Das Geheimnis der Orakel : Archäologen entschlüsseln das bestgehütete Mysterium der Antike 3854928483

Ein neues Jahrtausend. Auf den Tischen der Buchhändler häufen sich die Werke, die einen Ausblick ins 3. Jahrtausend gebe

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German Pages [398] Year 1979

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Das Geheimnis der Orakel : Archäologen entschlüsseln das bestgehütete Mysterium der Antike
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Philipp Vandenberg Das Geheimnis der Orakel

Philipp

Vandenberg

Das Geheimnis der Orakel Archäologen entschlüsseln

tosa

Wir waren bemüht, die Inhaber der Coverbilder-Urheberrechte ausfindig zu machen. Sollten wir unabsichtlich bestehende Rechte verletzt haben, so bitten wir die Betroffenen, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

© by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KQ Bergisch Gladbach Lizenzausgabe: Tosa Verlag, Wien, mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG Bergisch Gladbach Covergestaltung: Joseph Koö Druck: Ueberreuter Print, Austria, 2004

Besuchen Sie uns auf unserer Homepage unter www.tosa-verlag.com

Orakelstätten

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Inhalt

i. Das Totenorakel am Acheron 17

Abschied vom 20. Jahrhundert 19 - Ein Friedhof, der Eingang zur Unterwelt? 21 - Auf den Spuren des Odysseus 23 - Der unheimliche Weg eines Orakelsuchenden 26 - Haschisch und heiße Bäder 28 - Im Hades stand das Blut meterhoch 30 - Re­ konstruktion des Orakelgeschehens 34 - Eine Stätte zwielich­ tiger Vergangenheit 36 - Striptease für einen Tyrannen 40 Priester und Geheimnisse 41

II. Die künstlichen Stimmen von Dodona 45

Die Archäologen kommen 47 - Als Zeus noch in der Eiche saß 52 - Spuren führen nach Norden und Süden 54 - Fragen ohne Antwort 57 - Klagelaute aus dem Kessel 61 - Dodona erlangt Weltruf 64 - Mit den Römern kam das Ende 66

in. Die Propheten der Oase Siwa 69 Weissagungen um Alexander den Großen 71 - Das Orakel mit dem Gordischen Knoten 74 - Das Geheimnis, das Alexander mit ins Grab nahm 76 - Spurensuche nach dem legendären Orakel 78 - Das harte Los der Entdecker 80 - Zwei Deutsche

erwecken das Orakel zu neuem Leben 82 - Stumme Zeugen einer großen Zeit 84 - Der dunkle Ursprung des Heiligtums 87 - Siwa war nicht das einzige Orakel 89 - Herodot ließ sich einen Bären aufbinden 91 - Ein historischer Tag: der 1. Mai 1490 v. Chr. 93 - Das Orakel und die Diebe 95

IV. Das Rätsel von Didyma 99

Eine Handvoll Männer und eine Stadt unter der Erde 101 — Wenn Wiegand nicht gewesen wäre 104 - Das Orakelheilig­ tum kommt zum Vorschein 107 - Ausgräber-Alltag anno 1907 HO - Jeder Meter liefert neue Erkenntnisse 113 - Die Frühge­ schichte des Orakels 116 - Die Perser brachten die Propheten zum Schweigen 118 - Didyma wird das Lieblingsheiligtum der Seleukiden 121 - Das Projekt, das Millionen verschlang und Jahrhunderte dauerte 126 - Es bleiben mehr Fragen als Antworten 128

V. Klaros - das Orakel der tausend Namen 131 Die »Traum«-Stadt Smyrna 134 - Der Todesspruch des Germanicus 136 - Ein Tempel unter Wasser 138 - Wo liegt die Orakelgrotte? 140 - Hochkonjunktur im 2. Jahrhundert n. Chr. 142

VI. Delphi - der geheimnisvollste Nabel der Welt 145

Vom Orakel keine Spur 146 - Die Franzosen kommen 150 — Zwei Füße ragten aus dem Schutt: der Wagenlenker 152 Folgen wir Pausanias 154 - Schätze, soweit das Auge reicht 157 - Götter, Sphingen und Sibyllen 161 - Skandalös: Eine halbnackte Dame vor dem Tempel! 163 - Wohin man auch blickt, vergoldete Eitelkeit 166 - Ein Sieg war zwanzig Statu­ en wert 168 - Das Herz von Delphi: der Orakeltempel 172 Archäologen haben Legenden zerstört 175 - Die Zelle der Pythia im Licht der Wissenschaft 176

VII. Wenn Pythia auf dem Dreifuß saß... 181

Der Ansturm der Klienten 183 - Das Dreifuß-Rätsel 186 — Bei Armen entschied das Los, bei Reichen die Ekstase 189 — Bis heute ungeklärt: der Omphalos 192 - Präkognition und Wahnsinn 195 - Auf der Suche nach dem fauchenden Erdspalt 197 - Die Lösung lag im Wörterbuch 200 - Eine Pythia wur­ de verrückt... 202 - ... eine andere bezahlte mit ihrem Leben 203 - Antworten, in Versform und in Prosa 205 - Wie die Be­ fragung vor sich ging 208 - Der geheimnisvollste Spruch der Pythia 212 - Die CIA der Antike 216 - Geld stinkt nicht, schon gar nicht, wenn es von Gott kommt 218 - Das Orakel war stets informiert, sogar über Bettgeschichten 220

VIII. Götter, Priester, Scharlatane 223 Die goldenen Sängerinnen von Delphi 225 - Ein Gott hinter­ läßt seine Spuren 227 - Delos, das Genf der Antike 230 Apollon und die Moral 232 - Die delphischen Eidgenossen 236 - Liedermacher und Rennfahrer 238

IX. Krösus - der Mann, der sich die Zukunft erkaufte 241 Auch ein König hatte seine Probleme 242 - Die Pythia sprach: »Wenn du den Halys überschreitest...« 246 - War­ nung vor Leuten in Lederhosen 248 - Ein zweites Orakel geht in Erfüllung 250 - Könige unter sich 252 - Die Suche nach dem Palast des Krösus 255 - Geheimnisvolle Tunnel, ein Be­ weis für Geschichtsfälschung? 258 - Das Lotterleben von Sardes 260

X. Selbst Götter sind bestechlich 263

1 Stein + 1 Professor = 1 Sensation 265 - Das ThemistoklesDekret 267 - Ein Genie, radikal und rücksichtslos 269 - Be­ fragt das Orakel! 271 - Rätsel um den Spruch der Pythia 274 - Mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Perser 277 - Die letzte List des Themistokles 279 - Nach der Schlacht: der Kampf der Historiker 281 - Stumme Zeugen für Themistokles 284 - Ein Held wird demontiert 286 - Der Fall Themistokles war nicht der erste 288 - Der Vaterschaftstest der Pythia 291 Nur Lysandros bekam eine Abfuhr 292

XL Wie Orakel Schlachten entschieden 295 Die Stars der Augurenzunft 296 - 150 000 Mann warten auf ein Zeichen 299 - Der tödliche Irrtum des Mardonios 301 Auch Siegen will gelernt sein 303 - Wenn Mond und Sonne sich verfinstern ... 305 - Der verhängnisvolle 27. August des Jahres 413 v. Chr. 307 - Wenn Seher etwas übersehen 309 Ein Orakelpriester geißelt den Aberglauben 311

XII. Die Traumfabriken von Oropos, Epidauros und Lebadeia 313

Ein bißchen Lourdes, ein bißchen Baden-Baden 315 - So wur­ den Träume produziert 317 - Eine Fundgrube der Psychoana­ lyse 319 - Die Wunderheilungen von Epidauros 320 - Der schauerliche Backofen des Trophonios 323 - Imagepflege wur­ de großgeschrieben 326 - Der Orakeltest des Pausanias 328 Gehirnwäsche bis zur Bewußtlosigkeit 330

XIII. Die vergessenen Orakel 333 Die Seher von Olympia 335 - Das Weltwunder im Zeus-Tem­ pel 336 - Prophetenspuren am Berg Ptoion 338 - Abai, ein Denkmal des Hasses 340

XIV. Die Sprüche der Sibyllen 343 Warum Kassandra nur Unheil prophezeite 345 - Die Sibylle von Cumae, eine Frau mit Vergangenheit 347 - Praeneste, das Orakel für Arme 348 - Der Einfluß der Sibyllinischen Bücher 350

XV. Wenn Cäsar seinem Orakeldeuter geglaubt hätte... 353 Die Warnungen des Eingeweideschauers 354 - Die Blitzbücher der Haruspizes 356 - Die Leber, ein Abbild des Kosmos 358 Der letzte Haruspex kam mit Billigung des Papstes 362

XVI. Das Ende der Propheten 363 Die dunklen Rituale der Skythen 364 - Die fünf Funktionen der Orakel 367 - Die Christen zogen den Schlußstrich 368 Die letzten Klienten von Dodona und Delphi 370

Quellenangaben 373 Register 377

Gewidmet Äsop, dem phrygischen Dichter, der von den allwissenden Orakelpriestem ermordet wurde

I.

Das Totenorakel am Acheron

Verbirg nichts! Denn die Zeit, die alles sieht Und alles hört, sie faltet alles auf. Sophokles

Die hellenistische Ära war eine Zeit des wissenschaftlich geprägten Verstandeskultes und zwang die Priesterschaft des Totenorakels am Acheron damals, die Erscheinungen aus dem Jenseits aufs kunstreichste zu inszenieren. Prof. Sotiris Dakaris, Archäologe

Als der steinreiche Lyderkönig Krösus endlich einmal wissen wollte, welches der zahlreichen Orakel, die er seit Jahren für teures Geld um Rat fragte, wohl das beste sei, da schickte er sieben Delegationen zu den sieben bekanntesten Orakelstätten seiner Zeit und stellte siebenmal dieselbe Frage. Das war um das Jahr 550 vor Christus und sollte ein Test sein. 2525 Jahre später machte ich mich auf den Weg, um die­ ses wohl bestgehütete Geheimnis der Antike zu ergründen. Auf meinem Reiseplan standen nicht sieben Orakel, sondern fünfzehn, auch war ich nicht - wie die Boten des Krösus nach hundert Tagen am Ziel, ich benötigte tausend Tage, fast genau drei Jahre. An den berühmten Stätten traf ich auch keine blutjungen Pythien an, keine steinalten Branchiden, 17

aber ich begegnete modernen Wissenschaftlern, Archäolo­ gen und Historikern, verwegenen Ausgräbern und gesetzten Professoren. Ich hauste in Höhlen und schluckte den trocke­ nen Treibsand der Wüste, und ich wurde Zeuge von Entdekkungen, die mir nachts den Schlaf raubten. Als leidenschaft­ licher Nichtraucher war ich nahe daran, alle Grundsätze aufzugeben, nur um die bisweilen vor Aufregung zittrigen Finger zu beschäftigen. »Ich bin nicht sicher, ob ich am 1. September 1975 (Mon­ tag) im Nekromanteion sein werde, es ist besser, wenn wir uns am Dienstag (2. September) dort treffen könnten«, hatte mir Professor Sotiris Dakaris von der Universität Joannina telegrafiert. Dakaris, 1916 in der nordgriechischen Stadt Joannina geboren, verheiratet, Vater einer Tochter und eines Sohnes, hatte in Athen und Tübingen klassische Archäologie studiert, war von 1965 bis 1968 Professor für Archäologie in Joannina, wurde vom Obristenregime entlassen, nach dessen Ende rehabilitiert und grub seit 1970 in einer gottverlasse­ nen Gegend Nordgriechenlands das Totenorakel von Ephyra aus, eine unheimliche Stätte, an der Tote erschienen und die Zukunft geweissagt haben sollen. Herodot, Thukydides und Strabon berichten von Ephyra, und Homer erzählt in seiner Odyssee (X, 503 ff.), wie der erfindungsreiche Odysseus von der Zauberin Kirke den Rat erhält, in die Unterwelt hinabzu­ steigen, um vom blinden Seher Teiresias das Ende seiner jahrelangen Irrfahrten und den sicheren Weg nach Ithaka zu erfragen. Experten, unter ihnen Sotiris Dakaris, suchten schon seit langem in dieser Gegend nach dem Totenorakel und dem le­ gendären Zugang zur Unterwelt. Schon der griechische Schriftsteller Pausanias, der zwischen 160 und 180 n. Chr. eine stilistisch schlichte, aber meist auf Augenschein beruhen­ de Schilderung Griechenlands verfaßt hat, hegte die Vermu­ tung, daß Homer diese Gegend gekannt, den Namen des To­

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tenflusses Acheron und seiner Nebenflüsse übernommen und die Landschaft treffend geschildert habe. Wo aber lag der Be­ weis für diese Annahme?

Abschied vom 20. Jahrhundert

Bepackt mit Kameras, Tonbandgeräten, einigen Kilogramm antiker Literatur, darunter Homers Odyssee, flog ich am 31. August 1975 nach Korfu, der nördlichsten von den großen Io­ nischen Inseln, und übernachtete fürstlich in einer ehemaligen Kaiserresidenz. Es war für lange Zeit die letzte Erinnerung an Bad und WC und 20. Jahrhundert. Tags darauf ergatterte ich einen Mietwagen, verfrachtete ihn auf die Fähre nach Igoumenitsa und nahm von dort Kurs auf Parga, ein malerisches Fischerdorf, wo ich, wie mir Professor Dakaris geraten hatte, noch einmal kräftig zu Mittag aß, Fisch natürlich. In der Knei­ pe am Hafen sprach mich ein Mädchen an, vom Typ her eine griechische Studentin. Ob das mein Auto sei da draußen? »Ja, zumindest habe ich es gemietet!« Ob ich sie nicht ein Stück mitnehmen könne, ich führe doch sicher in Richtung Athen? »Nein«, sagte ich, »ich fahre nicht nach Athen. Ich will in ein Dorf, zwanzig Kilometer südlich von hier. Es heißt Meso­ potamon und ist auf keiner Karte der Welt verzeichnet.« »Da will ich auch hin«, sagte das Mädchen - ich muß wohl sehr ungläubig dreingeschaut haben. »Zu wem wollen Sie?« »Ich bin mit Professor Dakaris verabredet.« »Das paßt gut, ich bin seine Assistentin.« So gelangte ich noch am selben Tag nach Mesopotamon, al­ lein hätte ich das Dorf nie gefunden. Der Empfang war ungewöhnlich herzlich und erinnerte 19

mich an meine Zeit in einem oberbayerischen Internat, wo wir Jungen den neuen Religionslehrer, einen braunkuttigen Mönch, alle einmal anfaßten, weil er so heilig aussah. Dakaris, ein grauhaariger Sechziger mit rauchiger Stimme, stellte mir sein Ausgräber-Team vor, allesamt Studentinnen und Stu­ denten der Universitäten Joannina und Athen, den Grabungs­ wächter Demetrios Panousis, der den wohlklingenden Titel »Phylax Archaiotiton« trug, was nichts weiter als »Antiken­ wächter« heißt, ihn aber so stolz macht, daß sein Brustumfang nach Aussage der Dorfbewohner seit seiner Amtseinführung um 15 Zentimeter zugenommen haben soll, und die Gra­ bungsarbeiter, die ehrfurchtsvoll die Qualität meines Jeansanzuges prüften: »gutt!«; »gutt!« wurde zum meistgebrauchten Wort der nächsten Tage und Wochen. »Dortmund gutt!« hieß es, wenn die Arbeiter ein vergilbtes Männerporträt aus der Ta­ sche zogen, »Mönchengladbak gutt!« - was soviel bedeutete wie: »Mein Sohn, mein Bruder ist in Dortmund oder Mön­ chengladbach und verdient gut.« Professor Dakaris stellte mich vor die Wahl, mein Quartier in Parga aufzuschlagen und die zwanzig Kilometer Entfer­ nung zweimal täglich zurückzulegen oder mit dem ehelichen Schlafzimmer des »Phylax Archaiotiton« vorliebzunehmen, was ich aber praktisch nicht ablehnen könne, weil ich mir da­ mit seine Todfeindschaft auf Lebenszeit zuzöge, und das woll­ te ich nicht. Ephyra, das nördlich des Dorfes Mesopotamon liegt und dem Totenorakel seinen Namen gab, ist eine spätmykenische Stadt, von der nur wenige Baureste erhalten sind. Kaum 500 Meter entfernt auf einem Bergkegel ist die kleine Kirche eines spätbyzantinischen Klosters zu erkennen. Mönche des Klo­ sters Santa Katherina in Joannina hatten hier im 18. Jahrhun­ dert eine Zweigniederlassung gegründet. Als Professor Daka­ ris im Mai 1959 zum erstenmal hierherkam, war das kleine Kloster bereits verlassen, aber in der Kirche wurde sonntags 20

bisweilen noch eine Messe gelesen, beliebt war die Kapelle auf dem Bergkegel jedoch nicht. »Da oben«, erzählten sich die Leute, »ist der Eingang zur Unterwelt!« Wo genau die Pforten des Hades zu finden seien, das wußte allerdings nie­ mand. Die Gerüchte waren für Dakaris nicht neu. Schon zu Be­ ginn des 19. Jahrhunderts hatte ein englischer Colonel die Ge­ gend bereist und berichtet, die Leute wüßten zu erzählen, daß hier der Eingang in die Unterwelt liege. Homer siedelte des »Hades dumpfe Behausung« bei den »Hainen Persephoneiens, voll unfruchtbarer Weiden und hoher Erlen und Pappeln« an, dort, »wo in den Acheron sich der Pyriphlegeton stürzt und der Strom Kokytos« (X, 509-14). Dichtung oder Wahr­ heit? Die topographische Schilderung, das stand eindeutig fest, war durchaus realitätsbezogen. Noch heute mündet der Pyri­ phlegeton in den Kokytos, und wo dieser sich mit dem Ache­ ron vereint, liegen die Reste von Ephyra. Selbst Weiden, Erlen und Pappeln wachsen hier, so wie es Homer vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren geschildert hat. Wo aber lag der Zugang zum Hades, zur Unterwelt? Hatte es ihn überhaupt gegeben?

Ein Friedhof, der Eingang zur Unterwelt?

Der Professor aus Joannina erzählt, er habe damals an die Ilias gedacht, an Troja mit seinen zahlreichen Kulturschichten. Deshalb sei er um das spätbyzantinische Kirchlein auf dem Bergkegel herumgegangen, das inzwischen vom Fried­ hof des Dorfes umsäumt wurde, habe sich jeden Stein ange­ sehen, der hier herumlag, und jede Vertiefung im Boden un­ tersucht. Neben einem Grab klaffte ein faustgroßes Loch im Boden,

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hielt man die Hand darüber, wurde ein kühler Luftstrom spür­ bar. Für Dakaris war das die Initialzündung. Mißtrauisch be­ äugt von den Dorfbewohnern, grub er eine Woche lang auf dem Friedhof. Dann war er sich seiner Sache sicher: Unter den Gräbern des Friedhofes, unter der Kirche, lag ein geheim­ nisvolles Bauwerk aus riesigen Quadern übereinandergetürmt. Dakaris hatte den oberen Teil eines Torbogens und damit gleich mehrere Probleme auf einmal freigeschaufelt. Erstens war es fraglich, worauf er überhaupt gestoßen war, ob es sich lohnen würde, weiterzugraben. Zweitens brauchte er eine Institution, die für die Ausgrabungen verantwortlich zeichnete, und eine Grabungskonzession. Und drittens mußte er die Bewohner von Mesopotamon überzeugen, daß es not­ wendig sei, ihren kompletten Dorffriedhof abzutragen. Fragt man den Professor heute, wie er das geschafft habe, dann zuckt er mit den Schultern, und über sein Gesicht huscht ein verschmitztes Lächeln. Obwohl er noch gar nicht so recht wußte, was er da eigent­ lich entdeckt hatte, erteilte die zuständige Behörde in Athen die Grabungskonzession, die Archäologische Gesellschaft Griechenlands übernahm Kosten und Trägerschaft und der Professor überzeugte die Männer von Mesopotamon, daß für die Abtragung des Friedhofs Arbeitskräfte gebraucht würden, gut bezahlte - versteht sich. Zwischen 1958 und 1964 exhumierte Sotiris Dakaris einen kompletten Friedhof, goß unter die Fundamente der kleinen Kirche eine Platte aus Stahlbeton und wühlte sich - ohne die Kapelle zu beschädigen - unter dem byzantinischen Kleinod hindurch. 1970 nahm er die Grabungen wieder auf, er hatte in­ zwischen einen rechteckigen Bezirk von 62 mal 46 Metern freigelegt. Der Professor war sicher: Er stand vor dem Toten­ orakel von Ephyra. »Warum waren Sie sich Ihrer Sache so sicher?« fragte ich den Professor, als wir den steilen Weg vom Dorf hinauf zur 22

Grabungsstätte gingen. Es war ein heißer Septembermorgen, und die Sonne stand schräg hinter dem Glockenturm der Klo­ sterruine. Die Ausgräber hatten sich hinter eine Westwand des weitverzweigten Mauerwerkes zurückgezogen, um hinter dem Hitzeschild der meterdicken Quader weiterzugraben und nach Zeugnissen zu suchen, die von diesem einzigartigen Un­ ternehmen die Jahrhunderte überdauert haben. »Wissen Sie«, sagte Sotiris Dakaris, und wir mußten uns durch einen schmalen Mauerdurchlaß hindurchzwängen, »ich habe einfach Homer geglaubt.« Und schon war ich gefangen in einer Welt geheimnisvoller Mystik, ehrfürchtiger Religion und großangelegten Betrugs, einer Welt der Toten für die Le­ benden, Hilfskrücke für das Diesseits und beschämendes Ali­ bi für die Götter, die allmächtigen.

Auf den Spuren des Odysseus Das Totenorakel von Ephyra bot ein verwirrendes Bild, lange Korridore, von denen schmale Türen in kleine Zimmer führ­ ten, Gänge, die die Richtung änderten, labyrinthartige Durch­ schlüpfe, die zu einem zentralen, mehrräumigen Heiligtum führten, über dem jetzt die Kirche hing; ich hatte bald die Richtung verloren. Das Blut hämmerte in meinen Schläfen bei dem Gedanken, daß hier an diesem unheimlichen Ort der sa­ genhafte Odysseus bei den Seelen der Verstorbenen Rat such­ te, ob er, ermattet von jahrelangen Irrfahrten, je seine Heimat wiedersehen würde. »Ich gebiete dir, eine Grube zu graben«, hatte die schöne Zauberin Kirke dem Odysseus geraten, »von einer Elle im Geviert [54 cm]. Rings um die Grube gieße Sühneopfer für alle Toten: erst von Honig und Milch, von süßem Wein das zweite, und das dritte von Wasser, mit weißem Mehl be­ streut.« 23

Plan des Totenorakels am Acheron. H = Heiliger Bezirk. 1 dunkler Gang und Zimmer, 2 weiteres Zimmer, 3 Gang, in dem Schafopfer dargebracht wurden, 4 labyrinthischer südlicher Gang, 5 dreischiffiger Hauptsaal, 6 östliche Pforte zum äußeren Gang, 7 Zimmer zur Reinigung (Zeichnung von Sotiris Dakaris)

Als hätte er meine Gedanken erraten, zeigte Sotiris Dakaris in eine etwa zwei Meter tiefe Grube, in der die Ausgräber mit 24

kleinen Hacken, Spachteln und Besen dabei waren, die Reste von vier dickbauchigen Tongefäßen freizulegen, jedes minde­ stens einen Meter im Durchmesser. Diese vier Tongefäße nah­ men das Opfer auf, mit dem der Orakelsuchende sein Begeh­ ren zu bezahlen hatte, genau wie Odysseus. Kirke hieß den verschlagenen König von Ithaka die Seelen der Toten anflehen und geloben, in der Heimat eine unfrucht­ bare schwarze Kuh zu opfern und dem blinden Seher Teiresias den stattlichsten Widder seiner Herde. An der Orakelstätte selbst solle er einen Bock und ein Schaf schlachten, den Blick zum Acheron gerichtet. Während die Tiere im Feuer verbrann­ ten, sollten Odysseus und seine Gefährten zu Hades und der strengen Persephone beten. Daraufhin, so kündigte Kirke an, würden die Seelen der Toten erscheinen, um von dem Opfer­ blut zu trinken. Odysseus solle ihnen mit dem Schwert entge­ gentreten und sie so lange daran hindern, bis die Lichtgestalt des Sehers Teiresias erscheine und er als erster getrunken habe. Erst dann könne er Teiresias befragen, und er werde »den Weg und die Mittel der Reise und wie du heimgelangst auf dem fischdurchwimmelten Meere« verraten. Odysseus tat, wie ihm geheißen. Er erreichte das Land der Chimerer, ging zum Orakel, verrichtete die geforderten Opfer und begegnete den Seelen der Toten, namenlosen Jünglingen und Mädchen, aber auch seiner während der Irrfahrten ver­ storbenen Mutter Antikleia und schließlich dem Seher Teiresi­ as, der ihm die Heimkehr nach Ithaka prophezeite, aber auch großes Leid. Bei Homer heißt es wörtlich:

»Also sprach des hohen Teiresias Seele, und eilte Wieder in Hades’ Wohnung, nachdem sie mein Schicksal geweissagt. Aber ich blieb dort sitzen am Rande der Grube, bis endlich Meine Mutter kam, des schwarzen Blutes zu trinken.

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Und sie erkannte mich gleich und sprach mit trauriger Stimme: >Lieber Sohn, wie kamst du hinab ins nächtliche Dunkel, Da du noch lebst?