Das Personal der Postmoderne: Inventur einer Epoche 9783839433034

No one can tell the story of postmodernism better than its personnel. When the programmer meets the user, the curator th

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German Pages 272 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Der Programmierer
Der Bildungsökonom
Die Stadtguerillera
Der Sampler
Der User
Die Cyborg
Der Coach
Die Postkolonialistin
Der Wissenschaftshistoriker
Der Steuerexperte
Der Fachoffizier
Die Kuratorin
Der Raider
Die Globalisierungskritiker_in
Der Security Contractor
Die Wissenschaftsmanagerin
Der Blogger
Zu den Autorinnen und Autoren
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Das Personal der Postmoderne: Inventur einer Epoche
 9783839433034

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Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.) Das Personal der Postmoderne

Histoire | Band 84

Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)

Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3303-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3303-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung Alban Frei & Hannes Mangold | 7

Der Programmierer David Gugerli | 17

Der Bildungsökonom Michael Geiss | 33

Die Stadtguerillera Hannes Mangold | 51

Der Sampler Benedikt Sartorius | 65

Der User Max Stadler | 75

Die Cyborg Karin Harrasser | 91

Der Coach Brigitta Bernet | 105

Die Postkolonialistin Fermin Suter | 121

Der Wissenschaftshistoriker Simone De Angelis | 137

Der Steuerexperte Gisela Hürlimann | 151

Der Fachoffizier Eneia Dragomir | 169

Die Kuratorin Gioia Dal Molin | 185

Der Raider Luca Froelicher | 199

Die Globalisierungskritiker_in Florian Kappeler | 215

Der Security Contractor Florian Schmitz | 227

Die Wissenschaftsmanagerin Alban Frei | 243

Der Blogger Michael Hagner | 257

Zu den Autorinnen und Autoren  | 263

Einleitung Alban Frei und Hannes Mangold

Was war die Postmoderne?1 Dieses Buch unternimmt den Versuch, einen Zeitraum fassbar zu machen, der sich einer Definition systematisch entzieht – obwohl und gerade weil er zum bevorzugten Gegenstand der geistes- und kulturwissenschaftlichen Textproduktion gehört. Die Postmoderne wird hier aber nicht theoretisch eingegrenzt, sondern bevölkert. Jeder Beitrag präsentiert die Geschichte einer Figur, die typisch und spezifisch für das westeuropäische halbe Jahrhundert seit 1960 steht. Anhand jenes Personals, das seinen Alltag in Interaktion mit mikroelektronischen Gadgets, kybernetischen Informationstheorien oder deregulierten Beziehungsnetzwerken fristete, wird die jüngste Zeitgeschichte inventarisiert. In ihrer Kombination versuchen sich die hier versammelten Geschichten an einer Signatur der Postmoderne. Damit stellen sie die Historizität eines problematischen Begriffs zur Disposition. Sie weisen darauf hin, dass ein Zeitraum Vergangenheit geworden ist und in den Lagerbestand abgeschlossener Epochen verschoben wird.2 Möglich macht dieses Unterfangen nicht zuletzt die Ironie. Weil die Beiträge ihren Gegenstand nicht nur konstruieren, sondern sich ihm auch spielerisch nähern, um sich wieder von ihm zu distanzieren, bietet das Ensemble genügend Flexibilität, um

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Alban Frei und Hannes Mangold unterschiedliche kombinatorische Lektüren zu offerieren. Im Druck erscheinen die Beiträge in chronologischer Reihenfolge. Sie spannen einen historischen Bogen vom Programmierer um 1960 zum Blogger des frühen 21. Jahrhunderts. Diese Ordnung soll ihre postmodern emanzipierte Leserschaft aber nicht von Rekombinationen abhalten.3 Zum Beispiel nach inhaltlichen Kriterien: Im Wirkungsfeld der Computertechnologie lassen sich der Programmierer, der User, die Cyborg und der Blogger verorten. Auf dem politischen Feld der Sicherheit, das sich nach dem zweiten Weltkrieg so dynamisch veränderte, finden die Stadtguerillera, der Fachoffizier, die Globalisierungskritiker_in, und der Security Contractor zu einem explosiven Renkontre zusammen. Zum Mainstreaming des betriebswissenschaftlichen Wissens lassen sich neben dem Steuerexperten und dem Raider auch der Bildungsökonom, der Coach und die Wissenschaftsmanagerin befragen. Vielleicht treffen die beiden letzteren in einem der universitären Gremien, dem sie angehören, auf die Postkolonialistin und den Wissenschaftshistoriker und ermöglichen dabei Einblicke in die Umgestaltung der Hochschullandschaft seit 1960. Oder man sortiert das Personal entlang postmoderner Ent- und Begrenzungslogiken: Die Cyborg unterläuft die Grenzen zwischen Mann und Frau, Mensch und Maschine; die Globalisierungkritiker_in vermittelt zwischen lokal und global und die Postkolonialistin hilft ihr dabei, das euro-amerikanische Konzept der Postmoderne auf seinen Platz in der Welt zurückzustellen und aufzuzeigen, dass sich das Personal der Postmoderne nur in einem globalisierten Markt rekrutieren ließ, der ohne das Abschöpfen internationaler Skalenerträge undenkbar geblieben wäre. Davon weiß auch der Security Contractor zu berichten, der sich überdies als eine postmoderne Aktualisierung des frühneuzeitlichen Söldners entpuppt und die Frage aufwirft, ob wir nie modern gewesen sind.4 Die Grenzen zwischen Urheber und Werk verwischen wiederum unter den geschickten Händen der Kuratorin und des Samplers, wenn diese Kunsterzeugnisse von

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Einleitung ihren Entstehungskontexten lösen, sie umstellen, rekonfigurieren und dem Publikum als etwas Neues zur Verfügung stellen. Die Frage, ob es solche typisierten Figuren überhaupt noch gibt, wirft neben der Postkolonialistin auch der Blogger auf, dessen Distinktionslosigkeit anstelle eines Nachworts problematisiert wird. Was die Postmoderne war, erklärt also ihr flexibel zusammengestelltes, frei kombinierbares, aber immer repräsentatives Personal. Was aber heißt Personal, was Postmoderne? Personal bedeutet mehr als die Belegschaft eines Unternehmens. Folgt man der Etymologie von Personal, führt das aus dem Betrieb heraus und hinein ins antike Theater. Dort war die persona eine Maske, die sich Schauspieler und Chor aufsetzten, um ihre typisierten Rollen zu verkörpern. Die Maske verwandelte das Individuum in eine Figur und den Einzel- in einen Modellfall. Hinter der Metapher der Maske und ihrer semantischen Spannung zwischen Theatralik, Vermittlung und Anpassung gibt sich das Personal der Postmoderne zu erkennen. Dieses Buch inventarisiert die dramatis personae der jüngsten Vergangenheit. Sein Interesse gilt dem Modell-, nicht dem Einzelfall. Die Beiträge porträtieren abstrahierte, emblematische Figuren der Epoche. Sie analysieren spezifische und charakteristische Masken, die auf der postmodernen Bühne auf- und zuweilen wieder abtraten. Das macht Exklusivität zur Pflicht. Weder Individuen und Subjekte, noch Statistinnen und Statisten werden in den Klub hereingelassen. Porträtiert werden dagegen Figuren, die nach 1960 auftraten und nicht nur von der Postmoderne geprägt wurden, sondern diese auch selbst prägten. Eine solche wechselseitige Abhängigkeit stellte sich jeweils dort ein, wo die Maske des Personals Verfremdungseffekte erzielte. Die beschriebenen prototypischen Figuren waren alle erfolgreich darin, eine Lösung zu einem zeitspezifischen Problem anzubieten. Sie schafften es, sich ein als gesamtgesellschaftlich relevant wahrgenommenes

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Alban Frei und Hannes Mangold Problemfeld einzuverleiben und dieses zu verkörpern. Damit erlangten sie Definitionsmacht darüber, was dieses Problem überhaupt ausmachte und wie es zu beseitigen sei. Das Personal der Postmoderne bietet keine vollständige, abgeschlossene Bestandaufnahme, sondern eine unabgeschlossene, laufende Inventur. Die porträtierten Figuren wurden selektiv, aber nicht zufällig rekrutiert. Sie präsentierten sich in zeitgenössischen Quellen wie in retrospektiven sozial- und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen als charakteristisch für die Postmoderne. Sie arbeiteten fleißig an der Transformation jenes Wissens mit, über das sich die europäische Gesellschaft zunehmend definierte. Sie halfen den Zeitgenossen und Historikerinnen gleichermaßen dabei, sich zu vergewissern, in welcher Gesellschaft sie lebten. Auch Postmoderne, der zweite Begriff des Titels, hat programmatischen Charakter, gerade weil er von Anfang an offen ließ, was er bedeuten sollte. Zwar lieferte François Lyotard 1979 in seiner einschlägigen Studie zur condition postmoderne Stichworte, die fortan in Tabellen und Definitionsversuchen zur Postmoderne herumgeisterten.5 Aber alle, die auf eine essentialistische Bestimmung gehofft hatten, musste auch der französische Philosoph enttäuschen. Schließlich machte Lyotard keinen Hehl daraus, dass sein Begriff der Postmoderne eine Epoche weniger definierte als reifizierte. Die Einsicht, dass historische Epochen zuweilen mehr durch ihre Verkünder und weniger durch ihre Gegenstände konstruiert werden, änderte nichts an der Lust, die Zeit nach etwa 1960 als eigenständig auszurufen.7 Seine konzeptuelle Offenheit machte das sogenannt Postmoderne genauso schwer fassbar wie seine postimperialistischen, postkolonialen, postfordistischen, postkapitalistischen, postindustriellen, postmarxistischen, postdemokratischen oder poststrukturalistischen Zwillingsbrüder und -schwestern. Derweil die Frage nach dem Neuen unscharf blieb, manifestierte sich das Bedürfnis umso deutlicher, einen historischen

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Einleitung Bruch zu behaupten. Die Versuche, sich gegenüber einer älteren, aber nahe verwandten Epoche abzugrenzen, entpuppten sich als Kampf, den Soziologen und Konsorten gegen eine Medusa führten, der, wann immer die neue Gesellschaft mit einem neuen Namen benannt wurde, zwei noch neuere Namen nachwuchsen. So erschien diese Gesellschaft nicht nur als postmodern, sondern auch als Wissensgesellschaft, als Informationsgesellschaft, als Kontrollgesellschaft, als Netzwerkgesellschaft, als Risikogesellschaft, als melancholische Spätmoderne, als reflexive oder als zweite Moderne.7 Wer wissen wollte, in welcher Art von Gesellschaft und in welcher Moderne er denn genau lebte, musste spätestens ab den 1980er Jahren in einem Ozean an kultur- und geisteswissenschaftlichen Diagnosen fischen, der sich nur noch mit einem Schleppnetz bewirtschaften ließ. Entsprechend blieb im Fang mitunter auch Müll zurück. Als besondere Gattung (mit der zweispaltigen Tabelle als bevorzugter Darstellungsform) erwiesen sich Begriffspaare, die in vollendet hochmoderner Bipolarität die Zeit seit etwa 1960 als eigenständige Epoche konstituierten und von der vorhergehenden Phase abgrenzten. Dem modernen analog stellten sie das postmoderne digital entgegen, stabil kontrastierten sie mit flexibel, Teleologie mit Kontingenz, Wahrheit mit Narrativität, Sampling mit Innovation, Risiko mit Gefahr und Unternehmen mit Fabrik.8 Was die Postmoderne ausmacht, wieso sich Zeitgenossinnen, Sozialwissenschaftler und Historikerinnen daran machten, die Zeit nach 1960 als eigenständige Epoche auszurufen, wird hier nicht tabellarisch abgehandelt, sondern mit einer Reihe ausgesuchter Personalgeschichten narrativ geklärt. Indem es auf epochenspezifische Modellfiguren setzt, vermittelt das Vorgehen zwischen einem postmodern-dekonstruierten Subjektbegriff und epistemologischen Verfahren der Narrativität. Auch dabei bleibt die Epoche ein Konstrukt, das von jenen erschaffen wird, die sie voraussetzen und proklamieren. Epochen bieten

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Alban Frei und Hannes Mangold ein Ordnungsmuster für Geschichte. Sie gliedern die Vergangenheit nach einer diskursiven Ordnungsstruktur, haben unsichere Zentren und ausgefranste Ränder. Das lässt sich über das Verfahren der Figurenzeichnung aufzeigen, die als verdichtete Form historischer Narratologie funktioniert: Sie stützt sich auf evidenzbasierte Beobachtung, mutet sich die Dekonstruktion der Beobachtung zu, um sich zu guter Letzt die Konstruktion einer Figur anzumaßen. Damit schreibt der Sammelband sich in eine sozialwissenschaftliche Tradition ein. Der Band Diven, Hacker, Spekulanten (2009) versammelte etwa Sozialfiguren der Gegenwart; das Glossar der Gegenwart (2004) unternahm einen ähnlichen Versuch anhand von aktuellen Leitbegriffen.9 Von diesen Vorläufern unterscheidet sich das Personal der Postmoderne durch seinen geschichtswissenschaftlichen Ansatz. Im Gegensatz zu Individualporträts oder Biografien, wie sie etwa Die da oben (2010) oder Strukturierte Verantwortungslosigkeit (2010) mit Blick auf die Finanz- und Wirtschaftswelt boten, interessiert hier die Geschichte des Modell- und nicht die Soziologie des Einzelfalls.10 Anders als in Der Mensch des 20. Jahrhunderts (1999) oder Figuren der Gewalt (2014) wird auch der Anspruch, Figurentypologien über lange Zeiträume voller Brüche und Verschiebungen zu erstellen, nicht befriedigt.11 Das Personal der Postmoderne porträtiert spezifische, auf- und wieder abtretende Figuren der Zeit nach 1960. Über Verdichtung, Zuspitzung und Einschränkung spielen diese als Ensemble zusammen, um eine rekonfigurierbare Geschichte der Postmoderne zu erzählen. Mit ihren heterogenen Interessenlagen, Brüchen, konstruierten Identitäten und den vielfältigen Umständen ihres Auf- und Abtretens zeichnen sie mit am Bild einer schwer fassbaren Epoche. Dabei bleibt dieses Bild so fragmentarisch, wie das hier versammelte Personal. Die Inventur ist nicht abgeschlossen.12

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Einleitung

Anmerkungen 1 Prominent gestellt hat diese Frage Welsch, Wolfgang: »Was war die Postmoderne – und was könnte aus ihr werden?«, in: Ingeborg Flagge/Romana Schneider (Hg.), Revision der Postmoderne. Post-modernism revisited, Frankfurt a.M.: Junius 2004, S. 32-39. 2 Mitte der 1990er Jahre diente Postmoderne noch als Sammelbegriff für »aktuelle« geschichtswissenschaftliche Turns und Methoden. Vgl. Conrad, Christoph/Kessel, Martina (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart: Reclam 1994. 3 Vgl. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 [1962]; Barthes, Roland: »Der Tod des Autors (1967)«, in: Fotis Jannidis (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S.  185-193; Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 234-270. 4 Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 5 Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Minuit 1979. 6 Vgl. Herzog, Reinhart/Koselleck, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), München: Fink 1987. 7 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986; Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996; Bell, Daniel: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus 1975; Castells, Manuel: Das Informationszeitalter, Teil 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen: Leske und Budrich 2001; Deleuze, Gilles: »Postskriptum über die Kon-

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trollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S.  254-262; Drucker, Peter F.: Die postkapitalistische Gesellschaft, Düsseldorf: Econ 1993; Jameson, Fredric: Postmodernism. Or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham: Duke University Press 1991; Rodgers, Daniel T.: Age of Fracture, Cambridge: Belknap 2011; Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013. Exemplarisch Harvey, David: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford: Blackwell 1990, S. 43. Harvey zitiert seinerseits Hassan, Ihab: »The Culture of Postmodernism«, in: Theory, Culture and Society 2/3 (1985), S. 119-131. Moebius, Stephan/Schroer, Markus (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009; Bröckling, Ulrich/Krassmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Vgl. auch Horn, Eva/Kaufmann, Stefan/Bröckling, Ulrich (Hg.): Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin: Kadmos 2002. Honegger, Claudia/Neckel, Sighard/Magnin, Chantal (Hg.): Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt, Berlin: Suhrkamp 2010; Nolte, Barbara/Heidtmann, Jan (Hg.): Die da oben. Innenansichten aus deutschen Chefetagen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Campus 1999. Vgl. auch dies. (Hg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Campus 1999; Siegfried, André: Aspekte des 20. Jahrhunderts, München: Langen Müller 1956; Friedrich, Lars et al. (Hg.): Figuren der Gewalt, Zürich/Berlin: Diaphanes 2014. Dem Personal, dass dieses Buch ermöglicht hat, möchten wir unseren herzlichen Dank aussprechen: den Autorinnen und

Einleitung Autoren für die produktive Zusammenarbeit, Johannes Willi für seinen kreativen Anstoß zur Umschlagsgestaltung, Markos P. Carelos, Philipp Eichenberger und Leslie Post für ihre Mitarbeit und der Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich für die großzügige Unterstützung.

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Der Programmierer David Gugerli

Zu den Signaturen der Postmoderne zählen ganz selbstverständlich der Rechner und das Personal, das ihn betreibt und benützt oder von ihm benützt und betrieben wird.1 Der Programmierer, neben dem Nutzer die prominenteste Figur im Personal des Computers, entwickelt sein Selbstverständnis aufgrund einer Befehls- und Kontrollkultur, für deren raffinierte Eleganz oder eskapistische Kreativität er sich ins Zeug legt. Wie er das tun muss, wird ihm nicht nur vom Auftraggeber oder vom Handbuch, sondern immer auch vom Rechner gesagt. Denn der Rechner ist, wie sein Programmierer, ein Kontrollfanatiker. Er kontrolliert seine Aufgaben und alles, was mit ihm verbunden ist. Das, was er über seinen Zustand und seine Prozeduren zu berichten weiß, schreibt er in lange, die Rechenarbeit dokumentierende Logfiles. Sie sind Teil einer rechnerspezifischen Rechtfertigungskultur. In ihnen ist nachzulesen, was der Rechner gemacht hat, was er nicht ausführen konnte und warum er manches nicht verstanden hat. Dass Rechner das tun sollen, wurde ihnen schon früh von Programmierern beigebracht – es ist bis heute für Administratoren, Operateure, Nutzer, Developer, Überwacher und Hacker, kurz: für die ganze Belegschaft und den Betrieb des Systems von grundlegender Bedeutung.

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David Gugerli Rechner und Programmierer sind über ihre mächtigen Instruktionskaskaden und endlosen Rechtfertigungstexte untrennbar verbunden und haben sich in der digitalen Welt in ein symbiotisches Verhältnis gebracht. Rechner und Programmierer bilden mit andern Worten ein ganz normales, stabiles soziotechnisches Arrangement, wie wir es von der Dampfmaschine und ihrem Maschinisten oder dem Mechaniker und dem Automobil her kennen. Man hat nicht den Eindruck, dass es sich um ein spezifisch postmodernes Arrangement handelt. Dieser Eindruck täuscht. Der Programmierer war, seit es Computer gibt, eine Figur, deren Rolle sich nie verbindlich fassen ließ, deren Wissen stets prekär blieb, weil es laufend re-konfiguriert werden musste. Selbst die Position des Programmierers im Gefüge des Computerpersonals wurde ständig verschoben, sein Beruf (im Sinne einer festen Zuordnung von Person, Know-how und Beschäftigung) erwies sich sogar dann als Illusion, wenn man ihn gerade wieder neu definiert hatte. Im Spannungsfeld zwischen den Maschinen und den Programmen, mitten in jener unübersichtlich-multidisziplinären Konstellation von Wissensbeständen, Apparaturen, Sprachen, Verfahren und Akteuren, die den Rechner zu betreiben hatten und von ihm lebten, war der Programmierer eine ephemere Gestalt, eine »Verlaufsform« der postmodernen Wissensgesellschaft. Die Gestalt des Programmierers litt unter Konturlosigkeit, drohte sich im vielfältigen Aufgabenspektrum des Computerpersonals zu verlaufen und hatte mit der denkbar größten Zerfallsrate ihrer selbst zu rechnen. Nicht einmal in der zehnten Auflage des Wörterbuchs zum IBM-Jargon von 1990 gab es eine stabile Beschreibung des Programmierers. Ganz lapidar wurde er hier als eine Maschine zur Umwandlung von Ideen ins Praktische definiert und seine Tätigkeit als »the art of debugging a blank sheet of paper« ironisiert.2 Das machte den Programmierer selbst dort, wo er zu Tausenden beschäftigt war, zu einem unbeschriebenen Blatt, das er

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Der Programmierer von seinen Fehlern reinigte. Der Programmierer war demnach nichts anderes als eine Leerstelle.3 Über ihn sprach man vor allem dann, wenn man sich über seine nicht intendierten Effekte lustig machte. Das zeigt der IBM-Dictionary Eintrag zum Verb »to flatten«. Hier hatte der Programmierer einen bezeichnenden Auftritt. »To flatten a problem« bedeutete bei Big Blue soviel wie »to bring under control, to eliminate, or to make less conspicuous.«4 Wenn beispielsweise neue Software aus dem Thomas J. Watson Research Center angeliefert wurde und man mit Code konfrontiert war, der vielleicht »cutting edge« sein mochte aber ganz etymologisch einiges aufwarf, dann ging es bald einmal ans Flachmachen. »Gee, we’ve got bad problems with that new software from Yorktown. Shall we bring a bunch of them up to flatten the problem?« Der Slang musste den Programmierer gar nicht direkt benennen, das Pronomen »them« genügte. Bekanntlich setzte IBM für gewöhnlich auf Routine, Disziplin, Verfahren, Instruktion und Normalität, um Probleme zu kontrollieren und zu vermeiden. Um sie aber zum Verschwinden zu bringen oder sie wenigstens unauffälliger zu machen, brauchte es dann doch manchmal eine ganze Reihe von Programmierern, oder eben »a bunch of them.« Denn eines war klar: »Any problem can be trampled into the dust by the application of hordes of programmers.«5 Ungeachtet seiner fundamentalen Bedeutung für die Infrastrukturen der Postmoderne, ungeachtet auch seines massenhaften Einsatzes für die Produktion und für die Bewältigung von Softwareproblemen, blieb der Programmierer eine kaum fassbare, ja flüchtige Gestalt. Daraus resultierte das von Beginn an komplizierte Verhältnis zwischen Rechner und Programmierer. Die Struktur und Organisation eines Automaten könne man als bekannt voraussetzen, »und ebenso seine Einzelteile (Rechenwerk, Leitwerk, Speicherwerk, Ein- und Ausgang für Zahlen und Befehle)«,6 hat 1954 Eduard Stiefel, Professor für

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David Gugerli angewandte Mathematik an der ETH Zürich, in Erinnerung an seine Erfahrungen mit dem Z4 von Konrad Zuse festgehalten. Für Stiefel lag das Problem deshalb nicht in der elektrotechnischen Zähmung der Maschine, sondern bei der Organisation des Personals: Wie ließ sich diese Maschine mit ihrem reproduktiven, ja primitiven Charakter zum Rechnen bewegen und gleichzeitig von den Vertretern der angewandten Mathematik fernhalten? Die Vorbereitung des Rechenprogramms durch den Mathematiker brauche meistens ein Mehrfaches an Zeit und Denkarbeit, welche die einmalige Durchführung der Rechnung von Hand benötigen würde, meinte Stiefel, und bürde »ihm – den wir hinfort Programmierer nennen wollen – häufig infolge allzu primitiver Organisation des Rechenwerks noch zusätzliche Arbeit auf.«7 Der definitorische Akt Eduard Stiefels rückte den Programmierer nicht nur weg von der Maschine (dem Rechenwerk), sondern vor allem weg von der Mathematik (dem Regelwerk) und hin zu viel Arbeit. Ein Programm zu schreiben war aufwendig und lohnte sich nur, wenn es mehrfach genutzt wurde, wenn sich also das Programmieren standardisieren ließ und mithin industrietauglich gemacht werden konnte. Dafür musste das Programmieren aber so schnell wie möglich von der Mathematik weggeführt werden, denn die angewandte Mathematik durfte auf keinen Fall noch mehr an Status verlieren, bewegte sie sich doch schon jetzt am unteren hierarchischen Rand der akademischen Mathematik. »Die Rechenautomaten haben uns das numerische Rechnen abgenommen«, hielt Stiefel etwas nachdenklich fest, »uns aber dafür die noch viel langweiligere Arbeit des Programmierens gebracht.«8 Der Programmierer musste sich »hinfort« darum kümmern, dass der Maschine etwas Brauchbares zu entlocken war. Er war für die Berechenbarkeit des Verhaltens dieses großen Apparats in der technowissenschaftlichen Manege verantwortlich. Was 1875 der Programmer für den Zirkus in Steubenville, Ohio sein sollte –

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Der Programmierer »man to assist agent for a circus as programmer; must give security and be sober«9 – hatte der Programmierer für den Betrieb eines Rechenzentrums zu sein: Ein nüchterner, vielfältig einsetzbarer Sicherheitsspender für die Überraschungen und Frustrationen im Umgang mit Rechnern. Dieser Anforderungswiderspruch von raffinierter Verführung und nüchterner Überwachung im Pflichtenheft des Programmierers wurde durch professionelle Distinktion im Umfeld des Programmierers noch verschärft: Der Programmierer durfte weder ein elektrotechnisch gewiefter Operateur und Maschinist sein, der mit (Drucker-)Ketten, Ersatzröhren, Lötkolben und Kabeln hantierte, noch durfte er ein angewandter Mathematiker werden, denn das hätte nur bedeutet, dass Mathematiker irgendwann zum Personal des Computers gezählt worden wären. Ende der 1950er Jahre waren einige Fragen, die sich im Zusammenhang mit den frühen Computerauftritten an die Figur des Programmierers gerichtet hatten, vorläufig geklärt. Um die Rechenkapazität des Computers zu zähmen, standen eine ganze Reihe von brauchbaren Programmiersprachen wie Fortran, Algol und Cobol zur Verfügung. Zudem war allen klar, dass jede Maschine, kaum war sie geliefert, durch einen grossen Programmieraufwand an die lokalen Aufgaben und Bedürfnisse angepasst werden musste. Darum gab es auch keinen Zweifel, dass Programmieren für längere Zeit eine zukunftsträchtige Tätigkeit bleiben und dass die Nachfrage nach kompetenten Programmierern ständig steigen würde. Nicht nur Computerhersteller, sondern auch ihre Kunden in der Industrie, in Dienstleistungsbetrieben, der staatlichen Bürokratie und betrieblichen Verwaltungen brauchten dringend Programmierer, und zwar in großer Zahl. Wo immer gerade ein Rechner angeschafft wurde, mussten sofort Programmierer angestellt werden. Besonders knapp scheint kompetentes Programmiererwissen in Europa gewesen zu sein. Hier war es noch schwieriger als in den USA, von der Ausbildungsfunktion der Computerherstel-

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David Gugerli ler zu profitieren.10 Gewiss, auch hier versuchte man, Programmierer von den Lieferanten abzuwerben, um sie in die eigene Firma zu integrieren, in der Hoffnung, sie würden da Wurzeln schlagen und neue Programmierer ausbilden. Die Nachfrage nach Programmierern wurde dennoch zu einem brennenden wirtschafts- und bildungspolitischen Problem. Auf der Suche nach dem Programmierer kann man sich also an die Fersen derjenigen heften, die sich in den 1960er Jahren selber auf der Programmiererjagd befanden. Wegweisende Orientierungsarbeit bei der systematischen Suche nach Programmierern leistete dabei das holländische »Studienzentrum für Administrative Automatisierung«, das zwischen 1960 und 1963 umfangreiche Abklärungen bezüglich des Bedarfs, der Qualifikationssysteme, der Rekrutierungsmöglichkeiten, der Ausbildungsformen und der Beurteilungskriterien für zukünftige Programmierer durchführte. Die Arbeiten des Studienzentrums waren von so überzeugender Qualität, dass sie noch 1966 in integraler Übersetzung bei Oldenbourg unter dem Titel »Neue Berufsbilder in der elektronischen Datenverarbeitung« verlegt wurden.11 Für die Frage nach dem Programmierer als ephemerer Gestalt der Postmoderne ist diese Schrift von großer Bedeutung, zumal sie bei Berufsverbänden und in den Köpfen von Bildungspolitikern bis weit in die 1970er Jahre hinein Wirkung gezeitigt hat.12 Eine veritable Phalanx psychologisch geschulter Berufsberater, industrieller Interessenvertreter, Beamter staatlicher Betriebe und beunruhigter Bildungspolitiker begann sich um dieses Problem zu kümmern. Die hochkarätig besetzte Kommission geriet dabei in Teufels Küche. Sobald sie auch nur versuchte, den Programmierer funktional-hierarchisch einzureihen und ihn so in den Griff zu bekommen, lösten sich die Funktionen und Hierarchien wieder auf, weil sie zu wenig klar unterscheidbar waren. Die Auflistung »Systemanalysator, Junior-Systemanalysator, Programmierer, Codierer« war ein

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Der Programmierer solcher Versuch. Er ließ sich, wie der erste Satz nach dem Ordnungsvorschlag sofort eingestehen musste, nicht durchziehen, weil »in der Praxis der Unterschied zwischen den ersten und sogar auch zwischen den letzten beiden Kategorien häufig auf dem unterschiedlichen Maß an Erfahrung und Wissen der betreffenden Sachbearbeiter« beruhte.13 Der Programmierer war also eine Funktion im Wandel, da er beim Arbeiten dazulernte, das Codieren vielleicht nur als Einstieg in den Programmiererberuf ausgeübt hatte und sich dann so schnell wie möglich zum Systemanalysator mausern wollte oder zu einer andern Firma wechselte, die ihm mehr Lohn und höhere Weihen versprach. Umgekehrt blieb es keinem Systemanalysator erspart und ließ sich kein Operateur davon abhalten, selber Hand anzulegen und ein wenig Code zu generieren. Die Kommission stellte sich jedenfalls vor, ein prototypischer Programmierer müsse »in der Lage sein, eine sich über Monate hinstreckende kleinliche Detailarbeit mit gleichbleibender Aufmerksamkeit und Liebe, aber auch mit hinreichender Kritik arbeitsmäßig durchzustehen. Daneben werden von ihm ein Sinn für Ordnung und Genauigkeit und ein gewisses Maß an Erfindungsreichtum gefordert.«14 Nach Ansicht der Kommission waren Programmierer jung, hatten eine mittlere Schulreife und konnten – vielleicht schon in absehbarer Zukunft – auch Frauen sein.15 Programmierer hatten kein hohes Prestige, sie wurden wie Angestellte in der Buchhaltungsabteilung ständig kontrolliert und überwacht, es wurde ihnen vorgeschrieben, wie sie zu programmieren hatten und vor allem sagte man ihnen, wie lange das normalerweise dauern durfte. Wo sich Programmierer nicht hinreichend gut funktional, hierarchisch, idealtypisch, mit Anweisungen von Vorgesetzten, Manualen und Taschenbüchern konditionieren ließen,16 hielt man sie wenigstens im firmeneigenen Code, also über den Slang unter Kontrolle. Das geschah besonders dort, wo sie in Massen gebraucht wurden, also bei IBM.17 Hier wurden mög-

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David Gugerli liche Kreativitätsansprüche der Programmierer systematisch eingeschränkt und jede Form von Geheimwissen zum »Hobby« entwertet. Schaut man sich die gängigen IBM-Bezeichnungen für Programmierer an und versucht, die Bilder zu verstehen, die Big Blue für ihre Rolle bereithielt, dann wird sofort klar, warum Programmierer keine Chance hatten, aus individuellem Einfallsreichtum, handwerklichem Können und spezialisiertem Wissen eine professionelle Macht zu entwickeln. Sobald Programmierer wie beim IBM System/360 in Massen angestellt wurden und deshalb ihre Kunstfertigkeit im Umgang mit der Maschine einer industriellen Normierung der Maschine im Medium ihrer Software Platz machen mussten, wurde der alte Programmierertyp als »binary aboriginal« verunglimpft und sein Nachfolger nur noch als »warm body«,18 als »mushroom« mit äußerst beschränkter »outside awareness«19 desavouiert. Wenn Programmierer aber als Abgänger eines 90-tägigen Programmierkurses, in die Firma kamen, dann bezeichnete man sie sogar als »retread«.20 Dieser Ausdruck war üblich für die Neugummierung von Autoreifen, aber bei IBM interagierte er semantisch ebenso boshaft wie elastisch mit den Gummibändern am Handgelenk der bei IBM angestellten »code monkeys.«21 Mitten im boomenden Softwaremarkt mit seiner rasant steigenden Nachfrage nach stabilen Betriebssystemen, neuer Anwendungssoftware und brauchbaren Protokollen, mitten in der großen Nachfrage nach Spezialisten, die diese Software schreiben konnten, zeichnete sich gegen Ende der 1960er Jahre eine für die Figur des Programmierers fatale Entwicklung ab. Der wichtigste Treiber dafür war die Geburt der Informatik aus dem Geist der industriellen Softwareproduktion. Seit sich unter den Spezialisten für Programmiersprachen eine sehr selbstbewusste, akademisch orientierte Gruppe von Algol 68-Dissidenten formiert hatte, die mit dem tautologischen Begriff »structured programming« das Feld der Softwareproduktion restrukturieren wollte, ergab sich für den Programmierer ein äußerst un-

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Der Programmierer günstiger Frontverlauf im Kampf um professionelle Sichtbarkeit und Anerkennung.22 Die metapräskriptiv orientierten SoftwareSpezialisten erkannten, dass die Behandlung struktureller Probleme in der Produktion von Software theoretische Probleme aufwarf, die sich für eine akademische Zurüstung softwarebezogener Wissensbestände eigneten. Mit der Frage nach der Überprüfbarkeit von Programmen hinsichtlich ihrer Konsistenz und formalen Korrektheit ließ sich die Aussicht auf ein auch theoretisch interessantes Tätigkeitsfeld einer zukünftigen Informatik imaginieren. Mit dieser Frage und der Behauptung, dass sich Antworten darauf finden ließen, konnten die Informatiker jene schmale Nische erweitern, die zwischen der Vertrautheit der Experimentalphysiker im Umgang mit Computern, der Angst der angewandten Mathematiker, bald einmal als mögliche Maschinenopfer gehandelt zu werden, und dem unerschrockenen Umgang der Elektrotechniker mit verdrahteter Logik auszumachen war. Im Verein mit den gut organisierten Vertretern von Industrieinteressen gelang es ihnen, die Nische in eine Plattform für die »Informatik« als Disziplin in statu nascendi zu verwandeln und sich an Universitäten zu etablieren.23 Für die Programmierer bedeutete dies aber, dass ihnen die zukünftigen Informatiker mit programmatischer Absicht die Lufthoheit über Programme entzogen. Informatiker konnten von nun an behaupten, dass sie das chronische Rekrutierungsund Qualitätsproblem im Bereich der Softwareproduktion nicht mehr an der Wurzel packen mussten, sondern es »von oben« angehen und mit formalen Instrumenten lösen konnten.24 Während die Einen den Programmierer als unreflektierten Verursacher von Spaghetti-Software taxierten, der mit unauflösbaren GOTO-Statements ein großes Chaos anrichtete, versuchten ihn andere wenigstens vor dem technisch ignoranten User zu schützen.25 Beide schickten ihn damit wieder näher zu dem Ort, von dem er zwei Jahrzehnte zuvor aufgebrochen war. Die von J.L. Ogdin formulierte Alternative der Softwareindustrie,

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David Gugerli zwischen »Mongolian hordes« einerseits und dem »superprogrammer« andererseits zu wählen, führte den Programmierer an oder gar in die Maschine zurück, während er das attraktive theoretische Feld den Informatikern überlassen musste.26 Denn mit der disziplinären Ausgestaltung der Informatik im großen Windschatten des strukturierten Programmierens veränderten sich die Strukturen und damit die Erwartungen an das Personal des Computers. Die Zuständigkeit für die Robustheit, Korrektheit, ja Beweisbarkeit der Softwarearchitektur sollte der Aufsicht der Informatik vorbehalten bleiben, für Programmierer wurden elegante Sprachen verfügbar gemacht, während die Maschine den der Ausarbeitung des Programms nachgelagerten Rest mit Hilfe eines Compilers selber erledigte. Damit geriet der Programmierer in den engen Raum zwischen einer theoretisch begründeten, äußerst rigiden Programmlogik auf der einen und der elektronisch vorgegebenen Logik einer festverschalteten, hochintegrierten Maschine auf der anderen Seite. Womit keiner gerechnet hatte, war der Eskapismus, den diese Enge beim Programmierer erzeugte. Wem die heilige Trias von Sequenz, Selektion und Iteration auch in Pascals elegantem Medium zu eng war, wer angesichts der zunehmenden Definitionsmacht der Betriebssysteme von Mainframes auch nicht mehr direkt an die Maschine heran kam, und wer in dieser verzweifelten Situation sich doch noch einen Rest von »outside awareness« bewahrt hatte, erkannte im Programmieren für andere Zwecke, Auftraggeber und Maschinen eine Fluchtmöglichkeit und Entfaltungschance. Die später als Hacker heroisierten Campuskids hatten es an den Mainframes der Universitäten ausprobiert und begannen ihr dabei erworbenes Wissen an Mikroprozessoren einzusetzen.27 Sie waren keine geschulten Techniker, hatten keine Programmierkurse besucht, sondern betätigten sich als Autodidakten im freien Feld der Hobbyelektronik, in denen es Bau-

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Der Programmierer sätze für Computer zu kaufen gab, die dringend mit einfachen Programmteilen versorgt werden mussten. Das war ein Einsatzgebiet, in dem man nicht einmal »respektlos gegenüber den willkürlichen Vorschriften von Programmen, Systemverwaltern oder Nutzungskontexten« zu sein brauchte. Es galt die Autorität der »autodidaktischen Basteleien« an der je konkreten Technik selbst. Hier ließ sich das eigene Können demonstrieren, indem man es an der »Materialität von Geräten und ihren Leistungsgrenzen« testete, wie Claus Pias schreibt.28 Im hardwareorientierten, äußerst knappen Zeichenkalkül von Mikroprogrammen für Mikroprozessoren bestand die eskapistische Verheißung und berauschende Gewissheit, dass einfache Befehle funktionierten, und zwar sofort. Dem in der Tretmühle arbeitenden und im Zeilenhonorar bezahlten IBM-Programmierer präsentierte sich solches Programmieren plötzlich wieder als Experiment, als raffiniertes kombinatorisches Spiel jenseits dessen, was »Konstrukteure vorgesehen hatten und Handbücher schon wussten«, eines Spiels also, von dem Programmierer spätestens gegen Ende der 1950er Jahre zu träumen aufgehört hatten und Anfang der 1970er Jahre wieder zu schwärmen begannen.29 Sie griffen dafür ohne Zögern auf ein didaktisches Rüstzeug zurück, das John G. Kemeny und Thomas E. Kurtz am Dartmouth College 1964 für den angemessen vereinfachten Programmierunterricht für Elektrotechniker entwickelt hatten, den »Beginner’s All-purpose Symbolic Instruction Code«, kurz: BASIC genannt. Ähnlich grundlegend und einfach wie der Code war auch die Elektronik, an der man sich mit großer Freude auslassen konnte. Es ging nicht ums Programmieren von Mikrochips für intelligente Drehbänke oder »cutting edge« Fräsmaschinen, sondern um jene Leiterplatten, aus denen man mit Lötkolben und dem, was einem väterlichen Heimwerker schon lange zur Verfügung stand, auch einen ganz primitiven Heimcomputer basteln konnte. Wahrscheinlich hätte sich ein Programmierer in den frühen 1960er Jahre gar nicht vorstellen wollen, mit so we-

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David Gugerli nig Rechenleistung und Speicher überhaupt irgendetwas anzufangen. Aber jetzt schrieben sie zusammen mit den verlorenen Söhnen eleganter Colleges Mikroprogramme um die Wette, sonderten Code ab, dessen Eleganz in seiner unanständigen Kürze und Anspruchslosigkeit aufging. Mit all dem gaben sie mächtig an und entwarfen ohne zu zögern eine ziemlich dynamische Gegenkultur zum inzwischen brauchbar und stabil gewordenen Mainframe. Es war Bill Gates, der 1976 in einem offenen Brief darlegte, worin das große Problem dieser eskapistischen Gegenkultur der entflohenen Programmierer und ihrer jugendlichen Partner lag: Man konnte für den Hobbymarkt so viel originellen Code absondern, wie man wollte, mehr als ein Trinkgeld ließ sich damit beim besten Willen nicht verdienen.30 Der Brief wird in der Regel als die Geburtsstunde der Entwicklung und Verbreitung proprietärer Software im Heimcomputermarkt gehandelt. Man kann ihn auch anders lesen: Gates betonte zunächst und ganz einfach, dass dem Hobbymarkt gute Softwarekurse, gute Bücher und im Endeffekt auch gute Software fehlten. 1975 hätten Paul Allen und er, gewissermaßen in weiser Voraussicht, Monte Davidoff angestellt und mit ihm zusammen Altair BASIC entwickelt. Das Wichtigste habe sich zwar in zwei Monaten erledigen lassen. Den ganzen Rest des Jahres aber habe man damit verbracht, die Arbeit zu verbessern, sie zu dokumentieren und zu erweitern. Allein die Computerzeit, die dabei verbraucht worden sei, habe über 40.000 Dollar gekostet. Auch wenn hunderte von Nutzern, die BASIC nun verwendeten, sehr zufrieden mit dem Ergebnis seien, hätten die wenigsten von ihnen das Programm gekauft. Aus den Einkünften resultiere ein Stundenlohn von weniger als zwei Dollar für die drei Entwickler, die gute Arbeit geleistet hätten. Nach einem moralingesäuerten Lamento über Softwarediebstal fiel dann ein Satz, der nicht nur als Drohung gelesen werden konnte, sondern auch eine bemerkenswerte semantische Differenz zum Vorschein brachte, über die man allzu

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Der Programmierer leicht hinweg gelesen hatte: »Nothing would please me more than being able to hire ten programmers and deluge the hobby market with good software.« Das hieß nichts anderes, als dass man auch den Hobbymarkt mit guter Software versorgen, ja gar fluten konnte, wenn die »returns on investment« stimmten. Aber dafür bräuchte man mindestens zehn Programmierer, gewissermaßen die Möglichkeit, Software im mikro-industriellen Maßstab zu produzieren. Paul Allan, Monte Davidoff und Bill Gates dagegen hatten ein Qualitätsprodukt geliefert, das nicht von Angestellten im Zeilenhonorar programmiert, sondern von ergebnisorientierten Partnern entwickelt wurde. Die semantische Differenz von programmieren und entwickeln war nichts weniger als die Ankündigung eines stillen Abgangs des Programmierers bzw. die unauffällige, aber folgenreiche Geburt des Microsoft-Entwicklers. Letzterer entwickelte tagsüber den Source Code minimaler Softwareeinheiten mit vordefinierten input/output Verhältnissen, um ihn dann am Ende der Schicht mit einem Build-Tool der rechnergestützten Versionskontrolle, der Codeanalyse und der Kompilation zu überantworten. Von Programmierern war »hinfort« nicht mehr die Rede, schon gar nicht als Problem.

Anmerkungen 1

Ich danke Malte Bachem, Hannes Mangold, Claus Pias, Simone Roggenbuck und Daniela Zetti für wertvolle Hinweise und kritische Kommentare. Dem DCRL-Programm der LeuphanaUniversität danke ich für zwei äußerst produktive »extended weekends«. 2 Cowlishaw, Mike: IBM Jargon and General Computing Dictionary. Tenth Edition, Winchester: IBM 1990, S. 43. 3 »To be included here, a word or phrase must either have originated in IBM, or (more commonly) its meaning or usage in

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David Gugerli IBM must be different from the usual«. M. Cowlishaw: IBM Jargon, S. 1. 4 Ebd., S. 22. 5 Ebd. 6 Stiefel, Eduard: »Rechenautomaten im Dienst der Technik«, in: Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln/Opladen: Westdeutscher 1954, S. 1. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 4. 9 »Wanted«, in: Daily Herald & News (Steubenville, Ohio) vom 1.4.1875, S. 4. Zit. nach Oxford English Dictionary, Lemma »programmer«, online unter www.oed.com/view/Entry /152231?redirectedFrom=programmer#eid (abgerufen am 24. 10.2014). 10 Abbate, Janet: Recoding Gender. Women’s Changing Participation in Computing, Cambridge, MA: MIT Press 2012, S. 39f. 11 Stichting Studiecentrum voor Administratieve Automatisering (Hg.): Neue Berufsbilder in der Elektronischen Datenverarbeitung. Bericht der Kommission »System-Analysatoren-Programmierer«, München/Wien: Oldenbourg 1966. 12 Siehe bereits Bednarik, Karl: Die Programmierer. Eliten der Automation, Wien/München: Molden 1965; Bossard, Robert/ Marthaler, Werner: Berufe der Datenverarbeitung, Zürich: Schweizerischer Verband für Berufsberatung 1973; Büchi, H. et al.: Liegt meine Zukunft in der Datenverarbeitung? Berufe der EDV. Automationskommission des Schweizerischen Kaufmännischen Vereins, Arbeitsgruppe 1, Zürich: Verlag des Schweizerischen Kaufmännischen Vereins 1974. Anklänge an diesen Diskursstrang finden sich auch noch in Schweizerischer Bundesrat: »Botschaft über Massnahmen zur Förderung der technologischen Entwicklung und Ausbildung«, in: Bun-

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Der Programmierer desblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft (3. Februar 1982), S. 1263-1320. 13 Stichting Studiecentrum: Neue Berufsbilder, S. 11. Diese Beobachtung macht auch J. Abbate: Recoding Gender, S. 41. 14 Stichting Studiecentrum: Neue Berufsbilder, S. 15. 15 Die mögliche Weiblichkeit des Programmierers ist also nicht nur eine Erinnerungsleistung der Gender Studies (J. Abbate: Recoding Gender), sondern auch ein Versprechen der Berufsberater und Arbeitsmarktspezialisten. 16 Mrachacz, Hans-Peter/Peetz, Günther: Taschenbuch für Programmierer, München: Moderne Industrie 1971. 17 Während das US Census Bureau 1960 noch 13.000 »professional/technical computer specialists« gezählt hatte, kam man für 1970 auf 163.000 Programmierer und 108 »computer systems analysts and scientists«. J. Abbate: Recoding Gender, S. 41. 18 M. Cowlishaw: IBM Jargon, S. 59. 19 Ebd., S. 39. 20 Ebd., S. 46. 21 Vgl. »rubber band on wrist«, ebd., S. 47. 22 Zur Algol 68 Opposition und zur Kritik am Erklärungsmodell »Softwarekrise« als historiographischem Artefakt vgl. Haigh, Thomas: Dijksra’s Crisis. The End of Algol and Beginning of Software Engineering 1968-72, Draft, Wisconsin 2010, online unter www.tomandmaria.com/tom/Writing/DijkstrasCrisis_ LeidenDRAFT.pdf (abgerufen am 26.5.2015). 23 Zur Institutionalisierung der Informatik siehe die 2003 von David Gugerli und Daniela Zetti geführten Zeitzeugeninterviews mit Niklaus Wirth, Carl August Zehnder, Heinrich Ursprung und Olaf Kübler, online unter www.ethistory.ethz.ch/ debatten/informatik/ (abgerufen am 13.11.2014). 24 Aufschlussreich für die Technik und Genese des »structured programming« als top-down Strategie in der Entwicklung großer Programme ist: Weiner, Leonard H.: »The roots

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David Gugerli of structured programming«, in ACM SIGCSE Bulletin 10 (1978), S.  243, online unter http://dl.acm.org/citation. cfm?id=990654.990636 (abgerufen am 13.11.2014); kanonisch: Dahl, Ole-Johann/Dijkstra, Edsger W./Hoare, C.A.R.: Structured Programming, London/New York: Academic Press 1972. 25 Vgl. den Beitrag zum User in diesem Band. 26 Ogdin, Jerry L.: The Mongolian Hordes versus Superprogrammer, in: Infosystems 19 (1972), S. 20-23. 27 Thomas, Douglas: Hacker Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 2002. 28 Pias, Claus: »Der Hacker«, in: Eva Horn/Stefan Kaufmann/ Ulrich Bröckling (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin: Kadmos 2002, S. 248-270; hier S. 254 und 257. 29 Ebd., S. 257. 30 Gates, William H.: Open Letter to Hobbyists, 3. Februar 1976, online unter www.blinkenlights.com/classiccmp/gateswhine. html (abgerufen am 13.11.2014).

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Der Bildungsökonom Michael Geiss

Unter den Bildungsökonomen sei er ein »Veteran«, merkte Friedrich Edding 1963 auf einer Tagung des Bundesverbands der Deutschen Industrie an. Der Hauptredner Gottfried Bombach, ein Basler Nationalökonom, hatte gerade sein Grundsatzreferat zum Verhältnis von Bildungspolitik und Wirtschaftsentwicklung beendet und war dabei auch auf Milton Friedmans Vorschlag eingegangen, die Finanzierung öffentlicher Schulen konsequent nach Marktprinzipien umzugestalten. Dies sei eine »Utopie«, so Bombach, die man nicht »ernsthaft« anstreben könne.1 Das sah Edding vollkommen anders. Es sei nicht nachvollziehbar, polterte er, warum man das Bildungswesen nicht als ein Unternehmen auffassen und dementsprechend mit betriebswirtschaftlichen Mitteln dafür sorgen könne, dass es effizienter und effektiver arbeite. Man solle doch den Ideen aus Chicago erst einmal eine Chance geben.2 Auf der Tagung sprachen nicht einfach nur zwei profilierte Bildungsökonomen miteinander. Bombach und Edding repräsentierten die Außenpole eines merkwürdigen, kompliziert gestrickten Denkstils, der als »Bildungsökonomie« in den 1960er und 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum von großer Bedeutung für die politischen und administrativen Eliten war und

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Michael Geiss bis heute nicht von der Bildfläche verschwunden ist. Die deutsche ökonomische Bildungsforschung hatte sowohl einen pädagogischen als auch einen wirtschaftswissenschaftlichen Arm. Beide trugen gemeinsam zur Stabilisierung einer umgrenzten Wissensform bei, die als »Bildungsökonomie« Eingang in die Handbücher gefunden hat.3 Die Bildungsökonomie hat ihre vielfältigen, nicht zwingend miteinander verbundenen Ursprünge in den 1930er und 1940er Jahren. Ihr Erfolg ist nicht denkbar ohne die Planungseuphorie in der Nachkriegskonjunktur und die Bedeutungszunahme internationaler Organisationen. Sie fand bei sozialliberalen Bildungspolitikern, aber auch bei konservativen Kommentatoren, bei marktgläubigen Kulturkämpfern und vereinzelt bei marxistischen Soziologen Anklang. Dass – anders als bei einer früheren Gelegenheit4 – der Volkswirtschaftler Bombach und nicht der Pädagoge Edding vor Industriellen, Bundestagsabgeordneten und Ökonomen den Hauptvortrag halten durfte, konnte also durchaus als ein Statement verstanden werden. So vielfältig die Entstehungs- und Verwendungskontexte auch waren: Als Bildungsökonom konnte sich nur betätigen, wer über eine spezifische Kompetenz verfügte: Er musste mit Zahlen umgehen können. Mit ihrem politisch amorphen Status passte die Bildungsökonomie zur seit den 1980er Jahren zeitdiagnostisch beklagten »neuen Unübersichtlichkeit«.5 Sie transportierte aber auch eine Vorstellung der klassischen Moderne, nämlich die Idee, dass die menschlichen Verhältnisse prinzipiell vermessbar und damit machbar seien. Der Bildungsökonom war der einzige unter den pädagogischen Fachleuten, für den Michel de Certeaus Diktum, die wachsende Autorität eines Experten gehe meist mit schrumpfender Kompetenz einher,6 nicht zutraf. Seine Selbstgewissheit zog er aus den statistischen Analysen von vergangenen und gegenwärtigen Entwicklungen, mit denen er das »pädagogische Establish-

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Der Bildungsökonom ment«7 versorgen konnte. Er dilettierte hingegen, wo er sich auf das Feld der Planung, der Prognose oder der Utopie begab. Friedrich Edding, einer der bis heute bekanntesten westdeutschen Bildungsökonomen, erfüllte dieses Kompetenzprofil zunächst überhaupt nicht. Der Sohn aus einem lutherischen Pfarrershaushalt hatte ein altsprachliches Gymnasium besucht, Geschichte, Deutsch, Theologie sowie Staats- und Verwaltungsrecht studiert, 1934 das Staatsexamen abgelegt und mit einer Arbeit zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland promoviert, die sich der Frage widmete, inwiefern die demokratischen Bestrebungen von 1848 die »Erfüllung und Beförderung des völkischen Lebensgesetzes« im Nationalsozialismus vorbereitet hätten.8 Edding trat in die NSDAP ein, dann wieder aus und wenige Jahre später nochmals ein. Sein Verhalten in dieser Zeit deutete er in einer autobiographischen Rückschau als unpolitisch und verbat sich ein Urteil der Nachgeborenen.9 Seit 1936 war Edding, ohne auf eine entsprechende Ausbildung zurückgreifen zu können, für das Statistische Reichsamt als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Er arbeitete bei Wilhelm Lautenbach, der sich – wie Keynes – für eine staatliche Konjunkturpolitik stark machte und bis heute einen Namen in der Geschichte der Nationalökonomie hat. Nebenbei holte Edding im Abendstudium den Volkswirt nach. Nach Beginn des Ostfeldzugs wurde er in den besetzten Gebieten für wirtschaftsstatistische Arbeiten eingesetzt. Es folgten Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft.10 Im Umfeld des Statistischen Reichsamts entstanden bereits in den 1930er Jahren Untersuchungen, die sich im engeren Sinne bildungsökonomischen Fragen zuwandten. In der deutschen Arbeitsverwaltung und Berufsberatung hatten Versuche der »Totalerfassung« der Bevölkerung und Steuerung der geistigen Ressourcen des Volkes ebenfalls eine längere Vorgeschichte.11 Mit dem Kriegsende und den langen Flüchtlingstrecks aus dem Osten ergab sich nun erneut die Möglichkeit, die ins Land strö-

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Michael Geiss menden, dem deutschen Volk zugerechneten Arbeitskräfte konsequent zu vermessen. Edding fand nach Kriegsende eine Anstellung beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel. In diesem Zusammenhang veröffentlichte er zu – im weiteren Sinne – bildungsökonomischen Fragen, namentlich zur Flüchtlingsproblematik.12 Dass das Instrumentarium der Bildungsökonomie in Deutschland nach dem Krieg bei einem ideologisch derart aufgeladenen Gegenstand wie den »deutschstämmigen« Flüchtlingen Einsatz fand, deutete bereits an, warum dieser Denkstil für die spätere bildungspolitische Debatte so interessant werden sollte. Wie in anderen Ländern auch, löste sich die Bildungsökonomie in Westdeutschland in den 1950 Jahren von ihren sehr spezifischen Entstehungskontexten. Schnell verließ Edding mit seinen Texten den engen Rahmen der frühen Arbeiten und veröffentlichte zum Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und beruflicher Ausbildung, zum Nachwuchsproblem in der Hochkonjunktur, zu Fragen des technologischen Wandels und der Qualifikation des Personals oder zu öffentlichen Ausgaben für Schulen und Universitäten. Diese Arbeiten entstanden zunächst unabhängig vom theoretischen Konzept des Humankapitals, das zeitgleich in Chicago entwickelt wurde und später die Bildungsökonomie dominieren sollte.13 Gottfried Bombach teilte einige der akademischen Stationen mit Edding, ohne dass die Bildungswege der beiden sich geglichen hätten. Er war zwar ebenfalls für einige Zeit am Institut für Weltwirtschaft tätig, schloss aber sein Volkswirtschaftsstudium 1952 mit einer Dissertation zur Theorie des wirtschaftlichen Wachstums ab und war damit, anders als Edding, ein grundständig gebildeter Ökonom, der zudem eine klar mathematisch ausgerichtete Wirtschaftswissenschaft vertrat.14 Bevor Bombach 1954 seinen ersten Ruf auf eine Professur bekam, arbeitete er für die Organisation for European Economic Co-operation (OEEC), die

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Der Bildungsökonom Vorgängerorganisation der OECD. Er forschte hier im Bereich der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.15 Für den zehn Jahre älteren Edding diente die OEEC/OECD hingegen, wie für viele andere Vertreter der Disziplin auch, schon früh als wichtige Plattform zur Profilierung einer eigenständigen Bildungsökonomie, die international anschlussfähig sein sollte. Eigentlich ein Kind des wirtschaftlichen Wiederaufbaus im Zuge des Marshallplans, widmete sich die OEEC seit 1958 auch bildungspolitischen Fragen, zunächst indem sie ein Komitee für wissenschaftliches und technisches Personal einrichtete. Ihrem bildungspolitischen Anliegen blieb die 1961 gegründete Organisation for Economic Co-operation and Developement (OECD) treu, die im Namen den Bezug auf Europa gestrichen, dafür aber ihrem Programm den Entwicklungs-Gedanken (»development«) hinzugefügt hatte.16 Gleich die erste OECD-Tagung in den USA befasste sich mit Fragen der Bildungsplanung. Zusammen mit einem schwedischen und einem britischen Kollegen verfasste Edding den Tagungsbericht.17 Die OECD spielte bei der Konsolidierung des bildungsökonomischen Paradigmas eine tragende Rolle. Zugleich darf man sich das Engagement der Organisation nicht als unilateralen Akt vorstellen. Edding hatte in Kiel im Anschluss an seine Flüchtlingsforschung über mehrere Jahre eine Untersuchung durchgeführt, in der Schüler- und Lehrerzahlen mit den Ausgaben im Bildungswesen in ein Verhältnis gesetzt wurden. Die Arbeit erschien 1958, parallel zu einer ähnlich angelegten Untersuchung von John Vaizey zu den Bildungsausgaben in Großbritannien. Zusammen gründeten die beiden 1960 die Study Group in the Economics of Education, die von der OEEC/OECD finanziert wurde und dem bildungspolitisch äußerst umtriebigen Comittee for Technical and Scientific Personnel zugeordnet war. Ihre Publikationen trugen das Label der Organisation, obschon die Studiengruppe sich als unabhängiger Zusammenschluss etablierter Ökonomen und Bildungsplaner verstand.18

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Michael Geiss Beim erstmaligen Treffen der Study Group war noch nicht einzuschätzen, welche politische und akademische Bedeutung bildungsökonomische Forschung in den folgenden Jahren bekommen sollte. Schnell wurde aus einem Interessenverband methodisch ähnlich ausgerichteter Bildungsforscher eine Institution zur Koordination und Engführung der vielfältigen Projekte in den Mitgliedsstaaten der OECD. 1962 führte die Gruppe eine Arbeitstagung durch, die sich der Ökonomie der höheren Bildung widmete und lud hierzu eine Reihe von Personen ein, die nicht zum inner circle um Edding und Vaizey gehörten und auch programmatisch eine andere Agenda verfolgten.19 An dieser Veranstaltung nahm Gottfried Bombach ebenfalls teil und entschuldigte sich zunächst, kein Experte auf dem Gebiet der Bildungsökonomie zu sein und die Literatur der letzten Jahre kaum zu kennen.20 Bombachs Thema war die volkswirtschaftliche Frage nach dem langfristigen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften bei anhaltendem Wirtschaftswachstum – (nicht nur) in der Schweiz, wo der Ökonom mittlerweile Professor war, eines der wirtschaftspolitisch stark debattierten Probleme. Konsequent behandelte der Ökonom die Thematik aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive, mit dem Bedarf der Wirtschaft als Referenzpunkt. Die »purposes of educational policy«21 gaben zwar den Verwendungszweck, nicht aber methodische Ausrichtung und Erkenntnisinteresse vor. Ganz anders Edding, der mittlerweile auf die erste westdeutsche Professur für Bildungsökonomie an die Frankfurter Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung berufen worden war.22 Sein Beitrag für die Arbeitstagung der Study Group 1962 widmete sich den Möglichkeiten der Bildungsplanung. Eddings Programm zielte explizit auf die Auflösung der Trennung von wissenschaftlicher Forschung und politischer Planung. Beide sollten gemeinsam dafür kämpfen, die Bildungsexpansion qualitativ, aber auch finanziell in den Griff zu bekommen. Darin lag für Edding die zentrale Aufgabe der Bildungsökonomie.23 Ed-

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Der Bildungsökonom ding setzte demographische Daten, Schüler- und Lehrerzahlen sowie Bildungsausgaben ins Verhältnis und verglich die OECDStaaten mit der UDSSR. Oder er stellte die historischen Verläufe in den Bildungsabschlüssen vergleichend dar und extrapolierte diese ins folgende Jahrzehnt.24 Parallel dazu dachte man auch in Chicago über die Bedeutung von Wissen und Fertigkeiten für das Wirtschaftswachstum nach. Mit dem Zweiten Weltkrieg hatte in den amerikanischen Wirtschaftswissenschaften Humankapital als ökonomische Größe vermehrt Beachtung gefunden. Kriegsführung und Fiskalpolitik waren nur zwei Forschungsfelder, für die nun auch Bildung, Erziehung und andere menschliche Vermögen berücksichtigt wurden.25 Gemessen an dem, was in Chicago seit den späten 1950er Jahren theoretisch entwickelt wurde, erscheinen die deutschen Ansätze als eher stumpfe analytische Versuche, dem Gegenstand Bildung ökonomisch beizukommen. Die Chicagoer Schule stellte »Humankapital« als eine einheitliche Größe dar, auch wenn es – in der bekannten Formel Gary Beckers – neben Wissen und Fertigkeiten immerhin noch Gesundheit und Werte umfassen sollte. Mit einer einzigen anthropologischen Prämisse, die den Menschen als nutzenmaximierendes Individuum verstand, schien der Ansatz aus Chicago den anderen theoretischen Überlegungen in seiner einfachen Struktur, dem analytischen Potenzial und der empirischen Umsetzbarkeit überlegen zu sein. 1958 von Jacob Mincer als Begriff eingebracht, von Gary Becker radikalisiert, von Theodore Schultz 1960 in seiner Eröffnungsrede als Präsident der American Economic Association zum Programm erhoben, etablierte und differenzierte sich die amerikanische Humankapitaltheorie in ähnlich rasantem Tempo, wie die Study Group der OECD von den parallelen Entwicklungen überrannt worden war.26 Öffentliche Ausgaben oder Schülerzahlen ließen sich direkt in politische oder administrative Maßnahmenpakete übersetzen, da sie regulierbare Größen darstellten. Humankapital hingegen,

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Michael Geiss also Wissen, Können und körperliche Verfassung, war zwar nicht unabhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu denken, konnte aber politisch gesehen nur mittelbar erreicht werden. Die Chicagoer Ökonomen reagierten mit ihrem Ansatz denn auch stärker auf forschungsmethodische Probleme als auf Steuerungsdefizite. Anhand der üblicherweise einbezogenen Kapitalsorten ließ sich das dominante Produktionsregime eines Staates und dessen Wirtschaftswachstum noch nicht vollständig erklären. Um diesen Defiziten in der Theoriebildung beizukommen, schienen nun mit Hilfe der Humankapitaltheorie auch die bisher vernachlässigten Restgrößen angemessen berücksichtigt.27 In Deutschland hingegen sollte die Bildungsökonomie explizit und unmittelbar der Rationalisierung der Bildungsplanung dienen, was entsprechende institutionelle Strukturen notwendig erscheinen ließ. 1963 wurde in Berlin das Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft gegründet. Ein Jahr später wurde Friedrich Edding, inzwischen Professor an der Technischen Universität Berlin, auf einen der drei Direktorenposten berufen. Von 1966 bis 1972 war Edding außerdem Mitglied des Deutschen Bildungsrates, einem Gremium, das 1970 mit dem Strukturplan für das Bildungswesen eine nie wirklich umgesetzte, bis heute aber in Ansprüchen und Terminologien die erziehungswissenschaftliche Diskussion bestimmende Gesamtschau der Bildungseinrichtungen vorlegte. Der deutsche Bildungsrat war ein prominent besetztes Gremium zur Politikberatung, das aus einer Bildungs- und einer Regierungskommission bestand und so Vertreter der Wissenschaft und politische Entscheidungsträger unmittelbar zusammenbrachte.28 Diese Einheit von Politik und Wissenschaft in Form eines Rates blieb für Edding das Ideal, die Bildungsökonomie praktisch wirksam werden zu lassen. Gleichzeitig entstand an außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie dem Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung eine elaborierte empirische Bil-

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Der Bildungsökonom dungsforschung, die, wenn auch erst Jahrzehnte später, die Erziehungswissenschaft prägen und zum »Durchlauferhitzer«29 akademischer Karrieren werden sollte.30 Edding hatte in Berlin eine Schule begründet, die den Anspruch erhob, die deutsche Bildungsökonomie zu repräsentieren und mit den Humankapitaltheoretikern aus Chicago auf Augenhöhe zu diskutieren.31 Die bildungsökonomische Forschung am von Bombach geleiteten Institut für angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Basel widmete sich hingegen zunächst nicht den heimischen Verhältnissen.32 Zwar entstanden hier ebenfalls Untersuchungen zum Bildungswesen, die von jüngeren Kollegen verantwortet wurden. In der Schweiz ließ sich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht in gleicher Weise das notwendige Kapital abrufen, das für die aufwendige bildungsökonomische Großforschung notwendig war. Wie im privaten Prognos-Institut, mit dem Bombach eng verbunden war, richtete man sich deshalb zunächst weniger auf den Schweizer Markt, sondern bot den unterschiedlichen Interessenten im benachbarten Westdeutschland die eigene Expertise an.33 Eine Arbeit zur Entwicklung des Bedarfs an Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik Deutschland wurde etwa im Auftrag des deutschen Wissenschaftsrates durchgeführt. Die Erhebung griff auf diejenigen theoretischen Überlegungen zurück, die Bombach bereits für die OECD ausgearbeitet hatte.34 Die Situation in der Schweiz änderte sich, als 1968 zunächst der Wissenschaftsrat allein, dann gemeinsam mit der Schweizer Regierung dem St. Galler Volkswirtschaftsprofessor Francesco Kneschaurek den Auftrag gab, eine Prognose des zukünftigen Bedarfs an Arbeitskräften zu erstellen. Kneschaurek hatte bereits – noch als Berater der Generaldirektion eines großen Schaffhauser Industriebetriebs – in den 1950er Jahren zum Verhältnis von Strukturwandel und Personalmangel geforscht und sich damit in der Schweiz einen Namen gemacht.35 Die Bildungsökonomen aus Basel sollten für den staatlichen Großauftrag mit Kneschaurek zusammenarbeiten. Das wurde jedoch massiv erschwert, da

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Michael Geiss sie sogleich Gegenstand einer heftigen Auseinandersetzung um die zukünftige Ausrichtung bildungsökonomischer Forschung in der Schweiz wurden.36 Die Basler hatten unter anderem eine Akademikerschwemme vorhergesagt.37 Dieses Ergebnis, in der »Modellstudie« vorsichtig als mögliches Szenario entworfen, wurde breit diskutiert.38 Die forschungsmethodische wie bildungspolitische Kontroverse um den prognostizierten Akademikerüberschuss veranschaulicht nicht nur, wie differenziert die junge Disziplin mittlerweile war. Sie zeigt auch die Problematik einer Einheit von Bildungsforschung und Bildungsplanung, wie sie von Edding fast schon propagandistisch beworben worden war und auch von Bildungsökonomen der zweiten Generation aus strategischen Gründen praktiziert wurde.39 Die Bildungsökonomie konnte sich zwar, wie bei der Diskussion um die Basler Studie, auf den Modellcharakter ihrer Arbeiten zurückziehen, ohne dass das aber die Rezeption in irgendeiner Weise verändert hätte. Der Bildungsökonom wurde in Deutschland und der Schweiz gern als Experte befragt, wenn es politisch schwierig wurde. Etwa wenn entschieden werden sollte, ob eine Öffnung der höheren Schulen sinnvoll sei, inwiefern ein akademisches Proletariat drohte oder welche Zukunft der betrieblich verankerten Berufsbildung beschieden war.40 Er sollte eine rationale Grundlage für die Bildungspolitik bereitstellen und eine Legitimation der Verteilung grundsätzlich begrenzter Ressourcen liefern. Seine disziplinäre Differenzierung ist ohne die etatistische Planungseuphorie der 1960er Jahre nicht zu verstehen.41 Die deutsche Bildungsökonomie läutete keine »Renaissance des Humankapitalkonzepts« ein.42 Sie verfügte zunächst gerade nicht über ein kohärentes Konzept des »Humankapitals«. Ihre »Theorielosigkeit« und ihr politischer Pragmatismus wurden ihr in den frühen 1970er Jahren denn auch von linker Seite wiederholt zum Vorwurf gemacht. Als Lösung für dieses Problem galt den Kritikern eine konsequent marxistische Fundierung

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Der Bildungsökonom und eine empirische Öffnung hin zu den Realitäten von Qualifizierungsmaßnahmen in der Privatwirtschaft. Auf diese Weise sollten politisches Programm und kohärente ökonomische Forschung in Einklang gebracht werden.43 Dass Theorie und Politik der Bildungsökonomie ausgerechnet über den Umweg via Chicago harmonisiert werden würden, konnte sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorstellen.

Anmerkungen 1 Reusch, Hermann et al.: Bildungswesen und wirtschaftliche Entwicklung, Heidelberg: Verlagsgesellschaft Recht und Wirtschaft 1964, S. 14. 2 Ebd., S. 41ff. 3 »Bildungsökonomie«, in: Winfried Böhm (Hg.), Wörterbuch der Pädagogik, 14. überarb. Aufl., Stuttgart: Kröner 1994, S. 106f. 4 Edding, Friedrich: »Die Qualität des Nachwuchses als bestimmender Faktor unseres künftigen wirtschaftlichen Leistungsniveaus«, erweiterter Vortrag am Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, in: Arbeitsausschuss für Berufsbildung, Unternehmer und Berufsausbildung: Köln 1953, S. 9-31. 5 Arendes, Cord: »Auf der Suche nach dem roten Faden. Jürgen Habermas’ Lesarten der europäischen Moderne in unübersichtlichen Zeiten«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7/1 (2010), online unter www.zeithistorische-forschungen.de/1-2010/id=4394 (abgerufen am 01.07.2015). 6 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 43. 7 Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 343.

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Michael Geiss 8 Edding, Friedrich: Vom Ursprung des Demokratismus in Deutschland. Die Verfassungsideen der demokratischen Partei in der Paulskirche, Düsseldorf: Nolte 1936, S. 11. 9 Edding, Friedrich: Mein Leben mit der Politik 1914-1999. Teilhabe an der Entwicklung bildungspolitischen Denkens, Überarb. Neuaufl., Berlin: Max-Planck-Inst. für Bildungsforschung 2000, S. 20ff. 10 Eddings Jahre im Dritten Reich sind bisher nicht historisch aufgearbeitet worden. Erstmals widmet sich nun Anne Rohstock im Kontext eines größeren Projekts, das sich mit der Entstehung der Bildungsforschung im »Laboratorium« der Weltkriege auseinandersetzt, dieser Leerstelle. Vgl. Rohstock, Anne: »Das Schweigen der Männer? Über die Gegenwart des Nicht-Sagbaren in Vergangenheits- und Zukunftskonstruktionen der Erziehungswissenschaft nach 1945«, in: Karin Amos/ Markus Rieger-Ladich/Anne Rohstock (Hg.), Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015; Rohstock, Anne: »Slaughtering the Sacred Cow of the History of Education. The War as Laboratory and its impact on the Transition of Education Research«, in: Karin S. Amos/ Anne Rohstock/Alexander W. Wiseman (Hg.), Scientization: Knowledge Society’s Dynamic Force. International Perspectives on Education and Society, erscheint 2015. Siehe zum bisherigen Kenntnisstand F. Edding: Mein Leben mit der Politik, S. 35ff.; Mayer, Karl Ulrich: »Friedrich Edding«, in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 2003, München: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 2003, S.  105f.; Ehmann, Christoph: »Ein Verderber des Bildungswesens. Erinnerungen an den Bildungsökonomen Friedrich Edding«, in: Frankfurter Rundschau 24 (29. Januar 2003), S. 5; Jaeger, Hans: »Lautenbach, Wilhelm«, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 726f., online unter: www.deutsche-biographie.de/ ppn133544710.html (abgerufen am 01.07.2015); Binder, Paul:

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Der Bildungsökonom

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»Wilhelm Lautenbach und die moderne Nationalökonomie«, in: FinanzArchiv/Public Finance Analysis, New Series 14/1 (1953/54), S. 178-190, hier: S. 179. Gutberger, Hansjörg: Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsforschung in Deutschland zwischen 1930 und 1960, Wiesbaden: VS 2006, S.  72ff.; Meskill, David: Optimizing the German Workforce. Labor Administration from Bismarck to the Economic Miracle, New York: Berghahn 2010, S. 67ff. Edding, Friedrich/Hornschu, Hans-Erich/Wander, Hilde: Das deutsche Flüchtlingsproblem. Neue Unterlagen zur Beurteilung der Bevölkerungsstruktur und der regionalen Lastenverteilung. Kiel: Institut für Weltwirtschaft an der Universität 1949; Edding, Friedrich: The refugees as a burden, a stimulus and a challenge to the West German economy. Publications of the Research Group for European Migration Problems 4, The Hague: Nijhoff 1951. Edding, Friedrich/Wander, Hilde: »Bessere Ausbildung des Nachwuchses als Bedingung wachsenden Wohlstands in Westeuropa«, in: Die Weltwirtschaft 1 (1953), S. 106-113; Becker, Hellmut: »Friedrich Edding’s Contribution to the Economics of Education and to Educational Research«, in: Klaus Hüfner/ Jens Naumann (Hg.), Bildungsökonomie – eine Zwischenbilanz. Economics of Education in Transition. Friedrich Edding zum 60. Geburtstag (Texte und Dokumente zur Bildungsforschung), Stuttgart: Klett 1969, S. 17-23. Lengwiler, Martin: Der lange Schatten der Historischen Schule. Die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel, Vorlesung vom 17.04.2010, online unter https:// unigeschichte.unibas.ch/cms/upload/FaecherUndFakultaeten/ Downloads/Lengwiler_Entwicklung_Wirtschaftswissenschaf ten.pdf, S. 10 (abgerufen am 01.07.2015); Bongard, Willi: »Ein Praktiker der Theorie«, in: Die Zeit vom 28. Februar 1969, S. 31f.

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Michael Geiss 15 Nützenadel, Alexander: Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S.  102f.; Speich Chassé, Daniel: »Was zählt der Preis? Dogmengeschichte und Wissensgeschichte der Ökonomie«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014), S. 132-147, hier: S. 135ff. 16 Tröhler, Daniel: »Standardisierung nationaler Bildungspolitiken. Die Erschaffung internationaler Experten, Planer und Statistiken in der Frühphase der OECD«, in: IJHB 3/1 (2013), S. 63f. 17 Bürgi, Regula: »Let the Cat Turn Round«. The Creation of OECD’s Center for Educational Research and Innovation (CERI), Université du Luxembourg 2013, unveröffentlichtes Typoskript. 18 F. Edding: Mein Leben mit der Politik, S. 67. 19 Friis, Henning: »Preface«, in: Seymour E. Harris (Hg.), Economic Aspects of Higher Education, Paris: OECD 1964, S. 7f. 20 Bombach, Gottfried: »Long-Term Requirements for Qualified Manpower in Relation to Economic Growth«, in: S.E. Harris: Economic Aspects, S. 201. 21 Bombach, Gottfried: The assessment of the long-term requirements and demand for qualified personnel in relation to economic growth for the purposes of educational policy, Directorate for Scientific Affairs, OECD, Manuskript eines Vortrags vom 9. Dezember 1963 in Paris. 22 von Recum, Hasso: Steuerung des Bildungssystems. Entwicklung, Analysen, Perspektiven, Berlin: Berliner WissenschaftsVerlag 2006, S. 50f. 23 Edding, Friedrich: »The Planning of Higher Education in the Federal Republic of Germany«, in: S.E. Harris: Economic Aspects, S. 166. 24 Ebd., S. 84; S. 94.

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Der Bildungsökonom 25 Teixeira, Pedro Nuno: »Gary Becker’s Early Work on Human Capital. Collaborations and Distinctiveness«, in: Journal of Labor Economics 3/12 (2014), S. 2f. 26 Sweetland, Scott R.: »Human Capital Theory. Foundations of a Field of Inquiry«, in: Review of Educational Research 66/3 (1996), S. 341-359, hier S. 345ff. 27 Bernet, Brigitta/Gugerli, David: »Sputniks Resonanzen. Der Aufstieg der Humankapitaltheorie im Kalten Krieg. Eine Argumentationsskizze«, in: Historische Anthropologie 19/3 (2011), S. 433-446, hier: S. 435ff. 28 Hoffmann-Ocon, Andreas: »Politisierung von Bildungsexpertise? Zur Organisation der Sekundarstufe I in Ausschussentwürfen des Deutschen Bildungsrates und der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren«, in: Andreas Hoffmann-Ocon/Adrian Schmidtke (Hg.), Reformprozesse im Bildungswesen. Zwischen Bildungspolitik und Bildungswissenschaft, Wiesbaden: Springer 2012, 129-165, hier S. 135ff. 29 So die Aussage eines der Akteure in einem Interview zur Etablierung der empirischen Bildungsforschung in Deutschland. Vgl. Aljets, Enno: Der Aufstieg der Empirischen Bildungsforschung. Ein Beitrag zur institutionalistischen Wissenschaftssoziologie, Wiesbaden: Springer 2015, S. 216. 30 Etwa Hüfner, Klaus: Traditionelle Bildungsökonomie und systemorientierte Bildungsplanung, Berlin: Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft 1969. 31 Schmitz, Enno: Das Problem der Ausbildungsfinanzierung in der neoklassischen Bildungsökonomie, Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 1973. 32 Widmaier-Wildi, Hans-Peter: Bildungsökonomik als Grundlage einer Bildungspolitik. Vortrag anlässlich des 46. Jahreskongresses des Verbands der Schweizerischen Studentenschaft (VSS) am 27. Januar 1966 im Kantonsratssaal von Zug, Basel: Universität Basel/Institut für angewandte Wirtschaftsforschung 1966; Widmaier-Wildi, Hans-Peter: Bildung und Wirt-

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Michael Geiss schaftswachstum. Eine Modellstudie zur Bildungsplanung im Auftrag des Kultusministeriums Baden-Württemberg, Villigen: Neckar 1966. 33 M. Lengwiler: Der lange Schatten; Seefried, Elke: »Prognostik zwischen Boom und Krise. Die Prognos AG und ihre Zukunftsprognosen für die Entwicklung der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren«, in: Jakob Vogel/Heinrich Hartmann (Hg.), »Prognosen«. Zukunftswissen und Expertise in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 76-106. 34 Riese, Hajo: Die Entwicklung des Bedarfs an Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: Steiner 1967. 35 Kneschaurek, Francesco: »Das Nachwuchsproblem im Rahmen der langfristigen Strukturwandlungen unserer Wirtschaft. Arbeitermangel und Nachwuchsschulung im Lichte der langfristigen Wirtschaftsentwicklung«, in: Industrielle Organisation 26/6 (1957), S.  209-216; Scherer, Sarah Brian: »Kneschaurek, Francesco«, in: Historisches Lexikon der Schweiz, online unter www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D24736. php (abgerufen am 01.07.2015). 36 Arbeitsgruppe Perspektivstudien: Perspektiven des schweiz. Bildungswesens. Entwicklungsperspektiven der Schweizerischen Volkswirtschaft bis zum Jahre 2000, Oberleitung Francesco Kneschaurek, Teil 4, St. Gallen: St. Galler Zentrum für Zukunftsforschung 1971. 37 Jermann, Matthias et al.: Bildungswesen, Arbeitsmarkt und Wirtschaftswachstum. Eine Modellstudie zur langfristigen Entwicklung der Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen in der Schweiz, Bern: Haupt 1972. 38 »Mangel oder Ueberfluss an Akademikern? Zu einer umstrittenen Frage«, in: NZZ vom 9. Februar 1971, S. 17. 39 Straumann, Peter R.: »Zur Vulgarisierung der Bildungsökonomie«, in: Leviathan 1 (1973), S. 71-89; hier S. 72ff.

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Der Bildungsökonom 40 Etwa »Auch der Polizist soll studieren. Spiegel-Interview mit dem Bildungsökonomen Hajo Riese«, in: Der Spiegel 44 (1973), S. 46. 41 P.R. Straumann: Vulgarisierung der Bildungsökonomie, S. 73. 42 Hüfner, Klaus: »Die Entwicklung des Humankapitalkonzepts«, in: ders. (Hg.), Bildungsinvestitionen und Wirtschaftswachstum. Ausgewählte Beiträge zur Bildungsökonomie, Stuttgart: Klett 1970. 43 Altvater, Elmar/Huisken, Freerk (Hg.): Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Erlangen: Politladen 1971; Haug, Frigga: »Zum Streit um die Bildungsökonomie. Altvater und die Folgen«, in: Das Argument 88/16 (1974), S. 883-909; Schmitz, Enno: »Tendenzen der bildungsökonomischen Forschung«, in: Deutsche Hochschulzeitung 14 (1973), S.  593ff.; Schmitz, Enno: »Was kommt nach der Bildungsökonomie«, in: Zeitschrift für Pädagogik 19/5 (1973), S. 799-820.

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Die Stadtguerillera Hannes Mangold

Der Sprengsatz explodierte am Abend des 4. März 1975. Mehrere der großen Glasscheiben an der Fassade des Bundesverfassungsgerichts (BVG) in Karlsruhe gingen zu Bruch. Personen wurden keine verletzt. Über die Hintergründe des Anschlags informierte ein Bekennerschreiben, das am Folgetag beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel einging: Die Bombe richtete sich als symbolischer Akt gegen die Karlsruher Richter.1 Diese hatten wenige Tage zuvor den Paragraphen 218 bestärkt und den deutschen Bundestag zurückgepfiffen, der die Fristenlösung einführen und Abtreibungen bis in die zwölfte Schwangerschaftswoche hatte legalisieren wollen. Die Täterinnen empfanden diese Kriminalisierung von Abtreibungen als »Terrorurteil«, das in seiner »Frauenverachtung und -vernichtung« absolut unerträglich sei und das sie »mit allen Mitteln« zu bekämpfen vorgaben.2 Unterzeichnet war das Bekennerschreiben von den »Frauen der Revolutionären Zelle«. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik trat damit eine Gruppierung auf den Plan, die exklusiv und explizit aus weiblichen Stadtguerilleras bestand. Beim Anschlag auf das Bundesverfassungsgericht wurde die explosive Mischung, die der Stadtguerillera eingeschrieben war, zum ersten Mal sichtbar. Dabei hatte es die Figur der Stadt-

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Hannes Mangold guerillera schon früher gegeben. In der Roten Armee Fraktion (RAF) und anderen militanten Gruppierungen hatten sich Frauen seit dem Beginn der 1970er Jahre am revolutionären Stadtkampf beteiligt. Indem die Figur sowohl die Gleichberechtigung der Geschlechter, als auch der Arbeiterklasse und der Kolonien forderte, verkörperte sie für den bürgerlichen, männlichen Westeuropäer die Bedrohung aller seiner aus dem imperialen Zeitalter verbliebenen Privilegien. Wie eine postmoderne Erinnye brauste die Stadtguerillera durch die hochmoderne, patriarchale Gesellschaftsordnung. Dass sie dennoch nicht umgehend im Kuriositätenkabinett der Geschichte abgelegt wurde, lag vor allem an ihrer sicherheitspolitischen Brisanz. Um 1975 schien die Geburt der Revolution aus dem bewaffneten Kampf nicht nur denk-, sondern auch machbar. Das lag auch an der »Bewegung 2. Juni«. Die Berliner Stadtguerilla-Truppe hatte Ende Februar den Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz entführt, einen Unfall mit Lorenz’ Dienstwagen fingiert, den Politiker gekidnappt und in einem geheimen Kellerverlies in Kreuzberg versteckt. Mit ihrer prominenten Geisel war es der Gruppierung anfangs März gelungen, fünf ihrer verurteilten und inhaftierten Genossinnen und Genossen freizupressen. Die politischen Entscheidungsgremien in Bonn und Berlin hatten diese mit 120.000 DM ausgestattet und in einer eigens gecharterten Maschine in die Volksrepublik Jemen ausgeflogen.3 Die »Frauen der Revolutionären Zelle« verwiesen in ihrem Bekennerschreiben auf diese »Aktion«. Als sie die Bombe am Bundesverfassungsgericht zündeten, glaubten nicht nur sie, dass der Staat mit der Methode der urbanen Guerilla in die Knie gezwungen werden konnte. Mit den Scheiben des Bundesverfassungsgerichts wollten sie schlechterdings das »System« zum Zerbersten bringen. Stadtguerilla-Trupps wie die »Revolutionäre Zelle« (RZ), die Bewegung 2. Juni oder die RAF stießen in der Bevölkerung auf ein beachtliches Maß an Sympathie. Von rechts wie links bekamen sie das Potential zugesprochen, als Trägerin

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Die Stadtguerillera einer möglichen Revolution zu fungieren. Der Pulverduft, der sich am Abend des 4. März 1975 am Karlsruher Gericht verbreitete, roch weithin nach Revolution. Ermöglicht hatte diese Wahrnehmung der Bruch von 1968. Die Stadtguerilla-Gruppen waren wie ein Phoenix aus der Asche der »Außerparlamentarischen Opposition« (APO) gestiegen. Als die Massenorganisation der Protestbewegung ihre integrative Kraft verlor und nach »68« in zahlreiche Kleingruppen zersplitterte, als viele Reformwillige mit dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt »mehr Demokratie« wagten oder sich mit Rudi Dutschke auf den »langen Marsch durch die Institutionen« begaben, begannen sich jene, die das System mit Bomben sprengen wollten, als kleine Kampfverbände zu organisieren. Sie wollten nicht länger rumsitzen und »schwatzen«, schrieben sich das »Primat der Praxis« auf die Fahne und gingen in die »Illegalität«, wie jeder, der es wissen wollte, in ihren programmatischen Texten nachlesen konnte.4 Als Ort für ihren Kampf wählten sie die Großstadt. Das Zusammenführen von Kleinkrieg und Großstadt war zunächst kontraintuitiv. Die »Guerilla«, benannt nach dem »kleinen Krieg«, der im frühen 19. Jahrhundert in Spanien gegen die napoleonischen Besatzer geführt worden war, hatte sich als Strategie der asymmetrischen Kriegsführung seit dem Zweiten Weltkrieg zwar durchgesetzt. Ob in den 1940er Jahren auf dem Balkan und in China, in den 1950er Jahren auf Kuba oder in den 1960er Jahren in Vietnam: Stets hatte eine schlecht ausgerüstete Minderheit die überwältigende Mehrheit einer technisch hochgerüsteten Armee in Schach gehalten. Aber alle diese Kriege waren im Hinterland geführt worden, unter schwierigen topographischen Bedingungen, die mechanisierte und fremde Truppen behinderten, den lokalen Guerilla dagegen Rückzugs- und Überraschungsmöglichkeiten boten. Deshalb stimmten von Carl von Clausewitz über Mao Zedong bis zu Che Guevara alle Guerillatheoretiker darin

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Hannes Mangold überein, dass eine Guerilla den Stadtkampf tunlichst zu vermeiden hatte.5 Im Gegensatz zu den Säulenheiligen des sozialistischen Befreiungskriegs erkannten die uruguayischen »Tupamaros« das Potential des urbanen Dschungels. Sie trugen ihren Kampf in die Hauptstadt Montevideo. Dort ballte sich nicht nur nahezu die Hälfte der Bevölkerung zusammen, sondern es schienen auch die besseren Kampfbedingungen gegeben als in der populationsarmen, weiten und baumlosen Pampa Uruguays. In der Großstadt raubten die Tupamaros ab 1965 Banken aus, um ihr Leben im Untergrund zu finanzieren. In der Großstadt bewaffneten sie sich, indem sie Polizei- und Armeestationen um ihre Waffenarsenale erleichterten. In der Großstadt unterhielten sie konspirative Wohnungen, um ein Leben im Untergrund zu führen. In der Großstadt ließen sie Bomben bei ausländischen Firmen hochgehen, um auf ihre antiimperialistischen Anliegen aufmerksam zu machen. In der Großstadt entführten sie Personen des öffentlichen Interesses, um Geständnisse, Geld und Gefangenenaustausche zu erpressen. Bis 1970 waren die Tupamaros von rund 50 auf über 1000 Mitglieder angewachsen, genossen in der Bevölkerung breite Sympathie und großen Respekt und hatten den Staat in einen Notstand und offenen Konflikt gezwungen.6 Als eine Art postmoderne Robin Hood-Truppe ritt diese erste Stadtguerilla auf einer Welle des Erfolgs. Zumindest beherrschte diese Ansicht die globale sozialistisch-antiimperialistische Szene. Von den uruguayischen Tupamaros inspiriert verbreitete sich das Konzept der Stadtguerilla auf der ganzen Welt: Um 1970 kämpften Stadtguerillas in Argentinien und Brasilien, in Japan und Italien, in den USA und der Bundesrepublik.7 Sie alle sahen sich als Avantgarde, die als Speerspitze für den globalen sozialistischen Umsturz kämpfte. Besonders fleißig und phantasielos adaptierten die westdeutschen Revoluzzer das südamerikanische Modell. Sie kopierten

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Die Stadtguerillera neben der Taktik auch den Namen und nannten sich »Tupamaros München« respektive »Tupamaros West-Berlin«. Die deutschen Tupamaros bestellten taktisch, strategisch und organisatorisch das Feld für den urbanen Kleinkrieg in der Bundesrepublik. Bevor sie sich in RAF, RZ und Bewegung 2. Juni auflösten, übertrugen sie das Manual ihrer südamerikanischen Vorbilder auf westdeutsche Verhältnisse. Dabei half neben den Schriften Maos und Ches auch die Kleinkriegsanleitung für Jedermann, mit der ein stramm antikommunistischer Major der Schweizer Armee sein Volk auf den Widerstandskrieg gegen die wirkliche Rote Armee hatte vorbereiten wollen.8 Besonders wichtig war jedoch das Minihandbuch des Stadtguerilleros, 1969 verfasst vom brasilianischen Revolutionär Carlos Marighella, 1970 ins Englische und Deutsche übertragen und rasch in der Szene verbreitet.9 Marighellas Taktik – kleine, weitgehend unabhängige, konspirative Zellen, die hochmobil und -flexibel im urbanen Raum agierten – wurde so zum internationalen Maßstab der Stadtguerilleras und -guerilleros. Auch der von Marighella propagierte Instrumentenkoffer setzte sich unter den urbanen Revolutionären durch. Banküberfälle, Bombenanschläge und Personenentführungen etablierten sich von Montevideo über Montreal bis München im Standardrepertoire der Stadtguerilla. In dieser Hinsicht erfüllten der Sprengstoffanschlag auf das Bundesverfassungsgericht und die Entführung von Peter Lorenz die internationale Norm. Ungewöhnlich war dagegen der Umgang der deutschen Stadtguerilla mit der Kategorie »Geschlecht«. Anders als in der südlichen wurde die sogenannte Frauenfrage in der nördlichen Hemisphäre zu einer zentralen Thematik. Einerseits äußerte sich das theoretisch in der Zunahme an Abhandlungen zur gesellschaftlichen Rolle der Frau.10 Andererseits zeigte es sich praktisch in der Figur jener jungen Frauen, die den Bürgerinnen und Bürgern von den Fahndungsplakaten der Anti-Terror-Einheiten entgegenblickten. Die uruguayischen Tupamaros hatten

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Hannes Mangold keine Kämpferinnen gekannt. So faszinierte die Stadtguerillera auch aufgrund ihrer Unbekanntheit: Violenz und Weiblichkeit, Monstrosität und Attraktivität, Klassenkampf und Frauenbefreiung – gerade weil sie scheinbare Widersprüche in sich vereinte, forderte sie ihre Zeitgenossen zu Erklärungen heraus. Das der Figur innewohnende Spannungsverhältnis konnte entweder dazu beitragen, die hergebrachten sozialen Kategorien zu überdenken. Oder aber es führte zu einer umso vehementeren Verteidigung der bestehenden Verhältnisse. Den Massenmedien bereitete es wenig Schwierigkeiten, die neue Figur in alte Erzählungen zu übersetzen. Und so wurde die Stadtguerillera berühmt als eine postmodern aktualisierte femme fatale. Nicht nur in der Boulevardpresse trat die Stadtguerillera als zugleich attraktive und todbringende Frau auf. Schon fünf Jahre bevor Der Spiegel »über die Motive femininer Militanz« rätselte (»›Exzeß der Emanzipation‹?«), hatte sich Gudrun Ensslins Verhaftung 1972 mit Bildern von Schusswaffen und vom nackten Körper der ehemaligen Experimentalschauspielerin illustrieren lassen.11 Ihre Überzeugungskraft bezog die Stadtguerillera dabei aus dem magischen Dreieck aus Attraktivität, Mut und Hinterlist. Nicht anders als bei Judith oder Delilah im Alten Testament manifestierte sich diese Kraft im Abtrennen von männlichen Körpergliedern, wie die 1968 vom Frankfurter »Weiberrat« skandierte Parole zweifelsfrei belegte: »Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!«12 Damit spielte der Weiberrat ironisch auf die Kastrationsängste der Genossen und deren schizoides Verhältnis zwischen sozialistisch-progressivem Politik- und bürgerlich-konservativem Geschlechterverständnis an. Zu diesem dezidiert aggressiven Feminismus hatte der Weiberrat gegriffen, weil viele Kommilitonen dazu tendierten, die »Frauenfrage« vulgärmarxistisch und -psychologisch als »Nebenwiderspruch« und »Penisneid« zu marginalisieren. Dennoch sollte diese frühe Kombination von Gewalt und Feminismus die öffentliche Wahrnehmung der bald schon auf- respekti-

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Die Stadtguerillera ve untertauchenden Stadtguerilleras beeinflussen. Als um 1970 die ersten Stadtguerilleras im deutschen Sprachraum auftraten, schienen sie die Hierarchie der Geschlechter und der Klassen gleichermaßen zu bedrohen. Auf diese doppelte Angst bauend, porträtierte die Presse die kämpferischen Frauen als pervertierte Feministinnen.13 Der Selbstexplikation der frühen Stadtguerilleras entsprach das allerdings nicht. Diese stellten sich ausschließlich als Kämpferinnen für eine unterdrückte Klasse dar. Existierte der Sozialismus erst einmal real, so ihre Annahme, würde sich die Geschlechterfrage schon von alleine lösen. Im »Konzept Stadtguerilla« wird das deutlich. Das etwas wirre Positionspapier, mit dem die RAF 1971 den urbanen Kleinkrieg proklamierte, thematisierte Geschlecht an keiner Stelle. Vielmehr legitimierten die selbsternannten Rotarmistinnen und -armisten ihren Griff zur Maschinenpistole mit den »post- und präfaschistischen Bedingungen, wie sie in der Bundesrepublik und Westberlin bestehen«.14 Damit war das Feindbild benannt. Für die RAF steckte Faschismus und Imperialismus in Kaufhäusern und Banken, in Armee und Polizei, in Justiz und politischem System. Sexualpolitik kümmerte sie nicht. Ironischerweise interessierte sich die Welt außerhalb der Gruppe vor allem für jenen Sex, den die Stadtguerilla selbst verschwieg: Einmal durch den Fleischwolf der massenmedialen Aufmerksamkeitsökonomie gedreht, erschien die Stadtguerillera als Frau, die ihre Sexualität dem bürgerlich-männlichen Einflussbereich entzogen hatte. »Lust«, darin stimmten die Schreiberlinge von Bild, Spiegel oder Konkret überein, bereitete der Terroristin nicht mehr der Mann, sondern nur noch die Knarre.15 So gründete die Popularität der Stadtguerillera in den frühen 1970er Jahren auf der Projektion männlicher Ängste und Lüste. Dass sie sich 1975 mit dem Anschlag auf das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal eines spezifisch feministischen Anliegens annahm, blieb dabei eine Randnotiz. Dennoch markierte das zerschlagene Glas in Karlsruhe einen Bruch in der Geschich-

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Hannes Mangold te der Figur. Aus den »Frauen der Revolutionären Zelle« ging wenig später die erste explizit weibliche Stadtguerilla hervor. Als spin off der RZ gründete sich die »Rote Zora«. Benannt nach Kurt Helds Kinderroman und mit identischen Initialen wie das Stammhaus ausgestattet, führte die Rote Zora bis in die 1990er Jahre als reine Frauen-Guerilla Anschläge gegen Abtreibungsgegner, Porno-, Gentech- und IT-Unternehmen durch oder verschenkte gefälschte Fahrkarten und Essensmarken.16 All dies geschah explizit im Namen der Frauenrechte. Bald gerieten die Aktivitäten der Über- und Untergruppe, die jetzt verwirrenderweise beide »RZ« hießen, von zwei Fronten ins Kreuzfeuer der Kritik. Auf der einen Seite distanzierte sich die Frauenbewegung von den Stadtguerilleras. Viele Genossinnen empfanden es als zutiefst kontraproduktiv, dass die Stadtguerillera den ihr von den Massenmedien längst unterstellten Feminismus nun auch selbst proklamierte. Sibylle Plogstedt brachte das auf den Punkt, als sie in ihrem berühmten Artikel von 1981 Gewalt als »nicht effektiv« zurückwies und dagegen jene Strategie der »Nicht-Kooperation« vorschlug, die sich in der Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung der 1980er Jahre durchsetzen sollte.17 Auf der anderen Seite attackierte besonders die RAF die strategische Konzeption der beiden RZ. Die Kämpferinnen und Kämpfer von Revolutionärer Zelle und Roter Zora lebten nämlich nicht in der »Illegalität«, sondern führten ein Doppelleben. Als Lehrerin, Sozialarbeiter oder Verkäuferin verfügten sie über eine »normale« Existenz. Nur um ihre Anschläge zu planen, zu organisieren und zu realisieren wechselten sie in die Konspiration. Dadurch entfiel der immense logistische Aufwand, den das Leben im Untergrund erforderte. Gemessen am Misserfolg der Terrorismusfahnder erwies sich die Strategie der RZ als äußerst erfolgreich. Zwar fristeten sie ihr Dasein im publizistischen Schatten der RAF,18 blieben dafür aber auf freiem Fuß, während Generation um Generation der »Illegalen« hinter Gitter wanderte.

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Die Stadtguerillera Freiheit war allerdings nicht die Elle, mit der die traditionelle Stadtguerilla maß. Gegen die »Feierabend-Guerilla« der beiden RZ polemisierte die RAF, weil diese ein Grundprinzip des Stadtguerillakampfs ignorierten: das »Abtauchen« in den »Untergrund«. Die Aufgabe der bürgerlichen Identität, das Leben in konspirativen Wohnungen, das Führen von gefälschten Ausweisen und gestohlenem Geld, das Fahren von geklauten Autos, kurzum das Inszenieren eines kompletten Bruchs mit der Gesellschaft kam einem Initiationsritus gleich. Für die Selbstlegitimation der herkömmlichen Stadtguerilla war das zentral. Besonders die RAF verstand sich als Avantgarde des Klassenkampfs und bezog sich dabei auf die »Fokus«-Theorie, die Régis Debrays unter Berufung auf Che Guevara in Europa verbreitet hatte.19 Diese besagte, dass der Funke der Revolution bei einer noch nicht begeisterten Bevölkerung von einer kleinen Vorhut besonders Entschlossener entflammt werden könne. Wie in Kuba müsse mit gezielten Aktionen ein Brandherd, ein »Fokus« geschaffen werden, der sich zu einem Massenaufstand ausweiten ließe. Dafür war der Tigersprung in die Illegalität unabdingbar. Weil sie sich in der Normalität und nicht im Untergrund tarnten, scheiterten beide RZ an den Anforderungen einer solchen Avantgarde. Besonders die Rote Zora fiel zwischen Stuhl und Bank. Weder die Stadtguerilla noch die Frauenbewegung nahm sie in den 1980er Jahren unter ihre Fittiche. Zwar bewegte sich die Stadtguerillera noch immer auf freiem Fuß, sie hatte sich aber in eine vollständige Isolation manövriert. 1989, am Ende des kurzen 20. Jahrhunderts, hatte sich die Stadtguerillera von einer Galionsfigur auf den Barrikaden der Revolution in einen düsteren Todesengel der Geschichte verwandelt. Ein Wendepunkt dieser Metamorphose markierte die moralische Implosion der RAF am Ende des Deutschen Herbsts. Nachdem ein Spezialkommando der deutschen Polizei am 18. Oktober 1977 die Geiselnehmer in der nach Mogadischu entführten Lufthansa-Maschine erschossen und die Fluggäs-

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Hannes Mangold te befreit hatte;20 nachdem sich die erste Generation der RAF in der Justizvollzugsanstalt Stammheim selbst gerichtet hatte; nachdem ein Kommando der RAF den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer ermordet hatte – nachdem fiel es schwer, an eine gewaltsam herbeizuführende Revolution anders als an eine Perversion zu glauben. Nach 1977 zeichnete sich ab, dass die Stadtguerillera im Personal der bundesrepublikanischen Gesellschaft ausgedient hatte. Was passierte aber mit jenen versprengten Gestalten, die noch immer behaupteten, Stadtguerilleras zu sein? Ihnen bot die Figur der Terroristin ein Sammelbecken. Für viele Konservative war die Stadtguerillera ja nie etwas anderes gewesen.21 Um 1980 begannen immer weitere Teile der Linken diese Entdifferenzierung zu übernehmen. Die Transformation fiel ihnen leicht: Hinter dem Eisernen Vorhang wurde die Sowjetunion langsam abgewickelt. Vor der Haustür ließen sich die politischen Erfolge der gewaltfreien Umwelt- und Friedensbewegung beobachten. Und im Fernsehen konnte verfolgt werden, wie sich die Restguerilla selbst die letzten Sympathien verspielte. Mit den menschenverachtenden Morden an Edward Pimental, einem einfachen Soldaten der US-Armee, am Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts oder seinem Chauffeur Eckhard Groppler empfand niemand auch nur die klammheimlichste Sympathie. So blies, als die Mauer fiel, der Wind of Change mitsamt dem Gespenst des Kommunismus auch die Stadtguerillera auf den Trümmerhaufen der Geschichte. Mit einiger Verzögerung erkannte das sogar die Stadtguerillera selbst. Im Januar 1992 erschien ein Papier, das die teilweise Auflösung der Revolutionären Zellen verkündete. Im Dezember 1993 folgte ein ähnliches Schreiben der Roten Zora.22 Im März 1998 fügte sich schließlich die letzte deutsche Stadtguerilla in ihr Schicksal. Endlich verkündete sogar das pathologisch irritationsresistente RAF-Restchen: »Die Stadtguerilla […] ist nun Geschichte.«23

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Die Stadtguerillera

Anmerkungen 1 Die neuere Forschung konzipiert Terrorismus i.d.R. als performativen Akt. Vgl. Colin, Nicole et al.: »Einleitung. ›Terrorismus‹ als soziale Konstruktion«, in: dies. et al. (Hg.), Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven, Bielefeld: transcript 2008, S. 7-13; Bockstette, Carsten: »Terrorismus und asymmetrische Kriegsführung als kommunikative Herausforderung«, in: ders./Siegfried Quandt/Walter Jertz (Hg.), Strategisches Informations- und Kommunikationsmanagement. Handbuch der sicherheitspolitischen Kommunikation und Medienarbeit, Bonn: Bernard & Graefe 2006, S. 202-221. Siehe auch Baudrillard, Jean: »Unser Theater der Grausamkeit«, in: ders.: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin: Merve 1978, S. 7-18. 2 Frauen der Revolutionären Zelle: Aktion gegen das Bundesverfassungsgericht (1975), in: ID-Archiv (Hg.), Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora, Bd. 1, Berlin: Edition ID-Archiv 2001, S.  7-9, online unter www.nadir.org/nadir/ archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/rz/fruechte _des_zorns/zorn_1_11.html#9 (abgerufen am 11.11.2014). 3 Zur Lorenz-Entführung siehe Dahlke, Matthias: Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972-1975, München: Oldenbourg 2011, S. 129-163. 4 Rote Armee Fraktion: »Das Konzept Stadtguerilla«, in: Agit 883 80 (1971). Vgl. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, S. 359ff. 5 Haffner, Sebastian: »Der neue Krieg«, in: Mao Tse-tung: Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1966, S.  5-34. Vgl. Schickel, Joachim

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(Hg.): »Guerilleros, Partisanen. Theorie und Praxis«, München: Hanser 1970. Vgl. ferner Boot, Max: Invisible Armies. An Epic History of Guerrilla Warfare from Ancient Times to the Present, New York: Liveright 2013. Fischer, Thomas: »Die Tupamaros in Uruguay. Das Modell der Stadtguerilla«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg: Hamburger Edition 2006, S.  736-750. Vgl. außerdem Labrousse, Alain: Die Tupamaros. Stadtguerilla in Uruguay, München: Hanser 1971; Schubert, Alex: Stadtguerilla. Tupamaros in Uruguay – Rote Armee Fraktion in der Bundesrepublik, Berlin: Wagenbach 1971. Zur Internationalität des Linksterrorismus in den 1970er Jahren siehe Terhoeven, Petra: Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen, München: Oldenbourg 2014; Daase, Christopher: »Die RAF und der internationale Terrorismus. Zur transnationalen Kooperation klandestiner Organisationen«, in: W. Kraushaar: Die RAF, Bd. 2, S. 905-931. M. Tse-tung: Guerillakrieg; Guevara, Ernesto Che: Der Partisanenkrieg, Berlin: Deutscher Militärverlag 1962; ders.: Guerilla-Theorie und -Methode. Sämtliche Schriften zur Guerillamethode, zur revolutionären Strategie, Berlin: Wagenbach 1968; Dach, Hans von: Der totale Widerstand. Kleinkriegsanleitung für Jedermann, Biel: SUOV 1958. Marighella, Carlos: »Minihandbuch des Stadtguerilleros«, in: Sozialistische Politik 2/6/7 (1970), S. 143-166. Siehe dazu den Beitrag zur Postkolonialistin in diesem Buch. »Frauen im Untergrund: ›Etwas Irrationales‹«, in: Der Spiegel 33 (1977), S.  22-33, hier S.  22. Zum Ensslin-Bild vgl. Peters, Butz: Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin: Argon 2004, S. 74f. »Rechenschaftsbericht des weiberrats der gruppe frankfurt«, Flugblatt (November 1968), in: Ilse Lenz (Hg.), Die neue Frau-

Die Stadtguerillera enbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Ausgewählte Quellen, 2. Aufl., Wiesbaden: VS 2010, S. 62f. 13 Vgl. Balz, Hanno: »Das Besondere der ›Terroristinnen‹. Mediale Darstellungen von RAF und Weather Underground«, in: Irene Bandhauer-Schöffmann/Dirk van Laak (Hg.), Der Linksterrorismus der 1970er-Jahre und die Ordnung der Geschlechter, Trier: Wissenschaftlicher 2013, S.  75-120; Grisard, Dominique: Gendering Terror. Eine Geschlechtergeschichte des Linksterrorismus in der Schweiz, Frankfurt a.M.: Campus 2011, S. 15f. 14 Rote Armee Fraktion: Konzept Stadtguerilla, S. 8. 15 H. Balz: Das Besondere der ›Terroristinnen‹, S. 78f. 16 ID-Archiv: Früchte des Zorns. 17 Plogstedt, Sibylle: »Ist die Gewalt in der Frauenbewegung angekommen?«, in: I. Lenz: Die neue Frauenbewegung, S. 273277. Vgl. Vukadinović, Vojin Saša: »Spätreflex. Eine Fallstudie zu den Revolutionären Zellen, der Roten Zora und zur verlängerten Feminismus-Obsession bundesdeutscher Terrorismusfahnder«, in: I. Bandhauer-Schöffmann/D. van Laak: Der Linksterrorismus der 1970er-Jahre, S. 139-161. 18 Vgl. Kraushaar, Wolfgang: »Im Schatten der RAF. Zur Entstehungsgeschichte der Revolutionären Zellen«, in: ders.: Die RAF, Bd. 1, S. 583-601. Ab den späten 1970er Jahren bedienten sich die Revolutionären Zellen zur Selbstbeschreibung des Plurals. 19 Debray, Régis: Revolution in der Revolution. Bewaffneter Kampf und politischer Kampf in Lateinamerika, München: Trikont 1967. 20 Als Verwandte der Stadtguerillera sei diesbezüglich an die Figur der Luftpiratin erinnert, die, wie beispielsweise Leila Khaled, ebenfalls in den 1970er Jahren in das öffentliche Bewusstsein trat.

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Hannes Mangold 21 Siehe Münkler, Herfried: »Guerillakrieg und Terrorismus. Begriffliche Unklarheit mit politischen Folgen«, in: W. Kraushaar: Die RAF, Bd. 1, S. 78-154; Quadflieg, Dirk: »Der Terrorist«, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010, S.  381-407. Für eine weitere Folgefigur siehe den Beitrag zur Globalisierungskritiker_in in diesem Buch. 22 Revolutionäre Zellen: »Das Ende unserer Politik«, in: Rote Zora: Mili’s [sic!] Tanz auf dem Eis (1993), online unter www. freilassung.de/div/texte/rz/milis/ausblick.htm (abgerufen am 11.11.2014). 23 Rote Armee Fraktion: Auflösungserklärung (1998), online unter www.rafinfo.de/archiv/raf/raf-20-4-98.php (abgerufen am 11.11.2014).

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Der Sampler Benedikt Sartorius 17. August, 1969: »Higher and higher«, höher und »höher, schien Sylvester Stewart alias Sly Stone zu steigen, hier, auf der Konzertbühne auf einem Feld des US-Bundesstaates New York, und mit ihm die Mitmusiker seiner Family Stone, die in der tiefen Nacht alles Hippiehafte, das dem Woodstock-Festival nachgesagt wird, gegen eine kollektive Ekstase eintauschten. »Sly with his arms out, wearing a white fringe leather jacket, and right behind him a huge spotlight… the spotlight looked like the sun, and the jacket looked like wings of wax. And I said… My god, it is Icarus. He has flown too close to the sun«, erinnerte sich der damalige Band-Manager an diesen nächtlichen Auftritt,1 an dem Sly Stone gleich einer mythologischen Gestalt die modernen Züge seiner Funkmusik weitgehend verbrannte und eine Ära hinter sich ließ. Denn nach dem triumphalen Woodstock-Auftritt folgte eine Verwandlung. Sly Stone zog sich ins Studio zurück, die Drogen wurden stärker, und der Multiinstrumentalist immer enigmatischer und unzugänglicher für seine Band. So pröbelte er in der drogenversehrten Studioeinsamkeit mit dem Maestro Rhythm King Modell MRK-2 rum, einer kompakten und analogen Beatmaschine aus den Sechzigerjahren, die 18 Rhythmen vorprogrammiert hatte, die untereinander kombinierbar waren. Eingeteilt

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Benedikt Sartorius waren diese Rhythmusschemen, die von Samba über Bossanova bis hin zum Slow Fox reichten, in drei Felder: »Latin«, »American« und »Traditional«. Sly Stone nutzte den Rhythm King als Ersatz für seinen abwesenden Schlagzeuger, rekombinierte die Rhythmen untereinander und erschuf mit den Geistersounds aus der Maschine die Basis für einen grobmotorischen Funk, der 1971 das Album »There’s a Riot Goin’ On« bestimmen sollte; ein Album, das mit »Family Affair« einen Song hervorbrachte, der zum ersten Nummer-1-Hit mit einem vorprogrammiertem Beat der Popgeschichte wurde. Aus dem Kokon des Funkhelden hatte sich der Sampler entpuppt. Sly Stone kann, anders als Produzenten wie der geadelte George Martin, der die aufwendigen Klangcollagen der Beatles mit Tonbändern montierte, anders auch als der monströse Elektro-Instrumentenbauer Raymond Scott, als erster Schlafzimmerproduzent bezeichnet werden, denn: der handliche Maestro Rhythm King MRK-2, die »Funk Box«, wie sie Sly Stone bezeichnete, mit der man Samba-Rhythmen zu einem faszinierenden Weltallsound ummodeln konnte, wurde serienmäßig hergestellt.2 Natürlich: »Family Affair« und weitere Songs wie »Spaced Cowboy« aus »There’s a Riot Goin’ On« waren keine frühen Übungen in Techno, dafür spielte die menschliche Komponente eine zu wichtige Rolle. Der Abschied von den klassischen Instrumenten, von der Musik als Band- bzw. Kollektividee, und die Möglichkeiten, die mobile Maschinen dem Popmusiker dereinst eröffnen sollten, sind aber hörbar – und damit auch die Neukonfiguration des Musikers, der zum Mechaniker wurde, sich mit der von ihm erfundenen Figur identifizierte, und somit gar zum automatisierten Wesen mutieren konnte. Ein Wesen freilich, das – anders als der Mechaniker aus der Moderne – mit einem grotesken Körper und einigen Fehleinstellungen ausgestattet war. »I’m a mechanical man«, rezitierte eine Roboterstimme im Jahr 1978, ausgestattet mit »2 mechanical arms« und »2 mechanical legs«, und addierte: »I’m a 2 + 2 = 4 man«. Dieser »Me-

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Der Sampler chanical Man« erschien als Erfindung der Band Devo, die aus der Stadt Akron stammte. Akron, im US-Bundesstaat Ohio gelegen, trägt den Übernamen »Rubber City«, waren doch dort, im mittleren Westen, verschiedene Autoreifen- und Gummifirmen wie Goodyear und Firestone angesiedelt. Dieser einst boomende Industriezweig befand sich zur Zeit von Devo, deren Mitglieder sich mit lustigen Helmen und Blaumännern als verirrte Schwerarbeiter inszenierten, in der Krise. »Mechanical Man«, das mit einem primitiven, maschinellen Beat und einem atonalen, scharf gespielten Gitarrenlauf instrumentiert ist, war der Sound zu dieser postindustriellen »De-Evolution«, der Sound zur Krise, der in der Vollautomatisierung der Arbeit nicht den Fortschritt beschrieb, sondern eine Rückentwicklung thematisierte, die in Massakern münden konnte wie im Jahr 1970, als an der nahe von Akron gelegenen Kent State University vier gegen den Vietnamkrieg protestierende Studierende von Polizisten erschossen worden waren.3 »Me feel swell, me work well«, beschrieb der »Mechanical Man« seine Gefühlslage. Er arbeitete also gut, auch wenn die Grammatik fehlerhaft programmiert war. Und schließlich: »Me want what you want«, »mich will, was Sie wollen«. Spätestens hier wurde klar, dass dieser impotente Automat nicht liefern konnte, was die Kundschaft wollte. Im Popmusikkontext bedeutete dies: hier gibt es keine Ekstase, keinen Sex und keine »Satisfaction« (den Song der Rolling Stones adaptierten Devo wenig später und gaben ihm einen nervösen, verhetzten Klang). Die Dekonstruktion des Rock’n’Roll und seiner Mythen durch die Automaten: Sie ist auch nachzuhören auf Lou Reeds Album »Metal Machine Music«. 1975 erschienen, ließ das »Rock’n’Roll Animal« Reed auf dieser Platte alles Gitarristische – konkret: das Machoide, das virtuose Solo – hinter sich. Die vier Tracks, die je eine Plattenseite dauern, sind aus analog aufgenommenen E-Gitarren-Feedbacksounds gebaut. Die technischen Komponenten lieferte Reed auf dem Umschlag des Albums gleich mit,

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Benedikt Sartorius die, ergänzt um Kommentare wie »Rock orientation, melodically disguised, i.e. drag«, den heiligen (Un-)Ernst dieser Platte unterstrichen, auf der sich der Rockstar als Figur verabschiedete und stattdessen als Erfinder dem Lärm seines geisterhaften Feedback-Maschinenorchesters zuhörte, den seine zwei Gitarren im Zusammenspiel mit den Verstärkern erzeugten. »This record is not for parties/dancing/background, romance. This is what I meant by ›real‹ rock, about ›real‹ things«, schrieb Reed in den Liner Notes zum Album. Auch er lieferte also nicht den Sex, die Ekstase des Rock’n’Roll – und wollte dennoch das authentische Rock-Album schlechthin eingespielt haben, eines, das Melodien, verkleidet in Noise, beinhaltete. Das kann als Witz mit dem Begriff der »realness«, des »Authentischen«, gelesen werden, trifft aber auch zu: Hier gab es nur Sound, nur Gitarren, keine Posen, keine Zerstreuung und keine Unterhaltung. Die Gitarre, die der Folkmusiker Woody Guthrie 1941 als »Maschine, die Faschisten tötet« bezeichnet hatte, wurde zur automatischen Soundmaschine. Und es passte, was der Popkritiker Lester Bangs in seiner wahnwitzigen Kritik mit dem Titel »The Greatest Album Ever Made« zum Album schrieb: »It’s all folk music anyway.«4 Denn »Metal Machine Music« – das Album, das Lou Reeds Karriere beinahe beendet hätte – ist mittlerweile zum Klassiker geworden, dessen White-Noise-Schwingungen feinsäuberlich notiert sind und der vom zehnköpfigen Ensemble Zeitkratzer mit Streichund Blasinstrumenten sowie Perkussion und Klavier live aufgeführt wurde. Der scheinbar formlose Noise dieser verschlauften, gemäß dem Untertitel »Electronic Instrumental Composition« ist also nun als Programmmusik katalogisiert, festgeschrieben und scheinbar entmaschinisiert. Besser: die Interpreten, die sich »Metal Machine Music« vornehmen, verwandeln sich in virtuose Mensch-Maschinen, die alle unmöglichen Töne aus ihren Saiten und Instrumenten hervorkratzen müssen, um den E-GitarrenKlangkörper von Reed mit den unverstärkten Instrumenten aus dem klassischen Konzerthaus zu imitieren.5 Denn, um mit den

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Der Sampler kraftwerkschen »Roboter« zu sprechen: Was die Partitur will, wird ausgeführt. Diese Wirtschaftswunder-Robotern, die die Düsseldorfer Band Kraftwerk 1978 zum Leben erweckten und um ein vielfaches optimistischer als den »Mechanical Man« von Devo programmierten, sie wollten nach dem Dienst nach Vorschrift schon auch mal tanzen: »Wir funktioniern automatik//jetzt wolln wir tanzen mechanik«, sagen sie auf dem Album »Die Mensch-Maschine« mit ihren mit dem Vocoder ver- und entfremdeten Stimmen, einem analogen Gerät, das ursprünglich für die Telefontechnik erfunden und später für militärische Zwecke umgenutzt wurde.6 Die Roboter waren die Nachfahren der »Schaufensterpuppen«, die 1977 noch mit unverstellten Stimmen sangen: »Wir gehen in den Klub und fangen an zu tanzen«. Die Kraftwerk-Musiker erschienen im Gewand der von ihnen zusammengebauten Figuren und nahmen 1981 in ihrem Track »Taschenrechner« das Wesen des Laptopmusikers vorneweg: »Ich addiere und subtrahiere//Kontrolliere und komponiere//Und wenn ich diese Taste drück//Spielt er ein kleines Musikstück«, charakterisierten sie den »Musikant mit Taschenrechner in der Hand«, der mit einem mobilen Kleinkeyboard, das ursprünglich ein Bee-Gees-Fanartikel war, auf der Bühne erschien. Ein Knopf- und Tastendruck reiche, so das Versprechen, und fertig war der Song. Anyone can play the Synthesizer? Zumindest durfte das Publikum scheu Kontakt mit den fremden Geräten aufnehmen. In einer Konzertaufzeichnung betatschten zwei Besucher das Instrument, allerdings unter Anweisung eines Kraftwerk-Mitglieds.7 Die Liebe zum Sampler und seinen Computern, sie war immer noch fremd. Gleichwohl verflüchtigten sich die auf Vinyl abgespeicherten Kraftwerk-Klänge und fanden ein transatlantisches Feedback – dank mobilen Discjockeys, die später zu den abgekürzten DJs wurden, und ihren Soundsystemen, mit denen sie durch die Quartiere von Städten wie New York zogen. So wurden auch der DJ und MC Afrika Bambaataa und sein Produzent auf

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Benedikt Sartorius Kraftwerk aufmerksam. Sie lösten für den prototypischen HipHop- und Electro-Track »Planet Rock« die eisige Synth-Melodie aus »Trans-Europa Express« und einige Sounds aus dem Track »Nummern« aus dem ursprünglichen Kontext. Anstatt die Elemente direkt zu sampeln, bauten sie diese mit ihren Keyboards und Drummachines nach – zahlen mussten sie trotzdem an die ursprünglichen Urheber auf der anderen Seite des Atlantiks. »Planet Rock« kann als frühes Mashup beschrieben werden, eine Technik des Samplings, die verschiedene bereits bekannte Elemente miteinander vermengt, vermischt und mit neuen Komponenten in Verbindung bringt.8 Die Kühle des robotisierten westdeutschen Elektropop-Entwurfs verband sich mit den verrenkten, zwirbelnden Figuren des Breakdance, mit dem afroamerikanischen Funk, den Slogans des MCs und neuen sonischen Tricks, die mit der Nadel des Plattenspielers erzeugt wurden. Scratchen, dieses fingerfertige und rhythmisierte Kratzen auf dem Vinyl, wurde zu einer Technik, die das ursprüngliche Abspielgerät in ein Musikinstrument verwandelte. Ein Instrument, mit dem die ursprünglichen Quellen manipuliert werden konnten und das gerade in der Noisemusik eine prominente Rolle spielte, die nach verborgenen Sounds in bereits bestehenden Platten suchte und nach Belieben rekontextualisierte. Spätestens mit dem Aufkommen der Mashups, der Remixes und der fortschreitenden Ausbreitung und Salonfähigkeit der Synthesizer – auch dank synthetischen Hits wie Herbie Hancocks »Rockit« (1983), das der Jazzpianist mit Roboter, einem DJ, einem E-Drummer und mit dem heute komisch wirkenden Gitarren-Keyboard-Bastard mit dem Übernamen »Keytar« auf den Showbühnen präsentierte – verschob sich auch das Verhältnis der Musiker zum Urheberbegriff.9 Denn der postmoderne, spielerische Umgang des Samplers mit seinen Quellen spielte sich in einer Anything Goes-Grauzone ab. Eine Grauzone, in der ein Rapper wie Vanilla Ice den Basslauf von Queens »Under Pressure« zunächst ungefragt einbaute. Eine Grauzo-

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Der Sampler ne, die – wenn es zu Konfrontationen zwischen Rechteinhabern und dem Samplenutzer kam – außergerichtlich geregelt wurde, bis 1991 die freie Samplingpolitik der Hip-Hop-Kultur in einem Prozess gegen Biz Markie ausgeleuchtet wurde. Der Rapper benutzte für seinen Track »Alone Again (Naturally)« ein ungeklärtes Sample, woraufhin das Gericht entschied, dass hier eine Urheberrechtsverletzung vorlag. Mit diesem Prozess fand die Anything Goes-Ära des freien Samplings ein Ende, die Labels steckten vermehrt Ressourcen in die Abklärung von Samples10 – bis durch das Internet wiederum neue Formen der Klangcollagen möglich wurden. 2004 erschien etwa »The Grey Album« von Danger Mouse, das die Beatles und Jay-Z miteinander kreuzte und von der Plattenfirma der Fab-Four verboten wurde – trotz der gut hörbaren Handschrift des damals 26-jährigen Produzenten. Da ist aber vor allem der amerikanische Biomediziner Gregg Gillis, der unter seinem Alias Girl Talk eine hyperaktive Musik auf seinem Laptop zusammenklickte, die auf seinem bislang letzten Album »All Day« 372 unlizensierte Samples aus bereits vorhandenem Songmaterial neu verbaute. Gillis – der von den ursprünglichen Urhebern nicht verklagt wird, auch weil er sich auf die Copyleft-Bewegung berufen kann, die dem herkömmlichen Urheberrecht Lizenzen entgegenstellt, die eine kreative Weiterverarbeitung von bereits erhältlichen Werken ermöglicht – tritt regelmäßig auf den großen Festivalbühnen der USA auf.11 Mit Laptop, Stirnband und Konfettikanonen spielt er einen Megamix, der klassische Interpreten der Popgeschichte – von den Rolling Stones über Black Sabbath bis hin zu Beyoncé, Kanye West oder Radiohead – kurz aufblitzen und aufpoppen lässt. In dieser hyperkünstlichen Multitask-Collagemusik gibt es sie wieder, die Ekstase, den Sex, kurz: all die Versprechungen aus der Moderne des Pop und des Rock’n’Roll, auf Knopfdruck, bis zur Erschöpfung. Und wenn es denn eine Meta-Popmusik gibt, in der sich –  frei nach der englischen Band Pop Will Eat Itself – Pop selber auffrisst, dann

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Benedikt Sartorius ist es jene von Girl Talk, die mit Spektakel und Krawall das Anything goes, das die Postmoderne ausgezeichnet hat, auf die Spitze, oder besser: zu einem Ende bringt. Ein Ende, das zwei Sampler konterkarieren, die als MenschMaschinen behaupten, dass sie keine Maschinen mehr sind, sondern nur noch menschliche, oder gar supermenschliche Wesen. 2013 griffen Daft Punk, verkleidet mit ihren retrofuturistischen Helm-Roboterkostümen, zur Gitarre, und spielten ein Riff aus dem Archiv der Discogeschichte nach. Maschinell genau klang das immer noch, dank dem Gitarristen Nile Rodgers, der das Riff im Studio aufgenommen hatte – und dessen präzise Bewegungen Daft Punk im Clip zu ihrem Sommerhit »Get Lucky« imitierten. Die mit Computern konzipierte Musik wurde mit prominenten Instrumentalisten aus den goldenen Zeiten der Musikindustrie im hochtechnisierten Studio nachgespielt, unter der kulturpessimistischen Prämisse, der Musik das »echte« Leben zurückzugeben, das DJs wie Skrillex oder Deadmaus, die mit ihren Shows zu den Nachfolgern der aussterbenden Stadionrockstars zählen, weggenommen haben. »Give Life Back to Music« hieß dies dann bei Daft Punk, die den Electro mit ihren Bühnenshows überhaupt erst stadionfähig machten, und es klang nicht mehr grobmotorisch oder mechanisch wie bei Sly Stone, Devo, Kraftwerk oder den Technoerfindern in der postindustriellen Wüste Detroit, auch nicht monströs und zufällig wie bei Lou Reed, sondern nur noch geschmeidig, luxuriös und virtuos. Der Sampler, diese Mensch-Musik-Maschine, »halb Mensch, halb über Ding«, hat sich in einen musikalischen Übermenschen verwandelt, der über alles verfügt: nicht nur über eine analoge Drummaschine mit 18 vorprogrammierten Beats wie Sly Stone Ende der Sechzigerjahre, sondern über einen freien Zugang zu einem Erinnerungsspeicher, der prall mit Popmusik gefüllt ist. »Random Access Memories« nannten Daft Punk ihr nostalgisches Album, das in seiner Machart zutiefst der Moder-

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Der Sampler ne verpflichtet ist. Ein modernes Erinnerungsalbum schließlich, das einer Zeit namens Postmoderne huldigt. Ein Album auch, das zeigt, dass sich der Sampler – der sich zu Kraftwerkzeiten noch auf die moderne Ära des Mechanikers besinnen musste, später immer mobiler, freier und dabei postmodern wurde – in seiner Karriere zu einem Wesen entwickelt hat, das den Rockstar als Leitfigur der Popmusik ablösen konnte.

Anmerkungen 1 Zit. nach Palao, Alec: »Liner Notes«, in: I’m Just Like You. Sly’s Stone Flower 1969-70, Seattle: Light in the Attic 2014, S. 3. 2 Vgl. Wang, Oliver: Sly Stone, the Original Rhythm King, Cuepoint, online unter: https://medium.com/cuepoint/sly-stonethe-original-rhythm-king-da29241897b5 (abgerufen am 27.03. 2015). Vgl. auch Toop, David: Rap Attack 3, London: Serpent’s Tail 2000; Stanley, Bob: Yeah Yeah Yeah. The Story of Modern Pop, London: Faber and Faber 2013; Poschhardt, Ulf: DJ Culture, Hamburg: Rogner & Bernhard 1997. 3 Vgl. Punk 45: Burn Rubber City, Burn! Akron, Ohio. Punk and the Decline of the Mid-West 1975-80, London: Souljazz 2015. 4 Bangs, Lester: The Greatest Album Ever Made, Detroit: Creem Magazine 1976. Zit. nach www.rocknroll.net/loureed/articles/ mmmbangs.html (abgerufen am 24.03.2015). 5 Vgl. Reed, Lou: Metal Machine Music, Performed by Zeitkratzer Live, San Francisco: Asphodel Records 2007. 6 Vgl. Tomkins, Dave: How to Wreck a Nice Beach. The Vocoder from World War II to Hip-Hop, The Machine Speaks, Chicago: Stop Smiling Books 2010. 7 Vgl. »Bee Gees Rhythm Machine«, in: Ghost in the Machine. The Most Important Drum Machines in Music History, Complex, online unter www.complex.com/music/2014/05/most

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Benedikt Sartorius important-drum-machines/bee-gee-rhythm-machine (abgerufen am 27.03.2015). 8 Vgl. von Gehlen, Dirk: Mashup. Lob der Kopie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012. 9 Vgl. Dommann, Monika: Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel, Frankfurt a.M.: Fischer 2014. 10 Vgl. Wang, Oliver: 20 Years Ago Biz Markie Got the Last Laugh, NPR, online unter www.npr.org/blogs/therecord/ 2013/05/01/180375856/20-years-ago-biz-markie-got-the-lastlaugh (abgerufen am 30.03.2015). 11 Mayyasi, Alex: The Economics of Girl Talk, online unter http://blog.priceonomics.com/post/47719281228/the-econo mics-of-girl-talk (abgerufen am 31.03.2015).

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Der User Max Stadler

Ein Hauch Kalifornien im Ruhrgebiet: mit einigem Getöse – inklusive »Showmaster-Scherzen«, Aktionsbühne und Zauberkunststücken – ko-optierte Apple Inc. im Herbst 1984 die Internationale Büromesse Köln. Auf üppigen 6000 Quadratmetern bot sich dem staunenden Besucher ein wundersames »Gemisch aus ComputerEnthusiasmus, Sendungsbewußtsein und Happiness«: »Frontalangriff« auf den deutschen Markt.1 Jenseits der Halle 8, dem Ort des Spektakels, ging es auf der ORGATECHNIK wie gewohnt graubeige und deutsch-bieder zu. Höhenverstellbare Drehstühle, Chefsessel, ergonomische Tischgruppen sowie »anwendungs- und bedienungsorientierte« Computer- und EDV-Systeme bestimmten die Lage.2 Von »Spiel-Spaß-Spannung« keine Spur – fast so als wollte man sich das Kölner Apple-Motto partout nicht zu Herzen nehmen: »Versuchen Sie nicht, eine Maschine zu werden.«3 Das Szenario – Jeans-tragende Apple-»Freaks« hier, »hausbackene« Technik made in Europe da4 – passt ins Bild, das man sich in Sachen neueste Geschichte gerne macht. Hackers: Heroes of the Computer Revolution (1984), From Satori to Silicon Valley (1986) oder Inventing the Future at MIT (1988) hießen einige der Bücher, die diesbezüglich Schule machen sollten.5 Beschäftigt man sich mit rezenter Maschinen-Geschichte, entzieht man sich diesem Ein-

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Max Stadler druck jedenfalls nur schwer: Die »Konkurrenz in Nadelstreifenanzügen« gehörte zu den Verlierern der Geschichte.6 Die Zukunft, der post-industrielle Typus, war irgendwie kalifornisch, schlimmstenfalls ein wenig verschroben, mit Digitaluhr am Handgelenk und Kleincomputer im Hobbykeller.7 Ohnehin schien die Gefahr, nun doch noch zur Maschine zu werden, weitestgehend gebannt. Im Gegensatz zum »industriellen Arbeiter« und dessen schwerfälligem Gerät wähnte sich ein postindustrieller Denker wie Jean Baudrillard sicher: »Durch die virtuellen Maschinen und die neuen Technologien jedoch bin ich keineswegs entfremdet. Sie bilden mit mir einen integrierten Schaltkreis (dies ist das Prinzip des Interface).«8 Die Affinität der Postmodernen zum Postindustriellen ist bekannt.9 Das Prinzip »Interface« beschäftigte damals allerdings nicht nur die Meisterdenker, sondern – darauf kommt es hier an – so ziemlich alle und jeden. »Jeder… [ist] heute zum potentiellen Kommunikationspartner des Rechners geworden« – stellten die einen mit Freude, die anderen mit Schrecken fest;10 oder noch lapidarer: »We are becoming users«.11 Und eben davon handelt dieser Beitrag: vom Auf-den-Plan-Treten jener Figur, die wortwörtlich prädestiniert dazu schien, das Personal der Postmoderne zu stellen: dem Bediener der EDV-Anlagen, »Datensichtgeräte« und »Bildschirmarbeitsplätze«. Er handelt damit von einer Figur, die, zwischen Theorie und kalifornischem »Sendungsbewusstsein«, zwischen »Interface«-Faszination und hippie-esquem Hackertum, nur allzu leicht – und zu unrecht – übersehen wird. Gemeint ist der unter post-industriellen Zuständen immer häufiger auftretende, mehr oder weniger unfreiwillige Maschinist: der sogenannte casual user. Wie sein Pendant, die »nutzerfreundliche« Maschine, lässt sich dieser casual user nicht so eindeutig im Umkreis des Silicon Valley verorten, wie das Erzählungen vom »persönlichen« Computer in der Regel nahelegen. Und auch das Problem der Maschinen-Werdung, so wird sich zeigen, stellte sich mit An-

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Der User bruch der Postmoderne natürlich nicht ganz so eindeutig dar wie in der Vision vom nicht-entfremdeten, »integrierten Schaltkreis«. Gerade jene »neuen« Technologien – Mikrochips, CAD, BTX, Glasfaserkabel usw. – ließen sehr andere Lesarten zu. »Bei der praktischen Zurichtung, der Unterwerfung und Nutzbarmachung des Menschen geht es längst um den Kopf«, wussten diesbezüglich etwa die Foucault-Kenner zu berichten. Im automatisierten Großraumbüro erkannten sie vor allem eine Variation jenes Prinzips, das schon seit längerem im Raum der Geschichte sein Unwesen trieb: »Soldaten im Militärlager, Schüler im Internat, Kranke in Spitälern, [und] Strafgefangene in Gefängnissen«.12 Es lohnt sich, in dieser Personalfrage etwas weiter auszuholen. Bei der ORGATECHNIK ’84 etwa hätten sich Hinweise auf diese bedenkliche Figur – den Nicht-Experten an der Konsole – gerade jenseits der Halle 8 gefunden; wo, wie bereits in den Vorjahren auch, ein »besonderes Augenmerk« auf die »humane« Ausgestaltung von Bedienungselementen und »Schnittstellenkonzepten« geworfen wurde.13 Flimmerfreie Terminals, stufenlos verstellbare Helligkeiten, Schriften »in augenfreundlichem« Grün (auf schwarzem Hintergrund), frei belegbare Funktionstasten und »einheitliche« Darstellung von Informationen auf dem Bildschirm – fast alles wurde geboten. Mochten die eigentlichen Computer-Freaks »vom heimischen Angebot« dann auch wenig begeistert gewesen sein14 – nicht zuletzt in Europa sollte die Losung »Terminals are for people« Karriere machen.15 Das annus mirabilis des gemeinen Nutzers lag 1984 allerdings schon einige Jahre zurück. Die Anzeichen, die von diesem neuartigen Typus kündeten, begannen sich bereits knapp zehn Jahre zuvor zu häufen. Üblicherweise waren das besorgniserregende Anzeichen. »CRTs pose health problems for operators« – warnte etwa die Schwedische Nationalbehörde für Betriebssicherheit und -gesundheit, wo man sich vergleichsweise frühzeitig den

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Max Stadler Gefahren der postindustriellen Arbeit und insofern der Röhrenbildschirme (besagter CRTs) anzunehmen begann.16 Beleuchtungsmängel, monotonisierte Arbeitsabläufe und fehlerhaftes Design der Apparate gerieten dabei ins Visier der Arbeitswissenschaftler beziehungsweise als Korrelat dazu: Augenstechen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Erschöpfung. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangte, mehr oder weniger simultan – im Jahr 1975 –, eine ähnlich skandalöse Studie aus Wien, die im Auftrag der österreichischen Gewerkschaft der Privatangestellten erstellt wurde. Titel: »Arbeitsbeanspruchung und Augenbelastung an Bildschirmgeräten.«17 Und auch in der Bundesrepublik wurde man hellhörig. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung initiierte eine großangelegte Untersuchung zur »Anpassung von Bildschirmarbeitsplätzen an die physische und psychische Funktionsweise des Menschen«.18 Da gab es in Deutschland Schätzungen zufolge gerade mal 30.000 solche Bildschirmarbeitsplätze – Tendenz steigend. 300.000 sollten es um 1980 sein; bis 1985 gar eine Million. Wem solche Zahlen nicht genug waren, der konnte im ebenfalls bald überbordenden Schrifttum zur Sache der Kopfarbeit genauer nachlesen, wohin die Reise ging. Zum Beispiel in der viel zitierten Siemens-Studie »Büro 1990« vom November 1976: Diese, wie es im Vorwort hieß, »Phänomenologie der Büroarbeit im Hinblick auf ihre Automatisierbarkeit« rechnete en detail vor, wie überaus viel es in diesem Hinblick eigentlich noch zu automatisieren gab. »Die Automatisierung des Büros ist […] für den Hersteller von bürotechnischen Geräten ein lohnendes Gebiet.«19 Kein Wunder wenn sich also bald schon die Überzeugung einbürgern sollte, dass der technisch-maschinelle Fortschritt nun »alle in Beschlag [sic!]« nehmen würde – »auch die Nichttechniker«.20 Und hier, im Malstrom des Umgreifens auf wirklich alle, zeigte der »casual« User, der maschinisierte Durchschnittsmensch, gewissermaßen erstmals sein Gesicht. Oder eigentlich

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Der User ja: seinen oder ihren Körper, der den subtilen Gefahren dieser »neuen« Technologien ausgeliefert war. Erhebungen in Sachen »Datensichtgerät« fanden dazu bald eindrückliche Zahlen. 71,8 Prozent der Betroffenen – so das typische Ergebnis einer solchen »Fragebogenaktion« – klagten demnach über »körperliche oder sonstige Beschwerden«, 49,2 Prozent über Augenschmerzen, 21,8 Prozent litten an Übermüdung.21 Drastischere Beschreibungen klangen etwa so: »Auf die Befehle der Maschine […] reagierten die Angestellten bald mit Nervenzusammenbrüchen, Weinkrämpfen, Erbrechen, Verdauungsstörungen, Sehstörungen«.22 Während die Visionäre also noch von »New Freedoms Through Computer Screens« träumten23 und Industrievertreter sich über die hereinbrechende Flut von unfähigen und unfreiwilligen Nutzern den Kopf zerbrachen (»We have a problem«),24 verbreitete sich rasch das Unbehagen in der post-industriellen Kultur – und die Bildschirmforschung stand plötzlich hoch im Kurs. Für Bengt Knave, Arbeitsmediziner bei der genannten Schwedischen Nationalbehörde (mit guten Beziehungen zu Ericsson Information Systems), verhielt es sich zum Beispiel so: »Solange [nur] Ingenieure oder hochqualifizierte und motivierte Fachleute an den Bildschirmgeräten arbeiteten, gab es kaum Klagen über schlechte Erkennbarkeit oder gesundheitliche Beschwerden aufgrund unzweckmäßiger Bildschirmgestaltung«.25 Wenn es nun also viele Klagen gab und zweckmäßige Gestaltung ein immer wichtigeres Anliegen wurde, dann lag das also schlicht daran, dass nun immer mehr und immer mehr nicht-qualifizierte Benutzer an den Bildschirmgeräten arbeiten sollten. Spätestens Ende der 1970er Jahre war die Bildschirmhysterie – der große »VDU scare« – ohnehin in vollem Gange.26 Fast das gesamte elektromagnetische Spektrum stand so nach und nach unter Verdacht, den »Mensch[en] am Datensichtgerät« zu behelligen. Einwände der Hersteller, wie der, dass die

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Max Stadler »Diskussionen über Bildschirmarbeitsplätze […] emotionalisiert und häufig unsachlich geführt« würden, liefen tendenziell ins Leere.27 Ionisierende Strahlungen (Röntgenstrahlung), nichtionisierende Strahlungen (Mikrowellen), Strahlungen der Sorte »VLF« (very low frequency) und »ELF« (extremely low frequency) verströmten sich, schenkte man den fleißig fabrizierten Warnschriften, Hazard Manuals und Praktiker-Fibeln Glauben, als unsichtbare Gefahr durch die Büroräume. Und in deren Gefolge: ein ganzer Zoo psychosomatischer Symptomatik, der von Zeitgenossen wahlweise als konkrete Bedrohung, haltlose Fiktion oder quasi-hysterisches Aufbegehren gegen die veränderten Arbeitsbedingungen gedeutet werden konnte. Von geröteten Augen, Migränen, Hautausschlägen, Katarakten und sogar Fehlgeburten war die Rede; Abhilfe versprachen Spezial-Brillen, Pausenregelungen, Erhöhung der Refresh-Raten und spezielle »micro-mesh« Filter – sowie die zweckmäßige, »menschengerechte« Gestaltung des Arbeitsgeräts allgemein.28 Noch 1986, zu einem Zeitpunkt da sich die anfängliche Aufregung schon wieder zu legen begann, versammelten sich am »Weltkongress für Bildschirmarbeit« in Stockholm mehr als 300 Wissenschaftler aus 30 Herren Länder, um sich diesen heiklen Fragen zu widmen.29 Die von den Datenterminals ausgehenden »hazards« waren dabei nur ein, wenn auch zentraler, Faktor, der den gemeinen User in jenen Jahren konkretere Formen annehmen ließ. Das Wissen, welches sich nun um diese Figur herum zu gruppieren begann, war kompliziert – und es entbehrte nicht einer gewissen »Brisanz«.30 »Um den Zustand ausreichend zu charakterisieren«, notierte der Berliner Bildschirmforscher Ahmet Cakir, »dürfte die Bemerkung genügen, dass er mit dem Weberaufstand oder gar mit der Industrierevolution verglichen wird.«31 Ihrerseits erfuhr die Vokabel »Maschinenstürmer« eine späte Renaissance. Die Historiker wandten dabei den Blick zurück, die Ergonomen gewissermaßen nach vorn – was nicht immer

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Der User reibungslos vonstatten ging. Das »Risiko des Mißbrauchs von ergonomischen Argumenten wächst natürlich immens«, warnte der Zürcher VDU-Experte Etienne Grandjean.32 Als Computer-Ergonom saß man, wohl oder übel, zwischen den Stühlen: ökonomische Effizienz hier, Menschenfreundlichkeit und »wellbeing« da.33 Solche Bedenken beschäftigte die boomende Bildschirmwissenschaft aber eher am Rande. Die Lage war ernst. Denn die Maschinisierung betraf nun – und auch das gehörte zum Skandalösen der Displays – selbst diejenigen Nutzer, die sich den Apparaten traditionell überlegen fühlten: die Kopfarbeiter. Noch vor wenigen Jahren »schien es vielen undenkbar, geistige Arbeit – also auch Ingenieursarbeit – dem Computer unterzuordnen«, resümierte im Jahr 1978 – da war der »Arbeitskampf« gerade wieder in eine »heiße Phase« getreten – ein Betroffener solch subtiler Taylorisierungsmaßnahmen.34 Ein unmittelbarer Effekt solcher nun durchaus denkbaren Zustände war der, dass schon bald eine beachtliche Flut an Erhebungen, Umfragen und Untersuchungen zu Bildschirmen, Bildschirmarbeitsplätzen und Bildschirmarbeitern vorlag. Zwar trug das nicht unbedingt zur Klärung dieser Zustände bei; »der große Unbekannte« aber – der Mensch am Bildschirm oder User – wurde so, allmählich und beständig, ein wenig weniger unbekannt.35 Ob Herstellung optimal erkennbarer Buchstaben, physiologisch vertretbare Flimmer-Frequenzen oder die psychologischen Grundlagen effizienter Informationsdarstellung: Die Nachfrage an »gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen«, wie das im verwaltungsrechtlichen Jargon der Bundesrepublik hieß, war groß.36 Ebenso groß war der Graben, der die Geister diesbezüglich schied. Physiker sahen die Sache anders als die Ophthalmologen, Ophthalmologen anders als die Psychologen, und diese wiederum anders als die Sozialwissenschaftler oder Betriebsärzte. Zweifellos war das Problem – der Mensch am Bildschirm – von »komplexe[m] Charakter«.37

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Max Stadler Der User, wäre dennoch festzuhalten, nahm nicht zuletzt in der Fülle des Datenmaterials, das nun um ihn oder sie herum zusammengetragen wurde, Gestalt an. Sogar eine eigene Wissenschaft schälte sich heraus: »›HCI‹, das heißt ›human-computer-interaction‹, ist ein Schlagwort für viele Wissenschaftler geworden«, konnte man gegen Ende der 1980er Jahre stolz vermelden.38 Verwundern tut es nicht. In Sachen Arbeitsgestaltung war man, als die Bildschirme ins Bewusstsein der Massen eintraten, bereits hochsensibilisiert. Der Ruf nach einer »humanisierten« Arbeitswelt, der seit Beginn der 1970er Jahre die westlichen Industrienationen bewegte, verband sich nahtlos mit dem Ruf nach der menschengerechten post-industriellen, nämlich der Bildschirm-Arbeitswelt.39 Politiker, die an der mangelnden »Technikakzeptanz« der Bevölkerung zu verzweifeln begannen, konnten dem ebenso etwas abgewinnen – immerhin eröffneten sich hier Möglichkeiten des Abbaus von »passive[m] Widerstand«.40 Und selbstverständlich fehlte es überhaupt immer weniger an denen, die nun predigten, die Zukunft stünde im Zeichen der »Telematik«.41 Schließlich, und auch das verwundert nicht, entdeckten die Macher der neuen Technologien den Nutzer beziehungsweise die Nutzerfreundlichkeit. Die Prognosen waren eingängig genug: »Objectives of Ergonomics: Ensure Health and Safety. Reduce System Costs. Bottom Line: Increase Profits«.42 Bei Siemens, Nixdorf, IBM oder Ericsson sowie – an Bildschirmfabrikanten mangelte es damals nicht – Datasaab, Tandberg oder Kienzle widmete man sich bald schon eifrig der Gestaltung von Bildschirmarbeitsplätzen.43 Firmen wie Olivetti konnten sich brüsten, ja eigentlich schon immer etwas für das Design übrig gehabt zu haben: »die technologische Qualität der Produkte ist uns ebenso wichtig wie die menschliche Qualität der Arbeitswelt.«44 Die Forderung nach »menschengerechter« Technik konvergierte so, mal mehr, mal weniger ansprechend, mit den technokratischen Bemühungen um den reibungslosen und

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Der User effizienten Ablauf. Die dehnbare Rede von der »Nutzerfreundlichkeit« absorbierte gewissermaßen beides. Irgendjemand musste die elektronischen Maschinen ja bedienen – auch wenn er oder sie eigentlich wenig von diesen Maschinen verstand. Ergonomisch durchgestaltete Systeme, so lautete das Versprechen, waren »ohne größeren Lernaufwand für jedermann (und sogar für jede Frau) benutzbar, [und] die Arbeit erhält durch den Umgang mit Maus und Ikonen [sic!] einen spielerischen Charakter«.45 Dabei drehte sich die Problemwahrnehmung – und vielleicht wäre es das, was den post-industriellen Kopfarbeiter in die Reihe des post-modernen Personals einreiht – nicht nur um diese oder jene Subpopulation der arbeitenden Bevölkerung. Hatte man in der Moderne, und jedenfalls im klassischen »Maschinenzeitalter«, noch vorwiegend mit schmutzigen, schweren Motoren zu kämpfen46 – und bestenfalls hatte man mit den Maschinen gar nichts zu tun –, produzierten die klinisch reinen Räume der Post-Industrie eine sichtlich andere Ausgangslage. »[E]ine universelle Sklavenhaltung [ist] über die Menschheit gekommen«, erkannten nun sogar die weltabgewandteren Philosophen: »sie muss bedienen«.47 Es ging um »jedermann« (und jede Frau). Es ging um die Datentypistinnen, die »Automationsarbeiter« in ihren Messwarten, um die Designer, Ingenieure und sogar die Manager in ihren Anzügen. (Letztere standen ebenfalls im Verdacht, die Mikro-Computerisierung »terrifying« zu finden, »because the key-boards look so complicated«.48) Außerdem, und auch das wäre dahingehend von Relevanz, entpuppte sich im Zuge dieses vermeintlich »universellen« Umsichgreifens der Bildschirme die »geistige Arbeit« ganz unverkennbar und wesentlich als Sache der Körper, der Sinne, des Tastgefühls, der Augen. Das epileptische Flimmern der Bildschirme, die Irritation durch Blendung, verwirrende Informationsdarstellung oder die nervtötende Geräuschkulisse der Großraumbüros bezeugten dies eindringlich. Die Karriere der graphischen Nut-

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Max Stadler zeroberflächen bestärkte den Eindruck noch einmal mehr: Bilder, nicht die Ratio, bestimmten das Denken.49 Schließlich war es somit das Denken selbst, das nunmehr untrüglich als ein maschinenvermitteltes zu Tage trat: Die Figur des allgemeinen Maschinenbedieners verkörperte, theoretisch wie erfahrungsweltlich, jenes postmoderne Bild vom Denken, das nicht mehr »im Kopf« zu lokalisieren war – sei es als Theorie, Plan oder Kalkül –, sondern eines, das situiert, sinnlich, vermittelt und distribuiert vonstatten gehen sollte.50 In der optimistischen Version war hier die Rede von »mind tools« oder dem »Denkzeug«; seriösere Zeitgenossen sprachen von »kognitiver Ergonomie«, icons und Dialogsystemen.51 Weniger affirmativ, aber letztendlich mit identischer Stoßrichtung, verband sich der psychophysiologische Schrecken der Terminals mit der Anprangerung des neuen, post-industriellen Taylorismus geistiger Arbeit.52 »Zwar ist das Denken noch nicht ganz ausgeschaltet«, warnte im Herbst 1981 konsequenterweise auch die Zeitschrift Psychologie Heute: »aber immer mehr mechanisierte und automatisierte Vorgänge ersetzen Entscheidungen, Gestaltungen, Formulierungen, Denkleistungen«.53 Entgegenzusetzen blieb dieser Atrophie des Denkens – der drohenden Herrschaft »formal-rationaler Logik«, der Verkümmerung der Sinne, der Disziplinierung der Wahrnehmung und so weiter – eigentlich nur der Ruf nach noch menschengerechteren Systemen.54 Und: es blieb das Bestehen darauf, dass, Mikroelektronik hin oder her, das eigentliche, kreative Denken gar nicht automatisier- und rationalisierbar war, weil es sich dabei im Wesentlichen um eine irrationale, unlogische Angelegenheit handelte. »Ein Stück ›wildes Denken‹ […] sichern und die vorhandenen Grenzen zu überschreiten« – solche Lehren zog man gerne aus den »neuen« Technologien.55 Das war nicht weit weg von dem, was man landläufig als Positionen der Postmoderne verstehen würde. Und so gesehen traf das Kölner Apple-Motto aus dem Jahr 1984 – »Versuchen Sie nicht, eine Maschine zu werden« – durch-

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Der User aus ins Herz der Sache. Was man dabei lieber nicht erwähnte, war für das EDV-Personal der Postmoderne aber mindestens ebenso wichtig: dass man mit diesem Anliegen durchaus nicht alleine dastand. Kaum ein techno-politisches Konfliktfeld ließ Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre die Gemüter höher schlagen als der User und dessen »guter Freund«, der Computer; kaum ein techno-politisches Konfliktfeld, das die Frage nach dem postmodernen Menschen akuter stellte, als der Umgang mit den neuen Technologien. Nachlesen könnte man das also auch, aber eben nicht nur, bei Jean-François Lyotard: »Man muss mit Maschinen und Apparaten umgehen können, auch wenn man nicht weiß, wie sie funktionieren.«56

Anmerkungen 1 Pleil, Gerhard: »Apple-Expo: Schöne Heile Mikrocomputerwelt«, in: Computerwoche vom 11. November 1984. 2 o.V.: »Anwendungs- und Bedienungsorientierte Computerund EDV-Systeme«, in: Humane Produktion, Humane Arbeitsplätze 2/10 (1980), S. 30. 3 G. Pleil, Apple-Expo. 4 Wissenschaftsladen Berlin: Computer in Alternativprojekten, Berlin: WILAB Bericht 1983, S. 80. 5 Levy, Steven: Hackers. Heroes of the Computer Revolution, Garden City/New York: Doubleday 1984; Roszak, Theodore: From Satori to Silicon Valley. San Francisco and the American Counterculture, San Francisco: Don’t Call It Frisco Press 1986; Brand, Stewart: The Media Lab. Inventing the Future at MIT, New York: Penguin 1988; siehe insbes. auch Turner, Fred: From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago: University of Chicago 2006; Diedrichsen, Diedrich/

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Max Stadler Franke, Anselm (Hg.): The Whole Earth. California and the Disappearance of the Outside, Berlin: Sternberg 2013. 6 G. Pleil, Apple-Expo. 7 Zum Topos »Kalifornien« siehe Barbrook, Richard/Cameron, Andy: »The Californian Ideology«, in: Science as Culture 6/1 (1996), S. 44-72. 8 Baudrillard, Jean: »Videowelt und fraktales Subjekt«, in: ars electronica (Hg.), Philosophie der neuen Technologien, Berlin: Merve 1989, S. 125. 9 Der locus classicus: Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Minuit 1979. 10 Siemens: Data-Report (Sonderheft Ergonomie an Bildschirmarbeitsplätzen) 15 (1980), S. 4. 11 Slack, Jennifer: »The Information Revolution as Ideology«, in: Media, Culture and Society 6 (1984), S. 253. 12 Ortmann, Günther: Der zwingende Blick, Frankfurt a.M.: Campus 1984, S. 107f. 13 o.V.: Computer- und EDV-Systeme, S. 30. 14 Burghardt, Matthias: »Muss ein alternativer Arbeitsplatz schlechter sein?«, in: Wissenschaftsladen Berlin: Computer in Alternativprojekten, S. 80. 15 Stewart, Tom: Terminals Are for People. HUSAT Research Report, Loughborough 1973. 16 Östberg, Olov: »CRTs Pose Health Problems for Operators«, in: International Journal of Occupational Health and Safety 44/6 (1975), S. 24-26. 17 Haider, Manfred/Slezak, H.: Arbeitsbeanspruchung und Augenbelastung an Bildschirmgeräten, Wien: Verlag des ÖGB 1975. 18 Cakir, Ahmet/Reuter, Hans-Jürgen: Untersuchungen zur Anpassung von Bildschirmarbeitsplätzen an die physische und psychische Funktionsweise des Menschen, Bonn: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1978.

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Der User 19 Siemens AG: »Büro 1990. Studie über die Entwicklung von Organisation und Technik« (November 1976), S. I-III. 20 Ey, Hildegard: Bildschirm am Arbeitsplatz, Bonn: Bibliothek des Deutschen Bundestags 1984, S. VII. 21 Cakir, Ahmet (Hg.): Bildschirmarbeit. Konfliktfelder und Lösungen, Berlin: Springer 1983, S. 155. 22 Gorz, André: Abschied vom Proletariat, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1980, S. 120. 23 Nelson, Ted: Computer Lib/Dream Machines. New Freedoms through Computer Screens, Chicago: Hugo’s Book Service 1974. 24 Schilling, D.E.: »Coping with the Casual User«, in: B. Shackel (Hg.), Infotech State-of-the-Art Report Vol. 2, Maidenhead: Infotech International 1979, S. 291. 25 Ericsson Information Systems: Ergonomic Principles in Office Automation, Stockholm: 1983, S. 15. 26 Siehe u.a. Pearce, Brian: »Health Hazards in Perspective«, in: Health Hazards of VDUs?, Loughborough: HUSAT Research Group 1980, S. 3-14; Thornton, Chris: »Vdu’s – a Nightmare to the Operator? «, in: Data Processing 22/2 (1980), S. 12-16; Weale, Robert: »Health Hazards of VDUs?«, in: New Scientist, April 9, 1981, S. 105. 27 »Ergonomie. Richtig gestaltete Bildschirmarbeitsplätze erleichtern Arbeitsabläufe«, in: Humane Produktion, Humane Arbeitsplätze 2/4 (1980), S. 6. 28 Einen Eindruck vermittelt Grune, Siegfried: Bildschirmarbeitsplätze. Eine Bibliographie, München: K.G. Saur 1985. 29 Knave, Bengt/Wideback, P.-G. (Hg.): Work with Display Units 86, Amsterdam: North-Holland Publishing 1987. 30 A. Cakir/H.-J. Reuter: Anpassung von Bildschirmarbeitsplätzen, S. 15. 31 Siemens: Data-Report, S. 4.

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Max Stadler 32 Grandjean, Etienne: Ergonomics in Europe (Manuskript). Nachlass Grandjean, Box »Div. MS Bildmaterial«, Hochschularchiv der ETH Zürich, 1979. 33 Weale, Robert: »Ergonomic Aspects of Visual Display Terminals«, in: New Scientist, February 12, 1981, S. 43f. 34 Cooley, Mike: Computer Aided Design. Sein Wesen und seine Zusammenhänge, Stuttgart: Alektor 1978, S. 5. 35 Laux, Eberhard: »Der große Unbekannte ist der Mensch der 80er Jahre«, in: Computerwoche vom 14. September 1979. 36 Siehe z.B. Trautwein-Kalms, Gudrun: »Zur Auseinandersetzung um Bildschirmarbeit«, in: WSI-Mitteilungen 34/2 (1981), S. 90-99. 37 Cakir, Ahmet (Hg.): Das Datensichtgerät als Arbeitsmittel. Tagungsband, Berlin: Ergonomic 1979, S. 1. 38 Cakir, Ahmet: »Ergonomie am Computer fördert Effizienz«, in: Computerwoche vom 11. September 1987. 39 Z.B. Matthöfer, Hans: Humanisierung der Arbeit und Produktivität in der Industriegesellschaft, Köln: Europäische Verlagsanstalt 1978; Grob, Robert: »Ergonomie für Produkt und Arbeitswelt«, in: Siemens-Zeitschrift 53/6 (1979), S. 11-13. 40 Hochmann, Miroslav: »Akzeptanz der neuen Technologien«, in: Humane Produktion, Humane Arbeitsplätze 2/3 (1980), S. 9. 41 Zur »Telematik« siehe insbes. Nora, Simon/Minc, Alain: Die Informatisierung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus 1979. 42 Bailey, Robert W.: »Is Ergonomics Worth the Investment?«, in: Proceedings of the World Conference on Ergonomics in Computer Systems, Garden Grove: Ericsson Communications 1984, S. 25. 43 »Siemens-Erzeugnisse ›Gut in Form‹«, in: Siemens-Zeitschrift 53/4 (1979), S. 24; »Da stimmt eben alles«, in: Computerwoche vom 27. April 1979.

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Der User 44 Design Process Olivetti, 1908-1983, Frankfurt a.M: Deutsche Olivetti GmBH 1983, S. 3. 45 Maass, Susanne: »Benutzerfreundlichkeit als Qualifikationshindernis?«, in: Die Zukunft der Informationssysteme 17, Betriebs- und Wirtschaftsinformatik, Berlin: Springer 1986, S. 522. 46 Klassisch hierzu siehe Rabinbach, Anson: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York: Basic 1992. 47 Gadamer, Hans-Georg: »Verlust der sinnlichen Bildung«, in: Hans Wichmann (Hg.), Der Mensch ohne Hand, München: DTV 1979, S. 21f. 48 Bro, Utta: »What’s Detaining the Office of the Future«, in: Fortune, May 3, 1982, S. 184. 49 Weiterführend siehe Pratschke, Margarete: Windows als Tableau. Zur Bildgeschichte grafischer Benutzeroberflächen, Dissertation, Humboldt Universität zu Berlin 2010. 50 Stadler, Max: »Der Geist des Users. Oder: Vom Ende des Boole’schen Traums«, in: David Gugerli et al. (Hg.), Digital Humanities (Nach Feierabend 9), Zürich: Diaphanes 2013, S. 55-78. 51 Z.B. Bleimann-Gather, Günter: »Software-Ergonomie am Bildschirm«, in: Computermagazin 11/10 (1982), S. 47f.; Rheingold, Howard: Tools for Thought. The People and Ideas Behind the Next Computer Revolution, New York: Simon and Schuster 1985. 52 Cooley, Mike: »Mensch-Maschine Dialog. Zur Einführung des Taylorismus in die Konstruktionsarbeit«, in: Wechselwirkung 1/2 (1979), S. 14-19; Athanasiou, Tom: »Mind Games«, in: Processed World 13 (1985), S. 46-58. 53 Niess, Frank: »Die Schwierigkeit der Angestellten, ihren gesellschaftlichen Standort zu finden«, in: Psychologie Heute 8/9 (1981), S. 26f.

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Max Stadler 54 Bspw. Jungk, Robert: »Schwierige Aussichten für andere Technologien«, in: Freibeuter 9 (1981), S. 79-82. 55 Mikos, Lothar: »1984 ist vorbei. Zum Stand der Diskussion über die sogenannten ›Neuen Medien‹«, in: Päd. Extra. Magazin vom 15. Januar 1985, S. 46-48. 56 Lyotard, Jean-François: Immaterialität und Postmoderne, Berlin: Merve 1985, S. 10f.

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Die Cyborg Karin Harrasser

Die Cyborg hat eine doppelte Herkunft:1 Sie kommt aus der Weltraumforschung und aus dem Feminismus. Vermehrt hat sie sich in Milieus, die so nicht für sie vorgesehen waren, in der Populärkultur und in der akademischen Welt. Bild geworden sind Cyborgs als Six-Million-Dollar-Man, als Iron-Man, als Borg-Kollektiv in Startrek und als STELARC (wie sich der australische Künstler Stelios Arcadiou nann-te, als er damit begann, sich künstliche Arme zu bauen und Extra-Ohren wachsen zu lassen). Theorie und Politik geworden ist die Cyborg im Cyberfeminismus der 1990er Jahre und darüber hinaus. Der Ausdruck Cyborg wurde von den Psychologen und Kybernetikern Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline geprägt. Im Artikel Cyborgs and Space von 1960 bezeichneten sie damit einen Organismus, der mit Hilfe technischer und chemischer Verbesserungen am psychischen System besser im Weltraum überleben konnte: »For the exogenously extended organizational complex, functioning as an integrated homeostatic system unconsciously, we propose the term ›Cyborg‹«.2 Der Ausdruck – eine Abkürzung für cybernetic organism, kybernetischer Organismus – stammt also aus der Weltraumforschung und meinte »integrierte« Mensch-Maschine-Systeme, die aus organischen, maschinenhaften und chemischen Kom-

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Karin Harrasser ponenten zusammengesetzt sind. Die Idee von Clynes/Kline war es, nicht länger zu versuchen, Erdbedingungen in Raumschiffen zu simulieren, sondern den Organismus technisch und mit Hilfe von Drogen so zu verändern, dass er im lebensfeindlichen Weltraum besser überleben konnte. Akademische Berühmtheit erlangte die Figur der Cyborg 1985, mit Donna Haraways feministisch-sozialistischem Cyborg-Manifest (A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s).3 Darin griff Haraway den Begriff des Cyborgs auf, um den technisch verbesserten Raumfahrer in etwas Neues zu verwandeln: Indem sie den Cyborg in den Diskurs über feministisch-sozialistische Politik im Zeitalter der Technosciences überführte, transformierte sie ihn zu der Cyborg – zu einer Figur, die für die Artifizialität von Körperlichkeit steht, die die kollektive Natur von Subjektivität ausstellt und die eine Politik der Interkonnektivität (statt eine der Identität und Fraktionsbildung) stark macht. Haraway verwandelte damit einen technisch optimierten, maskulinen Helden des Raumfahrtzeitalters in eine feministische Leitfigur der Informationsgesellschaft. Roboter und künstliche Menschen waren in der Neuzeit ideale Spiel- und Projektionsfiguren für Gedankenexperimente und Zukunftsentwürfe, die sich – utopisch oder dystopisch – mit einer Veränderung des menschlichen Lebens durch Technik befassten. Im 20. Jahrhundert hieß dies, dass Roboter sich mit den Effekten der Delegation von physischer Arbeit befassten, also mit dem Verhältnis von denen, die dachten und steuerten (den Bürgern) zu jenen, die ausführten und aufgrund ihres körperlichen Einsatzes und durch die Vernutzung ihrer Physis ausgebeutet wurden (den Arbeitern). So ging am Vorstellungshorizont, den der künstliche Mensch aufspannte, die Idee der vollautomatischen Fabrik auf. Und auch deren häusliche Variante ließ nicht lange auf sich warten: Das vollautomatisierte Wohnen, ermöglicht von den omnipräsenten blechernen Do-

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Die Cyborg mestiken. Ob im Betrieb oder zu Hause – diese Roboter funktionierten noch nach der etymologischen Wurzel ihres Namens: In seinem Stück R.U.R. hatte der tschechische Autor Karel Čapek das Wort Roboter 1920 auf den Markt der Zukunftsvisionen getragen, um künstliche Menschen zu bezeichnen, die emotionsund ideenlos, aber fließbandtauglich funktionierten: idealtypische, hochmoderne Arbeitende. Mit dem Aufkommen der künstlichen Intelligenz (KI) verlor die Idee des Roboter-Arbeiters in den 1960er Jahren rapide an Attraktivität. Im Zentrum der wissenschaftlichen und kulturellen Zukunftsvisionen stand in der Postmoderne weniger die Frage, wie sich physische Arbeit an Apparate delegieren ließ. Jetzt widmete man sich der Frage, wie kognitive Kompetenzen auf Maschinen übertragen werden konnten. Diese neuen Maschinen führten zu einer Wiederbelebung der Robotermetapher. Das mechanische und gehirnlose Werken der alten Mensch-Maschinen, das arme Studenten wie E.T.A. Hoffmanns Nathanael in den Tod hatte stürzen lassen, wurde mit einer eigenwilligen, häufig neurotischen Maschinen-Identität ersetzt. Das machte der durch gesteigerte Rationalität menschenfeindlich gewordene HAL aus Kubricks 2001. A Space Odyssey (1969) ebenso deutlich, wie das singende Raumschiff in Anne McCaffreys The Ship Who Sang (1969) oder der künstliche Mann, der in Marge Piercys He, She and It (1991) als Liebesobjekt figurierte. Dasselbe traf auch auf Roboter zu, die wie die »Replikanten« in Ridley Scotts Blade Runner (1982) zu Subjekten der Revolution wurden. Die künstliche Intelligenzforschung ließ die Einsatzmöglichkeiten ihrer Trägersubstanzen wuchern: Computer, Androiden und Cyborgs hatten von nun an eine unüberschaubare Produktion utopischer und dystopischer Szenarien im Schlepptau. Das Pathos des Technologischen, das mit dem Zukunftsversprechen zusammenfällt, flottierte munter und immer neue semantische Schwärme bildend durch die Populärkultur, affizierte aber auch die Arbeit in Laboren und anderen Zukunftswerkstätten.4 Die

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Karin Harrasser postmodernen, klügeren, emotionalen, sich quicklebendig gebenden Roboter und Cyborgs, die seit den 1960er Jahren überall auftauchten, versprachen nicht mehr nur, die Menschen von den zurichtenden Effekten der Lohnarbeit zu erlösen, sondern auch von den Unwägbarkeiten sozialer und sexueller Interaktion zu befreien: Sie leisteten kognitive und affektive Arbeit. Als Kehrseite dieser Medaille provozierten sie stets Reflexionen, die um das Thema kreisten, wie vernünftig, wie selbstbestimmt, wie affektiv gesteuert, kurz: wie menschlich der postmoderne, in einem hoch ausdifferenzierten, medial durchwirkten und vernetzten gesellschaftlichen System arbeitende und lebende Mensch denn eigentlich sei. Die Erzählungen liefen damit auf einen Punkt zu, der zeitgleich in der Philosophie und Kulturtheorie an Prägnanz gewann und in der Frage danach berühmt wurde, inwieweit »der Mensch« mit seiner Sonderstellung innerhalb der Evolution nicht als bloße Erfindung der Wissenschaften (vom Menschen) und entsprechender Sozialtechnologien zu denken sei. Treffe dies zu, raunte es entsprechend aus Michel Foucaults legendärem Schlusssatz aus Die Ordnung der Dinge (orig. 1966), »dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.5 Zentral für diese Neudefinition des Maschinellen in Richtung kognitiver und affektiver Arbeit war die Kybernetik. Diese interdisziplinäre Wissenschaft, die sich in den späten 1940er Jahren formierte, vertrat einen umfassenden Ansatz zur Analyse und Steuerung (kybernetes: griech. Steuermann) dynamischer Systeme. Programmatisch war in dieser Hinsicht bereits der Titel von Norbert Wieners Buch von 1948: Cybernetics. Or Control and Communication in the Animal and the Machine.6 Die Kernthese, die in den Jahren danach von Wissenschaftlern aus den unterschiedlichsten Bereichen (der Ethnologie, der Biologie, der Informatik, den Sprachwissenschaften) überprüft wurde, lautete, dass sowohl anorganische als auch organische

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Die Cyborg Prozesse wesentlich durch Informationsflüsse und Rückkopplungsprozesse reguliert würden. Diesem Prinzip wurde gewissermaßen globale Gültigkeit zugesprochen: Sowohl der menschliche als auch der tierische Metabolismus, sowohl ganze Gesellschaften als auch Kommunikationsprozesse ließen sich als rückgekoppelte Informationssysteme untersuchen. Und alle diese »Systeme« wurden als selbstregulierend beschrieben. Sie alle bewahrten sich über negative Rückkopplung vor Entropie, auf die alle »natürlichen« Prozesse zusteuerten.7 Dieses Verständnis leitete sich einerseits aus der Thermodynamik ab, andererseits aus einem »biologischen« Verständnis von Kommunikationsprozessen. Schließlich hatte die Systembiologie die Rückkopplungsprozesse innerhalb von Organismen (beispielsweise Hormonzyklen) aber auch die Adaptionsprozesse von Lebewesen mit ihren jeweiligen Umwelten seit den 1920er Jahren erforscht.8 Die »Cyborgisierung« war also zunächst ein gedankliches Unternehmen. Organismen konzipierte man als Kommunikationsmaschinen – und Kommunikationsmaschinen als Organismen. Von dieser Annahme war es nicht mehr weit, den alten Traum wieder ins Werk zu setzen und das Organische auch faktisch mit dem Maschinellen zu verbinden. Als Clynes und Kline in ihrem berühmten Paper von 1960 den Cyborg vorstellten, hatten sie in erster Linie Medikamente vor Augen, die die Wahrnehmung, den Stoffwechsel und das Temperaturmanagement bei Astronauten positiv beeinflussen sollten. Im Artikel ist aber auch die Rede davon, dass ein solcher pharmazeutischer Eingriff auch ein spirituelles und evolutionäres Ereignis darstelle: Zum ersten Mal könne der Mensch die natürliche Evolution beschleunigen und sich so in die Zukunft katapultieren. Aber als allgemeine Steuerungslehre war die Kybernetik nicht nur ein wissenschaftshistorisches Ereignis. Sie erfuhr auch in den Künsten und der Philosophie große Aufmerksamkeit. Ein außergewöhnliches Dokument dieser breiten Rezep-

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Karin Harrasser tion ist Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, roman (1969). Oswald Wiener, Mitglied der Wiener Gruppe und dem Wiener Aktionismus nahe stehend, später Gastronom in Berlin und aufmerksamer Student der Mathematik und Informatik an der TU, war zur Zeit der Abfassung bei der Firma Olivetti, damals ein Pionier der Datenverarbeitung, tätig. Angeblich auf einer Belohnungsreise für erfolgreiche Mitarbeiter erwarb Wiener Iván Flores’ Computer Logic. Functional Design of Digital Computers (1960).9 Oswald Wiener befasste sich Anfang der 1960er Jahre also praktisch und theoretisch mit Computerprogrammierung. Sein »Roman« bezeugt eine intensive Beschäftigung mit der Frage, wie Subjektivierung, Programmierung und Sprache miteinander verschränkt sind. Wiener hatte bereits Marshall McLuhan gelesen. In die verbesserung von mitteleuropa fragte er ganz explizit nach Unterschieden und Kontinuitäten zwischen der Menschencodierung im Medium der Sprache und im Medium des Computers, damit die Medientheorie eines kittlerschen Zuschnitts und Peter Sloterdijks Elmauer Skandalrede über Anthropotechniken gleich mehrere Jahrzehnte vorwegnehmend.10 Kernstück des in radikaler Kleinschreibung und in Fragmenten und Aphorismen gehaltenen Romans ist ein Essay über eine Maschine, die Wiener »bio-adapter« nennt und die der Herstellung eines Cyborgs dient. Der Cyborg ist jedoch nur eine Zwischenstufe, denn er soll am Ende, in einem reinen »Bewusstseinszustand«, alles Materielle vertilgen. Der »bio-adapter« ist als kybernetische Maschine konzipiert, die zunächst den zu adaptierenden Organismus einschließt. Er ist ein »glücks-anzug«,11 der den Menschen als künstliche Umwelt umschließt, ihm eine virtuelle Realität gibt, die sein Wohlgefühl steigert, ihn dabei aber nach und nach demontiert, seine Organe und Glieder durch Leiterplatten ersetzt und am Ende eben nur noch ein Bewusstsein, das sich über rekursive Nervenimpulse selbst in Bewegung hält, einen »servo narziss«12, übrig lässt.

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Die Cyborg Diese groteske, medientheoretische Fabel ist eingebettet in weitreichende Überlegungen zum Charakter des Regierens unter kybernetischen, also – wenn man so will – postmodernen Verhältnissen. Die gegenwärtige »assmiliationsdemokratie«13, so der Ausdruck Wieners, zeichne sich durch Unauffälligkeit im Regieren aus, durch eine Schmiegsamkeit, die jedes EntkommenWollen produktiv einbinde, eine Kontrollgesellschaft im deleuzeschen Sinn: »das zeitalter des government hat die mittel, lässig die stillen wasser als pfützen abzutun; austerngleich assimiliert es, was da an eckigem in seine eingeweide stehen könnte: und wenn es nun von seinen eigenen perlen am zu knauserig bemessenen fundament aufgerieben wird, so sind es wenigstens perlen, die ein in bildung befindliches volk mit perverser berechtigung für das tier zu halten beginnt. die ›bildungsgesellschaft‹ präpariert sich selbst, beginnt damit bei ihren organen. sie hat dem status quo endlich eine realisierbare doktrin auf den astralleib geschneidert: es ist dies die schließlich doch noch sozial gewordene technik, hinreichend verfeinert um eine soziologie zu materialisieren, welche füglich als letzter streich eines jahrtausendealten ringens um stabilisierung, d.h. um verstaatlichung der natur gelten muss, und die dieser gesellschaft mit ihren hinfort austauschbaren generationen den charakter eines museums für marsmenschen anzumerken sich erfunden fühlt.«14 Ein Subjekt ist entsprechend der/diejenige, der/die »möglichst stabil um führungsgrössen« schwingt,15 der/die sich permanent selbst im DIY-Modus überarbeitet sowie die Information der Gene und des Staates einer optimalen Nutzung zuführt. Individuum und Kollektiv sind damit keine Gegensätze mehr, sondern arbeiten gemeinsam daran, die feindselige Umwelt abzuschaffen und durch Informationskreisläufe zu ersetzen. Offenkundig wurden die Kybernetik und der Cyborg aus einer militärischen, kontrollverliebten und fortschrittsgläubigen Gedankenwelt geboren, was aufmerksamen Beobachtern wie Wiener bereits in den 1960er Jahren gedämmert hatte. Aber

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Karin Harrasser wieso interessierte sich in den 1980er Jahren mit Donna Haraway eine feministische Biologin und Wissenschaftshistorikerin für die Cyborgs? Haraway griff die Figur zunächst auf, um sich in eine Diskussion zum Status von Wissenschaften in der Gesellschaft einzumischen. Sie führte die Cyborg ein, um einige Paradigmenwechsel in der Technik, die ein Erbe der Kybernetik darstellten (Vernetzung, Informatisierung, Miniaturisierung, Verstrickung von Bio- und Informationstechnologien) zu thematisieren und zu kritisieren. Und sie verband die Cyborg mit der Reflexion der zeitgenössischen weltpolitischen Situation: Mit Globalisierung und Outsourcing von Arbeit, mit Neoliberalismus und den neuen, informationstechnisch aufgerüsteten Kriegen. Indem sie die Cyborg vor diesem Hintergrund neu dachte, leitete Haraway Konsequenzen für gesellschaftskritische Ansätze wie den Marxismus und den Feminismus ab: Diese dürften sich nicht auf eine Utopie des Freiseins von einer Verstrickung mit dem Zivilisationsprozess, dem Kolonialismus und der Unterdrückung der Frau zurückziehen. Statt diese Verstrickung aus einer technikfeindlichen Position heraus abzulehnen, sollte Gesellschaftskritik im Gegenteil gerade aus ihr heraus operieren. Haraways relativ kurzer, polemischer und vielstimmiger Text behauptet deshalb, die Unterscheidung von Natur und Kultur sei im Zeitalter der Technosciences längst obsolet geworden, wir alle lebten längst in hybriden Natur-Kulturen. Der Text beschreibt damit aber nicht so sehr eine für die 1980er Jahre »neue« gesellschaftliche Situation der völligen Technisierung der Welt, sondern bricht mit einer damals in den Sozial- und Kulturwissenschaften – und besonders in der feministischen Theorie – gängigen, pauschalen Wissenschafts- und Technikkritik. Feministische Autorinnen und Autoren kritisierten beispielsweise den Zugriff auf die als passiv gedachte »Natur« der Frau, der in der Form von Reproduktionsmedizin und Gentechnologie erfolge, als »patriarchale Herrschaftsmaschine« (Cynthia Cockburn).16

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Die Cyborg Technik galt als von Männern geschaffene, Ding gewordene und in der Regel gegen Frauen eingesetzte Ideologie. In der Figur der Cyborg versuchte Haraway dagegen, die technohumane Hybridisierung als Moment mit Widerstandspotential greifbar zu machen. Es ging ihr darum, angeblich selbstverständliche Gegensätze (wie männlich/weiblich, technisch/ natürlich, Maschine/Mensch) als Identitätskonstruktionen aufzuschnüren und damit die klassen-, rassen- oder geschlechterbedingte Unterdrückung ihrer Grundlage zu berauben. Haraway wurde damit zu einer Mitbegründerin des Cyberfeminismus, der auf Vernetzung, Grenzüberschreitung, auf eine Politik der partiellen und temporären Affinitäten und nicht zuletzt auf die Aneignung der digitalen Technologien durch Frauen setzte.17 Indem sie Artifizialität und Hybridität bejahte, unterlief sie jeden Ursprungsgedanken und jede Naturalisierung von Geschlecht oder Rasse. Die Figur der Cyborg erschien dermaßen zentral, gerade weil sie weder als das Eine noch das Andere auftrat, weder technisch noch natürlich, weder männlich noch weiblich, weder Einzelwesen noch Kollektiv war. Deshalb begrüßte Haraway die Technifizierung des Körpers – nicht rückhaltlos, aber mit Verve – und verknüpfte sie mit der Aufforderung, sich die männlichen Technologien anzueignen. Haraway empfahl den Feministinnen, die Artifizialität ihres Körpers nicht nur anzuerkennen, sondern darüber hinaus noch zu steigern. Anstatt eine Politik der Identität, wonach sich Frauen durch ihren anderen, natürlichen Körper von Männern unterschieden, sei eine niemals »saubere« Politik der Vernetzung und Affinität anzuvisieren. Beeindruckend illustrierte das der Abschnitt des Cyborg Manifesto zur Hausarbeitsökonomie, wo Haraway die Arbeitsbedingungen in der damals erst im Entstehen begriffenen New Economy mit ihren ausbeuterischen Praktiken präzise analysierte. Am Beispiel der Platinen lötenden Tiefstlohnarbeiterinnen wies Haraway anschaulich auf das Outsourcing von Kommunikation und die Fertigung in Billiglohnländer hin.

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Karin Harrasser Haraway sah also sehr genau, dass die Versprechen der Kybernetiker auf »Selbstorganisation« und medientheoretische Utopien der Vergemeinschaftung durch die technischen Möglichkeiten der Vernetzung nicht von allein eine soziale Utopie ergaben. Auch deshalb erkannte sie in den Cyborgs Abkömmlinge des Space Race und des Kalten Krieges (so wie sich Haraway selbst als ein Produkt des Sputnikschocks verstand). Ihre Hoffnung galt jedoch dem Umstand, dass die Cyborg – wie das bei Bastarden und illegitimen Kindern so ist – ihren Vätern gegenüber untreu werde, also von der Möglichkeit Gebrauch mache, Verwendungszwecke von Technologien zu finden, die so nicht vorgesehen waren. Damit verkörperte die Cyborg nicht nur das Potential, hochmoderne Dichotomien wie männlich/weiblich oder technisch/natürlich zu dekonstruieren, sondern auch mehr als nur die Summe ihrer Teile darzustellen und dabei neue Sozialformen und politische Praktiken zu ermöglichen. Man kann darüber streiten, ob die Aufforderung, sich die Informationstechnologien anzueignen oder sich in die Technowissenschaften kritisch zu involvieren, eine effektive feministische Strategie war und ist, denn beide haben sich seit der Publikation des Manifesto for Cyborgs 1985 unzweifelhaft als wenig resistent gegenüber kapitalistischer und neokolonialer Aneignung gezeigt, mehr noch: Ihnen ist es vielleicht zu verdanken, dass ein neoimperalistischer Kapitalismus sich überhaupt durchsetzen konnte. Ist die Cyborg damit zu einem Emblem der Integration sozialistischer und feministischer Gegenkulturen verkommen? Ist die Figur wirklich völlig absorbiert worden durch eine alles durchdringende und dennoch unsichtbare Allianz von Kapital und Technowissenschaften, die individuelles Leben und kollektives Handeln untergründig steuert? Zumindest lässt sich daran glauben, dass die Unterwanderung der Cyborg durch jene, die zu eliminieren sie in den 1980er Jahren antrat, nicht vollständig ist. Bis heute bleibt die Cyborg eine schillernde und unruhige Figur. Als Verkörperung

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Die Cyborg und Metapher für die Existenzbedingungen in einer von technologischen Akteuren bevölkerten Welt ist sie nicht einfach affirmativ, sondern provokant: Die schöne neue Welt der Cyborg ist keine gerechtere, einfachere als die alte Welt der Maschinen und der Patriarchen, sondern eine, in der Konflikte und Ungleichheiten nicht wegerklärt werden können. Das, was im postmodernen Kapitalismus unsichtbar bleibt, wird mit dieser Figur, so platt sie auch sein mag, gezeigt und ausgestellt. Schließlich ist die Cyborg auch eine »Figur für Erzählmuster«, eine Figur, die sich zudem nicht unbedingt in Form eines Mensch-Maschine-Hybriden zeigen muss, sondern auch ein Mädchen in der Psychiatrie sein kann, das sich als Cyborg imaginiert, wie in Park Chan-wooks Film I’m a Cyborg and that’s ok (2006). Dass Chan-wooks Figur sich selbst als Cyborg sieht und deshalb in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wird, zeigt neben den normalisierenden Effekten der psychiatrischen Pathologisierung auch, dass eine Selbstdefinition als Cyborg noch immer Spielräume öffnet und ermöglicht, sich gegenüber normalistischen Vorschreibungen nicht zustimmend zu verhalten. Die Cyborg bleibt eine Figur, die das Verhältnis von (Medien-) Technik und subjektiver Wahrnehmung sowie von Fremd- und Selbstbestimmung problematisiert und dabei hilft, die politischen Konsequenzen angeblich »natürlichen« oder »normalen« Verhaltens zu hinterfragen und die Welt, wie sie angeblich ist, immer wieder neu und anders zu erzählen. Die Cyborg bildet deshalb einen Knotenpunkt in einem engen Geflecht, das Public Fictions zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Technik weben.18 Sie ermöglicht Übersetzungen zwischen diesen Bereichen, die manchmal gerade durch die Produktion von Übertreibungen und Missverständnissen politisch aussagekräftig werden.

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Karin Harrasser

Anmerkungen 1

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Eine frühere Fassung dieses Text ist veröffentlicht unter Harrasser, Karin: »Herkünfte und Milieus der Cyborgs«, in: Oliver Müller et al. (Hg.), Das Gehirn als Projekt. Wissenschaftler, Künstler und Schüler erkunden unsere neurotechnische Zukunft, Freiburg: Rombach 2011, S. 129-132. Clynes, Manfred E./Kline, Nathan S.: »Cyborgs and Space«, in: Astronautics 9 (1960), S. 26f. und 74f., hier S. 27. Haraway, Donna: »Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980‘s«, in: Socialist Review 80 (1985), S. 65-108. Exemplarisch zum Verhältnis von Kubricks 2001 und der Forschung Stork, David G. (Hg.): HAL’s Legacy. 2001’s Computer as Dream and Reality, Cambridge, MA: MIT Press 1996. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 462. Wiener, Norbert: Cybernetics. Or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge, MA: MIT Press 1948. Vgl. Hagner, Michael/Hörl, Erich (Hg.): Transformationen des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; Pias, Claus (Hg.): Cybernetics/Kybernetik. Die Macy-Konferenzen 1946-1953, Berlin: Diaphanes 2003. Bertalanffy, Ludwig von: »General System Theory«, in: Biologia Generalis 1 (1949), S. 114-129; ders.: »The Theory of Open Systems in Physics and Biology«, in: Science 111 (1950), S. 2329. So schildert es jedenfalls Thomas Eder in seinem Nachwort zu: Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa, roman, layoutidentische Neuauflage der 2. Auflage bei Rowohlt

Die Cyborg 1969, Salzburg/Wien: Jung und Jung 2014, S. 207-220, hier S. 212. 10 Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. 11 Wiener, verbesserung, S. CLXXV. 12 Ebd. 13 Ebd., S. CXLVIII. 14 Ebd., S. CXLI. 15 Ebd., S. CXLII. 16 Cockburn, Cynthia: Machinery of Dominance. Women, Men, and Technical Knowhow, London: Pluto 1985 (Dt.: Die Herrschaftsmaschine, Hamburg: Argument 1988). 17 Z.B.: Plant, Sadie: nullen + einsen. Digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien, Berlin: Berlin 1998. Ein guter Überblick findet sich bei Gieselbrecht, Karin/Hafner, Michaela (Hg.): Data Body Sex Machine. Technoscience and Sciencefiction aus feministischer Sicht, Wien: Turia + Kant 2001. 18 Vgl. Harrasser, Karin/Friesinger, Günther (Hg.): Public Fictions. Wie man Roboter und Menschen erfindet, Innsbruck: Studienverlag 2009.

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Der Coach Brigitta Bernet

»Der Gegner im eigenen Kopf ist viel schlimmer als der Gegner auf der anderen Seite des Netzes«, schrieb Timothy Gallwey. Der ehemalige Tennistrainer aus den USA gilt heute als Pionier des Coaching.1 In den 1970er Jahren stellte Gallwey fest, dass nicht nur perfekte Technik, Kraft und Kondition zum Erfolg führen, sondern auch »mentale Fitness« von entscheidender Wichtigkeit war. Demnach schien Spitzenleistung mit mentaler Kontrolle ebenso viel zu tun zu haben wie mit physischer Stärke. Nach Gallwey bestand jeder Wettkampf aus zwei Teilen, einem äußeren und einem inneren. Das auf dem Tenniscourt beobachtbare »outer game« wurde gegen einen äußeren Gegner ausgetragen und dank technischer Vervollkommnung gewonnen. Dagegen fand das »inner game« im Kopf der Spielerin statt. Dieses Match spielte sie gleichsam gegen sich selbst – gegen mentale Hindernisse wie Konzentrationsschwäche, Nervosität, Selbstzweifel und vor allem gegen »alte Denkgewohnheiten, die herausragenden Leistungen im Weg stehen.«2 Gallweys Buch The Inner Game of Tennis von 1974 erneuerte das Verständnis von sportpsychologischer Wettkampfführung, das bisher auf der Idee der Unterwerfung des Leibes unter die Macht des Willens basiert hatte. Nun hielten kybernetische Vor-

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Brigitta Bernet stellungen Einzug. Seither wird der Wettkampf durch »Umprogrammierung« gewonnen: Auf der Grundlage eines Mentaltrainings, das auf eine »Flexibilisierung von Verhaltensmustern« zielte und dem Individuum einen besseren Zugang zu seinen inneren Ressourcen versprach.3 Als Feedback-Technik wollte Coaching »innere Blockaden« abbauen und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit erhöhen. Der Coach, der etymologisch vom »Kutscher« abstammt und in den 1970er Jahren noch vor allem Sportlerinnen trainierte, fasste ein Jahrzehnt später auch in der Arbeitswelt Fuß. Im Unterschied zu den USA, wo sich das berufsbezogene Coaching erst relativ spät entwickelte, ging man in Großbritannien bereits in den 1980er Jahren dazu über, Methoden des Hochleistungssports auf die Ausbildung von Führungskräften zu übertragen. Gallweys Schüler, der ehemalige britische Rennfahrer John Whitmore, entwickelte das Coaching als Beratungsform für Unternehmen weiter und brachte die Techniken unter dem Titel Coaching for Performance Anfang der 1980er Jahre über den Atlantik.4 Die Rede vom sportlichen Wettkampf als Arbeit an sich selbst in Konkurrenz zu anderen stieß in der Unternehmenswelt am Ende des fordistischen »goldenen Zeitalters« auf wachsende Resonanz.5 Im Feld der Wirtschaft tauchte der Coach zu einem Zeitpunkt auf, als der Wettbewerb verstärkt in die Unternehmen Einzug hielt. Im deutschsprachigen Raum gewann seine Figur in den 1990er Jahren an Profil. Damals wurden den Personalabteilungen neue Aufgaben hinzugefügt. Die bisherigen Tätigkeitsgebiete der Personalverantwortlichen – Erhaltung und Beschaffung von Personal, Sozialwesen, Weiterbildung, Lohnsysteme und Leistungsmotivation – zielten auf die Bindung der Belegschaft an den Betrieb und wurden daselbst erledigt. Im Zuge betrieblicher Umstrukturierungsprozesse seit den 1980er Jahren dezentralisierte sich die Personalarbeit und wurde vermehrt der Marktlogik unterworfen. Als sich das Personalwesen zum Human Resource respektive zum Human Capital Management wandelte, wurde die

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Der Coach Personalabteilung als strategische Geschäftseinheit – als »Wertschöpfungs-Zentrum« oder »Profit-Center« – konzipiert, die einerseits der Sicherung und Förderung unternehmerischen Verhaltens (»Performance«) der Mitarbeiter dienen sowie andererseits sicherstellen sollte, dass die einzelnen Abteilungen ihre Leistungen auf dem »internen Markt« kostengünstig erbrachten.6 Damit zusammenhängend stieg die Bereitschaft, bestimmte Aufgaben aus den betrieblichen Abläufen auszugliedern und außerhalb des Betriebes erledigen zu lassen – so auch durch das Outsourcing von Beratung an externe Dienstleister. Heute kann die Personalabteilung auf einen breiten Fächer von Beratungsformaten zurückgreifen, die sich außerhalb der Unternehmen als Teil der boomenden Personalentwicklungsbranche als Organisationsentwicklung, Unternehmensberatung, Mediation oder Coaching entwickelt haben. Hatte der weltweit größte Coaching-Verband – die 1995 gegründete International Coach Federation – im Jahr 2009 gut 5000 Coaches zertifiziert, so waren es 2013 bereits über 10.000.7 In den meisten großen Unternehmen ist Coaching mittlerweile ein fester Bestandteil der Personalentwicklung. Als Beratungspraxis für die Führungsetagen entstanden, steht es unterdessen weiten Teilen der Belegschaft zur Verfügung. Noch immer wird in erster Linie das mittlere und obere Management gecoacht.8 Auch von kleinen und mittelständischen Unternehmen, Behörden, Krankenhäusern, Schulen und Universitäten wird Coaching indes zunehmend nachgefragt. Im Vergleich zu den USA, wo sich eine eigentliche »life coaching«-Kultur herausgebildet hat, überwiegt in Europa noch immer das »business coaching«. Allerdings beginnen die Formate sich auch hier zunehmend zu vermischen. Coaching ist eine personenorientierte Beratungsform, die im Rahmen und im Dienste der Arbeitsumgebung meist »unter vier Augen« zwischen Coach und Coachee stattfindet. Grundsätzlich soll der Coach Veränderungsprozesse unterstützen, etwa wenn sich für ein Team eine neue Zusammensetzung

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Brigitta Bernet oder ein neues Aufgabengebiet ergeben hat.9 Selbsthilfediskurs und ökonomische Praktiken gehen im Coach ambivalente Verbindungen ein. Coaches sehen sich selbst als »Katalysatoren«, »Impulsgeber« und »Prozessbegleiter«, die »Hilfe zur Selbsthilfe« bieten, indem sie ihre Klientinnen und Klienten zum Entwickeln der jeweils für sie – und nur für sie – passenden individuellen Lösungen anregen. Bei der Definition des Problems wie auch bei der Begleichung der Kosten für das anfallende Coaching spielen dritte Instanzen – in der Regel Unternehmen – eine entscheidende Rolle. »Das Unternehmen bezahlt mich, aber ich arbeite für den Klienten und dessen Ziele«, stellte beispielsweise Christopher Rauen klar.10 Der deutsche CoachingPionier wehrte sich gegen die häufig vorgebrachte Kritik, das Training versuche der Klientel »Lösungen« schmackhaft zu machen, die im Interesse der Auftraggeber lägen. Im Selbstverständnis der Coachs ist ihr Beratungsangebot hinreichend vor solchen Überstülpungen geschützt, orientiert es sich doch an Zielen, die das Individuum (und nicht der Auftraggeber) festlegt. Anker- und Ansatzpunkt jedes Coachings ist das Definieren eines persönlichen Ziels, das zu Beginn der Sitzung festgelegt wird. »Was muss hier, in diesem Gespräch passieren, damit es sich für sie gelohnt hat, hierher zu fahren?«,11 lautet die kanonisierte Einstiegsfrage jedes professionellen Coachs. So einfach die Frage, so komplex gestaltet sich die Ermittlung der »wirklichen Wünsche« der Gecoachten. In vielen Fällen formuliere die Klientin nämlich zunächst ein »Oberflächenthema«, zum Beispiel einen auf die Umwelt gerichteten »Veränderungswunsch«. Hinter den primär vorgebrachten Anliegen verberge sich aber oft etwas ganz anderes – z.B. ein blockierter oder unbewusster »Stabilisierungswunsch«. Hier leiste der Coach Übersetzungsarbeit, indem er mit der Klientin ein »bewusstseinsförderndes« Training absolviere. Zur Ermittlung der Anliegen und zur Zielvereinbarung greifen Coaches typischerweise auf das GROW-Modell zurück, das John Whitmore

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Der Coach 1984 als Auftragsarbeit für McKinsey entwickelt hat.12 Als ersten von vier Beratungsschritten sieht es »G« wie »Goal Setting« vor: Das Festlegen des Sitzungsziels sowie des langfristigen Ziels der Beratung insgesamt. »R« steht für den zweiten Schritt des »Reality Checking« und meint die genaue Analyse der Situation des Klienten. Unter »O« wie »Options« sind verschiedene Strategien und Handlungsabläufe zur Zielerreichung zu prüfen. Im vierten und letzten Schritt – »W« wie »What« – geht es darum, die Diskussion in eine Entscheidung umzumünzen und einen genauen Handlungsplan aufzustellen. Dieser soll zugleich realistisch und messbar sein und den zuvor spezifizierten Anforderungen gerecht werden. Bis heute ist das GROW-Modell der gemeinsame Nenner aller Coaching-Verfahren. Wer mit GROW arbeitet, soll über sich selbst hinaus wachsen. Er soll lernen, auf seine inneren Ressourcen zuzugreifen, die regelmäßig größer sind, als das, was er aus ihnen macht. Der Coach weiß: Versagerangst, Widerstand gegen Change, Stagnation oder Zweifel kann überwinden, wer seine Fähigkeit zur Selbstreflexion gezielt einsetzen und sein natürliches Potential an Lebens-, Lern- und Leistungsfreude kontrolliert abrufen kann. »Coaching statt befehlen«: Dass es GROW heißt und nicht OBEY, ist für das Selbstverständnis der Berater wichtig. Ziele sollen nicht von oben oktroyiert, sondern von den Gecoachten selbst ausgewählt, festgelegt und »zu ihrer eigenen Sache« gemacht werden.13 Der Coach sieht sich weder als verlängerter Arm des Chefs noch als Problemlöser oder Experte, sondern als »Sparringspartner« des Klienten, der diesen immer wieder aus seiner »Komfortzone« herauslockt, ihn mit gezielten Fragen und Feedbacks auf »blinde Flecken« hinweist und spielerisch zur effizienteren Nutzung seiner Ressourcen und zur weiteren Erschließung seines »inneren Neulandes« anspornt.14 Hilfe verspricht der Coach dadurch, dass er dem Klienten Feedbacks gibt, die dieser von seinem »normalen Umfeld« nicht mehr erhält. Anders als die Psychoanalytikerin arbeitet der Coach lösungs-

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Brigitta Bernet und zukunftsorientiert. Konflikte, aber auch die Vergangenheit und das Umfeld seiner Klientinnen klammert er weitgehend aus. »Gehen Sie nicht zu sehr in die Tiefe«, warnte bereits Whitmore, »der Coach muss nicht immer die ganze Vorgeschichte wissen«. Zerrüttete Kindheiten und Eheschwierigkeiten interessieren ihn ebenso wenig wie Lohndiskriminierung oder Mobbing. Überzeugt vom »Potential seines Schützlings« und vom »Wert der Eigenverantwortung« lädt er seinen Klienten ein, den Fokus auf die eigene Persönlichkeit zu legen, den »Zugang zu seinen eigenen Ressourcen« zu finden und diese zur Lösungsfindung zu aktivieren.15 Coaching inszeniert sich als eine Strategie des Empowerments und der Selbstbefreiung, welche die Handlungs- und Gestaltungsspielräume der Individuen auslotet und ihnen Strategien aufzeigt, um »äußere Konflikte in innere Autonomie« zu verwandeln.16 Nach Christopher Rauen zielt die vom Coach initiierte Bewusstseinserweiterung auf eine reflexive Wende hin zum eigenen Ich: »Coaching ist ein Prozess, in dem es darum geht, das, was den Klienten stört, bewusst zu machen. Und zwar insofern bewusst zu machen, welchen Anteil er selbst daran hat. Wie er das selbst produziert, was ihn in seinem Leben stört.« Schritt für Schritt arbeitet sich der Coach mit seinem Schützling zu dessen »Selbstanteilen« vor. Im Verlauf des Beratungsprozesses soll die Klientin lernen, Probleme am Arbeitsplatz mit ihrer »inneren Haltung« in Verbindung zu bringen. Entsprechend wird der Wandel des eigenen Selbstbilds zum Ansatzpunkt der Lösung. Hat das Individuum erst einmal eingesehen, dass nicht externe soziale Hindernisse, sondern interne psychologische Barrieren seiner Emanzipation im Wege stehen, scheint Selbstbefreiung möglich: »Indem wir diese selbstbeschränkenden Annahmen abschütteln, befreien wir uns. Wir können alte Probleme auf neue Weise lösen« – so das Credo.17 Nicht immer läuft der Personalisierungsprozess indessen reibungslos ab. Nicht selten reagiere die Klientel nämlich zunächst verunsichert und aggressiv, wenn man ihr den Ball zuspiele, er-

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Der Coach zählt Rauen. »Aber meist merkt der Klient dann, hoppla, das ist gar nicht mein Umfeld. Sondern dieses Leiden, dieses Problem, dieser Konflikt, den ich zurzeit habe, da hab ich einen eigenen Anteil daran. Und das Gute ist: Wenn sie einen eigenen Anteil daran haben, dann können sie es auch selbst bearbeiten. Das heißt, sie sind gar nicht so abhängig von anderen Menschen, wie sie das vielleicht zuerst angenommen haben. Das ist der Vorteil, wenn man Selbstanteile in diesen Themen findet.«18 Als personenorientierte Beratungsform verspricht Coaching nicht nur Selbstbefreiung, sondern auch eine »realistische« und ökonomisch tragbare Problemlösung im Rahmen des Möglichen. Realistisch insofern, als die Spielregeln des Game of Work längst gemacht sind. Ein guter Coach macht sich selber überflüssig und akzeptiert den Rahmen der Lösungsfindung als unverrückbar: »Selbst wenn ein Ziel ein absolutes Muss ist«, wusste schon John Whitmore, »ist es noch möglich, die Mitarbeiter dahin zu coachen, dass sie das Ziel zu ihrer eigenen Sache machen.«19 Damit Coaching funktioniert, braucht es nicht nur Klientinnen, die willig sind, ihre Probleme am Arbeitsplatz als Folgen lähmenden Selbstzweifels, sperriger Selbstbilder oder blockierter Ressourcen zu deuten. Nötig ist auch ein Selbstkonzept, das mit dieser Problematisierung korrespondiert. Die psychologischen Annahmen, auf deren Grundlage der Coach operiert, unterscheiden sich vom Freud’schen Ansatz, wonach die Kultur- und Persönlichkeitsbildung sich der Unterdrückung und Sublimierung von Trieben verdankt. Auch zum konditionierenden Approach des Behaviorismus geht man auf Distanz. Die Coaching-Psychologie basiert auf der – mittlerweile zur Positive Psychology verengten – Denkschule der humanistischen Psychologie, die beim Drang des Individuums auf Selbstverwirklichung ansetzt. Bereits Abraham Maslow ging mit seiner »Bedürfnis-Pyramide« einen für das Coaching entscheidenden Schritt weiter.20 Maximal produktiv war der Mensch nach Maslow nicht dann, wenn er seine »primitiven Bedürfnisse« unterdrückte, sondern wenn diese

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Brigitta Bernet soweit befriedigt waren, dass sein höchstes Bedürfnis – jenes nach Selbstentfaltung und Persönlichkeitswachstum – aktiviert war. Auf die Arbeitswelt übertragen, wurde die Maslow-Pyramide zum Ansatzpunkt für Führungstechniken, die auf Leistungsmotivation zielten. In den 1960er Jahren wurde es zum personalpolitischen Konsens fortschrittlicher Unternehmen, dass die Bedürfnisse der Belegschaft nach Sicherheit (verstanden als existenzsicherndes Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, fixen Lohn- und Beförderungssystemen etc.) erfüllt sein mussten, um die motivationalen Leistungsreserven anzuzapfen. Mit dieser in Zeiten der Hochkonjunktur installierten Psychologie der Arbeit konnte man in den 1980er Jahren immer weniger anfangen. Gerade mit dem Bedürfnis nach Sicherheit gab es Probleme. Im Zeichen der Flexibilisierung und Vermarktlichung der Unternehmen wurden Personallehren interessant, die von »selbstaktualisierenden« Mitarbeitern ausgingen, welche ihre Potentiale jenseits der traditionellen Routinen und Sicherheitsstrukturen (wenn nicht auf der Grundlage ihrer Zertrümmerung) zu entfalten wussten. Folgt man John Whitmore, so hatte sein Lehrer Gallwey die »alte behaviouristische Anschauung« vom Menschen als »leerem Gefäß« zu Gunsten eines »optimistischeren Menschheitsmodells« überwunden, dem zufolge der Mensch »eher einer Eichel [ähnelt], die bereits das gesamte Potential für die Entstehung einer herrlichen Eiche enthält.«21 Die humanistischen Theorien und Therapien waren Teil einer sozialreformerischen Medizin- und Psychiatriekritik im Übergang vom fordistischen zum postfordistischen Arrangement. Die Kritik an Institutionen und Autoritäten wie auch das Postulat nach Selbsterfüllung wurden von den sozialen Bewegungen der 1960er Jahre prominent aufgegriffen und vielfältig weiterentwickelt. Zu den psychologisch angereicherten Emanzipationsbewegungen gehörte auch das »Human Potential Movement«, ein Selbsterfahrungszweig der New-Age- und HippieBewegung, dessen spirituelles Zentrum das 1962 gegründete

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Der Coach Esalen-Institute im kalifornischen Big Sur war.22 Von hier aus verbreitete der amerikanische Psychotherapeut Carl Rogers seinen – für das Coaching später wegweisenden – Ansatz der »nicht direktiven«, »klientenzentrierten« Gesprächstherapie. Wie Maslow, aber über diesen hinausgehend, stellte Rogers die »Self-Actualisation« und die Selbstheilungskräfte seiner Klientinnen ins Zentrum.23 Im Streben nach Selbstaktualisierung erblickte er das »organische« Grundbedürfnis alles Lebendigen nach Ausdehnung und Wachstum schlechthin und damit verbunden einen vitalen Drang nach Autonomie weg von äußerer Kontrolle und Strukturen. Entsprechend lag Rogers therapeutischer Schwerpunkt auf einer doppelten »Freisetzung«: Die Klientin sollte nicht nur aus dem bevormundenden therapeutischen Setting von Psychoanalyse und Behaviourismus befreit werden. Sondern auch die in ihrer Person angelegten Potentiale und Ressourcen galt es zu befreien. Dazu war es nach Rogers unumgänglich, dass die Klientin die Verantwortung für ihre Situation wieder an sich nahm.24 Nicht die Anpassung an gesellschaftliche Normen, sondern die Besinnung auf sich selbst stand im Fokus des Human Potential Movements. Die Bewegung, der so unterschiedliche Gruppen wie das Inner Peace Movement, Brahma Kumaris, Scientology, EST (Erhard Seminars Trainings), Hare Krishna, Sahaja Yoga oder die Divine Light Mission zugerechnet werden, organisierte sich in bewusstseinserweiternden »Encounter Groups«, »Sensitivity Trainings«, Selbsthilfegruppen und »Growth Centers«, deren Schwerpunkt je nachdem eher auf religiöser Erweckung, Selbsterfahrung, Meditation oder Katharsis lag.25 Ihre Konzepte und Methoden lassen sich zum Teil zurückverfolgen auf spiritualistische Selbsttechniken (wie zum Beispiel Hypnose und Suggestion), die im Zeichen der (Gegen-) Aufklärung seit dem späten 18. Jahrhundert entstanden und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt wurden.26 An diese Erbschaft knüpfte auch Timothey Gallwey an, der verschiedene Stränge des Human-Potential-Movements

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Brigitta Bernet im Konzept des »inner game« zusammenschloss. Sein TennisBuch widmete er dem indischen Meditations-Guru Maharaj Ji, der zum Zeitpunkt der Publikation als geistiges Oberhaupt der »Divine Light Mission« vorstand.27 Maslow, Rogers und das Human-Potential-Movement machen deutlich, dass die Plausibilitätseffekte, welche Coaching im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre auf Sportplätzen und in Unternehmen zeitigte, in einer neureligiös eingefärbten Selbstfindungs- und Selbstbefreiungsbewegung verankert waren. Die Besinnung auf die inneren psychischen Kräfte und die Emanzipation von äußeren Vorgaben waren Verhaltensorientierungen, die in der Unternehmenswelt der ausgehenden 1980er Jahre auf positive Resonanz stießen.28 Im »emanzipierten Unternehmen« postfordistischen Zuschnitts operierte der Coach an der prekären Schnittstelle zwischen individuellen Wünschen und unternehmerischen Imperativen. Wo Gewerkschaften einen unüberwindbaren Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital lokalisierten und nach kollektiven Festlegungen strebten, versprach der Coach, dass es möglich sei, durch die Wertschätzung und Förderung der persönlichen Anlagen der Arbeitenden unternehmerische (ebenso wie individuelle) Gewinne zu erzielen. Als Unterstützung des Einzelnen auf den Pfaden durch die entgrenzten Marktplätze ist Coaching mittlerweile selber ein boomender Markt geworden. Im Zuge der Entgrenzung von Unternehmen und Arbeit gingen Business und Life Coaching neue Verbindungen ein. Human Potential und Human Capital – in den 1990er Jahren wurden solche Konzepte homologer und die Rhetorik von Wertschätzung und In-Wert-Setzung immer enger. Sinn- und Arbeitssuche wurden neu aufeinander bezogen und in eine unternehmenszentrierten Heilslehre eingebaut. Heute wirbt Positive Coaching mit dem Versprechen, dass Erfolg und Zufriedenheit sich gleichsam automatisch einstellten, sofern man bereit sei (resp. sich von einem Coach helfen lässt), in jeder Situation »das Positive zu identifizieren«

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Der Coach und »die Aufmerksamkeit darauf zu lenken«, demgegenüber aber das zu »hemmen, was belastet«.29 Auf eine paradoxe Art steht der Boom der Coaching-Branche mit der Umsetzung solcher Ratschläge in Verbindung. Nicht selten arbeiten nämlich genau jene Angestellten, welche die unternehmerischen Ziele nicht hinreichend zu ihren eigenen machen konnten und aus der Arbeitswelt herausfielen, später selber als Coaches.30 Unterstützt von Coaching- und Weiterbildungsprogrammen der Sozialversicherungen wagen gut ausgebildete Arbeitslose heute immer öfter eine Zweitausbildung als Coach, und es kommt vor, dass diese dann als externe Dienstleister auch für jene Firma arbeiten, die ihnen ihre vorherige Stellung gekündigt hatte. Gerade weil die Wirtschaft immer »rauer und ruppiger« werde und immer mehr Menschen »unter die Räder« kämen, brauche es heute Coaches, die »ihr Wissen und ihre Empathie in den Dienst der Menschen« stellten, erläutert ein ehemaliger Manager seine Motivation zur Umschulung zum Coach. Seine Kollegin aus demselben Kurs kann ihre »Erfahrungen aus [ihrem] eigenen Stellenverlust« heute »wirksam« in ihre neue Tätigkeit als »Outplacement«-Beraterin einbringen, wenn es darum geht, Firmen bei der Entlassung von Mitarbeitenden und diese bei der Verarbeitung ihres Stellenverlustes zu unterstützen.31 Ob so viel gezielter Selbstreflexion und Strategien zur Überwindung des »inneren Gegners« scheint irgendeinmal die Frage obsolet geworden zu sein, was für ein Spiel unterdessen denn eigentlich auf dem Tenniscourt – mit dem »Gegner auf der anderen Seite des Netzes« – genau gespielt wird.

Anmerkungen 1 Die meisten Geschichten zum Business-Coaching wurden bislang von Insidern verfasst. Hilfreiche Elemente zu einer Genealogie des Coachings im Rahmen einer Geschichte des

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Brigitta Bernet Selbst gibt Traue, Boris: »Coaching. Die Mobilisierung der Psyche 1775-1975«, in: Sabine Maasen et al. (Hg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den »langen« Siebzigern, Bielefeld: transcript 2011, S.  243-264. Zur Situierung des Coachings im Rahmen einer Soziologie von Beratung und Personalmanagement vergleiche Kühl, Stefan: Coaching und Supervision. Zur personenorientierten Beratung in Organisationen, Wiesbaden: VS 2008; Brunel, Valérie: Les managers de l’âme. Le développement personnel en entreprise, nouvelle pratique de pouvoir?, Paris: La Découverte 2008. Aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive und bezogen auf das Life-Coaching vgl. Binkley, Sam: »Psychological Life as Enterprise. Social Practice and the Government of Neo-Liberal Interiority«, in: History of the Human Sciences 24/3 (2011), S. 83-102. 2 Gallwey, Timothy: Tennis – das innere Spiel. Durch entspannte Konzentration zur Bestleistung, Staufen: AllesimFluss 2011, S. 12. 3 Besonders ausgeprägt ist die Computer-Semantik bei Coaches, die sich auf die Methode des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) stützen. Vgl. Mastronardi-Johner, Gerda: »Wahrnehmung von Menschen und Situationen«, in: Karl Kälin (Hg.), Captain oder Coach? Neue Wege im Management, Thun: Ott 1995, S. 81-102. Für eine allgemeine Definition vgl. Drath, Karsten: Coaching und seine Wurzeln. Erfolgreiche Interventionen und ihre Ursprünge, Freiburg: Haufe 2012, S. 16f. 4 Whitmore, John: Coaching für die Praxis, Frankfurt a.M.: Heyne/Campus 1995. 5 Für Vorschläge, die Postmoderne und Postfordismus zusammen denken, vgl. Reitmayer, Morten/Rosenberger, Ruth (Hg.): Unternehmen am Ende des »goldenen Zeitalters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer

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Der Coach

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Perspektive, Essen: Klartext 2008. Vgl. B. Traue: Coaching, S. 254. Wunderer, Rolf/von Arx, Sabina: Personalmanagement als Wertschöpfungs-Center. Integriertes Organisations- und Personalentwicklungskonzept, Wiesbaden: Gabler 1998, S. 33. Kirsch, Corinna/Büttgen, Marion: »Besonderheiten und Determinanten der interaktiven Wertschöpfung im Coaching«, in: Manfred Bruhn/Karsten Hadwich (Hg.), Interaktive Wertschöpfung durch Dienstleistungen. Strategische Ausrichtung, Wiesbaden: Springer 2015, S. 675-700, hier S. 678. Bresser, Frank: Coaching Across the Globe. Benchmark Results of the Bresser Consulting Global Coaching Survey 2013, Köln: Frank Bresser Consulting 2013; Stephan, Michael/Groß, Peter-Paul: Coaching-Marktanalyse 2013. Ergebnisse der 3. Marburger Coaching-Studie, Marburg 2014, online unter www.coachcommunity.de/networks/files/download.162286 (abgerufen am 19.06.2015). Wegweisend war die vierte Auflage von Warren Bennis Buch »The Planning of Change« aus dem Jahr 1985, das Coaching als Führungsstil propagierte, um Veränderungen in Unternehmen anzustoßen. Vgl. K. Drath: Coaching und seine Wurzeln, S. 36. »Zauberwort Coaching«, SWR2-Sendung zum Thema Coach­ ing mit Christopher Rauen vom 25.04.2014, online unter www. ardmediathek.de/radio/SWR2-Tandem/Zauberwort-Coa ching/SWR2/Audio-Podcast?documentId=20979262&bcast Id=9184108 (abgerufen am 19.06.2015). Staub, Romi: Coaching – und Veränderungen werden einfacher, Zürich: Spektramedia 2002, S. 20. K. Drath: Coaching und seine Wurzeln, S. 44. J. Whitmore: Coaching für die Praxis, S. 62f. K. Drath: Coaching und seine Wurzeln, S. 26 und 75. J. Whitmore: Coaching für die Praxis, S. 48 und 79. Vgl. die Selbstbeschreibungen von Bärtschi, Urs: Ich bin mein eige-

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Brigitta Bernet ner Coach. Wie Sie innere Gegensätze in Autonomie verwandeln, Wiesbaden: Springer Gabler 2014, S. XV sowie R. Staub: Coaching, S. 9. 16 U. Bärtschi: Ich bin mein eigener Coach. 17 J. Whitmore: Coaching für die Praxis, S. 91. 18 C. Rauen in »Zauberwort Coaching«. 19 J. Whitmore: Coaching für die Praxis, S. 63. 20 Maslow, Abraham: »A Theory of Human Motivation«, in: Psychological Review 50/4 (1943) S. 370-396. 21 J. Whitmore: Coaching für die Praxis, S. 14 und S. 136. 22 Baker, Eileen: »New Religions and Mental Health«, in: Dinesh Bhugra (Hg.), Psychiatry and Religion. Context, Consensus and Controversies, London/New York: Routledge 1996, S. 125137, hier S. 126. 23 Rogers, Carl: On Becoming a Person. A Therapist’s View of Psychotherapy, London: Constable 1961; ders.: »Facilitating Encounter Groups«, in: The American Journal of Nursing 71/2 (1971), S. 275-279. 24 Rogers, Carl/Rosenberg, Rachel: Die Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 197. 25 York, Michael: The Emerging Network. A Sociology of the New Age and Neo-pagan Movement, Maryland: Rowman & Littlefield 1995. 26 Vgl. B. Traue: Coaching, S. 246; S. Binkley: Psychological Life as Enterprise. Zur Weiterentwicklung der humanistischen zur positiven Psychologie vgl. Ehrenreich, Barbara: Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt, München: Kunstmann 2010, S. 143-169. 27 K. Drath: Coaching und seine Wurzeln, S. 394. 28 Zur Übertragung von Rogers auf das Feld der HRM vergleiche Lindley, Clyde J.: »Putting ›Human‹ into Human Resource Management«, in: Public Personnel Management 13/4 (1984), S. 501-510.

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Der Coach 29 Vgl. online unter www.positive-coaching.net/home/(abgerufen am 01.06.2015); wie auch Biswas-Diener, Robert/Dean, Ben: Positive Psychology Coaching. Putting Science of Happiness to Work for Your Clients, Chicester: Wiley 2007. 30 Vgl. das Programm des Vereins »Fokus Arbeit Umwelt« (FAU), der sich mit der Betreuung und Weiterbildung von qualifizierten Erwerbslosen befasst, online unter www.fau.ch (abgerufen am 01.06.2015). 31 Siehe die zwei Porträts in: Fauch. Die Zeitschrift des FAU – Fokus Arbeit Umwelt 15 (2013), S. 37 und 40.

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Die Postkolonialistin Fermin Suter

Die Postkolonialistin gibt es nicht. Scheinbar wollte und will sich keine Denkerin des Postkolonialen explizit als solche bezeichnen, und das liegt nicht bloß an der sprachlichen Komplikation, welche die »Postkolonialistin« oder »female postcolonial theorist« mit sich brächte. Die Postkolonialistin ist auch nicht inexistent, weil Denkerinnen des Postkolonialen davor zurückgeschreckt wären, eine explizit feministische Position zu markieren und umgekehrt – ganz im Gegenteil. Wenn hier in der Folge feministische und postkoloniale Denkerinnen genannt werden, dann dürfen sie nur insofern als Verkörperungen der Postkolonialistin gelten, als sie diesen Status für sich selbst kaum vorbehaltlos in Anspruch nehmen würden. Die enorme Zahl an Stimmen, die hier keinen Platz findet, muss als Beleg dafür gelten, dass das Erzählen einer Figur ein hochgradig selektives und verallgemeinerndes, also ein nach postmodernen Maßstäben eigentlich zum Scheitern verurteiltes Unterfangen darstellt. Doch genau darin trifft sich die Erzählung der Postkolonialistin mit dem Problem, das sie beschreibt. Wohlwollend gesprochen: Vielleicht ist ausgerechnet dieses Scheitern ein Abbild der stets unvollständigen und darin produktiven Definition der Postkolonialistin. In diesem Sinne ist sie ein Rollenmodell

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Fermin Suter für und eine Reflexionsfigur über einen problematischen, weil vom globalen Norden beherrschten postkolonialen Feminismus. Die Figur der Postkolonialistin stellt deswegen selbst die analytische Frage, welche Position mit dem Begriff gemeint ist, und die politische, wie diese beschaffen sein soll. Die Diskussionen entbrannten da, wo Postkolonialismus und Feminismus aufeinander trafen. Im Kern ging es um die Frage, wie man sich einerseits als postkoloniale, feministische Frau positionierte und wie man andererseits feministisch über Frauen sprach, die sich in post- beziehungsweise neokolonialen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen befanden. Postkolonialismus wie Feminismus waren und sind noch immer zugleich theoretische und politische Programme, die faktische Ungleichheiten erkennen wollen, um sie emanzipatorisch zu verändern. Entsprechend war die Frage nach einer weiblichen, postkolonialistischen Position im Spannungsfeld von Analyse und Intervention angesiedelt. Die Wurzeln dieser Problematik reichen zurück in die USA der 1960er und 1970er Jahre, wo sich die sogenannte zweite feministische Welle formierte. Dabei handelte es sich um unterschiedlich organisierte, politisch motivierte Anliegen, ethnie-, rasse-, und schichtspezifisch divers zusammengesetzte, mit- und gegeneinander agierende Feminismen.1 Besonders einflussreich wirkte der »Black Feminism«, dessen emanzipatorischer Kampf an unterschiedlichen Fronten, mitunter auch gegen eine andere, problematische Form des Feminismus geführt wurde: einen akademischen, weißen Feminismus.2 Die Vertreterinnen des Black Feminism kritisierten besonders die universalistische Annahme, es bestünde eine weltweite Gemeinschaft von Frauen, eine Art weltweite Schwesternschaft.3 Sie reklamierten, dass es nicht die patriarchale Unterdrückung gebe und dass sich diese vielmehr historisch und geographisch heterogen gestalte. So griff das Combahee River Collective, ein Zusammenschluss schwarzer lesbischer Feministinnen, in den 1970er Jahren den Main-

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Die Postkolonialistin stream-Feminismus mit dem Argument an, er sei primär ein Instrument weißer Mittelschichtsfrauen. Seine Analysen orientierten sich entsprechend alleine an der Kategorie der weißen Frau.4 Schwarze Frauen hingegen würden allzu oft nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund ihrer Klassenund Rassenzugehörigkeit diskriminiert und also gleich dreifach unterdrückt. Solche Prozesse der mehrfachen, gleichzeitigen Diskriminierung – Kimberlé Crenshaw sollte ihnen Ende der 1980er Jahre den Begriff »Intersektionalität« zuordnen5 – lösten erbitterte Auseinandersetzungen aus. Das Anliegen, nicht schlichtweg als »Frau«, sondern auch als »schwarze«, ökonomisch benachteiligte und aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Religion unterdrückte Frau anerkannt zu werden, richtete sich explizit gegen einen weißen, akademischen Feminismus. Dieser betrachte die allgemein weibliche Emanzipation als primäres Ziel, schlösse damit schwarze Frauen aus seinem Diskurs aus und, so Crenshaw, redupliziere die rassistische und schichtspezifische Unterdrückung mehrfach diskriminierter Frauen.6 Die afroamerikanische Literaturwissenschaftlerin bell hooks verwies auf die verbreitete Ansicht, die Frauenrechtsbewegung sei initiiert und angeführt worden durch weiße Frauen. Dies, so hooks, verschweige nicht nur die schon vor gut einem Jahrhundert manifesten Emanzipationsbestrebungen schwarzer Frauen gegen die Sklaverei,7 sondern verkenne auch die Tatsache, dass erst ein rassistischer Imperialismus und seine Nachwirkungen es schwarzen Frauen in den USA verunmöglicht haben, eine Führungsrolle im feministischen Kampf einzunehmen.8 Die rhetorische Inbesitznahme des feministischen Kampfes, die einen westeuropäischen und nordamerikanischen Feminismus als Inspirationsquelle, Ursprung und Vorbild aller Frauenbewegungen weltweit annahm, diene letztlich alleine den Klasseninteressen der weißen Mittelschicht. Mit ein Grund für diese Machtübernahme war, so der kritische Tenor der Zeit, die simplifizierende Ausrichtung feministischer Theorie. Deren blinde

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Fermin Suter Flecken führten dazu, dass sie die Ideologie eines kompetitiven, liberalen Individualismus fortschreibe. Dies verunmögliche es, kontext- und gruppenspezifische Diskriminierungen zu entdecken und gegenüber weißen Individualinteressen wie Karriere, Urlaub oder familiäre Quality-Time zu behaupten.9 Eine fehlende Anerkennung schwarzer Frauen in Amerika und generell nicht-weißer Frauen verzerre nicht nur den analytischen Blick des Feminismus: Die implizite Orientierung am Konzept der weißen Mittelklassefrau, die aus solchen Ausschlusspraktiken spreche, habe vielmehr Teil am Chauvinismus und Paternalismus, den er zu bekämpfen vorgebe.10 So ging es solchen Kritikerinnen der innerfeministischen Unterdrückung immer auch darum, gegen einen imperialen weißen Feminismus die eigenen Position zu stärken.11 Sie wollten alternative Sorgen artikulieren, die nicht zwingend aus einer männlichen Herrschaft entsprangen und trotzdem Frauen ganz direkt betrafen, seien das ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung, Fragen der Gesundheit oder Kindererziehung. Feministin mit einem postkolonialen Bewusstsein zu sein, bedeutete in diesem Kontext primär, keine weiße Frau zu sein und keine mittelständischen Interessen zu vertreten. Stattdessen hatte die Postkolonialistin kritisch gegen den sich imperial gerierenden Feminismus zu agieren, womit jede weiße Feministin zur potenziellen rassistisch-sexistischen Unterdrückerin wurde: »[White feminists] could pay lip-service to the idea of sisterhood and solidarity between women but at the same time dismiss black women.«12 Sehr ähnlich lautete wiederum etwas später die Kritik an den Black Feminists, die ihrerseits generalisierend über den weißen Feminismus sprachen und die Versäumnisse, die sie anmahnten, dabei selbst wiederholten.13 Erweiterte der akademische Feminismus seinen Fokus auf die Frauen der sogenannten Dritten Welt im Allgemeinen, ließ der Einspruch nicht lange auf sich warten. Mitte der 1980er Jahre klagten Chandra Mohanty und andere insbesondere den

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Die Postkolonialistin Objektstatus der »Postkolonialen Frau« vehement an – als eine arbiträre Konstruktion von Frauen aus der Dritten in den feministischen Texten der Ersten Welt.14 Diese zeichneten ein homogenisiertes, systematisiertes Bild von Frauenunterdrückung, das sich im monolithischen Konzept der »Third World Woman« manifestiere. Mohanty zeigte, dass der Dritte-Welt-Frau Attribute wie religiös, familienorientiert, häuslich, ungebildet und unaufgeklärt zugeordnet wurden. Die Dritte-Welt-Frau würde damit nicht nur als entmündigt und viktimisiert dargestellt, sondern tatsächlich zum Objekt degradiert und zum Schweigen gebracht. Mohanty argumentierte, dass die vermeintlich traditionelle, konservative und ignorante Dritte-Welt-Frau15 das Gegenüber eines sich als aufgeklärt-humanistisch konzipierenden westlichen Feminismus bilde und damit als Folie diene, auf der eine »Dritte-Welt-Differenz« reifiziert werde, die einen fortschrittlichen Westen von einem in jeder Hinsicht rückständigen und passiven Rest der Welt absetze.16 Ein solcher Feminismus sei schlechterdings blind für jegliche Form weiblichen Widerstands und feministischer Selbstermächtigung. Beispielsweise könnten die mannigfaltigen Bedeutungen des Kopftuchtragens nicht erfasst, seine Signalwirkung als Zeichen von Widerstand und Solidarität nicht erkannt werden, wenn das Tragen eines Kopftuchs alleine im Kontext männlich-religiöser Machtausübung situiert werde.17 Das sich hier artikulierende kritische postkoloniale Bewusstsein innerhalb des Feminismus äußerte sich entsprechend im Fazit, dass der westliche Feminismus eine diskursive Kolonisierung betreibe, welche die historisch materiellen Umstände von Frauen weltweit ignoriere, um sich seiner eigenen Überlegenheit zu versichern. Statt also von einer ethnozentrischen, universalistischen Konzeption der Frau auszugehen, wurde versucht, ein kulturspezifisches Verständnis der Rolle von Frauen zu suchen. Die Emphase lag auf Heterogenität und Differenz. Aber auch daraus erwuchsen neue Probleme. Drohte nicht um-

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Fermin Suter gekehrt ein kultureller Essentialismus und barg die kulturelle Verortung von Frauen nicht die Gefahr, Kulturen als Ganzes – und damit waren nicht-westliche Kulturen gemeint – für die Benachteiligung von Frauen verantwortlich zu machen?18 Wo der Black Feminism vor allem die Interessen einer weißen Mittelschicht am Werk gesehen hatte, erfasste die Kritik den Feminismus inzwischen als global tätigen Wissensproduzenten und Teil eines westlichen, hegemonialen Wissenschaftsdiskurses.19 Darin angelegt, allerdings noch nicht explizit benannt, war die Einsicht in die konstitutive Verstrickungen der Postkolonialistin mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung und Kritik. In der Tat: Die Denkerinnen, deren Stimme man hier vernehmen kann, waren damals und sind noch heute für uns vorwiegend deshalb vernehmbar, weil sie im Rahmen eines akademischen Diskurses artikuliert wurden, den der globale Norden institutionell maßgeblich bestimmte. Was bei Mohanty erst anklang,20 nämlich der Aspekt der eigenen Positionalität und Repräsentationspraxis, wurde in der Folge einerseits erneut einer noch abstrakteren, postmodern gestimmten Kritik unterzogen und andererseits als Instrument kritischer Selbstbefragung zu einem zentralen epistemologischen Grundsatz erhoben: Die Postkolonialistin entdeckte sich selbst als Untersuchungsgegenstand. Konfrontiert mit dem antifeministischen Backlash in den USA, trat 1992 Sara Suleri mit ihrer Kritik an die Öffentlichkeit und fragte nach der unbeabsichtigten Mitwirkung des Feminismus am aktuellen politischen Klima.21 Sie richtete sich gegen so kanonische Autorinnen wie bell hooks und Chandra Mohanty – gewissermaßen die Postkoloinalistinnen der 1980er Jahre. Diesen schrieb sie eine verdeckte Ideologie der Authentizität zu. Wenn diese Autorinnen ein Repräsentationsproblem betonten und implizierten, dass nur eine schwarze für eine schwarze, nur eine postkoloniale für eine postkoloniale Frau sprechen könne, dann verliehen sie den individuellen Erfahrungen dieser Frauen das Attribut des Authentischen.22 In der Konsequenz wür-

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Die Postkolonialistin de bloß wiederholt und eingeübt, was kritisiert werden sollte: der Objektstatus der Frau. Denn werde die Rede über Frauen als verzerrende Repräsentation gegen eine authentische, »reale« Erfahrung gestellt, laufe dies auf das Postulat einer Unvereinbarkeit der (marginalisierten) Erfahrungen mit einem akademischen Diskurs hinaus.23 Die geradezu obsessive Behandlung anekdotisch präsentierter eigener Erfahrungen durch die genannten Autorinnen falle zurück in die überwunden geglaubten Binarismen von Unterdrückern und Unterdrückten oder weiß und schwarz. Eine Alternative zu den paternalistischen Sprechweisen des weißen akademischen Betriebs werde so nicht bloß verfehlt, diese würden vielmehr nachgerade reifiziert.24 Mit ein Effekt davon sei eine verschärfte Rhetorik des »wir oder sie« und damit verbunden eine Radikalisierung der öffentlichen Diskussion – der Feminismus trage zumindest am Rande Mitschuld an dem zu der Zeit grassierenden Antifeminismus und -Intellektualismus. Aber vor allem zeige sich, so Suleris Fazit, ein theoretischer Kerngedanke, nämlich die Vernarrtheit in die prototypisch europäisch-imperialen Ideen des Realen und des autonomen, authentischen Selbst25 – und genau daran scheitere letztlich auch die erhoffte theoretische Emanzipation. Mit der Idee einer die Position aller Feministinnen nach außen schwächenden innerfeministischen Kritik dachte die Postkolonialistin zugleich wieder einen Feminismus als Ganzes, allerdings ohne deswegen nach neuem Zusammenhalt zu rufen. Ihr politisches und ethisches Programm bezog sie nun vor allem auf sich selbst. Die Einsicht, dass die eigene Rolle als Aktivistin/Akademikerin und die entsprechende Position innerhalb eines von Machtungleichgewichten durchzogenen Systems, das sich nicht allein auf den unmittelbaren Wirkbereich feministischer Agenden beschränkt, konstitutiv für jede Analyse ist und als Vorbedingung jeden Sprechens reflektiert werden muss, wurde vielleicht am prominentesten von Gayatri Spivak betont.26 In ihrer inzwischen zum Klassiker gewordenen Studie

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Fermin Suter Can the Subaltern Speak? argumentierte sie 1988, besonders die Rolle der Frau sei prekär, und kritisierte die Komplizenschaft eines gutgemeinten Feminismus mit einem andauernden westlichen Imperialismus zwecks Identitätspolitik;27 ein Prozess, in den sie sich selbst explizit miteinschloss.28 In ihrem Konzept der Subalternen löste sie viel von dem ein, was durch den Black und Postcolonial Feminism kritisch gefordert und unkritisch ausgeblendet worden war. Neben der Notwendigkeit, marginale Positionen anzuerkennen, betraf dies insbesondere die Problematik, wie diese Positionen repräsentiert werden könnten. Das Problem der Repräsentation bestand für Spivak darin, dass diese als Kombination von Darstellung beziehungsweise Inszenierung und Vertretung erfolge und so notwendigerweise einer diskursiven Entmündigung gleichkomme.29 Über Subalterne zu sprechen, Personen, die nicht als Teil eines politischen Systems gelten und per definitionem30 keine Stimme haben – Immigranten, Arme, Bauern, Frauen et cetera – sei immer gleichbedeutend damit, diese zum Schweigen zu bringen, da ihre Stimme durch die eigene, vermittelnde Stimme ersetzt werde.31 Die Rolle der postkolonialen Feministin müsse deswegen immer auch die Reflexion der eigenen Repräsentationspraxis und Position im akademischen Diskurs umfassen. Spivaks einleitende Worte zu ihrem vielleicht meistrezipierten Text stehen deswegen programmatisch für die reflexive Wende der Figur der Postkolonialistin: »Obwohl ich versuchen werde, den prekären Charakter meiner Position durchgehend in den Vordergrund zu rücken, weiß ich also, dass solche Gesten nie ausreichen.«32 Der Versuch, den anderen Stimmen einen Platz einzuräumen, indem die Defizite der eigenen Position reflektiert und als nur symbolisch wirksame Gesten ausgestellt werden, wurde dabei als nicht abschließbarer Prozess verstanden. Das »Sprechen für«, ebenso unabdingbar wie problematisch, sollte, so Spivak, einem »Sprechen zu« weichen.33 Dieses sollte weder die eigene Mittlerposition verschleiern, noch von einer unverstellten, au-

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Die Postkolonialistin thentischen Stimme des Anderen ausgehen. Erst damit öffne sich ein Raum, in dem Widerspruch gegen die eigene Übersetzungsleistung vorgebracht werden könne. Als Variante der Postkolonialistin vollzog Spivak die Wende zu einer Selbstkritik als Voraussetzung von Kritik überhaupt. Und natürlich erstaunt es nicht, dass auch Spivak zum Ziel heftiger Kritik wurde. So wurde bemerkt, die Verdrängung konkreter Anliegen Marginalisierter durch einen Wust postmoderner Theoriebildung wiederhole – erneut – jene strukturelle Unterdrückung, welche die Kritik eigentlich zu überwinden suche.34 Der Postmodernismus, der aus Spivaks Arbeit spricht, sei, so ein anderer Kritikpunkt, nicht mehr als eine weitere Episode europäischer Selbstbespiegelung im Zeichen einer umfassenden Krise des westlichen Bewusstseins.35 In diesem berechtigten Hinweis auf die Institutionalisierung der postkolonialen Theorie und ihre Vermengung mit einer vom globalen Norden diktierten Wissenschaftstradition wiederholte sich einmal mehr die Kritik an der Kritikerin mit dem Argument, deren Analysen seien selbst mitschuldig an den kritisierten Zuständen. Jede Analyse und jede Kritik von und an der Postkolonialistin wäre in diesem Sinne Teil eines allgemeinen Dilemmas postkolonialer Theorien, die, gerade weil sie Repräsentationsprobleme zu entschärfen suchen, vom »Geist der Repräsentation« heimgesucht werden.36 Spivaks selbstkritische Betonung einer fortgesetzten neokolonialen Ungleichheit in der sprachlichen Repräsentation weist aber darauf hin, wie eine postkolonial gestimmte feministische Kritik weitergeführt wird und wie die gleichermaßen emanzipatorisch angelegten Programme von Postkolonialismus und Feminismus doch nie deckungsgleich werden können. Das zeigt sich, wenn zum Beispiel Maria Lugones im Sinne eines »dekolonialen Feminismus«,37 der sich gegen die Vereinnahmung antikolonialer intellektueller und praktischer Arbeit durch westliche akademische Institutionen wehren will, den Begriff »Gender«

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Fermin Suter als koloniales Instrument entlarvt. In der Wahrnehmung verschiedener Theoretikerinnen (nicht nur) des globalen Südens ermöglichte dieses »koloniale Gender-System« einen abstrakten Zugriff auf nicht-westliche Kulturen und überschrieb angestammte Geschlechterkonzepte, welche keineswegs einig gingen mit der Unterscheidung von sozial konstruiertem und biologischem Geschlecht.38 Der Anspruch der Postkolonialistin, sich vom feministischen Mainstream, diesmal jenem des globalen Nordens, zu emanzipieren, geht einmal mehr einher mit einer so fundierten wie zugespitzten Kritik und Ablehnung. Die Postkolonialistin übernahm also seit ihren Anfängen im Black Feminism der 1960er Jahre die Funktion einer feministischen, postkolonialen Kritikerin. Im Zentrum ihrer kritischen Analysen stehen bis heute diskursive Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die sie zu entlarven und produktiv zu wenden sucht. Die grundlegende Skepsis gegenüber Repräsentation ist ihr gleichermaßen Antrieb und Fallstrick. Dem Pragmatismus ihrer politischen Analyse steht das Pathos gegenüber, mit dem sie sich selbst belegt, betreffe dies nun den Wunsch nach Anerkennung oder das Eingeständnis einer epistemisch ungenügenden Positionalität. So findet die Postkolonialistin ihren Platz jeweils da, wo ein Mangel ausgemacht wird, der auf ein Übermaß an Homogenität und Zentralität hinweist. Als kritisches Prinzip, das unartikulierte Positionen einfordert, befeuert sie die Differenzierung eines postkolonialen Feminismus, indem sie diesen, in Kaskaden der Selbstkritik, fortwährend gegen sich selbst aufbringt. Ihren verschiedenen Figurationen kommt so immer eine prekäre Position zu: entweder als aus dem Diskurs ausgeschlossene und nur partiell vernehmbare, als in ihrem Vermögen zur Repräsentation limitierte, politische Denkerin, oder als für die Zukunft erhoffte, emanzipiertere Version des Bestehenden. Die programmatische Konfrontation von Selbstund Fremdbezug, pessimistischer Diagnose und idealistischer Hoffnung ihrer Arbeit macht sie zu einer Figur, die nie ganz da

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Die Postkolonialistin ist, wo sie sein will. Das kritische, emanzipatorische Programm der Postkolonialistin besteht auch darin, uns wissen zu lassen, dass sie sich unserem vollständigen Zugriff immer entziehen muss.

Anmerkungen 1 Vgl. Roth, Benita: Separate Roads to Feminism. Black, Chicana, and White Feminist Movements in America’s Second Wave, Cambridge, UK/New York: Cambridge University Press 2004. 2 Die im Deutschen gewöhnungsbedürftige, in der englischsprachigen Diskussion aber geläufige Terminologie wird hier übernommen. Das betrifft v.a. so problematische Begriffe wie Rasse, Ethnie, schwarz und weiß, die hier ohne distanzierende Anführungszeichen aber mit den gebührenden Vorbehalten gebraucht werden. Auf die Schwierigkeiten einer solchen »chromatischen« Sprechweise, die dem feministischen Diskurs selbst eigen ist, weist Spivak hin: »Der Chromatismus scheint die offizielle Philosophie des antirassistischen Feminismus in den U.S.A gewissermaßen fest in der Hand zu haben. Wenn es einmal nicht um die ›Frauen der Dritten Welt‹ geht, dann geht es um ›farbige Frauen‹. Dies führt zu einigen Absurditäten. So müssen japanische Frauen zum Beispiel zu ›Frauen der Dritten Welt‹ umkodiert werden! Hispanische Frauen müssen als ›farbige Frauen‹ betrachtet werden […]. Die Nomenklatur hier basiert auf der impliziten Akzeptanz von ›weiß‹ als ›transparent‹ oder ›nicht-farbig‹, und ist somit eine Reaktion auf die Selbst-Repräsentation der Weißen.« Spivak, Gayatri Chakravorty: Kritik der postkolonialen Vernunft. Hin zu einer Geschichte der verinnernden Gegenwart. Aus dem Engl. v. Andreas Nehring und Doris Feldmann, Stuttgart: Kohlhammer 2014 [1999], S. 171f.

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Fermin Suter 3 Vgl. McEwan, Cheryl: »Postcolonialism, Feminism and Development. Intersections and Dilemmas«, in: Progress in Development Studies 1/2 (2001), S. 93-111. 4 The Combahee River Collective: »A Black Feminist Statement«, in: Gloria T. Hull/Patricia Bell Scott/Barbara Smith (Hg.), But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies, Old Westbury, NY: The Feminist Press 1982, S. 13-22. 5 Crenshaw, Kimberlé: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: The University of Chicago Legal Forum 140 (1989), S. 139-167. 6 Vgl. Crenshaw, Kimberlé: »Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«, in: Stanford Law Review 43/6 (1991), S. 1241-1299, hier S. 1243, Anm. 4. Dabei betont Crenshaw, dass diese feministische Marginalisierung nicht als Hauptgrund der Unterdrückung missverstanden werden dürfe. 7 hooks nennt bspw. Mary Church Terrell, Anna Cooper, Amanda Berry Smith und Sojourner Truth, von deren Rede sie auch die titelgebende Frage »Ain’t I a Woman?« als Titel ihres Buches übernimmt. hooks, bell [Gloria Watkins]: Ain’t I a Woman. Black Women and Feminism, London: Pluto 1981. 8 b. hooks: Ain’t I a Woman?, S. 161. 9 Vgl. hooks, bell: Feminist Theory from Margin to Center, London: Pluto 2000 [1984], S. 1-17. 10 Vgl. McDowell, Deborah E.: »New Directions for Black Feminist Criticism«, in: Black American Literature Forum 14/4 (1980), S. 153-159, hier S. 153. 11 Amos, Valerie/Parmar, Pratibha: »Challenging Imperial Feminism«, in: Feminist Review 17 (1984), S. 3-19, hier S. 3. 12 b. hooks: Ain’t I a woman?, S. 8f. 13 C. McEwan: Postcolonialism, Feminism and Development, S. 98. Vgl. auch John, Mary E.: Discrepant Dislocations. Fe-

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Die Postkolonialistin minism, Theory, and Postcolonial Histories, Berkeley usw.: University of California Press 1996, S. 69-83. 14 Mohanty, Chandra Talpade: »Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourse«, in: Boundary 2 13/1 (1984), S. 333-358. 15 Ebd., S. 352. 16 »Beyond sisterhood there is still racism, colonialism and imperialism!«, ebd., S. 348. 17 Mohanty führt das Beispiel an, dass iranische Mittelklassefrauen während der Revolutionszeit 1979 zum Zeichen der Solidarität mit Frauen der Arbeiterschicht begonnen haben, ein Kopftuch zu tragen. Vgl. ebd., S. 347. 18 Z.B. werde, wenn »Vielfalt« als prinzipiell erstrebenswerter Zustand angenommen wird, verkannt, dass das Unterdrücken von Differenz als ein Mittel zur Gruppenbildung über zersplitterte Gemeinschaften hinweg und so als politisches Werkzeug fungieren kann. Vgl. C. McEwan: Postcolonialism, Feminism and Development, S. 99f. 19 Darin folgt Mohanty dem postkolonialen Argument in der Tradition von Edward Saids »Orientalism« von der Wissenschaft als kolonialem Instrument. 20 Mohantys Text endet mit dem Aufruf: »It is time to move beyond the Marx who found it possible to say: They cannot represent themselves; they must be represented. » C. Mohanty: Under Western Eyes, S. 354. 21 Suleri, Sara: »Woman Skin Deep. Feminism and the Postcolonial Condition«, in: Critical Inquiry 18/4 (1992), S. 756-769. 22 Ebd., S. 760. 23 Vgl. dazu insb. Kap. 3 in Spivak, Gayatri Chakravorty: Outside in the Teaching Machine, New York: Routledge 1993, S. 53-76. 24 S. Suleri: Woman Skin Deep, S. 762-765. 25 »[S]uch an idiom poignantly illustrates the hidden and unnecessary desire to resuscitate the ›self‹. What is most striking about such discursive practices is their failure to confront

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Fermin Suter what may be characterized best as a great enamorment with the ›real‹.« Ebd., S. 762.  26 Aber auch Autorinnen wie Mary E. John, die ihre Untersuchung der Auseinandersetzung zwischen postkolonialen feministischen Denkerinnen und dem Westen als eine Art Ethnologie schreibt und so deutlich auf die kolonialen Wurzeln auch ihrer Wissenschaft hinweist, suchen einen alternativen Umgang mit der Schwierigkeit wissenschaftlicher Repräsentation der Anderen. Vgl. M. John: Discrepant Dislocations. 27 Das bekannteste Beispiel ist das der Witwenverbrennung in Indien: Die Konstruktion von stummen Opfern – die Abwesenheit von Zeugnissen aus erster Hand in den Kolonialarchiven sei schlagend –, das heißt eines Inbilds der unterdrückten Frau, war wesentlicher Teil der Konstruktion einer vermeintlich barbarischen Kultur, was wiederum dem zivilisatorischen Gestus des kolonialen Britannien Vorschub leistete. Vgl. Kap. 4 in Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Engl. v. Alexander Joskowicz/Stefan Nowotny, Wien/Berlin: Turia + Kant 2008 [1988], S. 74-106. 28 Ein früher Aufsatz steht denn auch unter den Vorzeichen »of my own ideological victimage«, womit die Verstrickung in eine westliche, paternalistische akademische Tradition gemeint ist. Spivak, Gayatri Chakravorty: »French Feminism in an International Frame«, in: Yale French Studies 62 (1981), S. 154-184, hier S. 155. 29 Vgl. G. Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 29-38. 30 Spivak betont, dass es sich beim Konzept der Subalternen im Rahmen der Theorie um ein Konzept und eine Denkfigur handelt, das eben nicht in der Wirklichkeit verifiziert werden könne. 31 Vgl. insb. G. Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 74f. 32 Ebd., S. 19. 33 Vgl. ebd., S. 75.

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Die Postkolonialistin 34 Vgl. dazu den Überblick bei Castro Verala, María do Mar/ Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript 2015, S. 198f. 35 Vgl. dazu Quayson, Ato: »Postcolonialism and Postmodernism«, in: Henry Schwarz/Sangeeta Ray (Hg.), A Companion to Postcolonial Studies, Malden, MA: Blackwell 2000, S. 87111. 36 »[A]pproaches like, for example, Homi Bhabha’s [»The Location of Culture«] are still haunted by the ghost of representation and the separation of worlds that is written into the polarities of past and present, self and other, West an nonWest, which Bhabha takes as starting points.« Fuchs, Martin: »Reaching Out; or Nobody Exists in One Context Only«, in: Translation Studies 2/1 (2009), S. 21-40, hier S. 24. 37 Vgl. Lugones, Maria: »Toward a Decolonial Feminism«, in: Hypatia 25/4 (2010), S. 742-759. 38 Lugones, Maria: »Heterosexualism and the Colonial/Modern Gender System«, in: Hypatia 22/1 (2007), S. 186-209.

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Der Wissenschaftshistoriker Simone De Angelis

Wissenschaftshistoriker ist kein geschützter Titel. Es gibt auch keinen besonderen Werdegang, der absolviert werden müsste, um sich Wissenschaftshistoriker nennen zu können. Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten, in denen Wissenschaftshistoriker in der Regel Fachwissenschaftler waren, besonders Naturwissenschaftler und Mediziner, die aus der Perspektive ihrer Gegenwart die Geschichte ihres Faches schrieben, ist heute nicht von vornherein definiert, wer ein Wissenschaftshistoriker werden kann. Das Beispiel meiner Person ist vielleicht nicht ganz untypisch für diesen Wandel. Inzwischen hat sich das immer noch sehr stark disziplinär organisierte Fächersystem an Universitäten zwar für die Wissenschaftsgeschichte geöffnet. Das war aber noch bis vor einigen Jahren alles andere als selbstverständlich und auch heute noch – besonders im deutschen Sprachraum – muss man oft erklären, was ein Wissenschaftshistoriker ist, was er tut und wo er disziplinär zu verorten ist. Eine Szene, die sich am Ende der 1990er Jahre in einer Expertenkommission einer bedeutenden nationalen Förderinstitution für wissenschaftliche Forschung zugetragen hat, mag diese Situation erläutern: Ich hatte mich mit einem Forschungsprojekt um ein Förderstipendium beworben und erwägte, als

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Simone De Angelis Literaturwissenschaftler und Philologe eine Arbeit über die Anthropologie als »Wissenschaft vom Menschen« in der Frühen Neuzeit zu schreiben. Als ich anfing, mein Projekt vorzustellen und von der Rezeption von Aristoteles’ Schrift De Anima in der Renaissance im medizinischen Kontext sprach, stellte der Präsident der Kommission, ein renommierter Mediävist, etwas entgeistert fest: »Aber Sie sind doch ein ausgebildeter Germanist!«, als dürften Germanisten nur über Goethe, Thomas Mann oder Max Frisch schreiben. Genau dies wollte ich eben nicht, weil mir das Problem der Genese der Anthropologie in der Renaissance und die Frage nach der Natur des Menschen im Wandel vom 16. zum späten 17. Jahrhundert als relevant für die Entwicklung der Anthropologie, Literatur und Ästhetik im 18. Jahrhundert erschien. Soviel kann man schon einmal festhalten: Das vielleicht wichtigste Merkmal, das die Figur des postmodernen Wissenschaftshistorikers kennzeichnet, ist: Er überschreitet fachliche Grenzen, vermeintlich etablierte Disziplinen und tiefverwurzelte mentale Barrieren; er eignet sich (als Autodidakt) Wissen an, das ihm die Ausgangsdisziplin, in der er ausgebildet wurde, gerade nicht vermittelt hat; er hat den Mut, wie es Kant mit seinem sapere aude ausdrückte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, aufzubrechen und neue Wissenskontinente zu erforschen. Die Förderinstitution hat mein Forschungsprojekt ein Jahr später bewilligt und ich habe mein Buch schreiben können.1 Mit der Germanistik im engeren Sinn hat dieses Buch in der Tat wenig zu tun, nicht einmal die darin behandelten Quellen sind in deutscher Sprache verfasst, sondern zu 90 Prozent im Latein des 16. und 17. Jahrhunderts. Und dennoch hilft es, beispielsweise die Menschenentwürfe und Seelenzustände der Figuren in der (deutschen) Literatur bis um 1800 besser zu verstehen. Die Rezeption des Buches zeigt mir heute, dass Grundlagenforschung quer durch die geisteswissenschaftlichen Disziplinen hindurch genutzt wird. Darin liegt auch deren Sinn. Ich konnte das Ganze in der Komparatistik, das heißt in der Vergleichenden Lite-

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Der Wissenschaftshistoriker raturwissenschaft, verkaufen, wo ich auch meine Venia legendi erwarb. Da schon meine Dissertation über den Mathematiker Newton und den Physiologen Haller stark wissenschaftshistorisch ausgerichtet war, konnte ich mich direkt auf Professuren für Wissenschaftsgeschichte bewerben, die zumindest im deutschen Sprachraum immer seltener ausgeschrieben werden, obschon Wissenschaftsgeschichte heute bei den Studierenden sehr beliebt ist. Betrachtet man also meinen Werdegang als Wissenschaftshistoriker, so sieht es zumindest im Nachhinein so aus, als habe es einer Sabotage sämtlicher traditioneller disziplinärer Zuordnungen und Klischees bedurft sowie auf institutioneller Ebene auch des Quäntchens Glück, um bei der Lotterie um die Vergabe von Professorenstellen zu bestehen. Gerade deshalb ist die Figur des Wissenschaftshistorikers heute alles andere als stabil, und ob es sie gibt und weiterhin geben wird, ist fraglich. Als ich zu Beginn der 1990er Jahre anfing, mich für die Geschichte der Naturwissenschaften zu interessieren, empfahl mir ein ausgebildeter Physiker Thomas S. Kuhns Buch The Structure of Scientific Revolutions (1962/1970). Warum Kuhn? Kuhn ist nicht nur wichtig für die Etablierung der History of Science an US-amerikanischen Universitäten. Er war auch einer der Ersten, der mit der Auffassung des Logischen Empirismus brach, wie ihn Rudolf Carnap im Wiener Kreis und ab den späten 1930er Jahren auch in den USA vertrat: Für Carnap kam es etwa bei einer physikalischen Theorie nur auf ihren logischen Aufbau, ihre Axiomatik und Satzstruktur an, wobei der historische Kontext ausgeblendet wurde. Auch wandte sich Kuhn gegen eine Vorstellung von Wissenschaft, die sich in Lehrbuchform präsentierte und den Eindruck vermittelte, eine »fertige« Wissenschaft zu sein. Zwar erschien Kuhns Structure 1962 in Carnaps Encyclopedia of United Science, dennoch konnten ihre Ansichten über Wissenschaft unterschiedlicher nicht sein.2 Carnap trat für eine traditionelle, sogenannte Whig-History ein, wonach die Geschichte einer Wissenschaft stets vom gegenwärtigen Standpunkt dersel-

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Simone De Angelis ben Wissenschaft aus (zum Beispiel des jeweils letzten Standes einer physikalischen Theorie) betrachtet und beurteilt wurde, sodass jede wissenschaftliche Theorie der Vergangenheit automatisch falsch erscheinen musste, sprich: Geschichte war eine quantité négligeable. Kuhn ging hingegen in seinem Verständnis von Wissenschaft und Wissenschaftswandel nicht von der Logik, sondern von wahrnehmungspsychologischen Konzepten aus, die der Gestaltpsychologie der 1920er Jahre entstammten und die sich auch auf die Wissenschaftsstudien des polnisch-jüdischen Bakteriologen Ludwik Fleck auswirkten. Wie Kuhn hat Fleck mit seinem 1980 wiedergedruckten Buch Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935) und seiner Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv3 die Art und Weise, über Wissenschaft nachzudenken und zu forschen, profund verändert. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Titel von Bruno Latours einflussreichem Buch Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society (1987) besser verstehen.4 Dieser kurze Abriss ist wichtig, um zu verstehen, warum die Figur des Wissenschaftshistorikers im akademischen Feld der 1960er und 1970er Jahre aufsteigen konnte und warum die Geschichte der Wissenschaften zunehmend das Bild der Wissenschaften veränderte. Kuhn machte den Anfang, als er in Structure den folgenden Satz prägte: »Wenn man die Geschichtsschreibung für mehr als einen Hort von Anekdoten oder Chronologien hält, könnte sie eine entscheidende Verwandlung im Bild der Wissenschaft, wie es uns zur Zeit gefangen hält, bewirken.«5 Norwood Russel Hanson hatte ferner schon in den 1950er Jahren klargestellt, dass der naive Empirismus eines Carnap nicht aufrecht zu erhalten war. Für Hanson war jede Beobachtung von den Vorstellungen des Beobachters über die Welt abhängig.6 Darüber hinaus wiesen die Wissenschaftsphilosophen Pierre Duhem und Willard van Orman Quine darauf hin, dass ein Phänomen (zum Beispiel die Planetenbewegung) mit meh-

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Der Wissenschaftshistoriker reren Theorien plausibel erklärt werden kann (zum Beispiel um 1600 noch mit der vom Astronomen Tycho Brahe revidierten Ptolemäischen oder Kopernikanischen Theorie).7 Daraus folgt, dass Erfahrung oder Beobachtung allein nicht ausreichen, um einer Theorie gegenüber einer anderen eindeutig den Vorzug zu geben.8 Dies stellte schließlich jedwede »Theorie wissenschaftlicher Rationalität« in Frage, wonach Wissenschaft ausschließlich nach rationalen Kriterien erklärt werden könne. Damit begannen Geschichte, Gesellschaft und Kultur in der Erforschung der Wissenschaften eine zentrale Rolle zu spielen. Diese Entwicklung brachte seit den 1980er Jahren nicht nur die History of Science, sondern auch das strong programme der Edinburgh School of Sociology of Scientific Knowledge (SSK) von John Barnes und David Bloor, wonach jedes wissenschaftliche Wissen auf soziale Faktoren zurückgeführt wird, sowie die Science and Technology Studies (STS)9 definitiv auf den Weg. Es machte sich jedoch eine gewisse Ambivalenz in der Figur des Wissenschaftshistorikers bemerkbar. Die Abspaltung der Science von der History of Science beziehungsweise des Naturwissenschaftlers oder Mediziners vom Historiker seit den 1950er Jahren hat zwar dazu geführt, dass sich der Wissenschaftshistoriker professionalisieren und spezialisieren konnte. Auf der anderen Seite hat dies in vielen Fällen aber auch zu einer Entfernung, wenn nicht Entfremdung des Wissenschaftshistorikers von den Naturwissenschaften, also dem eigentlichen Gegenstand seiner Forschungen, geführt. Der Cambridger Professor für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, Hasok Chang, hat in seinem Vortrag, den er am 22. Juli 2013 am International Congress of History of Science, Technology and Medicine in Manchester hielt, gefragt, ob dem Wissenschaftshistoriker nicht sein Gegenstand abhanden gekommen sei und ob es aufgrund der Behandlung der Sciences im sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext, überhaupt noch einer spezifischen History of Science bedürfe. Die Frage war provokativ gestellt, traf jedoch

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Simone De Angelis den Kern des Problems im Selbstverständnis des heutigen Wissenschaftshistorikers. In seinem Vortrag mit dem Titel Putting Science Back Into the History of Science vertrat Chang die provokante These: »the content is the new context« und plädierte dafür, dass sich Wissenschaftshistoriker wieder mit den contents of past science auseinandersetzen sollten; außerdem mache es wenig Sinn, eine »internalistische« gegen eine »externalistische« Wissenschaftsgeschichte auszuspielen. Dabei betrachtete er die Entgegensetzungen Social/Cultural vs. Intellectual oder Social/ Cultural vs. Rational oder gar Practice vs. Theory als falsche Dichotomien.10 Ich kann Changs Position durch meine Erfahrung mit der Verwobenheit von Geschichte und Philosophie der Wissenschaften11 nur bestätigen. In jüngerer Zeit entstand nämlich eine neue Herausforderung für den Wissenschaftshistoriker, der erkannte, dass die Analyse der Inhalte der Naturwissenschaften von einst auch etliche philosophische Implikationen aufweist, deren er sich annehmen kann, auch ohne die Seite zu wechseln und zum Philosophen zu werden. Diese Richtung gab sich den Namen Integrated History and Philosophy of Science (&HPS). Doch zurück zum eingangs gestellten Problem des Disziplinensystems, mit dem sich der Wissenschaftshistoriker konfrontiert, sowohl auf der Seite der Geisteswissenschaften als auch auf der Seite der Naturwissenschaften. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Figur des Wissenschaftshistorikers auftaucht, um die Unzulänglichkeiten eben dieses Disziplinensystems aufzuzeigen und womöglich zu überwinden. Für dessen Zustandekommen gibt es historische Voraussetzungen, die mit der Theorie der Geisteswissenschaften im späten 19. Jahrhundert zusammenhängen. Es lohnt, sich diese Theorie in Erinnerung zu rufen, damit klar wird, welches die strategische Stellung des Wissenschaftshistorikers im heutigen Wissenschaftsdiskurs ist. Die Genese der Geisteswissenschaften im späten 19. Jahrhundert hatte hauptsächlich mit dem Umstand zu tun, dass die damalige Schlüsseldisziplin Psychologie von einigen Autoren, unter ihnen Wilhelm Dilthey,

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Der Wissenschaftshistoriker nicht länger als eine Naturwissenschaft angesehen wurde und dass die menschliche Psyche auch nicht mehr durch naturwissenschaftliche Methoden (Messungen, Experimente), wie etwa noch in Gustav Theodor Fechners Psychophysik, behandelt werden sollte.12 Die zentralen Probleme, an denen sich zwischen 1860 und 1900 eine Debatte entzündete, waren nämlich die Konstitution des Bewusstseins und die Natur geistiger Phänomene. Daran beteiligten sich Disziplinen wie Psychiatrie, Neurologie, experimentelle Psychologie und Philosophie. Die Psychologie wurde von den Kritikern naturwissenschaftlicher Methoden als eine zentrale Disziplin zur Erforschung »innerer Erfahrung« angesehen. Diese Entwicklung bildete den Ausgangspunkt von Diltheys erkenntnistheoretischer Grundlegung der Geisteswissenschaften auf einem »historistischen Paradigma«, dessen Zentrum das Bewusstsein war. Abgelöst wurde das »historistische Paradigma« erst im Lauf des 20. Jahrhunderts im Anschluss an die Rezeption der Linguistik Ferdinand de Saussures, in der die Sprache als »Zeichensystem« betrachtet wurde und sich als neues Paradigma der Geisteswissenschaften etablierte.13 Wichtiger ist für unsere Zwecke aber, dass Dilthey sich seinerseits gegen das »Paradigma des Naturrechts« wandte, das zwischen 1600 und 1800 dominierend gewesen war und eine Theorie des Menschen, der Gesellschaft und der Moral beinhaltete. Die naturrechtliche Theorie des Menschen ging von der Annahme aus, dass sowohl der physische als auch der moralische Bereich, das heißt die Sphäre der menschlichen Handlungen, naturgesetzlich geregelt sind.14 Dies implizierte auch eine Leib-Seele-Theorie, wonach der Geist und der Körper gemeinsam als Ursachen menschlicher Handlungen betrachtet werden. Gestützt wurde diese Auffassung durch die Resultate der Naturwissenschaften und der Medizin des späten 17. Jahrhunderts, etwa in der Gehirn- und Herzanatomie von Thomas Willis und Richard Lower, sowie durch die Physiologie und Anthropologie des 18. Jahrhunderts.15 Der Bruch mit dem »naturrechtlichen Paradigma« war bei Dilthey, der hier an Kants Kritik

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Simone De Angelis am Naturrecht sowie an die »Historische Rechtsschule« Friedrich Carl von Savignys16 anschloss, klar politisch und auch nationalistisch motiviert: In der Vorrede zu seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) bezeichnete er das Naturrecht als anglo-französische Theorie der Gesellschaft, als natürliche Religion, abstrakte Staatslehre und abstrakte politische Ökonomie, die zur Französischen Revolution sowie zu den für das Deutsche Reich verheerenden Kriegen Napoleons geführt habe.17 Dagegen begründete er die Geisteswissenschaften phänomenologisch auf »den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewusstseins«,18 sowie methodologisch auf einer Theorie des Verstehens, mit der er an die Hermeneutik Schleiermachers und Böckhs anknüpfte.19 Obschon die Abfolge der genannten Paradigmata – naturrechtlich, historistisch, linguistisch (zu ergänzen wären noch sozial-, kultur- und wissensgeschichtlich) – den historischen Wandel in der Selbstinterpretation von Mensch und Gesellschaft seit der Frühen Neuzeit nachzeichnet, ist das duale Disziplinensystem, das nota bene ein Produkt des historistischen Paradigmas ist, bis heute fest verankert geblieben. Genau dazu verhält sich der Wissenschaftshistoriker gewissermaßen subversiv. Um nur einige Aspekte zu nennen: Er macht die Naturwissenschaften und ihre Methoden zum Gegenstand historischer Forschung, indem er auch geisteswissenschaftliche Analysemethoden anwendet (zum Beispiel philologische oder philosophische); er achtet auf die Darstellungsformen wissenschaftlichen Wissens, sowohl sprachlich-textueller wie visueller Art, die bei der Vermittlung von Wissensansprüchen eine zentrale Rolle spielen; er fokussiert auf die Inhalte der Naturwissenschaften, die in der Social and Cultural History of Science oft marginalisiert werden; er rekonstruiert den Bau und die Verwendungsweise der Instrumente experimenteller Forschung, ob es sich um Teleskope, Mikroskope oder komplexere Verfahren der Beobachtung handelt wie in der Teilchenphysik oder bei der Registrierung und Messung von Solarneutrinos. Insofern ist es interessant festzustellen, dass die

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Der Wissenschaftshistoriker diesjährige Juni-Nummer von Isis, dem wichtigsten US-amerikanischen Journal für Wissenschaftsgeschichte, den Focus dem Thema The History of Humanities and the History of Science gewidmet hat.20 Wie arbeitet nun aber der Wissenschaftshistoriker in einem konkreten Fall? In der Debatte über eine Integrated History and Philosophy of Science wurden jüngst historische Episoden wieder aufgewertet, da sie besonders geeignet sind, die Geschichte-Philosophie-Relation zu veranschaulichen. Historische Episoden beinhalten Argumente oder philosophische Konzepte, die durch die Analyse historischer Daten ermittelt werden können. Es geht dabei aber auch um die Frage, wie historische Episoden konstruiert werden, insofern als sich die historische Episode bereits auf einer abstrakteren Ebene befindet als das konkrete historische Datum, das von selbst noch keine explikative Kraft besitzt. Eine historische Episode kann somit als abstraktes Schema oder Modell aufgefasst werden, das der Wissenschaftshistoriker (re-) konstruiert und in dem er historische Daten miteinander in Beziehung setzt. Die berühmte historische Episode um Galileo Galileis Mondbeobachtungen, die er in seinem Werk Sidereus Nuncius (Der Sternenbote) von 1610 veröffentlichte, ist hier besonders aufschlussreich. Sie enthält ein nuanciertes Konzept von Sehen und Beobachtung, eine Proposition über die Bestimmung von Berghöhen auf dem Mond sowie eine detaillierte Argumentation über die Mondoberfläche. Die Analyse von Galileos Mondzeichnungen zeigt beispielsweise, wie er versuchte, die Mondhöhen zu bestimmen. Auf einer gezeichneten Mondkugel sind auf der dunklen, also von der Sonne nicht beleuchteten Seite des Mondes, helle Flecken zu sehen. Galileo identifizierte diese hellen Flecken als Bergspitzen, die von der Sonne horizontal beleuchtet würden. Der Abstand der hellen Flecken zur Scheitellinie zwischen dem hellen und dem dunklen Teil des Mondes machte etwa ein Zwanzigstel des Mondumfangs aus, dessen Größe wiederum seit der Antike gut bekannt war. Auf einer wei-

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Simone De Angelis teren Zeichnung ist zu sehen, wie Galileo aus diesen Daten sein geometrisches Argument zur Berechnung der Mondhöhen visualisierte: Er erstellte ein Modell für die Situation der sichtbaren hellen Flecken auf der Mondoberfläche und trug mit Hilfe eines Kreises, Buchstaben und Linien die geometrischen Verhältnisse und Abstände ein. Mithilfe des Satzes des Pythagoras gelang es ihm schließlich, die Berghöhen auf dem Mond approximativ zu berechnen. Für die damalige Zeit handelte es sich um ein beträchtliches Ergebnis. Der philosophisch interessante Punkt ist, dass Galileo hier, wie heutige Theoretische Physiker auch, mit Modellen arbeitete, die nicht nur Abstraktionen, sondern auch Idealisierungen enthielten. Galileo schloß vom idealisierten Modell auf das Phänomen der Mondhöhen. Den Wissenschaftshistoriker interessiert daran zum Beispiel, was idealisierte Modelle eigentlich sind: Fiktionen oder Repräsentationen der Phänomene? Ich habe meinerseits gefragt, warum Galileo bei seinen Mondbeobachtungen überhaupt ein idealisiertes Modell verwendet hat und bin auf folgenden interessanten Befund gestoßen: Im Brief vom 1. September 1611 an den Jesuitenpater Christoph Grienberger, der damals am Collegio Romano in Rom tätig war, schrieb Galileo, dass wir die Mondhöhen von der Erde aus in Wirklichkeit gar nicht sehen könnten, weder mit seinem neugebauten Teleskop, geschweige denn mit bloßem Auge. Was wir sähen, sagte Galileo, seien bloße Hell-Dunkel-Effekte, sodass wir hypothetisch annehmen könnten, dass die Mondoberfläche in Wirklichkeit durch Höhen und Tiefen strukturiert sei. Galileo wies somit auf ein wichtiges epistemologisches Problem hin, das er auf unsere Sinneswahrnehmung (senso) zurückführte. Dieser historischen Episode können wir also entnehmen, dass Galileo bereits über einen differenzierten Begriff der Beobachtung verfügte: Neben dem Konzept senso, das den physiologischen Prozess des Sehens bezeichnete, verwendete Galileo auch apparenze sensate, also Erscheinungen, wie sie der Beobachter auf der Erde wahrnahm oder osservazione, also Beobachtung, die

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Der Wissenschaftshistoriker auch die Interpretation dessen einschloss, was gesehen wurde, und schließlich auch discorso, womit Galileo die Verbindung von Beobachtung und Räsonnement ausdrückte. Sein senso-und-discorso-Argument, das von der Wahrnehmung von Hell-DunkelEffekten abgeleitet wurde, war besonders subtil. Der Wissenschaftshistoriker kann daher festhalten: Die historische Episode illustriert einen Stil wissenschaftlicher Arbeit, einen Modus des Argumentierens und eine Form wissenschaftlicher Erklärung.21 Schließen will ich, indem ich die Episode aus meiner wissenschaftshistorischen Vergangenheit um ein imaginäres Szenario erweitere: Dies würde ich heute dem Präsidenten der Expertenkommission antworten, der einst so konsterniert auf mein Forschungsprojekt reagiert hatte: Wenn er sähe, was mit einem germanistischen Studium alles möglich ist, müsste er sich eines Besseren belehren lassen und zugeben, dass er sich geirrt hatte. Ganz ähnlich argumentierten in der Renaissance auch die Mediziner in ihren wissenschaftlichen Texten. Sie imaginierten, wie Aristoteles (oder Hippokrates oder Galen) zu ihnen in den Seziersaal kommen und sehen würde, was sie, die Mediziner, am menschlichen Körper per autopsiam selbst gesehen hatten, was den antiken Autoritäten hingegen verborgen geblieben war. Wenn Aristoteles noch lebte, so die Mediziner, würde er ihrem neuen Wissen gewiss zustimmen. Dies galt nicht als Autoritätskritik, sondern war eine typische Argumentform – die kontrafaktische Imagination –, die eine doppelte kognitive Funktion zu erfüllen hatte: Man wollte einen neuen Wissensanspruch durchsetzen und sich als Mediziner behaupten, ohne die antike Autorität gänzlich auszuschalten.22 Schließlich wollte man sie ja auf der eigenen Seite haben. Ähnlich wie damals der vormoderne Mediziner verhält sich heute mitunter auch der postmoderne Wissenschaftshistoriker, auch wenn die Autoritäten jetzt Experten heißen.

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Simone De Angelis

Anmerkungen 1

De Angelis, Simone: Anthropologien. Genese und Konfiguration einer »Wissenschaft vom Menschen« in der Frühen Neuzeit, Berlin/New York: de Gruyter 2010. 2 Pinto de Oliveira, José Carlos: »Carnap, Kuhn, and the History of Science. A Reply to Thomas Uebel«, in: Journal for General Philosophy of Science 46 (2015), S. 215-223. 3 Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 [1980]. 4 Latour, Bruno: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society. Cambridge, MA: Harvard University Press 1987. 5 Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969 [1962], S. 15. 6 Hanson, Norwood Russell: Patterns of Discovery, Cambridge 1996 [1958], S. 4-30. 7 Duhem, Pierre: La théorie physique. Son objet et sa structure, Paris: Chevalier & Rivière 1914 [1906]; van Orman Quine, Willard: »Zwei Dogmen des Empirismus«, in: ders.: Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt a.M. usw.: Ullstein 1979, S. 27-50. 8 Pietsch, Wolfgang: »The Underdetermination Debate: How Lack of History Leads to Bad Philosophy«, in: Seymour Mauskopf/Tad Schmaltz (Hg.), Integrating History and Philosophy of Science. Problems and Prospects, Dordrecht u.a.: Springer 2012, S. 83-106. 9 Pestre, Dominique: À Contre-Science. Politiques et savoirs des sociétés contemporaines, Paris: Seuil 2013. 10 Hasok Changs Vortrag ist online unter: https://www.you tube.com/watch?v=ynRSXVAjA4U (abgerufen am 09.07.2015).

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Der Wissenschaftshistoriker 11 Burian, Richard M.: »More than a Marriage of Convenience. On the Inextricability of History and Philosophy of Science«, in: Philosophy of Science 44/1 (1977), S. 1-42. 12 Bouterse, Jeroen/Karstens, Bart: »A Diversity of Divisions. Tracing the History of the Demarcation between the Sciences and the Humanities«, in: Isis 106/2 (2015), S. 341-352, hier S. 350f. 13 Kablitz, Andreas: »Der Systemfehler der Geisteswissenschaften«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.12.2014, S. N4. 14 De Angelis, Simone: »Lex naturalis, Leges naturae, ›Regeln der Moral‹. Der Begriff des Naturgesetzes und die Entstehung der modernen ›Wissenschaften vom Menschen‹ im naturrechtlichen Zeitalter«, in: Simone De Angelis/Florian Gelzer/Lucas Marco Gisi (Hg.), »Natur«, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600-1900), Heidelberg: Universitätsverlag 2010, S. 47-70. 15 S. De Angelis: Anthropologien, Kap. 6. 16 Lahusen, Benjamin: Alles Recht geht vom Volk aus. Friedrich Carl von Savigny und die moderne Rechtswissenschaft, Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung 2013. 17 Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin/Leipzig 1923, S. XV. 18 Ebd., S. XVIII. 19 Ebd., S. XVI. 20 Isis 106/2 (Juni 2015), S. 337-390. 21 De Angelis, Simone: »So How Do We Know that the Moon Is Mountainous? Problems of Seeing in Galileo’s Reflections on Observing the Moon«, in: Tilman Sauer/Raphael Scholl (Hg.), The Philosophy of Historical Case Studies, Dordrecht u.a.: Springer 2015 (im Druck). 22 S. De Angelis: Anthropologien, Kap. 4, bes. S. 251f.

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Der Steuerexperte Gisela Hürlimann

Der Steuerexperte ist im frühen 21. Jahrhundert zum Generikum geworden. Als ausgewiesener »tax expert« erscheint er in unzähligen Variationen. Dabei lassen sich drei Grundtypen unterscheiden. Ein erster Typ des Steuerexperten blickt auf eine lange Erfahrung in der staatlichen Steuerverwaltung zurück. Sein Dienst beim Staat endete beispielsweise in einem Zerwürfnis, das sich, wie im Fall des spanischen Steuerjuristen Ignacio Ucelay, um angeblich missbräuchliche, da zum Steuervermeiden vorgenommene Verlustabschreibungen eines internationalen Großkonzerns drehte.1 Eine solche, im Staatsdienst mitunter noch anstößige Positionierung machte den unternehmensfreundlichen Steuerexperten zum idealen consultant in international tätigen Wirtschaftskanzleien wie Baker & McKenzie. Diese beschreibt ihre Arbeit wie folgt: »we understand the business and legal intricacies of international taxation and have an unmatched ability to design, implement and defend international tax planning structures«. Mit dieser »ability to defend« schützt der staatserfahrene Steuerexperte die Kundschaft von Baker & McKenzie vor den An- und Zugriffen staatlicher Regierungen, die angeblich weltweit aggressiv zusätzliche Einnahmen verfolgen würden.2 Auch der Berner Bernhard Zwahlen arbeitete sich in den 1980er und

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Gisela Hürlimann frühen 1990er Jahren in der staatlichen Steuerverwaltung hoch, bevor er in die Privatwirtschaft wechselte.3 In seinem Fall fand der Seitenwechsel in die Gefilde der global tätigen Treuhand-, Revisions- und Auditfirmen statt, die sowohl Unternehmen wie wohlhabende Privatpersonen bei ihrer oft transnationalen Unternehmensplanung beraten. Auch nach Erreichen des Pensionsalters blieb Zwahlen im Geschäft und wirkte nebst der selbständigen Steuerberatung auch als Dozent in der Ausbildung von künftigen Steuerexpertinnen und -experten.4 Ein zweiter Typ des Steuerexperten entstammt einer jüngeren und zunehmend auch weiblichen Generation. Er oder sie verfolgt zielstrebig eine Steuerberatungskarriere. Diese führt ihn oder sie nach einem juristischen oder ökonomischen Studium zügig in eine Wirtschafts- und Steuerrechtskanzlei oder wiederum zu Ernst & Young, KPMG, PricewaterhouseCoopers oder einer anderen der big audit firms. Von dort gelingt der Steuerexpertin zuweilen der Aufstieg ins Direktorium einer international tätigen Steuerplanungsfirma, die im Fall der ausgebildeten Juristin und ehemaligen KPMG-Mitarbeiterin Katharina B. Padrutt unter dem lakonischen Namen »Tax Expert« figuriert und sich auf die Steuerplanung mobiler Elitearbeiter (Expats), die steuerliche Behandlung von Unternehmensnachfolgen und auf das Transfer Pricing spezialisiert hat.5 Der dritte Typ des Steuerexperten verfolgt den umgekehrten Karrierepfad. Nach einem betriebswirtschaftlichen Studium erklimmt er die Karriereleiter als Projektleiter und Manager bei Großbanken und im Unternehmenssoftware-Bereich, bis er an die Spitze einer staatlichen Steuerverwaltung berufen wird. So geschah es beispielsweise Marcel Schwerzmann, der 2003 die Leitung der Steuerverwaltung des Kantons Luzern übernahm, um diese fiskalisch etwas behäbige Zentralschweizer Region, die sich durch die aggressiven Standortpolitiken ihrer Nachbarkantone in den Rückstand versetzt sah, in einen scharfen Steuerwettbewerber zu verwandeln.6 Nach drei Jahren, in denen

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Der Steuerexperte Schwerzmann die Erwartungen der bürgerlichen Luzerner Regierung erfüllte und Steuergesetze und -verwaltung umkrempelte, verließ er seinen Posten infolge von Dissonanzen mit seinem politischen Vorgesetzten. Aber nur, um kurz darauf selbst in die Politik zu gehen und seinen früheren Vorgesetzten zu beerben, indem er selbst zum Luzerner Finanzdirektor gewählt wurde. Als solcher machte sich dieser zum Staatsmann mutierte Steuerexperte ohne Zögern daran, die Luzerner Gewinnsteuern auf das schweizweit tiefste Niveau zu senken.7 Im europäischen Vergleich kennen nur noch südosteuropäische tabula-rasaVolkswirtschaften tiefere Unternehmenssteuersätze.8 Diesen drei Typen ist die wesentlichste Eigenschaft der Figur des Steuerexperten im 21. Jahrhundert gemeinsam: Sie kennen sich im Optimieren und Minimieren von Steuern aus. In ihrer postmodernen Ausprägung sind sie dabei polyvalent zwischen Universität, Think Tank und NGO, zwischen staatlicher Verwaltung, privaten Konzernen oder der eigenen Steuerberatungsfirma unterwegs. Mitunter lässt der Experte diese ohnehin durchlässigen Grenzen auch ganz verschwinden. Dann wird der staatliche Steuerbeamte zum Steueroptimierer im Dienst von Privaten und Unternehmen – und zwar im Interesse des Fiskus, der aufgrund der verstärkten Globalisierung um seine Erträge konkurrieren muss. Damit inspiriert der intensivierte Standortund Steuerwettbewerb nach dem Boom und vor allem seit der politökonomischen Systemwende ab 1989 die eine Perspektive dieses Texts. Eine zweite Betrachtung setzt bei der Denomination »Steuerexperte« an und fokussiert auf Standardisierungs-, Professionalisierungs- und Zertifizierungsprozesse, die geeignete Humanressourcen fürs heteromorphe Feld der Besteuerung (oder ihrer Vermeidung) generieren. Dass der Steuerexperte in seinem Kern ein Grenzgänger ist, zeigte sich schon 1981. Damals ersetzte die neutralere Bezeichnung des »eidgenössisch diplomierten Steuerexperten« den älteren »eidg. dipl. Steuerberater«. Ange-

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Gisela Hürlimann sichts der »besonderen Verhältnisse in der Schweiz« schien es dem Prüfungsexperten Carl Helbling angemessen, »Ausbildung und Examen für den Steuerberater einerseits und den Steuerbeamten anderseits in gleicher Art durchzuführen«.9 Damit wurde die Denomination »Steuerexperte« vom schmucken Beiwerk von Buchhaltungsspezialisten und Wirtschaftsjuristen zu einem staatlich anerkannten und geschützten Titel. In den frühen 1980er Jahren fanden unter Aufsicht des Bundesamts für Industrie, Gewerbe und Arbeit die ersten höheren Fachprüfungen in Steuerrecht und Steuerpraxis statt. Organisiert wurden sie von den Berufsorganisationen der Treuhänder und der privaten Steuerberater gemeinsam mit der Interessensorganisation der staatlichen Steuerbeamten.10 1984 erblickten schließlich die ersten eidg. diplomierten Steuerexperten das Licht der Welt. Doch auch der Steuerexperte blieb von der verstärkten Bildungstertiarisierung seit den 1990er Jahren nicht verschont. Die polyvalente Expertin auf dem polymorphen Feld der Besteuerung wird im frühen 21. Jahrhundert in interdisziplinär geschnürten und auf die Entwicklungen in Recht, Unternehmen und globaler Steuerpolitik abgestimmten Bildungspackages trainiert. Entsprechend scheint sich der in den 1980er- und 1990er-Jahren in Mode gekommene »dipl. Steuerexperte« seit der Jahrtausendwende hinter der Explosion von Bildungstiteln wie DAS, CAS, MAS oder LL.M.11 – jeweils in »Taxation« – wieder zu verflüchtigen. Auch in der Schweiz hat sich der international verständliche und zuweilen mit dem Attribut »certified« versehene »tax expert« in den Vordergrund gedrängt. Eine dritte Perspektive kontrastiert die Herausbildung dieses schillernden und polyvalenten Generikums »Steuerexperte« seit den späten 1970er-Jahren im Kontext von verstärktem Standort- und Steuerwettbewerb, der doppelten Tertiarisierung von Arbeitsmarkt und Bildungsniveau und der Globalisierung mit dem status ante. Folgen wir den Annoncen der Neuen Zürcher Zeitung in den 1930ern bis in die 1950er, dann führt,

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Der Steuerexperte wer sich selber als »Steuerexperte« anpreist, ein diskretes Dasein als selbständiger Treuhänder, Revisor oder Anwalt und als Steuerberater.12 Daneben, und in meist klarer Abgrenzung von solch mikroökonomischem Tun, existierte der Typus des wissenschaftlich gebildeten Experten für öffentliche Finanzen und Makroökonomie. Auch ihn gab es in mehreren Facetten: Erstens als Akademiker, der seine Experten-Legitimation durch seinen wissenschaftlichen Status und seine Rolle im Verfahren des Steuergesetzgebungsprozesses und der Politikgestaltung gewann – und der solche Verfahren durch seine Expertise wiederum legitimiert.13 In den USA nahmen etwa die public-finance-scholars der New Yorker Columbia Universität eine solche Rolle ein: Personen wie Edwin Seligman, Robert Haig oder Carl S. Shoup entfalteten eine transnationale Wirkung.14 Im Europa der 1950er bis 1970er Jahre kam dem deutschen Finanzwissenschaftler Fritz Neumark, der im türkischen Exil der 1930er und 1940er Jahre die dortige Steuergesetzgebung mit reformierte, eine vergleichbare Bedeutung zu.15 In der Schweiz gilt das bis in die Fünfziger etwa für Ernst Blumenstein, den seine ehemalige Schülerin und spätere Frau Irene Blumenstein beerbte, und für Eugen Grossmann.16 Grossmann erweist sich allerdings auch als Kippfigur. Er, der das Steuersystem des Schweizer Bundesstaats in den 1940er Jahren wesentlich mitgestaltet hatte, stellte sein Renommee und seine Expertise nach der Emeritierung in den Dienst rechtsbürgerlich-föderalistischer Interessegruppen mit dem Ziel einer Bundesstaatsbegrenzung.17 Zweitens existiert der Universitätsgelehrte, der seine Tätigkeit an der Alma Mater mit einer beruflichen Anstellung in der Finanz- und Steuerverwaltung verbindet. Diese Facette verkörperte in der Schweiz etwa Camille Higy, der über vierzig Jahre lang in der eidgenössischen Steuerverwaltung arbeitete, zahlreiche Werke zu Staatshaushalt, Steuerstatistik und den verschiedenen Steuerarten publizierte und an der Universität Zürich lehrte.18 In der lange unterdurchschnittlich akademisierten Schweiz, in

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Gisela Hürlimann deren liberal-neokorporatistisch ausgestaltetem Politikprozess die Vertreter von Wirtschaft und Interessensorganisationen eine zentrale Rolle spielten und spielen, blieb der Expertenstatus allerdings nicht auf den Wissenschaftler beschränkt. In intermediären Organisationen – Branchen- und Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften oder Berufsorganisationen – und als deren Vertreter in staatlichen Expertenkommissionen zu Steuerreformen, agierte auch der in öffentlichen Finanzen beschlagene Jurist, Revisionsspezialist oder Betriebswirtschaftler und ließ die Grenze zwischen Expertise und Lobbying porös werden.19 Als Zeitgenossen der Krisen, Kriege und politischen Umstürze zwischen 1914 und 1945, aber auch der fordistisch-wohlfahrtstaatlichen Zuversicht der 1950er- und 1960er Jahre bewegten sich public-finance-scholars wie Shoup, Neumark oder Grossmann mit ihren Analysen, Gutachten und Ratschlägen auf einer Makroebene von Gesellschaft, Wirtschaft und Staatlichkeit. Das Etikett des Experten verliehen ihnen jene vorab staatlichen Akteure, die sie zur Problembegutachtung heranzogen und in ihnen Figuren »der Wahrheit und des Wissens«20 zu erkennen glaubten. Dagegen stehen die (dipl.) Steuerexpertinnen und -experten nach dem Boom und in Zeiten von postmodernen Frakturen21 für den Versuch einer Rejustierung der Staatstätigkeit, die unter Leitkonzepten wie ökonomische Anreize, Effizienzorientierung und (mehr) Neutralität der Besteuerung – »leave them as you find them«22 – neu verhandelt wurde. Vor allem aber stehen sie für eine frappante Vielseitigkeit, die auch den diskreten Inserenten in der NZZ mit seiner Expertise in »Steuer-Sachen, SteuerAmnestie«,23 integriert. Die neuen Steuerexperten sind flexibel. Beide Pole der Besteuerung fließen in ihrem Berufsbild zusammen: Einerseits erstellen sie »Steuererklärungen und Situationsanalysen für natürliche und juristische Personen und treffen Steuervereinbarungen (Rulings) mit den Steuerbehörden. […] Sie zeigen den Kunden Steuerfolgen auf und erklären ihnen, wie sie Steuerrisiken minimieren können. Weiter arbeiten sie

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Der Steuerexperte Handlungsempfehlungen aus, entwickeln Ideen zur Steueroptimierung und führen interne und externe Prüfungen durch.«24 Falls die Steuerexperten im Dienst der staatlichen Verwaltung und der Justiz stehen, sorgen sie andererseits für »die korrekte Anwendung des Steuerrechts, nehmen Einschätzungen vor, behandeln Einsprachen und vertreten die Behörden vor den juristischen Instanzen« und tragen damit »zur rechtsgleichen Behandlung der Steuerzahlenden bei.« Vom Steueroptimieren bis zur rechtlichen Verfolgung von Steuersündern – all das kann die Steuerexpertin, wenn sie die berufsbegleitende Weiterbildung erfolgreich abschliesst. In einem Umfeld, in dem Deregulierungsprozesse und ein technisch aufgerüsteter Finanzkapitalismus die Mobilität von Kapital und Besitzverhältnissen immens beschleunigt haben, wurde die Rekrutierung von qualifizierten Steuerfachleuten für Regierungen eine zunehmende Herausforderung, weil sie im gleichen Rekrutierungspool wie Audit-Firmen oder Banken fischten. Der bei der OECD tätige Steuerspezialist Jeffrey Owens empfahl daher den Staaten, »to adopt more of a revolving door policy, whereby it becomes acceptable for tax experts to move freely between the private and the public sectors«.25 Da das Steuerexpertentum je länger, je weniger zwischen staatlichen und privaten Akteuren differenzierte, haben sich die fiskalpolitischen Kämpfe in die politischen Debatten rund um Steuerreformen und den Gesetzgebungsprozess verlagert. Daher lässt sich, in Anlehnung ans fiskalsoziologische Programm von Joseph Schumpeter,26 feststellen: Wer Steuerreformbotschaften zu lesen versteht, gewinnt einen Einblick in die politische Ökonomie der sogenannten zweiten Globalisierung und des Neoliberalismus, die sich seit den 1990er-Jahren verstärkt entfalten. Als Ausdruck davon lassen sich bedeutsame Verschiebungen in der Steuerpolitik identifizieren. Dazu zählen in der Schweiz auf der einen Seite die interkantonale Steuerharmonisierung und der Finanzausgleich zwischen »reichen« und »armen« Kantonen, auf

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Gisela Hürlimann der anderen Seite der forcierte interkantonale Steuerwettbewerb. Harmonisierung und Ausgleich rahmen die 26 plus tausende von Steuerwelten, die in der fiskalföderalistischen Schweiz mit ihren Kantonen und Gemeinden existieren. Den Steuer- und Standortwettbewerb begrenzen sie aber nicht, eher im Gegenteil, sie begünstigen ihn. Oder in reimendem Neudeutsch: frame, not refrain. An diesem Wandel hatten auch die Bundesverwaltung und -regierung ihren Anteil. Dies schlug sich etwa in den seit 1997 durchgeführten Unternehmenssteuerreformen des Bundes nieder. Legitimiert durch die weltweite Standortkonkurrenz, erhob diese Reformserie das kantonale Wettbewerbsprinzip in den Rang nationaler Politik.27 Miss- und Nichtverständnisse erschienen dabei nicht länger als Fehler im System, die durch Expertinnen aufgeklärt werden konnten. Vielmehr fungierten sie als Resultat von und Einfallstor für die postmoderne Expertenkultur. Ein Paradebeispiel dafür lieferte ein Detail aus der schweizerischen Unternehmenssteuerreform II. Im Februar 2008 wurde das Gesetzespaket in einer Volksabstimmung von einer knappen Mehrheit angenommen.28 Im Vergleich zu anderen Abstimmungen galt die Vorlage als komplex und schwer kommunizierbar.29 Nebst der Steuerentlastung von Dividendeneinkommen führte sie das Kapitaleinlageprinzip ein, durch welches Firmen Kapitaleinlagen inklusive Aufgelder (Agiokapital) steuerfrei an ihre Aktionäre zurückbezahlen konnten. Weder in der Gesetzesbotschaft noch in den Abstimmungsinformationen hatte der Bundesrat eine Einschätzung der Steuerausfälle aus dieser Neuerung vorgenommen. Als bekannt wurde, dass die Reform den Staat viel mehr kostete als vermutet, hagelte es juristische Klagen. Das Bundesgericht auferlegte dem Bundesrat zwar keine Wiederholung der Volksabstimmung, rügte aber, dass die »fehlenden Informationen« über die Folgen des Kapitaleinlageprinzips »in krassem Gegensatz« zu den vom Bundesrat in den Abstimmungsunterlagen gemachten Angaben über die

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Der Steuerexperte Ertragseinbussen im Bereiche der Dividenden und der Liquidationsgewinne stünden. Damit verbreitete der Bundesrat gemäß der höchsten Schweizer Rechtsprechung erstens falsche Zuversicht und unterließ es zweitens, auf die lange Rückwirkung der Steuerentlastung bei den Kapitaleinlagen hinzuweisen. Gerade dieses Detail ermöglichte es Unternehmen jedoch, ihre Rückzahlungen rückwirkend bis 1997 steuerfrei vorzunehmen. Gemäß den Aussagen von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, die das Finanzministerium nach der Volksabstimmung von ihrem Vorgänger Hans-Rudolf Merz übernahm, kam die überlange Rückwirkungsfrist »auf Drängen der Wirtschaft gegen die ursprüngliche Absicht des Bundesrates und gegen den Willen der meisten Kantone« in die Gesetzesvorlage hinein.30 Courant normal, Betriebsunfall oder Resultat von klassischem Lobbying? Die Gemengelage war komplex; Überforderung und das klassische Problem, wonach Steuerfolgen kaum einschätzbar und Steuerinzidenzen schwierig zu ermitteln sind, spielten eine wichtige Rolle. Doch wer profitiert davon, wenn die Steuerfachleute in der Verwaltung nicht fähig waren, eine so weitreichende Gesetzesvorlage mit einem adäquaten disclaimer zu versehen?31 Offenbar der postmoderne Typ des Steuerexperten, der Fiskalpolitik als supply-side economics versteht und Planspiele darüber anstellt, wie günstig ein Steuerangebot sein muss, damit global denkende und rechnende Unternehmen darauf einsteigen. Steuerpolitik im mikroökonomischen Labor sieht dann so aus, dass die Expertinnen von Wirtschaftsrechtskanzleien und privaten Treuhand-, Audit- und Steuerberatungsunternehmen den Ertragsausfallschätzungen die Neuansiedlung von Firmen und damit neue Steuererträge infolge von Steuererleichterungen entgegenhalten.32 Dieser neue Typ des Steuerexperten manifestierte sich auch bei den Vorbereitungen zur dritten und vorläufig letzten Unternehmenssteuerreform des Bundes. Die neuen Experten – beispielsweise von PricewaterhouseCoopers (PwC) – waren hier

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Gisela Hürlimann »aktiv« mit von der Partie: »Wir von PwC Schweiz verfolgen die politische Debatte und die Haltung der Wirtschaftswelt zeitnah und arbeiten in technischen Arbeitsgruppen aktiv bei der Reform mit.«33 In auf Englisch verfassten Stellungnahmen und in Web-Seminaren zur Reformvorlage kritisierten die PwC-Experten den Verzicht des Bundesrats auf die zinsbereinigte Gewinnsteuer – ein Instrument aus dem neoklassischen Inventar, wonach aus wohlfahrtsökonomischen Gründen und gemäß der Neutralitätsregel der Konsum und nicht die Einkommen zu besteuern sind34 – als »strategic mistake« und die Furcht der Kantone vor damit verbundenen hohen Steuerausfällen als »not justified«.35 Langsam wurde damit auch in der Schweiz klar, dass – in der Privatwirtschaft tätige – Steuerexperten nicht mehr nur Steuern optimierten, sondern längst auch bestimmten, was »justified« sei und was nicht. So auch im kleinsten und reichsten Schweizer Kanton mit dem dynamischen Namen Zug – der auch als einer der weltweit wichtigsten Umschlagplätze für Rohwaren gilt:36 Hier befürwortete die Regierung eine weitergehende Unternehmenssteuerreform inklusive zinsbereinigter Gewinnsteuer. Denn in Zug, punkto Reichtum, Infrastrukturen und fiskalischer Wettbewerbsordnung das Singapur der Schweiz, galt schon eine Weile, was Jeffrey Owens als Charakteristika und Herausforderungen für den agil-umsichtigen Steuerexperten in der Verwaltung identifizierte: Er wendet sich direkt an den CEO oder CFO einer Unternehmung, statt nur an deren Steuerberater und betreibt Risk Management, weil der Fokus auf die Hochrisiko-Segmente lohnender sein kann als der Zugriff auf die breite Steuerbevölkerung.37 Im tatsächlichen Singapur geht man noch weiter. Dort unterhält die staatliche Steuerbehörde, die Internal Revenue Authority of Singapore (IRAS), eine Ausbildungsplattform für polyvalente Steuerexperten und -expertinnen, an der sich mehrere Singapurer und eine holländische Universität sowie die großen internationalen Accounting-Firmen beteiligen.38

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Der Steuerexperte Das südostasiatische Land passte sich nicht nur als Technologie-, Handels- und Bankenstandort, sondern auch fiskalpolitisch dem Herzschlag der Hyperglobalisierung an. In einem historischen Überblick über die wichtigsten steuerpolitischen Stationen seit der Unabhängigkeit beschrieb die Steuerverwaltung ihre Wettbewerbspolitik wie folgt: »[i]n an increasingly globalised economy […] IRAS juggles its nation-building function with improved taxpayer service and its wider role of actively assisting to position Singapore as a tax-competitive location for businesses and individuals.«39 In Zug wie in Singapur übertrug der staatliche Steuerexperte die Wettbewerbslogik vom Markt auf den Staat – in Luzern versuchte es der zuerst zum obersten Steuerverwalter und dann zum kantonalen Finanzminister gehäutete ehemalige Bank- und Business-Software-Manager Schwerzmann ebenfalls. Kompetitive Steuerstrategien – auch wenn sie kurzfristig riskant waren und Ertragsausfälle zeitigen konnten – wurden als Investitionen in eine Art höheres »unternehmerisches Selbst«40 betrachtet. Der Blick auf den Steuerexperten und die Steuerexpertin der Spätmoderne bestätigt, was der Soziologe Daniel Bell bereits in den frühen 1970er Jahren beobachtet hatte: Die ständisch hierarchisierte Welt der Wissensarbeiter – von Wissenschaftlerinnen über Technologen bis zu Verwaltungsexpertinnen – und der »situs« ihrer Tätigkeit bildeten keine Einheit mehr. Vielmehr konnten beispielsweise Wissenschaftlerinnen nun für die Regierung oder für Wirtschaftsunternehmen, für Universitäten oder das Militär, für Think Tanks oder Nichtregierungsorganisationen arbeiten.41 Entsprechend tritt auch der Steuerexperte nun als Wissenschaftler oder Anwalt, als Mitarbeiterin einer Bank oder als senior adviser einer Revisions- und Auditfirma auf. Und weil Macht auch Gegenmacht erzeugt und am Leben hält,42 tritt er auch als zunehmend verberuflichter Kritiker an Steueroasen, Transfer-Pricing oder Kapitalflucht in NGOs, wie etwa dem »Tax

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Gisela Hürlimann Justice Network« oder der schweizerischen Nonprofit-Organisation »Erklärung von Bern«, in Erscheinung. Denn: Die Einführung der elektronischen Steuererklärung hat den Formularkrieg zwar sowohl für die kleingewerbliche Steuerberaterin wie auch für den aufgeklärten Bürger, der seine Steuerdeklaration am Feierabend selbst ausfüllt, vereinfacht. Aber im Bereich der Unternehmensgewinn-, Kapital- und Dividendenbesteuerung hat die Komplexität von Steuerregeln stark zugenommen. Je weniger Steuergesetze und -verordnungen eindeutig auslegbar sind, desto mehr bedürfen sie der Exegese durch Expertinnen und ein umso größerer Handlungsspielraum spannt sich auf fürs bargaining mit dem Fiskus. Ethnosoziologische Untersuchungen zur Interaktion von Steuerexperten, ihren Kundinnen und den Steuerabteilungen von Konzernen mit der staatlichen Verwaltung gelangen zum Fazit, dass der Fiskus durch die vermögenden und durchsetzungsfähigen Gruppen zunehmend gezähmt werde.43 Diese Domestizierung des Steuerstaats findet seit jeher auch durch Politik und Gesetzesgestaltung selbst statt. Neu ist allenfalls, in welchem Ausmaß zertifizierte Steuerexpertinnen aus der Privatwirtschaft daran beteiligt sind. Ein Wunder eigentlich, dass der Steuerstaat überhaupt noch existiert – und dass er auch als »neoliberaler Konsolidierungsstaat«44 mit Schuldenbremsen und Sparpolitik noch immer hauptsächlich von Steuererträgen lebt. Ob das an den wettbewerbsgestählten Steuerexperten liegt, die er in seinen Reihen weiß, darf bezweifelt werden.

Anmerkungen 1 González, Jesús Sérvulo: »Cemex se enfrenta a una sanción tributaria de unos 450 millones de euros«, in: El País vom 22.11.2013, online unter: http://economia.elpais.com/economia /2013/11/21/actualidad/1385067003_665294.html (abgerufen

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am 08.04.2015); Baker & McKenzie Firm News: »Baker & McKenzie Hires Senior State Tax Inspector as ›of Counsel‹«, 17.02.2015; online unter: www.bakermckenzie.com/news/BakerMcKenzie-Hires-Senior-State-Tax-Inspector-as-of-Counsel02-17-2015/(abgerufen am 08.04.2015). Im Original: »Governments worldwide are aggressively pursuing additional revenue…«, in: Baker & McKenzie: »Global Tax – Trusted experience, cutting-edge capability« (Webeintrag), online unter: www.bakermckenzie.com/Tax/(abgerufen am 08.04.2015). Kammermann, Tanja: »Ernst&Young Bern hat einen neuen Leiter«, in: Berner Zeitung vom 17.01.2012, online unter: www. bernerzeitung.ch/wirtschaft/unternehmen-und-konjunktur/ ErnstYoung-Bern-hat-einen-neuen-Leiter/story/13883051 (abgerufen am 15.03.2015). Es handelt sich um das Schweizerische Institut für Steuerlehre (SIST), siehe dazu den Webeintrag bei der Kalaidos Fachhochschule Schweiz, online unter: www.kalaidos-fh.ch/SIST/ Taxation (abgerufen am 14.03.2015). Website der Firma »Tax Expert International AG«, Profil von Katharina B. Padrutt, online unter: www.taxexpert.ch/index. php?id=k_padrutt&L=1 und: www.bna.com/katharinapadrutth3414/(abgerufen am 05.05.2015). Staatskanzlei Luzern: »Marcel Schwerzmann wird neuer Chef der kantonalen Steuerverwaltung« (Medienmitteilung vom 15.04.2003), online unter: www.presseportal.ch/fr/ print/100462047-marcel-schwerzmann-wird-neuer-chef-derkantonalen-steuerverwaltung.html (abgerufen am 05.05.2015). Staatskanzlei Luzern: »Marcel Schwerzmann verlässt die Steuerverwaltung« (Medienmitteilung vom 07.12.2006), online unter: www.lu.ch/verwaltung/staatskanzlei/drucksachen/ Mitteilungen/Mitteilungen_archiv (abgerufen am 05.05.2015); Merki, Martin: »Ehemaliger Steuerchef wird Finanzdirektor«, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 23.05.2007, S. 19;

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Gratwohl, Natalie: »Kantone locken Firmen«, in: NZZ vom 11.07.2012, S. 22. Nämlich Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien und Mazedonien, siehe: KPMG: Clarity on Swiss Taxes, Zürich: KPMG May 2015, S. 34. Helbling, Carl: »Die neuen Prüfungen zum dipl. Steuerexperten«, in: Der Schweizer Treuhänder 5 (1981), S. 48-53, hier S. 48. C. Helbling, Die neuen Prüfungen, S. 52. Diploma in Advanced Studies (DAS), Certificate of Advanced Studies (CAS), Master of Advanced Studies (MAS) sowie Master of Laws (LL.M) in Taxation. Siehe bspw. Annoncen in: NZZ vom 28.04.1930, S. c7; NZZ vom 29.04.1937, S. a3; NZZ vom 02.10.1954, S. c7. Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Siehe zur »Columbia School« generell Mehrotra, Ajay K.: »From Seligman to Shoup. The Early Columbia School of Taxation and Development«, in: W. Elliot Brownlee/Eisaku Ide/ Yasunori Fukagai (Hg.), The Political Economy of Transnational Tax Reform. The Shoup Mission to Japan in Historical Context, Cambridge, MA: CUP 2013, S. 30-60. Neumark, Fritz: Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen: Mohr 1970; Neumark, Fritz: Zuflucht am Bosporus. Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953, Frankfurt a.M.: J. Knecht 1980. Geering, Walter: »Ernst Blumenstein, Begründer einer schweizerischen Steuerrechtswissenschaft«, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung 53/24 (1952), S. 561-567. Siehe dazu Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich (AfZ), Bestand »Redressement National (RN)«, Kategorie: Wehrsteuerabbau (1954-1967), Mappe 368: Sitzungen des Initiativkomitees für Wehrsteuerabbau (1963). Zum weiteren Hinter-

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grund Longchamp, Olivier: La politique financière fédérale (1945-1958), Lausanne: Editions Antipodes 2014. Bohley, Peter: »Professor Dr. Camille Higy« [Nekrolog], in: Jahresbericht der Universität Zürich 1983/84, S. 54. Zahlreiche Beispiele dafür finden sich in den Beständen der Eidg. Steuerverwaltung (ESTV) sowie der Eidg. Finanzverwaltung (EFV) zur Bundesfinanzordnung bzw. zu deren Revisionen ab 1959 im Schweizerischen Bundesarchiv (BAR) sowie im AfZ, bspw. in den Beständen des »Vororts«, der »Wirtschaftsförderung (wf)« sowie des »Redressement National (RN)«. Schumacher, Beatrice/Busset, Thomas: »›Der Experte‹: Aufstieg einer Figur der Wahrheit und des Wissens«, in: traverse 8/2 (2001), S. 15-20. Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008; Rodgers, Daniel T.: Age of Fracture, Cambridge, MA.: Belknap 2011. Die Neutralitätsregel der Besteuerung findet sich bereits im Kern des Treatise of Taxes and Contributions von William Petty (1662) und wurde von den britischen Liberalen des frühen 19.  Jahrhunderts wie James Mill oder John Ramsey McCulloch verdichtet, die sich gegen die progressive Besteuerung wandten. Siehe dazu Bickel, Wilhelm: Die Steuer als Instrument des Einkommens- und Vermögensausgleichs, Zürich: Polygraphischer Verlag 1949. Sie findet ihr Revival teilweise in Optimalsteuertheorien, die bspw. proportionale Steuertarife als fairer und effizienter erachten sowie eine Verschiebung von der direkten zur indirekten (= Konsum-)Besteuerung befürworten. Siehe dazu z.B. Kaplow, Louis: »An Optimal Tax System«, in: Fiscal Studies 32/3 (2011), S. 415-435. NZZ vom 29.04.1937, S. a3.

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Gisela Hürlimann 24 Siehe Eintrag: »Beruf: Steuerexperte/-expertin (HFP), online unter: www.berufsberatung.ch/dyn/1199.aspx?id=3181 (abgerufen am 8.4.2015). 25 Owens, Jeffrey: »The Role of Tax Administrations in the Current Political Climate«, in: Bulletin for International Taxation (March 2013), S. 156-160, hier S. 159. 26 Schumpeter schrieb 1918: »Wer ihre Botschaft [ jene der Finanzgeschichte, d. Verf.] zu hören versteht, der hört da deutlicher als irgendwo den Donner der Weltgeschichte«, in: Schumpeter, Joseph: »Die Krise des Steuerstaats«, in: Goldscheid, Rudolf/Joseph Schumpeter: Die Finanzkrise des Steuerstaats. Beiträge zur politischen Ökonomie der Staatsfinanzen, hg. von Rudolf Hickel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 329-379, hier S. 332. 27 Siehe Eidg. Finanzdepartement/Eidg. Steuerverwaltung: Volkswirtschaftliche und finanzielle Auswirkungen der Unternehmenssteuerreform 1997 (vom 15.09.2006), Bern: EFD/ESTV 2006; Eidg. Finanzdepartement: Erläuternder Bericht zur Vernehmlassungsvorlage über das Bundesgesetz über steuerliche Massnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmensstandorts Schweiz (Unternehmenssteuerreformgesetz III) vom 19.09.2014, Bern: EFD 2014. 28 Eidg. Volksabstimmung vom 24.02.2008. Das Stimmenverhältnis betrug 50.5  % Ja-Stimmen zu 49.5  % Nein-Stimmen. Online unter: https://www.admin.ch/ch/d/pore/va/ 20080224/index.html (aufgerufen am 03.05.2015). 29 Gert, Matthias A./Siegert, Gabriele: »Pluralismus oder Populismus? Die politische Kampagnenberichterstattung in der Schweiz«, in: Kurt Imhof et al. (Hg.), Stratifizierte und segmentierte Öffentlichkeit, Wiesbaden: Springer 2013, S.  127145. 30 Schöchli, Hansueli: »Bundesrat  räumt  Unterlassungssünde ein«, in: NZZ vom 15.03.2011, S. 13.

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Der Steuerexperte 31 Siehe dazu auch die Ausführungen eines ehemaligen Beamten der eidg. Steuerverwaltung über seine Erfahrungen mit der Unternehmenssteuerreform, geschildert in Loser, Philipp: »Der Fehler im System«, in: Tages-Anzeiger vom 26.04.2011, online unter: www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/DerFehler-im-System/story/24277473 (abgerufen am 25.04.2015). 32 Die NZZ bezieht sich bspw. im folgendem Artikel auf solche Schätzungen: Schöchli, Hansueli: »Steuerreform hat Auslandsfirmen angelockt«, in: NZZ vom 07.03.2013, S. 25. 33 Siehe die Web-Untersite »Unternehmenssteuerreform III« bei PricewaterhouseCoopers (PwC) Schweiz, online unter: https://www.pwc.ch/de/unsere_dienstleistungen/steuer_und_ rechtsberatung/unternehmenssteuern_und_internationale _steuerstrukturen/unternehmenssteuerreform_iii.html (abgerufen am 14.06.2015). 34 Siehe dazu: Daepp, Martin/Schaltegger, Christoph A.: Moderne Steuersysteme. Grundfragen und Reformvorschläge, Bern: ESTV 2004. 35 [Staubli, Andreas et al.]: Corporate Tax Reform III: Swiss Federal Council released dispatch of Corporate Tax Reform III on 5 June 2015, online unter: https://www.pwc.ch/user_content/ editor/files/publications15/pwc_corporate_tax_reform_iii_e. pdf (09.06.2015; abgerufen am 14.06.2015). 36 Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA et al.: Grundlagenbericht Rohstoffe. Bericht der interdepartementalen Plattform Rohstoffe an den Bundesrat, Bern 2013, S. 12; Ammann, Daniel: King of Oil. Marc Rich – vom mächtigsten Rohstoffhändler der Welt zum Gejagten der USA, Zürich: Orell Füssli 2010. 37 J. Owens: The Role of Tax Administrations, S. 157f. 38 Webeintrag »about us« der »Tax Academy of Singapore«, online unter: https://www.taxacademy.sg/about.html; Web eintrag: »Nanyang Executive Education« der »Nanyang Business School« an der Nanyang Technological University, online

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Gisela Hürlimann unter: