen zu fassen. Diese Kunst wird so zum Monolog des Wissens über sich selber. Eine unverortete Kunst also für Rezeptions-Singles. Die Gefahr dabei ist das Ende der Sagbarkeit im Solipsismus und damit der Wissensverlust. Demgegenüber aber steht die Erfahrung, daß über Kunst auch weiterhin kommuniziert werden kann. So löst sich diese Gefahr deshalb auch wieder auf, da das Wissen - auch das des Subjektes über sich selber (nicht jedoch die Erfahrung eines individuellen Lebens als Schlüssel für die private Formation des Wissens!) - eben diskursiv vermittelt ist - und darüber ist zweifelsohne zu sprechen. Insofern kann der Diskurs nun sogar als positive Plattform, ja als Ermöglichungsbedingung dieser Wissenstiftung für eine Analyse benutzt werden. Doch wird, das muß einschränkend gesagt werden, Wilson darum nicht zugleich auch das Gelingen seiner Absichten attestiert, wenn diese dennoch ernst genommen, kollektiviert, systematisiert und für signifikant postmodern gehalten werden. Der 'Research-Folder1 zu The Golden Windows enthält photomechanische Nachdrucke aus einem Film. Es handelt sich um G. W. Pabsts 'Büchse der Pandora' (Box of Pandora). Diese Reproduktionen entstammen dem 1975 erschienenen Werk von Lotte H. Eisner: Die dämonische Landschaft. Im Text dieses Buches, das sich ebenfalls im Archiv in der Columbia University befindet, ist eine Stelle von Wilson hervorgehoben worden. In dieser Epoche des Expressionismus ist nicht nur der expressionistische Stilwille, jene Tendenz, sich von der "Falschen Realität' der Natur zu entfernen, der Anlaß zu Atelierlandschaften gewesen. [...] Das Menschenschicksal im Film paßt nicht immer als neutrale Wirklichkeit in die Natur, es verlangt Stimmungsbilder. [...] Es gibt eine tiefe und geheimnisvolle Beziehung zwischen Mensch und Landschaft.119 benden Künstlers verhandelt, der mutmaßlich 'sein Werk' bis zur "Fassung Letzter Hand' einer selbstgesetzten Vollendung entgegenschreibt. Wilson entwickelt nicht Werke, sondern Material zur Kunst. Zweck ist das Erreichen einer Situation, in der Kunst möglich wird, die Sache geschaut werden kann, nicht Formvollendung in dem Arrangement der Dinge. (Siehe hierzu die Kapitel: Sicht - Dinge -- Schau - Sachen [zu Sache und Ding]; Die Sprache des Stummseins! [zum Kunstbegriff]) Und wenn man unbedingt eine Chiffre für diese Kunst wählen will, so ist, solange man 'Theater' von der Rezeptionsseite aus betrachtet, "Theater der Erfahrung' wohl angemessen - Theater der Bilder1, eine Bezeichnung, die sich eingebürgert hat, ist deswegen zu verwerfen, weil sie lediglich eine Objekt-Beschreibung leistet und nur Vorführungen von Bildern suggeriert. 119 Lotte H. Eisner: Die dämonische Landschaft. Frankfurt 1975. S. 157. Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A TTi« Golden Windows. 205

Es wird zu zeigen sein, daß Wilson seine 'Atelierlandschaften' herrichtet, um sich von der 'Falschen Realität1 der Realität zu entfernen, für eine Kunst, die eine 'natürliche Zivilisation' aufzeigen möchte. In ihr soll das 'Menschenschicksal' wieder als 'neutrale Wirklichkeit' begriffen werden. Die 'tiefe und geheimnisvolle Beziehung' zwischen Mensch und Bühnenlandschaft soll es sein, die wieder Aufschluß über das Wissen geben soll. Still-Real-Life. Die angestrebte Ununterscheidbarkeit von Kunst und Leben. Es bietet sich an, über die Produktionen Wilsons einen Grobraster zu legen, den Christopher Bigsby entwickelt hat. Er beschreibt drei Stadien. Auf die erste Phase der Erprobung neuer Kommunikationsformen folge eine kurze der Ironisierung herkömmlicher theatraler Kommunikationsmuster: eine Strategie der Verweigerung etablierter theatraler Erzählungs- und Handlungsmaximen, die - im Gegenzug - 'Raum für die Rezeption' (Bigsby) eröffnen will. Bigsby interpretiert so - hier zuerst zitiert - I was sitting on my patio this guy appeared I thought I was hallucinating als die Schaltstelle, an der der zweite, anti-theatral ironisierende Produktions-Ast die erste Erkundungsphase ablöst. Danach beschreibt er The Golden Windows als Ergebnis einer dritten Produktionsweise: ein Set reiner Momentaufnahmen, die zu einem veritablen Ganzen zusammenzusetzen der Zuschauer aufgefordert ist. An ihn ergeht somit zuletzt die Weisung zur aktiven Kollaboration, die ihn - ganz im Müllerschen Sinne nicht als passiv rezipierenden Beobachter vorsieht. Where his early work had been concerned with stressing the wide range of available channels for communication beyond language, this work [Patio, B.C.] seems to have been more committed to exposing the inadequacy of language and the incorrigible desire to project deceptive models of the real from fragments. Character, language, and plot are reinstated precisely in order to ironise them [S. 184] [...] The play [The Golden Windows] is not devoid of language. [...] Coherence exists moment by moment. Sometimes the unit is a paragraph of logical prose. Sometimes the unit is a sentence, a phrase or a fragmented word. Sometimes he presents a collage of words unrelated except in their proximity to one another. Sometimes we have a fragmentary plot. The urge to reconstruct a complete, logical and coherent narrative is all but irresistible, but there is no model of truth to be unravelled except in its individual moments and the patterns which form, dissolve and reform. Sound effects, shapes, choreographed movements, frozen moments, modulated voices, images combine less as predetermined fragments of a predestined whole than as sensory stimuli, provocations, implied harmonies and tentative gestures. The incompleteness is deliberately designed to leave space for the audience. [...] their sharpness, their definitional shape is a product of the mind and sensibilty of the observer who becomes thereby more a collaborator than an observer.120 120

Christopher Bigsby: A Critical Introduction. A.a.O., S. 184 u. 185f.

206

Robert Wilson mutiert das Theater von der Stätte der Erzählung, der der Ort lediglich Austragungsort, eine instrumentalisierte Umgebung für die 'Handlung' ist, zum Schau-Platz des Wissens: es entsteht ein Raum für Ideen. Eine geheimnis-heilige Oberfläche eigener Qualität, die zugleich richtungsloser Verweis wie entdeckter Gegenstand ist, dessen Dimensionalität, Proportionalität und audio-visuelle Balance geschaut werden sollen. Gefordert ist hierzu ein binokulares Kunst-Sehen, das die eigene (in-formierende) Wahrnehmung, das Wissen, am gezeigten Stoff reibt und als den elementaren Produktiv-Teil dieser Kunst erkennt; eingenommen werden soll eine Haltung, die im Detail das Ganze, im Verschwinden der kunstgegebenen Antworten die Eröffnung von In-Frage-Stellungen, in Bedeutungslosigkeit und Sinnleere die artifizielle Freisetzung zum Spiel des Wissens mit Wissen wiedererkennt und begreift. Wilsons grundsätzliche Reflexionen zu einer Bühnenästhetik der primär non-verbalen Kommunikation, die im Folgenden referiert und analysiert werden, gehören vornehmlich in die von Bigsby eruierte erste Arbeitsphase Wilsons. Dir ist daher das Hauptaugenmerk der hier angestellten Überlegungen gewidmet. Da, wie auch Bigsby ausführte, Wilson auf dieser Basis eine Kunst des Auditoriums aufbaut, sollen die Produktionen selbst dagegen in den Hintergrund treten und - gewissermaßen - eine Indizfunktion übernehmen. Denn bei ihnen handelt es sich - in verschiedensten Ausformungen - um die Materialwerdungen einer Konzeption, die das geschaffene Kunstprodukt zugunsten einer Intention aufgibt. Seit den allerersten Arbeiten hält sich diese Vorstellung, die trotz der Formenvielfalt hinter allen Arrangements steht, konstant durch. So hat Wilson sein Theater seit je deklariert: The body feels and sees. We don't interpret for the audience, we present ideas for the audience so, therefore, there is more space. Because I don't tell a story, I have lists of ideas — not a single story. [...] I'm saying there is no narrative in that there isn't only one story; there are many stories. However, there is no answer. [...] Everything is a question.121

Da der gesamte 'Körper fühlt, sieht1 und auch spricht, richtet Wilson sein Interesse auf jede für diesen potentiell wirksame In-Formation im Ruß simultaner Eindrücke, die Frage und dann Erfahrung werden kann. Insofern soll seine Arbeit als wesensdifferent von anderen Theaterformen abgegrenzt werden: In theatre one has both visual and auditory elements, communication. [...] In my case, the aural score is equally important to the visual score and they are thought about separately. It's very, very difficult to hear and to see at the same time. For the most part we either do one or the other.122 121 122

Robert Wilson: Interview mit John Szto, New York, März 1985. A.a.O., S.U. Robert Wilson: Interview mit Arthur Bartow, New York Dezember 1982. S. 5. Zit. aus dem Skript dieses Interviews im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: 11-12 Interviews. 207

An anderer Stelle beschreibt Wilson seine Arbeit als die eines undirektiven Arrangements von Material: es ist insgesamt die Option für gewelltes Offenhalten und -bleiben von Aussage, Bedeutung und emotiver Färbung. Hierzu führt er auch aus: Im Theater will ich nicht eine BESTIMMTE Reaktion hervorrufen; wenn ich ein Stück schreibe, versuche ich nicht, etwas zu schreiben, das mit einer bestimmten Emotion aufgeführt werden soll, und als Regisseur sage ich einem Schauspieler nicht, daß er eine bestimmte Emotion oder Idee darstellen soll. [...] Ich erwarte auch vom Publikum keine bestimmte Reaktion. [...] Was man tun kann, ist ohne Zwang eine Situation zu schaffen, in der Reaktionen möglich werden.123 (Es wird im Verlauf dieser Überlegungen zu Wilsons Ästhetik gezeigt werden, daß nicht die Herstellung dieser Situation, sondern erst die darin mögliche Reaktion Kunst ist.) Und darum befindet sich jenes übergroße "Warnschild" auf der ersten Seite des Programmhefts von The Deafman Glance (BAM, Feb. 1971), mit dem Wilson ausdrücklich jede Erklärung seiner Arbeit verweigert. These notes are from my notebook. They offer no explanation to explain what I'm doing although some might think they explain the work. They do not have to be read to further understand the theater.124 Und darum fordert gleich ein doppelter Imperativ auf Titel- und Rückseite des Programmheftes zu The Life & Times of Joseph Stalin, als Klammer vor und hinter der Titelnennung der Produktion, den Rezipienten dazu auf, das "Werk1 selbst herzustellen: Please Compose! signalisiert die Offerte, das aufgeführte Material selbst zu einem Stück zusammenzutragen, zumal dann, wenn auf der Titelseite dem Imperativ sogleich der Stück-Titel folgt: Please Compose The Life & Times of Joseph Stalin muß folglich der Gesamtütel dieser Produktion gelesen werden - mit dem unmißverständlich appellativen Charakter, wahrnehmungsaktiv zu werden, um diese Bühnenkunst erleben zu können.125 123

Robert Wilson: Die Balance zwischen den Wachträumen der Zuschauer und meinen eigenen Bildern finden'. A.a.O., S. 80. 124 Hinweis auf der ersten Seite des Programmheftes von The Deafman Glance, Aufführungen BAM, Feb. 25 & March 5, 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Buüer Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance. 125 Das Programmheft zur New Yorker Aufführung von The Life a Times of Joseph Stalin [BAM, Dez. 1973] trägt auf der ersten Seite den Imperativ 'Please Compose!1 Es folgt auf der gegenüberliegenden Seite dann der Stücktitel (auf je einer Seite) The Life / and Times / of Joseph / Stalin. An opera. Auf der letzten Seite (dem Wort Stalin gegenübergesetzt) ist wieder 'Please Compose!" zu lesen. Dieser Imperativ rahmt also das Programm. Zit. nach: 208

Die - konstruktive - In-Fragestellung ('Everything is a question', s.o.!) durch Wilsons Konzentration auf reine Bildbewegungen verwirft einen Stück-Inhalt als Geschichte, Aussage oder Vermittlung psychisch-emotionaler Zustände: die dem Wissen offenbar werdende Vielschichtung der 'realen' Handlung ist nach diesem Entwurf selbst die Erzählung. Darum kann Wilson diesen 'Tigersprung1 zwischen Kunst und Leben im split panel (s.u.!) wagen, der das kunstverortete Real-Gesehenen wie ein Vexierbild - gefaßt im Spiel mit dem Topos aus der Kunstgeschichte - zugleich Kunst und Leben nennt: Das 'Still-Leben1 in folgenden Zitat ist terminus technicus, somit als nature morte der Kunsthistorie zu begreifen. Ein 'gefrorenes' Arrangement der Dinge. Es ist aber auch wörtlich zu übersetzen und als stilles, laut-loses Leben aufzufassen: insofern wird mit diesem Still-Leben eine bühnenverwirklichte Bildtat benannt, die als ausfächernde Fortschreibung des Lebens126 ('Real Life') zur Kunst gedacht ist: The 'plot' becomes all the actions, entrances, and gestures which take on proportions of minute concentration - even the most seemingly irrelevant activity is suddenly blown out of, or beyond proportion - no matter how it happens it becomes more captivating, noticeable because one is seeing the stage business as what it is (as 'Business') and becomes primaryprimarily of interest or the center of (visual and theatrical) focus. The Still-Life is the RealLife.127 An anderer Stelle erläutert er - vordergründig -, warum er seine Arbeiten Operas' genannt hat. Tatsächlich aber insistiert er wiederum auf jener KunstLebens-identität, die seine Arbeiten erreichen, ja sein wollen. I call my work an opera because everything in it happens at once, the way it does in operas and the way it does in life. ^28 Mit diesem Vexierbild des 'Still-Real-Life' oder der 'Lebens-Oper' ist aber auch angedeutet, daß für Wilson das Vorzeigen von Wirklichkeit nicht wiederum Wirklichkeit produziert. In Wilsons Theater sollen die Dinge nicht länger sein, was sie sind - sie geben ihr weiteres Dingsein nur vor und erschwindeln es, um Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: m-D The Life & Times of Joseph Stalin. 126 Sicherlich wird diese These auch durch die dritte Übersetzungsvariante gestützt· Das StillLife ist schließlich auch still life oder still alive, also weiterhin oder immer noch Leben. 127 Byrd Hoffman [d.i. Wilsons Psydonym in den 60er Jahren]: Production Notes on The King of Spain, a play presented by the Byrd Hoffman School of Byrds. In: William M. Hoffman: New American Plays. Vol. 3, New York 1970. S. 241-272. Hier: S. 256 Hervorhebungen von Wilson. 128 Robert Wilson in: Cindy Lubar: Kapitel IX. A letter for Queen Victoria. S. 28. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III-3 BYRDwoMan. 209

als Sachen Auslöser für Kunst werden zu können. Wilson setzt ein absolutes Zutrauen in die Fähigkeit jedes Körpers, wahrnehmend zur Eigentlichkeit der Sachen ('The body feels and sees', s.o.!) vorzudringen. So versuchen zum Beispiel er und die Byrds seit je hinter der Oberfläche der Sprache die Ebene der reinen Laute für das in sich selbst ruhende Bewußtsein zu erreichen. Dieses Zutrauen bewirkt so, daß die Auflösung von Sprachnormen begrüßt wird, etwa in der Korrespondenz, aber auch in den tagebuchartigen Aufzeichnungen, die im Vorfeld von Produktionen entstehen. Die Zerstörung textueller Zusammenhänge und das Spiel mit den resultierenden Ruinen, Fragmenten und kontextfreien Sprachbrocken gilt nicht nur als weithin sichtbares Dokument für kreative Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt, sondern wird auch als ergriffene Möglichkeit zur Restitution einer ursprünglichen, authentischen Sprachmacht, damit als Zugewinn an Individualität gefeiert.129 Nötig scheinen Wilson diese Strategien zur Rückbesinnung aufs (vermeint) Eigentliche, da dem Bewußtsein die Fähigkeit fehle, besser: abhanden gekommen sei, die Fülle und jeweilige Komplexität der In-Formationen innerhalb einer einzelnen Wahrnehmung zu durchdringen. Das permanente Bombardement von Eindrücken übersteige die kognitiven Kapazitäten nicht nur derart, daß im überwältigenden Fluß von In-Formationen das Moment einer wirklichen Erfahrung des Besonderen untergegangen sei; der rationale Raster, der diese Eindrücke als prädominante Instanz filtert, sondere zudem die eigentlich relevanten, die eigentlichen In-Formationen der Existenz aus, diejenigen nämlich, die von Wilson 'the spirit1 genannt werden. Small activities Wilson behauptet nun, daß die Fähigkeit zur Generation dieser 'stummen Sprache und Sprachfülle des Blicks' (a) durch Reduktion der In-Formationen des Augenblicks und Konzentration auf die mentalen, körperlichen Reaktionen, die sie jeweils auslösen, erlernbar und (b) durch Vorführung vermittelbar ist. Er bezeichnet seine frühen Performances von 1964/65 in San Antonio, Texas, als persönliche Initiation, die entscheidende Erfahrungen in ihm ausgelöst habe. We did small activities. [...] I learned a lot from what I think. I learned that part of it was that as a performer somehow if I could relax to begin with, If I could release the tension in myself, then the situation would be better, because then the exchange of energy between me and the audience was an even flow and it wasn't blocked. And that helped [...] And then 129

Überlegungen zu diesem Gebrauch der Schrift-Sprache werden weiter unten im Kapitel Die Schrift und der Körper, die Schrift des Körpers' angestellt, das auch Beispiele hierfür anführt.

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I started again going back to my body. Well, how do I relax it? [...] I was trying to go back to the simplest thing I could do; how do I walk, walk out on the stage and how do I sit in the chair and walk off, can I do that, is it necessary to have a story, is it necessary to have characters, is it necessary to have symbolism? [...] I tried not to have any of that, I tried as much as possible to strip all of that away.13°

Seine Arbeit weise - diesem Ansatz zufolge - damit auf das Feld einer unmittelbaren Rede. Sie schärfe die Bewußtheit, sich dort neu zu orientieren, gerade im Versuch, weder direktionistisch zu manipulieren noch jene erstrebenswerten Resultate vorwegzunehmen, die ohnehin - so versteht es Wilson nicht in gewohnt sprachliche Kommunikation rückübersetzt und vermittelt werden könnten. Diese Rede gilt Wilson als das Eigene, das einer wiederum eigenen Erfahrung zugänglich gemacht werden soll. Insofern vermittelt diese Arbeit zur Kunst nichts, sondern sie will ermöglichen. Und hier berührt denn auch Kunst die Therapie. In einem Report über seine therapeutische Arbeit in den New Jersey Classes131 führt Wilson diese Argumentation explizit an und macht sie sofort auch für seine Kunst geltend. Der Begründungsbogen, der über diese beiden Ebenen, Kunst und Therapie, geschlagen wird, behauptet einmal, daß, wenn ihr Raum zur Entfaltung bereitgestellt werde, diese Art der bewußtseinsgeschärften Erfahrung über das separierte Detail hier wie dort nur je individuell entstehen werde; zum anderen, daß dieser Subjekt-spezifische Austausch zwischen Selbst und Welt - oder die Tiefen-Kommunikaton mit der Welt - nicht eingefordert und reglementiert werden könne, weil er - unkontrolliert-unkontrollierbar - passiere ('All these kinds of things are happening' s. u.!); und drittens, daß die tatsächliche Fülle an erfahrener In-Formation durch den Versuch nachträglicher Beschreibung und Berichterstattung, also durch den Versuch einer Ruck-Übersetzung in die diskursiv verfügte Begrifflichkeit, zu Vokabular reduziert und darum kupiert werde. Jeder Versuch einer anschließenden Entäußerung in interpersonale Kontexte oder einer Überführung in etablierte Kommunikationsmedien (Nachstellen, Berichten) sei zum Scheitern verurteilt, weil Reportagen nur punktuell und unzureichend Erlebtes wiedergeben können. Darum ist dieser Austausch Privatsache des erlebenden Subjekts. Er ist eindeutig an die Konditionen eines Individuums und dessen Situation gebunden. Mithin an den unkalkulierbaren (Zu-)Fall, daß eine individuelle Verfassung und eine mögliche Selbst-Entdeckung, bzw. -Eröffnung der Sachen auf der Bühne sich zu einem erlebten Nu verbinden, der sich ganz mit dem Augenblick seines Erlebens - und nur dort - erfüllt. 130 131

Zit. nach: Stefan Brecht: The original theatre of the City of New York. A.a.O., S. 28. Gemeint sind die 'movement-workshops' von 1968 am Summit An Center in New Jersey, aus deren Teilnehmern sich die ersten Mitglieder der Byrd Hoffman School of Byrds rekrutierten. 211

Aber es ist nicht nur bloßes Ungenügen der Rede, die zu dieser Kunst besser Schweigen läßt. Denn die Wahl der Worte - und es ist hier wesentlich, daß der genitivus objectivus als ein subjectivus begriffen wird, denn es sind jetzt die Worte, die (aus-)wählen - decouvriert ein weiteres Mal den Willen zur Überwältigung des Individuums und seiner wiedergefundenen eigenen Sprache durch die in ihre Rationalität eingeengte Institution der diskursiven Rede: individuell sprach-befreite Sinne erheben sich - nach der Vorstellung Wilsons über die Kunst also gegen das zwängend-zwingende Kommunikations-Korsett des rationalen Diskurses, deshalb ist diese Kunst für die Rede besser 'Nichts und Alles' (s.u.!), besser dem Diskurs bedeutungslos und brach liegendes Feld der Möglichkeit als definiertes Ding. Und das, obwohl sie soviel bedeutet: denn diese Kunst schafft - über das cognitive mapping - Zeit durch Raum, den spirit des Wissens. Wilsons Erfahrungsbericht zu seinen New Jersey Classes: In these children I sensed not only a deep, special talent but channels usually unknown for establishing lines of communication. [...] Because of bodily maladjustment in a certain sense there was an extended range of feeling or, even, sensibility that, once uncovered, meant an expansion of awareness and communication. [...] It means that the teacher has to find a way to adjust to the vocabulary or sets of gestures the child sets up [...] Maybe you just can't demand, even like in theatre, too, any of the usual standards. You have to be prepared to float for a while and accept whatever happens.132 You have to let the circumstance work itself out so that whatever exchange or dialogue is possible is permissible. [S. 271] [...] It was specifically because of my work in children's theatre that these very basic (felt) processes which I observe everyday in the classroom became also relevant to an understanding of self, or character, or theatre: a child is always presenting himself: nothing more or less. An observant person, or one who is 'creative1 or sensitive can contact the special, positive side of the personality - that is as long as you don't oppose, impose, or make demands on the kids. You can't teach Art to children, just as you can't define, specify, buy, or mass produce it for adults. Sometimes Art is nothing and sometimes it is knocking around in swamps instead of singing Christmas carols and sometimes it's allowing for all possibilities and sometimes it is talcing exception. [...] All these kinds of things are happening, that is, entertaining, arresting, educational, and hence, theatrical.133 Gegen das immanente, 'falsche Bewußtsein' der Moderne, die unter dem Herrschaftszeichen der Vernunft eine komplexe Fülle möglicher In-Formation zugunsten eines vorgeblich linearen, indes lediglich begrenzenden und begrenzten, wahrnehmungs-verarmten Austausches beschneidet, um doch immer nur über die Dinge, d.h. sich selbst zu reden, soll die Erfahrung für die Sprache der 132

Im Typoskript der Production Notes zu The King of Spain lautet dieser Satz: Maybe in theatre you can't demand any of the usual standards - You have to be prepared to float for a while and accept whatever happens." S. 17 Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: - : King of Spain. 133 Byrd Hoffman [d.i. Robert Wilson]: The King of Spain. Production Notes on The King of Spain. A.a.O., S.271f.

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Sache, die Welt als reine Möglichkeit geöffnet werden, die den Wahrnehmenden in irreduzibler Totalität umfängt. We're not particularly interested in literary ideas, because having a focus that encompasses in a panoramic visual glance all the hidden slices ongoing that appear in clear awareness as encoded fragments seem to indicate theater has so much more to do than be concerned with words in a dried out, flat, one-dimensional literary structure. 1 mean The Modern World has forced us to outgrow that mode of seeing. We're interested in another thing, another kind of experience that happens when encoded fragments and hidden detail become without words suddenly transparent.134 Erst in diesem Kosmos audio-visuell wahrnehmbarer Fragmente, Partikeln der Sachen, sei - unter Aufgabe des uneigentlichen, nur scheinbar individuierten, tatsächlich aber diskursiv überwältigten Aktionswillens zur vemunft-diktierten Rede - sowohl der Körper als passiver Resonanzboden für das Selbst-Sprechen der Sachen und die eigene Stimme als wiederum intern in-formierendes Agens zu gewinnen.135 Nicht Partizipation an der Konstruktion der Dinge innerhalb eines diskurs-gewölbten Handlungsspielraumes ist beabsichtigt, sondern freiwillige Segregation zu einem Selbst, das Sachen wieder erfährt. Allein wegen dieser Basisdifferenzierung zwischen Aktion und Reaktion in den Intentionen Wilsons können seine Arbeiten nicht politisch motiviert genannt werden - es sei denn, man attestierte der durch diese ScAau-Spiele zu selbstgewisser Erfahrung gelangten Rezeption dann die Kompetenz (und Wilson die Absicht, dies erreichen zu wollen), die gewonnene Erfahrung wieder rekursiv - auf interindividuelle Kontexte anzuwenden und so politisch fruchtbar zu machen. Es ist nun die 'Sicht der Dinge' zu verhandeln, die sich, wie Wilson meint, zur 'Schau der Sachen', damit vom Sehen-wollen, -müssen zum Sehen-können wandeln könnte.

134

Robert Wilson, Zit. nach: Stefan Brecht: The original theatre of the City of New York. A.a.O., S. 421. 135 Natürlich werden die Sachen nie selbst sprechen. Es gibt ja keinen diskurs-unvermittelten Zugang zu ihnen, und sie werden immer Dinge sein und bleiben. Die Foucaultsche Diskursanalyse, die in dieser Arbeit herangezogen wurde, wird nicht durch Wilsons Mutmaßung zum 'spirituellen Geheimnis hinter der Oberfläche' hintergangen. Tatsächlich ist dieser Wilson-Standpunkt nicht inhaltlich interessant als Korrektur einer Foucaultschen Position, sondern im Hinblick auf die Möglichkeit des Diskurses selbst, des Kunstbetriebes, der diese Äußerungen legitimiert. Wilsons Ort innerhalb des Kunstdiskurses ist getragen und gekennzeichnet von einem unendlichen Optimismus auf die kognitiven Potenzen explizit nicht-diskursiven Wissens. Der Kunstbetrieb absorbiert hier sein Anderes der Kunst und behauptet auch so seine Macht. Siehe hierzu auch den Exkurs 'Sicht - Dinge - Schau Sachen'! 213

Exkurs: Sicht - Dinge — Schau - Sachen Eine Unterscheidung ist schon mehrmals in diesem Text aufgetaucht, und sie mutet an, als stünde hinter ihr die Akzeptanz eines Kantschen Dings an sich: die Trennung von Dingen und Sachen, von Sicht und Schau will aber auf etwas anderes hinaus. Der hier eingeführte Gegensatz soll bestehen zwischen Dingen, die gesichtet und Sachen, die geschaut werden. Mit diesen Begriffspaaren soll diese implizite Unterscheidung belegt werden, die Wilson vornimmt, wenn er auf den besonderen Wert des separierten Details hinweist, auf das sein Theater hinarbeiten will. Übernimmt man Heideggers Diktum, so wäre die Kunst Wilsons phänomenologisch orientiert zu nennen, da mit ihr die Sicht als (rationale) Beschränkung der Betrachtungsweise des (Welt-)Materials, die ihre Dinge herstellt, aufgehoben werden soll zugunsten einer Schau der komplexen Fülle, einer Welt-Vollständigkeit der Sachen. Sie will damit also 'zu den Sachen selbst'. Heidegger beschreibt ja die Phänomenologie primär als eine Methode, sich philosophisch mit den Gegenständen auseinanderzusetzen. Der Ausdruck Phänomenologie [...] charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser. Je echter ein Methodenbegriff sich auswirkt und je umfassender er den grundsätzlichen Duktus einer Wissenschaft bestimmt, um so ursprünglicher ist er in der Auseinandersetzung mit den Sachen selbst verwurzelt, um so weiter entfernt er sich von dem, was wir einen technischen Handgriff nennen, deren es auch in den theoretischen Disziplinen viele gibt. Der Titel Phänomenologie drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: 'zu den Sachen selbst!'- entgegen allen freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, entgegen der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen, entgegen den Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch als 'Probleme' breitmachen.136

Phänomenologisch also ist eine bestimmte Untersuchungs-Haltung zu nennen, die radikal zu den Gegenständen will, mit denen es ein Diskurs zu tun hat und die sonst, unhinterfragt zwar, aber von ihm hergestellt, als die Dinge verhandelt werden. Damit aber ist das Problem angedeutet, um das es geht und für das hier eine terminologische Antinomie aufgebaut, die indes nur rein technisch, d.h. im Sinne operabler Begriffe, gebraucht wird. Bezeichnet werden mit Dingen - im Sinne Foucaults - Diskursprodukte, also jene in-formierten Gegenstände, deren Prä-Formation nicht ein einzelnes Subjekt, sondern der Diskurs besorgt. Der sich selbst belassene Gegenstand, quasi die reine Entität selbst, so fraglich und überfrachtet mit Vorbehalten die Möglichkeit seines Erreichens oder Erkennens auch hier erscheint, soll mit 136

Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 151979. S. 27f.

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dem Term Sache belegt werden. Die Sache ist das hypothetische Konstrukt eines Materialbestandes, den Diskurse zu Dingen formen können (s.u. Apfelmetapher!): die Sache ist dem Diskurs Auslöser für das Ding - dieses ist (diskursiv) variabel, jene nicht.137 Die Sache bildet dabei je den reinen Grund des Dinges. Ein allerdings verborgenes, ja kaum antastbares In-Defintum, aus dem der Diskurs sein Ding ableitet. Dieses Ursprungsdenken sollte als Folie vor die folgende Metapher gespannt werden. "Well", antwortet Wilson nämlich auf die Frage, wie er Tradition und Vergangenheit in seine Werke für die Gegenwart einarbeite, "I think the world is a library. So you have all these references. I think I'd be afraid to be called an eclectic though my work is so eclectic. I refer back to the image again of the crystal which is inside the apple with windows to the world."138 Die Apfelmetapher deutet auf diese Marge zwischen Ding und Sache. Gebraucht wird sie - im Bild bleibend - von jemandem, der seinen Standpunkt innerhalb des Kristalls, also der Sache bezogen hat Er schaut von dort durch die geöffneten Fenster der Dinge, des Apfels auf die Welt - und weiß, daß diese wiederum, durch dieselben geöffneten Fenster, auf die Sache zurückschauen kann. Interpretiert man dieses Bild weiter, so wird deutlich, daß Wilson seine Kunst der Gegenwartsoberfläche (Apfel) mit einem 'harten wohlstrukturierten Kern' (crystal) versehen wissen will, der den Blick auf den enzyklopädisch ausgebreiteten Wissensbestand der Menschheitsbibliothek (library) freigibt. Hinter der also offensichtlich weich beschaffenen Form der Oberfläche (der Dinge) wird die reine Kontur, der klare Stoff (der Sache) vermutet Der Welt eröffnende Kern, der alles zusammenhält, Einblicke und Ausblicke gestattet, um den herum der diskursiv geordnete Wissensbestand der Dinge angesiedelt ist (library), die als ein überwucherndes Gespinst (references) nur auf ihn verweisen, bildet ein kristallines Zentrum. Es ist Metapher für die Idee der Sache, die selbst diskursiv unantastbar, undurchdringbar, einzig bleibt - und gleichwohl Wissen ist. 137

Ein banales Beispiel ist das Ding Sonne, das je nach Diskurs denotiert und konnotiert wird: etwa - astronomisch - Begriff für das Zentrum eines Planetensystems oder - poetologisch · verweisendes Symbol (...zur Sonne, zur Freiheit; ...In dieser Woge spiegelte so schön die Sonne sich...) ist, also zweifelsfrei gleichberechtigte, jedoch unterschiedliche Bedeutungsund Ausdeutungs-Felder eröffnet, die aber denselben Begriff als ihre "Referenzgröße1 ausweisen. Die Dinge, die sich auf sie beziehen, sind demnach nicht eindeutig oder statisch fixiert. Selbst in der Geschichte eines Diskurses wandelt sich ein Ding: das geozentrische Weltbild verhandelt die Sonne als gebunden-bewegten Stern, das heliozentrische als bindend-bewegenden Planeten. Alle Diskurs-Variationen zur Sonne beziehen sich auf eine Sache Sonne, die nie extradiskursiv gefaßt ist, insofern auch nicht existiert, aber als hypothetischer 'Auslöser1, Ent-Gegenstand für In-Formation (ein Ding an iicft?) aufgefaßt werden muß. 138 Robert Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S. 22. 215

Diese Apfelmetapher hat Wilson nämlich schon zuvor in diesem Interview angewandt zur Beschreibung seiner Vorstellung einer idealen Stadt: "What is important to me is that our villages and cities be like an apple with a cube at its core. This cube undoubtly is a crystal cube with windows to the world [...] it's like a T.V. with windows to the world. It could be anything: a university, a museum etc."139 Markant ist nicht nur die Analogie, mit der Wilson Vergangenheit und Tradition der Kunst in den Kontext einer Raumgliederung bringt, also Zeitphänomene geographisch artikuliert. Hervorzuheben ist gerade auch, daß Wilson dieses 'Stadt-Zentrum' als einen Ort des praktischen und historischen Wissens deklariert. Es ist ein zu sich selbst gekommenes Wissen,140 das den Kern dieses 'Big Apple' der Welt abgeben wird. Diese Relation wird von nun an als Klammer mitzudenken sein. Die Dinge sind für Wilson damit das Material, das je um die Sache herum entstanden ist. Sie sind jetzt die durch Rationalität bewirkten Reduktionen, Bruchteile eben der Sachen, zu denen selbst dieses Theater gelangen will. Jedoch nicht auf dem Weg, den Dingen sichtend auf den Grund zu gehen, sondern es will ermöglichen, durch offene Fenster auf den Kristall der Sachen schauen. Dieses Theater will ja 'zu den Sachen selbst' und nicht zu den Dingen zurück. Es will radikal zu dem darin enthaltenen Wissen - und darum an den Dingen vorbei. Insofern ist nicht beabsichtigt ein die Dinge erhaltendes Verfahren, nach dem sie je ihrem gewohnten diskursiven Kontext entrissen, kunstbetrieblich in-formiert, also zu Dingen des Kunstbetriebes umgeformt und eingesetzt werden. Sie sollen nicht in Werken der Kunst wiederum als bedeutungsvolle, expressive und diskursiv konnotable Symbole oder Zeichen rückwirken auf die diskursive Verhandlung von Dingen überhaupt. Sie wären so wieder, was sie stets waren: objekthafte Verweise (References) innerhalb und außerhalb von Kunst.141 Das wäre eine intentionale Transformation lediglich 139

Ebd. S. 16f. Erst jetzt, während der Schlußredaktion dieser Arbeit, bin ich auf eine Äußerung Wilson gestoßen, die als Ziel seiner Arbeiten explizit die Ent-Deckung dieses authentische Wissen, den Kem des Apfels, aufführt: "Was ich höre, das höre ich, was ich sehe, das sehe ich. Und selten in meinem ganzen Leben haben diese beiden Dinge etwas miteinander zu tun. Wir können nicht begreifen, was wir sagen. Wir können nicht begreifen, was wir tun. [...] Sokrates sagt, ein Kind weiß bei der Geburt schon alles; was wir zu tun haben, ist die Ent-Deckung des Wissens, das schon da ist. Das authentische Erlebnis des Theaters ist also das Ent-Decken. [...] Im Publikum geschieht die Mischung. Sie ist bei jedem Menschen anders. WIR können Heiners Texte und Davids Musik und meine Bilder nicht mischen. Das Publikum wird es tun." Robert Wilson: Textarbeit. Im Programmheft zu The Forest (i.e. 10. Kapitel des Programmheftes). o.S. Berlin 1988 [Kursiv-Setzungen von mir]. 141 Gemeint ist hier der Verweis der Dinge sowohl auf die Realität der Diskurse außerhalb der 140

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der Dinge, die dadurch geschieht, daß diese zwar auf verschiedene, allerdings immer auf diskursive Felder gestellt würden. Die Veränderung der Dinge zu Arte-Fakten, Kunst-Produkten, geschähe, selbst im deiktischen Akt bloßen Vorzeigens, allein schon dadurch, daß die Kunst sich ihrer annimmt. Hier wechselte also lediglich der diskursive Rahmen und mit ihm die (diskursive) Sicht, mit der, gleichwohl, Dinge als Dinge wahrgenommen werden. Das Verhältnis zwischen Dingen und Sachen gestaltet sich derart, daß der Diskurs Dinge aus Sachen zurechtstutzt, die so sicht-bar, also mit prä-formiertem, ausgerichtetem Blick gesichtet, nach speziellen Kriterien geordnet und differenziert werden können. Sicht ist der aktive Vorgang einer per-spektivischen Selektion nach diskursiver Vorgabe: sie seziert aus einem Angebot der Sache das heraus, was ihr mögliches Ding sein kann. Sie meißelt also mit ihrem Blick unter der Führung des Diskurses je das Ding, ihr Ding aus der Fülle der Wahrnehmungsmöglich-keiten, als die sich die Sache offeriert. Die Plattform hierzu, die Warte der Sicht, stellt der Diskurs. Und damit befallt Historizität die Dinge, sie fallen als seine Produkte mit dem Diskurs in die (reale, nicht individuelle) Zeit - kollektiviert im Archiv oder der library'. Die Sicht erkennt je mit gerichtetem Blick, jenem regard dejä code, dem eingesetzten Augenlicht. Sie hat damit immer - vorab - ein sehr bestimmtes Wissen von dem, was sie sichten will: 'Land in Sicht1 - ruft ja endlich auch der Ausguck, der abgestellt wurde, um danach zu suchen. Es steckt daher eine permanente Anstrengung, ein kontinuierliches Muß zur Absonderung von diskursiver Redundanz, von Wahrnehmungsballast in der Sicht. Daß der gewählte Term 'Sicht' in etymologischer Nähe eines anderen, nämlich der Sichtung, der ordnenden Bearbeitung, Sondierung von Material anzusiedeln ist, wird hier nicht nur hingenommen, sondern sogar als Glücksfall gepriesen. Ganz anders die Sache. Der Kristall im Apfel. Die Sache liegt dem Ding, als das sie diskursiv erscheint, zugrunde. Sie ist das (allerdings nur theoretisch mögliche) Konstrukt eines 'reinen Gegenstandes': pure Materialität, die die Vielfalt von Wahrnehmungsweisen eröffnet, aus der der Diskurs je auswählt, mittels der er sein Wissen gewinnend bestätigt. Die diskurs-unangetasteten Sachen werden, da sie noch nicht (rational) dechiffriert sind und nicht in einer Ordnung der Dinge vorliegen, nicht gesichtet, sondern geschaut, d.h. (mehr oder minder passiv,) bedeutungslos wahrgenommen. Beschrieben vom Vater Christopher Knowles' lautet dieser Befund: "He [Wilson] watches and he listens and he is able to catch these things and then pluck them out of context Kunst als auch auf andere Zeicben derselben Einheit innerhalb ihres eigenen Diskurses. Ein Beispiel für einen inhärenten Verweis sind 'die Stiefel' als Verweis auf den Vater in Strindbergs "Fräulein Julie', die als pars pro loto, die Omni-Präsenz dieser Figur, damit natürlich ihre Macht, be-deuten. 217

and look at them, and see them for the pure things they are."142 Die 'Schau der Sachen' meint also eine Erfahrungsweise, die un-in-formiert, nicht diskursiv involviert, also interesselos nur wahrnimmt und sich unbeteiligt dem Strömen der Fülle von Eindrücken aussetzt. Lesen, Erkennen und eine interpretative (Re-)Konstruktion der Verweise durch Bilder soll in Wilsons Bild-Sequenzen nicht stattfinden. Der Schau präsentiert sich daher ein unausdeutbares Gesamt als Sache. In der Schau matrizieren die Sachen das Sehen, verkehren also damit die diskursiven In-Formations-Vektoren. Sie wollen ihren bedeutungsverleihenden Diskursen enthoben sein. Sie sind in keine Hierarchien oder konsekutiven Relationen mehr zu bringen. Alles ist darum gleich bedeutend, bzw. gleich unbedeutend, nur da: The actor does not impose to the audience. So, a rock, a chair, or a window is just as important as what the actor is doing. All the elements are equally important.143 In den absichtslosen Blick gerät das Seh-, nicht Sichtbare, als Panorama seiner Möglichkeiten. Dem 'nackten Auge1 eröffnen sich so die Inklusionen der 5 chen als die entdeckten Möglichkeiten eigenen Wissens. Die Stoßrichtung dieser Ästhetik ist auf die Entschälung der Dinge aus ihrem Diskurs aus und gibt vor, das Gitter je sprengen zu können, das Sachen als Dinge fixiert und mit rational erfaßbarer Bedeutung entstellt. Sie möchte ermöglichen, ursprungsendliche Sachen aus der Verhüllung ihrer Diskurse herauszulösen. Die neue Seh-Hörweise, die Schau, erfährt lediglich, daß etwas passiert, erfährt z.B. die Metamorphose des Raumes als Resultat visueller Sensationen, die mit dem Wissen spielen, bzw. dem Wissen mit-spielen. Sie erfährt den Klang von Stimmen, die nicht reden, erfährt im Licht Form und Farbe als mögliche, basale Erscheinungsweisen der Sachen. Darum kann Wilson in einer Note zu The King of Spain, die wie ein Abriß eines Programms des cognitive mapping anmutet, feststellen: I began to think more and more about the images, more about them how there were so many different detailed elements in each and more how they all seemed to be the same, equally the same whether they were a person, a chair, a piece of fruit or an animal [...] discovering in tiniest thing the most significant happening of daily life a clue to what's happening.144 142

Zit. nach: BUI Simmer: Robert Wilson and Therapy. In: The Drama Review 20/1976, S. 100. 143 Robert Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S.U. 144 Production Notes zu The King of Spain. Hier: von Wilson korrigierte Vorarbeiten im Typoskript der Cindy Lubar. Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen. Datenvermerke: Sept. 1,2,3,4, 1971 und Verweis 'Draft'. Zitat ist handschriftliche Fußnote auf der Seite 4, Draft v. 4. September 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: II-6 School ofByrds. 218

Die Schau will damit Begriff sein für Wilsons oben bereits zitierte Beschreibung jenes 'panoramic visual glance', die darin nun (von selbst) auftauchenden Möglichkeiten der Sachen sollen den 'encoded fragments and hidden details' entsprechen, die plötzlich 'transparent', sichtbar werden. Insofern verbirgt sich hinter dem Still-Real-Life, das Wilson mit seinen Produktionen anstrebt, natürlich nicht die nahtlose Fortsetzung des dingverstellten Alltags mit lediglich anderen (Kunst-)Mitteln, sondern die als Kunst erlebte Ausfächerung dieses Alltags zur Möglichkeit von Leben überhaupt. Er soll zu einem, der Schau zugänglich gemachten, panoptischen Gesamt von Sachen werden, in deren Mitte und als deren Eigner der Wahrnehmende selbst begriffen ist. Er ist damit im Besitz des Kristalls im Apfel, und - über sein Erfahrung gewordenes Wissen ist er dieser Kristall sogar selbst.145 Wilsons Arbeiten stellen demnach Kollektionen freigelegter Dinge dar, die - den Diskurs verkehrend - je zu Sachen, zu sich selbst, zuriickgejc/iawi sein wollen. In Wilsons Formulierung lautet die Ding-Annexion zur Sache auch: "I always statt with an effect to get a cause."146 Er nimmt das Ding (effect), um zur Sache (cause) zurückzukommen. Nach diesem Beschreibungsmodell resultiert die aufreißende Bewußtheit (awareness) aus dem Fallenlassen der Anstrengung der 'Sicht', womit auch Wilsons so paradox anmutende Verknüpfung von Entspannung und besserer Sehweise ('they naturally can relax and you can see them better' s.u.!) einbegriffen wäre. Dallas Pratt, Darsteller einer 'Royalty' und 'Game-Player' in The King of Spain, berichtet ebenfalls über diese Intentionen Wilsons, die von ihm allerdings mit einem eher psychoanalytisch inspirierten Erklärungsmodell gefaßt werden. Er bemüht C. G. Jungs Begriff des Archetyps, um das, was hier Sache genannt wird, als projizierte Inkorporation des Wahrhaftigen ('as it really is') aus dem Urgrund des Urheber-Unbewußten zu benennen und zu kennzeichnen. Er wird an dieser Stelle dennoch zitiert, um danach auf eine, diese Wilson-Konstruktion erheblich erschütternde Schwierigkeit hinzuweisen. The audience will 'see', or rather, will sense subconsciously, because all outfit is implicit [...] in everything I do. [...] This kind of person, looking, moving and dressed in such a 145

Siebe das Kapitel 'Die Sprache des Stummseins'! Speziell Wilson: "The plot in that sense becomes a loose, open ended structure - or a none-structure in that it freed the people in it, enable them to step out, step outside of themselves naturally by stepping into the context of The King of Spain. Now that refers to the people." Robert Wilson: Production Notes zu The King of Spain, Typoskript S. off. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: - King of Spain [Identisch mit Byrd Hoffman.· The King of Spain. In: William M. Hoffman (Hg.): New American Plays. A.a.O., S. 248f.]. 146 Roben Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S. 21. 219

way, in 'clothing for body and mind', seen here as it really is, without tension and it's disguises, is an archetypal figure, one among the archetypes of other players, one among those projected from the author's unconscious, which people the theater of Robert Wilson.147 Sachen müssen g&schaut werden. Wilsons Theater ist nicht die Schau. Es kann und will die Schau zur Kunst für den Zuschauer nicht vorgeben, sondern ihre Bedingung zur Möglichkeit herstellen.148 Die Rezeptionshaltung der Schau ist Grundvoraussetzung, ja erst konsumtives Moment für die Sache. Sie offenbart sich erst in ihrer Schau. (Das Possessivpronomen ist sowohl auf 'die Rezeption', als auch auf 'die Sache' zu beziehen.) Aber genau darin liegt auch die Crux dieser Vorstellung. Es ist - nach dem Diskursmodell - letztlich unmöglich, ohne den bereits zitierten 'regard dejä code"' zu schauen. Archetypen, die ihrem Begriff nach zum Menschheitsbesitz zählen, werden nicht einfach von singulärer Künstlerhand aus dem Unbewußten befördert und 'as it really is' auf die Bühne gebracht Sachen oder - wie Pratt meint - Archetypen sind ja noch nicht schon deswegen zu vorführbaren Realia erwacht, weil einem unverorteten Wissen die Möglichkeit geboten wird, 'die Zügel schießen lassen zu können'. Auch dann nicht, wenn ein Brausen der Bilder und ein Flottieren der Fragmente des Sinns zu einer anscheinenden Vereinbarkeit des Unvereinbaren einsetzt, das als 'Super-Awareness' deklariert wird. Sachen sind ja eben keine objektiven Fakten, sondern Resultate der Schau. Darum stehen auch sie am Ende eines Prozesses, den nicht mit dem Begriff In-Formation zu belegen, unmöglich erscheint. Zwar mag ein Hauptcharakteristikum der Schau ihre vorgängige Interesselosigkeit sein, d.h. ein nicht-sichtendes Nicht-Dazwischen-Sein, doch nimmt die Schau wahr, sammelt Erfahrung und be-greift im cognitive mapping eigenes Wissen. Es existiert auch an dieser Stelle ein Mindestmaß an Aktion der Rezeption, die Form schafft. Die Sache stellt somit eine spezifische InFormation dar, nämlich das Höchstmaß an potentieller Information an einem einzelnen wahrnehmbaren Ent-Gegenstand. Der Diskurs ist - über die verbindende Generallinie des Wissens: Interesse, In-Formation, (diskursives) Wissen - demnach nie zu umgehen - auch dann nicht, wenn Dinge völlig ihres Kontextes beraubt, zu augenscheinlich bedeutungsneutralen Ensembles auf eine 147

Dallas Pratt: 1975 entstandener (veröffentlichter?) Essay über seine Erfahrungen als Darsteller in 7%« King of Spain. (1969) Anlage zu Wilsons Production Notes zu The King of Spain im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A King of Spain, S. 6. 148 Verwiesen sei an dieser Stelle noch einmal auf die 'hinzugefügte' Anmerkung zu The Forest: "Im Publikum geschieht die Mischung. Sie ist bei jedem Menschen anders. WIR können Heiners Texte und Davids Musik und meine Bilder nicht mischen. Das Publikum wird es tun." Robert Wilson: Textarbeit. Im Programmheft zu The Forest (i.e. 10. Kapitel des Programmheftes). o.S. Berlin 1988. 220

Theaterbühne gebracht werden. Sie bleiben Dinge, hinter denen nur theoretisch diskursiv ungebändigte Sachen vermutet werden können, auf deren Schau die Rezeption allerdings immer vergebens warten muß. Jede Wahrnehmung bleibt Sicht. Die Schau ist eine, gleichwohl für die Rezeption neue Panorama-Aus-Sicht auf die Dinge. Und sie ist nicht gleichzusetzen mit freier, ungefaßter, schauender Entspannung, sondern mit höchster sichtender Aktivität, in der - bis zur Idiosynkrasie - das Sensorium auf kleinste bedeutungstragende (diskursiv verhandelbare) Einheiten kalibriert wird. Die Wahrnehmung wartet stets auf ihre Chance zur In-Formation - sie bleibt der Ausguck, der auf Land hofft Theater bleibt schließlich Lust auf Be-Deutung. Insofern sind die Sicht und die Dinge, sowie das diskursiv vermittelte Wissen um ihre genuine Stelle sogar petitio principii für ihre vermeinte Schau als Sachen. Und darum verbietet eine Schau der Sachen der diskursiv kodierte Blick, der nicht und nie anders kann, als Dinge sichten. Die 'encoded fragments', auf deren plötzlich Epiphanie Wilson hofft, sind eben diskursiv enkodiert. Ausdrücklich sei also gesagt, daß Wilson zwar eine Schau der Sachen beim Zuschauer beabsichtigt, die Verwirklichung seiner Intention sich jedoch als unerreichbar erweisen muß. Die vollständige Auslöschung der Dinge, der Stillstand der Diskurse, entdeckte der Wahrnehmung auch nicht Sachen, sondern ein weißes, atmosphärisches Rauschen - den Tod des Wissens. Robert Wilsons Arbeit lebt von der offenbarten Differenz in den Sichtweisen, mit der anscheinend zur Ruhe gekommene Diskurse ihre Dinge gleichwohl weiterhin zu vermitteln in der Lage sind. Und die Super-Awareness behauptet sich darin lediglich als Offenheit für eine Verschiebung der Dinge innerhalb des weiterhin bestehenden Rahmens der Diskurse. Tatsächlich gilt damit auch für Wilsons Theater das Argument, das Michel Foucault bereits für die subtil sich ereignende Erhärtung der Diskurs-Macht aufgeführt hat, nach dem, wie hier bezeichnet, noch der Versuch der Befreiung von den Fesseln der primären Codes einer Kultur durch (eben diskursiv geleitete!) Reflexion dialektisch umschlägt in eine Re-Prodution dessen, wovon man sich zu befreien gedachte.149 Es ist diese Differenz, die das Alte im Neuen zugleich sichernd bewahren muß, um letzteres zu erkennen, die dem theatralen Versuch Wilsons so vernichtend entgegenschlägt. Dennoch wird diese Differenzierung von (unmöglicher) freigesetzter Schau und diskursiver Sicht hier und später gebraucht, da Wilson an die Auffindbarkeit dieser Art von Authentizität, von Eigentlichkeit, von Natur, von Spiritualität hinter den Dingen baut. Wilson belegt übrigens das, was hier die Sachen genannt wird, mit einem Begriff, der das Dilemma der Unentwindbarkeit der Wahrnehmung vom Sicht149

Vgl. hierzu: Michel Foucault Ordnung der Dinge, Vorwort. A.a.O., S. 17ff. spez. S. 22ff. 221

Feld der Diskurse bezeugt. Tatsächlich steckt nämlich in Wilsons Begriffswahl das kaschierte Wissen um die Unmöglichkeit, Sachen hinter erreichten Dingen auszumachen. Er nennt die Sachen nämlich 'Nothing- Things', 'Secondary Things' oder 'Details' und bestätigt damit ex negativo, daß den Dingen, damit den Diskursen, nicht zu entkommen ist: noch in ihrem grundsätzlichen Widerpart scheinen sie als Wortstamm auf: die Sachen bleiben - auch für Wilson immer noch Things, bzw. Details von Dingen. Part of the original thinking [of my work, B.G.] had been to have a big enormous space, with lot of people and with almost 'Nothing-Things' (like when you're a child and your parents ask what you are doing and you reply, Oh, just nothing') ~ just sitting there and whatever they did was very small (secondary things). They'd just be doing little things. [...] Yeah, details. Just doing detail-things.150

Zeit als Erfahrung Seine Thesen zu begründen, führt Wilson die Beobachtung der Simultaneität der Menge von einander inkompatiblen Eindrücken im einzelnen Augenblick an. Sie lösen - so Wilson - je eigene Empfindungen und Gedanken aus, die der ausschließlich rationale Zugang tatsächlich aussiebt. While I'm talking I'm thinking about[:] has a mosquito just bitten me[?] what are we going to have for dinnerf?] and[:J my feet are cold and I'm talking to you and I'm wondering if the tape is still recording and all these things[,] but I don't have a structure for all these thoughts at once, it's more than a linear thought structure... while I'm talking I don't have a way or structure to relate these other things that are in my mind.15l Dagegen - so betont er an anderer Stelle - stehe jedoch die jeweilige Relevanz dieser (vernachlässigten) Einzelheit für die Existenz. Sie belegt - nach Wilson diese Minimai-Impressionen nämlich selber, spezifisch und unabhängig von den Vorgaben rationaler Diskurse, mit Bedeutung. Es sei darum notwendig, zu diesen individuell bedeutungsbesetzten Ereignissen vorzudringen, da nur das wirklich Erlebte zum Moment, d.h. zum authentischen Zeitpunkt für das Leben werden könne. Es ist damit die Existenz selbst, die sich nach Wilson ihre Zeit als Kette individueller, bewußter Erlebnisse aneignet: Wilson generiert einen durch die individuelle Bedeutungsbelegung der Erfahrung bedingten, individu150

Robert Wilson: Production Notes zu The King of Spain, Typoskript. A.a.O., S. 14f. [Auch: William M. Hoffman: New American Plays. A.a.O., S. 257]. 151 Gesprächs-interview vom 5. Mai 1973. Mit Jim Neu und Robert Wilson nach der Performance der Body-Theatre-Balinese-Dancers in der Byrd Hoffman School of Byrds. (verschriftet von J. Neu, 26 Seiten) S. 17. Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Buüer Library der Columbia University, N.Y., Box: - KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE. 222

eilen Zeitbegriff, der das Resultat einer Operation des 'Kern-Wissens' (ApfelMetapher!) im Raum ist; nämlich einer Vergewisserung von Ereignissen, die nicht nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheidet, sondern sich solange jene bedeutsam für die Existenz sind - als präsentische durchhält. The one moment in Freud's life the death of his grandchild that moment has another kind of measure of time. [...] It's like a few minutes in his life and if you die. Another sense of time is that of it's weight or something becomes equal then to another shorter period of time or a longer period of time say like his whole life or something you take that one moment. [...] One time I hit a kid in the head with a rock and she kept me in after school and she just starred at me. I still can see the glance of her eye just looking [...] it is a very strong impression and I'm still like I'm processing it. Whatever she was sending out in that glance is like stored in my head that it's taken like still in my lifetime I feel like I'm still processing that information.152 Ohne Erfahrung keine Zeit - erst die Raum-Durchschreitung einer individuelle Eindrücke sondierenden Sinnlichkeit gewinnt Zeit je für sich. Diese Zeit ist Spaltprodukt der Arbeit an Erfahrung, also einer Orientierungsleistung der Rezeption innerhalb ihres individuellen Raumes des Wissens, i.e. des cognitive mapping - ihr korreliert die Orts-Zeit der Kunsthervorbringung zum nunc stans, in dem der motus animi continuus zum Stillstand kommen soll, um an sich selbst, an seinem zeitsichemden Wissen den 'spirit' (die Eigentlichkeit, die Natur s.u.!) als eigene Möglichkeit der Existenz zu erfahren. Das Einzelne soll daher im Bewußtsein restituiert, - im Wortsinn - re-flektiert und be-griffen, somit wieder als distinkter Baustein eigenen Wissens identifiziert werden, um mit den erneut gesicherten Elementen der layers15* wieder in-formieren, d.h. ja: mit eigenem Wissen im dialektischen Prozeß der In-Formation operieren zu können. Erst dann sei es möglich, sich selbst als Eigner jenes spirit zu begegnen, der wiederum alles Wissen auf sich rückbindet und zur Individualität transzendiert. Not tue deshalb eine Rekapitulation der Momente und Ereignisse, die Schau der Sachen, die Erfahrung und folglich Zeit zugänglich werden lassen. Diese Absicht ist formuliert in jenem - an diversen Stellen gegebenen Statement: Time to think1, das etwa Calvin Tomkins zum Aufhänger seiner

152

Ebd. S. 9f. 153 "\viison; My idea in p^ was a visual collage of images and activities occurring in layers..." Ebd.; "Wilson: First, I work on a visual book, that is one screen. Then I work on a book of light, which is another screen. Then, I work on a visual book of gestures. Then I woric on an audio book of sounds and words - the text. Then I put all these layers of screens together and I adjust them so that they line up and, when they do, I crossreference them so that they are slightly out of line with each other. [...] They are all thought about independently, and then I put them together and either leave them as they are, or adjust them to see them line up. [...] It is like a giant battery." In: Robert Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S. 13f. 223

Wilson-Arbeit gemacht hat.154 Wilson umreißt damit nicht nur das kontemplative Moment in seinem Theater, durch das jenes von Leben geschieden, aber für Leben wirksam werden soll, sondern vor allem die Eröffnung des persönlichen Arbeitsprozesses des Denkens zur Gewinnung der eigenen Zeit - und so sollte Wilsons statement invers gelesen werden: es meint: think to time! One of the most important things is that you have time to think your own thoughts and the piece is never so that it exhausts your brain. [...] Most theatre is so intense for those few hours if you operated at that level full time you would just blow out. [...] I mean you don't have time for yourself your own thoughts, your own. It's so important for the performers too to also have time to think while they're performing on stage that you don't have to time. I mean we usually don't have time to think in the course of a day or a lifetime. Some people I think get bored with it cause they don't know what to do with time like that.155

Wahmehmungsflächen: exterior und interior screen 'Ermöglichung einer Schichtung des eigenen Wissens zu individueller Zeit statt erzählter Geschichte1 könnte die Präambel für Wilsons durchaus pädagogischtherapeutisches Konzept des cognitve mapping lauten. Gegen die Vormundschaft des Intellekts wird die produktive Kraft der Rezeption zur nicht-rationalen Erfahrung der Sache gesetzt. Wilsons führt den Mikrotomschnitt an den Dingen zu layers der Sachen, um aller In-Formationen des Nus habhaft werden zu können. Er glaubt dabei grundsätzlich an die Möglichkeit einer Rettung der intellektuell überwucherten Wahrnehmung und er beruft sich hierzu auf die hypothetische Konstruktion eines ursprünglichen Sensoriums. Wilson konstatiert für jeden Menschen eine im und vom Alltagsleben kaschierte, hinter dem Offiziellen' Verstehen liegende, zweite Wahrnehmungsund Erfahrungsebene, die sich durch die Arbeit der Darstellung zu Kunst erschließen lasse und auch bereits eröffnet habe: beschrieben wird sie als der interior screen, der - als sein Feinsinn - das Wissen zu den Sachen selbst befreien soll: One hears and sees with external/internal eyes and ears all the time. We do it all the time. It may be a negative image from a dream or a blink of your eyes for a fraction of a second. You're not aware of it, but one does close one's eyes over a long period of time and one does have more awareness of these interior visual screens. [...] Just as the blind feel color, 154

Vgl. hierzu: Calvin Tomkins: Time to think. A.a.O., S. 54: Er zitiert Wilson: '"One of the things I never liked in the theatre [...] was that there was never any time to think. [...] Everything was so speeded up. It was never natural, and there was no element of choice you had to see what the playwright and the actors wanted you to see. It seemed important to me for the audience to have a more interesting experience than that.'" 155 Gesprächs-interview vom 5. Mai 1973. Mit Jim Neu und Robert Wilson nach der Performance der Body-Theatre-Balinese-Dancers. A.a.O., S. 19f.

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the deaf can feel sound. In acting, directing, in the theater there is this different perception of space.156 Im Programmheft zu The Forest findet sich eine ähnlich lautende Stelle: Wir funktionieren alle so: als Taube und als Blinde. [...] Wir gleiten andauernd in diese inneren und äußeren Hör- und Sehschirme hinein und aus ihnen hinaus. [...] Das gehört zum Sehen und Hören. Jemand ist im technischen Sinne vielleicht taub. Aber er hon trotzdem. Sein Körper hört. Es ist also dumm von uns zu sagen, er ist taub.157 Tatsächlich glaubt - wie Bill Simmer erläutert - Wilson daran, that everybody sees and hears on two different levels. On the one hand we experience sensations of the world around us and what he calls the 'exterior screen'. This is the basis for most of our visual and audial impressions and situations we encounter. On the other hand, we also see and bear on the 'interior screen'. But we are not aware of it most of the time, except when we are asleep and dreaming. Wilson maintains that the interior screen is operating all the time. [...] Blind people see things only on an interior screen, and the deaf hear almost entirely on an interior audial screen.158 In einem Gespräch sagt wiederum Wilson selbst: The body hears all over. [...] the Indians have done it you could take a sound energy and you could move it through a hand so that you could just feel the energy, feel like the sound energy being 'aaaaahhhhrrrrrrgs1 like I'm moving the sound down in here but then you could just pass it through the body so the body becomes speakers. Or like the blind [...] have developed the ability where they can take their hands and say this is red and this is blue by feeling. They feel the vibration of the color so like the body sees, too.159 Die zunächst unbewußten, indes permanenten Einschreibungen auf diesen 'interior screen' des Körpers werden dem rationalen, 'externen' Bewußtsein erst erkennbar - so die These - einmal durch Stauung, ja völlige Ableitung des gewohnten, dominierenden Flusses der In-Formation. Und zum anderen durch die Arbeit an der Konzentration auf ein (diskursiv) freigesetztes Detail der Dinge. In Augenschein genommen wird dazu zuerst - sozusagen von der aktiven ReProduktions-Seite der Darstellung - das separierte, gewollt kontextlose Fraktal des eigenen Selbst: die Geste und der bewegungsverlangsamte Körper. Er soll und kann aufnahmefähig gemacht werden für die eigentlichen, tiefreichenden Bedeutungen seiner eigenen, sich selbst dargebotenen und immer wieder monoton wiederholten, isolierten Signale. Der Körper als Sache im Raum wird damit zur ersten (exotischen) Entdeckung für die endlich S/cAf-befreite 156

Robert Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S. lOf. Robert Wilson im Programmheft zu The Forest. O. S. (i.e. das "Workshop1 betitelte, fünfte Kapitel dieses Programmheftes). Berlin 1988. 158 Bill Simmer Robert Wilson and Therapy. A.a.O., S. 101. 159 Gesprächs-interview mit Jim Neu und Robert Wilson nach der Performance der BodyTheatre-Balinese-Dancers. A.aO., S. 19.

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Schau.160 C. Lubar berichtet hierzu über die Awareness-Workshops Wilsons, die ganz im Zeichen der Beobachtung der Wechselwirkungen von Raum und Körper gewidmet waren: The primary emphasis of these workshops was the development of an individual's awareness of his own movement and gesture and of their relationship to movement within a group. [...] Attention was drawn to how space, both visually and psychologically, is altered by even the slightest of movements.161 Insofern steckt hinter der Chiffre des interior screens nichts anderes als der Glaube an (und die Neugier auf) die Wirksamkeit und Wirkmacht von potentieller In-Formation für die weiterhin intakt geglaubte, rezeptive Fein-Körnung jenes subkutanen Sensoriums. Dahinter steckt zudem der Befund eines auf exteriorer, rationaler Ebene verlorengegangenen, sich fremd gewordenen - spirituellen - Selbst - aber auch der Wille zum Auto-Training des Körpers zu Resurrektion dieser Eigentlichkeit: I think what its getting more to is the body is a resource, and the body can become conscious and that it is possible to use and activate brain cells by working with the body. [..·] I don't know, we don't know about that but one way is by exercise.162 Um diese stets insgeheim sprudelnde Quelle der basalen Inschriften durch und für den eigenen Körper auf dem interior screen auch im Zuschauer zu aktivieren, der ja Theater mit dem anderen, dem exterior screen rezipiert, beabsichtigt Wilson, ihn zu den in dieser Hinsicht konzentriert Tauben oder Blinden zu machen, bzw. ihn sich selbst machen zu lassen: "We have to make ourselves deaf in order to become more aware of this way of hearing.163 Um das Beiwerk des 160

Eine Passage aus dem Programmheft zu The Deafman Glance liest sich wie ein künstlerisches Manifest zu diesem Ansatz: "In this school I shall not teach the children to imitate my movements, but shall teach them to make their own. I shall help them to develop those movements which are natural to them. And so I say it is the duty of the dance of the future to give first to the young artists who come to its door for instruction freer and (more) beautiful bodies and to instruct them in movements that are in full harmony with nature" Mappe: Material for Book'. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III The King of Spain. S. 2 [Dieses Material vom Dezember 1970 erscheint auch unter dem Titel 'Iowa City notes' (es ist vermutlich im Umfeld der Aufführung von 'Handbill', bzw. zur Zeit der Proben zu The Deafman Glance in Iowa City entstanden) im Programmheft zu The Deafman Glance , Aufführung BAM, Feb. 25, 1971)] Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance. 161 Cindy Lubar: Kapitel I. The Beginning. Nicht datierter Bericht über die body-awarenessworkshops, die Wilson ab 1968 am Summit Art Center, New Jersey leitete. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III-3 BYRDwoMan, S. 2. 162 Robert Wilson, Zit. nach: Stefan Brecht: The original theatre of the City of New York. A.a.O., S. 18. 163 Zit. nach: Simmer. Robert WUson and Therapy. A.a.O., S. 102. 226

Körpers zu den Gedanken164 sowohl aufzuzeigen als auch zu strukturieren, unternimmt Wilson den Versuch, eine De-Sensibilisierung - ein metaphorisches 'Zuschauer-Verstummen, -Erblinden oder -Ertauben1 - einzuleiten. Umschrieben wird damit jedoch nichts anderes als die Hypersensibilisierung für Einzelphänomene durch deren Separierung und Isolierung aus der rationalen Prozession der Dinge. Die Durchtrennung des gewohnten Verstehens-Knüpfwerks durch Zerdehnung, Zeitverzerrung und Zerschlagung der Kontexte, also die Auslöschung gängiger rationaler Assoziations- und Reaktionsmuster wird beabsichtigt. Eröffnet werden soll der Rezeption eine Gleich-Gültigkeit der einzelnen Wahmehmungsgegenstände. Die gleich doppelte In-Augenscheinnahme für beide ästhetischen Rezeptorien soll erreicht werden. Wilson will Möglichkeiten eröffnen "that you listen and you see with interior and exterior eyes and ears. One can daydream, sleep and can think something else other than what the actors are doing."165 Dazu strebt er an (a) die zeitlich-räumliche Loslösung eines Wahrnehmungsgegenstandes von seinen gewohnten (emotionalen) Konnotationen und (b) die Ausfaserung eines Impulses zum Konglomerat von Stimuli, die einen Rezeptions-Eindruck auf dem interior screen hinterlassen und ihn be-eindrucken (i.s. Bewegung, Laut, Farbe, die sich als jeweilige layers zum Gesamt einer 'story1 schichten könnten). Dies geschieht, um einerseits die subkutane Fülle der Implikationen und Verkettungen scheinbar unbedingter Sachverhalte sichtbar zu machen und andererseits die vermeinte Einfachheit der Dinge bloßzustellen, die als eine unzulässige, weil verstehensverarmte Reduktion der Palette möglicher Wahrnehmungsweisen deklariert wird. Insofern werden die Bühnenkunstabsichten Robert Wilsons einerseits bewegt von dem theatralen Versuch, die Gewißheit der Gertrude Stein in die Anforderung an das Theater umzumünzen, nach der eine Rose sowohl sprach- wie gegenstandsvermittelt wieder eine Rose, eine Rose und nichts als eine Rose zu sein habe. Anderseits jedoch auch von der Behauptung, daß der Wahrnehmung diese Rose zugleich immer mehr sein wird als nur die Rose. Mehr nämlich um die zusätzliche, körpereigene Inschrift auf dem interior screen, die die Rezeption für sich erfährt, wenn sie sich, vermittelt durch das Arrangement auf der Bühne, nur genügend darauf einläßt. Immer wieder führt Wilson hierzu seine Hypothese von der Komplexität der im Nu gestauten Botschaften an. 164

Eine für das Wilson-Denken semi-tautologische Wendung, da nach dem Körper-Artikulationsmodell und der vorangenommenen Klammer zwischen körperlicher und mentaler Aktivität der Körper ja auch Gedanke ist, bzw. der Gedanke Körper, daher körperliche mit gedanklicher Arbeit identisch wird. Denken ist Bewegung genauso wie Bewegung Denken: das Beiwerk des Körpers zum Gedanken kann demnach nichts anderes sein als wiederum Gedanke. 165 Robert Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S. 11. 227

Sprache kann ein Stimulans sein für unser Bewußtsein, aber sie kann auch eine Beschränkung sein. Wir können in Worten nicht vollständig ausdrücken, was wir empfinden, das ist viel zu komplex. Wir können auch nicht mit einer Geste oder mit unseren Gedanken ausdrücken, was wir fühlen. Das ist zu vielschichtig. Ich habe in meiner Arbeit immer wieder auf ein Erlebnis zurückgegriffen, das ich 1966 oder 1967 in Amerika hatte. Ich traf da einen Psychiater,166 der Finne machte über Mütter, die auf ihre weinenden Babys einredeten. Er machte über dreihundert Filme dieser Art. Wenn wir so einen Film in der normalen Geschwindigkeit sahen, war da einfach ein schreiendes Kind mit der Mutter, die sich ihrem Kind zuwandte, um es zu beruhigen. [...] Wir ließen dann den Film in einer langsamen Geschwindigkeit laufen, und jetzt sahen wir etwas anderes. Pro Sekunde waren vierundzwanzig Aufnahmen. Die ersten drei Aufnahmen zeigten, wie sich die Mutter auf das Kind STÜRZT und wie sich das Kind dagegen WEHRT, auf den folgenden zwei oder drei Bildern sahen wir die Mutter in einer anderen Haltung, auf den nächsten wieder in einer anderen. So fanden wir heraus, wie komplex die emotionalen Reaktionen sind, die der Mutter wie auch die des Kindes. [...] Genauso ist es mit einem Text oder einer Geste; es ist praktisch unmöglich, damit etwas ganz adäquat, vollständig auszudrücken. Allerdings sind in der Sprache alle diese emotionalen Nuancen inkorporiert. Ich stelle mir manchmal Wörter als Steine vor, die wir mit einem Hammer zerschlagen. Wir bemerken dann mit einem Mal viele Emotionen und Gefühle, die wir sonst nicht bemerken, zwischen den Zeilen sozusagen.167

Tatsächlich konstatiert Wilson mit diesem Ansatz so einerseits die eigentlich kontingente, rational ignorierte und lediglich zweckdienlich komprimierte Vielfalt eigentlicher Sachen, die von Diskursen zu Dingen zurechtgepreßt werden. Andererseits verfügt das Wissen (noch) über nichts anderes als Dinge. Und so können es wiederum nur diese Formungen aus Dingen sein, In-Forma166

1. e. Daniel Stern von der Columbia University, N.Y. Robert Wilson: Die Balance zwischen den Wachträumen der Zuschauer und meinen eigenen Bildern finden.' A.a.O., S. 80; an anderer Stelle heißt es: "Ich habe diese Geschichte schon so oft erzählt: 1967 lernte ich einen Mann kennen [Daniel Stern, s.u.!], der die Abteilung Psychologie an der Columbia University leitet. Er hatte mehr als dreihundert Filme davon gemacht, wie Mütter ihre Babies aufheben. [...] Wir sehen den Film bei normaler Geschwindigkeit, 24 Bilder pro Sekunde, und wir sehen genau das: Das Baby schreit, ich hebe das Baby hoch, ich beruhige es. Wenn wir den Film verlangsamen und ihn Bild für Bild betrachten, können wir 1/24 von einer Sekunde sehen, und in 80% der Fälle ist die erste Reaktion der Mutter in den ersten drei Bildern, in den ersten 3/24 einer Sekunde, daß sie auf das Kind zustürzt, mit einem richtig bedrohlichen Ausdruck, und das Kind schreckt zurück. In den nächsten zwei oder drei Bildern sieht sie wieder anders aus, dann noch anders, so daß innerhalb einer einzigen Sekunde ganz komplexe Dinge zwischen Mutter und dem Kind geschehen. [...] Wenn Romeo sagt, daß er Julia liebt, ist das äußerst komplex." Robert Wilson: Be Stupid. (Gespräch) In: Exploison of a Memory. A.a.O., S. 65; im Interview mit Arthur Bartow sagt er: "I am influenced [...] by this film that Daniel Stern had made of this mother picking up this baby, and that baby reacting to the mother when we slowed down the film with the baby showing fear, and we don't see it at normal speed." Robert Wilson in einem Interview mit Arthur Bartow vom Dezember 1982, New York. S. 12. Zit. aus dem Skript dieses Interviews im Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: -12 Interviews.

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tionen also, die dann als Wegweiser zu den Sachen, aus denen sie ihr Diskurs ja konstituierte, in den Aufführungsraum gebracht und rezipiert werden sollen. Oft kann man an meiner Arbeit nur die Form sehen. Aber die Form ist nur ein Ansatzpunkt.168 Das Ereignis Kunst, das dann Privat-Sache wird und das individuelles Er-Leben mit der Codierung einer individuellen Zeit versieht, wird dabei nicht zu einem Konzentrat der Dinge vordringen, sondern ist eben jene Fülle des stehenden Augenblicks der wissens-verfügbaren, nämlich in Überic/taubarkeit rückgeführten Sachen. Kunst ist daher nicht Mittel, sondern der Zweck, das Ziel der Arbeiten Wilsons, nämlich die individuelle, verwirklichte Möglichkeit zur Sache. Man Kann Musik nicht MACHEN. Sie ist schon da. Keiner kann einem sagen, wie man Musik macht. Das ist zu kompliziert. Es ist auch absolut unmöglich, daß mir einer sagt, wie ich diese Brille hier in die Hand nehmen soll. [...] Kein Regisseur, kein Stiickeschreiber, kann die Erfahrung dieses Raums, dieser Struktur MACHEN. Man kann das hundert Leute tun lassen, und warum ist bei diesem einen Menschen etwas Mysteriöses dabei? Der Mensch weiß es auch nicht, das ist zu komplex. Und das ist ein Problem, das ich als Regisseur oft habe. [...] Ja, man könnte meine Art der Regie Anti-Stanislawski nennen.169 Und darum verwahrt sich Wilson so strikt gegen eine Zuschauer- und Kritikerschaft, die ihre Chance zur Kunst-Möglichkeit des eigenen Lebens nicht ergreift, sondern auf die 'Fertigkost1 eines Gehaltes oder einer Sinnebene des Textes hinter den Bildern wartet. Eröffnet werden soll die Bestandsfülle der Sache - mit Hilfe eines Materials, das aus dem Leben selbst - hier Christopher Knowles' - gewonnen ist. Wilson äußert sich im folgenden Zitat zu der in Brüssel uraufgeführten Produktion Dia Log/Curious George von 1979: Christopher has been an enormous influence on me. [...] Dia Log/Curious George is really Christopher's construction. [...] And suddenly after listening to all these tapes for a long time you hear other things. You begin to hear the sounds within the sounds and the different energies of the words. And we are dealing with those critics here that are still thinking about it in terms of story with a beginning, middle, and an end and that everything should be subservient to illustrate the text. [...] The difference between myself and I think what Peter Stein is doing in Berlin is that in Peter's work everything is subservient to the text, to interpret the meaning of the text. Whereas in my plays the text is something you hear; it's an audioscore. [...] In other theatre the decor is just a background or a decoration for the text, to illustrate the text, to further explain it. [In my plays] the text is something we hear, the actor speaks it but he is speaking something which is part of an audioscore that is woven with other layers of sound. What he does with his body is something we see and which may not have anything to do with what he is hearing or which may have to do with what he 168

Robert Wilson im Programmheft zu The Forest. O.S. (i.e. das Theaterproben' betitelte, neunte Kapitel des Programmheftes) Berlin 1988. 169 Robert Wilson im Programmheft zu The Forest. O.S. ("Theaterproben1. A.a.O.). 229

is saying. But it is like life, there are a million thoughts that go through our mind and not just one. So we don't speak the way we think, we don't write the way we speak and we don't make movements or gestures with the body necessarily with the way we speak. There are all these things going on and it's very complex.170

Da die Dinge ihrer spezifischen Lokalisationen innerhalb der Diskurse enthoben und auf individuell-zeitlich adaptierbare Gedankenfolgen extrahiert werden können, werden diese nun durch jeden Zuschauer registriert und zum Erleben gebracht. Sie zeichnen sich auf jenem interior screen durch, der bei einem der ersten Bildlieferanten Wilsons, Raymond Andrews, mit dem exterior screen der Wahrnehmung identisch ist. Die Schrift und der Körper. Die Schrift des Körpers Wilson legt sein Augenmerk auf Reduktionen: auf isolierte, kontextbereinigte oder -dislozierte Fragmente des Materials der Diskurse, die isoliert vorgestellt und zum Ausgangspunkt sternschrittartiger Exkursionen gemacht werden. Er begibt sich geradezu auf eine Goldgräbersuche, um jedes rezeptions-stimulierende Moment innerhalb einer Wahrnehmung, einer Einschätzung oder eines Verstehens aus der Synchronizität gegebener 'Nachrichten1 zu separieren und in diese basalen 'layers' zu Sachen zurückzuführen, deren Exploration und Ausfaltung seine Arbeit gewidmet ist. Die Versuch zur Wahrnehmungsaufbereitung opaker diskursiver Strukturen, zu denen auch das gestisch-mimische und kinesische Verhalten des Körpers zählt, hat Tradition' und 'Methode1 bei Wilson und ist auch für nicht-theatrale Aktivitäten nachweisbar. Der Gebrauch von Schriftsprache in der Korrespondenz innerhalb der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. seit Ende der 60er Jahre macht deutlich, daß die künstlerische Verwendung mehrfach gebrochener Sinnebenen sich auf die Wirklichkeit (hier: der Sprache) selbst berufen kann. Die Korrespondenz und die Titel der frühen Produktionen etwa machen mit ihrem Schriftbild auf die mit Akribie aufgespürten, möglichen Mehrfachkodierungen der Signifikanten aufmerksam. Sie werden wie Erkennungssignale der 'Byrd-Familie' gehandelt. Freiheiten in Interpunktion und Orthographie, die Akkumulation von Syntaxfragmenten, Neologismen, SilbenRepetitionen und laut-orientierten Neographismen ('the die-no-sore = dinosaur) sowie der suggestive Wechsel von Groß- und Kleinschreibung innerhalb eines Wortes ('BYRDwoMAN, ...GUARDenia Terrace', CIVIL warS) sind Techni170

Abschrift des Interviews Robert Wilson mit Gregor Leschig vom Juli 1980 in N. Y. (Dieses Interview wurde gekürzt abgedruckt in Die Zeit' v. 29.08.1980.) Die Kopie aus N.Y. trägt Original-Marginalien Wilsons. S. 8f. Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: 11-12 Interviews.

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ken dieser von Wilson und den 'Byrds' aufgebauten, teils meditativen, teils spielerischen Oberflächen-Ästhetik des Mediums Sprache. Diesem Sprachbegriff wird jede wahrnehmbare (=ästhetische) menschliche Regung (auch Tanz!) subsumiert. Urheber dieser Notations-Manierismen und wohl konsequentester Entdecker des Hintersinns und der Wort-Beigaben ist Kenneth King, führendes Mitglied der BYRD HOFFMAN , INC. und Akteur in den Produktionen der School of Byrds von Anbeginn. Er verlieh bereits 1967 der SoloPräsentation eines seiner frühen Texte (PRINT-OUT) folgenden Titel: 'CELE(cere)BRATIONs and SOULlutions for the dyEYEing: KING'. Dieser fiktive Radio-Notruf ('this is an eMERGERency. RADIo-R-ATION is causing MUTEanyTATIONS (like NATCHoral SEAelection)')171 sprengt seine am Laut festzumachende Aussage mit visuell gebotenen Homonymen und Silbenadjektionen. Diese Entstellungen und Sinn-Verschiebungen in der Graphic erschweren die Aufnahme des vordergründig Gesagten: Verstehen wird zum lediglich kontexterahnenden Stochern im Nebel der minimierten Verständigungs-Versatzstücke, deren schwache Spur nur zu einem banalen Sinn führt. Dafür aber verweist dieses Sprach-Spiel mit jedem Wort auf neue Bedeutungshorizonte, die qua Schreibweise integrale Aussagebestandteile zu sein gezwungen werden. Das Beharren auf dem Mehrfachsinn suggeriert ein beständiges interpretatives, sinnsuchendes Isolieren von Rede-Einheiten und ihrer Inklusionen.172 171

Weitere Passagen aus Kings 'Print-Out1 von 1967, hier unter dem Titel: CELE(cere)BRATIONS "I spEND my DAZE lyEYEing HEAR IMMObiLelVINGIZED, sus(PEND)ing SUM in DEAF(finite) duRADIATEshun foCussing skywarts: SEAing the clo(wow)ds flo(woe)ting overHEAD and fee(EEL)ing the MOON pul(LULL)ing orgONEs embeDEAD in my skin. [...] As I get out of bed I REALwhyZE how PSYCHE(soma)ATTIC I HAVE GROAN TO BE. My TRANCEmi(GRAIN) RATIONAL headACHES are obSURDviously newEROTIC proGRASSive [...] inspite of the disCORE(RAGE)ing disPAIR whitch SEEzes me." Skript zitiert aus dem Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: I-B Letters and Correspondence. 172 SOULlution1 ist 'Seele' und 'Lösung': ist damit Lösung etwas für die Seele oder ist nur das Lösung, was die Seele als solche akzeptiert? Was haben Seele und Lösung überhaupt miteinander zu tun? Müssen Seele und Lösung im Kontext des sterbend sehenden, sehend sterbenden Königs: 'dyEYEing King' gesehen werden? Ist 'King' nur der Nachname? In 'BYRDwoMAN1 stecken Mann und Frau, damit alle Menschen, die den 'Byrds' nachgestellt, also subsumiert werden. Insofern leistet dieser Titel die Gesamtintegration der Menschheit als Adressat und Emisseur der künstlerischen Hervorbringungen in der Konzeption der Byrd Hoffman School of Byrds. Die CIVIL warS handeln nicht nur von den historischen (amerikanischen) Bürgerkriegen, sondern von den Kriegen des Bürgers, d.h. den zivilen Kämpfen und Machterhaltungsstrukturen des gewöhnlichen Lebens: der Titel bindet darum in der Schreibweise das kapitalisierte Plural-'S' der warS zurück an das damit nominalisierte Adjektiv CIVIL, das jetzt - ein Genitiv in Singular und Plural - zu CIVILS und 231

In der simultanen Eröffnung diverser Sinn-Ausrichtungen, dem Spiel reiner Rede, das aus der Aufgabe diskursiven Sprechens resultiert, liegt auch ein Zugewinn an Sprach-Zeit und -Raum. Der unvermittelte Sprung über Wortfelder und der staunende Rückblick auf seine Auslöser, den Wort-Assoziation und Bedeutungs-Rotation gerieren, kommt der Zeit-Raum-Annihilation des flächigräumlichen Kubismus gleich, der im Aufbrechen der Dimensionen nicht nur den Gewinn der seitenlosen Totalen, sondern auch den der Gleichzeitigkeit des ganz-betrachteten, vollständigen Raumes für sich verbuchen konnte. Im Aufzeigen der Möglichkeit einer Auffaltung der Bedeutungsflächen eines Wortes, in dem Vorzeigen der Bedeutungs-Simultaneität, der Mehr-Bödigkeit der Begriffe liegen Funktion und Reiz dieser Rede. Es steckt darin auch die unnachgiebige Forderung, das Selbst-Verständliche als das nur je Selbst-Verstandene zu überprüfen und wieder zu Verstehens-Ursprüngen zurückzugehen. In der offengelegten Gleichzeitigkeit divergierender, sich ergänzender Aussagen, im verästelten Geflecht der Fragmente ruht - wenn überhaupt noch möglich - ein letztes Glimmen des Vertrauens auf die Sagbarkeit der Welt. Zudem ein Glauben an die Mitteilbarkeit der Botschaft und damit die - wenngleich kaschierte Hoffnung auf Erkenntniszuwachs qua Sprache. So soll auch die - vernachlässigte - Qualität der Rede zur Stimulation von Emotionen auf dem - hier nicht so genannten - interior screen hervorgehoben und in den Vordergrund gerückt werden: What happens on a separate or in a separate area of the brain, it's like the emotions begin to shift and you can change the gear of them very rapidly and they don't have anything to do with the words. TTie words can be registered on one track but then there are these emotional shifts that are happening maybe independently at the same time. [...] So here are the words that are happening here but you've got these shifts of emotions which are happening independently and [...] the words don't at all relate to these shifts of emotions that we're going through so they become like another sort of facade or they don't really have anything to do with the emotional content of what we're experiencing. [...] What we are thinking is not what we are experiencing.173

Rational eruierbare Bedeutungen und ästhetisch-emotionale Einfärbung sind die Bestandteile der simultanen Inschrift von Ding und Sache auf den beiden körpereigenen Rezeptorien (interior I exterior screen) und somit die Koordinaten für die Erfahrung. Ein freies, assoziatives Selbstgespräch möglicher Wahrnehmungspartikel soll entstehen. Der intellektuell-ästhetischen Ganzheitlichkeit von In-Formation soll Geltung verschafft werden. damit zum Generalnenner für den nun singularisierten war, den keinesfalls mehr historisch zu spezifizierenden Krieg wird. Siehe das Kapitel: Die Gegenwart ist der - vergangene Krieg. 173 Gesprächs-interview mit Jim Neu und Robert Wilson nach der Performance der BodyTheatre-Balinese-Dancers. A.a.O., S. 20.

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Die Sprache der Sprache wird demzufolge - semi-poetisch - als offenes Netz individueller Sinn- und Emotionsgehalte, aber auch als Komplex der Laute voller Musikalität und Rhythmus begriffen. Und darum kann für Wilson der Einsatz von Sprache auch auf bloße Lautfolgen oder lose Wortgarben, eben reine Wahrnehmungs-Stimulantien, reduziert sein, die als Reihung von Tönen sowohl zu einzelnen Worten wie auch - im Verbund - zu rhythmischen Klangcollagen addiert werden. THE DINA DYE KNEE THE DINA DYE EYE THE DINA DIE THE DYEING DINA SORE THE DINA DYE KNEE THE DINA DYE EYE THE DINA DIE THE DYEING DINA SORE SWORDS THE DINA DINA SORE SORE SWORDS THE DIE DINA THE DIE DYING THE DIE DINA SORE THE THE DENA SORE SWORDS SOURING SOWRDING THE DINA SORES SORES SOWRDING THE DIE KNEE SEE US ALL US THE DYEING DINA SORE SWORDS! THE DINASTOR THE DINA STORE STORE THE DINA KNEE SEEN SEEMS DINESEUS DINESEUS DINESEUS DINESEUS THE DIANA DENA KA A SWORD THE DYEING DIENASORE.174

Cindy Lubar bemerkt - ein Wilson-Zitat einschließend - zu diesem Sermon: In Sept. 71 Wilson held a press conference in Belgrade, Yugoslavia. He had requested that the conference be open to the public and that it continue [!] for twelve hours, from 7 pm to 7 am. He decided to take one word, Dinosaur, and answer all questions with that word. [...] [Wilson:] 'After a while it seemed that something was being exchanged, transferred or answered. Many people stayed the entire night. I kept thinking of Raymond [Andrews], that he knew only a few words and that he would use those words - Father Son Mother Child Money YMCA - over and over to say all the things he wanted to say. Sometimes when asked a question I spoke very rapidly for long periods of time. Often when a word is repeated many times we give up straining our brains for more and more meaning and begin to hear our minds speaking and perhaps this kind of space in my mind is necessary in maintaining a balanced hearing, bearing that can function simultaneously on an interior and exterior screen.'175 Daß Wilson nicht lediglich einen singulären, verstörenden Coup mit den Klang-Rotationen um das Wort dinosaur in seiner Performance landen wollte, 174

Dieses repetetiv-zyklische brain storming um das Won dinosaur war die einzige Äußerung Wilsons auf einer zwölfstündigen Performance, genannt und ausgegeben als 'Press-Conference1, die Wilson am 14. September 1971 in Belgrad anläßlich des BITEF Festivals abhielt. Zit. nach: Cindy Lubar: Kapitel V. Demonstration, Lecture, Press Conference. S. 3. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-3 BYRDwoMan. 175 Ebd. S. 3. 233

belegen Workshop-Anweisungen vom März 1971, die Wilson im Rahmen seiner Proben am Newark State College (22.-26. März) für die Teilnehmer ausarbeitete. Darin beschreibt er die Klangwelt ausdrücklich als absolute Sphäre eigenen Rechts. Sie bilde einen der layer zur Sache. Sie habe darum Anteil an deren komplexem, diskursiv ein- und anbindungslosem, quasi-mythologischem Gesamt und bedürfe nicht eines vordergründig 'realen' Referenzpunktes. Es sei nötig, sie mit zelebrierter Aufmerksamkeit zu bedenken, um sie neu entdecken zu können. When executing these sound-cycles, it is not the point to attend to what effect you are creating. Chant the sounds simply and try to be one with them. There is no particular impact to try to create, nothing to imitate. The world of sound is a world of its own; no reference point is needed. The syllables should be uttered accurately with some sense of the continuity of the cycle. The chanter should feel the self-sufficient and unique quality of the sounds and words. [...] Working with verbal sound, the most likely association would perhaps be with Sanskrit words or mantras, working to get the essence of them, the feeling of the word with the sound. [...] At this point the attempt is only embryonic, trying to follow the trend of the words rather than scientifically creating perfect mantras.176 Angehängt sind diesen Empfehlungen fünf Blätter mit onomatopoetischen Variationen zu Lautfolgen; Annäherungen, Elaborationen und freischwebenden Silben-Assoziationen, die mit diesen Titeln versehen sind: 1) Abhaya, 2) Trishula, 3) Sutra, 4) Moksha-Mutri, 5) AHAM. Wiedergegeben werden die Vorschläge zu 'Abhaya': Abhaya Abhaya Ah Aaaaaaah Ah-aäääh

Aaaab-Ab-Ab-Aaaab. Bha- A*bha*ya-Abhaya Abhaya, Abhaya, Abhaya, Abhaya ssss ssss spay space space, space space (ten times quite quickly) Peace (ten times quite quickly) Peace (ten times gradually slowing) FEARLESS Fearless, Fearless, Fearless Fearless - Ah Abhaya Fearless (Note: The underlined b_ is to be pronounced quite pronouncedly, like the second 'b' in 'suburb' only more jo>177 176

Workshop-Anweisungen vom März 1971. S. Iff. Das Ergebnis dieses Workshops war die Performance New Ark am 26. März 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: II-12 Robert Wilson Interviews. 177 Ebd. S. 2.

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Eine folgend zitierte, als Ka-Note abgelegte Privat-Notiz des Datums der Press Conference weist diese Sprachzerlegung durch rhythmisierende Repetition, die man als 'poetisch-linguistischen Sternschritt1 bezeichnen könnte [stets mit einem Bein an derselben Stelle verortet, mit dem anderen in alle Richtungen ausschreitend], ebenso auf. Daran wird ersichtlich, daß der lautmalende Raumgewinn nicht nur künstlerisch-ästhetische Attitüde sein kann, sondern als der Versuch einer graduellen Erarbeitung der Gedanken-Fülle durchs Sprechen aufgefaßt werden muß: eine - frei nach Kleist - wilsontypische 'allmähliche Verfertigung der (unzusammenhängenden) Gedanken beim Reden'. Dazu gehören Freiheit in Interpunktion und Orthographie ebenso wie abrupte, nur durch Silben-Gleichlaut indizierte Sprünge über Wort- und Sinnfelder. (Aus 'Bay1 wird 'Bay O Grad', 'Beigrade' und 'gradually'. Aus 'allowing' wird 'all of life', 'a life's best1 etc.). Im Aussage-Inhalt dieser Notiz schimmert jedoch auch durch, daß die Wahrnehmung von Inschrift auf der Bespannung jenes interior screens [s.o.!] auch bei Wilson nicht allein durch die Monotonie der steten Wiederholung eines minimierten Lautschatzes erreicht wird, sondern des Einsatzes weiterer (Rausch-)Mittel bedarf. ™ Ba, Ba, Ba, Bay a baygrad, gradually getting there we're climbing Ba, Ba, Ba, Baao a all allowing all of life of us a way under the seat is a life's best [!] put it on in case we're still up deep blue you East baygradually [...] Here I am in Bay O Grad I Mourn something supposed to be famous and no one is around and I see a drink sitting at the low table to my left and books as if it [!] has been left - that none is going to take - and I need something to wann me up and besides to help the acid I have taken. So I need a little drink only to look up catch the concierge's eye assuming she was with me.179 Die Hervorhebung der kommunikations-ästhetischen180 Aspekte in der SprachSprache will sowohl jene ursprüngliche universelle Vollkommenheit des Materials als auch die Möglichkeit seiner Beherrschung durch die zu SelbstBewußtsein aufbereitete Rede betonen. Angestrebt wird allerdings nicht, den einen, konsistenten Kryptolog hinter den Dingen freizulegen. Über den Nachweis der verblüffenden Vielfalt möglicher assoziativer Nebenstränge und Abzweigungen innerhalb jeder Artikulation soll zuerst der Glaube an die Voll178

Siehe hierzu: die Erlebnisberichte der an der KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERÄACE-Produktion beteiligten Mitglieder der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. In: Laurence Shyer Collaborators. A.a.O., S. 35ff. 179 Ka-Note vom 14. September 1971. ZiL nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A Ka Mountain. 180 'Ästhetisch' wird hier wieder zuerst im Sontagschen als das, was sich - neben dem Gehalt von Austausch und In-Formation - den Sinnen, der Wahrnehmung bietet und erfahrbar wird, dahinter erst im etablierten Sinne des ansprechend Gestalteten, des Schönen gebraucht. 235

ständigkeit des Sagbaren durch ausschließlich intellektuell dominierten Informationsaustausch erschüttert werden. Beabsichtigt ist die Vorführung von 'reiner Materialität' der Sprache zur Sache, von 'Haut, Fleisch und Knochen' des Gesagten. Cindy Lubar erläutert, was damit gemeint ist: Wilson wrote dialogue, usually for two or four individuals, which was typed up a few pages at a time. Different combinations of people read these pages aloud in the woikshops. Wilson asked us to think about 'skin, meat, and bones' as being three different ways in which to deliver the dialogue. Skin being of a surface nature; meat exposing what's under that surface; and bone manifesting the essence, being the most full-out delivery of the words. In none of these cases was the presentation of phrases intended to correspond to their content; skin, meat, and bones were conceived of as transcending the specific meanings of the verbal text.181 Diese Neu-Eröffnung, eine Vivisektion der Sprache setzt die KommunikationsBeteiligten in ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Gesprochenen. Sie geschieht nämlich dadurch, daß sie einerseits - wie gesehen - Nebensinn-Pigmente in Wort und Schrift dekuvriert und festhält182 und andererseits - scheinbar paradox - versucht, die gesprochene Sprache zu entindividualisieren, den Sprecher seiner Stimme zu entheben, um zu der Sache hinter den Worten zu gelangen. Ihr Redefluß soll zerschlagen und atomisiert vor-gestellt werden, um wahrgenommen, geschaut werden zu können. Im Theater werden darum Mikroports eingesetzt, um Schauspieler und Stimme voneinander zu trennen. Es werden Ton-Bänder eingespielt, durch die ein - banaler, mitunter verblüffend gewendeter - Inhalt vermittelt wird. Er wird wiedergegeben in Wortensembles, vollständigen Sätzen, aber auch kurzen Anekdoten, identisch repetiert oder geringfügig variiert, verlangsamt oder verhallt - an Stellen, die inhaltlich solche Einschübe nicht vermuten lassen und über Zeiträume hinweg, die weit über die benötigte Verstehenszeit hinausreichen. Die Beispiele hierfür sind Legion. So wendet sich das 'Urteil' im 'Richterspruch' des ersten Aktes, Szene 2A: "THE TRIAL' von Einstein On the Beach (1976) gegen die 'Wissenschaft': 181

Cindy Lubar: Kapitel IX. A Letter for Queen Victoria. S. 2 Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: Box: III-3 BYRDwoMan. 182 So führt Wilson, um ein weiteres Beispiel zu erwähnen, im Programmheft zu The Deaßnan Glance (BAM, dat. Feb. 25, 1971) folgende Sentenz aus seinen 'Iowa City Notes' ein, die parallel zu Proben und Premiere von The Deafman Glance in Iowa City im Dezember 1970 entstanden sind: "At Pratt [Institute of Technology, Brooklyn, N.Y.] I wrote my thesis on designing an imaginary cathedral or a fewture [!] city perhaps." Mappe: 'Material for Book'. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III The King of Spain. S. 2 [Dieses Material vom Dezember 1970 erscheint auch unter dem Titel 'Iowa City notes' im Programmheft des The Deafman Glance, Aufführung B AM, Feb. 25, 1971)] Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: III-4 The Deafman Glance. 236

When considering the most likeable cities on earth, Paris looms large among them. Paris is one of the greatest tourist attractions in the world. And not without reason, for Paris has much to offer. Paris does not have a multiplicity of skyscrapers like New York, but it has much of beauty and elegance. And Paris has an illustrious background of history. When a gentleman contemplates the ladies of Paris, the gentleman is apt to exclaim 'Ooh la, la,' for the ladies of Paris are very charming. [...] If one goes up on top of the triumphal arch, one an see twelve avenues which converge there, thus presenting the form of a star. And that is why *La Place de LTitoile' is so called. That question is in abeyance. And now science is on trial.183 In den ersten zehn Minuten des Eröffnungs-knee-plays von Einstein On the Beach wird von einem Chor nur von eins bis acht gezählt. Danach beginnt Lucinda Childs über Mikroport in normaler Lesegeschwindigkeit diesen schließlich zweimal vorgetragenen Text von Christopher Knowles zu rezitieren, dessen erster und letzter Satz zusätzlich, jedoch willkürlich so oft erneut eingestreut werden, bis die 20. Minute, damit das Ende von knee play I, erreicht ist: Would it get some wind for the sailboat. And it could get these for it is. It could get the railroad for the workers. It could be a balloon. It could be Franky. It could be very fresh and clean. It could be. It could get some gasoline... shortest one. These are the days my friend and these are the days my friend. Would it get some wind for the sailboat. And it could get these for it is. It could get the railroad for the workers. It could be a balloon. It could be Franky. It could be very fresh and clean. It could be. It could get some gasoline shortest one. These are the days my friend and these are the days my friend.184 Berühmt ist auch das Beispiel aus dem Akt l, Sektion 2 von A Letter for Queen Victoria: Dort steht Robert Wilson als Akteur vor einer Stoffbahn, auf die Silben zu Blöcken und gleichschenkligen Text-Dreiecken gruppiert sind. In reklamewand-großen Lettern ist diese Leinwand ausschließlich mit 'Pirup1, 'SPUPS', OK' und dem Wort 'THERE1 bedruckt. Wilson sagt zweimal 'Pirup1, kratzt seinen Kopf und vom Band kommt Christopher Knowles1 Stimme, die ebenfalls das Nonsens-Wort Pirup1 zu wiederholen beginnt. Wilson, der diesen Text Christopher Knowles verdankt, sagt dazu: "Words are like molecules which are always changing their configurations, breaking apart and recombining."185 Tatsächlich führt Wilson den Sprachbegriff zurück auf alle Formen von vermittelter und unvermittelter Interaktion zwischen Körper und Welt Bewegung (movement) wird darin zum Synonym für ein - auch reflexives - Instrument zu universeller Kommunikation. 183

Samuel M. Johnson: Paris. (=Judge's speech) Trial, section 4. Einstein On the Beach, 1. Akt, Szene 2A (1976) Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: III-F Einstein On the Beach. 184 Zit. aus dem nicht vollständig vorhandenen Verlaufs-Skript zu Einstein On the Beach. S.I. Aus dem Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-F Einstein On the Beach. 185 Robert Wilson. Zit. nach: Laurence Shyer Collaborators. A.aO., S. 79. 237

Anthropologists say that we spoke before we talked. [...] we were doing movements before we were dancing before we were saying words.186 Die Behauptung eines sprachsprachlosen Ausdrucks der Bewegung, die dennoch als Sprache des Körpers funktioniert, basiert auf einer These, die mentale und physikalische Beweglichkeit direkt assoziiert: If people don't fully develop in basic stages of physical activity then their mental readiness to learn is hindered and there is a close association, relationship between physical activity and mental activity. Es ist künstlerisches Programm der BYRD HOFFMAN School of Byrds, Katalysatorfunktion bei der Entdeckung des individuellen, eigenen Vokabulars dieser Körpersprache zu übernehmen. Gedacht ist dabei zuerst nicht an Ausdruckstanz oder symbolische Gestik. Erkundet werden sollen nicht Möglichkeiten für den Tänzer/Performer, deiktische Bewegungen hervorzubringen, die nonverbal und artifiziell auf Gehalte hinweisen oder diese vermitteln wollen. Es geht vielmehr darum, die autochthone 'Sprachfähigkeit des Körpers' selbst wiederzuentdecken. Insofern Hegen Gewicht und Impetus des therapeutischen Ansatzes der BYRD HOFFMAN School of Byrds auf der Befreiung des Körpers zu sich selbst, d.h. auf der erneuten An- und Zueignung von residualer, aphoner Sprachmacht und damit zugleich auf der Entrümpelung der Kommunikation vom Ballast nicht-identischer Rede. Die Rückgewinnung des körperspezifischen Artikulationspotentials soll ermöglicht werden durch Rückbesinnung und die konzentrierte Arbeit an individuellen, autogenen 'BewegungsBegriffen'. Therapie und Kunst bestehen für diese Gruppierung in dem Versuch, die zerwehten Silben dieser Sprache zu rekollektivieren, sie zu filtern, zu katalogisieren und minutiös zu 'gestischen Vokabeln1 zu assemblieren, um einer sich-selbst-sicher gewordenen 'Expressivität ohne Überschwang' Raum geben zu können. Wilson bescheinigt dieser 'ursprünglichen' Sprache zudem auch, einzig wahrhaftig zu sein. "I think the body doesn't lie. If something seems right, then it's usually right. I rely on that very much when I work."188 Sheryl Sutton nennt Tanz dementsprechend "a way of expressing yourself und 186

Gesprächs-interview: Jim Neu und Robert Wilson. Nach der Performance der Body-Theaire-Balinese-Dancers. A.a.O., S. 12. 187 Robert Wilson, Zit. nach: Stefan Brecht: The original theatre of the City of New York. A.a.O., S. 17. 188 Robert Wilson: Interview mit Arthur Bartow. A.a.O., S. 6. Wilsons Plädoyer für die instinktiv gesteuerte Vollendung der Produktion CIVIL warS ist in diesen Kontext der UrVertrauens auf die nicht-rational legitimierte Kompetenz des 'untrügerischen Körpers' zu bringen: Dort heißt es: "Der Instinkt in meinem Körper muß mir, jetzt, wo die Dinge immer enger und genauer werden, sagen, was richtig und was falsch ist. [...] Ich muß mich auf meinen eigenen Instinkt verlassen, um zu sagen: So ist es richtig." Robert Wilson in: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 55.

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Kit Cation - ebenfalls Mitglied und Performer der BYRD HOFFMAN School of Byrds - berichtet: "dancing was the way we communicated together."189 Wilson beschreibt seine Arbeit an The King of Spain folglich als dreistufiges Modell. Es basiert auf der sukzessiven Erschließung, vermittelt sich über den gruppendynamischen Austausch und formt sich in der sequentiellen Komposition der Bewegungsmomente zu einem individuell gefundenen Vokabular. Insofern ist Tanz Schrift Und Bewußtsein resultiert aus dem Reflex dieser wiederentdeckten, auf dem interior screens verzeichneten Bewegungstype auf das Wissen des exterior screens. First of all [you have to get] the people to move so that they know they can move and I do that by turning out the lights so they can't see themselves seeing one another or so they can't see anyone seeing themselves. And then I have them just move and try to feel that experience of their bodies moving and then think how their body's special - it is not like anyone's else - and also to pay attention to what is happening when their body is moving. At the same time trying to be aware as much as possible about what is happening, too, as a whole group - being sensitive to the energies of the other people and how they're moving and what they're doing in relationship - not trying to design it or anything, just trying to be aware of it. [...] Then the second thing that really is the most important thing is that I try to be superaware of what the people are and I try to have some insight or something that I can tell the group [...] and I try to encourage them [...] so whatever they begin to do will be done because they are beginning to have confidence in themselves and in their movements and then they naturally can relax and you can see them better. [...] The third thing is to try to build a (group) energy level that is very high. [...] That is, even though there isn't much action going on, the people all being themselves and being very different construct of their own accord and context, or their own play, by presenting themselves as they are. Then (theatrically) no more is necessary. 19°

Vicky Alliata dechiffriert in ihrem Report zu Robert Wilson die Setzung dieser 'Körpersprache der Eigentlichkeit' als essentielles Movens für die Arbeit der 'School of Byrds' an der Konzentration auf Bewegung. In ihr liege - so interpretiert sie - das Mittel zur Eröffnung individueller (kognitiver) Wahrnehmungs-Zeiten und -Räume. Alliata nimmt die Arbeit in der Gruppe als Hinführung zu körperzentrierter Selbstfindung. Sie unterscheide sich eben dadurch von behavioristischen Vorstellungen zum Verhalten, daß sie das Körper-Zeichen nicht als kalkulierbares Element aus dem allgemeinen Repertoire menschlichen Verhaltens auffasse, 189

Laurence Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 32 [Beide Zitate]. Robert Wilson: Production Notes zu The King of Spain, Typoskript. A.a.O., S. 6ff. Auch in: William M. Hoffman (Hg.): New American Plays. A.a.O., S. 248f.] Siehe hierzu auch: die Erfahrungsberichte einiger Beteiligter an solchen workshops*. In: Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 28-33.

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sondern als Ausdruck von Individuation. Sie beschreibt ein gruppengestütztes, produktives Irre-Werden des einzelnen Mitgliedes. To cure alienation, instead of the degradation ceremony - psychiatric examination, diagnosis, and prognosis - we would need an initiation rite during which the person would be conducted with the full approval of society, into his own inner space and time, guided by those who have been there and have come back. In psychiatric terms: ex-patients who help future-patients to go mad. [..,] It is [...] intended not as a song of deeds but of gestures because the gesture, Hegel said, 'is something simple, determinate, universal, to be perceived as an abstract and distinctive totality. The single individual is what his gesture is.191

Die Öffnung des Wissens auf die sensuellen Qualitäten des Wahrgenommenen will Wilson über die visuelle Wahrnehmung des Menschen und seiner Bewegungen, über die Erfahrung menschlicher Proportionen und Motorik erreichen, um den Wissens-Raum des eigenen Körpers allmählich, jedoch vollständig zu durchmessen. Erfahren werden sollen - nach der A) Entdeckung des Aufbaus und des statischen, nur in seiner Vorhandenheit gezeigten Körpers (ByrdwoMAN)192 B) die Möglichkeit und Ablauf von Bewegung überhaupt (das Laufen [The Life & Times of Sigmund Freud ] der rotierende, kippende Körper, die Motorik der Gliedmaßen [Einstein On the Beach]), dann C) die Grundpfeiler mimisch-gestischer Interaktion (der - stumme - Schrei [The Deafman Glance, The Life & Times of Joseph Stalin, CIVIL warS] das - stumme - Lachen [CIVIL warS], die - stumme - Drohung [Golden Windows] etc.), dann D) der Vollzug einer einfachen, zweckgerichteten Handlung (Heben der Flasche, um Milch in ein Glas zu schütten [The Deafman Glance]), schließlich E) die Beschaffenheit einer Situation durch Menschen und ihr spezifisches, situationsgeregeltes Verhalten (Die Gerichtsverhandlung [Einstein On the Beach], der Krieg, die Familie [CIVIL warS], die Verführung [The Forest]). Erreicht werden soll mit dieser Arbeit am Körper, auch ihn zu einem SchauPlatz zu machen - nämlich der Sache, die er selbst ist. Gerade hinter der aufscheinenden und die rationale Sicht verstellend-verstörenden Nicht-Notwendigkeit gezeigter Präsenz, Bewegung, Tat und Situation soll dieses merkwürdig und fremd gewordene Selbst geschaut werden können. Insofern gilt die Konzentration Wilsons - noch vor der Dokumentation von Ansatz, Aufbau, Vollzug und Wirkung einer Aktion, also eines bewegten, raumgreifenden Ver191

Vicky Alliata: Bob Wilson. In: domus 543, febbraio 1975, S. 43. Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: Clippings 4. 192 Siehe hierzu Abbildungen und Erläuterungen in Stefan Brecht: The original theatre of the City of New York. A.a.O., S. 37ff. S. 40 (Fotos). 240

Haltens - der Erfahrung dieser grundlegenden Ur-Sache. Farbe, Erscheinung und Signalwirkung des illuminierten Körpers werden gezeigt, um zu einer durch ihn hindurch vermittelten Sprache der Eigentlichkeit zurückzufinden. Ihr ist dann die Aufgabe übertragen, den Report über materielle Beschaffenheit, Möglichkeit und Bedingung der eigenen Existenz abzufassen und eine unverschlüsselte, sozusagen zeichenlose Kommunikation abseits der Dinge zu initiieren. Insofern kann der Körper nicht nur 'fühlen und sehen' (s.o.!). Er kann auch (sich selbst) sprechen - und er spricht. Der nur sich selbst zeigende Körper ist darum für Wilson nicht lediglich substanzhaftes Instrumentarium seiner eigenen Rede, ein Baustein, der als Verhalten zur Sprache funktioniert,193 sondern er ist essentieller Teil, ja Grundlage des universellen, intuitiv gesprochenen und intuitiv wahrnehmbaren Monologes des Menschen über sich und seine Welt Eine Sprache, die nur verschüttet, nicht verloren ist, die jeder beherrscht und die - begriffen als Menschheits-Chance zu (natürlicher) Freiheit wieder allgemein vernommen werden soll und wieder allgemein vernommen werden kann. An diesem Selbstdisput nämlich ist - so Wilson - jeder beteiligt, an ihn wird von jedem jederzeit angeknüpft, er wird fortgeführt und transformiert und muß dabei nie übersetzt werden, da er entstanden ist und stets neu entsteht, weil alle - wirklich alle - ihn sprechen. Er ist Ausdruck des geistvollen, spirituellen Menschseins. Diese stumme Erzählung, der - weil macht-freie - einzige Nicht-Diskurs, den Menschen als ihre Sprache hervorbringen, wird von Wilson auch 'die natürliche Sprache der Seele' (s.u.!) genannt. Er wird - kontradiskursiv - versehen mit dem naiven Hoffnungszeichen einer utopischen Zukunftsmacht und gilt als vierte, den drei der Beherrschungs-Physik der rein rationalen Welt entgegengesetzte Dimension der Existenz. Im Versuch, diejenigen positiven Kräfte zu aktivieren, die dazu beitragen, dieser eigenen Sprache gewärtig zu werden, üege einzig die Möglichkeit, die Strukturen einer fremdbestimmten Notwendigkeit (=der Diskurse) aufzubrechen: es ist der Versuch zur Verwirklichung reiner Natur - einer Freiheit zu sich selbst. Wilson führt diese Gegenkraft der Körpersprache als essentielle Macht der 'stillness' im Kontrast zum Lärm der 'wild beasts', die - sozusagen als real gewordene Abkömmlinge aus dem Foucaultschen "wilden Außen"194 des nicht codierten Raumes - nun als ungebändigte Macht der Diskurse gebieten, mit einem Zitat Ezra Pounds auf, dem das Programmheft zu The Deafman Glance neben den Iowa City Notes (s.u.!) - eine Seite widmet.

193 194

So würde er - im Gegensatz zu Wilson - von Behavioristen verstanden werden. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. A.a.O., S. 25 [Alle Stellen]. 241

And the fourth, the dimension of stillness and the power over wild beasts.195

Dieses (erahnt-erhofft) machtvolle Korrektiv gegen die Diskurse, dieser körpersprecheride Menschheits-Monolog der Ruhe in einer Vierten Dimension' der Welt - diese Sprache zur Freiheit aus dem Sein und der Bewegung ist Kunstl196 Sie erhebt sich für Wilson damit nicht innerhalb eines vorgängig definierten Bezirkes, der Kunst genannt wird, sondern - umgekehrt - dieser Kunstbezirk entsteht erst, sobald sie sich erhebt. Robert Wilson antwortet auf die Frage nach dem 'Gehalt' von The King of Spain mit einer programmatischen Sentenz. Er beschreibt sich darin nicht als den produktiven Künstler, der sein Material kompositorisch beherrscht, sondern als denjenigen, dessen Arbeit darin besteht den Raum für Kunst zu eröffnen. Kunst wird bezeichnet als 'stepping out' aus der dreidimensionalen, diskursiven Bestialität hinein in die vierte, spirituelle Sphäre dieser 'natürlichen Zivilisation', in eine geistige Kultur des Sprechens der Eigentlichkeit. "Nature helps one's spiritual side", lautet Wilsons Wendung hierzu.197 Mit der Grenzüberschreitung des Wissens verwirklicht sich eine nicht-manipulierbare Kunst im diskursbefreiten 'leeren Raum1, der demnach nur über seinem Grundriß mit dem Titel 'The King of Spain' versehen werden kann. I did the initial work (as such) of structuring the sequences of the stage action and activities, that is, the order of their entrances, the [...] set and backdrop. [...] The plot in that sense becomes a loose, open ended structure - or a none-structure in that it freed the people in it, enable them to step out, step outside of themselves naturally by stepping into the context of The King of Spain. Now that refers to the people.198

Kunst realisiert sich demnach - nach ihrer nur strukturellen Verortung durch 'the initial work' - im Raum des Nu (i.e. der nunc stans) als wieder/neuerlangte 195

Motto neben den 'Iowa City notes' im Programmheft The Deafman Glance, Aufführung Brooklyn Academy of Music, [BAM], Feb. 25, 1971, S. 2 [Das Zitat stammt von Ezra Pound] Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: -4 The Deafman Glance. 196 Sie ist Synonym für die (utopisch angenommene) Möglichkeit zu Auffindung, Belebung und kommunikativen Nutzung einer extradiskursiven, natürlich-harmonischen Sprachstelle im Bildentwurf der Vierten Dimension1. 197 Programmheft The Deafman Glance, BAM, Feb. 25 & March 5, 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: III-4 The Deafman Glance. 198 Robert Wilson: Production Notes zu 77z« King of Spain, Typoskript. A.a.O., S. 6ff. Insofern ist es natürlich die Bewegung der Rezeption, die die gezeigten Dinge bedeutungs-relevant werden läßt, weil sie augenscheinlich am 'falschen Ort' geschehen. Und darum müssen aus Gängen eben 'plots' werden. Siehe hierzu auch: "Kunst ist, was die Institution, das System Kunst als Kunst wahrnimmt. Innerhalb ihrer Bannmeile sind farbige Dinge im Zweifelsfall Kunstwerke." Hannes Böhringer: Attention im Clair-Obscur: Die Avantgarde. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute. A.a.O., S. 14-33. Hier: S. 17. 242

Freiheit des Körpers zu sich selbst, als eine durchs Bewußtsein hindurchgegangene, wieder/neugewonnene Freiheit zu unbewußter Geste - eben als Wieder/Neu-Erfahrung des Wissens von sich. Wilson selbst zitiert hierzu im Programmheft von The Deafman Glance die euphorisch formulierte Vision eines zukünftigen Tänzers als eines Dolmetschers dieser 'natürlichen Seelensprache' der Humanität. I shall help them to develop those movements which are natural to them. And so I say it is the duty of the dance of the future to [...] instruct them in movements that are in full harmony with nature. The dancer of the future will be one whose body and soul have grown so harmoniously together that the natural language of that soul will have become the movement of the body. Her dance will belong to no nationality but to all humanity.199 Diese ästhetische Motivationslage ist auch Folie und movens für die Zitation aus Kleists Aufsatz zum Marionettentheater im Programmheft zu CIVIL warS, in dem es - jetzt auch Wilsons Konzeption disputierend - heißt: Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C..., so sind Sie im Besitz von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. - Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punktes, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der anderen Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.200 Kunst, die demnach nie gemacht, sondern durchs (Sich-)Schauen erfahren werden kann, gilt Wilson als Befreiung des Selbst-Seins zur Puppe, die nun als wissender 'Gott1, als spirit erfahren werden kann. Wilson setzt hierzu ausdrücklich auf dieses "vocabulary of movement", das die Rezeption für sich (wieder-)entdecken, also: erinnern soll. Diese Ebene der sensuellen Entdeckung der Oberfläche eint Zuschauer und Akteure. In einem "Proposal for the International Center of the Byrd Hoffman 199

Mappe: Material for Book'. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III The King of Spain. S. 2 [Dieses Material vom Dezember 1970 erscheint auch unter dem Titel 'Iowa City notes' (es ist vermutlich im Umfeld der Aufführung von 'Handbill', bzw. zur Zeit der Proben zu The Deafman Glance in Iowa City entstanden) im Programmheft des The Deafman Glance, Aufführung BAM, Feb. 25, 1971)] Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance. 200 Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. Zit. nach: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 56. 243

Foundation" aus dem Jahr 1974201 wird in diesem Zusammenhang - ganz im Stil der Zeit202 - über die interkulturelle, bzw. meta-intellektuelle 'Kommunikation der Menschheit' gesprochen, die die enggesteckten Grenzen eines alltags-fragmentierten Lebens sprengen könnte. Dort heißt es: Most contemporary theater fails to reach us in a profound way because it rarely explores the basic human experiences which shape our lives. [...] most of the cultural contacts we have are through 'tourism', television and the media - they are rarely living experiences which take us outside our daily concerns and open us to our own humanity. [...] the members [of the Byid Hoffman Foundation, Inc., B.G.] believe that there are specific ways to expand and develop personal resources so that the concerns of our highly specialized and fragmented lives can be unified and transcendented. [...] One result of this [thinking, B.C. ] is a unique fonn of theater art. Theater presentations arc opportunities for performers and 201

Dieses 'Proposal for the International Center of the Byrd Hoffman Foundation' aus dem Jahr 1974 ist eine Art Exposo zu den künstlerischen Zielen und Arbeitsscbwerpunkten der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC., in der Absicht verfaßt, ein 'fund-raising' zur Verwirklichung eines "International Centers for Exchange in the Arts" zu begründen. Das zwei Seiten umfaßende Papier ist gegliedert in (A) 'History' der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC., (B) 'Philosophy' zu einer Kunst der Erfahrung, (C) "Need1 zu Errichtung und Betrieb des International Centers. Angehängt ist ein Jahresprogramm zu laufenden und geplanten Aktivitäten der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. Es ist diesem 'paper' nicht zu entnehmen, wo dieses Center errichtet werden soll. Denkbar ist einmal ein Ausbau der Zentrale im Loft der Spring Street, NYC, vor allem aber zum anderen eine Neu-Errichtung auf dem ein Jahr zuvor (1973) angekauften Grund in Loos, British Columbia. Auf diese Möglichkeit verweist eine Äußerung Jim Neus: "Bob purchased some land in British Columbia and we spent a couple of months there one summer. His original plan was to create an international theatre center but we hadn't counted on the mosquitos which made the place uninhabitable." Jim Neu, Zit. nach: Laurence Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 33. Zitiert wird dieses Programm hier aus dem Third Draft' des 'Proposal for the International Center', einem mit handschriftlichen Korrekturen Wilsons (?) versehenen Typoskript aus dem Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: II-8 SCHOOL OF BYRDS Activities. 202 Ygi ^ etwa: juiian Beck (Living Theater), der 1972 über eine verloren gegangene, indes über das kollektive Mw-Erlebnis im Theater wieder einholbare Kategorie zur integeren Menschwerdung schreibt. Bezeichnenderweise soll darum das 'falsche Leben' durch Theater korrigiert, tbeatralisiert werden, um das dann artifiziell verwirklichte Moment der Hoffnung auch in die Wirklichkeit zu tragen. "The theatricalization of life will draw us into a dream drama, in which we choose our roles [...] the subject matter of the dream is always transformation [...] changing first from the fearful dream of the alienated individual into the dream of unification in which there is no longer a 'they' and 'it'." (1969) Julian Beck: The life of the theatre. The relation of the artist to the struggle of the people (1972), New York, 1986, S. 212. Der große Unterschied zwischen Beck und Wilson besteht allerdings darin, daß Beck seine theatrale Mission direkt politisiert, d.h. Kunst für besseres Leben direkt auf dieses ummünzen will, während Wilson keinerlei unmittelbare, unmittelbar politische Wirksamkeit beansprucht, sondern sich ausschließlich auf seine Kunst konzentriert. Vgl. hierzu: Beck: "we need // to create cells // we need // to gather // the forces // we need // to learn // from each other // we need // to give // to each other // suggest // that we gather // together // [...] then the cells // like seeds // scatter // and fertilize the world // this is a call 244

audience alike to observe their thoughts and feelings and share them on a universal level. The work is purposeless in the sense that it does not impose any over-all structure or method on experience. It is not about anything; it is a process of opening to new and uncharted areas of self-expression. [...] Ideas occur to us in fleeting form. One image appears and then another, following the endless varied improvisations of ordinary life in which the imagination is more or less constantly engaged. These abstractions of the mind and feeling, these fleeting perceptions are the material within ourselves from which we get the impulse to perform. Emotions change very rapidly and in slowing down the body, it is possible to perceive these changes. [...] A common language evolves.203 Die wiedererlangte Freiheit des Wissens zu sich selbst und die Aneignung von Zeit stehen je am Ende eines Bewußtwerdungsprozesses, den Schauspieler für den Zuschauer mit ihrem Körper antizipieren, d.h. zur gemeinsamen Sprache bringen sollen. Wilson will mit seiner eigenen Arbeit diesen Prozeß - bei Zuschauer und Schauspieler ['It's so important for the performers too to also have time to think while they're performing on stage1 s.o.!] - je in Gang setzen, indem er den Körper zur Ruhe bringt und Spannung abbaut ['release the tension' s.o.!] und ihn als den Ort separiert, auf den alle Konzentration ausgerichtet werden kann und ausgerichtet ist. Für den Zuschauer will Wilson daher eine ruhevolle, entspannte Ausgangssituation schaffen. Das wohl eindringlichste Beispiel für den Versuch einer Realisation dieser Absicht stellt die Eröffnungsrede zu The Life & Times ofSigmund Freud dar, in der der gesamte Ablauf des Spektakels narrativ vorweggenommen wird, um dem Zuschauer ein distanz-schaffendes, -wahrendes Befremden zu ersparen und ihm Raum für die eigene Arbeit der Phantasie zu eröffnen. Cindy Lubar berichtet hierzu: The Life & Times of Sigmund Freud began with a twenty-minute speech, written by Wilson and delivered grey haired lady [...]. She stands at the edge of the stage, in front of the house curtain as the audience take their seats.. Wilson felt that urban theatergoers usually arrive at a performance unavoidably conditioned by the hectic pace of city-life. He used the long speech to calm them down and to ease them into the play. It had a twofold function in that it not only gave an opportunity for the audience to slow down while waiting for the curtain to rise, but also told them exactly what they were going to see, thereby eliminating one level of mystery - of what was going to happen - so the audience would experience the business, the activities, in another way.204 // to work out // our salvation // together // do it!" (1967) Ebd. S. 222f. BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC.: Proposal for the International Center of the Byrd Hoffman Foundation, (zitiert wurde aus den Abschnitten 'History' und 'Philosophy'): S. If. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: II-8 SCHOOL OF BYRDS Activities. 204 Cindy Lubar: Kapitel III: The Life & Times of Sigmund Freud, S. l. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III-3 BYRDwoMan. 203

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Um den Raum für die Erfahrung des eigenen Körpers durch den eigenen Körper eröffnen zu können und sich mitteilbar zu machen, sollen dementsprechend auch die Akteure vorbereitet werden. Für den Schauspieler bedeutet das: It involved going back and 'relearning' very simple movements that bad become distorted in the course of day-to-day life by various anxieties and inhibitions.205

Igor Demjen206 berichtet darüber, daß sein Schwerpunkt bei dieser Arbeit zur Entdeckung des Körpers Laut-Meditation war, mit deren Hilfe das Korsett der rationalen Selbstkontrolle gebrochen und die eigene Spiritualität im kreativen Akt des Spiels mit Geräuschen entdeckt werden sollte. In workshops we had Experience-classes, in which people tried to get aware of their own natural sound. We would spent hours bumming to make the voice audible. We thought that life was reasoned out - there is only the brain-life guiding people - and that pure and absolute reason would destroy people - only lovers are different. So we started with these sound and movement exercises to release the body, release the tongue, release the imagination to free the spiritual Me from reason: 'Imagine a rose'. We allowed physical contacts to break the physical barriers.207

Kunst ist für Wilson die gelingende Entdeckung der Sachen. Während die Sachen als unveräußerbarer Besitz des Individuums betrachtet werden, gilt die Weise ihrer Eröffnung demgegenüber nicht als singuläres, exklusives, sondern als Ereignis des interpersonalen Austausche, der gemeinsamen Sprache, die allerdings je individuell benutzt und gesprochen wird. Kunst bleibt auch für Wilson kommunikativ. Der von ihm gefundene Auftakt zu der dann höchst persönlichen Ausarbeitung der Körpersprache durch den Akteur wird das Se205

Frantisek Deak: Robert Wilson. In: The Drama Review 18/1974, S. 72. 206 jgOr Demjen, verantwortlich für 'Music and Sound' in: The Deafman Glance 1970, Watermill 1971, Overture For A Deafman [Paris] 1972, MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE 1972, The Life & Times of Joseph Stalin, 1973. Tscheche, kam 1968 ans Iowa State College, wechselte dann zum Iowa Center for New Performing Ans, studierte daneben Fine Arts: Schwerpunkte Happenings, Intermedia, Multimedia. Musik-PercussionSpezialist der BYRDS: Cage-Inspirationen; musique concrete; Industrial-Natural-Sound Arrangements: "What we were working with was rhythms. [...] Every sound, every noise, every single uttered syllable became part of the work's rhythmic beat. [...] [In the plays] there were a lot of natural sounds and excerpts from opera and radio music" I. Demjen. Zit. nach: Laurence Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 210. Lernt im Herbst 1970 Wilson kennen, der in Iowa City mit Studenten an den Proben zu 77« Deafman Glance arbeitet und nebenher Handbill einstudiert, das am 13. November 1970 in Iowa City Premiere hat. Wilson hält dort an der State University einen Vortrag über seine Erfahrungen als Praktikant des Megalope-Cities-Projekt des Architekten Paolo Soleri, der in Arizona mit Studenten am Aufbau eines Prototyps der sogenannten Arcosanti-Community arbeitet und dem Wilson dabei beim Bau eines Swimmingpools und eines Gemeindehauses assistierte. Erster Satz Demjens in dem am 12.07.90 von mir geführten Interview: "Wilson doesn't understand music!" [Siehe auch: Shyer S. 211]. 207 Igor Demjen in dem Interview vom 12.07.90. 246

ven-Part-Movement genannt. Es stellt sozusagen eine Ermutigung zum 'Lallen des Körpers1 dar, eine Bewegungs- und Konzentrationsübung, die zum Beispiel in The Deafman Glance direkt der Schau angeboten und dort besetzt wird mit dem sogenannten 7partmover (s.u.!) C. Lubar hat es beschrieben. As in the earlier workshops, it was important to Wilson that the performers knew how to remain relaxed while building and maintaining a high energy level. To help them achieve this, he developed 'The Seven Part Movement' structured in seven successive phases which are repeated as a unit; the motion progresses, in a straight line, from a sitting position, to standing, to walking, to bending and so forth. Less energy is required for the first phases than for the last ones. Physically, the movement is easily learned by anyone. Wilson describes its nature as Very inner'. The idea is to concentrate on something outside the moving body, such as a fixed point on a wall. Thus, one remains inside and outside the activity simultaneously.208 Die gemeinsame Sprache zur Sache wird von Wilson an anderer Stelle auch als vermittelt in 'Body Symbolisms' genannt - Symbolismen im Plural der sie ausdrückenden Körper, Symbolismen durch Körper hindurch. Gemeint ist damit ein je höchst eigenständiger Symbolismus ohne definierte Sinn-Bilder, der von theatralem Wissen, also dem Diskurs Theater, lediglich transportiert wird, jedoch nicht in ihn integriert ist. Dieser Symbolismus benutzt das Theater, um zur Sache zu kommen, bzw. die bereits gefundenen Sachen zu zeigen, jedoch nicht, um auf Dinge zu verweisen. Gemeint ist ein Symbolismus also, dessen Bezeichnetes schon das Zeichen ist: ein reines Zeichen für ein zeichenloses 'Selbst', nämlich den Körper als Sache. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, daß dieser sonst irreführende Begriff folglich übersetzt wird mit 'Symbolismus des Körpers' und nicht mit 'Symbolismus durch den Körper'. In einem - vermutlich bislang unveröffentlichten - Respons auf die Deafman G/ance-Kritik Arthur Sainers in der New Yorker Village Voice wird dieser Terminus body-symbolisms von Wilson eingeführt. Arthur Sainer hat in seiner Besprechung der New Yorker The Deafman G/o/ice-Aufführungen zu einem der wenigen wirklich differenzierten Urteile über diese Produktion gefunden. Er lobt die "gorgeously orchestrated vision of a reality in which the mythical and the ordinary, the fantastic and the banal accurate and flourished contain and diminish."209 Er subsumiert Wilsons Theater dann jenen amerikanischen Avantgarde-Bewegungen in Tanz, Performance, Happening, deren Positionen er - als Vergleichsgrößen für Wilson - mit den Namen Carolee Schneemann, Kaprow, Ouldenberg, Elaine Sommer, Beverly Schmidt, Yvonne Rainer, Ju208

Cindy Lubar: Kapitel III: The Life & Times ofSigmund Freud, Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y. Box: III-3 BYRDwoMan, S. 4. 209 Arthur Sainer: Worms, Apes, Eyes, Angels, Ladies, Fish. In: Village Voice, v. 4. März 1971. (zu: The Deafman Glance) (o.S.) [Alle Stellen]. 247

dith Dunn, Lucinda Childs, Kenneth King und Meredith Monk belegt. Allerdings moniert er einen bei Wilson festgestellten enklavischen Wiederholungszwang, eine Erkundungssucht auf bereits abgestecktem Gelände, die lediglich Eingeweihte auf Feinheiten des Panoramas aufmerksam und nur ihnen eine weiterhin unbändige Lust auf derartige Exkursionen mache: "If anything, it reassured, it drew on responses I was already prepared to make for it." Sainer rügt die Vollendungs-Besessenheit Wilsons, die - fälschlicherweise - den Schaden durch Selbst-Wiederholung zu gering einschätze. ["Reality is that I had already seen the Southern Mammies with their prancing butts, had already seen the runners, had already been enervated with the excruciatingly lovely slownesses..."] Demgegenüber veranschlage sie den nur kaum zugänglichen Nutzen durch Hyper-Hypersensibilisierung zu hoch. Mit The Deafman Glance sei darum letztlich nicht mehr Irritation gelungen, sondern die Selbstbefruchtung einer - gleichwohl außergewöhnlichen und zukunftsträchtigen - Theaterkonzeption. There's the sense that Wilson isn't sufficiently editing. The work is so loathe to conclude itself, it carries on one final ending after another, over and over it is ending and not ending, as if it truly lacked a sense of its internal life. As if Wilson cannot pan with any inspiration, must have them all. [...] What we bring to the work is our sense, through our life, of itself. We don't change it - thus it can go on without us - but we sense its own sensing of its properties. With the above reservations let me repeat that The Deafman Glance is extraordinary and an important contribution to the future of our theatre.210

Auf diese Kritik reagiert nun Wilson mit einem handschriftlich verfaßten, persönlichen Antwortschreiben, das sich - vermutlich nie abgesandt - bei den Notizen zum Umfeld der KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE-Produktion im Archiv der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. befindet. Der Brief ist datiert vom 3. November 1970. Wilson befindet sich zu der Zeit in British Columbia, Canada - dort, wo die BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. Land für ihr geplantes International Center erworben hat. Wilson verbirgt kaum das Mißfallen an seiner mutmaßlichen diskursiven Zugehörigkeit, der Verortung innerhalb des Kunstbetriebes, der für ihn mit völlig anderen Intentionen und - vor allem - mit völlig anderen Ergebnissen arbeitet. Er bezeichnet sich dagegen als ein 'Künstler mit Relativsatz1, nämlich als Visual artist, one working with people'. Darin steckt wieder die Selbsteinschätzung Wilsons, Ermöglicher für Kunst zu sein, nämlich derjenigen, die ihre Fundsache Körper lediglich äußerlich in die Form des Theaters bringt, 'zu Theater übersetzt1 (Wilson). Er reagiert anfangs launisch auf Sainers Kritik - 'You seem lacking in understanding of what I'm doing' - fühlt sich von ihm falsch apostrophiert 210

Ebd.; vgl. hierzu auch Wilsons eigene, weiter unten zitierte Aussage zur Ausfächerung des Einen Gedankens', der alle seine Arbeiten eint!

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und unverstanden als der eigentliche Visual artist', der mit Menschen arbeitet, um zu jenem Symbolismus des Körpers in Eigentlichkeit zu finden. Benötigt wird - so Wilson - dieser Symbolismus des authentischen Selbstausdrucks, der - nicht von diesem gemacht und nicht von diesem ermöglicht - lediglich in den Kunst-Diskurs Theater gehoben wird, um das Gerede des Alltags, dessen Betreiber und zugleich Opfer alle sind, zu spiegeln. Nov 3,1971 Crescent Spur, British Columbia Dear Arthur Sainer, I have intended to write for sometime concerning your writing of my woik - who ever knows what anyone is about seldom the one doing it making it so far that matter I could be as far a field as your worsting (?) my work, but 1 don't think so. You seem lacking in understanding of what Tm doing as a visual artist, as one working with people, as one working with body SYMBOLISMS translated into theatre termsknowledge [!] about everyday body reverberating rationing of nations chattering in a language that the majority of the public are unaware of becoming victims to it of it. Surely a closer look at my next work [...] will make reconsiderations of your statements about it connected to art, dance, movements, the sixties, [...] they are working with completely different object time results, to one play being similar to the next, to your lack of comment of the bodily over reverberation rationing symbols sometimes longer than a usual plane of 48feet by 25feet - Surely, Mr. Sainer, you have my whole hearted support there has to be someone more acute relativing [!] OUR TIMES and certainly you are one of the few who has had the interest to see what someone of my generation is doing for the 1970s. I'm sincerely yours, Robert Wilson.211

Ausdrücklich nennt Wilson die Theater-Arbeit eine 'Übersetzung der KörperSymbolismen in theatrales Wissen.1 Damit ist Theater nicht die eigentliche Arbeit, sondern die gewählte Form zur Präsentation des gefundenen Selbstausdrucks. Sie wird gefüllt mit der Körper-SacAe. Das Alltagsverhalten des Geredes, das dem Körper sonst widerfährt ('rationing of nations chattering'), soll zu bearbeitbaren Dosierungen abgemessen und zurückgeworfen: zur Schau gestellt werden, damit Wissen vor sich selbst gebracht werden kann. Es soll als dennoch und weiterhin Sachhaltiges erkannt werden - eine Fähigkeit zu Erkenntnis, die zu entwickeln und zu behaupten den meisten Menschen abhanden gekommen sei. Demnach sind die Äußerungen von Robert Wilson als Deskriptionen des einen theatralen Versuchs aufzufassen, den flüchtigen Moment seiner Offiziösen1 Zeiilichkeit zu entkleiden, um ihn einmal als unmittelbar das erlebende Subjekt tangierende Raum-Größe und zum anderen als Produkt und Brennpunkt eines größeren, inter-individuell relevanten, damit historischen 211

Vermutlich unveröffentlichter Brief Wilsons an Arthur Sainer, datiert 3. November, 1971. Aus dem notebook Wilsons: British Columbia, Canada. Vom November 1971. O. S. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE. 249

Wissens erlebbar zu machen. Werden die Aussagen Wilsons hierzu zusammengefaßt, schimmert ein prototypischer Systementwurf der Postmoderne auf: Kunst ist Gegenwartskunst, Ankunfts-Kunst, die leidenschaftslos aus den Fenstern des erlangten Wissens ("the apple with windows to the world." s.o.!) auf eine Welt-Gegenwarts-Landschaft blicken möchte, um die Fülle des Augenblicks als endlich authentische Erfahrung zu vermitteln. Sie will nicht mehr weiter, sondern ihr Angekommensein feststellen. "The Seven Part Movement' stellt eine von Wilson erarbeitete Übung zur Steigerung der Konzentration des Akteurs dar, die unabdingbare Voraussetzung für die 'Body-Symbolisms' ist. Deren Intention zielt auf ein Wieder-Erleben von Sachen (hier des Körpers selbst) in der Schau. Da das Aufscheinen der Sache gedacht wird als Produkt einer (nonverbalen) Mitteilung, als Kunst, die sich bei Akteur und Rezipient gleichzeitig ereignet, ruht im Begriff der Sache zugleich auch das Moment des Austausches, der Interaktion oder -Formation zur Eigentlichkeit'. Wilsons Verständnis von erlebbar-erlebter Eigentlichkeit, der Schau, beruht demnach auf einem spezifisch gedachten Verhältnis von Subjekt und Objekt in diesem Theater, also von in-formiertem Gegenstand auf der Bühne und informierendem Bewußtsein der Rezeption. Die Arbeit an der 'konstruktiven Kritik' am Ding, als die man De-Konstmktion ja auch verstehen kann (Zerlegung, Auffaltung der Gegenstände zur Erforschung und Beurteilung, um ihr zentrales Organisationsprinzip, ihren Bauplan [den Kristall in ihrem Inneren] aascÄawbar zu machen), nutzt die Mittel der Verlangsamung, Fraktalisierung und erneuten Rekombination nach extradiskursiven Mustern. Es ist dies ein Konzept zur Ent-Fremdung der Dinge von ihrem diskursiven Kontext, d.h. also zur Enthebung ihres Fremdseins als Ding, damit es über das cognitive mapping zu ihrer Aneignung als Sache kommen kann. Bislang reportiert wurden hier Äußerungen und Anleitungen Wilsons zur Steigerung der Wahrnehmung für Inschriften auf dem interior screen bei Zuschauer und Schauspieler (Entspannung, Seven-Part-Movement etc.). Damit soll unmittelbar die Rezeption, also das informierende Bewußtsein, zur Schau der Sache vorbereitet werden. Impliziert also diese Seite das eher technische Moment der Behandlung, Aufbereitung und Konstitution einer Rezeptionssituation zur optimalen Wahrnehmung der gezeigten Materialien, so ist nun nach diesen selbst, also den in-formierten Gegenständen, der Weise ihrer Aufbereitung, Archivierung und ihren Sprachmustern zur Kunst zu fragen. Wie soll eigentlich Eigentlichkeit in Wilsons Theater hergestellt und eingesetzt werden? Welcher Wert wird dem Material zur Kunst beigemessen? Und wie kann die wissenschaftliche Rezeption damit umgehen?

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Jeremias - Der (geliehene Mund im) Blick des Tauben In The Deafman Glance stammen die Bilder, die In-Formationen der Bühne, von jemandem, der ausschließlich in einer solchen 'Ordnung aus Bildern1 existiert. Er er-lebt diese Bilder und setzt sie nicht künstlich-künstlerisch als Kunst in den Kunstbetrieb. Es sind - nach Wilson - reine Bilder zur Sache. Sie bilden das Leben von Raymond Andrews und werden von Wilson wie Projektionen des Authentischen, quasi aus dem Reich der extradiskursiven Eigentlichkeit, lediglich auf die Bühne übersetzt. Sie sind nicht Werk und sie gehören nicht in den Kunstbetrieb, dem sie auch nicht gehören wollen: sie sind, wenn sie auf der Bühne vor Augen geführt zu Kunst werden, das entdeckte, stumm-wahre Leben (Still-Real-Life), der Geist zur Kunst. Und Wilson ist lediglich Agent oder Verwalter dieser Beobachtungen und Phantasien.212 Nicht Kunst zu machen, sondern die Reinschrift des interior screen zu erfahren, soll also durch die Bühnenverwirklichung der Bildwelt von Raymond Andrews gelingen. Cindy Lubar erläutert, wer er ist: Raymond who is deaf, was about eleven at the time, when he met Wilson and began working with him in his New Jersey classes. Wilson was interested in the way Raymond structured his thoughts into images; without speaking a word he readily communicated through drawings and gestures. Many of the things depicted in Raymond's drawings were images which Wilson later used in The Deafman Glance. Wilson: 'He had never been to school and being deaf did not jam him. He almost always remained open in a positive way. In class he was very observant and could read body signals instantly.'213 Andrews ist ein - im Kleistschen Sinne - unbewußtes Medium, das einem rational gestifteten Bewußtsein dadurch zu sich selbst verhelfen kann, daß es der Wahrnehmung kontextlos, extradiskursiv und unverbildet ('School did not jam 212

"Based on these observations, ideas, fantasies that he [Raymond Andrews] had we made the first big work The Deafman Glance." Robert Wilson: Interview mit Arthur Bartow. A.a.O., S. 12. 213 Cindy Lubar: Kapitel IV. The Deafman Glance. A four act play. S. l. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-3 BYRDwoMan; Wilson hat die Geschichte dieser Begegnung oft - in divergierenden Kontexten - immer wieder neu aufgeführt. Die Tages-Notiz vom 19. Sept 1971 reflektiert: "It has been 10 years ago, September, I was on my way to Summit [in New Jersey, B.C.] to give classes as I saw the cop about to hit him - hit him I jumped, jumping I sprang on bis back. He came to class it was 10 years ago September as the child thru [!] a brick thru [!] the window I was on my way to class." Das Programmheft zu The Deafman Glance nennt ein anderes Datum dieser Begegnung: "It was three years ago, September, I was walking down the streets when I saw the cop about to hit him about to hit him I worked we first painted together then danced now singing he leaves a man finding his mother's murder at 3 might explain the song in which the design you see." Programmheft: The Deafman Glance, BAM, Feb. 25 & March 5, 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. Y., Box: III-4 The Deafman Glance. 251

him1) Dinge als Sachen vor-stellen kann. Wilson beschreibt in einem Interview, dessen Verschriftung Stefan Brecht besorgt hat, die nonverbale, völlig eigenständige Orientierungs- und Kommunikationskompetenz Raymond Andrews' und nennt seine eigene Arbeit an der Adaption dieser Bildersprache für das Theater ausdrücklich ein Arrangement von Vorgaben ('It is his material I'm helping him arrange'). Er stellt Andrews als denjenigen vor, der bereits im Besitz des 'spirit' ist. Bemerkenswert an der folgenden Passage ist übrigens - wie für alle nicht-zeitschriftengeglättete Interview-verschriftungen Wilsons -, daß Wilson in seinen Antworten und Statements den zu artikulierenden Sachverhalt sprachlich umschreitet. Seine Sätze brechen abrupt ab, pausieren, setzen neu an, wiederholen bereits Gesagtes und zeigen insgesamt in ihrem Duktus eine Analogie zum gebetsmühlenartigen Sermon-Stil der Gertrude Stein. Tatsächlich wohnt diesen Wilsonschen Lese-Erschwernissen aber derselbe Wille zur Rekapitulation von Eigentlichkeit inne, der gerade durch das sonst unbeachtete Detail, durch das Beiwerk zur Sache will. His body is [...] so conscious - like he knows what's happening behind him all around him it is amazing to watch him dance to - with a record when he doesn't hear the sound and yet he's right with it - the body perceives the sound. [...] he doesn't talk, he's never been to school, he doesn't hear sound, he hasn't learned to read lips - so his way of communicating is a whole other way - the drawings are amazing, the colors that he associates with people the way the light that's with people - it's very revealing - it's a very perceptive way of seeing things [...] He developed another sense of seeing hearing - if he wants to tell me about someone, he doesn't know to write their name or to spell their name, he can draw some symbol or some meaning, that you know who that person is. [...] I'm working on images that he's had [...] colors, the whole, a lot of his imagery, it son of, I don't think he understands so much now that we are making them into a theatre thing, but there's some sort of exchange of communication about the material and he knows like I'm collecting certain bits of information, which very much come from him, and it's - it's been good for me, because it's almost like his material and it's not so much mine, I mean it is somewhat mine [...] it's almost like a script you know, I feel like I'm almost dealing with say this, it's not mine because it's almost like, I think well is that really Raymond [...] and it's a respect to him in his sensibility, and his way of seeing [...] I mean it's not like my idea so [...] I almost find that I have another sort of freedom [...] it is his material I'm helping him arrange [...] I'm son of detached [...] when I did The King of Spain, when I thought that it was all coming from inside of me, that sort of thing, [...] I'm very excited too because he doesn't yet understand I haven't explained to him so much that I'm working on a theater thing [...] I keep thinking what image does he have in his head, or what idea, or maybe he doesn't have any - about why we're gathering this information or what it's about, but it's a beautiful happening because he's hi the spirit of it, and he knows it's happening, he feels already the generating points of that thing being made and he brings me information about it.214

214

Robert Wilson: Interview mit Stefan Brecht (1970) ZU. nach: Stefan Brecht: The original theatre of the City of New Yoric. A.a.O., S. 428ff.

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Der 'spirit', den Wilson für Raymond deklariert, ist das (mysteriöse) organisierende System der Inschriften ['it's almost like a script1] auf dem interior screen [ keep thinking what image does he have in his head, or what idea, or maybe he doesn't have any']. Der 'spirit1 ist damit die natürliche Ordnung eines (rational verschütteten) Textes, die nur dem sehend-fühlend-sprechenden Körper ['the body perceives the sound1] zugänglich ist ['there's nothing - it's a very perceptive way of seeing things1...]. Und weil für Andrews der interior mit dem exterior screen identisch gesetzt wird, kann Wilson Raymond zugleich eine besondere Bewußtheit [conscious] seines Körpers - letzteren als Repräsentanten für den Körper überhaupt - attestieren und ihm so ein Wissen ['he knows what's happening...'] zuschreiben, zu dem das Theater erst noch gelangen soll ['he^ in the spirit of it, he feels already the generating points of that thing being made and he brings me information about it.1] Raymond age 15 Boy and Girl, Boys and Girls, Boy, Boy, Girl, Girl, Boys and animals and animal and father and son and father and son and father and boys [...] and Raymond and animal and all Father and son, love love Raymond age 15 Raymond speaktous [!]. We are on a plane again again even we have to go even we have to go even higher.215 Dieser Anruf Wilsons 'zu uns zu sprechen' ('speaktous1) ergeht an den taubstummen Raymond Andrews. Die persönliche Tagesnotiz Wilsons an den 15jährigen vom 19. Sept. 71 spielt in Duktus und Wortwahl auf einen Brief Andrews' an, den dieser an Wilson im Anschluß an die The Deafman GlanceTournee durch Europa geschrieben hat. Cindy Lubar berichtet: When Raymond returned to the States he sent Wilson the following letter: Dear Bob Father are not so you July 1, 1971 Camp Laughton // Raymond happy home // play good Jack, Julie [seine 'Vertreter' in The Deafman Glance} II Grid come tomorrow // next France, Paris // airplane mother // toy Base Ball // Boys and Girls love is // Days from N.J. // Back Good // Walk eat

home and end play // today money bank // Books Raymond Baby // Cry Goodbye today // new school now how // kiss Raymond love'216

Daß Wilson in seiner Notiz an diesen Brief Raymonds anschließt, ist mehr als vielleicht väterlich-sentimentales Andenken an einen Bilder-Seher, den der mit 215

Robert Wilson: Tages-Notiz vom 19. September 1971, Belgrad. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. . Box: III-4 Deafman Glance. 216 Cindy Lubar: Kapitel IV. The Deafman Glance. S. 19. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: -3 BYRDwoMan [R. Andrews hat das Tournee-Ensemble in Frankreich vor dem 3. Juü 1971, dem letzten Tag der Auffuhrungen von Paris, verlassen und wurde ersetzt, B.G.] [Weitere Zeilenumbrüche im Original sind mit gekennzeichnet]. 253

der The Deaftnan Glance-Produküon nun zum Star avancierte Regisseur nun fernab in einem Ausbildungsheim in New Jersey weiß. In dem scheinbar zum Adjektiv verkürzten Neologismus: 'speaktous', den Wilson dem Namen Raymonds direkt assoziiert, steckt eine kryptische Anspielung auf die von Wilson in Andrews vermutete Fähigkeit zur scheinbar numinosen, unbefleckten Rede. Es ist ein Hinweis auf dessen vermeint unmanipulierte Reinheit des 'spirit1, die Wilson der Rezeption mit Andrews' Hilfe entdecken und vermitteln möchte. Der Anruf 'speak to us' gehört in einem Kontext, den allerdings erst Hinweise auf Blättern aus dem Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University aufdecken können. Bei den frühen General Notes zu The Deaftnan Glance befindet sich auf einem Blatt - in Wilsons Handschrift quer über die Seite geschrieben - der Name 'Ellie Whitman'. Gemeint ist damit die Autorin Eleanor Wood Whitman, deren wichtigstes Drama den Titel trägt: Jeremiah. A drama in five acts, based upon the story of Jeremina as found in the bible. (London 1925) Die Encyclopaedia Britannica führt unter dem Stichwort 'Jeremiah' folgende Episode seiner Berufung durch Yahwe auf: It is told that he [Jeremiah] responded to Yahweh's (God's) call to prophesy by protesting do not know how to speak, for I'm only a youth', but he received Yahweh's assurance that he would put his own word's into Jeremiah's mouth and make him a 'prophet to the nations'.217

Raymond Andrews ist ein solcher prophetischer Jeremiah für Wilson. Aus ihm sprechen - in der Analogie - die Worte einer spirituellen Instanz, die vernommen werden können, obwohl sie nach Aufbau, Struktur und Grammatik nicht zu einem Text zu synthetisieren und somit nicht zu verstehen sind. Der Anruf 'Raymond speaktous', der relativisch gewendet ja auch bedeuten könnte: 'Raymond, der mit uns spricht', verweist auf diese Jeremias-Metapher. Er gilt dem Propheten eines erwachsenen, allen Menschen (nations) vernehmbaren, göttlich-reinen Sprechens. Es ist dies eine Metapher, die im Wort Person seit je ihre Stammformel gefunden hat: Raymond ist Per-son als derjenige, durch den hindurch die nicht in Formen gezwängte, un-informierte Sache selbst sich spricht. Er wird gesprochen. Und zwar permanent. Diese Sache mag rational bedeutungslos sein, und man kann sie auch nicht verstehen, aber sie ist durch Raymond hindurch in seinen Bildern da. In ihm, dem Taubstummen, werden also jene (derart numinos indizierten) Sprachpotenzen der Eigentlichkeit, des 'Geistes' ('spirit') trotz/hinter der verbalen Sprechohnmacht geahnt, die Wilson auch in der Inschrift auf dem interior screen vermutet, und für deren Kunsterscheinen ja der Terminus 'Symbolismus des Körpers' (s.o.!) steht. So läßt sich 217

Encyclopaedia Britannica, Bd. 10 151974 S. 134, Stichwort: Jeremiah.

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die These noch dahin ausfalten, daß für Wilson mit Raymond Andrews die Vierte Dimension' (s.o.!) des 'spirit' offenbar wird und das Organisationsprinzip des interior screen in dessen Bild-Welt ihren unmittelbaren Ausdruck findet. Wilson berichtet über Zeichnungen, die Andrews angefertigt hat: When I was working on Freud suddenly be was making drawings of animals, and be was building things about animals [...] He's very involved with an ox, it's almost like, - he's drawn an ox, and something about this image that keeps coming back, he almost used it like a signature, he almost signed things with an ox - it's like other things were happening, with this ox, and people and characters or other things, but somehow always the ox was there, that was one of the key elements in the story, and we almost like to have this, like that's almost a symbol, for like this information, this material that we exchange, this ox, and I don't know where he got that or how that came all.218 Auf diese Zeichnungen von Tieren bezieht sich Wilson ja bereits in der Notiz vom 19. September 1971 ['animal and father and son']. Von besonderer, 'spiritueller' Bedeutung ist Wilson hierbei das gezeichnete Motiv des Ochsen. Er betont ausdrücklich, daß es sich unwillkürlich, grundlos bei Andrews eingestellt haben muß und deutet so schon auf die Präsenz einer Sache, die sich unmittelbar und durch Andrews hindurch selbst erweist. Wilson bezeichnet den Ochsen ferner als Signet Andrews' und als Schlüsselelement in der 'story' von The Deafman Glance. Dementsprechend ist, da diese Produktion ab dem vierten Akt bild-geistiges Material Raymond Andrews' wiedergibt, auf dem Titel des Programmheftes zu Deafman die Fotografie eines Stein-Reliefs zu sehen, das einen Ochsen darstellt.219 Die - hier verfügbaren - Production notes belegen auch, daß ein Ochse, auf dem ein Junge reitet, den gesamten vierten Akt über auf der Bühne bleibt.220 In dem The Deafman Glance Ordner 'General-notes' befinden sich nun weitere Abbildungen von Ochsen-Darstellungen: eine Postkarte mit der Fotografie einer griechischen Bronzestatuette aus dem 5. Jahrhundert aus dem New Yorker Metropolitan Museum of Art und der seiner Herkunft nach nicht nach218

Robert Wilson: Interview mit Stefan Brecht (1970) Zit. nach: Stefan Brecht: The original theatre of the City of New York. A.a.O., S. 430ff. 219 Titel des Programmheftes von The Deafman Glance, Aufführungen BAM, Feb. 25 & March 5, 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: -4 The Deafman Glance. 220 Production Note I (handschriftlich, undatiert, Wilson) S. 9: "ox and people enter USL (child on ox, old man, dwarf, cripple + 2 blind men". Production Note II: The Deafman Glance-Props. Betitelt: Deafman. 15-seitiges Requisitenbuch des 4. Aktes von The Deafman Glance mit Zeitangaben. S. 5: "Ox enters & slowly moves, ox is guided by old man with long beard. A small boy rides the ox. A dwarf with large head & bound figure follows ox. Ox has goatskin water bag around neck." Beide Angaben: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: -4 Deafman Glance. 255

weisbare Buch-Ausriß mit einer Fotoreproduktion, auf der ein Ochse und ein Pfau zu sehen sind, die durch eine menschenleere indische Stadt ziehen. Das Photo trägt in Wilsons Handschrift die Marginalie: Ox' mit einem Pfeil, der auf dieses Tier und dann auf die Rückseite verweist. Dort befindet sich dieser gedruckte Text zur indischen Philosophie des Tieres: The philosophical beasts: Indian philosophers explicitly recognized that the dark complexities of their metaphysical systems were incomprehensible to most men, and one of the ways in which they attempted to communicate their doctrine was through animal analogy. [...] In symbolic interpretation, the beast (Pashu) was regarded as man's spirit, chained to the illusionary world, either, to be gently led to release by the god as shepherd or, in the more violent symbolism, to be sacrificed to the destruction aspect of the god, thus still attaining release, but through death.221

Der Ochse also ist Sinnbild für den Geist des Menschen, der an die vorhandene, materielle Welt nur gezwungen, gekettet wurde, durch einen Gott - den wissenden Gott nach Kleist? - aber durch Leben oder Tod, so oder so, erlöst werden kann. Die emblematische Setzung dieses Motivs auf den Programmtitel also will die innewohnende Präsenz des 'spirit', den zu erreichen Wilsons Theater ja angetreten ist, in und hinter dem Stück demonstrieren; eine Eingebundenheit, die in sich schon greifbar birgt, wovon sie durch materielle Fesselung soweit entfernt zu sein scheint. Raymond Andrews hingegen signiert mit dieser 'reinen Geistigkeit': er hat damit zwischen sich und dem 'spirit' unwillkürlich eine Identität bewiesen, die eben nicht ein Namens-Zeichen prätentiös durch ein anderes substituiert, sondern die sich gerade gegen die Zeichenhaftigkeit der diskursiven Welt, zu der Andrews ja nicht gehört, von sich aus vorhanden ist. Daß nun bei Andrews dieser Ochse in der Zeichnung erscheint, ist diesem Denken gemäß - kein Zufall. Wie der Ochse, der nur an die tatsächliche Dlusion der Materie gefesselt ist, selbst aber für eine authentisch geistige Welt steht, begleitet auch Andrews die uneigentliche Diskurs-Realität als nur äußerlich involvierter, in seinem Wissen jedoch unbeschädigter Trabant der Eigentlichkeit. Da sich das Motiv des Ochsen, weil es eben durch keine diskursive, rational lehrende Vermittlung übertragen wurde, selber ent-deckt haben muß, kann Wilson nun zweierlei folgern: - zum einen deutet das Mysterium der Identität des Ochsen als metaphorische, fabelhafte Umschreibung für den inkarnierten 'Spirit' und als genuin aufscheinende Signatur des unverbildeten Raymond Andrews auf die Wahr221

Buch-Ausriß: The philosophical Beast. Aus den General Notes zu The Deafman Glance. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance.

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haftigkeit der von Wilson angenommenen Ebene der Eigentlichkeit hinter den rationalen Diskursen, dem Gerede und der sezierenden Sicht der Dinge. Andrews kann mithin als Sonde zur Eigentlichkeit, der reinen Geistigkeit der Sache fungieren. - Zum anderen ist diese Identität fruchtbar zu machen für den Entwurf einer Situation im Theater, in der eigentliche Kommunikation möglich wird. Da die Bilder Andrews' nicht be-deuten, sondern repräsentieren, also nicht zeichenhaft auf etwas zeigen, das sie selbst nicht sein können, sondern schon genau das vergegenwärtigen, wonach dieses Theater sucht, müssen sie trotz und gerade wegen ihrer rationalen Undurchschaubarkeit für die Abbilder der Sache selbst gelten. Es ist dies die Folie, vor der Wilsons Aufruf 'speaktous' gelesen werden muß. Der Taubstumme kann gerade aufgrund seiner eingeschränkten Wahmehmungs- und Mitteilungskompetenzen im Sinne Wilsons als Sprecher gelten. Es ist danach sekundär, inwieweit Wilson Andrews sprechen läßt. Da die Arbeit The Deafman Glance die auf dem interior screen verzeichnete Vorstellungswelt Raymond Andrews' wiedergeben will, muß sie ohnehin jederzeit als Übersetzungsleistung betrachtet werden. Insofern ist Andrews immer Wilsons Medium, dessen Screening der Sachen' Wilson zu realisieren und zu arrangieren versucht. Doch liegen in Andrews' Bildwelt zugleich Ursprung und Zweck der Bemühungen dieses Theaters. Tatsächlich wird ja nicht die Sachhaitigkeit des Bühnengeschehens dargestellt. Sachhaltig ist diese Theater erst, wenn es über das cognitive mapping und die Ver-Zeitung des Wissens als Selbst-Sprechen zueigen gemacht wurde. Es muß also Bestandteil des rezipierenden interior screen werden, um erfahren werden zu können. Andrews ist damit, um im erwähnten Bild zu bleiben, Prophet sowohl für, als auch von Wilsons Vorstellung zur Sache. Lynn Thatcher bezeichnet Wilsons Theater dementsprechend als Stätte der Liturgie, an der Kunst zur Kommunion gerät. The nature and power of the theatre is affirmed, as not only an occasion for social communion, but as a place for spiritual communion, restoring theatre to its liturgical vocation as a means for conveying spiritual reality. [...] The very evident care and concern for the person of each creative member renders the group a rare place to grow in, both as human being and as an artist222

222

Lynn Thatcher: Saturday Evening at Royaumom. In: International Theater Information. ETE/1973/ Summer. S. 20 [Zitiert nach: Pressemappe zu: Le Regard Du Soul. In: Archiv der Byrd Hoffinan Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: Clippings 1]. 257

5. Echos vom Chor der Bilder Wilsons Gegenstand zur Kunst ist das je aktivierte, erkennende Wissen. Die Hervorbringung im Theater ist Material hierzu: titelunabhängig komponiert, domestiziert, beliebig vielleicht und disponibel. Aber es ist nicht die Kunst. Auch für Wilson nicht, der die Arbeit am Material ja zumeist mit Co-Autoren teilt, delegiert und mitunter auch dem Zufall überläßt. So antwortet Wilson im September 1980 etwa auf eine Anfrage von Eric Stokes von der University of Minnesota, der sich nach dem Libretto zu Einstein On the Beach erkundigt. There was no libretto as such for Einstein On the Beach; the singers sang in numerical count of the solfegge of the music. There were certain scenes in which a spoken recitative was used. These passages for the most part were texts written by the actors themselves, with the exception of Christopher Knowles1 writings, I asked him specifically to write for this work.223

Und weil diese Nivellierung der Produktion zur Kunst, die Untermischung ins Unspektakuläre signifikant für Wilsons Arbeitsweise ist, muß jetzt ein bislang stets nur mitgeschleiftes, latentes Problem angesprochen werden. Es macht keinen Sinn, diese Kunst ohne Werke, die erst in der Rezeption entsteht, produktionsorientiert zu besprechen. Die herkömmliche Zugangsweise zur Kunst wird in dem Maße irrelevant wie Kunst selbst die Werke, vor denen Reflexion ankert, zum Verschwinden bringt. Die nachträgliche Sichtung stochert in Materialhaufen, die - vielleicht aus Sentimentalität, aber wider besseres Wissen nur willkürlich in den Adelsstand des Werkes erhoben und so mit dem Prädikat der Sinnstiftung versehen werden. Jedoch nicht das 'Große Mag-Sein', mit dem daher jede Bedeutungssetzung ihr Recht behaupten, aber auch ihre Relativität eingestehen muß, eröffnet einen Problemhorizont, der sich aus interner, ästhetischer Logik oder erschwerten Archivbedingungen ergibt. Eine Kunst ohne Werke - als Kunst im cognitive mapping, das das Wissen zu Leben abspielt - begibt sich einer Errungenschaft, die Werke des Verweisens erst für sich reklamieren mußten. Das Präsens der Form, das Zeit-Entrücktsein, das die moderne Kunst, deren Formen auf Gehalte verwiesen, dem rezipierenden Bewußtsein offerierte, wird mit der Aufgabe der Kategorie Werk fallengelassen zugunsten des wissens-stimulierenden Impulses, den das Material zur Kunst nun auslöst. Dieser ist - anders als noch für Kandinsky - nicht ausgerichtet. Die Form verweist nicht mehr. Gehalt ist, da die Bedeutungen bewußt offen gehalten werden, Resultat einer unverbindlichen Operation der Rezeption. Die Kunst selbst - nicht die Form, die wie auch die der Moderne 223

Robert Wilson: Brief an Eric Stokes, University of Minnesota, datiert vom 11 Sept. 1980. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: III-F Einstein On the Beach.

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zeitlos bleibt! - fällt damit in die (Lebens-)Zeit. Die Kunst vergeht darum wie Leben - weil sie als Wissen Leben ist. Sie erhält sich für den Nu, den nunc stans, und wirkt im Wissen, dem cognitive mapping. Sie hat denselben Anteil an der geschichtlichen Zeit, die die Existenz hat, deren cognitive mapping sie anregte. Die spätere Sichtung des Materials stellt die Kunst nicht wieder her, die im nunc stans erlebt wurde. Sie ist lediglich verleitet, Dinge zu synthetisieren, die an die Sache nicht herankommen. Schon darum - und gemeint ist also nicht nur die generelle Crux der relativen Unfaßbarkeit, die eine Beschäftigung mit transitorischen Ereignissen, Theater-Kunstwerken, ohnehin immer mit sich bringt - verbietet sich für Wilson theoretisch eine Zugehensweise, die apriori fußt auf einer diskurs-gepflanzten Objektgewißheit, die das Werk genannt wird. Sie soll es ja auch nicht. Ihr Vorhaben wird - schon im Ansatz - von Wilson vereitelt Damit ist die zweite Ebene dieses Problems aufgetan. Denn Wilson umgibt seine Arbeiten und sich mit dem Flair des ganz und gar Rätselhaften, Unfaßbaren. Er 'inszeniert' die archivierten Produktionsmaterialien wie 'Windeln1 aus der 'Wiege eines produktiven Chaos'. Er schaltet zwischen sich und die interessierte Umwelt ein privates Management-Büro, die BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC., das als interne Steuerung für die Public-Relations-Maschine fungiert, indem es die Informationen zu Aufenthaltsorten, Verweildauern und momentanen Beschäftigungsschwerpunkten ausgibt, indem es Erlaubnis zu Interviews mit Wilson erteilt oder verweigert, indem es den Materialbestand verwaltet und hierzu auch Zugang gestattet, fadenscheinig verhindert oder verbietet, indem es schließlich auch ausgewählte Publikationsvorhaben (etwa Shyers') mit Hintergrundinformationen und Produktions-Eckdaten bestückt, die sonst nicht verfügbar sind. Wilson ist keinesfalls 'everybody's charming darling', sondern wird es erst, wenn er es sich - über die Hoffman Foundation selber gestattet. Dann aber erscheint Wilson wie der berühmte Igel im Wettlauf mit dem (hier: Forschungs-)Hasen: Er ist immer schon 'da' - und das an mindestens zwei Stellen zugleich. Er gibt sich (vermarktet sich) ganz als 'seriöser Künstler1, der sich etwa artig für einen Förderpreis bedankt224 oder in den 'Newsletters' für die Mitgüeder BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC. - eine Art hausintemer Rechenschaftsbericht - mit "Robert Wilson, President225 unterzeichnet. Demgegenüber verfaßt er - auf eine anscheinend 'unschuldig' re224

Robert Wilson: "I'm most grateful to the Guggenheim Foundation for their award enabling me to write and develop my new play with the present working title: A tree is best measured when it's down: THE CIVIL WARS." Brief Wilsons an Gordon Ray, Guggenheim Foundation, N.Y., O.A., Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. Y., Box: III -B CIVIL warS. 225 Newsletter vom 4. August, 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance. 259

portierende Weise - Erläuterungen zu seinem 'Werk', die keine sind und das, was sie besprechen wollen, auch nicht herstellen. So beschreibt er die Entstehung des Bühnenarrangements von 'Queen Victoria' als Resultat eines spontanen Analogie-Eindrucks, über die der Arrangeur angeblich eine Werbephrase aus dem Radio mit einem Briefumschlag verbinden konnte. Die folgend zitierte Stelle enthält darum entweder blanken Unsinn - oder aber die Sache. Jedoch nicht, weil ihr geglaubt würde oder weil sie erkennbar sachdienlich wäre, wird sie wiedergegeben, sondern, weil sie als die Erklärung ausgegeben wird, die das am "Werk1 ratlos bleibende Interesse befriedigen soll. Die faktisch realisierte Auflösung des 'Werks' kaschiert sich mit einer Erklärung zum 'Werk'. Um dieses Augenzwinkern ist Wilson immer schneller als die Rezeption. I like straight lines [...] like an envelope - it's all straight lines [...] And then on the radio I heard somebody say: 'You have a smudge on your collar!' [...] And then I started thinking: That's the same shape. If you have a white collar and there's a smudge on it and you framed it, that would be like an envelope with the same diagonal lines. We [...] took a slide of it. It was very abstract. And then in the opera we projected it whenever a character repeated the line There is a smudge...' It filled the whole stage, tracing the same diagonal line. [...] I do often things and do not know I have done them until later when I talk about them.226

Da aber Wilson seinen eigenen, kraftvoll errungenen Kunststatus mit diesen 'Erklärungen' selber hintergeht und das Erkenntnisinteresse sich nicht mit gerahmten Flecken, Briefumschlägen und Hemdkragen zufrieden geben kann (und will), weil sie sie als Nähmaschine, Regenschirm und Operationstisch schon hatte, muß sie ihr Verstehen auf anderen Feldern suchen. Wilson äußert generell - unten im Kontext der Sfa/in-Produktion - zur Weise seiner Probenarbeit, daß nicht an einer speziellen Aufgabenstellung gearbeitet wird, etwa der inhaltlichen Auffüllung eines Themas, über das der Titel dann Auskunft geben könnte. Er betont vielmehr, daß seine Arbeiten spontan entstehen - orientiert an der 'natürlichen Zivilisation der vierten Dimension', dem spirit, collagiert aus dem Fundus entdeckter Bewegungen und bestückt mit Erfindungen aus dem Vokabular der Körpersprache zur Sache. Actually I selected the title before I knew anything about Stalin that was going to deal with Stalin. [...] The most of the time we spent rehearsing is spent on dancing [...] and some of it 226

Folder Bonnie Marranca Book Theatre of Images'. Maranca fragt in einem Brief vom Juni 15, 1975 nach einem kurzen Vorwort Wilsons für sein Kapitel in ihrem Buch. ("You are free to write a short preface to accompany your play in the anthology.") Wilson schreibt ein fünfseitiges Vorwort, das aufgeteilt ist in The Letter', "The Envelope1, 'Christopher', The Opera'. Zitiert wurde aus The Envelope'. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-B Letter for Queen Victoria; Abgedruckt dann in: Bonnie Marranca (Hg): The theatre of images. A.a.O., S. 37-111.

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in exercises, too, of ideas that will lead to the material in the play, but we don't rehearse the specifics really until we get up to the performance. [S. 3] [...] That's what's important is like somehow we develop the spirit or the energy for the piece somehow without doing the specifics - usually you have an idea of what the piece is going to be like or something. You start working or just the energies of people being together [...] a lot of the piece is like discovering what people have naturally when they come to the rehearsals. You say this person has really got to be doing something like this so you make something like that. So you still leave it open somewhat. It's always frustrating for those people around like they're trying to plan it like you know like financially producers and that son of thing because you can't estimate. Things are always changing.227 Im bereits erwähnten Newsletter vom August 1971 heißt es zu den Vorstellungen von The Deafman Glance: The work was always changing.228 An der Stelle ehemaliger Werke stehen nun Auslöser für Erfahrungen, die nie dezidiert von dem Leben zu scheiden sind, das jene - mit der Darstellung - produziert, bzw. - in der Rezeption - wahrnimmt. Es sind nicht-inhaltsorientierte Schaustücke. Selbst hinter perfektem technischen Aufwand steckt darum nicht der Wille zum Ausdruck, sondern der Wille zur Sache. Bezeichnend ist hierzu Wilsons Brief an Klaus Metzger von der Berliner Schaubühne, in dem er ihn besorgt darum bittet, jeden Eindruck expliziter Künstlichkeit bei der Raumgestaltung zu Death, Destruction & Detroit II zu vermeiden: Please make sure that Thomas and Paul keep the design very simple, unpretentious, and un-'arty'. Some of the elements were beginning to look to much like art. I don't think it's appropriate.229 Der Status dieser Produktionen ist, Auslöser zu sein, bzw. aus der Perspektive der Akteure: Reportagen von Auslösern, kunstkunstgeschichtete Materialien zum Zweck der Ver-Kunstung des Lebens. Sie selbst bedeuten nichts. Als Dinge auf der Bühne dieses Theaters mögen sie darum permanent ausgetauscht werden können und auch wechseln. Die Sache, um die es geht, wird es nicht. Die Hervorbringungen Wilsons fungieren dementsprechend als richtungslose Verweise. Sie sind nur, was sie sind - und mögen dem rezipierenden Wissen bedeuten, was sie je bedeuten können. Jede Assoziation trifft zu. Die Inszenierungen können darum in Materialien unterschiedlichster Provenienz schwelgen und abrupte Umbrüche, bzw. Störungen der an227 228

229

Gesprächs-interview mit Jim Neu und Robert Wilson nach der Performance der BodyTheatre-Balinese-Dancers. A.a.O., S. 3f. Newsletter vom 4. August, 1971. A.a.O., S. 1.

Brief Wilsons an Klaus Metzger, datiert: 15. April 1986. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-A Death, Destruction & Detroit II Research, Correspondence. 261

scheinend vermittelten Kontexte vollziehen, ohne selbst neue zu formulieren zu wollen. Lediglich vorgeführt wird in freier Rekombination das opto-akustisch Vorhandene aus allen (alltäglichen) Bereichen des urbanen Lebens. Gehalte gibt es konkret nicht, stattdessen eine ästhetische Konzeption, die deren Fehlen explizit vorsieht und mit dem Hinweis auf die produktive Kraft der Wahrnehmungen erläutert. Die dadurch bewirkte Freisetzung des Denkens vom Korsett des konkret und eindeutig vermittelten Sinns ist sogar die Voraussetzung für die angestrebte panoptische Schau der Sachen. Wird nun Wissenschaft als System wahrer Sätze über die (Gegenstände der) Welt verstanden und Wahrheit als ihr verbindend-verbindliches (=diskursives) Gültiges: das widerspruchsfreie, nicht falsche Allgemeine, an dem teilzuhaben auch bedeutet, es nach seinen Regeln, also endemisch, fortzuschreiben, dann sind Wilsons Produktionen für eine so verstandene Wissenschaft keine Gegenstände mehr und allenfalls noch deskriptiv, jedoch nicht analytisch, bzw. nur um den Preis des Oktroyierens, der Bevormundung zu bearbeiten. Denn auch die wissenschaftliche Betrachtungsweise kann nur eine, nämlich ihre besondere Wahrnehmung zur Aussage transzendieren. Es fehlt bei Wilson die Grundlage einer jeden Analyse, die beschreiben, prüfen und beurteilen will: es fehlt der Gegenstand, der - entdeckbar-entdecktes Objekt - den divergierenden Rezeptionen konkretes Gegenüber und folglich kommunikabel wäre, dessen integraler Gehalt diskursiv ermittelt, diskutiert und kritisiert werden könnte. Es existiert auch nicht das hermetische Objekt nach vielleicht esoterischem Bauplan, an dem sich das eingeweihte Verstehen, das Zeichen lesende Denken und Verstehen abarbeiten kann. Wilsons Material will zurück zur Sache und nicht vor zum Verborgenen aller dinghaften Objekte. Die Auflösung der Kategorie des kunstschaffenden Autors (keinesfalls die des auratischen!), die Wilson über Co-Operationen mit 'anderen Autoren' und der Permutierung der Stoffe zudem betreibt - und betreiben kann, weil ihm die Auratisierung durch den Kunstbetrieb gewiß ist -, muß jeden wohlgemeinten analytischen Ansatz in die schizophrene Situation zwingen, nicht mehr genau zu wissen, wessen geistiges Eigentum da eigentlich unter der Chiffre Wilson analysiert wird. Der bereits zitierte Protestbrief Lucinda Childs an Phil Glass verdeutlicht auch, daß die CoOperatoren dies selber nicht mehr so genau zu differenzieren wissen. Und so wird auch produziert. Seine Collagier-Technik, aus der die Bühnen'Handlung' dann resultiert und die jedem Teilnehmer die Freiheit läßt, seinen (Sprach-)Raum innerhalb der Produktion individuell zu besetzen, relativiert sogar die Möglichkeit, Kompositionsregeln oder -techniken - die der Collagierung ausgenommen - für Wilson festzumachen. Außer, daß Dinge geschehen sind, wird kaum mehr festzustellen sein - Dinge, die nicht einmal produktionspermanent entwickelt oder geblieben sein müssen, sondern mitunter 262

auch nur an einem der Aufführungstage gezeigt wurden. Die Inszenierung betrifft hier ausschließlich die Form. Die Jail Notes zu KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE, nur wenige Tage vor dem Ereignis aus dem IraklionGefängnis heraus diktiert, sind dafür ein Beispiel, aber auch der spontane Einsatz von Christopher Knowles in A Letter for Queen Victoria. Da also nach rationalem Verständnis nichts mit Notwendigkeit geschieht - und so auch nicht von Wilson konzipiert und entwickelt wurde -, ist der Versuch einer akribischen Detektivarbeit der Suche nach Sinnträchtigem seines Rechtfertigungsgrundes enthoben. Selbstverständlich steht Wilson im Bezug der von ihm eingesetzten Kunstmittel innerhalb der Tradition des europäischen, nordamerikanischen und - soweit es Angehörigen westlicher Kulturen überhaupt möglich ist - asiatischen, nämlich japanischen Theaters. Sein Theater basiert auf den Vorleistungen und bildnerisch-ästhetischen Errungenschaften der Avantgarde, des Minimalismus, der Performance- und Happening-Art, die die Bewegung weg vom 'Werk' zum erlebten Raumereignis des nunc stans initiiert haben. Es ist wichtig, das Wilson-Phänomen in dieser historisch-ästhetischen Verwurzelung zu verorten, der er seine Möglichkeit zur Auflösung des Werks und zur endgültigen Auslagerung der Kunst aus dem als Ermöglichungsbedingung gedachten Verhältnis zwischen Gehalt und Form verdankt. Die offenkundige Verwendung von auch kunsthistorischen Bild-Quellen eröffnet nicht Wilsons piktural vermittelten Diskurs - weder als Stellungnahme eines neuen Werks zu seinen Vorläufern, noch als bildpunkthaft lancierter Kommentar, noch als Überschreitungskunst, die sich des Vorhandenen als einer Schwelle bedient. Die Feststellung dieser Attitüde der Form, die Kunstkunsthaftigkeit der Wilsonschen Hervorbringungen, erbringt einzig den Nachweis, daß Wilson zu seinen Collagen auch 'Archiv-Material' verwandt hat. Die Vermengung von Kunst-Lebensmaterialien in der Butler Library der Columbia University belegt, daß die tatsächliche Gründertat Wilsons für die Kunst nicht in der revolutionären Verwendung bereits existierender Techniken, Verfahrensweisen und Kunst-Vorgaben für eine Kunst auf dem Theater liegt, sondern in einer Haltung, die diese Techniken verwendet, um eine Kunst zu ermöglichen, die wahrhaft revolutionär - im Wissen stattfindet. Aus dem gezeigten Bühnenmaterial darum mehr als diese Faktizität abzulesen, hieße, die tatsächlich innovative Leistung dieses Theaters geringzuschätzen, ja zu mißachten und den kunsthistorischen Stand, den diese Nicht-Werke dokumentieren, insgeheim doch wieder zu unterlaufen. Dennoch kann man sich mit ihnen beschäftigen, wenngleich ohne das Fallnetz einer Werk-Gewißheit. Sie können in den Rezeptionen zu Objekten werden - wenn nur die Rezeption dazu bereit ist, sie dazu zu machen - und weiß, daß sie es ist, die sie dazu macht. Darum sieht die 263

Interpretation selbst sich an die Stelle gebracht, die das Objekt für Kunst, das Werk, besetzt hielt: sie ist ihr Werk. Diese Kunst hat also so viele Werke wie diskursiv legitime Rezeptionsweisen. Nur eine subjektive Wahrnehmung, die sich verabsolutiert, hält danach für Analyse, was tatsächlich nur die Leistung zur Selektion, zur höchstspezifizierten Verarbeitung von Daten darstellt.230 Wilsons Kunst funktioniert gerade umgekehrt: nicht das zuerst fremde Objekt wird schichten-enthebend immer weiter aufgedeckt, damit (diskursiv an-)erkannt und in seiner in-formativen Potenz fixiert; sondern das dem Wissen bereits bekannte Objekt, das Wissen selbst, sieht sich in immer fremdere Kontexte verstrickt, sieht sich Kreuzungen und Durchmischungen, Verwebungen des Bekannten ausgesetzt, die nur es zu kennen und (neu) zu erleben in der Lage ist, damit es - abschließend - sich endlich seiner vergewissert haben wird. Das Wissen wird dazu gebracht, den eigenen, kognitiv-entropischen Gesamtraum abseits einer dinggewissen Begrifflichkeit zu durchmessen, damit es sich selbst als Kollektivum aus Leben und Zeiten um den Kern seiner Sache erfährt. The Life & Times of Sigmund Freud und The Life & Times of Joseph Stalin tragen dieses Projekt sogar im Titel. So kann die Durchforstung der Wissensfundsachen - zuweilen - dennoch Sinn machen. Er entsteht - a posteriori als Resultat einer Rückschau, des Klimas und einer emotionalen Färbung, die die Arbeiten Wilsons in ihrem Verlauf annehmen und schließlich - gleichwohl gegen andere, ebenso angesprochene - erlangt und durchgesetzt haben können. Auch hier begegnet nicht 'das Stück', eher angenommenene Kristallisationskeme, um die sich Rezeptionen scharen können. Die relativen Bedeutungen der Hervorbringungen sind dennoch nur als eigengefertigte Netze zu begreifen: als Hirn-Gespinste. Man findet sie nicht vor. Sie stehen eben nicht im Text'. Das von Bonnie Marranca zusammengetragene Text-Konvolut zu A Letter Queen Victoria, das artig die Anonymisierungen der Figuren und ihrer Reden repetiert oder die vom Suhrkamp-Verlag in Hochglanz besorgte Textedition des Kölner Teil der CIVIL warS sind Kataloge absenter Kunstwerke. Sie sind - wenn man von ihrer Geltung als Zeugnisse für ein Nicht-Werk absieht - bedeutende Belege für den untauglichen Versuch, der Raum-Zeit-Kunst Wilsons über die penible Listung eines Details - des Textes - habhaft werden zu können. Es macht nämlich nicht nur im Theater keinen Sinn unter der Angabe Act I, Section 2 Halbseiten mit ordentlich gereihten Pirups zu füllen. 230

Hier wird von der Unmöglichkeit einer verbindlichen Analyse der Hervorbringung und des Inhalts der Produktionen gesprochen, die ja keine 'Werke' sind und denen folglich ein verbindlicher Gehalt fehlt, nicht aber vom Wilson-Phänomen überhaupt, das eine analysierbare historisch überprüfbare Position im Kunstbetrieb der Postmoderne besetzt und in seiner signifikanten Ästhetik selbst wiederum wissenschaftlich sinnvoll, -entdeckend betrachtet weiden kann.

264

Pirup

Pirup

Pimp

Pirup Pirup Pirup Pirup231

Pirup Pirup Pirup

Pirup Pirup Pirup

Man erfahrt aus der Verschriftung dieser Silben weder Lautstärke noch Dauer. Unbestimmbar bleibt, in welchen Kontext sie gehören, welche Bilder, Aktionen, Gruppierungen, Bewegungen sie untermalen. Werden alle gleich gesprochen, gesungen, geschrien, geflüstert? Warum also sollte man sie lesen, wenn nicht aus dem einzigen Grund, in ihnen die Dokumente zu sehen für die Transgression der Kunst über eine historisch gewordene Marke, die Werktext genannt wird? Absurd wie der Inhalt des Textes ist dann auch die konsonantenund silbenweise Transponierung des Non-Sense ins Deutsche, die der Suhrkamp-Verlag dem Text für den Kölner Teil der CIVIL warS angedeihen läßt. come come with

komm komm mit

with

mit

me

mir

come with

komm

me

mir

mit

come come with me

komm komm

back b ba bac ca back

zurück z zu zur rück zurück

back B B

zurück Z Z

yeah b ba ba back

jaah z zur zur zurück232

mit

mir

Akkuratesse. Steckt in ihr der letzte Versuch, die befremdende Freiheit zum sinnvollen Unsinn doch noch bändigen zu können oder die Antwort verlegerischer Mühe, eines Objektes, das es nicht gibt, durch polierte Ausstattung und gleich bilinguale Würdigung doch noch habhaft werden zu können? 231 232

Bonnie Marranca (Hg.): The theatre of images. A.a.O., S. 59. Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 73. 265

Wilsons Haken, dem Leben über den Theaterkunstraum Material aus dem Leben zu bieten, löst die Kunst vom authentischen Objekt, von der tatsächlichen Opposition. Aufgelöst ist das Werk nun in ein Angebot zum cognitive mapping, das die Rezeption sich selbst überläßt. Inszeniert wird die Möglichkeit zu wissen, aber kein Werk. Es existiert - anders als etwa Hamlet - nicht das Theaterstück The CIVIL warS, es existiert ein Pool von Material, das jede Wahrnehmung über ihr Wissen zu den (ihren) CIVIL warS macht. Damit ist der wissenschaftliche Anspruch evakuiert, bei Wilson Detail-Analysen an den Werken vornehmen zu können, um zu ihrem Kunstgehalt zu gelangen. Analysiert werden müßte der Prozeß der Wahrnehmung, dem erst Kunst gerät. Natürlich, so ist dagegen einzuwenden, besagt die Rede von der diskursiven Verankerung noch jeden Wissens auch, daß die Prozesse des cognitive mapping nicht lediglich persönliche Biographie aufarbeiten, sondern auch - vor allem das bestimmende Weltwissen der Diskurse. Insofern wäre dieser Teil der Arbeit des cognitive mapping kollektiv geleistet und damit rekapitulierbar. Dieses gemeinsame Wissen wäre dann als das Virtuelle Objekt1 zu betrachten, das sich von der Bühne in den diskursiven Wissens-Anteil der Rezeption verlagerte und so zu analysieren wäre. Doch auch dieses Wissen ruht nicht als fixierte Datei in einem lokalen Verzeichnis, nicht als Monolith in der episteme, die durch einen aktuellen Aufruf zur Kunst stets gleich und vollständig angeregt wäre. Wissen ist - auch in Diskursen - ein dezentrales Netzwerk von Schaltungen und Verbindungen voller Spannung zwischen aktivierten, nicht aktivierten und deaktivierten lokalen Positionen. Es wird nicht exekutiert, es greift nicht mechanisch und kann daher auch nicht als das gesuchte Objekt-Surrogat dienen, das dem Interpretierwillen abhanden gekommen ist. Ich schlage darum vor, beispielhaft Bildstellen aus Wilson Produktionen zu bearbeiten - und hüte mich vor der Behauptung, damit das Werk oder -teile analysiert zu haben. Jede Bearbeitung Wilsons sagt mehr über den Urheber als über die Produktionen aus. Ich zeichne lediglich Spuren auf, die mein Wissen durch (für mich) besonders signifikante Material-Arrangements Wilsons gezogen hat und versuche die Beschreibung eines Modells zur Bilderkennung in Analogie zu einem anderen Medium. Split Panel Der Begriff split panel ist ein terminus technicus aus der Analyse der Emblematik von Comic Strips/Books. In Comics wird eine Geschichte als zugleich bebilderte und geschriebene in der Wechselbeziehung von Bild und Text erzählt. Eine von Comics verfolgte Geschichte schreitet Bild für Bild - gelegentlich in Zeitsprüngen ("Stunden später", "4 Tage später") - in Leserichtung fort. 266

Als panel wird das tuschumrandete Einzelbild bezeichnet. Der split panel nutzt die Möglichkeit zu einer souveränen Bilderzählung, die unter dem Text abläuft. Er ist zuerst und vor allem eine Angelegenheit der bildnarrativen Form, der ihre Medialität ausspielt. Beschrieben wird damit die Verbindung zweier mitunter auch weiterer - eigenständiger Einzelbilder in Leserichtung zum Panorama eines Gesamtbildes, das deshalb 'gespalten' (split) genannt wird, weil die Tuschumrandung seiner Elementarbilder den Gesamteindruck zerschneidet. Insofern meint split panel nicht ein Gesamtbild als Mosaik, also nicht die additive Zusammenlegung von Stücken, die erst das komplette Bild als seine Fraktale ausweist, sondern eine Verknüpfung von vollständigen, abgeschlossenen Bildern, die zu ihrer Eigenständigkeit eben die zusätzliche Bildwirkung als Komplex vermitteln. "Im Film entspräche diese Darstellung einer stehenbleibenden Totale. [...] [Daneben] kann der split panel auch Symbolwirkung haben; wenn zum Beispiel darauf hingewiesen werden soll, daß alle Menschen gleich sind, wird ein halber Kopf eines Schwarzen und eines Weißen in einem split panel zusammengesetzt."233 Der besondere Witz dieses Ausdrucksmittels ist, daß es sich augenscheinlich über die selbstgewählten Form-Vereinbarungen des Bild-Mediums erhebt, diese tatsächlich aber übererfüllt. Das Medium fällt - erste Näherung - aus dem Rahmen, den es sich verpaßt hat: das Bild sprengt seine Isolation, greift über seine Umrandung hinaus in den Bereich des (erzähl-)zeitlich folgenden, räumlich angrenzenden Nachbarbüdes. Es überbrückt - als eben suggestiv nahtlose Fortsetzung der Bilder ineinander - nicht nur den leeren Raum zwischen zwei Einzelpanels, sondern verfügt auch über den (Rezeptions-)Raum zwischen sich und dem Betrachter. Denn er ist es schließlich, der die formal weiterhin als Serie gebotene Bildreihe zur einheitlichen Bild-Komposition machen wird, indem er ein Aufbrechen des Rahmens und eine Konjugation der Bilder vollzieht - zu vollziehen animiert wird -, die tatsächlich so nicht statt hat. Die Einzelbilder, die für ihren absoluten, de-finierten ('gerahmten'!) Moment, damit für ihre eigene Zeit der Erzählung stehen, werden mit dem split panel zur Synchronizität eines Bildensembles gezwungen. Statt zur (zeitlichen) Folge werden sie zu einem stehenden Augenblick gebracht, der - paradox - dennoch in seiner Erzählzeit voranschreitet. Die bildhaft suggerierte Simultaneität unterläuft damit die weiterhin vermittelte chronologische Sukzession der durch Text geschilderten Ereignisse. Der split panel ist Vexierbild des gleichzeitigen 'Sowohl-als-auch', ein Manierismus der Bilderzählung. Spielerisch drängen die Bilder zur Oberfläche ihrer Kompositionregeln, befühlen sie und thematisieren über den weiterverfolgten 'plot' der verbalen Erzählung hinaus sich selbst als das Medium, 233

Wolfgang J. Fuchs, Reinhold C. Reitberger: Comics. Anatomie eines Massenmediums. Reinbek 1973. S. 36f. 267

das diese Bilder und -Sprache hervorbringt. Der split panel setzt sich also über die eigenen Regeln, Gesetze und Gewohnheiten seiner pikturalen Erzählung von Geschichten in der Zeit hinweg und - zweite Näherung - erfüllt sie damit zugleich. Er überläßt es zwar dem Betrachter, das intern durch die Textbilder angezettelte Geschehen weiterzuverfolgen oder seinen bildlich vermittelten Sub-Text zu dechiffrieren. Ihm erscheint dann das Zeitstagnieren im annektierten Bildraum als der unmögliche, nur mittels dieser Bildsynthese denkbare Moment. Ein Moment, der eine Distanz des Erzählens vom Erzählten zugleich schafft, wie letztlich jedoch wiederum aufhebt. Hier sollen ja Geschichten mittels absoluter, synthetischer Produkte erzählt werden, die fernab jeden Realitätsanspruches, fernab jeglichen mimetischen Abbildungsvorhabens zu ihrem Ziel kommen wollen schon dadurch, daß sie es plakativ und mit absurden Raum-Zeit-Annexionen als erreichbar-erreicht behaupten. Die Schilderung und zeichnerische Ausführung der Absurdität am Rande des Trivialen, die banalen Mätzchen und Eskapaden der Illustration im Umkreis einer Erzähl-Oberfläche, ja die Unangemessenheit von Dargestelltem und Darstellung sind Teil des Programms von Comics. Insofern gehört auch diese Grenzverwischung des split panel zu der Geschichte - formuliert eben in der Weise, wie sie von Comics erzählt wird. Auch in diesem Manierismus wird der Geltungsanspruch der Comics bekräftigt, bei Vermeidung jeglicher Tiefenschärfe einen Stoff, der nur für den Verbrauch bestimmt ist, mit einer WYSIWYG-Ästhetik (What-ybu-See/s-What-ybu-Get) vermitteln zu wollen. Diese Oberflächen-Ästhetik greift ins Nachbarbild nur, um auch das einmal getan zu haben. Es ist egal, nicht notwendig, auch das ein 'Zuviel des Guten1, das phänotypisch für die Comics ist. Erzählen und Erzähltes sind darum wieder eins, ja, waren nie getrennt. Der augenscheinliche Ausbruch der Form aus dem Codex der Erzählvorschriften von und für Comics rekurriert darum letztlich in dessen Verabsolutierung. Comics wollen stets bleiben, was sie sind. Und der bildlesenden Betrachtung manifestiert sich auch mit der split-panel-Technua der narrative Hoheitsbezirk der Comics. Der split panel ist dennoch formal, als Mittel der Form, sogar gleich doppelt 'gespalten': einerseits auf der rein visuell notablen Ebene als das collagierte Gesamt-Tableau zu einem nunc stans, das jedoch aus Einzelteilen besteht, die sich auch als isolierbare behaupten. Sie bleiben auch im Verbund diejenigen eigenständigen, grenzmächtigen Bild-Text-Teile, die ihr Geschehen fortschreiben. Andererseits ist der panel auf der kognitiven Ebene des Betrachters gespalten als das Vexierbild, das sowohl als authentische Opposition fortfährt, eine neue, fremde Geschichte zu erzählen, als auch - zugleich - den beständigen Ablauf dieser Erzählung aushebelt. Es veranlaßt die Rezeption zu Exaltationen, zu Sprüngen aus dem Raum-Zeit-Kontinuum: dem Zeitfluß ('totaler 268

Hintergrund') und der Ordnung des selbstidentischen Raumes, bzw.t der Körper im Raum ('Gesichtssynthese'). Die verblüffte Rezeption anerkennt schließlich schmunzelnd die ihr angetragene Identität von Abriß und Synthese als gelungenen Streich, der ihrer kognitiven Kompetenz gespielt wird. Es wird ihr ja dennoch abverlangt, wozu sie eigentlich nirgends aufgefordert wurde: die Rekapitulation ihres Involviertseins in das Panel-Paradox und die Notion eines unmöglichen Gleichgewichts von Distanz und Interesse. Darum bedeutet split panel vor allem das trügerische Angebot an die Rezeption - hier jetzt gefaßt in der Metapher eines Wasserläufers -, geringfügigste Oberflächenspannung zu nutzen, um - unmöglich! - darauf zu laufen. Dem split panel ist das bildtechnisch formulierte Resümee des Mediums Comics über sich selbst inskribiert, das zu ziehen allerdings der Rezeption überantwortet wird. Wilsons Darstellungsformen sind das spiegelsymmetrische Pendant zum Manierismus der split panels in Comics. Während diese von der Formhoheit ihres Mediums kommen, ausbrechen, das Leben (die Rezeption) nur streifen, um wieder zu ihr zurückzukehren - einzig, um sie sich selbst nobilitieren zu lassen-, nimmt jene KunstKunst Wilsons ihren Ausgang im Leben (der Entdeckung von Bewegungsformen als Therapie), formuliert sich, ohne 'Werk1 zu werden, zur Kunst im Theater (Schau der Sachen), um wieder zu werden, was es immer schon ist und un-entdeckt war: Leben (Rezeption). Wilsons Theater wird mit dem Begriff des split panel belegt, weil es hier auch Analogien gibt, die - nicht nur spiegelsymmetrisch - parallel laufen. Nicht so sehr die simple Tatsache soll bezeichnet werden, daß die Aufführungsdinge auch in Wilsons Arrangement noch singular ihre Herkunft bezeugen. Sie sind zugleich sowohl markante, einzigartige Phänomene wie auch Bauteile eines Gesamt-Ereignisses und entwachsen - wie jedes Theater auch - auf diese Weise schon dem Rahmen, in den sie gebracht sind. Zwar stehen die Bausteine Wilsons unter dem Primat des Aufbaus und der Gestaltung, unter dem sie, auch im 'neuen1 Gesamtrahmen, ihre Identität und jeweilige Grenze behaupten. Doch dieser split panel beeindruckt vielmehr durch sein Spiel mit einer anderen Grenze, nämlich der zwischen Kunst und Leben. Auch dieser Lebens-Kunst wohnt die gleich doppelte Spaltung inne zwischen der Kompositionsweise des nunc stans aus weiterhin je isolierbaren Einzelbestandteilen und zum anderen zwischen dem Arrangement der Bühnen Vorgänge und der eigentlichen Realisierung des Ereignisses in der Schau, die nicht das vorgeführte Material, sondern hier die Rezeption zu leisten, i.e. er-leben hat. Auch Wilson wahrt formal zunächst die Anerkenntnis medialer Autorität der Vermittlungsweisen und -gesetze für Stoffe innerhalb der gewählten Kunstgattung (Theater-Kunstbetrieb, Guckkasten-Bühne, Rede- und Aktionsvorschriften für Schauspieler, StückTitel, Aufführung und Aufführungsdauer, Programmhefte, Autorschaft etc.). 269

Das Material wird von ihm in einen Rahmen gebracht, der formal anerkannt und völlig integer bleibt. Doch greifen die gezeigten Dinge auch bei Wilson über diese 'Umrandung1 hinaus, und sie fallen schließlich aus ihrem Rahmen. Denn ausgefüllt, bzw. (über-)formt sind Wilsons panels mit augenscheinlich mediumsfremden, nämlich lebensidentischen Bauteilen (Texten aus Rundfunk und Fernsehen, Konversation der Straße, Gesten, Aktionen und Bewegungen ohne 'Kunstanspruch1, die Lebensbilder Andrews'). Sie sind kompiliert zu beginn- und abschlußlosen, bedeutungsindifferenten Bildern, die, fernab jedes Narrations-, Inhalts- und Bedeutungsziels, das ihnen Richtung geben könnte, nur undurchschaubar passieren. So changieren sie in ihrem diskursivem Sein zwischen der Anbindung an ihren Realisationsort und an ihren Ursprung: der Kunst und dem Leben. Wilsons Bildensembles indizieren daher nicht ein spezifisches Rezeptionsverhalten. Und hier wird demnach auch nicht qua manierierter Form zum Resümee eines Mediums veranlaßt: qua erlebend-erfahrender Schau bewegt sich vielmehr das Wissen zum Resümee über sich selbst. Wilsons Arbeit nobiliert - bei aller extremen Künstlichkeit - nicht die Form und nicht ihr Medium, sondern das Wissen selbst, das jene erkennt. Die Auswahl des Materials - und Material kann demnach alles werden, auch bereits existierende Kunstwerke erfolgt unter einer lebensmittigen Perspektive. Es wird nicht versucht, in den kunstgeschäftigen Lauf der möglichen Interpretationen historischer Monumente einzugreifen. (Damit würden nur weitere werkgebundene Kunstpositionen in den Kunstbetrieb geschaltet.) Betrachtet werden vielmehr aus Lebens-Inter-Esse (Dazwischen-Sein) heraus auch bereits existierende Kunsthervorbringungen als Material für die mögliche Schau der Sachen. Überspitzt gesagt: selbst Wilsons Adaptionen bestehender Stoffe aus der Kunst- und Theatergeschichte sind nur insoweit Kunst, wie es das Leben ist, das Kunst sein kann. Wagners Parzifal ist in Wilsons Adaption ebenso ein Anlaß für Form, eine Overheard conversation'234 und gewißermaßen ein al-ready made wie es die bits and pieces aus dem urbanen Leben sind, die in Wilsons frühen Arbeiten direkt und unbehandelt Einzug gehalten haben. In diesem Sinn muß auch der provokante Satz Igor Demjens verstanden werden, der angab, die Maxime der Konzeption von The Deafman Glance sei gewesen, 'keine Kunst (im modernen Sinn) zu schaffen1: "Instead on building on the history of past artists we had the right to work on the world we immediately see. We hoped it was no art."235 Die Auflösung der Werkkategorie mit dem split panel beinhaltet auch, daß eine einzelne Inszenierungssequenz mehr bedeuten kann (=Bedeutungen 234

Vgl. hierzu: Bonnie Marranca (Hg.): The theatre of images. A.a.O., S. 41. [Bereits zitiert im Kapitel 'Der ästhetische Baukasten']. 235 jgOT Demjen in dem von mir geführten Interview.

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auslösen kann) als das gesamte Stück, ja, daß eine einzelne Szene völlig andere Erkenntnisse zuläßt als der Komplex der Szenen, die an diesem Abend unter einem Titel firmieren. Insofern bewahren die Einzelbilder - anders als im split panel der Comics - (zumeist)236 eine tatsächliche Eigenständigkeit. Die Fraktion des split panel wird von Wilson selber ja die Identität von Still- und Real-Life genannt. Die ausdrückliche Gleichsetzung von therapeutischer und künstlerischer Arbeit unter den Dachbegriff der Ästhetik mag diesen Aspekt verdeutlichen. Ästhetische Therapie, therapeutische Ästhetik. Der Beginn der Arbeiten der BYRD HOFFMAN Wilsons split panel zur Kunst schlägt mit der Setzung einer körpereigenen Wahrnehmungssprache zu non-verbaler Kommunikation im Theater, die durch Reduktion und extreme Verlangsamung den Austausche lebensechte Daten ermöglichen soll, die erste Brücke zwischen Kunst und Leben. Der therapeutische Aspekt zur Vergewisserung der Inschriften des interior screens, der darin auch zum Ausdruck kommt, legitimiert darum jenen nur augenscheinlich kuriosen Spagat zwischen Selbsterfahrungsprojekt und Inszenierung. Über die im Hintergrund des KunstKunstwillens Wilsons strahlende Ineinssetzung des künstlerischen wie therapeutischen Interesses an der Entdeckung des Sache, die der interior screen verzeichnet, konnte in der Spring Street, NYC, dieselbe Arbeit in den awareness-classes der BYRD HOFFMAN , INC. vormittags als Therapie-Sitzung abgehalten und abends als Performance gegeben werden. Den Sachverhalt beschreibt auch Christopher Bigsby: The purpose was therapeutic in a much more narrowly defined sense than that proposed by the performance theatre [...]. The emphasis was [...] to be on the fact of the exchange between actor and audience, not on its content, its context or its quality. It was thus in effect a kind of happening, in which events, movements and sounds were drained of metaphoric content. [...] The performers came from the awareness classes which he was running - classes designed to make their members more fully aware of themselves and their circumstances.237

Insofern ist wohl die Behauptung gerechtfertigt, daß Wilsons produktionsästhetischer Ansatz des split panel zu Beginn eine faktische Identität der Hervorbringungen als Kunst und Leben aufweist. Eine 'Schere' zwischen die236

Die einzige mir bekannte Ausnahme bilden die CIVIL warS, in denen die knee plays dafür sorgen, daß die Einzel-Bilder thematisch zusammengehalten werden. Siehe hierzu das Kapitel: Die Gegenwart ist der - vergangene - Krieg. 237 Christopher Bigsby: The theatre of Images. A.aO., S. 166f. 271

sen Polen öffnet sich mit unterschiedlichen Gewichtungen im Verlauf seiner spezifischen Geschichte immer weiter. Seine Bühnenkunst befindet sich gegenwärtig - nach den Bearbeitungen und Inszenierungen von vorgegebenen Stoffen - formal (fast) ausschließlich auf der '(Kunst-)Kunst-Seite'. Split panel für Wilson bedeutet also auch Möglichkeit zur Verschiebung des epistemologischen Feldes zur Entdeckung von Sachen. Es ist hier die sukzessive Gewinnung des kunsthistorisch vorbereiteten Raumes durch Adaption bereits existierender Stoffe. Das zur Aufführung gelangende Material zur Kunst, die ja erst in der schauenden Rezeption entsteht, entfernt sich seit Beginn der Arbeiten Wilsons mehr und mehr von der isolierten zur scheinbar gebundenen Bewegung, von singulären Faszinosa (der Welten Raymond Andrews' und Christopher Knowles' etwa) zu bekannten Formen des Kulturbesitzes (Gilgamesh-Epos, Alcestis, Freischütz, Parzifal, etc.). Die Intention dahinter bleibt identisch. Dies betrifft also den split panel nur für die Ebene des Produktionsbereichs und auch nur insofern, als damit die Weise der Auffindung (Eklektizismus) und Aufbereitung von Material zum cognitive mapping beschrieben werden kann. Nur in dieser Hinsicht ist der Lebens(therapeutische)-Aspekt der Arbeiten Wilsons heute weitestgehend dergestalt verschwunden, daß die gezeigten Formen nicht mehr unmittelbar dem Bereich entstammen, dem sie dienen sollen: dem Wissen, dem Leben. So sind heute 'Kunst-Werke1 Wilsons Mittel zum Zweck der Kunst eines wiederzuerlangenden Wissens. Am Anfang aber stand ein explizit therapeutisch-pädagogisch intendiertes cognitive mapping. Tatsächlich hat Wilson diesem lebenstherapeutischen Aspekt qua Erfahrung zu Beginn seiner künstlerisch-therapeutischen Karriere eine so große Bedeutung beigemessen, daß die dem Begriff des split panel inhalierende Doppelsicht der (Kunst-)Dinge vollständig zugunsten der 'Lebensseite' aufgegeben scheint. Die legitime Brückenfunktion zwischen diesen Polen leistet hier der auf seine Etymologie hin überdachte Begriff der Ästhetik im Sinne einer wahrnehmend-empfindenden Sinnenhaftigkeit, die so die anscheinend extreme Gegensätzlichkeit von Kunst und Leben in der Konzentration auf die Erfahrung neutralisiert und miteinander versöhnt. (Wilson hat - wie unten gezeigt wird - Ästhetik tatsächlich so verstanden.) In einem Präsentationspapier für ein New Yorker Children's Project aus dem Jahr 1966, für das Wilson und Tania M. Leontov verantwortlich zeichnen, skizzieren die Verfasser die desolate Situation von Kindern und Jugendlichen in der Großstadt. Sie notieren die Erfahrungsarmut, ja die Unmöglichkeit zu authentischer Selbsterfahrung als Resultat urbaner Isolation, eines Welt-Verlustes, der über die durch Kunst vermittelte Eigen-Lokalisierung im sozialen und historischen Geflecht der Stadt kompensiert werden soll. Das Dokument beinhaltet wie eine Holographie die späteren ästhetischen Intentionen Wilsons. 272

Das in 'Synopsis', 'Method' und 'Biography' gegliederte Papier dient der Vorstellung eines einjährigen, experimentellen Edukationsprogrammes für Kinder und Jugendliche aus dem 'sozialen Brennpunkt' Großstadt. Es will in erster Linie die Wahrnehmungskompetenzen der Teilnehmer ansprechen und fördern. Geplant sind zwei Tagesschulkurse in Kleingruppen, die von je einem Lehrer - Robert Wilson und Tania M. Leontov - betreut werden. Vorgestellt wird dieses Modell im Synopsis-Teil als "strenous program", dessen Notwendigkeit als Quelle alternativer Erfahrungen von Raum, Bewegung, Kunst das mangelhafte psycho-soziale Erlebensspektrum des angesprochenen Kreises von Jugendlichen und Kindern erweise. Einer expliziten Korrektiv- oder Regulativ-Funktion, die etwa spezifische Gehalte vermitteln und spezifisches Verhalten trainieren wollte, verweigern sich jedoch die Urheber dieses Programms. Betont wird dagegen der Eigenwert unmittelbarer Erfahrung, die das Projekt ermöglichen, jedoch nicht in eine Zweck-Mittel-Relation überführen will. Sie soll zugleich unantastbarer Besitz und allgemeines Gut aller daran Teilhabenden sein. Die Lehrer verstehen sich somit als Bereitsteller oder Ermöglicher, nicht aber als Manipulateure von ausdrücklich - im Wortsinne - ästhetischen Erfahrungen. The effective principle of this program is that the children will explore the world through the arts in large spaces, so that they can move and explore unhindered, whether it is to run and jump, build large structures, or to shout. The tempo will be regulated by the children [...]. The project will provide room and time for the children to pursue those ideas which stimulate and inspire them, individually or in a group; to understand that within whatever environment they inhabit is an aesthetic in which they can participate.238 Daß 'aesthetic' in diesem Konzept durchaus verstanden werden kann als das den Sinnen zugängliche Erfahrungspotential der Sachen in Dingen, das sich wenn man sie in neuen Kontexten offeriert - an vorhandenem Wissen reibt, belegt auch der Methodenteil dieses Exposos. Dort heißt es: The materials used are not the usual art materials but the items that the child comes across in his daily world, objects that he finds. Anything that attracts bis attention may become pan of his work and so he develops a new sense of value. [...] He begins to look at the objects he has always taken for granted in a new way. [...] He learns to really see the world around him rather than reject it because it is materially disadvantaged. The traditional materials will be offered in new ways.239 238

Roben M. Wilson, Tania M. Leontov: Presentation For Children's Project. Synopsis, S. 2f. Zit. nach: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: II-7 Byrd Hoffman School ofByrds - Early Activities. 239 Ebd. Method-S. 6. 273

Angestrebt wird damit die Ermöglichung einer authentische Basis-InFormation des Kindes über sich und seine Welt. The child will be taught to listen closely and become aware of the sound, which make up his world. He [!] may analyze the sounds of his home, traffic, wind anger. He will learn a new awareness of sounds, to relate the words which he already knows. Later more complex sounds will be sought in order to create characters and atmospheres.240 Ein außergewöhnliches Gewicht für die Bereitstellung dieser 'Materialien' wird dem 'Raum' als eigener Erfahrungsgröße beigemessen. Dabei ist schon im Ansatz an eine enge Raum-Zeit-Korrelation, ja Abbildung der Zeit auf den Raum gedacht: A concomitant emphasis is placed on having an enormous amount of space available to be used freely by the child. One of the basic problems of these children's early environment (as it is true with most metropolitan children) is the limited space since infancy. [...] The child [...] needs freedom of space to build, to shout, to run and to be alone. [...] Space exists in terms of time available to pay attention to each individual idea. The teacher will spend concentrated periods exploring whatever object or sensation currently interests the child, and the children will pay attention to each other.241 Die BYRD HOFFMAN , INC. ist aus diesen Klassen hervorgegangen. Sie koordiniert heute als Finanzverwaltung und Management Wilsons vielfältigen Projekte und betreute bis 1989 die von ihr angelegte Sammlung der Video-Tapes, Photos und Dias zu den Produktionen sowie der Scripts, Notizen, zeichnerischen Layouts und Skizzen, die im Vorfeld und Geleit eines jeden Theaterprojektes entstanden sind. Ihren Namen leitet die BYRD HOFFMAN von dem der Ballett-Tänzerin und Bewegungstherapeutin Byrd Hoffman ab, in deren Unterricht der in seiner Jugend sprechgehemmte Wilson wie er sagt - erst lernte, seine Sprache zu begreifen und zu kontrollieren. Ihr verdanke er seine Weise des Sehens von Ranm und Zeit; nur mit ihrer Hilfe habe er sich selbst als relative Konstante im Strom wechselnder Ereignisse und Erfahrungen orten können.242 Wie sehr sich Wilson Byrd Hoffman verpflichtet fühlte, mag die Tatsache verdeutlichen, daß er selbst sich in seiner ersten New Yorker Zeit Byrd Hoffman nannte.243 240

Ebd.Method-S.5. Ebd. Method-S. 3f. 242 Sinngemäß gleichlautend äußerte sich Wilson dazu in mehreren Interviews, die er 1983/84 anläßlich der Arbeit am Kölner Teil der CIVIL warS gegeben hat. Ausführlicher beschreibt er seine Erfahrungen mit Byrd Hoffman in einer Veranstaltung, an der er auf Einladung des Instituts für Theaterwissenschaft der LMU München am 28/01/83 teilgenommen hat, aber auch in dem Film von Howard Brookner: Robert Wilson and The CIVIL warS. 243 Als Autor Byrd Hoffman wird Wilson noch 1970 von William M. Hoffman vorgestellt, in dessen Band "New American Plays' die Production Notes on The King of Spain abgedruckt sind. Vgl. hierzu: William M. Hoffman: New American Plays. A.a.O., S. 241. 241

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Die Mitglieder der BYRD HOFFMAN FOUNDATION, INC., die 'Byrds1, sind fast ausnahmslos als Schauspiellaien aus dem wachsenden 'Ensemble' der Byrd Hoffman School of Byrds hervorgegangen, das sich in Wilsons Movement-Workshops immer wieder neu konstituierte. Im Loft eines von Wilson für sich und die Foundation angemieteten Hauses in der Spring Street, New York, fanden Ende der 60er Jahre die ersten Aufführungsabende eines noch völlig zwischen Happening, Performance und Therapie changierenden Impromptu-Theaters statt, für dessen Dauer, Inhalt und Ablauf Wilson nur zum Teil verantwortlich zeichnete. Die School of Byrds, die Nicht-Behinderte und mental-emotional oder durch Organschäden celebral Behinderte in der Arbeit an Performances und kleinen Theater-Projekten koeduzierte, muß als erste Experimentierform verstanden werden, die programmatisch an der Selbstortung im Raum arbeiten wollte, um so eigenes Weltverstehen zu entwickeln. So berichtet Cindy Lubar, die der Gruppe seit 1969 angehörte, auch über den Versuch, die Bewegungsabläufe anderer Byrds, etwa Raymond Andrews', nachzuahmen, um über die Aneignung einer gestisch-akustischen Körper- und Lautsprache den Selbst-Ausdruck der Sache hinter einer bilddominierten WeltPerzeption zu vernehmen. There was a time when Raymond developed this movement and a sound with it, and everybody was at one time asked to learn that movement [...] It was a rocking motion with hand gestures and feet gestures. [...] It is moving forward on a line, rocking forward and back, the palms up and the hands extended forward. A series of very clear, simple movements [...] and a sound with those movements, a very full sound, a sound that really needs the whole body to produce.244

Die Konzentration auf die Prägnanz der solitären in Raum gesetzten Pose, der Geste, des Schreis, aber auch auf den Gesamtraum, der durch die Relation korrespondierender Körperarrangements strukturiert wird und seine Gestaltbarkeit bereits durch minimale Wechsel erweist, betont schon in diesen theatralen Vorformen die Auszeichnung des Bild-Raums, die Wilsons Theater bis heute auszeichnet. Hierin liegt nicht nur ein theatrales Element, sondern im Vorgriff auf die (nicht nur) theater-ästhetischen Schwerpunkte der 70er Jahre auch eine Art anti-intellektueller Rigorismus. In der Beharrlichkeit, mit der das Problem eines zur offenen Frage geronnenen, sich selbst fremd-neuen Menschen als eine auf wechselnden Feldern basaler Kommunikation mutierende Raum-Zeitrelation behauptet, isoliert und exklusiv exploriert wird, zeigt sich der Versuch, offenkundige Probleme eben nicht als gesellschaftlich-politische auszuweisen und zu reflektieren, sondern 244

Zit. nach: BUI Simmer: Robert Wilson and Therapy. A.a.O., S. 101. 275

sie - verinnerlicht - in einer Gemeinschaft des Geistes über Erfahrung auszugleichen, sie damit aber in ihrer 'unabdingbaren Existenz1 zu bestätigen. Der Versuch einer Neuorientierung durch Freilegung verschüttet-vergessener Perzeptionsrelikte markiert das Mißtrauen in die Verstehens- und Verständigungs-Potenz des rationalen Diskurses. Es zeigt dazu auch das Verlangen nach einer selbst-referentiellen Aneignung und Sicherung nonverbaler, nicht einmal stringent bild-narrativer Potentiale des Sehens, Wissens und Sagens als dessen Ergänzung, ja Substitut. So erarbeitet das Ensemble - nach dem Initiationsschub Wilsons, also dann auch ohne direkte Anleitung - sein je eigenes Vokabular, macht die 'Stücke' je für sich selbst, die in den Workshops zur Aufführung kamen. Die Bedeutung der School of Byrds und ihrer Mitglieder für das spätere Werk Wilsons liegt nicht zuletzt in der von ihren Mitgliedern erarbeiteten Radikalität der Reduktion gewohnt ausdrucksbildender Gesten und Bewegungsabläufe und in der Entwicklung und Aufbereitung eines Motiv-Fundus', aus dem Wilson sein Repertoire ästhetischer Bild-Elemente schöpft, das als Grundgerüst seine frühen Produktionen entscheidend geprägt hat. Damit fungieren die Therapie-Ansätze in den Workshops der frühen Phase, die ästhetischen Suchbewegungen der Arbeiten mit der School of Byrds als 'Bauträger' einer für Wilson inzwischen typischen Kunstraum-Architektur. Die Gewichtung des nicht-sprechenden Vorführens von Körpern, kontextloser Gesten, laut-malender Stimmen und überdehnter Raum-Objekt-Erkundungen zeigen schon den theaterhistorisch relevanten Wandel in der künstlerischen Haltung sowohl dem Theater-Sujet als auch einem rezipierenden Spectaund Auditorium gegenüber, den Wilson initiiert hat: dieses Theater berichtet nicht, da es die Grundlage jedes Berichtes für fragwürdig hält. Das Diktum der Vermischung zweier unterschiedlich rezipierender Wahrnehmun-gen (interior und exterior screen) verwirft das Theater stringenten Erzählens und entdeckt an ihm die Amputation einer seiner tatsächlichen Realisierungspotenzen. Schon die Annonce des Children's Project insistiert auf der Fülle des LebensAugenblicks, es offeriert entfaltete Zeit, will sich auf dem Flecke strecken, um der minimalen Existenzäußerung, der flüchtigen Bewegung, dem banalen Objekt Raum zu geben. Daraus entwickelt sich das Spiel des Schauens und Lauschens in Wilsons Theater, das eine kognitive Geo-Metrie ermöglichen soll. Gerade indem das Theater Sehen und Hören von der Pflicht zu Existenz-Erhaltung entbindet, wirft es sie auf sich selbst zurück. Nichts anderes ist damit letztlich beabsichtigt, als den Kassiber mit der Meldung 'Du weißt dein Wissen!' aus dem Gefängnis rational 'geordneten' Wissens zu schmuggeln. Damit macht sich dieses Theater - schon in seiner Frühform - zum Anwalt für die Importanz des Vermögens, wahrnehmend 'jetzt' zu sein. Es erwirkt im Rekurs auf 276

die (Selbst-)Wahrnehmung die Transzendierung des theatralen Nus in die Dimension menschlicher Existenzgegründetheit. Es legitimiert sich als die Stätte kühner Re-Portagen des Vorhandenseins von Licht, Laut, Geste und der Figur im Raum, die sich der Schau als Resultate der fundamentalen Orientierungsleistung menschlicher Wahrnehmung offenbaren. Das Theater der School of Byrds riskierte also, indem es zu nichts Geringerem als zu deren Fragment zu werden suchte, den Blick auf die Möglichkeit, als Mensch zu leben. Wilson hat übrigens seinen split panel selber thematisiert. Es gibt in den CIVIL warS eine Szene, die ihr Spiel mit jener als Kippfigur aufleuchtenden Brücke zwischen Kunst und Leben treibt - und auslacht.

6. Beispiele Lächeln in Zeit und Raum. Die Smilers aus den CIVIL warS Auf einer rechteckigen 'platform1, die die rechte vordere Bühnenhälfte einnimmt, steht ein alter Mann, der mit ausgestrecktem Arm ins Publikum zeigt. Neben und hinter ihm haben sich nacheinander - mit jeweils unprätentiösem Auftritt von links über einen bühnenüberquerenden Steg - 19 weitere Schauspieler in 5 gegeneinander versetzten Viererlinien zu einem Karree formiert. Links hinter ihnen befindet sich eine Leinwand, auf die die zu einem EndlosBand montierten, sich also stets wiederholenden Filmsequenzen einer Brückensprengung und der Sprengung einer Sozialbausiedlung projiziert werden. Die 20 aufrecht stehenden Schauspieler beginnen gleichzeitig - ohne jeden weiteren Körpereinsatz - zu lächeln, verändern ihre Mimik langsam zu einem laut- und regungslosen Lachen, um gemeinsam dann wieder in mimisch-gestische Ausdrackslosigkeit zurückzufallen. Es hält sich - wenn auch nicht bis Szenenende - der Zeigegestus des alten Mannes. Die Formation löst sich schließlich auf: die Schauspieler treten - in anderer Reihenfolge - genauso ab wie sie aufgetreten sind; bis auf eine Zweiergruppe, die mit dem Verlöschen des Bühnen- und des Projektions-Lichts im Bühnengrund unterhalb der Plattform versinkt Das Bühnengeschehen verläuft lautlos bis auf die Musik von Phil Glass, die diese minimalen Bühnenereignisse begleitet. Die Szene hat eine Länge von 12 Minuten, sie heißt 'Smilers1, und sie ist die 13. im dritten Akt der CIVIL warS, der als ein Teil der deutschen Sektion 1984 in Köln und im darauffolgenden Jahr in Cambridge, Massachusetts gezeigt wurde. Das sich ent- und wieder ein277

faltende Tableau offeriert nicht das, was man einen expliziten Handlungsbogen nennen könnte. Die Konzentration auf elementare Bildbewegungen verwirft einen Gehalt als Geschichte oder Aussage. Einen Text gibt es nicht. Das psychisch-emotionale Verhalten der 'Smilers' und die Filmsequenz werden - stückoder szenenintern - durch keine vorhergehende Szene vorbereitet und ohne szenisch-dramaturgische Konsequenzen innerhalb der CIVIL warS gezeigt. 'Smilers', ein Zustandsgemälde, das an- und einbindungslos vorgeführt wird, erscheint wie ein Solitär. Als Ereignis in der Zeit ist es zwar - zumal mit der Musik von Glass - beeindruckend in seiner verwirrenden Schönheit. Ein Sinn, der über die Feststellung des als Dauer ausgekosteten und kunstvoll arrangierten - allerdings so nicht bedeutsamen - Kontrastes von Destruktion und stummem Vergnügen erhaben wäre, scheint weder aus dem kontinuierlichen Aufund Abbau, noch aus dem kompletten Gebilde, noch seiner Positionierung innerhalb des Stückes als letzter Szene vor dem Epilog zu sprechen. Es wird nichts vermittelt. Die resultierende, spannungsgeladene Unentschiedenheit, in der sich der theatrale Augenblick als der Divergenz- und Konvergenzpunkt eines Geflechts zentrifugaler und -petaler Interpretationsofferten hält und 'Realismus auf der Bühne', Bühnenrealität und der Hinweis auf den Prozeß ihrer Wahrnehmung miteinander verwoben werden, kann jedoch als Paradigma für jenes ästhetische Bauprinzip des split panel angesprochen werden, das die kunstintendierte Thematisierung des Aktes des Verweisens erreicht. Die Bühnenereignisse werden - da sie keine der möglichen Verstehensvarianten dauerhaft bestätigen - solange und so oft umgedeutet werden, wie Wahrnehmungs- und Verstehensschlüssel befriedigend, mitunter auch sinn-befreiend auf die Schlösser der Bedeutungscamouflage dieser Konstruktion passen. Da diese Szene sich jedoch jeder Eindeutigkeit phantomhaft entzieht, liegen Gewicht und Ausrichtung dieses polypikturalen Konglomerats nicht in der Aufforderung zum linearen Nach-Vollzug eines sich verbergenden Sinns, einer geheimen Logik des Geschehens, sondern im Gesamt aller möglichen Entschleierungen. Die Sache der Kunst liegt in der Vielzahl netzförmig verwobener Andeutungen und Spiegelungen, den geheimen Sinn-Konturen und ihren Stilisierungen, den Kontext-Verwischungen und -Brechungen, die dieses Raum-Zeit-Bild offeriert, jedoch stets als nur mögliche offen läßt. Zum Inhalt wird die Rotation einer Spirale des Wissens selbst, die das Bühnengeschehen und seine (Re-)Konstruktion im reflexiven Akt des Verweisens gleichermaßen tangiert. In dieser Szene manifestiert sich nicht eine 'Idee'. Sie fungiert vielmehr als Auslöser von und Referenzgröße für 'Ideen', die jeweils Gültigkeit auf Widerruf besitzen. Mit jeder ihrer Spiral-Windungen des Ent-Deckens immer neuer Verbindungen und Kontexte, erfährt sich die pro278

duktive Arbeit der Rezeption selbst. Deren Produkt, die Gesamtheit der Wahrnehmungen ist die Kunst zur Sache. Sie erhält sich so lange wie das private Spiel der Rezeption mit dem ihr angebotenen Material - auch in der Erinnerung - dauert. Den split panel dieses Bildes thematisiert der inszenierte Riß durch die Wahrnehmungsangebote. Die Rezeption schwankt, noch vor jeder Deutung, in der Identifikation dieser unentschiedenen-unentscheidbaren Bühnenereignisse zwischen Vorführung als Theater und Realität als erlebte Wirklichkeit Tatsächlich erweist sich bereits die Konstruktion des Raumes dieser Szene als ein Vexierspiel. Formal steht die horizontale 'Spielfläche1 der Plattform rechts vom in Opposition zu der vertikalen Film-Projektionsfläche links hinten. Dieser Kontrast wird als Bauprinzip wieder aufgenommen im chiastischen Prozeß der vertikalen Anreicherung der Plattform mit 20 Schauspielern, die im Gegensatz steht zur Horizontalisierung der Leinwand, die durch die einstürzenden Bauten als Auflösung der Senkrechten in die Waagerechte des Erdbodens oder - für die Brücke - des Flußlaufs signalisiert wird. Das Thema der bühnenarchitektonischen Strukturformung, das die Körper der Schaupieler mit ihrer Raum-Besetzung anschneiden, wird konterkariert von der Destruktion 'realer' Architektur oder strukturgeformter Materie auf der Leinwand; den rechtsseitigen Formations-Aufbau düpiert der linksseitige Abriß und vice versa. Zudem konstatiert der Gesamt-Bühnenraum eine Synthese der Dialektik von Außen und Innen in der Präsenz von umgebenen Bühnenraum und umgebenden Weltraum, der durch das 'Leinwandfenster1 eröffnet wird. Durch die Bühne wird außerdem die dimensionslose Gleichberechtigung von Mikround Makrostruktur behauptet, die formuliert ist in der Präsentation einzelner Menschen auf leerer Bühne im jede Proportion negierenden Konnex mit dem Einsturz ganzer Häuserzeilen. Die unmittelbare Raum-Gegenstand-Erfahrung kann indes nicht mehr gemacht werden. Die Inszenierung einer solchen Übermacht des Raumes, die durch die Außen-Innen-Synthese und ihre verzerrenden Disproportionierungen vermittelt wird, ist, in anderem Zusammenhang, von Hans-Peter Bayerdörfer als Ausdruck für "soziale und metaphysische Verlassenheit [...] im letzten Jahrhundertdrittel des zwanzigsten Jahrhunderts" gedeutet worden: Zum sinnlosen Innen [...] gibt es kein Außen mehr, das maß- und sinngebenden Rahmen darstellen könnte. [...] Jeweils Indizien die räumliche Verfassung auch die Möglichkeit menschlicher Begegnung und Kontaktaufnahme. Aber die Bilanz ist negativ. Innen und Außen sind gleichermaßen sinnleer und unbewohnbar geworden. Gegenüber dem menschlichen [...] verhalten sich die Räume abweisend, über- und unmenschlich: '[...] die Raumproportionen sind insgesamt so vergrößert, daß erwachsenen Menschen darin überraschend klein erscheinen.'245 245

Hans-Peter Bayerdörfer: Raumproportionen. Versuch einer gattungsgeschichtlichen Spu279

Der Betrachter wird bei Wilson nicht in die Unmittelbarkeit erlebnishafter Konfrontation entlassen, er ist nicht Teil des gefilmten Raumes, den er wahrnimmt: das Erlebnis ist 'Konserve', als präsentiertes also bereits vergangen. Der Blick wird in die (Kamera-)Perspektive gezwungen, die Ortswechsel sind durch Bildschnitte vorgegeben und erlauben keinen 'freien Umgang', keine eigenständige Erfahrung des Objektraumes. Die Wirklichkeit dieses Objekts selbst läßt sich auf 24 Bildprojektionen pro Sekunde reduzieren. Es ist die Trägheit des Sehens, die virtuelle, zweidimensionale Bilder als Realitätssurrogat annimmt Offensichtliche Orts-Manipulationen durch Filmschnitt, die den Ortswechsel' von Straßenszene und Hausfront zu Fluß und Brücke und zurück erzwingen, tun ein übriges, diesen Bühnenraum in toto nicht nur als unwirtlichen Nicht-Real-, sondern auch als einen in Aufbau und Ausdehnung changierenden Kunstraum zu qualifizieren. Die Zustandslosigkeit des variierenden Theater-Raumes ist durch die flottierenden, chiastisch in Relation gesetzten beiden Spielflächen: Projektionswand und Plattform ausgewiesen. Sie betont allerdings - neben der Fähigkeit zu emotiv-intellektuell interpretierbarer Raum-Inszenierung - die Fertigkeit der Kunst, Raum als permutierendes Indefinitgebilde auszugeben und somit grundsätzlich als Funktion der Zeit. Der Bindung des Raumes an die Zeit, die die Auflösung distinkter Dimensionen in nicht-statische, nicht-reale Verhältnisse suggeriert, entspricht die Koppelung von Zeit an Raum, die das Verstreichen von Zeit lediglich einer Bühnenhälfte zuzuweisen scheint. Deutlich wird die Zeit-Differenz der Bühnenhälften schon durch den als inszenatorisches Faktum gesetzten Gegensatz von tatsächlicher Aufführung und filmischer Reproduktion. Stimmen bei der Aufführung Gegenwart der Aufführung und Gegenwart der Rezeption überein, so erweist sich die filmische Reproduktion für den Rezipienten nur insofern als gegenwartskohärent als das Faktum der Projektion und deren Perzeption als Teil seiner Gegenwart erlebt werden kann, nicht aber deren - ja vergangene - Inhaltsgegenwart. Darüber hinaus divergieren die Ereignisse auf der Plattform zeitlich aber noch hinsichtlich des konsekutiven, exakt zwölfminütigen Fortlaufs von Auf- und Abgang und dem Einschub minimalen Verhaltens. Er steht im Gegensatz zu der unaufhörlichen Repetition der Gegenwart, zu den in eine rein technische Unendlichkeit eingefrorenen Immer-und-Nie-Einstürzen, die kein temporales BewendenLassen kennen. Darum muß - da beide Bühnenhälften in einer Szene simultan dargeboten werden und die Räume chiastisch verkettet sind - dieses filmische Arrangerensicherung in der Dramatik von Botho Strauß. In: Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik. 16 / 1983. S. 56f. [Binnenzitiert wird Botho Strauß: Groß und klein, München/Wien 1978, S. 37].

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ment der Zeitknebelung, die das Gewesene nicht gewesen sein und das Zukünftige nicht geschehen lassen kann, der gleichzeitigen Synthese eines Schauspiel-Prozesses in der Zeit opponieren. Es muß sogar der technisch hergestellte Geschehens-Stillstand in der Filmsequenz als achsensymmetrischer Kommentar die Echtzeit-Ereignisse der Schauspielhemisphäre aufweichen - und vice versa. Die Ereignisstrukuren beider Bildebenen sind allerdings auch homologisierbar. Obwohl die Schauspielerhandlungen ja einer 'echten' Chronologie angehören, die sie von den unwirklichen Repetitionen der Ereignisse in den Filmausschnitten auf der anderen Bühnenseite deutlich abhebt, sind in Konstruktion und Resultaten das kontinuierliche Auffüllen des leeren Raumes mit Akteuren, die darauffolgende - gleichwohl - reduzierte Aktion auf der Plattform und der Abgang mit dem (widerzeitlichen) Perpetuum der Filmschleife: Sprengung, Einsturz und filmtechnisch hergestellte 'Restauration' der Bauten aufeinander abzubilden. Ein einmal erreichter Zustand (die hergestellte Struktur: Gebäude, Schauspielerkarree) wird jeweils nach einem zentral gesetzten Ereignis (Sprengung, Lachen) wieder zurückgenommen (Einsturz, Abgang). Dem Verwischen architektonischer Spuren durch die Sprengung im Film entspricht somit die sukzessive Selbstaufhebung des sukzessiv aufgebauten Gevierts. Außerdem kettet die Ordnungsspiegelung, die sich aus der Vervierfachung eines kontrollierten Ablaufs ergibt (Auf- und Abgang der Schauspieler, Konstruktion und Abriß der Architektur), die gezeigten Ereignisse aneinander. Tatsächlich gerät so der kontinuierliche, gleichförmige Prozeß von Auftritt der Schauspieler, gemeinsamem Lachen und Abgang in den Sog der Kunst-Zeit des filmischen Nicht-Ereignisses. Die gewollte Monotonie des Minimalismus der Sequenzenfolge des Films und die mechanische Ausführung eines unspektakulären Bühnenhandlungsverlaufs, der nur ein Muster von Aufbau und Verfall generiert, kongruieren zu Formations-Rhythmen eines nicht auf Wirklichkeitsabbildung fokussierten Gesamtbildes. Zwar zerbricht der Abgang der letzten Schauspieler die Dlusion der absoluten Identität von Entfaltung und Rückführung des auf der Bühne von Schauspielern demonstrierten Geschehens und damit die einer unterschiedslosen, reproduktiven Spiegelbildlichkeit von Früher und Später, die der Film feiert. Doch wird diese Zerstörung des rhythmischen Verlaufs erst mit dem Verlöschen der Szene gesetzt und dient so als Überleitung zum darauffolgenden Epilog und somit als szenischer 'Notausstieg' aus einer sonst in sich zirkulierenden Bühnenzeit. Bühnengeschehen und Filmsequenz sind in ihrem analogen Gebrauch von Zeit indes durch mehr als nur den markanten Verlaufsrhythmus miteinander verzahnt. Natürlich verweist das Vergehen von 'wirklicher Zeit' in der Ausführung der Schauspieleraktionen auf die wirkliche Zeitgebundenheit auch der 281

gefilmten Wirklichkeit. Das Errichten, Sprengen und Einstürzen der Bauwerke ruft sie auf als die (ehedem) 'realen' Bestandteile der Welt. Damit zeigt sich das Bauprinzip Chiasmus neben der räumlichen auch auf der zeitlichen Ebene. Dem tatsächlichen Ereignis des Hauseinsturzes inhäriert dieselbe wirkliche Zeitebene wie der Bühnenaktion; die doppelte Zeitfixierung in den Bildern der Filmmontage (Gegenwartsbindung durch 'Resurrektion1 und unendliche Kettung dieser Zeitfragmente) thematisiert aber auch die zweifache Zeitannexion jeder Bühnenproduktion. Es ist besonders deutlich zu machen an der isolierten, willkürlich gesetzten Scheitel-Sequenz zwischen den Spiegelbildern des Auftritts und Abgangs. Das auf der Bühne kontext-, Ursache- und wirkungslose mimische Signal des Lachens hält sich in der Schwebe zwischen der Authentizität des Aufführungsmomentes (das Lachen ist das Lachen in diesem Theater-Augenblick) und der Reproduktion einstudierter - sozusagen erinnerter - Handlung. Der Szenen-Inhalt: das Lachen entstammt - wie der Inhalt der Filmsequenz - einer Vor-Zeit der Aufführung, die damit - analog zum Film eine 'Resurrektion' vergangener Gegenwart ist. Die Aufführung selbst muß ja auch gesehen werden als weiteres Glied in der Kette von Reduplikationen dieses einstudierten Verhaltens. Außerdem entsprechen Sprengung und Lachen sich in je zwei unwirklichen Momenten, zu denen das Lachen noch nicht/schon nicht mehr Lachen ist und die Häuser im Augenblick der Sprengung noch gebaut und doch auch schon zerstört sind, bzw. zerstört und (per Filmschnitt) doch auch wieder gebaut. In Analogie zu den Theater-Raumhälften berühren, durchdringen und relativieren sich die gebotenen Zeitebenen der 'prozessualen Schauspieleraktion' und der Widerpart der 'statischen Explosion' wechselseitig mit Kommentaren aus jeweils anderer Zeitlichkeit zu Kunst-Zeit-Ereignissen, die sich zugleich in und außerhalb der Zeit befinden. Die Datier- und Lokalisierbarkeit der gereihten Ereignispartikel bindet ihre strukturelle Offenlegung trotz ihrer filmischen Ver-Gegenwärtigung an definite geo-historische Koordinaten. Die Dokumentation des Real-Ereignisses der Sprengung der Sozialbausiedlung in St. Louis, Missouri: 15. Juli 1972, 15:32 Uhr246 demonstriert sowohl als Filmsequenz wie auch als Wirklichkeit, daß man dieses Bauwerks auf ewig habhaft werden konnte: real wird es genauso spurlos dem 'Erdboden gleichgemacht' und dieser Vorgang 'betrügt' genauso die Geschichte wie der Film: Beherrschung des 'realen* Moments der Sprengung und seine filmische Aufbereitung korrespondieren in den Bemühungen um eine synthetische, 246

Zeit- und Ortsangaben von Andreas Huyssen: Postmodeme. A.a.O., S. 15. Huyssen spricht im diesem Zusammenhang vom "Desaster und Ende der modernen Architektur" [Ebd.], die sich in dieser Sprengung dokumentieren.

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konsequenzenlose, kontrollierte All-Gegenwart. Im Gegensatz zur Realität aber ist die filmische Reproduktion, deren Inhalt verabredungsgemäß nicht binnenästhetischer Teil der Bühnenrealisierung eines Theaterabends sein kann (lediglich das Faktum der Projektion gehört dazu), die synthetisch hergestellte Wiederholung des Identischen, die die Wirklichkeit aufzugreifen sich bloß anheischig macht. Die Leinwand als Stätte eines filmisch dargebotenen, in eine scheinbar allgültige Unendlichkeit transformierten Wirklichkeitsausschnitts repetiert - als ihre Simulation - die Kunst des Minimalismus. Serielle Reihung minimaler Strukturen, Einfachheit der Form, Transponierung an einen für sie fremden Ort, nicht-kommentierte, entindividualisierte Wirklichkeitsnotation, zeitlose Konstanz und wertneutrale Demonstration sind ja vorhandene Formelemente im Film, die ihn mit dem Minimalismus liieren. Von der durch die künstlerische Manipulation des Minimalismus gefügig gemachten Realität, die der Film zur Schau stellt, geht allerdings keinerlei rückstrahlende, analytische oder gar verändernde Wirkung aus: der Inhalt der Sequenz, die Häuserstürze, benetzt die Form mit Historic und die Reversibilität der Zerstörungen, die die Filmmontage suggeriert, gelingt dieser Kunst lediglich zum Schein (virtuelles Bild): der endlose Zirkel ermöglicht nicht den positiven Reflex auf die Welt. Er ist Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung und vermag nur auf sich selbst zu verweisen. Kunst, die so (minimalistisch) mit Wirklichkeit umgeht, verschließt sich hermetisch in sich selbst. Smilers benutzt diesen filmischen Minimalismus darum wie einen unendlichen Abspann, der sich - so wird er gezeigt - im Hintergrund in sich selbst verhakt hat. Damit verpflichtet das Theater den Minimalismus des Films auf sich selbst und konstatiert ihn als Kunst hinter Kunst, der nur noch der Habitus einer Reklametafel zugesprochen wird. Da sich die Schauspieler zwischen Publikum und Projektionswand aufbauen, dem Ort der Wirklichkeitssimulation einer lediglich als Projektion ausgewiesenen Ästhetik, die - entgegen einer ursprünglichen Wirkungsabsicht des Minimalismus - in Realitätsferne gerückt werden muß, markieren sie nun die Schwelle des Übergangs von Kunst und Leben. Sie blicken in die Unmittelbarkeit einer historisch eindeutigen Situation des Publikums und wissen eine Kunstsphäre hinter sich, die sich aus der (historisch gewordenen) Assemblage von identischen Wirklichkeitsfragmenten konstituiert Damit verwehrt diese Szene eindeutige Markierungen nicht nur hinsichtlich ihrer Zeit-Raum-Koordinaten. 'Smilers1 wandelt nicht nur auf der Grenze zwischen De- und Konstruktion (theatraler) Räume und macht sich nicht nur an die Reduktion der (Theater-)Zeit zu revolvierenden, rhythmisch eingesetzten Konstruktionssegmenten. Die Szene okkupiert, ja überschreitet zudem die Demarkationslinie von Kunst und Wirklichkeit, indem sie 283

jeden Versuch einer definiten Kennung ihres ästhetischen Status1 sabotiert. Angesprochen ist jetzt die (Interpretation der) 'Inhalts-Ebene' der Szene. Ambivalenz als Merkmal der Konstruktion und des Einsatzes von Darstellung ist auch hier nachzuweisen. Es liegt ja nahe, die beiden Bühnenhälften, die schon raum-zeitlich miteinander verbunden sind, auch in ihren jeweiligen Aussagemodi miteinander korrespondieren zu lassen. Möglich, aber blaß bleibt dabei die Deutung einer kalten, kollektiven Fröhlichkeit vor dem Hintergrund der nicht abreißenden, globalen Zerstörungen durch den Menschen, auf die er selbst - ignorant oder naiv - noch nicht oder nicht mehr adäquat mit Gegenmaßnahmen zu reagieren vermag. Im Kontext der CIVIL warS macht diese Interpretation zwar schon Sinn - die Szene offeriert ein weiteres Schlachtfeld im alltäglichen Krieg der Bürger gegen ihre Lebensressourcen -, sie gibt sich jedoch zu schnell zufrieden, da sie ambivalente Wirklichkeitsthematik, Position und Ausrichtung der Spielorte außer acht läßt. Das als Szenen-Zenit gesetzte Schauspielerlachen gehört als ein Ausdruck des genuin menschlichen Verhaltensrepertoires zu den zeichenhaften (Re-)Aktionen, die von der Umwelt stimuliert selbst wieder zum Umweltstimulans werden. Insofern muß dieses Signal als Bestandteil und Ausdruck einer wie auch immer gearteten Kommunikationssituation rezipiert werden. Da das Publikum jedoch vom 'Stück1 keine eindeutigen Hinweise auf einen diesen Ausdruck bergenden Kontext, eine auslösende Ursache und eine resultierende Wirkung dieses nonverbalen Bedeutens erhält, scheint dieses mimische Zeichen allem Anschein nach stückund szenenintern kommunikativer Notwendigkeit und Folge zu entbehren. Zudem entindividualisiert die Kollektion zu einem zwanzigfachen Lachen das jeweilige Schauspielerlachen zu einem Tableau des Lachens 'an sich', das anscheinend die Grundregel darstellenden Verhaltens im Theater negiert. Darstellung im Theater kann definiert werden als Interpretation und zeichenhafte Vermittlung einer Handlungsvorgabe, als Versinnbildlichung eines darzustellenden Verhaltens, das seinerseits - zeichenhaft, sinnbildlich - auf Wirklichkeit rekurrieri. Darstellung ist Zeichenbildung über einen Kanon vorhandener Zeichen. Das zugleich einsetzende, zugleich endende, auslöser-, laut- und regungslose Ensemble-Lachen muß darum entweder wie die Abstraktion von Theaterlachen erscheinen. Es wirkt so wie die lediglich unmittelbar ausgeführte, beziehungslose Synthese einer Handlungsvorgabe ohns deren 'realen' Rekurs247 - vergleichbar mit der Konzentration auf die Ausführungen etwa 247

Für die CIVIL warS ist diese anscheinende Nicht-Interpretation, die - nur anscheinend eine contradictio in adjecto - 'einstudierte' Präsentation des kollektiven Nicht-Präsentierens, des Auslassens der Meta-Zeichenebene natürlich die gewählte Form der Interpretation: einstudiert wird die Handlungsvorgabe: das Theaterlachen als dasjenige, das zeichenhaft den Rekurs auf 'reale Zeichen' verweigert, damit aber wieder Zeichen über Zeichen, also Metazeicben ist.

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während der Probenarbeit oder einer Zirkusvorstellung. Es kann aber auch als faktisches An-, Auslachen begriffen werden. Die Gerichtetheit des Schauspielerkorpus auf das Publikum und seine räumliche Positionierung vor die Leinwand läßt ja auch die andere Vermutung zu, daß mit der zur Schau gestellten Attitüde - bereits jenseits einer generell angenommenen Kunst-Absprache des Stück-Erlebens - eine Aufnahme von Kommunikation mit dem Publikum gesucht wird. In beiden (Interpretations-)Fällen durchbricht diese Sequenz damit aber die Ebene der Mimesis248 des Theaterkunstwerks, der nur syntheti248

Mit S. D. Sauerbier wird Mimesis nicht lediglich verstanden als opto-akustisch oder darstellende Nachahmung von Gegenstanden der Natur oder von Ereignissen im Hinblick auf die möglichst originalgetreue Reproduktion einer je objektiv und isoliert für sich betrachteten Wirklichkeit des Dargestellten. Sauerbier operationalisiert den Mimesisbegriff analog zu den Überlegungen der Informationstheorie. Er implantiert das Objekt in die Rezeption und nennt es pauschal den Eindruck'. Insofern ist Eindruck das Äquivalent zur In-Fonnation, wie sie von einem informierten-in-fonnierenden Subjekt aufgenommen wird. Mimesis ist damit nun nicht Nachahmung eines Gegenstandes, sondern - durch das Filter der In-Formation - Nachahmung dieses Eindrucks. Allerdings nicht Nachahmung des reinen Eindrucks, sondern der Haltung zu diesem Eindruck, der Stellungnahme zur Welt, die Ausdruck genannt wird. Sauerbier will auch dieser Komponente des Ausdrucks gerecht werden, wenn er Mimesis definiert als "Nachahmung der Stellungnahme zu einem Eindruck von einem Gegenstand der Welt." S. D. Sauerbier: Gegen Darstellung. Ästhetische Handlungen und Demonstrationen. A.a.O., S. 43. Sauerbier erläutert nun diesen 'erweiterten' Mimesis-Begriff für das Theater als 'zweistufiges Gedankenmodell'. Er bezeichnet es als darstellende Kunsthandlung, in der in nachahmender Komplexion diese Haltung zu einem Eindruck, den die erfahrbare Welt bei einem Künstler herausfordert, in den dann präsentierten, künstlerischen Ausdruck einfließt - und zwar - idealiter - so, daß sich die jeweilige psychische Reaktion des Eindrucks in der Darstellung, dem vom Künstler gewählten Ausdruck, mit dem realisierten gedanklichen Abbild (In-Formation) bis zur Identität angleicht Insofern steht Mimesis 'zwischen' Eindruck und Ausdruck. Sauerbier rekurriert dabei auf die Überlegungen von Bruno Liebruck und Hans Heinz Holz, die dem folgenden Zitat vorausgehen: "Die Mimesis ist nicht Nachahmung von Gegenständen, sie ist nicht einmal Nachahmung des Eindrucks allein, sondern Nachahmung der Antwort auf den Eindruck...Diese Mimesis [deutet] auf die erfahrenen Verhältnisse genauso hin, wie auf den Eindruck, den sie in der Erfahrung machen, [sie deutet] immer zugleich zu den Dingen und den sie Erfanrenden.'[Liebruck] 'Was der Künstler tut, ist die Formulierung des psychischen Ausdrucks, den ein Eindruck in ihm hervorgerufen hat, in einer Mimesis des Eindrucks, die den Ausdruck einschießL'fHolz] Mimesis als 'Nachahmung des Eindrucks' schließt den Ausdruck ein. Über das Zustandekommen des Ausdrucks kann nun gesagt werden: Die Formulierung des psychischen Ausdrucks ist von einem Eindruck in ihm hervorgerufen. Die Mimesis drückt erfahrene Verhältnisse aus, nämlich den Eindruck der Verhältnisse auf die Erfahrung; so ist Mimesis als Nachahmung der Antwort auf den Eindruck bestimmt." Ebd. S. 228f. Mimetisch ist also das Theaterkunstwerk, das - sozusagen als darstellende, stellungnehmende Erinnerung und Wiedergabe einer Realität ('Ausdruck') den Verweis, bzw. die Verarbeitung einer gelebten Erfahrung (Eindruck1) in sich trägt. Jedes Theaterstück, das Eindrücke aus der 'realen Welt' zu Ausdrücken formulieren will, ist damit mimetisch. Wilsons Kunst ist mimetisch, da auch sie eine 'tatsächlichkeitsgetreue' allerdings nicht dominant rationale, verbale - Ausdrucksbildung als Erfahrungsabbildung

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sierten, bezugnehmenden Wirklichkeit, die unabdingbarer Wesenszug der Theatralität jeder Aufführung ist Sie wird stattdessen Teil der unmittelbaren Realität des jetzt nicht mehr als Kunstrezipienten in die Welt involvierten Publikums. Das Ergebnis ist ebenfalls Grenzverwischung. Selbst wenn dieses 'Verlassen der Abbildungsebene' nur vorgegebener 'Kunstgriff der Handlungsvorgabe, also ästhetisches Mittel sein sollte, gilt, daß auch die Inszenierung von Kontaktaufnahme mit dem Publikum den vollständigen Umbruch des Kunstereignisses in die Unmittelbarkeit der historischen Situation bedeutet, sobald und solange die Rezeption nicht mehr in der Lage ist, ihre real-historische von der vor-gestellten, zeichenhaft-mimetischen Ebene zu unterscheiden und den Wechsel als nur vorgeführtes (weiteres) Theatermittel zu durchschauen. Tatsächlich zeigt die Reaktion des Publikums, das den gezeigten Ausdruck mit den in Amerika üblichen 'standing ovations' quittierte, daß es bereit war, mit dem angebotenen Lachen die Kunst-Vereinbarung der Fiktionalität dieses Theaterabends für beendet zu halten und in der Szene nichts anderes mehr zu erkennen als eine vielleicht raffiniert eingesetzte Variante des Schlußvorhangs, der ja nicht mehr Teil der in der Aufführung vorgestellten, fiktiven Wirklichkeit ist. Sicherlich wird das Aufkommen eines solchen 'Irrtums1 neben der Plazierung der Szene im Stück - als vorletzter - auch von der Tatsache befördert und begünstigt, daß die Schauspieler die Mehrheit des an den CIVIL warS beteiligten Ensembles darstellen. Da die Szene jedoch 'unbeirrt1 weiterläuft, sich weiterhin als nur die Vergegenständlichung der Erinnerung an Lachen, also als Schauspiel behauptet, erweist sich der 'Griff in die unmittelbare Realität eines Kommunikationsangebotes als nur vermeint. Er entpuppt sich als Illusion. Der unbeteiligte Abgang der Schauspieler und der Übergang zum Epilog entlarven die Annahme von Wirklichkeit als ZuschauerFiktion sui generis, nämlich als präsumtive Unterstellung einer eben nicht jederzeit objektiv gegebenen Entsprechung des subjektiven Wahrnehmungsmodells mit der Abbildung von Welt auf der Bühne. Der Blick wird dadurch gelenkt auf die Präsentation der Sache: 'Lachen' selbst. Und zwar an einem (semantischen) Ort, der sich dann nicht unterscheidet von dem, in dem das Publikum sich befindet. Dieses Lachen zerstört den fiktiven Zeit-Raum des Theaters. Dieses Angebot zur Deutung des Lachens, die es als faktische Mundbewegung begreift, die entweder nur leb- und darstellungslos ihre Sachhaltigkeit repräsentiert (das Lachen als Lachen) oder aber als unmittelbare Kontaktaufnahme, muß in Verbindung mit der raum-zeitlichen Offenheit der Bühne als anstrebt: es sind für The Deafman Glance die 'realen1 Welteindrücke des Raymond Andrews, für 'Queen Victoria' und Curious George sind es 'Sätze1 aus dem Leben Christopher Knowles'.

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eines der verunsichernden Signale für die 'Strategie des split panel' begriffen werden, zugleich eins wie das andere, Kunst wie Leben zu sein. Sie zerreißt den Bühnenkontext und bezieht dadurch das Publikum in die Kriegswirren der CIVIL warS direkt ein. Denn die Undeterminierbarkeit der Bühne in Zeit und Raum, auf der ein der Wirklichkeit zugehöriger mimischer Ausdruck präsentiert wird, zer-, ver-stört die Möglichkeit einer distinguierten, rein notierenden Wahrnehmung von Kunsthervorbringungen aus der Distanz fixierter RaumZeit-Koordinaten. Sie bewirkt die Dispersion des Kunstraums in die Wirklichkeit (=Verkunstung der Zuschauerhemisphäre oder Beträufelung von Kunst mit Realität). In einem (fast anarchischen) Akt lächelnder Annexion der LebenKunst-Grenzen behauptet diese Szene einen trotz ihrer Ordnung' entropischen Gesamtraum (viel potentielle In-Formation) der stehenden Gegenwart von Kunst. Daß sich 'Smilers' schon wegen der Indeterminierbarkeit seiner RaumZeit-Koordinaten als lebensfernes Ge-Bild(e) ohne Echtheits-Zertifikat auszuweisen scheint, steht in krassem Widerspruch zu seiner immerhin applausgenerierenden Kommunikations-Mimikry, deren Erkenntnis Rezipientenscharen auf sich selbst zurückgeworfen hat. Dennoch sind beide, antagonistisch zueinander stehenden Kunstweisen, 'ästhetisch-innovativer, sachdienlicher und realistisch-abbildender Schein', gleichzeitig und gleichberechtigt in dieser Szene vorhanden; sie werden von ihr provoziert und - wie im Fall der Projektionswand - durch die Wahl des Artikulationsmediums auch wieder in ihrer Scheinhaftigkeit thematisiert. Die Ebene des sich darauf selber in seiner Produkthaftigkeit spiegelnden Stücks ist allerdings ein Selbstzeugnis, das über die Vergegenwärtigung des Schwindels der Metakunst der Leinwand und die hervorgerufene Verblüffung über die Handlungsfortsetzung der Szene und des Stücks ein jähes Aufreissen der Erkenntnis bewirkt. Dieses intendierte Spiel mit der Rezeption ist hier als die Thematisierung des Aktes des Verweisens bezeichnet worden. Es gehört als eine seiner konsumtiven Schichten zum Inszenierungsimpetus der CIVIL warS. Der Akt des Verweisens, der als Affizierung der Bühnenerscheinungen mit den je subjektiven Netzen und Verwebungen von Beziehungen Bedingung und selbst wiederum Zeichen dafür ist, daß Zuschauer sich auf die Präsentationen des Theaterkunstwerks einlassen können, ist integraler Bestandteil jeder 'informierenden' Wahrnehmung. Als Möglichkeit in der und auf Zeit, gegen die das Chamäleon der Information dieses Theaters stets Einspruch zu erheben scheint und zu erheben in der Lage ist, wird innerhalb eines Rezeptionsvorgangs die vermeint dauerhafte Identität des Wahrnehmungsgegenstandes mit seiner Verarbeitung als Wahrnehmungsdatum vorgeführt. Indem diese Szene (Bühnen-)Realität und (erwartende) Wahrnehmung als Bipole im Spannungsfeld asymptotischer Nä287

herung desavouiert, gelingt ihr, innerhalb des Kunstkontextes der Indizienbeweis über den 'wirklichen' Ort der Kunst: Kunst ist die von der Rezeption ausgelöste Verstehensarbeit, ist Kopfkunst nach Maßgabe der diskursiv vermittelten Wahrscheinlichkeits-Hypothesen. Indem das Publikum am Ende des Theaterabends gleichsam hereingeholt wird in die 'Kriegswirren', wird aus dem passiven Beobachter ein Involvierter, der sich selbst als eine der Facetten des überzeitlichen Krieges wiedererkennen muß. Da das Lachen der 'Smilers' sich als Grenzereignis erhält, korreliert es Kunst und Realität ständig miteinander. Es übergibt so das Perpetuum der Zerstörungen, dargestellt im Raum für Kunst, an die aktuelle Wirklichkeit der Zuschauer. Daß die Herstellung dieser Beziehung tatsächlich intendiert ist, belegt auch der Einsatz des demonstrativ ins Publikum gerichteten Arms, der für die Dauer der Szene wie ein grenzüberschreitender Weiser aus dem Rahmen der Fiktionalität in die Realität des Publikums zu dringen vermag. Das Einstellen des Lachens, das Versinken im Bühnengrund, das Verlöschen der Lichter signalisieren allerdings das Ende dieser nicht dauerhaften Grenzerfahrung einer lebensunmittelbaren Kunst. Natürlich steckt in der Zurechtweisung des Minimalismus, die diese Szene vornimmt, nicht gleichzeitig auch seine Überbietung durch lebens-angemessenere, also im Sinne dieser Ästhetik bessere Kunst. Wilson reformuliert den Minimalismus nur. Der Trägheit des entdeckten Objekts, die Wilson in den Stürzen, sie entblößend, aufweist, wird Lebendigkeit vor-gestellt. Die Kritik am Minimalismus könnte lauten, daß die 'Erotisierung' des Objekts (im Sontagschen Sinn), die ihm zweifelsfrei gelingt, die Vorführung des 'wirklichen Raumes', die Verlegung des Werks in die Denkfähigkeit der Rezeption, auf einem Verfahren beruht, das das Leben zwar mit lebensauthentischen Objekten konfrontiert, die erst das Leben mit seiner Eindruckskompetenz zu seiner Kunst synthetisiert, aber eben nur mit Objekten, die weiterhin lebensextem vorfindlich bleiben. Dieser Minimalismus vermag einem cognitive mapping Lokalisierhilfe zu geben, er rekapituliert Befangenheit in Dimensionen des Raums, aber er stellt nicht eigenes Wissen vor sich selber; ihm fehlt Espirit - er dringt nur zum Grund der Dinge vor, nicht zur Sache. Die Verlegung des Geistes des Minimalismus1 - über sozusagen lebendige Objekte' - auf das Leben selbst, die Wilson mit seinem Theater vornimmt, damit das Leben im cognitive mapping sich - zur Sache - erfasse, will ja die Vivisektion des Wissens als Wissen selbst und nicht als Wissen von Objekten. Insofern bedeutet die Auflösung des Werks in das Wissen und die Befindlichkeit der Rezeption selbst natürlich eine Steigerung des Minimalismus der Objekt-Reduktionen, die gleichwohl noch ein Gegenüber und eine Konfrontation des Wissens 288

mit seinem Gegenstand kennen. Um zu diesem sachgerechten Wissen zu gelangen, setzt Wilson Materialien ein, die nicht ausschließlich von ihm stammen. Er arrangiert sie. Und manchmal sehen dann wie Kunstwerke aus. Der Übergang Freud-Deafman - Drei Listen Das Wiederentdeckte - wie die siebenteilige Übung zur Aufhebung der Subjekt-Objekt-Grenze (-Differenz) - wird, um es für eine Aufführung fruchtbar zu machen (zur Schau stellen zu können), von Wilson stets in einer synchronoptischen Choreographie der simultanen Abläufe aufgezeichnet. Für jeden Moment berücksichtigt diese nicht nur Auf- und Abgänge, sondern versucht auch als Text-Audio-Video-Licht-Color-Struktur, die Elemente der Material-Mengungen so vollständig wie möglich zu deklarieren. All positions, entrances, and exits are firmly set. If somebody is crossing the stage, the plane on which this happens is strictly determined. If a figure does not cross but only penetrates onstage, the depth of this penetration is exact. The timing of activities is noted with varying degrees of precision, some set to the second. The performer takes his cue from the stage manager, from the music or the beginning or ending of another activity. By this kind of notation, space-movement-time relationships - the juxtaposition and focussing of precise images - are assured.249 So findet sich etwa im Archiv der Byrd Hoffman Foundation Robert Wilsons Aufzeichnung zum Ablauf des Beginns des ersten neuen Akts von The Deafman Glance, i.e. der 4. Akt des Stücks (nach den drei Freud-Akten).250 Wilson äußert in einem Interview auf die Frage, inwieweit die Bilder von The Deafman Glance an das Stück The Life & Times ofSigmund Freud anschließen, mit einer geradezu anmaßenden Parallele: 249 250

Frantisek Deak: Robert Wilson. A.a.O., S. 72. The Deafman Glance ist entstanden als eine der Arbeiten aus der 'Additions-Phase1. Wilsons erste Produktionen - mit Ausnahme von KA MOUNTAIN AND GUARDenia TERRACE - variieren lediglich darin, daß ein jeweils neuer Teil dem (Bilder-)Bestand zugefügt wird, während das bis dahin vorhandene Material, nicht oder nur geringfügig verändert, den Sockel für jedes neue Stück bildet. Diese Phase endet mit The Life Times of Joseph Stalin. Folglich werden die Stücke bis Stalin (um ihren jeweils neuen Teil bereichert) immer länger - und folglich ist in The Life & Times of Joseph Stalin noch das erste, nämlich BYRDwoMan, enthalten. Cindy Lubar beschreibt die im Folgenden wiedergegebene Szene als Übergang zwischen The Life & Times of Sigmund Freud in den Prologue zu dem darauffolgenden neuen Akt, die insgesamt dann The Deafman Glance bilden. The Deafman Glance wird von Lubar darum eingeführt als: "A four act play. First three acts are The Life & Times ofSigmund Freud. Between 3rd and 4th act are a murder followed by a prologue." Cindy Lubar: Kapitel IV: The Deafman Glance. A.a.O. S. l Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: Box: III-3 BYRDwoMan. 289

"Deafman1 [...] was the first or 4th act after 'Freud'. I mean 'Freud' was the first three acts of Deafman' [...] and I remember also I said earlier, too, the 'King of Spain' very much came out. When I did the 'King of Spain' then I said Oh, yeah' this is 'Freud', which is the middle section of 'Freud' so it's like a continuation it's always the same thought [...] Einstein said something. Someone asked him [and] he asked a girl that was writing down notes or something and he said: 'Why are you writing down these notes?' She said Oh, I want to get all these things you say'. He said Oh, it's always the same thought, it's always the same thought. [...] So, in sum was the work, it's like a continuum, you know.251

Dieses Kumulationsprinzip läßt natürlich auch das im Archiv Butler Library kollektivierte Dokumentationsmaterial ins Gigantische anwachsen. Die CIVIL warS-Materialien etwa, die bei meinen Studien noch nicht vollständig vorlagen, sollen 80 Archivierungskisten einnehmen. (Zu BYRDwoMan reichte noch eine Box.) Nachfolgend werden Anweisungen aus lediglich drei Verzeichnissen der The Deafman G/once-Produktion zitiert, die allerdings - nach der Dokumentenlage des Archivs - kaum wirklich so präzise und instruktiv sind wie Deak sie pauschal deklariert hat. Sie stammen aus den Beständen Materialien zu The Deafman Glance, dokumentieren jedoch - nach der Lighting Sequence and Description des Freud-Aktes - diesen Übergang vom Freud-Play zu The Deafman Glance. Sie geben das Ende des dritten Aktes von Freud wieder252 und vermerken die Bühnenbewegungen hin zum Prologue, die die (berühmte) einleitende Mord-Sequenz von The Deafman Glance bilden. Der von Wilson so bezeichnete erste/vierte Akt von The Deafman Glance weist damit die Mordszenen als Nahtstelle zwischen The Life & Times of Sigmund Freud und dem Prologue zu The Deafman Glance auf. Rekonstruiert wird der Verlauf dieser Stelle - da im Archiv der Byrd Hoffman Foundation eine vollständige, Verschriftung der Sukzession der Bühnenhandlungen nicht vorliegt mittels zweier Notationslisten. Zu Beginn wird die Lighting Sequence and Description, dann werden dazu Wilsons handschriftliche Aufzeichnungen des Endes von The Life & Times of Sigmund Freud aufgeführt. Ihnen nachgestellt ist das Typoskript der Props-Liste, auf dem mit den - im Skript hervorgehobenen Requisiten-Anforderungen und dem Bühnen-Arrangement zu den 'Morden' fortgefahren wird. Die letztgenannte Liste weist auch Zeitangaben - i.e. Aufführungszeit für diese Szene - auf. (Die benötigten Requisiten der Szene sind auf der zweiten Liste, der Props-List, dementsprechend unterstrichen.) Diese Aufzeichnungen sind zwischen Ende 1970, vor dem 15. Dezember, dem Premierentag am University Theater in Iowa City, und Anfang 1971, vor dem 25. Februar, dem Aufführungstag an der BAM, N.Y., entstanden, vermutlich aber am 10. Februar 1971, dem Datum, das die Props-Lists trägt. Die 251 252

Robert Wilson in einem Interview mit Carol Mullins vom 6. August 1974. A.a.O., S. 3. Letzte Anweisung Freud: 'Sherryl to table!' - Erste Aktions-Anweisung auf dem Verlaufsskript zu Prologue von The Deafman Glance: 'Birdwoman turns to table'.

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Licht-Anweisungen der ersten Liste tragen den Vermerk 'Iowa' und gehören wohl deshalb in das Umfeld des erstgenannten Datums. Sie beinhalten entweder die ursprünglichen Ideen oder eine von deren erste Korrekturen - und bilden damit - für Wilson typisch - vermutlich nur die Fassung dieser Produktion, die verschriftet wurde. The Deafman Glance wurde ja - wie nach ihm auch Einstein On the Beach, The CIVIL warS und Hamletmachine - in unterschiedlichen Versionen aufgeführt.253 Hier die Lighting Sequence and Description zum Freud-Play des Deafman Glance aus Iowa: I

II -

2 Follow spots on grey wall curtain up Enure stage is filled with bright light, bright as noon, and even, all over the stage. Make sure there is light up high, too, to illuminate the foot walker [...]. When mammies come out - the light becomes romantic. It dims and turns to an icy blue as the mammies exit. This act or section is more complicated: there are 5 horizontal zones of light which define divisions in which activities take place. From all the way upstage bright, bright, golden sunlight (in what will be called the 'beach') next layer, called 'inside the cave', grey light all the way across next (see attached diagram) yellow light on the haystacks next, at the time of the entry of the 'special mammy' from SR, a strip or wall of burgundy colored light next and last, which would be all the way downstage, white light Curtain comes up on a darkened cave scene. From the opening of the cave, strong bright shafts of light stream into cave. These would be mounted on poles at SR (see diagram #1). Gradually the entire area outside the cave (section one in diagram) fills with wann, dim light. Some illumination comes on in the area where we have created a small mound on which will sit various animals and the King of Spain. When Freud makes his entrance, the lights dim, he sits, and a shaft of bright, very bright white light comes straight down on the top of his head.254

253

Laurence Shyer führt zu The Deafman Glance auf, daß Länge und Komposition dieser Produktion von Aufführungsort zu Aufführungsort wechselten, d.h. es existieren unterschiedliche Bühnenarrangements und -verlaufe, die dem Titel The Deaftnan Glance subsumiert werden. In einigen Städten wird beispielsweise die hier aufgeführte Mord-Sequenz als Film über die weiterlaufende Bühnenhandlung geblendet. "The length of the performance varied from city to city. In Nancy, Amsterdam and Paris The Deafman Glance and The Life & Times ofSigmund Freud were combined to form a single work. Overture for a Deafman1, an eight-minute black-and-white film depicting the murders seen in the Prologue, was shown during the performance. Wilson shot this film in an empty house in Iowa City with Sheryl Sutton as the ByrdwoMan." Shyer: Collaborators. A.a.O., S. 294. 254 Lighting sequence and Description The Deafman Glance (Iowa, Dec. 15, 1970) aus den 'General Notes' zu The Deafman Glance. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance. 291

Es folgen nun die Handlungs-Notationen zu der Nahtstelle: Freud-Deafinan aus Iowa, bzw. New York City. Prince + Princess to box curtain

Raymond and G.W. [Goatwoman] exit SR messenger runs downstage S.R. red runner upstage S.L. [=stage left] messenger runs downstage SL red runner US [upstage] (+ continues) 1st Vpartmover SL turtle SL 2nd 7partmover SL 3rd Tpartmover SL Jessie [Gilben] enters play SL Bob with bird enters SL 3 bears enter SR Bob + bears exit SR Hope [Kondrat] (SL) + Kid (SR) enter Hope (SR) + Kid (SL) exit Richie Gallo [Star] enter SL 2 snake men enter SL 1 snake man flies

[=stage right]

1 snake man exits SL

Richie Gallo exit SL (+ Jessie) old woman enters SR angel down old woman exit SR angel flies Anna + Freud enter SL Heavyman [Andrew de Groat] enters SR as Anna + Freud exit SR turtle exit SR Heavyman exit SL 1st mammy enter SL child mammy enters SR mammy chorus SL then SR mammies dance drawing room drop up Sheryl [Sutton] to table

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Robert Wilson: handschriftliche, seitennumerierte, allerdings nicht-datierte Aufzeichnungen zum Ablauf des Beginns des ersten Aktes von The Deafman Glance, d.i. der 4. Akt des Stücks (nach den drei Freud-Akten). S. If. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance.

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Hier die Deafman-Props: On platform when house opens: Bird Woman (Sheryl) and 2 children Bird Woman stands facing U.S. (up[per] stage) Boy sits on low stool, reading comicbook Sound of piano chord (live) Bird Woman turns to table wears red glove puts on black pour Glass of Milk from bottle xr [=walks right] to boy, give him glass χ to table, pick up knife pick up cloth, wipe knife χ to boy CUE: Raymond Raymond enters SL Bird Woman stabs boy / Raymond 'screams' Bird Woman χ to table, pour 2nd glass Milk χ to girl on floor, wakes girl wipes knife while girl drinks milk stabs girl (2nd murder) χ to table put glass down Raymond is screaming. Bird Woman puts hand on his forehead, drops hand over Ray's mouth Raymond closes mouth Bird Woman & Raymond χ to center of wall drop. As they face U.S., wall rises. Fly CUE 1, Sound go We see: 9 Ladies slouching in chairs white birds on their fingers - Pjano. & Bench. Alan Loyd playing - Pink angel with wire SR - Goat woman - Mary Peer (Woman with Arrow in Hair) SR holding a black veil Bench with string attached Princess sitting on stool 8:00 As the wall rises, Ladies sit up and raise fingers with birds, Mammy plays moonlight sonata Sound go Angel χ backwards SL Raymond SX (slowly walks) SR to bench & sits Flying movement [...I256

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The Deafman Glance-Pfops. Betitelt: Deafman. 15-seitiges Requisitenbuch des 4. Aktes von The Deafman, Glance mit Zeitangaben. S. 2f. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. Υ., Box: ΙΠ-4 Deafman Glance. 293

Natürlich kann man, wenn man will, auch bei Robert Wilson versuchen, den Dingen hinter den Dingen nach dem interpretations-geschulten Verfahren der Hermeneutik auf die Schliche zu kommen. Man wird dann für die oben gefaßte Szene tatsächlich eine sinnstiftend gesetzte Verbindung artifizieller Momente erkennen.257 Die Lebens-Todes-Thematik hält sich als Motivreigen - über Aktion, Farben und Figurenkonstellationen, Momente des Zeigens und Gebens stringent durch und wird, akribisch in der Form, in einen Kontext eingebunden, der das Arrangement eines vordergründigen Mordes zugleich bricht und neu faßt. Es wird auf diese Weise in einen Aussagezusammenhang gebracht, in dem das Aussagemedium selbst, nämlich Kunst, sich als die Instanz zur Durchbrechung der aufgezeigten Stagnation des 'Falschen Lebens' anbietet. Die in der Mordsequenz unmittelbar erlebbare Spannung eines doppelten double bind, nämlich einer weiße Milch reichenden, dann mit schwarzem Handschuh mordenden (schwarzen) Frau, wird keineswegs mit den Morden aufgelöst.258 Sie wird - im Gegenteil - zu einem Topos kondensiert, dabei vervielfacht und in einer Kettung des Identischen zeiträumlich gedehnt durch die dem Zuschauer neunfach gezeigten weißen Vögel, die als Vögel das Motiv der Mörderin (Bird-BirdwoMan) und in der Farbe ihres Gefieders die der Milch wiederaufnehmen. Das darauffolgende Bild, das von den 9 Ladies dominiert wird, die dieses Todesmotiv tragen, wird ja als ein Ensemble gezeigt, das die bereits aufgeführten Bildmomente, lediglich auf andere Objekte verstreut und zu Emblemen gefroren, handlungslos wiederholt. Die Ladies sitzen wie der Junge, sie zeigen die Vögel. Die Mondlichtsonate, eine Abend-, Nacht-, Todesparaphrase, spiegelt als Musik die optisch gebotene Schwärze der Mörderin. Die Prinzessin, eine Wiederaufnahme des (erstochenen) Mädchens, wird mit dem Hocker des ersten Mordopfers verbunden. Insofern muß dieses neue Ar257

Allerdings ist Vorsicht geboten. Aussagen dürfen sich nur auf die hier aufgeführte Version dieser Bühnenvorgänge beziehen, nicht auf die Gesamtproduktion The Deafman Glance. Denn diese Szene leitet so nicht in allen The Deafman G/ance-Aufführungen von Freud zum Prologue über. Genannt wurde schon die Version als Film, Cindy Lubar beschreibt eine andere Fassung der Mord-Sequenzen, hier ohne Reichung des Milchglases: "Sheryl Sutton as the Byrd-Woman stands with her back to the audience. [...] Sutton stands for several minutes after the audience is settled and focussed on the scene. She then turns and with extreme slowliness [!] picks up a glove and puts it on her right hand. [...] Raymond enters and stands on the edge of the stage, the Byrd-woman slowly stabs the boy: Raymond screams. After a second child has been murdered as well, Raymond screams continuously until the ByrdwoMan places her hand on his forehead, then drops the hand over his mouth. Sutton performs these actions very slowly but sometimes shifts gear and moves with lightning speed. Other times she does all movements while chewing gum very rapidly." Cindy Lubar: Kapitel IV: The Deafman Glance. A four act play. A.a.O., S. 4f. 258 Diesem Spannungsmoment des double bind durch Handlung korrespondiert sicherlich die alternierende Konfrontation von Flüssigkeit und Stahl (Milch-Messer), die über die Frau, der tötenden Mutter (Milch-Mord), aufeinander gezwungen werden. 294

rangement von bekannten Motiven, das sich als Sukzession auf die vorangehende Mordsequenz gibt - die Wand zwischen Leben und Tod wird ja aufgehoben - wie eine Parabel, eine ledigliche Reduplikation des durch die Lebensopfer erreichten status quo erscheinen. Anscheinend enthält diese Sequenz damit nichts als übergangslos aufeinander gezwungene und damit extrem kontrastierte, ja kontradiktorische Metaphern auf zugleich Leben und Tod, die dennoch über die Orte ihres Aufeinandertreffens (Bird-BirdwoMan) korreliert und damit komplementär gesetzt werden. Diesem augenscheinlichen Zustandsgemälde eines harrenden Todes, der - auch im Wortsinn - nature morte, kommt jedoch eine Scharnierfunktion zwischen zwei chiastisch gesetzten Bild-Erzählebenen zu. Denn ein Element in diesem Zwischenbild erweitert die dargebotenen Momente um eine agierende, transzendente Größe, die das Geschehen indes auch nicht linear fortschreibt, sondern es, wie der Figur gewordene Einspruch gegen die Zeit, gleichsam wieder zurücknimmt. Der Engel läuft rückwärts, als ob er, christliches Sinnbild für den Wahrer, Weiser und Wächter einer nicht- oder nach-irdischen Existenz, den Tod aufheben wollte und könnte. Selbstverständlich ist auch dieses Motiv ambivalent besetzt, denn es trägt ja in der rückwärtsgewandten Bewegung auch ein Element in sich, das retro-spektiv ist. Der Engel betrachtet ja trotz seiner Bewegung ausschließlich und unverwandt den eigenen, schon zurückgelegten Weg und schaut damit auf seine Herkunft, deren er sich sozusagen immer wieder neu vergewissert. Unbekannt ist dieses Motiv nicht. Am deutlichsten gefaßt ist es im Benjaminschen 'Engel der Geschichte' aus dessen Geschichts-Reflexion zum 'Angelus Novus' Paul Klees. Danach wird dieser Engel vom unaufhörlichen Sturm der Zeit immer weiter aus dem Paradies vertrieben; er kann nie innehalten, um "die Toten [zu] wecken und das Zerschlagene zusammen [zu] fügen",259 aber einzig er erkennt Geschichte wahrhaftig, nämlich als Häufung von Trümmern auf Trümmer, die sich zur wirkmächtigen Katastrophe der Menschheit 259

"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussiebt, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Gesammelte Schriften. 12. Werkausgabe Bd. 2. Frankfurt 1980. S. 691 - 704. Hier: S. 697f. 295

addieren. Insofern besetzt dieser Engel in dem Bild Wilsons, der hier nicht mit, sondern gegen die Geschichte läuft, einmal die Position einer Instanz, die das Konglomerat inhaltlich identischer Motive durch sein Rückwärtsschreiten konterkariert, ja zurücknimmt. Er annihiliert folglich Zeit - und hebt mit seiner Aktion die Morde des vorher gezeigten Bildes auf. Zum anderen signalisiert diese geerdet-erdende Figur (angel with wire!), die eine (jede?) erzählte Geschichte begleitet, ein Grauen aus Erkenntnis, die von einem besseren, nämlich tatsächlich anschauenden Wissen gespeist wird: durch ihr Rückwärtsschreiten belegt sie das sich ihr bietende Trümmergebirge des bis dahin Erreichten, den perpetuierlichen Homizid, mit dem stummen Kommentar eines einsichtigeren Wissens aus einer demnach nicht-involvierten, nicht-involvierbaren anderen Sphäre oder Zeit. Der Engel nimmt damit eine Haltung ein, die sich - wie noch gezeigt werden wird - in der künstlerischen Struktur, der Machart des an dieser Stelle betrachteten Ausschnitts wiederholt. Er ist, indem er zurückgeht260 und sieht, imstande, ein Wesentliches oder den Kern des sonst lediglich durch Reihung des Identischen angereicherten, also zum Zustand aggregierten Ort des permanenten Verbrechens in Erfahrung zu bringen. Während also Frau und Vogel - als dauerhaft ausgewiesene - Inkorporationen eines (ver-)nichtenden Lebens darstellen, dessen Erkennen und Erleben den Taubstummen Raymond 'schreien' läßt, markieren der dieses Bild von rechts nach links (durch-)kreuzende Engel und seine rückwärtig ausgerichtete Bewegung eben jene Schaltstelle, die Zeit und Geschehen sowohl ihrer Richtung enthebt, nämlich zurücknimmt, als sie auch sie (dadurch?) mit der zu genauerem Wissen gelangenden (zukünftigen?) Möglichkeit einer exakten Betrachtung versieht. Künstlerisch formal ist die Einbettung des Engels als Lebenstopos in die Umgebung eines - durch spiegelbildliche Doppelungen erreichten - fixierten Todes eine kontrapunktische Setzung. Sie ist Produkt eines kompositorischen Willens und folglich Ausdruck einer Beherrschung des Materials. Gerade wegen seiner gehobenen Künstlichkeit bezeugt der Stoff noch seine Kopplung an den einen Ursprung, dem alle Bild-Teile sich verdanken: die zweifache Reichung von Milch, der Doppelmord, gefolgt vom Aggregatzustand eines neunfachen, sich nur mühsam zur Selbstdemonstration erhebenden Todes (Ladies slouching in chairs ...sit up and raise fingers with birds) sind wie die (Zeit-)Erlöserfigur des Engels artifizielle Produkte der Kunst. Insofern 260

Erinnert sei auch an die Sprach-Metaphorik des Wortes zurückgehen, das ja ebenfalls eine Rückkehr zu Ursprüngen, im Sinne einer konzentrierten Forschung bedeutet. Vgl. hierzu: die bereits zitierte Stelle zur Ausrichtung der Arbeitsweise der Schauspieler Wilsons: "It involved going back and 'releaming' very simple movements that had become distorted in the course of day-to-day life by various anxieties and inhibitions."

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begreift diese setzungsmächtige Kunst den stummen Ausdruck des Jungen noch in sich, dem sie sich durch ihre eigene Faktizität entgegenhält - als diejenige, die mit einem Mehr-Wissen ausgezeichnet ist, das sich eben auch in der Form niederschlägt, die einen Schrei stumm sein lassen kann. In diesem Stumm-Sein des Schreis liegt bereits der Kommentar zur tatsächlichen Bedeutung seines Auslösers, den 'Raymond' - als funktionales Element dieser Konstruktion - nicht erfassen soll. Ihm wird ja auch vom Tod=Leben abschließend der Mund verschlossen. Einzig Kunst - immer unter der Voraussetzung, sie wäre noch werkgebunden - bringt das Kunst-Stück zustande, dieser als nature morte deklarierten condition humaine durch ihre Form und dem freien Spiel sinn-bildend zu entgehen: sie kann einen Rekurs der Zeit initiieren, dabei einen status quo schreitend widerlegen und eine Perspektive einnehmen, die eigen, unabhängig, unberührbar, nicht-involviert ist und von ihrem tieferen Wissen gespeist wird. Die Richtung und die Kraft ihrer Bewegung wird verdeutlicht im Rückwärtsschreiten des Engels, der ja den Leben-wie-Tod-Bereich der Ladies durchkreuzt. Insofern stellt sich Kunst selbst mit dieser Sequenz dar als diejenige, die - formal ausgewiesen - mehr über Leben/Tod weiß, und sie bespricht darüber hinaus auch ihre eigene diskursive Rolle innerhalb dieser zu Tode geronnenen Gesellschaft. Denn die Motive Leben/Tod werden in dieser Sequenz nicht als punktfixierte oder zeit-räumlich determinierte Antagonismen belassen, sondern - aufgenommen auch in das darauffolgende Bild - als Pole innerhalb eines Zyklus1, besser: eines spiralig gewundenen Zyklus' begriffen. Das Moment des Todes im und als Leben im Bild der Milch reichend mordenden, schwarzgekleideten, schwarzen Frau wird ja bereits inauguriert im Wechsel der Handschuhfarbe der BirdwoMan von (Blut-)Rot zur (Todes-)Farbe Schwarz. Und dieser semantisierbare Farbumschlag wird abschließend im dritten Bild dieses Vorspiels zum Prologue wieder zurückgenommen: 'Bird-Woman' wird in Folge auf die bereits zitierten Abläufe ebenfalls etwas übergeben, nämlich eine Amsel, und sie wechselt darauf ihre Handschuhe wiederum zur Blut-Lebensfarbe um. Magician enters w/ small baby carriage & Baby ape in it, And Blackbird. He gives Blackbird to Bird Woman. Birdwoman takes off black glove revealing red glove. Magician backs off S.R.261

Daß Rot in den Bereich Leben gehört, belegt nicht nur die (freie) Assoziierbarkeit dieser Farbe mit Blut, sondern auch das Gewand des für kunstbewirktes Leben stehenden Engels, das pinkfarben ist, also eine additive Mischung aus Rot und Weiß darstellt. Insofern konnotiert der Engel als Allegorie für wis261

The Deafinan Glance-Props. A.a.O., S. 3. 297

sende Kunst mit seiner Bewegung und seinem Gewand auch die Möglichkeit einer Vereinigung, ja Steigerung aller Lebens-(Farben-)Bereiche zur Intensivform einer erkennend agierenden Größe eigenen Rechts. Formal - durch den Setzungsanspruch, -willen und die Wissens-Kompetenz der Kunst - wird mit der Amsel-Übergabe also die Wiederherstellung einer Ausgangslage eingeleitet: ein status ante rem allerdings, der bereichert ist um den Fingerzeig eben dieses kunstmöglichen, durch Kunst erworbenen, zu erwerbenden Wissens. Diese Offerte wird deutlich in dem doppelten Farbe-Motiv-Chiasmus: werden die Farben Weiß und Rot für Tönungen genommen, die dem Bereich Leben zugeordnet sind, dem das Schwarz des Todes entgegengesetzt wird, so sind Farbverläufe der Szenenobjekte auszumachen, der die Lebensfarbe Weiß zuerst in der gereichten Milch und dann in den neun Vögeln der Ladies erscheinen läßt. Da die Vögel aber auch als Inkarnationen, Metamorphosen der schwarzen BirdwoMan gelesen werden müssen, fungieren sie als Signal-Objekte zum Ausweis einer durch Kunst festgestellten Lebens-Todes-Ununterscheidbarkeit, die ja auch durch die stasis der Vogelträgerinnen bedeutet wird. Da dieses ambivalente Motiv durch die Übergabe der Amsel schließlich farblich in den 'schwarzen Bereich' der BirdwoMan umschlägt, dieser aber übergeben wird, wird also das 'Falsche Leben' als 'der Tod1 wiederum selbst - sozusagen mit den eigenen (Farb-)Mitteln - getötet. Tatsächlich wird die Figur des sinnlos vernichtenden Lebens - symbolisch und nach Motiv und Farbe des Mittels - sogar doppelt getötet - sie erhält ja einen schwarzen Vogel, das Kondensat der Todessignale aus den ersten beiden Bildern -, wird damit allerdings nicht zum Tod überhaupt überhöht, sondern in eine neue, indes durch - wiederum als ursprünglich, unbelastet, natur-belassen ausgewiesenes - Wissen bereicherte Neu-Formulierung des Lebens gewendet. Denn nach der Vogelübergabe wird ostentativ die Handschuhfarbe von Schwarz ins Rot zurückgenommen, ein Rot allerdings, das jetzt das Gewand des Engels passiert hat, damit schon "kunst-benetzt1 ist. Gestützt wird diese Interpretation einer bildhaft vermittelten Spirale der Rückführung, die dem 'Falschen Leben' zu einer durch Kunst ermöglichten Selbst-Erkenntnis verhilft, damit zu einer ÄwcJtbesinnung, die Fortschritt ist und Forrgang ermöglicht, nicht nur 'formal' dadurch, daß Kunst sie eben durch ihre Form aufzeigt. Es ist der Überbringer des schwarzen Vogels, der Zauberer, der das (Affen-)Baby mit sich führt, der als Variation und Ausfaltung des Engel-Motivs wie der Antipode zu BirdwoMan erscheinen muß. Er steht ja nicht - wie sie - in Opposition zu einem nachgeborenen Leben, sondern führt es mit sich. Er tötet - symbolisch - den Tod (BirdwoMan) und mordet nicht - unmittelbar Leben. Daß er BirdwoMan einen schwarzen Vogel reicht, ihr also die eigene Doppelung (Bird + Schwarz) zurückgibt, legitimiert den Analogieschluß, nach 298

dem - dem Kunst-Programm Wilsons gemäß - das Falsche Leben nur dadurch zu eigener, selbstgewinnender Aktion gebracht werden kann (Handschuhwechsel), daß es sich selbst intensiviert (Dopplung) wieder erfährt, bzw. als Wissen vor sich selbst gebracht wiederum geschenkt wird (Wechsel von Schwarz zu Rot). Behauptet die Figur des Engels in Bild 2 die Hoffnungsposition der Kunst, die einzig, rückwärtsschreitend, erkennt, so wird dieses Motiv nun in das des Zauberers transformiert, der - folglich als der Künstler - sein Erkennen - allerdings als gespiegeltes Leben - weiterreicht. Der anschließende Handschuhwechsel von BirdwoMan bezeichnet wiederum das Kipp-Motiv: vom Tod zum Leben und damit aber - auf einer Spirale vorangeschritten - zu einem kunstverzauberten, erkannten Leben. Begleitet wird dieser Zauberer-Künstler zur Erfahrung des Selbst von einer Urform des Lebens, dem Affen-Baby, dessen nicht-humanes Sein fast plakativ signalisiert, daß es diesem Künstler mit seiner Arbeit gelungen ist, extradiskursive Bereiche des Wissens zu erschließen, damit Existenzweisen und Lebensformen aufzudecken, die ursprünglich, authentisch und nicht korrumpierbar zu sein scheinen. Und hierin liegt denn auch die Parallele zum Programm Wilsons. Die Übergabe des Vogels, die eine Spiegelung des 'Falschen Lebens1 als Wissen meint, entspricht der Oberflächen-Erkundung und -Vorführung des umgebenden Raumes der Dinge, die Wilson mit seinem Theater vornimmt, um das dahinterliegende Eigentliche, die Sache (wieder) zu finden. Insofern besteht auch bei dem Zauberer-Künstler eine Lebens-Todes-Äquivalenz, eine bis zur Identität reichende Nähe des Lebens mit dem Lebens-Tod (er spiegelt, steigert ihn ja in seinen Hervorbringungen); intendiert ist allerdings die Umkehrung, die eine Todes-Lebens-Rückführung bedeutet. Wird dieser Deutung zugestimmt, dann können jetzt aus kunstgesetzter Perspektive spezifische Positionszuweisungen und Rollenverteilungen für den Diskurs Kunst in ihrer Funktion für die umgebenden Diskurse nachvollzogen werden: dem sonst vielfach triumphierenden, allerdings statischen Tod-Leben wird von dem Künstler (Zauberer), der ein nicht involviertes, extradiskursives Wesen in einem Vehikel transportiert, selbst der Tod zum Leben zugewiesen. Der (Zauberer-)Künstler steht in diesem Fall natürlich als Sinnbild für Robert Wilson; der Kinderwagen, eine Inkunabel der Eigentlichkeit, steht für das Theater, in dessen Inneren ja eine diskursiv nicht korrumpierte, nicht-korrumpierbare Größe ruht, die von ihm transportiert wird, die aus ihm heraus zur Ansicht kommt; Raymond Andrews steht für dieses Baby, das - wie von einem diskursiven Außen - jenes 'unimaginable new mode of representing the world' (F. Jameson) gewährleistet, der schwarze Vogel, der später auch als WilsonZeichnung im Programmheft von The Life & Times of Joseph Stalin auf-

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taucht,262 steht für Kunst, die diesen Spiegel, diese artifizielle Dopplung eines ungenügenden Lebens vor Augen führt und BirdwoMan für jenes erhaltendmordende 'Falsche Leben', das dem Wissen nur durch Kunst als unendlich wiederholendes decouvriert, vor sich selbst gebracht und damit entmachtet werden kann. Eine dem Kunstwerk verhaftete Rezeption kann die Bildwelt dieses Ausschnitts so lesen. Sie müßte sich allerdings fragen, wie sie ihre Selektion legitimiert, die Bildmomente nur nach Verständlichkeit assortiert, und was die Basis für die Produktivkraft ihres Wissens ist. Denn tatsächlich ist ja unbegründbar - eine Menge Bild-Material aus dieser Sequenz unberücksichtigt, das heißt ja auch un-gewußt, geblieben. Diese Interpretation präsupponiert ein Objekt, ein Ding, an das sie angelegt sein will und suggeriert ein mögliches Maß an einer Stelle, an der vielleicht gar nichts zu bemessen ist. Dennoch hat auch diese Interpretation im Sinne Wilsons - als eine der möglichen Rezeptionsweisen - funktioniert: sie hat ihr Wissen vor sich selbst gebracht - sie hat ein cognitive mapping an sich selbst vollzogen, das allerdings nicht die reine Entität des Gezeigten als Sache erlebt, sondern aktiv die Verflechtung semantisierbarer Bildebenen zum Ding hinter Dingen erhoben hat. Sie hat ihren Diskurs nicht verlassen: sie war interessiert, hat in-formiert und augenscheinlich Form auf Gehalt, tatsächlich aber lesend immer nur auf sich selbst verwiesen. Die Gegenwart als - vergangener - Krieg. Die CIVIL warS Die CIVIL warS sind als multinationales Theater-Ereignis konzipiert worden, das seine eigentliche Realisierung allerdings nie fand. Geplant war, die sechs Sektionen, aus denen es besteht und die in ihren einzelnen 'Bestimmungsländern' jeweils aufgeführt wurden, in Los Angeles anläßlich der '84er (Theater262

Begleitet wird der bereits zitierte Imperativ 'Please Compose' im Programmheft zur New Yoiker Aufführung von The Life & Times of Joseph Stalin [B AM, Dez. 1973] von einer Tuschezeichnung Wilsons, die den Kopf und eine Kralle einer Krähe zeigt - und so den Imperativ zum generellen Appell transformiert, 'Kunst' überhaupt herzustellen. Daß dieser Appell das 'Programm'-Heft ziert, macht nun deutlich, daß der Aufruf zur KompositionsArbeit an Kunst tatsächlich programmatisch an die Rezeption ergeht. Ein weiterer Hinweis auf die durchgehaltene Symbolik des schwarzen Vogels als Kunst ist dem Programmheft des The Deafman Glance zu entnehmen. Dort wird der schwarze Vogel in eine Motivkette gebracht, die den endgültigen Sieg der Kunst (hier: Musik) über den Tod, das falsche Leben, impliziert: "New York City notes, Jan. 1971: ...Blinding winding. The black bird sings of his battle with the snake. All creatures must die, be buried and rotten. Kings and heros [!] die, are buried and rottun [!], he last shall die, be buried and rottus sanctum [!]. But the song! Again and again shall live 'Whooootom'." Programmheft: The Deafman Glance, BAM, Feb. 25 & March 5, 1971. Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: III-4 The Deafman Glance.

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Olympiade, einer Parallel-Veranstaltung zum Sportfest, als ein etwa 12 Stunden dauerndes Gesamtwerk aufzuführen. Gescheitert ist dieser Plan jedoch wegen Geldmangels.263 Die Uraufführungen der Teile wurden (in dieser Reihenfolge) an folgenden Plätzen gegeben: Rotterdam, Köln, Tokio, Marseille, Minneapolis und Rom. Es gibt in Akt l, Szene A dieser CIVIL warS, die in Köln gezeigt wurde und die natürlich auch den Auftakt zu den gesamten CIVIL warS, nicht nur des Kölner Teils bildet, die Nachstellung der Erschaffungsgeste des berühmten Michelangelo-Freskos: die Annäherung der Zeigefingerspitzen, die hier allerdings zwei Menschen an sich wiederholen. Diese Ursprungs-Gebärde reißt für das Umfeld, in das sie gebettet ist, einen völlig anderen Horizont auf, als das in Köln an vorletzter Stelle plazierte Ambivalenzlachen des SmilersArrangements. Die hier vorgenommene Dislozierung dieser beiden Bildereignisse, die doch in einer Produktion zu sehen sind, erfolgt mutwillig, um die qualitative Differenz und Eigenständigkeit beider 'Felder' herauszustellen und jeden Eindruck von hypostasierter Werk-Zusammengehörigkeit, von narrativem Strang oder kontinuierlich erfahrener Notwendigkeit innerhalb einer Produktion zu vermeiden. Die Werk-Erfahrung, die dennoch mit den CIVIL warS gemacht wurde, ist eine absolute Ausnahme und auch für sie gilt, daß die 'Einheit1 der CIVIL warS nur über die oben genannte Verbindungslinie, die Smilers funktional in die CIVIL warS einbezieht, gewährleistet ist. Diese Sichtung des Michelangelo-Details der Zeugung und die Auslegung und Ausrichtung weiterer CIVIL warS-Bild-Teile zu einem Mosaik befinden sich - wie immer bei Wilson - auf ungeschütztem Interpretations-Gelände. Die Erschaffungsgeste wird von zwei Astronauten nach vollzogen. Sie schweben neben und hangeln an Leitern, vor denen eine Schildkröte den Bühnenraum kreuzt. Hinter ihnen ist die schwarze Silhouette eines gigantischen Atlanten-Afrikas zu sehen. Rechts von ihnen befindet sich "friedrich der große" vor einem "eisberg" und gibt Laute von sich: "hung langa/hung langa /so nosfrung gatton /frung gatton", sagt er und gleich darauf: "bitter versayen / bitter versayen / bitter versayen / bitter versayen l meine reise ging zuende".264 Tatsächlich kann diese Finesse als Ouvertüre zu einem Generalthema 263

Johannes Birringer hat in diesem Zusammenhang generell vom "glamour of high risks and high budgets" gesprochen, der Künstler wie Wilson letztlich zu 'Maschinisten' der "'artworld' marketing machinery" degeneriere, zu einem Bedienungspersonal, dem Marktkonfonnität gerade auch um der Kunst willen abverlangt werde. Johannes Birringer: Postmodern Performance and Technology. In: Performing Arts Journal. 10th Anniversary Issue: The American Theatre Condition. 26 u. 27, Vol. IX, Nrn. 2 u. 3. S. 221-234. Hier: S. 224. 264 Text zitiert nach: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 71. 301

der CIVIL warS gelesen werden, das schon der Name der Produktion ankündigt: sie eröffnet die Kriege der Bürger. Wird dieses Eingangstableau metaphorisch gelesen, dann liegt mit ihm das Sinnbild eines Ursprung-Endes vor. Es hebt einen in der CIVIL warS-Produktion dann in Variationen thematisierten Weltzustand als Bogen zwischen antipodischen Extremen - Alpha et Omega - hervor, den allein schon der gewölbte Panzer der Schildkröte - ihn doppelnd - bildhaft ver-körpert. Der schwarze Kontinent kontrastiert dem weißen Eisberg, der 'stumme Fingerzeig' dem Lallen Friedrichs, das - im ersten Satz des Eröffnungsbildes! - in der verbal vermittelten Feststellung seines Endes gipfelt. Betrachtet man Afrika nun als den Ursprungskontinent schlechthin, als Inkunabel jeder Kultur (dort lebten die Titanen für die Griechen und für sie stemmte Atlas von dort die Welt) und deutet man die Schildkröte als das (hinduistische) Sinnbild für den Träger der Welt, so wird einsichtig, daß die beiden dazugehörenden, neben, auf den Leitern (der Erkenntnis) schwebenden Menschen, die die Erschaffungsgeste reduplizieren, für eine archaische, ursprungsbeheimatete, allerdings stille ('power of stillness'!) Kultur stehen, die das end-gültige Blöken dieses 'Kalten Fritz' auf seiner Eiswüste konterkariert, dessen Reise ja bereits (Vergangenheitsform!) zu Ende ging. Das Wilsonsche Denken eines eigentlichen Sprach-Unvermögens der Sprache wird hier ersichtlich. Die Gegenzeichnung von Schwarz und Weiß dieses Eingangsbildes und die angehängten Assoziationsfelder von Wärme und Kälte, die den Antagonisten je zugeordnet werden, tun ein übriges, dieses Eröffnungsbild zum Programm der CIVIL warS zu stilisieren. Beschrieben werden kann diese Metapher demnach als spannungsgeladene Komposition aus einerseits dem Sinnbild für den programmatischen Satz Ezra Pounds zur Vierten Dimension der Stille', in der sich für Wilson jene - hier so bezeichnete - 'natürliche Zivilisation' mittels ihrer stummen Kultursprache der Kunst (Michelangelo) artikuliert, der andererseits der explizite Ausdruck der kalten, kriegerischen, indes vergangenen Un-Kultur eines ratiodominierten Diskurses (friedlich II) kontrastiert. Denn friedrich wird im fünften Teil dieses Aktes in ähnlicher Positur in einem Miniaturberlin gezeigt, hinter dem "40 Soldaten, knien, feuern, fallen",265 während er dazu die Litanei des mechanischen Tötens, die Feuerfolge preußischer Pelotons herunterbetet. In geradezu quälender Exaktheit wird die Schlachtordnung einzelner, durchnumerierter Heerteile der friderizianischen Armee dargelegt. Wenn die Szene abbricht, ist ein einsamer Imperator vor einem Leichenmeer zu sehen, dessen stockgestützte Herrscherhand blutrot erstrahlt. Sein Heer ist nach eben jenem akribisch ersonnenen Reglement in den Tod marschiert. 265

Ebd. S. 90.

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Die CIVIL warS - wie alle Arbeiten Wilsons - sind aus vielen, ansonsten flüchtigen Realitätsversatzstücken des 'gewohnten Weltverstehens' zu einem gigantischen Patchwork montiert. Eben weil dieses Theater aus den optischen und akustischen Objets trouvoes', den Kindheitserinnerungen, Alpträumen, den Archiven der Phantasie, der Kunst und der Geschichte zusammengesetzt ist, mutet es so vertraut wie fremd an. Die Montage historischer Persönlichkeiten oder Ereignisse: Lincoln, Friedrich II., General Lee, die Hopi-Indianer, der amerikanische Bürgerkrieg; das direkte literarische Zitat: 'Erlkönig', 'Machandelboom', 'Candide', 'Heinrich IV, 'Phädra' bewirken, so verblüffend es klingen mag, daß man die CIVIL warS eigentlich schon kennt, bevor man sie gesehen hat. Für die CIVIL warS bedeutet diese Bekanntheit allerdings etwas. Sie dient nicht in erster Linie der Sache, sondern dem Auf weis von Schauplätzen - und das sind hier Kriegs-Schauplätze. Bildzitate stammen aus Märchen und Nachrichten-Sequenzen: 'Little Dorothy', der 'Hahn' aus den Stadtmusikanten, der 'Thin Man' aus 'Wizard of Oz'; die Iran-Krise, der Ungarn-Aufstand, die Sprengung der Neubausiedlung in St. Louis etc. Sie durchziehen die Darstellung historischer Kriegsereignisse und die Reportage vom alltäglichen Horror der Kämpfe um Macht, Einfluß und Herrschaft: der Mord an Lincoln (Akt II,c) der historische Civil War, das niedergemachte Richmond, ein Kriegs-Hospital (III,c) Vorbereitungen zur Schlacht (III,e), Napoleonische Feldzüge, die Schlacht von Dan No Ura (Japan 1185), Weltkrieg I, die Zerstörung der Universität von Madrid durch die Legion Condor (1936), Friedrichs Ritt auf Dresden (1756) (IV). Nicht nur die achronologische Zitation historischer Kriegs-Groß-Ereignisse erweckt den Eindruck von einer Allgegenwart des Krieges in der Geschichte der Zivilisation, sondern gerade auch die Beimengung der kleinen, privaten Kämpfe und Auseinandersetzungen des Alltags. Eben nicht nur im Herrscherhaus (IV,a),266 sondern gerade auch in der Gemeinschaft der ordinary people, in der Familie (I,b; IV,a) bei der Arbeit (IV,a), auf der (Unterwasser-)Straße (III,a). Der Text des 'weißen Scriben' im IV. Akt zeichnet das Bild der Allgegenwärtigkeit eines weiteren Krieges: Mensch gegen Natur. Er thematisiert den Aspekt eines irrwitzigen Vernunftgebrauchs, der eine, hier in sich selbst zirkulierend vorgeführte SprachSprache hervorgebracht hat, der die sinnlose, quasiphysikalische Definition der Arbeit gelingen kann. Der Sisyphos-Mythos wird vermessen: 266

Gemeint ist zum Beispiel jene Zurechtweisung des Kronprinzen Friedrich durch seinen Vater, der "keinen effiminieiten Kerl leiden kann, der keine menschlichen Inklinationen hat, der sich schämt, nicht reiten noch schießen kann und dabei malpropre an seinem Leibe, seine Haare wie ein Narr irisieret" Ebd. S.117.

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Immer den gleichen Stein den immer gleichen Berg hinaufwälzen. Das Gewicht des Steines zunehmend, die Arbeitskraft abnehmend mit der Steigung. Patt vor dem Gipfel. Wettlauf mit dem Stein [...] Das Gewicht des Steins relativ zunehmend, die Arbeitskraft relativ abnehmend mit der Steigung. Das Gewicht des Steins absolut abnehmend mit jeder Bergaufbewegung, schneller mit jeder Bergabbewegung [Regieanweisung:] ad infinitum.261 Dazu gibt es immer wieder Momentaufnahmen des 'Falschen Lebens1, Szenen, die die Mächtigen (und Über-Mächtigten) isoliert und einsam oder bei der Exekution absurder Handlungen zeigen. Es sind eindringliche Denkmalszenen der Verlorenheit und Verkommenheit personifizierter Macht: General Lee reitet allein auf dem Skelett seines Pferdes Traveller' (II,a); der - bereits erschossene - überdehnte ('tall') Lincoln bewegt sich langsam auf das Todessymbol einer Schnee-Eule zu, erreicht es und kippt (IV, Epilog); Friedrich II versteckt sich unter seinem Thron, stirbt mit stummem Schrei und erschießt danach seinen Hund (IV,a). Die letzte Bilderserie zur Unterdrückung sogar der Mächtigen durch Macht, der sinnlosen Tötung und der qualvoll tonlosen Agonie wird eingeleitet von einem Eisbärtanz und gipfelt in der Nennung der wahllos zusammengetragenen historischen Orte des Schlachtens und der Schlachten. Es sind Raumdaten, die schon in ihrer Zitation sowohl die Ubiquität verächtlicher Gewalt als auch das chaotische Einerlei der Zerstörung dokumentieren. Es sind die Koordinaten von endloser Barbarei und Verbrechen an der Menschlichkeit: kunersdorf // leuthen // gravelotte // sedan // langemarck // verdun // douaumont // tannenberg // skagerak // guemica // Coventry // auschwitz // oradour // buchenwald // dachau // theresienstadt // tobruk // el alamein // brandenburg // plötzensee // Stalingrad // berlin // mogadishu // stammheim2^ Hinter diesem Arrangement eines 'historisch-martialischen Rechenschaftsberichts' zur Un-Kultur wartet mehr als nur der Reflex einer sinnentleerten Welt. Zwischen die 15 Szenen der jeweils dreigliedrigen, fünf Akte sind Zwischenspiele, 'entre actes', die knee plays geschoben, die eine merkwürdige Geschichte erzählen. Diese 14 'plays' wurden 'en bloc' im April 1984 in Minneapolis aufgeführt. Hier wird nun die These vertreten, daß die Bilder der CIVIL warS über die Kette der knee plays269 zusammengehalten werden. Das heißt, daß die CIVIL 267

Ebd. S. 118f. Ebd. S. 126. 269 Die Inhaltsangabe zu den 'knee plays' ist einmal entnommen: Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: 35 CIVIL warS Storyboards mixed with visuals. Aber auch in: The Contemporary Art Center, Cincinnati, The Byrd Hoffman Foundation, New York (Hg.): Robert Wilson, The Theater of Images. A.a.O., S. 100 -109. Zum anderen im: Rotterdamer Programmbuch. Es wird mit eben die268

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warS nicht in lediglich eigenständige, aseptisch-schöne - und darum so ekelerregende - Bilder des Mordens, Sterbens und Vernichtens der Humanität zerfallen. Sie finden ihren Zusammenhalt nicht nur im ewigen Krieg der Zivilisation (CIVIL warS of CIVILization), der als Universalchiffre für Falsches Leben über dem eröffneten Bildkomplex liegt, sondern auch durch die kontrapunktisch eingesetzte Geschichte, die von den knee plays erzählt wird. Diese 14 Bilder, die eine Länge von jeweils fünf bis zehn Minuten haben, beschreiben insgesamt einen zyklischen Zivilisations- und Kultivierungsprozeß, der in der Form eines Reigens erzählt wird. Ein spezifisches Element in jeder Darstellung erfährt mit dem Wechsel von einer zur anderen 'Station' kontinuierlich Veränderung oder Verwandlung, um schließlich im letzten play wieder die Ausgangslage herzustellen. So wird aus dem Baum, der schon Subjekt des Untertitels 'a tree is best measured when it's down' der CIVIL warS ist, eine Kiste, daraus eine Hütte, dann ein Boot, ein Buch, aus dem schließlich wieder ein Baum wächst. Um diese 'Ereignis-Eckdaten' des sich wandelnden Baumes werden die episodischen Einzelbilder der knee plays gesponnen. Schlaglichtartig werden mit den Metamorphosen des Baumes Entwicklungs-Stadien einer alternativen Kultivierung aufgerufen, die dem als status quo ausgewiesenen Kriegstreiben schon allein deshalb zuwiderlaufen, weil mit ihnen eine Geschichte aufgerollt wird, also Bewegung stattfindet. Die knee plays rufen Konnotationsfelder wie 'Zivilisierung, Zuflucht, Subversion und Wissen' auf. Sie sind eine großartige Paraphrase des Wilsonschen Kunstverstehens und muten an wie die Bebilderung des Wilson-Diktums: "Nature helps one's spiritual side." In einer Art Zeitraffer wandelt sich der Baum im Verlauf des aufgezeigten Prozesses von einem unantastbaren Ort der Sicherheit zu einem Instrument der Erkundung der Welt durch Kunst, um schließlich wieder Zufluchtsstätte zu werden. Ein zyklischer Menschwerdungs-prozeß qua Kunst im Einklang mit der Natur. Das erste play zeigt einen Mann im Paradies. Er besetzt diese Akazie, unter der ein Löwe ruht. Die Akazie steht selbstverständlich für den im Eröffnungsbild dann ebenfalls gezeigten 'Schwarzen Kontinent', dem Urgrund aller Kultur. Das zweite knee play zeigt den von einem Blitz gefällten (en/igJttening=Vertreibung aus dem Paradies) Baum als Hütte, einem primitiven, allerdings schon kultivierten, 'manipulierten' Obdach. Wenn daraus im dritten play ein von Menschen gebautes Schiff wird (Hütte auf Schiffsrumpf), so signalisiert diese weitere Verwandlung das Stadium des zivilisatorischen sem Abschnitt in der vom Schauspiel Köln editierten Dokumentation des Kölner Teils der CIVIL warS wiedergegeben ist. Vgl. hierzu: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 66 - 68; der Brookner-Film enthält zudem Ausschnitte der Aufführung in Minneapolis.

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Explorationsdranges innerhalb eines Prozesses, mit dem sich Menschen immer weiter von ihrer Natur-Befangenheit zu lösen beginnen. Dem knee / -Prozeß bis dahin korrespondiert im Akt I,a das Auseinanderbrechen des 'Schwarzen Kontinents', die ausdrücklich so genannten 'LzgÄming-Effects' und das sofort daran anschließende Auftreten von Voltaire und Friedrich II, den Kronzeugen des Vemunfterwachens der Aufklärung (engl. Enlightenment). Während die Hauptakte ab da in Bildern der Verwüstung stagnieren, entwickeln sich die knee plays weiter. Die Phantasiefahrt, auf die sich das Boot im weiteren Verlauf der plays begibt, wird unterbrochen von einer bemerkenswerten Signifikation: im fünften play wird das Boot mit Graffitis beschriftet und damit im Sinne einer stummen, urbanen Alltags-Bild-Kultur getauft, die die eloquenten, wortreichen Entsagungs- und Verlustanzeigen, die die sprachsprachlichen Einsprengsel der Hauptakte bilden, konterkariert. Unmittelbar nach dem Auseinanderbrechen des Kontinents meldet sich im ersten Akt der "aus der Versenkung" aufgetauchte "friedlich der große" mit einem statement, mit dem er bewußt ins Faktum des unendlichen Krieges einzuwilligen bereit ist. Ausdruck eines obdachlosen Materialismus' der kalten Herzen: Betrachten Sie, meine Herren Studiosi, die Majestät des Firmaments, und lassen Sie sich das gesagt sein: es geht auch vorbei. Der Mensch ist ein Zufall, eine bösartige Wucherung. Und was wir Leben nennen, ist soetwas wie die Masem, eine Kinderkrankheit des Universums, dessen wahre Existenz der Tod, das Nichts, die Leere. Vorwärts, Preußen!270

Das Boot der knee plays gerät in diesen Permanenz-Krieg. Es wird im 6. play beschossen, getroffen und zerfällt in Hütte und Rumpf. Der Bootskörper sinkt ab (8. play), die Hütte strandet in Japan (7. play). Seine ursprungsverhaftete 270

Akt l, Szene A, Teil 3. In: The CIVIL warS. Text des deutschen Teils. In: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 81 Text: Heiner Müller. Heiner Müller hat die 'nicht-klassischen' Textteile zum deutschen Teil beigesteuert. Müller hat die Spektralfarben der Wilsonschen Alltags-, Welt- und Lebensverrätselung gebündelt zu einer eher monochromen Darstellung. Sie entstammen teilweise dem eigenen Fundus. So ist die Gestaltung des "Friedrich von Preußen aus dem Schullesebuch (auch das Flötenspiel fehlt nicht)" [Hans-Thies Lehmann: Robert Wilson, Szenograph. A.a.O., S. 558] direkt dem Müller-Stück: "Leben Gundlings Friedrich v. Preußen Lessings Traum, Schlaf, Schrei' entlehnt, in dessen Stuttgarter Uraufführung 1979 ebenfalls eine Frau (Verena Busse) den Friedrich spielte. Wie Lehmann ermittelte (Ebd. S. 557), ist diesem Stück auch jene oben zitierte Passage entnommen, die Friedrich im Stück gleich mehrfach spricht. (S. 81 u. 119 des Wilson-Textes). Lehmann stellt fest, "daß derart exakte Bezüge [...] in CIVIL warS wohl nicht zuletzt aufgrund der Mitarbeit von Heiner Müller ausgeprägter als sonst in Wilsons Werk" (Lehmann, S. 558) sind. Erstaunlich ist, daß Müller sich zu einer Zusammenarbeit mit Wilson bereitfand, sprach er doch noch 1979 in wenig freundliche Worten von Wilsons Theaterarbeit: "Das Theater Robert Wilsons, so naiv wie elitär, infantiler Spitzentanz und mathematisches Kinderspiel, macht zwischen Laien und Schauspielern keinen Unterschied." H. Müller: Der Schrecken, die erste Erscheinung des Neuen. In: Theater heute 3/1979 S. 1.

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Beschriftung mit Graffitis, die als Hoheitszeichen einer naturgebundenen Kreativität fungiert, ist (noch) nicht gelesen worden. Die Versenkung ist Sinnbild eines symptomatischen Fehlverhaltens, das nicht nur Präsenz und Geschichte des Bootes als des archaischen Zivilisationsobjektes selbst zu attackieren bereit ist, sondern auch die Inschriften ignorieren zu können glaubt, die es auf seiner Außenhaut trägt. Das Boot taucht allerdings im 10. play mitten in den Kriegswirren des historischen Civil War wieder auf. Mit dem Beschüß und der Bergung des Bootes durch Soldaten ist einerseits die direkte Berührung beider Erzählebenen gegeben, andererseits aber auch schon ein bildhaft vermittelter Kommentar: das Boot ist nicht verschwunden, sondern hat sich, den Kriegszustand unterspülend, selbst an seinen katastrophischen Gegenpol begeben, ja wird sogar von den Kriegführenden an Land gezogen, also unbewußt angeeignet. In der story der knee plays ist damit der Wendepunkt innerhalb des ellipsoid vorgestellten Prozesses markiert. Der Krieg der Bürger, in den das Boot - allerdings jetzt unbehelligt - gerät und der für die gesamten CIVIL warS das Generalthema der Entzweiung und ordnungsgestützten Verwüstung darstellt - (im Gleichschritt überquert langsam eine dichtgepackte Kompanie Soldaten die Bühne; die Soldaten Friedrichs knien, feuern, fallen in Zweierreihen) -, wird als vereist-verschneite Nacht-Landschaft gezeigt. Aus der Nacht eines nicht erleuchtenden Wissens, das destruktiv und a-künstlerisch ist (Kanone, Krieg, Versenkung des GraffitiBootes, Zynismus der Macht eines destruktiven Vemunftgebrauchs ) und dem Winter, der in diesem play als "klimatische Unterstützung' die aufziehende, humane Kälte symbolisiert, kommt der Rumpf des Schiffes in einem tropischen Urwald - Metapher für ein wucherndes, nicht domestiziertes Leben. Er erfährt dort eine Verwandlung: archaische Wilde, die die Zivilisationsstufe des Beginns wiederaufnehmen, versuchen, die dem Boot aufgesprühte Graffitis als Botschaft aus einer anderen (vergangenen?) Zeit zu entziffern. Das 12. wie zuvor auch das 9. play durchbrechen den Ablauf der Geschichte. Während das 9. play eine Tanzeinlage in der Nähe der nun japanischen Hütte darstellt (The Basket Dance, der die Hüttenepisode auch abschließt), bedeutet das 12. play die optische Ablösung von der Boot-Erzählung. Stattdessen wird das Motiv des Lesens der Inskriptionen aus dem 11. play wieder aufgegriffen, da nun das Innere einer Bibliothek zu sehen ist Aus der abgeschälten Graffiti ist ein Buch geworden, das dadurch zu erneutem Leben erweckt wird, daß von einem Mann darin gelesen wird. Der Kreis schließt sich: der aus dem Buch wachsende Baum wiederholt den Ursprungsbaum des Anfangs (der Erkenntnis, die den Zivilisationsprozeß durchschritten hat - und jetzt weiß!) und nimmt wieder einen Mann auf, der sich als mythische Herkules-Gestalt entpuppt In diesen letzten beiden Bildern steckt ein utopisches Moment, 307

denn Herkules verläßt schließlich den Baum, kniet nieder "und legt sein Ohr horchend an den Erdboden ; [er] hört nun das Singen der Tiere".271 Damit ist die verlorengegangene Einheit von Mensch, Mythos und Natur wiederhergestellt, die Herkules als Mythenheld in der Position des 'ersten Menschen' stellvertretend vollzieht Denn Herkules gilt als "Urbild eines Mannes, der sich durch ein Leben voll Arbeit und Heldentaten im Dienste der Menschheit die Aufnahme in den Himmel und die Unsterblichkeit verdient".272 Das für die CIVIL warS entscheidende 10. play des Auftauchens des unbemannten Bootrumpfes in die Kriegsereignise behauptet also metaphorisch die weiteste Entfernung vom Ursprung, den diametralen Gegenpunkt zur Ausgangslage: in ihm wird der Krieg als unentrinnbarer, historisch sich durchhaltender Zustand behauptet, der Thema der CIVIL warS ist. Der Bürger-Krieg markiert demnach einen status quo, der den utopischen Ausgangs- und Endstadien absolut entgegengesetzt ist. Sollten die CIVIL warS einer Zustandsbeschreibung der Gegenwart dienen - das Spiel mit den überreichlich auch hier vorhandenen opto-akustischen Real-Bausteinen und der Einsatz der Smilers legt diese Vermutung nahe - so wäre damit ihr Ort in einer Allegorie gekennzeichnet: sie gilt in diesem Stück als Nacht eines Wissens, das trotz der lightning effects, also der Aufklärung, nur Barbarei, um die HorkheimerAdomo-Wendung zu bemühen, hervorbringt. Gegenwart - so lautet der Befund - ist der 'stagnierende Winter der Utopie', der stärkste Kontrast, der zu Natur, Kunst und Sprache denkbar ist. Deutlich wird dies auch daran, daß Friedrich (in Akt IV,a) einen Eisbären zum Kaiserwalzer bittet, während die im Hintergrund ablaufende Filmsequenz eine arktische Packeis-Landschaft zeigt. Daß Friedrich auch als sprachsprachloser Fürst auf einem Eisberg ins Spiel gerollt wird und damit schon den Bedeutungsbereich 'Winter' als Zeit inhumaner Kälte aufruft, belegt die inhärente Bildlogik in den CIVIL warS. Liest man die knee plays als Skelett der CIVIL warS, so löst sich eine Reihe ihrer ursprünglichen Rätsel. Dire quasi-narrative Struktur und ihre kontrastive Funktion innerhalb des Stücks verknüpfen die ansonsten inkompatiblen Akte des Großprojekts: die plays fungieren als Kupplungsstücke im Gesamtkomplex. Der Entwicklungsgang, der mit den Zwischen-Bildern entworfen wurde, kann als Kontrastfolie für den Geschehensstillstand in den einzelnen Akte dienen. Deshalb lassen sich Akt und play abwechselnd lesen als Kommentar und thematische Vorgabe des Projekts der CIVIL warS. Sie umreißen in einer bild271

Aus dem Rotterdamer Programmbuch. Zit. nach: Schauspiel Köln (Hg.): Der deutsche Teil von The CIVIL warS. A.a.O., S. 68. 272 Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Reinbek b. Hamburg 1974. Stichwort Herakles. S. 167.

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haften Gesamtschau den Zustand der Gegenwart und der Rolle der Kunst in ihr. Jetzt klärt sich auch der Titel. Er verweist, da er in den Plural gesetzt ist, auf das Un-Menschheitsphänomen der Vielzahl von Kriegen und Feindseligkeiten aller Art. Das kapitalisierte Plural-'s' in den warS weist zurück auf das in Versalien gesetzte CIVIL und unterstreicht damit, daß nicht ein singulärer Kriegsfall, eben der amerikanische Bürgerkrieg gemeint ist, sondern das Perpetuum der bürgerlichen Kriege, das dem Zyklus der 'natürlichen Zivilisation' aus Kunst entgegengesetzt wird. Darum geben sich in den Akten Feldherren, Forscher und Familienväter aller Zeiten und Nationen ein Stelldichein. Lincoln, Lee, Garribaldi und Friedrich II, Don Quichote, die Alltagsfamilie mit ballspielendem Kind, Heinrich II und die japanische Kaiserfamilie bilden das internationale, zeitlose Konsortium von Kämpfematuren, die im Krieg der Bürger miteinander verstrickt sind. Sie alle eint die Unfähigkeit, friedlich mit ihrer (spirituellen) Natur zu leben, die durch den Kunst tragenden Schiffsrumpf symbolisiert ist. Nirgends ist dieser Sachverhalt besser artikuliert als im Untertitel: der Baum, der gefällt werden muß, um vermessen werden zu können, steht für jene eigene angefeindete, letztlich abgetötete Natur, die zu unsinnigen Erkenntniszwecken (Vermessung) mißbraucht (gefällt) wird. Rekapituliert man hierzu den Baum-Ursprung, dem sich das Boot verdankt, dann wird einsichtig, daß auch die Kunst aus dem Alltag, die dem Boot ja eingeschrieben wird und die jenes 'Andere des Krieges1 bedeuten könnte, zu den Kriegsopfern gehört. Das Schiff wird ja versenkt. Tatsächlich aber geht - so die bildhaft vermittelte Aussage - ein sehr spezielles, unzerstörbares und subversives Wissen von diesem Graffiti-Boot aus. Die Inschriften können allerdings erst, nachdem man zu den Ursprüngen zurückgegangen ist und so ihren Wert erkannt hat (l 1. play: Urwald-Ambiente, die Graffitis werden vom Rumpf abgeschält), in eine Bibliothek gebracht werden (, die natürlich die Bibliothek im 'Zentrum der Stadt', der 'Kristall-Kern im Apfel' ist).273 Da der Leser dann über sie zur Sache gefunden hat, ist, so der utopische Ausblick, die Restitution der paradiesischen Ausgangslage wieder möglich. Der Baum, der aus dem Buch wächst, ist Produkt eines zu sich selbst gekommenen Wissens. Ein Wissen vom Wissen, das sich der Anleitung durch Alltags-Kunst (natürlich die Kunst Wilsons) verdankt Das 14. knee play, das diesen wiedererlangten Paradieszustand der Einheit des Wissens schildert, bildet darum nicht bloß ein Zwischenspiel, sondern den fulminanten Schluß der CIVIL warS. Und insofern enthüllt sich die merkwürdige Vergangenheitsform im Stammeln Friedrichs aus dem Anfangsbild wie ein Versprechen dieser Kunst an die Gegenwart: der plakativ-plagiatorische Gebrauch der Kunst-Formen (Graffiti, Michelangelo) signalisiert das Vermögen zu einer 273

Robert Wilson: Interview mit John Szto. A.a.O., S. 22. 309

stummen Kunstsprache, die ein Wissen befördert, das sich einerseits in einer ursprünglichen, humanen Natur verankert weiß (Baum, Bibliothek, Urwald, Kontinent, Schildkröte). Sie besitzt in der Gegenwart des nunc stems aber auch ein Wissen um Zukunft, deren Erreichen nicht in progressiven Einzel-Schritten, sondern in zyklisch gedachten Abläufen gedacht wird. Sie kann ihren Ursprung ja als Utopie projizieren. Die Vergangenheitsform, mit der der als Nonsens deklarierte SprachSprachgebrauch eines Vernunft-Mächtigen demgegenüber im Eröffnungsbild des ersten Aktes belegt wird, enthebt den Sprecher schon der Gegenwart, in der er sich jetzt noch befindet. Die Initial-Feststellung, daß 'seine Reise zuende ging1, rückt jedes spätere Auftauchen "friedrichs" darum in den Bereich einer Erinnerung. Insofern ist mit den CIVIL warS ein jenseitiger Standpunkt bezogen worden, von dem aus auf diese kriegerische Gegenwart zurückgeblickt wird. Was sich jetzt noch als unbezwingbare Gegenwart gebärdet - so das Verprechen der Kunst daher -, ist bereits transgrediert und kann Vergangenheit genannt werden. Denn es wird ein kunstgewonnenes Wissen sein, dem schließlich die Überwindung des Faktischen gelingt.

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VI. Rückblick

"Far upstage stands a huge metal grid, the height and width of the stage. Its three tiers are each divided into five square compartments. On the rear wall of each is a panel of lights."l 0.00

"Luanda to horizontal flying rig David to diagonal flying rig Paul to vertical elevator Marie to horizontal elevator"2

Performers and musicians climb into the fourteen lighted areas. Chorus to bridge, one by one, do vertical and horizontal movements w/ lights and arms. The ensemble members stand in profile, playing their instruments. The others, backs to the audience, stand in profile, flex their wrists and slowly circle their arms as the panel's bulbs light up in increasingly brighter patterns. Connie to telescope w/ glass disc A horizontal narrow glass cubicle sails by carrying a reclining performer; a vertical capsule, containing an upright performer, rises of the floor and out of sight. A space traveller suddenly flies in on a diagonal and lightly touches ground; he whirls back upwards and disappears. Cindy Lubar: Kapitel XII Einstein On the Beach. S. 14f. (Alle linksbündigen Stellen.) Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N. ., Box: III-3 BYRDwoMan. Robert Wilson: Einstein On the Beach. (1976) Skript der Bühnenanweisungen zu Akt IV, Szene 3c: SPACE SHIP - MACHINE [i.e. THE SPACE SHIP INTERIOR]. Mit Zeitangaben in Minuten. S. 35f. (Alle rechtsbündigen Stellen.) Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, N.Y., Box: IH-F Einstein On the Beach. 311

Sheryl to SL of Marie, do signals with flashlights Sutton, whirling two flashlights, does a highly charged dance Alex to bridge from SR w/ bucket, brush, mop, clean 0.06

EXPLOSION DROP IN

0.07

EXPLOSION DROP OUT Chorus to diagonal movements DL to UR Connie say: "Would it get some wind for the sailboat.' Others say: 'Would...Would itWould it get'

0.13

EXPLOSION DROP IN Richard take off shirt and start calculating with chalk Sheryl and Luanda exit to traps

After Sutton exits, Wilson, dressed in black and wearing a black band around his forehead, dances turbulently with the flashlight along the same route Connie χ to Sheryl's position to do signals without flashlights Jeannine to telescope 0.17

EXPLOSION DROP OUT

A translucent drop of the mushroom cloud descends downstage. The lights black out temporarily and the music sounds as it is going haywire at a very high decibel level. Connie 's signals and Richard's calculating more agitated with music crescendo One woman stands on the stage floor waving her arms in speedy angular movements. A miked voice shouts '19' 312

Chorus do circles" Miked voices state: "Whatta Whatta Whatta What.1 After a extended cataclysmic interval, the space machine resumes its course with fully rejuvenated resources and the final act ends with a surge of energy." 0.19

EXPLOSION DROP IN

Nein. Die Brillanz und Klarheit, die die Bilder aus Akt IV, Szene 3c von Einstein On the Beach bei ihrer Aufführung erreicht haben, ist dem Protokoll der Abläufe nicht zu entnehmen. Auch die Synopse der Verschriftungen vermag sie nicht nachzuzeichnen. Die Anweisungen des Urhebers zu ihrem Verlauf und die Schilderung einer unmittelbar Beteiligten lassen lediglich die Technik ihrer Zergliederung in lokale Impulse und die Auflösung des Spielortes in Zeitfasern erkennen. Aus ihnen ist ein Wilson typisches Bildereignis gewoben, das nur unzureichend beschrieben, tatsächlich aber mit Worten nicht gefaßt werden kann. Dieses rhythmische Hirngespinst aus Musik, Stimmen, Farbe, Licht und Bewegung bildet nicht ab und ist nicht abzubilden. Es ist, dafür ist es gemacht, nur in einem stehenden Augenblick zu erleben. Die Woge von Energie, die pulsierend von der Raumsonde ausgeht, das Stakkato der Lichtmuster sollen die Wahrnehmung erfassen und ein ganz eigenes Wissen erhellen. Sie sollen so will es das ästhetische Konzept Wilsons - die Schleuse der Rationalität überwinden, um sich einem bislang verschütteten Sensorium, dem interior screen, einzuschreiben. Sie wollen so zu Denken werden, aber nicht Gedanke sein. Sie wollen Erfahrung möglich machen. Eine Erfahrung, die Kunst der Rezeption ist. So wollen sie Bedeutung nicht vorgeben, sondern nach dem Grund für Bedeutung fragen. Der Versuch, die 'Glassche Frage1, nach der es in Wilsons Theater nicht um Bedeutung, sondern um Bedeutsamkeit gehe,3 zu untersuchen, hat folgende Resultate erbracht. Bedeutung ist das Resultat eines Informationsprozesses, den interessierte Subjekte im Austausch mit ihren Umwelten jeweils initiieren. Das Wissen ebenso wie das Wissen-Können verdanken sich nicht souveräner Setzung des erkennenden Subjektes, sondern der plastischen Kraft des Diskurses. Dieser wiederum ist kein mächtiges Phantom hinter der Rede, sondern die Rede selbst, mit der Berichte über den Zustand und die Ordnung der Dinge eingeholt und ausgegeben werden können. Insofern verdankt der Diskurs Siehe Einleitung: Wen kümmert's, wer spricht?', Anm. Nr. 16. 313

analog zu den Phänomenen, die von der Chaos-Forschung untersucht werden, etwa dem Tsunami - seine Macht nicht-dispersiven Beiträgen zur 'wahren Rede1, die sich schon "im Wahren" (Foucault) befinden müssen, um wahr werden zu können. Dieses Paradox wird von Foucault in die Sentenz gebracht: Der Diskurs "ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht." Die Schlüsselbegriffe 'Interesse1, 'Information' und 'Diskurs' wurden im Kapitel 'Vorlauf zur Wahrnehmung1 vorgestellt und diskutiert. Da Bedeutung immer nur für jemanden und im Hinblick auf etwas gewonnen werden kann, waren Kunst und Epoche in ihrem Verhältnis zum Subjekt zu korrelieren. Kunst, so die erste These des Moderne-Postmoderne-Kapitels, spiegelt "die Art wider, wie Wissenschaft oder überhaupt Kultur die Realität sieht". (Eco) Darum war die gegenwärtige Situation der Epoche, die "postmodeme Konstellation" (Renner), zu skizzieren. Sie wurde als ein epistemologisches Feld gekennzeichnet, das sich - im Unterschied zum modernen - von einer Zeit-Emphase des beschleunigten Fortschreitens verabschiedet hat und nun die Ergebnisse einstmals transitorischer Geschehnisse, die "mühsam normalisierten Unwahrscheinlichkeiten" (Luhmann) in seinen Raum streut. Demnach konnte Postmoderne als die angekommene Moderne definiert werden, die auf die Endmoränen des Wissens der modernen Zeitdiskurse blickt. Diese präferenzlose Präsenz aller historischen Erfahrungen in einer "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" (Koselleck) führt, wie Peter Weibel formuliert, dazu, daß "die Realität der Erfassung durch die Sinnesorgane entzogen wird. [...] Wenn das Reale nicht mehr das ist, was wir sehen, hören und greifen können, [sondern] das ist, was sich unserer Wahrnehmung entzieht und nur über Apparate vermittelt werden kann, dann scheint das Materielle sich aufzulösen und mit ihm die Realität."4 Darum, weil der Postmodeme der objektive Grund einer verbindlichen Realität entzogen scheint, wurde - am Ende des Modeme/Postmodeme-Kapitels - dem Konzept einer Transponierung des Fortschritts in die Pluralität subjektiver Fortschritte vorerst eine Absage erteilt. Damit ist die Primär-Aufgabe für die Kunst der Postmoderne umrissen: bedeutsam kann sie vor allem dann sein, wenn es ihr gelingt, diesen Raum der Gegenwart für Subjekte wieder erfahrbar zu machen, einen Raum, "in which", wie Fredric Jameson ausführte, "we might again begin to grasp our positioning as individual and collective subjects and regain the capacity to act and to struggle which is at present neutralized by our spatial and social confusion." Tatsächlich wird jedoch, da es sich bei ihr um einen eigendynamischen Diskurs handelt, Kunst kaum noch mit Werken zu diesem cognitive mapping verhelfen können. Die Diskussion um Kunst und Aura (in Kapitel IV) erbrachte in einer historischen Rekapitulation, die den mit dem Wegfall der 4

Peter Weibel: Les Immateriaux. In: Wolkenkratzer. Art Journal. Frankfurt, 8/1985. S. 24ff.

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'Aura' (Benjamin) veränderten Charakter des Kunstwerks in drei unterschiedlichen Stadien fixierte, daß der bürgerliche Kunstbetrieb an die Stelle des Werks mehr und mehr sich selbst, damit die Vermittlungssphäre von Kunst insgesamt gesetzt hat. Postavantgarde konnte demnach definiert werden als der Bereich rezenter Kunstproduktion, in dem nicht mehr das Werk, sondern der auratisierte Künstler, der "Autorname" (Foucault), vorgibt, was als zur Kunst gehörig aufgefaßt werden kann. Über die Autorfunktion regelt der Kunstdiskurs also, was als Kunst zu rezipieren ist. Eine mögliche Kunstposition der Postmodeme, die um ihren Adressaten weiß, eine Position, zu der Robert Wilsons Ästhetik hier gezählt wird, vermag - abseits der Werke - darum lediglich Materialien zur Kunst bereitzustellen, die im Sinne des cognitive mapping Wahrnehmungsirritation, Wahrnehmungsbewußtsein, Wissens-Aktivierung, Wissens-Umaktivierung im Betrachter auslösen. Wilsons Theater verhilft - im Anschluß an Minimal Art, Happening und Performance - als Kunstkunst also dazu, das Fremde im Eigenen der Rezeption kenntlich und wiederum erfahrbar zu machen. Die Vorstellung und Diskussion (in Kapitel V 4) des ästhetischen Programms, das Wilson für seine Bühnenkunst entworfen hat, erbrachte auch, daß dem ästhetischen Konzept des Still-Real-Life für eine 'natürliche Zivilisation' ein absolutes Zutrauen in die Fähigkeit jedes Körpers innewohnt, allein wahrnehmend zur Eigentlichkeit der Sachen ('The body feels and sees') vorzudringen. Die hier formulierte Kritik dieser These zeitigte zwei Ergebnisse: die fundamentale Sprach- und Rationalitätskritik Wilsons und der Gegenentwurf einer sprachlos und zeitzerdehnten Reinschrift der Sache auf dem interior screen der Wahrnehmung basieren auf einem allzu optimistischen Modell der extradiskursiven Erfahrbarkeit der relationalen Kontexte, in dem ein Subjekt sich befindet. Einem Modell, hier genannt die Schau, das seine eigenen unhintergehbaren Bedingungen sehr willkürlich überspringt. Die Sicht der Dinge, so wurde deshalb gesagt, bleibt die petitio principii für ihre nur vermeinte Schau als Sachen. Die 'encoded fragments' der Dinge, auf deren Epiphanie Wilson mittels seiner Kunst beim Rezipienten hofft, sind eben diskursiv enkodiert. Zum anderen, und dies wirft ein Schlaglicht auf die Möglichkeit, sich wissenschaftlich mit dem Wilson-Phänomen auseinanderzusetzen, durchwaltet dieser explizite Wille zur Ununterscheidbarkeit von Kunst und Leben, der Wilsons Kunstprogramm auszeichnet, die Praxis früherer Produktion und - so ist heute festzustellen - auch die Archivierung der Materialien zur Kunst in der Butler Library der Columbia University. (Siehe: Exkurs: Materialien im Archiv der Byrd Hoffman Foundation) Wie die Untersuchung zu zeigen versucht hat, sind Wilsons eigenen Reflexionen und Rückschlüsse aus eigener Arbeit keinesfalls als smarte, markt315

konforme Lippenbekenntnisse eines formalistischen Ästheten zu werten, der seine Nische im Kunstbetrieb gesucht und gefunden hat. Im Gegenteil, die Verweigerung expliziter Bedeutungsgeneration, an deren Stelle dafür die Zerstückelung von Kommunikationskontexten und Zeichenfolgen umwillen einer rezeptionsabhängigen Eröffnung von Nebensinnpigmenten und Assoziationsfolgen treten, ist durchgängiges Charakteristikum für Wilsons frühes therapeutisches und ästhetisches Arbeiten. (Siehe hierzu die Kapitel: 'Die Schrift und der Körper, die Schrift des Körpers1 und 'split panel') Insofern sind gerade die frühen Produktionen Ausdruck einer möglich gewordenen Öffnung der Kunstsphäre in psycho-soziale und mentale Bereiche, die Kunst in erster Linie als Vehikel für Erfahrung begreifen. Darum gewinnt - aus kunst- und theaterhistorischer Sicht - Wilsons Kunstschaffen seine Bedeutung weniger aus formalästhetischen Gründen - etwa wegen der Reduktion des Schauspielers zur willen- und seelenlosen Marionette oder des vollständigen Verzichts auf Handlung und Narration -, sondern vielmehr aus Gründen, die die Verfassung des Diskurses Kunst selbst betreffen. So innovativ und stilbildend dieses Theater, neben Peter Brooks interkulturellem Theater und Pina Bauschs Bewegungstheater in der europäisch-nordamerikanischen Szene der letzten zwanzig Jahre auch gewesen sein mag, das eigentliche Phänomen daran bleibt, daß der Kunstbetrieb bereit und fähig war, Wilson in seinen Diskurs zu integrieren. Dem Versuch, hierfür eine rational einsichtige Begründung zu geben, war diese Arbeit gewidmet. So mischt sich in die Verblüffung darüber, daß es der Wahrnehmung tatsächlich gelingen kann, während der 19 Minuten, in denen das oben nur grob skizzierte Spaceship Interior auf der Bühne erstrahlt, Zeit als Funktion des Raumes zu begreifen, noch etwas anderes unter. Ein Staunen nämlich, daß, jenseits des Werks, unzweideutig als Kunst triumphiert, was die Rede verstummen und das Denken nicht fortschreiten läßt Die Sache ist es gerade darum wert.

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VII. Literaturi

1. Literatur zu Moderne und Postmoderne Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur . Frankfurt 1965. - Ästhetische Theorie. Frankfurt 1972. Bacon, Francis: Neues Organen der Wissenschaften (1620). Fotomechanischer Nachdruck der Übersetzung von Anton Theobald Brück. (Leipzig 1830). Dannstadt 1962. Barck, Karlheinz, Peter Gente et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990. Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Berlin 1978. - Diskussionsbeiträge. In: D. Kamper, et al. (Hg.): Der Tod der Moderne. Eine Diskussion. Redner: J. Baudrillard, G. Bergfleth, H. Folkers, U. Gerhard, M. Gerhardt, H. Hesse, D. Kamper, G. Kimmerle, G. Mattenklott, M. Rutschky, H. Schröter, U. Sonnemann. Tübingen 1983, S. 104. - Der symbolische Tausch und der Tod. München 1984. - Die fatalen Strategien. München 1985. - Das Andere selbst. Wien 1987. - Die Simulation. In: Wolfgang Welsch: Wege aus der Moderne. Weinheim 1988. - America. New York 1989. Videowelt und fraktales Subjekt. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990. Berghahn, Klaus L.: Schiller. Ansichten eines Idealisten. Frankfurt 1986. Berka, Sigrid: Mythos-Theorie und Allegorik bei Botho Strauß. Wien 1991. Bernstein, R. J.: Habermas and Modernity. Oxford 1985. Biemel, Walter: Pop-An und Lebenswelt. In: Aachener Kunstblätter. Band 40. Aachen 1971. Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit" (1966). 4. Teil. Frankfurt 1976. Bode, Arnold: documentadocumenta. In: documenta 4, Katalog zur Ausstellung, Band l, Kassel 1968. Böhme, Gemot: Das Andere der Vernunft. Frankfurt 1983. Bohrer, Karl-Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt 1983. Böhringer, Hannes: Attention im Clair-Obscur Die Avantgarde. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990. Bolz, Norbert: Die Zeit des Weltspiels. In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 63. Frankfurt 1986. 1

ui diesem Verzeichnis sind nur allgemein zugängliche Titel aufgeführt. Nicht genannt werden hier die Dokumente und Materialien aus dem Archiv der Byrd Hoffman Foundation in der Butler Library der Columbia University, New York. Diese werden nur im Text zitiert. 317

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