Das Fragmentum Bucolicum Vindobonense (P. Vindob. Rainer 29801): Einleitung, Text und Kommentar 9783666252204, 352525220X, 9783525252208


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German Pages [184] Year 1999

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Das Fragmentum Bucolicum Vindobonense (P. Vindob. Rainer 29801): Einleitung, Text und Kommentar
 9783666252204, 352525220X, 9783525252208

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H Y P O M N E M A T A 123

V&R

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones/Günther Patzig/ Christoph Riedweg/Gisela Striker

HEFT 123

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N

HANS BERNSDORFF

Das Fragmentum Bucolicum Vindobonense (P. Vindob. Rainer 29801) Einleitung, Text und Kommentar

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Verantwortlicher Herausgeber: Hugh Lloyd-Jones

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Bernsdorff, Hans: Das Fragmentum bucolicum Vindobonense (P. Vindob. Rainer 29801): Einleitung, Text und Kommentar / Hans Bernsdorff. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Hypomnemata; H. 123) Zugl. Teildr. von: Göttingen, Univ., Habil.-Schr., 1996/97 u.d.T.: Bernsdorff, Hans: Die Darstellung von Hirten in der nicht-bukolischen Dichtung des Hellenismus ISBN 3-525-25220-X

© 1999, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Hubert & Co., Göttingen

INHALT

Vorwort

7

Einleitung

9

1. Äußere Daten des Papyrus 2. Seitenfolge 2.1. Äußere Kriterien 2.2. Innere Kriterien 3. Handlungsrekonstruktion 4. Metrik 5. Gattungselemente 6. Datierung und Zuweisung an einen Autor 6.1. Bislang gemachte Vorschläge 6.2. Ein neuer Datierungsversuch 7. Nachwirkungen 8. Gesamtdeutung 9. Zur äußeren Gestaltung von Textedition und Kommentar

11 11 11 13 21 22 24 28 28 32 42 52

Text und Übersetzung

63

Kommentar

73

62

Literaturverzeichnis

161

Indices

167

Tafeln

nach 72

1. Die Abkürzungen antiker Autoren entsprechen der Zitierweise des 'Lexikons der Alten Vielt'. 2. Die Abkürzungen von Editionen und Werken der Sekundärliteratur sind in das Literaturverzeichnis aufgenommen. 3. Die Abkürzung FBV bedeutet 'Fragmentum Bucolicum Vindobonense'.

VORWORT

Diese Arbeit ist die überarbeitete Fassung eines Teils meiner Habilitationsschrift »Die Darstellung von Hirten in der nicht-bukolischen Dichtung des Hellenismus«, die im Wintersemester 1996/97 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen wurde. Der übrige (Haupt-)Teil wird an anderer Stelle veröffentlicht werden. Carl Joachim Classen, Klaus Nickau, Ulrich Schindel, Wilfried Barner und Marianne Bergmann haben die Arbeit im Habilitationsverfahren begutachtet und dabei zahlreiche Verbesserungsvorschläge beigesteuert. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Für die Bereitstellung vorzüglicher Photographien des Papyrus und die freizügig gewährte Einsichtnahme in das Original danke ich der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, besonders ihrem Leiter Hermann Harrauer. Richard L. Hunter, Wolfgang Luppe, Paul Mertens, Peter J. Parsons, Martin L. West und Günther Wille (+) gaben bereitwillig Auskunft auf meine brieflichen Anfragen und halfen mir dadurch bei nicht wenigen Problemen entscheidend weiter. Anne Uhl Brunner, Marcus Deufert und Silvio Benetello sahen das gesamte Manuskript oder Teile davon kritisch durch und bewahrten mich vor manchem Irrtum. Auch Melanie Klabunde und Christina Vogel gebührt Dank für ihre Hilfe bei der Endredaktion. In Computerfragen erteilten Henning Lühken und Gerrit Kloss Rat. Für die Aufnahme in die »Hypomnemata« danke ich den Herausgebern der Reihe, besonders Sir Hugh Lloyd-Jones, der den Band engagiert betreute und mir in der Schlußphase noch einige wichtige Hinweise geben konnte. Besonders herzlichen Dank aber sage ich Carl Joachim Classen, auf dessen Bereitschaft zu Kritik und Hilfe ich auch während der Arbeit an diesem Buch stets bauen konnte. Göttingen, im September 1998

EINLEITUNG

1. Äußere Daten des Papyrus Papyrus Graecus Vindobonensis Rainer 29801 (= 1858 Pack2). Kodexblatt, an den Seiten und dem unteren Rand, besonders umfangreich jedoch im oberen Bereich beschädigt. Ausmaße des Bruchstücks: maximal 19 cm Höhe, 13 cm Breite. Auf dem Recto sind Reste von 29, auf dem Verso von 28 Versen erhalten. Am Fuße jeder Seite finden sich griechische Zahlzeichen (verso MH = 48; recto ΜΘ = 49).1 Durch Schriftvergleich kann der Papyrus ins zweite oder dritte Jahrhundert nach Christus datiert werden.2 Damit liegt eines der ältesten erhaltenen Beispiele für einen Papyruskodex vor.3 Herkunft und Jahr der Erwerbung sind nicht bekannt. Ambivalente Buchstabenformen, durch die sich der Schreiber nicht festzulegen versucht,4 und eine Reihe von Verschreibungen (6,10,15,16, 17,25,56, 57,61, 75, daneben Auslassungen in 60 und 63) deuten auf eine niedrige Qualität der Abschrift. Der Schreiber verwendet diakritische I-Punkte, regelmäßig bei anlautendem I (7,10,12, 65, 73) und bei I, das im Inneren eines Wortes hinter selbständigem Vokal steht (16, wahrscheinlich 76, vielleicht 28). Sonst sind keine Lesezeichen erkennbar. In 4 und 69 sind Verbesserungen von derselben Hand über die Zeile getragen.

2. Seitenfolge 2.1. Äußere Kriterien Aufschluß über die Reihenfolge von Recto und Verso versprechen zunächst die bereits unter Abschnitt 1 erwähnten Zahlen am Ende jeder Seite; der Umstand, daß es sich um zwei immittelbar aufeinanderfolgende Zahlen handelt, legt die Interpretation als Seitenzahl nahe; OELLACHER (1932), 77 vertrat diese Position in der Erstedition. Doch bereits ein Jahr später wandte COLLART (1933), 171 Ergebnisse der stichometrischen Untersuchungen OHLYs (1928) auf den vorliegenden Papyrus an. OHLY (1928), 35 hatte zeigen können, daß bei allen bis dahin bekannten Zur Interpretation dieser Zahlen vgl. unten Abschnitt 2.1. dieser Einleitung. OELLACHER (1944), 25-6; zustimmend TURNER (1977), 90. Vgl. ζ. B. den auf plate XII in MILNE (1927) abgebildeten Pap. Lit. Lond. 192 aus dem 3. Jhd. (Hinweis von OELLACHER [1932], 78). 3 Vgl. »Table 13: Inventory of Papyrus and Parchment Codices Dated before c. iv« in TURNER (1977), 89-90. 4 Vgl. Komm. z. 61. 1 2

12

Einleitung

Papyruskodizes Seitenzahlen am oberen Rand stehen, 5 während Zahlen am Fuß die Summe der auf der Seite geschriebenen Zeilen angeben, eine Praxis, die dem Schreiber die Berechnimg der geleisteten Arbeit erleichtern sollte. Seit Ohlys Untersuchimg ist meines Wissens kein Beispiel aufgetaucht, das der aufgestellten Regel widerspräche. 6 Ein möglicher Einwand gegen diese Auffassung könnte darin bestehen, daß der Kodex bei 48 bzw. 49 Versen pro Seite ungewöhnlich hoch gewesen wäre. Die erhaltenen Teile des Textes zeigen, daß die Höhe einer Zeile im Durchschnitt etwa 0,5 cm einnimmt; die verlorenen 20 Verse entsprächen dann ca. 10 cm, so daß sich zusammen mit dem jeweils erhaltenen 14 cm hohen Text und 2 χ 5 cm Rand 7 eine Gesamthöhe von ca. 34 cm ergäbe (als ursprüngliche Breite sind etwa 20 cm anzunehmen 8 ). Dieses Ausmaß mag zunächst überraschen, doch liegen uns durchaus Papyruskodizes in dieser Größenordnung (bis 40 cm Höhe) vor. 9 Die Zahlen am Seitenende sind also tatsächlich mit großer Wahrscheinlichkeit stichometrische Angaben und keine Seitenzahlen, so daß sie keinen Aufschluß über die Reihenfolge von Verso und Recto geben. Ein weiteres äußeres Indiz für die Lösung des Problems könnten Spuren der Heftung sein. Die rechte Kante (vom Recto aus gesehen) ist sehr weit vom ursprünglichen Abschluß des Blattes entfernt, wie die überall mehr oder weniger abgerissenen Versenden des Recto zeigen; hier sind also von vornherein keine Spuren einer Heftung zu suchen. Die linke Kante dagegen (wiederum vom Recto aus gesehen) ist bis zu 2 cm vom Beginn der Zeilen entfernt. Hier finden sich keine Spuren einer Heftung, was natürlich nicht bedeutet, daß auf dieser Seite die Heftung nicht war: die Kante fällt nicht mit dem ursprünglichen Rand des Kodexblattes zusammen, und die Breite des verlorenen Streifens kann nicht genau bestimmt werden. Zudem ist der erhaltenen Rand nicht überall gleich breit, sondern vor allem im unteren und oberen Bereich verloren.

5

Vgl. ζ. B. den Iliaspapyrus in der Pierpont Morgan Library (um 300 n. Chr. entstanden, = 870 Pack 2 , Abb. 95 bei SCHUBART [1925]). Eine Liste mit Beispielen für Kodizes mit derartigen stichometrischen Angaben gibt TURNER (1977), 78. 6 In seiner Untersuchung des frühen Kodex konstatiert auch TURNER (1977), 76 das Fehlen von Paginierung am unteren Rand. 7 Dabei gehe ich von dem maximal 4, 5 cm betragenden Abstand zwischen letzter Zeile und der unteren Kante aus; da diese Kante offenbar nicht mit dem ursprünglichen unteren Rand des Blattes übereinstimmt, kann der Kodex insgesamt noch höher gewesen sein. Diese Unsicherheit dürfte aber nicht besonders groß sein, da die Position der stichometrischen Zahl (1,5 cm bzw. 2,5 cm unterhalb der untersten Zeile) darauf deutet, daß der Abstand zwischen unterer Rißkante und ursprünglichem Seitenende nicht erheblich gewesen sein kann. 8 TURNER (1977), 96. 9 Vgl. »table 14: Codices having fifty or more lines a page« bei TURNER (1977), 96.

2. Seitenfolge

13

Das Papyrusblatt bietet also keine äußeren Anhaltspunkte für die Anordnung der Seiten im Kodex, so daß nur die Interpretation der Fragmente Aufschluß geben kann. 10

2.2. Innere Kriterien Nach der Einsicht, daß die Zahlen am Ende der Seiten nichts über die Seitenreihenfolge aussagen, war der Weg frei für eine Anordnung RectoVerso, wie sie von COLLART ( 1 9 3 3 ) 1 7 1 - 2 auch sogleich vertreten wurde. Gleichwohl wurde auch später noch für die ursprünglich von OELLACHER ( 1 9 3 2 ) angenommene Folge Verso-Recto plädiert, nun allerdings mit anderen, aus der Textinterpretation gewonnenen Argumenten. 11 Meines Erachtens ist die von C O L L A R T ( 1 9 3 3 ) und anderen 12 vertretene Folge Recto-Verso wahrscheinlicher. Um dies zu zeigen, möchte ich in drei Schritten vorgehen: Zunächst (Abschnitt a) versuche ich die Argumente zu entkräften, die nach 1933 für die Reihenfolge Verso-Recto vorgebracht wurden. In Abschnitt (b) soll dann geprüft werden, welche bislang geäußerten Argumente für Recto-Verso stichhaltig sind. Schließlich (c) versuche ich die Annahme der Reihenfolge Recto-Verso durch eigene Beobachtungen zu stützen. 13 (a) K Ö R T E ( 1 9 3 5 ) , 2 2 3 meint, daß Schauplatz der χορών άγώνε?, von denen Silen in 10 spricht, wahrscheinlich das in der Ortsangabe 65-6 umschriebene Mykene ist. Körte nimmt also offenbar an, daß Pan sich nach der Herstellung der Syrinx nach Mykene begibt. Während ich Körtes Auffassung von Mykene als Schauplatz der Agone grundsätzlich teile (vgl. Komm. z. 10, 24-9, 65, 70), kann ich ihm in seiner Interpretation des Verses 10 nicht folgen. Die Stelle macht keineswegs notwendig, daß Silen sich während der Spottrede schon am Schauplatz der erwähnten Agone befindet; er weiß nur, daß sie bevorstehen. Da diese Spiele offenbar eine dionysische Veranstaltung 14 sind, wäre es nicht verwunderlich, wenn ein prominentes Mitglied des Thiasos wie Silen vorab davon Kenntnis hat. 15

10

Diese Einschätzung schon bei COLLART (1933), 171. KÖRTE (1935), 223; KEYDELL (1941), 13; GALLAVOTTI (1941), 257 und (1993), 275 sowie HEITSCH (1963) und BECKBY (1975). 12 OELLACHER (1939), 89 (in Abkehr von seiner 1932 vertretenen Auffassung); OELLACHER (1941); OELLACHER (1944), 22; PAGE (1950); GOW (1952). 13 Da sich der wichtigste Einwand gegen GALLAVOTTIs (1941), 257 Einschätzung der Seitenreihenfolge aus diesen eigenen Beobachtungen ergibt, setze ich mich damit erst in (c) auseinander, obwohl ein Eingehen auf Gallavotti als einen Vertreter der Reihenfolge Verso-Recto eigentlich in Abschnitt (a) erwartet wird. 14 Vgl. Komm. z. 58. 15 Auch in Ov. fast. 1, 393-400 kommen u. a. Pane, Satyrn und Silene zusammen, um festa corymbifari... Bacchi (393) zu feiern; vielleicht treffen sich Silen und Pan auf dem Weg 11

14

Einleitung

Daß die Agone als Zweck des Gangs nach Mykene vor 65 genannt worden sein müssen, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Dichter nach der Herstellung der Syrinx (64) direkt zum Ortswechsel (65) überleitet, ohne daß der Grund dafür an dieser Stelle genannt zu werden scheint. KEYDELL (1941), 14 (ihm folgend HEITSCH [1963], der den gesamten Text »Fragmentum Bucolicum: Pan et Echo« überschreibt) nimmt auf Grund seiner Ergänzung von 4 ύστεροίφωνον ... παρθίνΙον an, daß Pan während des Syrinxblasens, dessen Beginn am Ende des Verso geschildert wird, Echo höre und sie suche. 16 Der Beginn des Recto bietet nach Keydells Auffassung einige Reste dieser Verfolgung, die damit ende, daß Pan stehenbleibe, auf Echo lausche und dann aus Verdruß und Erschöpfung (5) die Syrinx fortwerfe (6), um ungehindert die Verfolgung aufzunehmen. Dann begegne ihm Silen. Auch wenn man Keydells Ergänzung von 5 akzeptieren könnte (zu ihrer Unsicherheit vgl. Komm. z. St.), erscheint die darauf fußende Handlungsrekonstruktion doch keineswegs als notwendig oder nur als besonders wahrscheinlich. Ein Syrinxspiel, mit dem Pan zu Beginn des erhaltenen Rectoteils noch mit Echo 'kommuniziert', braucht nicht das Spiel gewesen zu sein, das am Ende des Verso geschildert wird. Man mag einwenden, daß eine Wiederholung des Blasmotivs störend wirken würde, doch könnte das für den verlorenen Rectoteil angenommene Syrinxspiel nur knapp erwähnt worden sein, ohne die mikroskopische Perspektive, die den Schluß des Verso offenbar bestimmt. Es zeigt sich also, daß keines der geprüften Argumente die Seitenfolge Verso-Recto wirklich nahelegt. Andererseits ergeben sich bei dieser Reihenfolge Schwierigkeiten in der Handlungsrekonstruktion. Da diese Schwierigkeiten zu den wichtigsten Argumenten der Befürworter der Reihenfolge Recto-Verso gehören, sollen sie nicht hier, sondern im nun folgenden Abschnitt zur Sprache kommen. (b) Die Argumente für die Reihenfolge Recto-Verso gehen stärker von den sicher erhaltenen Teilen des Textes aus. COLLART (1933), 171-2 plädierte für die Umkehrung der vom Ersteditor angenommenen Seitenfolge, weil so »un scenario un peu plus logique« entstehe. Die Herstellung der Syrinx und das Spielen darauf erscheine dann als eine Widerlegung der Spottrede Silens, die besonders auf musikalisches Unvermögen Pans (oder zumindest die Angst vor dem eigenen Versagen) zielt.

zum Dionysosfest in Mykene? Die Parallele zu der Ovidstelle wurde schon von OELLACHER (1941), 122 gesehen. 1 6 Pan speziell als Verfolger Echos ζ. B. Longos 3, 23, 5. In dem anonymen Epigramm AP 6, 87 wird erzählt, daß Pan aus Liebe zu Echo den Thiasos verläßt. Da KEYDELL (1941), 15 - wohl zu Recht - annimmt, daß das Ende des Verso im dionysischen Kreis spielt, kann er das Epigramm als motivische Parallele für seine Rekonstruktion anführen.

2. Seitenfolge

15

Dieses Argument befriedigt, wenn man voraussetzt, daß uns nicht viel von dem ursprünglichen Text verloren gegangen ist. So sagt COLLART [1933], 172 auch: »On peut imaginer qu'il ne manquait pas grand'chose du d£but.« Doch diese Prämisse ist keineswegs berechtigt, da über den Umfang des ursprünglichen Gesamttextes nur spekuliert werden kann. Betrachtet man (wie Collart es tut) 'Verspottung Pans wegen des fehlenden Instruments' und 'Herstellung der Syrinx' als bloße Handlungselemente (ohne Berücksichtigung der jeweiligen stilistischen Gestaltung), so ist ohne weiteres auch denkbar, daß die Pointe in einem weiteren, uns heute verlorenen Handlungselement bestand (d. h. daß die Fabrikation und das Spiel nicht Zielpunkt der Handlung waren). Ich versuche allerdings unten (Abschnitt c) zu zeigen, daß Collarts Argument, sofern man es um stilistische Gesichtspunkte erweitert, durchaus tragfähig wird. Gleichfalls unbefriedigend ist die Beweisführung OELLACHERs (1939), mit der er sich jetzt gegen die in seiner Erstedition angenommene Seitenfolge ausspricht: die Verhöhnung des Pan durch Silen habe keinen Sinn, wenn die musikalische Darbietung am Ende des Verso (bei der Silen anwesend oder zumindest in der Nähe gedacht werden müsse) vorangegangen sei. Zunächst muß die Sicherheit von Oellachers Voraussetzung bezweifelt werden, wonach Silen am Ende des Verso anwesend gedacht werden muß; denkbar ist auch ein Auftreten in den verlorenen ersten zwanzig Versen des Recto.17 Doch auch, wenn man diesen Einwand vernachlässigt, erweist sich Oellachers Argument keineswegs als zwingend. Die Unterstellung Silens, Pan könne seine Syrinx aus Angst vor einer musikalischen Blamage selbst versteckt haben, ist durchaus nach der am Ende des Verso geschilderten musikalischen Darbietung denkbar. Wie dieses Konzert allgemein aufgenommen wurde, können wir nicht sagen, vielleicht war es gerade der Eindruck von diesem Auftritt, der Silen zu seinem Spott veranlaßte.18 Ein anderer Punkt in der Silenrede könnte aber vielleicht in Oellachers Sinn angeführt werden (obwohl er selbst nicht eigens darauf eingeht). In 10 fragt Silen: πώς· δί Ιχορών έπ' αγώνας· avtv Qiipiyyos· Mavois", wenn die Darbietung des Verso in Mykene stattfindet (dies ist freilich nicht gesichert, vgl. Komm. z. 65), dann folgt daraus, daß Pan und Silen sich während der Spottrede ebenfalls noch in Mykene befinden. Vorausgesetzt, daß Silen am Ende des Verso als anwesend zu denken ist (zur Unsicherheit dieser Prämisse vgl. oben), dann wäre seine Äußerung aus 10 nicht recht verständlich, denn er müßte doch bemerkt haben, daß Unverständlich bleibt, wie Oellacher seinen Standpunkt damit begründen kann, daß Silen »gleich mit Beginn von Recto auftrete«, so als ob vor Vers 7 nicht noch 26 Verse auf der Seite gestanden hätten. 18 Der Gebrauch der Syrinx am Ende des Verso scheint fachmännisch, soweit das die Reste erkennen lassen (vgl. Komm. z. 71, a. E.). Aber das sagt nichts darüber aus, ob sich die Spötter unter den Zuhörern (Silene und Satyrn) von der Musik beeindruckt zeigten.

16

Einleitung

Pan nicht ohne Syrinx zu den Agonen (d. h. dem Schauplatz der Agone) gekommen ist. Doch abgesehen von allen implizierten Unsicherheiten leidet dieses Argument vor allem darunter, daß uns in den erhaltenen Resten gar nicht gesagt wird, ob die musikalische Darbietung bereits am Endpunkt von Pans Reise nach Mykene stattfindet. In 65-6 könnte nur gesagt sein, daß er sich nach Mykene aufmacht, und das folgende könnte auf dem Marsch dorthin spielen. Dabei verliert Pan die Syrinx, so daß Silens Bemerkung, daß er ohne Instrument zu den Agonen komme, durchaus sinnvoll wäre. In einem späteren Beitrag argumentiert OELLACHER ([1941], 124) von einem eher ästhetisch-stilistischen Standpunkt gegen die Reihenfolge Verso-Recto: »... Peripetien, wie sie ein Diebstahl unmittelbar nach Erfindung19 oder Schaffung der neuen Flöte nach sich ziehen mußte, sind der Erzählungstechnik unseres Fragments fremd.« Es scheint mir grundsätzlich schwierig, aus einem so trümmerhaft erhaltenen Text wie dem FBV individuelle Grundsätze der Erzählführung abzuleiten. Dennoch läßt sich bei einer klareren Fassung des Arguments durchaus etwas Richtiges aus Oellachers Bemerkung entnehmen. Zunächst ist zu korrigieren, daß bei der Reihenfolge Verso-Recto die Erfindung der Syrinx durch Pan beschrieben sein könnte, wie Oellacher meint. 20 Das wäre sogar ein Argument für diese Reihenfolge, da wir dann im FBV den verbreiteten Mythos 2 1 wiederfänden, nach dem Pan der Erfinder der Syrinx wäre (die Ausführlichkeit der Schilderung w ü r d e dazu durchaus passen). Aber diese Möglichkeit ist sicher auszuschließen, unabhängig von der angenommenen Seitenfolge. Silen zeigt in seiner Rede klar, daß er die Syrinx als ein Instrument kennt, das nicht erst vor kurzem erfunden worden ist, sondern bereits als typisch für Pan gilt (vgl. 10-2, bes. 14 τ«ήν σύριγγα, wahrscheinlich 24-9, wo wohl vom Ruhm des Pan als Syrinxbläser unter den Hirten die Rede ist, vgl. Überblicksnote dazu). 22 Natürlich kann nicht ausgeschlossen werden, daß im verlorenen Hervorhebung von mir. Seine Bemerkung ist um so erstaunlicher, als er zwei Seiten vorher die Ansicht zurückweist, das FBV könne die Erfindung der Syrinx schildern. 21 Vgl. ζ. B. Verg. ecl. 2,32, weitere Belege bei WILLE (1967), 525, Anm. 375. 22 H. Lloyd-Jones (brieflich) schlägt vor, daß auf dem Verso die Erfindung der σΰptyf κηρο'δ€τοί· geschildert werde, als Ersatz für das auf dem Recto erwähnte verlorene Instrument, das zwar auch eine Syrinx, aber eine (primitivere) αϋρι-γξ μαvoκαλαμο? gewesen sei (zum Unterschied vgl. GOW [1952], zu Theokr. eid 5, 7). Aber so wünschenswert es wäre, das upuTos-cipcnfc-Motiv auch im FBV wiederzufinden: LloydJones' Deutung scheint mir wegen der Verwendung von πηκτί? in FBV 11 schwierig. Das Wort kann zwar ganz verschiedene Musikinstrumente bezeichnen (vgl. Komm. z. FBV 11), wobei die etymologische Verbindung zu πήγνυμι mitunter stark verblaßt. FBV 63 πΐη^τίδα ιτή£ί aber spielt ganz klar mit dieser Etymologie. Da sich πηκτί? in 63 so ausdrücklich auf die Wachsgebundenheit der Syrinx bezieht, halte ich es für schwierig, daß dasselbe Wort in 11 eine σϋριγί μονοκάλαμο? bezeichnen soll, deren Primitivität doch gerade im Fehlen der Wachsgebundenheit liegt. Die Ausführlichkeit in der Schilderung des Herstellungsvorganges (von Lloyd-Jones als Indiz für seine Deutung 20

2. Seitenfolge

17

Teil des Recto ein Zeitsprung gemacht wurde; doch scheint die Spottrede Silens in das nähere zeitliche und lokale Umfeld der Geschehnisse zu gehören, die auf dem Verso geschildert werden (χοροί in 10 und 70, Silen als prominentes Mitglied des Thiasos, dionysisches Personal vielleicht in 68). Bei einer Seitenreihenfolge Verso-Recto müßte im verlorenen Teil erklärt worden sein, warum Pan sich eine neue Syrinx verfertigt. Gründe dafür könnten der Verlust oder die Aufgabe des alten Exemplars sein. Es ergäbe sich also die die Handlungsabfolge: (i) Verlust oder Aufgabe der alten Syrinx (ii) Verfertigimg der neuen Syrinx (iii) (zeitweise) Spiel auf der neuen Syrinx (iv) Verlust oder Aufgabe der neuen Syrinx. Auch ohne Vorurteile über den Erzählstil des FBV-Autors zugrunde zu legen, läßt sich sagen, daß eine derartige Sequenz eintönig und monoton wirken müßte. Das gilt auch für den Fall, wenn die Handlungselemente (i) und (iv) sich ζ. B. dadurch deutlich voneinander unterscheiden, daß Pan zuerst seine alte Syrinx aufgibt und die neue dann verliert. Doch sicher ausgeschlossen werden kann diese Handlungsführung natürlich nicht. Wenig hilfreich sind auch OELLACHERs ([1941), 124; [1944], 22-3) Versuche, mit dem Hinweis auf vermeintlich durch das FBV beeinflußte Texte (Verg. ecl. 6; Nemes. ecl. 3) bzw. Textpassagen (in Nonnos' Dionysiaka) die Seitenanordnung Recto-Verso zu stützen. Oellacher hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß in allen genannten Texten ein musikalischer Vortrag den Handlungselementen Erschöpfung, Schlaf oder Verspottung nachfolge. Doch bei näherer Betrachtung erweisen sich die angeführten Parallelen als so vage, daß ihnen keinerlei Beweiskraft zugesprochen werden kann: Im Falle von Nemesians dritter Ekloge finden sich zwar einige enge Parallelen, doch wird die Annahme direkten Einflusses dadurch keineswegs notwendig (vgl. unten Abschnitt 7 »Nachwirkungen«, b) und Komm. z. 71 u. 75). Im übrigen weist der Text gerade im Handlungsverlauf sehr viele Unterschiede zum FBV auf, da ζ. B. die Herstellung eines neuen Instruments und der Ortswechsel fehlen. Pan wird bei Nemesian zwar von Hirtenjungen seiner Syrinx beraubt, doch steht nicht fest, daß dies im FBV ein Element der Handlung ist. Die Verse 13-9 beschreiben nicht mehr als eine Möglichkeit, mit der Silen das Verschwinden der Syrinx erklärt (das Motiv des Syrinxdiebstahls begegnet schon Theokr. eid. 5,4, vgl. GALLAVOTTI [1941], 248). Diese Bedenken ergeben sich aber in noch stärkerem Maße angesichts von Vergils sechster Ekloge, da hier schon die motivischen und stilistischen Parallelen zum FBV sehr viel ungenauer sind als bei Nemesian.

angeführt) würde ich mit der epischen Tradition des Konstruktionsmotives erklären (vgl. unten Einleitung, Abschnitt 8 »Gesamtdeutung«, S. 55).

18

Einleitung

Dagegen kann ein direkter Einfluß unseres Textes auf Nonnos auf Grund einer Reihe sehr enger Bezüge23 nicht geleugnet werden. Aber die von OELLACHER (1944), 22-3 gesammelten Nonnosparallelen zum angenommenen Handlungsverlauf sind alle so vage, daß sie für das vorliegende Problem nichts austragen. BARIGAZZI (1946), 10-1 führt als Indiz für die Reihenfolge Recto-Verso die Formulierung πΐάλιν i'ijveev «ύρυτεροισιν (77) an. Das Adverb und das komparativische Adjektiv (bezogen auf ein zu ergänzendes καλαμοι?) lasse sich nur als Vergleich der neuen, breiteren Syrinx mit der alten erklären. Motiviert sei der Vergleich an dieser Stelle dadurch, daß Pan am Ende des Verso zu der Platane zurückkehre, unter der er zu Beginn des Recto erschöpft und seiner alten Syrinx beraubt liege (Barigazzi ergänzt am Ende von 5 ΰπό Ttj [πλατανίστω und zu Beginn von 75 προ? Se σκιήν πλατίανοιο). Abgesehen davon, daß die Ergänzungen zumindest in 5 papyrologisch unmöglich sind (vgl. Komm. z. St.), scheint auch seine Erklärung für εύρυτέροιοιν wenig plausibel. Ein Vergleich der alten und der neuen Syrinx unter einem derart materiellen Aspekt erwartet man eher im Zusammenhang mit der Herstellung. Zudem erscheint die Breite der Rohre als seltsamer Vergleichspunkt, wenn es insgesamt doch um die unterschiedliche Größe des Instruments gehen soll. (c) Die Durchmusterung der bislang zur Frage der Seitenfolge vorgetragenen Argumente führt meines Erachtens zu einer leichten Präferenz der Anordnung Recto-Verso. Insgesamt ist aber vor allem deutlich geworden, wie spekulativ die Handlungsrekonstruktion bleibt, solange sie nur den Inhalt der erhaltenen Reste und vermeintliche motivische Parallelen zu anderen Werken berücksichtigt. Gerade angesichts des fragmentarischen Erhaltungszustandes sollte gefragt werden, ob eine Betrachtung der Bruchstücke unter eher stilistisch-formalem Aspekt nicht noch weiterführt. In der Tat bin ich der Meinung, daß sich auf diesem Wege die Seitenfolge Verso-Recto zwar nicht sichern, aber doch stützen läßt. GALLAVOTTI (1941), 257 schätzt die Beschreibung der Syrinxfabrikation nicht als »il centro del racconto« ein. Diese Beurteilung kann wohl nur damit erklärt werden, daß Gallavotti einen Einwand gegen seine eigene, auch sonst problematische Handlungsrekonstruktion (vgl. dazu weiter unten) durch eine willkürliche Behauptung aus der Welt schaffen will. Es scheint mir unabweisbar, daß der Herstellungsvorgang durch die Ausführlichkeit, mit der erzählt wird, besonderes Gewicht erhält. Die Beschreibung des Vorgangs muß bereits vor 54 begonnen haben und geht bis 64, so daß ihm über elf Verse gewidmet waren. Darin enthalten ist zwar eine Digression über die Wachsgewinnung der Bienen, doch unterstreicht auch dieser Teil durch motivische Parallelen die Haupt-

23

Vgl. Abschnitt 7 »Nachwirkungen«, Unterabschnitt d) zu Nonnos.

2. Seitenfolge

19

handlung. 24 Die detaillierte Darstellung dient offenbar dem Zweck, Pan als geschickten Handwerker darzustellen, der die benötigten Materialien vollkommen unter seiner Kontrolle hat. Daher scheint mir die Passage am besten als eine Reaktion auf die Notlage »Fehlen der Syrinx« zu passen. Es soll hier offenbar geschildert werden, wie überlegen und findig der Gott sich behilft. 25 Mit der Möglichkeit, daß Pan seine Syrinx (aus welchem Grund auch immer) zweimal fehlt, habe ich mich schon im vorangegangenen Abschnitt auseinandergesetzt. Sie mußte schon wegen der anzunehmenden Wiederholung eines ähnlichen Motivs als unwahrscheinlich eingeschätzt werden. Aber auch im erhaltenen Text selbst finden sich Anhaltspunkte dafür, daß das Fehlen der Syrinx, das die Scheltrede Silens auslöst, auch dasjenige ist, dem Pan sich auf dem Verso gewachsen zeigt. Wie in der Gesamtinterpretation des FBV (Abschnitt 8 dieser Einleitung) dargelegt, tauchen in der Schilderung der Fabrikation motivische Verbindungen zur Silensrede auf, die einen deutlichen Kontrast zwischen Pan in Silens Darstellung und in der Realität umreißen: Pan als Opfer (erotischer) Hitze im Recto (16 έπικαίεαι), als Verwender realer Hitze im Verso (55 εθαΧψεν, vgl. Komm. z. St.), Pan als Opfer einer Fesselung im Recto (28-9), als 'Fesseler der Syrinx' im Verso (63-4, vgl. Komm. z. St.). Diese Markierungen deuten auf die Intention des Dichters, die Fabrikation der Syrinx auf dem Verso als Reaktion auf das Fehlen der Syrinx darzustellen, das auf dem Recto den Spott des Silen ausgelöst hat. Dadurch erscheinen die Geschehnisse auf dem Verso gleichsam als Widerlegung des negativen Bilds von Pan, das Silen zuvor entworfen hatte. Es zeigt sich also, daß COLLART (1933), 171-2 mit seiner Einschätzung, daß die Herstellung der Syrinx als Reaktion auf die Silenrede natürlicher sei, durchaus das Richtige getroffen hatte. Plausibel machen läßt sich der Standpunkt aber erst, wenn man nicht mehr nur »Spott wegen des fehlenden Instruments« und »Schaffung eines neuen Instruments« als bloße Handlungselemente betrachtet, sondern auch darauf sieht, wie sie im einzelnen dichterisch gestaltet sind. Erst das hier offengelegte Motivgeflecht zwischen Recto- und Verso-Teil weist die Richtung, in der die Handlung des Textes verläuft. Zum Schluß sollen die in diesem Abschnitt angestellten Beobachtungen noch zur Beurteilung von GALLAVOTTIs (1941), 287-8 Handlungsrekonstruktion herangezogen werden, die die Seitenfolge Verso-Recto voraussetzt. Gallavotti sieht auf Grund einer Zuweisung des FBV an Bion (zu Gallavottis Argumenten dafür vgl. Abschnitt 6. 1.) in Bion fr. 10, 7-8 Gow einen Hinweis auf das Thema des Textes, aus dem die Reste unseres Vgl. Komm, zu 56-60 und die Gesamtinterpretation in dieser Einleitung (Abschnitt 8). 2 5 Diese Einschätzung äußert ansatzweise schon OELLACHER (1941), 122: »... im Papyrus handelt es sich ... um die Improvisationsfähigkeit Pans, der sich der Situation gewachsen zeigt.«

20

Einleitung

Papyrus stammen. An der genannten Stelle listet der Sprecher die Gegenstände der Lieder auf, die er den kleinen Eros lehrt: ώς cupev πλαγίαυλον ό Πάν, ΰς αυλό ν ' Αθάνα, ώς χέΧιιν Έρμάων, κίθαριν ώ? άδύς Άττο'λλων. Gallavotti vermutet nun, damit seien Themen von Dichtungen Bions angegeben, wobei sich der erste Teil von Vers 7 auf das Gedicht beziehe, zu dem das FBV gehörte: Bion habe darin erzählt, wie Pan den Plagiaulos erfunden hat. Dabei sei - bei einer Seitenfolge Verso-Recto - folgender Handlungsverlauf anzunehmen: Pan stellt sich eine Syrinx her, um an einem Agon teilzunehmen. Ein junges Mädchen oder eine Nymphe (vgl. FBV 5) entwendet ihm die Syrinx. Er wird wegen seines fehlenden Instruments von Silen verspottet. Im verlorenen Hauptteil wurde dann geschildert, wie sich Pan als Ersatz den Plagiaulos erfindet. Aber es stellt sich die Frage, ob aus einem (sogar vielleicht unvollständig überlieferten) Gedicht in Ichform einfach Schlüsse auf die Biographie des Dichters gezogen werden dürfen.26 Die Auswahl der in 7-8 genannten Themen, die alle die Erfindung eines Musikinstrumentes durch einen Gott betreffen, spricht eher für einen fiktiven Charakter der Liste. Sie dient nicht in erster Linie dem Zweck, den nicht-erotischen Charakter der Bukolik herauszustellen, die der Sprecher vor seiner Unterweisung durch den Liebesgott pflegte; vielmehr erfüllt sie eine klar erkennbare pädagogische Funktion, die aus der im Gedicht gezeichneten Situation verständlich wird: der Sprecher will mit den mythischen Beispielen seinem jungen göttlichen Schüler zeigen, daß sich auch andere Götter vor ihm mit Musik beschäftigt haben. Aber auch gegen die Handlungsrekonstruktion des FBV, die Gallavotti auf Grund dieser Bioninterpretation gewinnen zu können glaubt, erheben sich mehrere Einwände. Zunächst wäre auch hier eine Wiederholung des Motivs »Fehlen der Syrinx« innerhalb eines engen Kontexte zu bemängeln. Ferner ist die von GALLAVOTTI (1941), 257 zwar geleugnete, aber in meinen Augen unbestreitbare Ausführlichkeit, mit der die Herstellung der Syrinx auf dem Verso geschildert wird, ein klares Indiz gegen die Annahme, daß das Zentrum des Textes in der Erfindung (und Herstellung) des Plagiaulos bestanden haben soll. Es ist nicht recht vorstellbar, wie der Akzent auf dem Ersatzinstrument gelegen haben kann, nachdem die Herstellung des später zu ersetzenden Instruments zuvor derartige Aufmerksamkeit erfahren hat. Schließlich stellt sich bei

Vor der biographischen Deutung der Bionfragmente, besonders des Fragments 10 Gow, warnt jetzt auch REED (1997), 7-8.

3. Handlungsrekonstruktion

21

dem von Gallavotti angenommenen Handlungsverlauf die Frage, warum das neue Instrument, das Pan unter dem Eindruck des anstehenden Agons erfindet und konstruiert, ein anderes Instrument als seine vertraute Syrinx ist. Natürlicher wäre die Herstellung der gewohnten Flötenart, deren Benutzung und Wirkung nicht erst erprobt werden muß.

3. Handlungsrekonstruktion Im FBV finden sich keine sicheren Anhaltspunkte, die uns erlauben, im Text einen bekannten Mythos behandelt zu sehen. Wenn man also nicht auf vage Parallelen mit thematisch ähnlichen Texten bauen will (vgl. die in Abschnitt 2. 2. referierten Versuche Oellachers, aus Vergil, Nemesian und Nonnos Rückschlüsse auf den Gesamtzusammenhang des FBV zu ziehen), so muß man sich mit recht bescheidenen Ergebnissen der Handlungsrekonstruktion zufrieden geben. Die Überlegungen dieses Abschnitts konzentrieren sich daher auch auf diejenigen Handlungselemente, die sicher oder doch mit großer Wahrscheinlichkeit im FBV selbst identifizierbar sind, und fragen danach, welcher Zusammenhang zwischen ihnen am sinnvollsten erscheint. Die Seitenfolge Recto-Verso wird dabei von vornherein vorausgesetzt (zu den Argumenten für die Annahmen vgl. den vorausgehenden Abschnitt). Die Verse 1-6 des Recto sind nur in kleinen Bruchstücken erhalten und lassen fast nichts vom Inhalt erkennen. Nur in 5 zeigt sich, daß von körperlicher Erschöpfung gesprochen wird, in 6 ist von einer Begleitung die Rede. Dennoch lassen sich aus der in 7 eingeleiteten und in 8 einsetzenden Scheltrede einige Rückschlüsse auf das davor geschilderte Geschehen ziehen: Silen findet Pan ohne die für ihn typische27 Syrinx vor; das macht wahrscheinlich, daß ihr Abhandenkommen zuvor erklärt worden ist, sei es durch eine ausführliche Erzählung, sei es in einer zusammenfassenden Exposition. Silen weiß offenbar von (wahrscheinlich in Mykene zu Ehren des Dionysos stattfindenden) Agonen, an denen auch Pan als Syrinxbläser teilnehmen soll.28 Auch diese Information dürfte dem Leser schon vor 7 gegeben worden sein. Da bei einem dionysischen Fest auch Silen erwartet werden darf, ist gut denkbar, daß die Scheltrede stattfindet, nachdem man sich auf dem Weg nach Mykene getroffen hat. Da in 65-6 wahrscheinlich impliziert ist, daß Pan sich davor noch nicht in Mykene befindet, spielt auch die Handlung des Recto wohl noch nicht dort.

27 28

Vgl. oben Abschnitt 2.2., S. 16. Vgl. Komm. z. 24-9,65,70.

22

Einleitung

Die ersten 20 Verse des Verso sind vollständig verloren, die ersten vier in Bruchstücken erhaltenen Verse liegen in derart fragmentarischer Form vor, daß ihr Inhalt nicht erkennbar wird. In 54 finden wir Pan bei der Herstellung einer Ersatzsyrinx, und zwar bereits im Stadium der Wachsgewinnung. Über den Inhalt der 24 Verse zwischen dem Ende des Recto und vor 54 lassen sich folgende Vermutungen anstellen: Silen führt seine Spottrede zu Ende, Pan entgegnet vielleicht darauf. Im folgenden muß dann zur Herstellung der Syrinx (als einer Art non-verbaler Erwiderung auf Silens Verspottung) übergeleitet worden sein. Vor der Gewinnung des Wachses dürften wohl zumindest die Beschaffung der Rohre und ihr Zuschneiden erwähnt worden sein29 (vielleicht nicht mit der gleichen Ausführlichkeit wie die Gewinnung des Wachses, der ja eine symbolische Bedeutung zukommt, vgl. den Abschnitt 8 in dieser Einleitung). Ab 65 wird der Handlungsverlauf wieder unsicher, wobei der Inhalt von 67-8 fast gänzlich verdunkelt ist. Von 65 bis mindestens 66 wird Mykene genannt, offenbar als Ort des musikalischen Agons, zu dem sich Pan begibt. Dort oder noch auf dem Weg dorthin wird Pan von einer Gruppe (Nymphen oder Mänaden) umtanzt, die ihn zum Spiel auf der Syrinx auffordert (69-70). Die verbleibenden sieben Verse des Fragments schildern in ähnlich mikroskopischer Perspektive wie bei der Herstellung der Syrinx Pans Spiel auf dem neuen Instrument. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das Gedicht noch über 77 hinausging und die Agone in Mykene genauer beschrieb (vgl. Abschnitt 5 »Gattungselemente«).

4. Metrik Soweit erkennbar, weisen die Verse des FBV die Merkmale auf, die seit den Alexandrinern den Bau des anspruchsvolleren Hexameters bestimmen. Hervorzuheben sind folgende Punkte: (a) Das Vorherrschen der caesura κατά τρίτον τροχαΐον gegenüber der Penthemimeres (etwa 3,5mal häufiger30). (b) Das Vorherrschen der bukolischen Dihärese gegenüber der Hephthemimeres (etwa 3mal häufiger31). An Besonderheiten gegenüber dem strengen hellenistischen Hexameterbau sind festzuhalten:

Vgl. Longos 1, 10, 2: ... ό δ« καλάμους· έκτίμών λίτιτού? και τρησα? τά? των γονάτων διαφυας· άλληλοι? τ€ κηρφ μαλθακή ουναρτησα? μέχρι νύκτα? συρίζίΐν ϊμίΧέτησί. 30 Vgl. OELLACHER (1932), 82. Zu dieser Eigenart des hellenistischen und kaiserzeitlichen Hexameters vgl. WEST (1982), 153 und 177. 31 Vgl. OELLACHER (1932), 82 und allgemein WEST (1982), 154.

4. Metrik

23

(a) Verstoß gegen das erste Meyersche Gesetz (vgl. WEST [1982], 155; HOLLIS [1990], 19-20) in 27. Hier ist aber eine onomatopoetische Absicht wahrscheinlich (vgl. Komm. z. St.). (b) Verstoß gegen das zweite Meyersche Gesetz (vgl. WEST [1982], 155) in 11, das aber auch die Alexandriner nicht strikt einhalten, zumal bei Interpunktion in der Penthemimeres (vgl. Komm. z. St.; HOLLIS [1990], 20). (c) Trochäisches Wort vor der caesura κατά τρίτον τροχαΐον (FBV 25) kommt bei Kallimachos nur selten vor und wird von ihm (anders als im FBV) durch Interpunktion nach dem ersten biceps oder in der Mittelzäsur gemildert (WlFSTRAND [1933], 68). Auffällig ist zudem eine Vorliebe des FBV-Autors für Monosyllaba am Versende (58, wahrscheinlich im verderbten Vers 74, mit Endstellung von Πάν in 63 und 75, in 63 sogar gegen kallimacheische Praxis [HOLLIS (1990), 21] ohne vorausgehende bukolische Dihärese 32 ). Diese Neigung teilt er jedoch mit einer Reihe hellenistischer Dichter (WEST [1982], 156). Die Metrik des FBV erlaubt keine genauere Datierung innerhalb des Hellenismus und der Kaiserzeit bis zur Niederschrift des Papyrus.33 Eine Berücksichtigung des Wortakzents (vgl. HEITSCH [1963], 13 u. WEST [1982], 179-80) ist nicht zu beobachten. COLLARTs (1932), 176-7 Vergleich mit den Fragmenten des Euphorion zeigt nur, daß metrisch nichts gegen eine Zuweisung an diesen Dichter spricht. Da die herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten aber im Hellenismus allgemein verbreitet sind (Verteilung von Daktylen und Spondeen, Monosyllaba am Ende, Vorherrschen der caesura κατά τρίτον τροχαΐον), stellen sie kein positives Argument für Collarts Zuweisung dar. 34 Der Zuweisung des FBV an Bion (vgl. die Abschnitte 6.1. und 6. 2. dieser Einleitung) widerspricht die metrische Gestalt des Fragments nicht. 35 Den Hang zu Monosyllaba am Versende teilt Bion zwar nicht (nur fr. 2, 7 Gow); diese Abweichung könnte bei einer Zuweisung an Bion aber damit erklärt werden, daß das FBV von einem Gott mit einem einsilbigen Namen handelt, der auch in sonstiger hexametrischer Dichtung gerne an den Versschluß gestellt wird (vgl. Komm. z. 63).

3 2 Auch in 75 liegt nach der Überlieferung keine bukolische Dihärese vor; der Text scheint hier aber korrupt zu sein, vgl. Komm. z. St. 3 3 Vgl. auch einleitende Note zu FBV 56. 3 4 Diese Kritik schon bei BARIGAZZI (1946), 17 mit Anm. 2. 3 5 Zu Bions Metrik und Prosodie jetzt ausführlich REED (1997), 36-45, bes. 40-1 über Bions Abweichungen von kallimacheischen Regelungen zur trochäischen Gestaltung des zweiten Metrums. Auch hinsichtlich der Verteilung von Daktylen und Spondeen spricht nichts gegen eine Zuweisung an Bion: 85 % der Verse Bions beginnen mit dem Muster DDDD, DDDS, DSDD, SDDD oder SDDS (REED [1997], 37), im FBV sind es von 30 beurteilbaren Versen 23, also 77 % (die Differenz von 8 % ist nicht signifikant). Bei Bion beginnen 60 % der Verse mit dem Muster DDDD, SDDD oder DSDD (FANTUZZI [1995], 255), im FBV sind es von 27 beurteilbaren Versen 17, also 63 %.

24

Einleitung

KÖRTE (1935), 223 und GALLAVOTTI (1941), 234 scheinen die Befolgung kallimacheischer Grundsätze im Versbau des FBV als Indiz für eine Datierung in die Alexandrinerzeit zu werten; ein solcher Schluß ist aber nicht statthaft, da auch die anspruchsvolleren Dichter der Kaiserzeit vor Nonnos diesen Grundsätzen verpflichtet sind. 36

5. Gattungselemente Die Verpflichtung des FBV gegenüber der Bukolik ist unübersehbar und braucht hier nicht ausführlich belegt zu werden. Als besonders enge Anlehnungen von Einzelstellen an die theokriteischen Bukolika seien FBV 56 (~ Theokr. eid. 7,142), 73 (~ Theokr. eid. 1,43) und 76 (~ Theokr. eid. 1, 129) genannt. Daneben variiert das FBV allgemein Themen, Motive und Gestalten der Bukolik:37 Die Syrinx ist das typische Instrument der Hirten, auf dem auch die bukolischen Gesänge begleitet vorzustellen sind; überhaupt teilt das FBV mit der Bukolik die zentrale Rolle, die die Musik einnimmt, wobei neben dem instrumentalen Spiel (vgl. FBV 71-7) auch der Gesang nicht unberücksichtigt zu bleiben scheint (vgl. 11 πή o€o φΐωνή; und 27ανανδον, mit Komm. z. St.). Pan ist der Gott der pastoralen Sphäre, seine Beziehung zu den Hirten hebt Silen in 24 besonders hervor. Daneben sind die in 14-5 aufgezählten Namen von Pans notorischen Liebhabern bis auf das verderbte Λυδος· wohl alle der durch die bukolische Dichtung des Corpus Theocriteum beschriebenen Welt entnommen (vgl. Komm. z. St.). Die Figur Silens spielt, zumindest in der erhaltenen hellenistischen Bukolik keine wichtige Rolle, 38 doch ähnelt seine das Recto einnehmende Verspottung des Pan den Provokationen, die Theokrits Hirtengestalten nicht selten gegeneinander richten (vgl. ζ. B. den Beginn von Theokr. eid. 5 und den Wortwechsel zwischen Lykidas und Simichidas am Anfang der 'Thalysien'). Trotz der sprachlichen und vor allem motivischen Nähe zur Bukolik fehlt dem FBV aber mit dem dorischen Dialekt ein für die griechische bukolische Dichtung konstitutives Element. Nimmt man die Eidyllia Theokrits zum Muster, so ist weiterhin gattungstypisch, daß (wie auch immer gearteter) Gesang von Hirten im Zentrum steht. Trotz der wichtigen Rolle des Musikalischen am Ende des Fragments ist von der Wiedergabe eines Gesangs nichts zu erkennen (in den oben angeführten Versen 11 und 27 wird Gesang nur erwähnt). Es läßt sich allerdings nicht 3 6 Vgl. WEST (1982), 177: »the more elegant poets ... cultivate the refinement of the Callimachean hexameter«. 3 7 Dazu vgl. WENDEL (1933), 30-2. 3 8 Zur späteren Bukolik vgl. Komm. z. FBV 7.

5. Gattungselemente

25

ausschließen, daß wir den Erzählungsrahmen für einen Gesangsvortrag vor uns haben. Aber der ionisch-epische Dialekt bekräftigt die Vermutung, es mit einem vorwiegend narrativen Text zu tun zu haben.39 Das FBV gibt also ein Beispiel für Dichtung, die, ohne wesentliche Merkmale der Bukolik zu besitzen, sich gleichwohl durch den Gebrauch pastoraler Stoffe und sprachlicher Imitation an diese anlehnt, wie bestimmte Epigramme der Anthologie oder der Roman des Longos.40 Angesichts dieser Trennung des FBV von der Gattung Bukolik liegt in meiner Benennung 'Fragmentum Bucolicum Vindobonense1 natürlich eine Inkonsequenz. Doch da in der bisherigen Forschung die Bezeichnung des Fragments als bukolisch üblich war, 41 will ich von diesem usus nicht abweichen. Bei dem Versuch, die Gattungszugehörigkeit des FBV positiv zu bestimmen, sollte zunächst gefragt werden, ob sich der ursprüngliche Umfang des Gedichtes aus seinen Fragmenten bestimmen läßt. Für sich genommen deuten die erkennbaren Reste der Handlung darauf hin, daß der verlorene Zusammenhang nicht sehr umfangreich gewesen sein kann; die aus den Resten mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruierbare Handlungsfolge (vgl. oben Abschnitt 3 »Handlungsrekonstruktion«) »Verlust der Syrinx - Verspottung durch Silen - Herstellen einer neuen Syrinx - Ortswechsel - Spiel auf der neuen Syrinx« würden als Stoff für ein abgeschlossenes Gedicht genügen. Doch auf Grund dieser Beobachtung kann nicht ausgeschlossen werden, daß das FBV zu einer Episode in einem umfangreichen Text, ζ. B. einem Großepos oder einem Lehrgedicht, gehörte (zu diesen Möglichkeiten vgl. weiter unten in diesem Abschnitt). Freilich wäre Klarheit geschaffen, wenn das Gedichtende in 77 nachgewiesen werden könnte, wie es BARIGAZZI (1946), 11 versucht. Doch was Barigazzi leistet, ist alles andere als ein positiver Beweis, da er nur glaubhaft zu machen versucht, daß Vers 10 (πώς- δε Ιχορών έπ' άγω να? άνευ (jiipivvo? Μάνοι?;) nicht bevorstehende Agone impliziere, die, wie COLLART (1933), 172 annahm, nach 77 noch geschildert sein könnten. Collart akzeptierte am Ende von 10 die Ergänzung ίκΐάν«?, Barigazzi bevorzugte den Optativ Μανοις- und deutet den Vers nur als Hinweis darauf, daß Pan in Zukunft an Agonen nicht mehr teilnehmen könne. Im In diesem Sinne auch GALLAVOTTI (1941), 255. Zur Unterscheidung 'bukolisch-pastoral' vgl. jetzt REED (1997), 7, der seiner Arbeit über Bion folgende Definition zugrundelegt: »'bucolic' refers to the tradition signalled by formal features, 'pastoral' to themes of herdsmen and rustic life.« Ich hoffe, in Kürze eine gesonderte Monographie über Hirten in der nicht-bukolischen Dichtung des Hellenismus vorlegen zu können. 4 1 Schon in der Erstedition lautete die Überschrift »Episches Fragment bukolischen Inhalts« (OELLACHER [1932], 77), vgl. ferner PAGE (1950), 503 »Bucolic« und HEITSCH (1963), 59 »Fragmentum bucolicum«. Das Stück wurde zudem von GOW (1952) unter die »bucolici Graeci« aufgenommen und findet Berücksichtigung in Spezialbibliographien zur griechischen Bukolik (EFFE [1986], 454-5; EFFE/BINDER [1989], 177). 39

40

26

Einleitung

Kommentar zu 10 versuche ich zu zeigen, daß eine solche verallgemeinernde Deutung des Verses unakzeptabel ist, obwohl ich mich - aus anderen Gründen als Barigazzi - ebenfalls für den Optativ ausspreche. Barigazzis Argument ist also keineswegs stichhaltig: Collarts Ansicht, daß das Gedicht nach 77 noch weiterging und die Agone beschrieb, besitzt vielmehr einige Wahrscheinlichkeit. Zudem deutet die Tatsache, daß die Versoseite bis zu Ende beschrieben ist, ebenfalls auf eine weitere Ausdehnung des Gedichts. Abgesehen von diesen Einwänden gegen Barigazzis These muß auch gesagt werden, daß bestenfalls ein Episodenende nach 77 bewiesen werden kann. Damit wäre aber noch nicht gezeigt, daß die Episode nicht Teil eines $σμα διηνεκές· war. Auf der anderen Seite kann aber die Zugehörigkeit des FBV zu einem Großgedicht keineswegs nachgewiesen werden. OELLACHERs (1944), 24 Behauptung, die relativ starke Wirkung auf spätere Dichter, vor allem Nonnos, könne nicht von einem kurzen Gedicht, ζ. B. einem Epyllion, ausgegangen sein, scheint mir unhaltbar. Die kleine Form schließt eine breite Wirkung auf ganz verschiedenartige Werke nicht aus. Als Beispiel kann auf die 'Europa' des Moschos verwiesen werden, deren Einfluß auf Horaz, Achilleus Tatios, Lukian, Nonnos und möglicherweise Ovid BÜHLER (1960), 20-8 ausführlich dokumentiert hat. Es hat sich gezeigt, daß die Länge des Gedichts, zu dem das FBV gehörte, auf Grund der Reste nicht ermittelt werden kann und auf diesem Wege also kein Aufschluß über die Gattungszugehörigkeit zu erhoffen ist. Auch der Nachweis von typischen Elementen bestimmter Gattungen dürfte im vorliegenden Falle nicht zum Erfolg führen. Der Grund dafür liegt in der veränderten Rolle, die die Gattungskonventionen seit dem Hellenismus für die poetische Produktion spielen.42 Während der Dichter in vorhellenistischer Zeit durch die Bindung des Werkes an bestimmte institutionelle Anlässe in der Regel auf eine Gattung festgelegt ist, deren Konventionen sein Dichten auch bis ins kleinste Detail bestimmen, gewinnt er im Hellenismus durch den Verlust dieser Bindungen eine Autonomie, die auch den Umgang mit den durch die Tradition vorgegebenen Gattungselementen betrifft: die Dichter können frei darüber verfügen und verschiedene generische Charakteristika nachahmen, verändern und kombinieren. Die Folge ist, daß durch Mischung neue Gattungen entstehen (ζ. B. Epyllion, bukolisches Idyll) oder traditionelle Formen durch Aufnahme von fremden Elementen (Epos, Hymnos, Epigramm) bereichert werden. Für einen stark fragmentarisch überlieferten nachklassischen Text wie das FBV bedeutet diese Entwicklung, daß durch den Nachweis bestimmter typischer Gattungselemente nicht die Gattungszugehörigkeit des Textes bestimmt werden kann. Es muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß auch der Autor des FBV ein Werk 4 2 Zu diesem Problem immer noch hilfreich KROLL (1924), 202-24 der Abschnitt: »Die Kreuzung der Gattungen«. Einen Überblick über neuere theoretische Erörterungen dieses Aspekts bei THOMAS (1996), 227-9.

5. Gattungselemente

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geschaffen hat, das an verschiedene Gattungen anschließt, so daß es sich einer eindeutigen Zuordnung entzieht. Das gilt um so mehr, als Anfang und Schluß des Textes fehlen, also die Teile, die oft programmatische Aussagen enthalten. Dennoch ist es möglich und nützlich, das FBV auf typische Gattungselemente zu durchmustern, solange diese Elemente nicht als Schlüssel für eine eindeutige Zuweisung an eine Gattung betrachtet werden, sondern als stilistische Mittel, die der Autor aus der literarischen Tradition für seinen neuen Text auswählt. Seine auffälligsten stilistischen und kompositorischen Merkmale teilt das FBV mit den meisten der gemeinhin 'Epyllia' genannten Gedichte. 43 Eine Reihe von Charakteristika eines Epyllions, die HOLLIS (1990), 25-6 anhand der 'Hekale' herausarbeitet, treffen auch für das FBV zu: (a) Dunkelheit des Hauptmythos. Wie immer man die im FBV erzählte Geschichte rekonstruiert, sie ist sonst nicht überliefert. Zwar begegnet Pan als Erfinder und damit als erster Konstrukteur der Syrinx, doch kann dieser Mythos hier nicht Gegenstand sein. 44 Die Besonderheit des FBV scheint darin zu liegen, daß der erzählte obskure Mythos (die Herstellung einer neuen Syrinx) in einem Ähnlichkeitsverhältnis zu einem bekannten, mit Pan verbundenen Mythos steht, so daß er wie eine Wiederholung erscheint. (b) Einführung anderer Mythen in kurzer, oft dunkel-gelehrter Weise. Als Beispiel aus dem FBV ließen sich die Verse 65-6 anführen, die nach meiner Auffassung die Erwähnung von Mykene zum Anlaß nehmen, an die Gründung der Stadt durch Perseus zu erinnern. (c) Überhaupt Abweichungen von der Haupthandlung durch Digressionen, wie in FBV 56-60. Dort wird anscheinend relativ ausführlich geschildert, wie die Bienen des von Pan geplünderten Stockes den Honig und das Wachs gewinnen. Wie ich im Abschnitt 8 dieser Einleitung (»Gesamtinterpretation«) zeigen werde, verknüpft der Dichter diesen Exkurs freilich durch motivische Bezüge mit der Haupthandlung, so daß es sich keinesfalls um einen funktionslosen Einschub handelt. Eine solche kunstvolle Verknüpfung zwischen Hauptebene und Digression scheint zu den künstlerischen Aufgaben zu gehören, die gerade Epylliendichter sich stellen; man denke ζ. B. an

4 3 Der Begriff wurde wahrscheinlich von F. A. Wolf in die moderne Terminologie eingeführt, vgl. MOST (1982). Zu den mit dem Epyllion verbundenen gattungstheoretischen Problemen vgl. GUTZWILLER (1981), 2-9 und HOLLIS (1990), 23-6 und besonders CAMERON (1995), 447-52, der unter Hinweis auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Epyllia und anderen poetischen Kleinformen des Hellenismus (Elegie, Hymnos) davon abrät, zumindest vor Moschos das Epyllion als eigenständige Subgattung zu betrachten. 4 4 Vgl. oben Abschnitt 2.2. »Seitenfolge - Innere Kriterien«, Abschnitt b.

28

Einleitung

die Funktion der Bildbeschreibungen in Moschos' 'Europa' oder Catulls c. 64 für die jeweiligen Gesamtgedichte.45

6. Datierung und Zuweisung an einen Autor 6.1. Bislang gemachte Vorschläge Für eine Datierung des FBV in den Hellenismus werden im wesentlichen folgende Argumente angeführt: a) Das Gedicht weise eine poetische Qualität auf, wie sie die griechische Dichtung der Kaiserzeit in der Regel nicht mehr besitze (COLLART [1933], 172-3; BARIGAZZI [1946], 13-4). b) Die Imitation von Vorbildern, besonders Theokrits, sei dezent, was ebenfalls gegen die Kaiserzeit spreche, in der auf eine sehr viel plattere Weise nachgeahmt werde (GALLAVOTTI [1941], 251-2). c) Das FBV werde in der griechischen und lateinischen Dichtung der Kaiserzeit, besonders von Nonnos, imitiert, was darauf deute, daß der Text zu dieser Zeit bereits eine gewisse Altehrwürdigkeit besaß (OELLACHER [1944], 32; GALLAVOTTI [1941], 251, der aber für alle Texte, deren Abhängigkeit vom FBV vermutet worden ist, die Möglichkeit einer mit dem FBV gemeinsamen Quelle nicht ausschließen möchte).46 Es braucht nicht ausführlich dargelegt zu werden, daß diese Argumente insgesamt sehr vage sind und die Zuweisung in eine Epoche kaum befriedigend begründen können. Gerade bei einem Text, der sich wie der vorliegende ganz auf das Mythische konzentriert (also zeitgeschichtliche Bezüge ausblendet) und eine Form aufweist, die prinzipiell sowohl im Hellenismus als auch in der Kaiserzeit begegnen kann, ist die Festlegung auf eine der beiden Epochen oft ein unlösbares Problem. Im vorliegenden Fall gilt das besonders vor dem Hintergrund des terminus ante quem (drittes Jahrhundert), durch den das Alter des FBV wegen der Beschaffenheit der Abschrift (vgl. Abschnitt 1) festgelegt ist: unsere Kenntnis der kaiserzeitlichen Dichtung vor Nonnos ist noch schlechter als die der hellenistischen. Deswegen können die in a) und b) vorgenomme 45

Vgl. BÜHLER (1960) und CAMPBELL (1991), zu Moschos 2, 37-62; für Catull vgl. SCHMIDT (1985), 80-1, mit weiteren Literaturangaben. 46 Die metrischen Argumente KÖRTEs (1935), 223 und GALLAVOTTIs (1941), 234 können nicht überzeugen, vgl. dazu Abschnitt 4 »Metrik«. ARLANDs (1937), 76 Einordnung des Fragments in den späteren Hellenismus, die »letzte[n] Zeit vor Bion und Moschos«, basiert auf dem dürftigen inhaltlichen Argument, daß bestimmte Motive Verlust von Daphnis' Sonderstellung unter den Hirten (mit Blick auf FBV 14-6), Karikatur des Pan, Wandlung des Hirtenliedes zur reinen Musik - erst in einer späteren Phase der bukolischen Dichtung auftauchen können. Eine Datierung in die Kaiserzeit ist damit jedenfalls nicht ausgeschlossen.

6. Datierung und Zuweisung an einen Autor

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nen Verallgemeinerungen nicht Grundlage einer Datierung sein. 47 Was Punkt c) angeht, so muß hier auf Abschnitt 7 (»Nachwirkungen«) dieser Einleitung verwiesen werden, in dem ich zu zeigen versuche, daß in keinem der bislang angenommenen Fälle ein direkter Einfluß des FBV auf ein Stück der lateinischen Literatur wirklich wahrscheinlich gemacht werden kann. Aus der schwer bezweifelbaren Wirkung auf Nonnos kann nicht die Zugehörigkeit des FBV zum Hellenismus gefolgert werden, da wir auf Grund des bereits erwähnten Erhaltungszustands der Dichtung vor Nonnos auch nicht sagen können, inwieweit er Poesie dieser Zeit in sein Werk einfließen läßt. Nicht mehr Überzeugungskraft besitzen die Argumente, die für eine Datierung in die Kaiserzeit geäußert wurden. Wegen der »etwas gezierte[n] Eleganz des Stiles« (als Beispiel wird auf FBV 65 άττ' aiOepos1 ιπτατο Περσεύς· verwiesen) spricht sich KEYDELL (1941), 14-5 für einen Spätansatz aus. Ihm folgend nahm HEITSCH (1963) den Text in seine »Griechischen Dichterfragmente der römischen Kaiserzeit« auf. 48 Konkretere Anhaltspunkte versprechen die Versuche, eine Zuweisung an einen bestimmten Autor zu begründen.49 COLLARTs (1933), 173-7 Zuschreibung an Euphorion hat den berechtigten Widerspruch BARIGAZZIs (1946), 16-21 hervorgerufen. COLLART (1933), 173-4 sieht das FBV als Teil eines einflußreichen (da Wirkungen auf die Augusteer und Nonnos ausübenden) Epyllions und meint daher, daß Euphorion, der 'Schöpfer des rein erzählenden Epyllions', naheliege. Aber ein Nachweis, daß das FBV zu dieser Gattung gehört, kann nicht erbracht werden (vgl. Abschnitt 5 »Gattungselemente«), und der von Collart angenommene Einfluß auf spätere Dichtungen, kann, wie BARIGAZZI (1946), 18 bereits betont hat, auch von einem anderen Dichter als Euphorion ausgegangen sein. Ein weiteres Argument COLLARTs ([1933], 175 stützt sich auf eine Nachricht bei Athenaios (184 a = Euphorion fr. 64 de Cuenca = 182 van Groningen), wonach Euphorion in einer Prosaschrift über die Lyriker die 4 7 Zu diesen Fragen allgemein HEITSCH (1963), 12, der in Anm. 1 als Beispiel für besonders schwer datierbare Texte neben Erinna (die Vorschläge reichen hier von der Zeit Pindars bis zum Ende des dritten Jahrhunderts v. Chr.) und dem epidaurischen Meterhymnos (erste Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. bis zweites Jahrhundert n. Chr.) auch auf das FBV weist. 4 8 Vgl. HEITSCH (1963), 12 Anm. 1; die kaiserzeitliche Datierung vertrat schon (ohne weitere Begründung) POWELL (1933), 209. 4 9 KÖRTEs (1935), 224 Vermutung, das FBV sei Produkt eines Dichters der »besseren Pseudo-Theocritea« ist ohne weitere Begründung vorgetragen und bedarf keiner weiteren Erörterung. Ebenfalls vernachlässigt werden kann OELLACHERs (1941), 130-47 Zuweisung an Nikander (Exkurs aus den Melissurgika). OELLACHER ([1944], 24) hat diese These später selbst mit Hinweis auf starke sprachliche Differenzen zwischen Nikander und dem FBV widerrufen. Auch GOW/SCHOFIELD (1953), die das FBV unter den »dubious and spurious fragments« Nikanders (fr. ) aufführen, halten die Zuweisung für unwahrscheinlich.

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Einleitung

Erfindung der einrohrigen Syrinx durch Hermes erwähnt hatte. Collart folgert daraus, daß das FBV als Gedicht mit einem ähnlichen Thema gut zu den Interessen Euphorions passen würde. Dagegen ist zunächst einzuwenden, daß unser Text zumindest in seinen erhaltenen Teilen nicht die Erfindung der Syrinx, sondern die Anfertigung eines Ersatzexemplars beschreibt. BARIGAZZI (1946), 17-8 weist zudem auf den weiteren Wortlaut des Referats bei Athenaios hin: demnach schrieb Euphorion in besagtem Prosawerk die Erfindung der σϋριγξ πολυκάλαμο? dem Silen und die der σϋριγξ κηροδίτο? dem Marsyas zu. 50 Im FBV dagegen, so Barigazzi, sei die vielrohrige Syrinx klar dem Pan zugeordnet. Die Athenaiosstelle erscheint also eher als Argument gegen die Zuweisung an Euphorion. Die von COLLART (1933), 176-7 angeführten metrischen Übereinstimmungen zwischen den Euphorionfragmenten und dem FBV (Dominieren der caesura κατά τρίτον τροχαΐον und der bukolischen Dihärese, der Anteil von rein daktylischen und rein spondeischen Versen sowie die Setzung von Monosyllaba am Versende) sind allgemein hellenistisch und haben keinen Beweiswert (vgl. BARIGAZZI [1946], 17 und den Abschnitt 4 »Metrik«). Der bislang ausführlichste und scharfsinnigste Zuweisungsversuch ist der GALLAVOTTIs (1941), 252-8 an Bion.51 GALLAVOrn (1941), 252-3 macht zunächst auf zwei Passagen aus dem Epitaphios Bionos ([Mosch.] 3) aufmerksam, die seines Erachtens Aufschluß über den Inhalt bionischer Dichtungen geben. [Mosch.] 3, 80 Πάνα S1 ίίμεΧιτί deute darauf, daß Pan in einem Gedicht Bions Protagonist war. Auch [Mosch.] 3, 82 tcai σύριγγας €τ«υχ€ könne als Angabe eines Gesangsthemas verstanden werden (so schon Meineke). Zu dieser Interpretation gelangt Gallavotti, indem er das Partizip aus 81 (άαδων ένόμευ«) auch auf die folgenden verba finita in 82 (και σύριγγα? 'ίτευχε και äSea πορτιν άμεΧγε) bezieht und dem ganzen Ausdruck den Sinn gibt, daß Bion in seinem Gesang die genannten Tätigkeiten ausgeübt, d. h. sie dichterisch dargestellt habe. Gallavotti sieht hier also die Möglichkeit, daß das FBV »un duplice addentellato con la persona del poeta Bione« aufweist (253). Doch meldet er selbst Zweifel daran an, ob sich beide Stellen wirklich auf das FBV beziehen, da sie offenbar bukolische Dichtungen in dorischer Färbung beträfen, während es sich beim FBV anscheinend um ein Epyllion ionischepischer Tradition handele (254). Aber auf jeden Fall zeige der Epitaphios, daß Bion an ähnlichen Motiven wie der FBV-Dichter interessiert war. Die Tatsache, daß sämtliche von Bion erhaltenen Fragmente (auch wenn sie keinen bukolischen Inhalt haben) dorischen Dialekt aufweisen, spricht nach Gallavotti nicht gegen eine Zuweisung des FBV an Bion; böten doch So nach dem überlieferten Text την δί πολυκάλαμον Σιληνον, Μαρσΰαν δ€ την κηροδίτον, Salmasius konjiziert την Sk πολυκάλαμον Σιληνον Μαραΰαν, την κηρο'δίτον. 5 1 Zustimmend CASTAGNA (1970), 429, jedoch ohne weitere Argumente. BECKBY (1975) druckt das Gedicht unter ' (?)' ab.

6. Datierung und Zuweisung an einen Autor

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Theokrit und Moschos jeweils Beispiele für das Nebeneinander dorischer und ionisch-epischer Dichtungen (254-5). Die Zuweisung des FBV an Bion vorausgesetzt, lassen sich nach Gallavottis Ansicht aus einem anderen Bionfragment (fr. 10, 7-8 Gow) Schlüsse über den weiteren Kontext des FBV ziehen (257). In Abschnitt 2. 2. »Seitenfolge - Innere Kriterien« (S. 19-21) begründe ich, warum ich dieses Argument ablehne. Hier sei nur auf die von Gallavotti herangezogenen Epitaphiosstellen eingegangen. Was Gallavottis Skrupel angeht, die beiden Stellen auf ein ionisch-episches Gedicht wie das FBV zu beziehen, hätte ich weniger Bedenken: obwohl das FBV keine dorische Färbung aufweist, schließt es sich inhaltlich und stilistisch deutlich an die bukolische Dichtung Theokrits an. Es ist also durchaus möglich, daß es der Epitaphios-Dichter in seine Charakteristik der bionischen Bukolik einbezieht. Bei Bion fr. 10, 7-8 Gow 5 2 hat Gallavotti dagegen keine Schwierigkeiten, einen Bezug auf ein Epyllion zu sehen, obwohl doch Vers 5 βουκολίασδον ebenfalls als Hinweis auf einen traditionellen bukolischen Charakter der Gesänge verstanden werden könnte. Während mir also Gallavottis eigene, eher formale Einwände gegen einen Bezug der Epitaphiosstellen auf das FBV kein Gewicht zu besitzen scheinen, möchte ich aber grundsätzlich in Frage stellen, ob sie wirklich als Charakterisierung bionischer Gedichte verstanden werden können. Gallavottis Auffassung von [Mosch.] 3,81 άίίδων ένομευε scheint sehr weit hergeholt. Natürlicher ist eine Interpretation, nach der Bion hier als Hirt charakterisiert wird (zu dieser Stilisierung vgl. [Mosch.] 3,11: Βίων τίθνακίν ό βουκολος·), der Pan und Hirten besang (80b-81a) und beim Gesang (81 άείδων) die aufgelisteten typischen Hirtentätigkeiten ausübte. 53 Das Singen während des Hütens ist ein in der bukolischen Literatur verbreitetes Motiv, 54 so daß eine Deutung von άαδων ένομευ« als »im Gesang weidete er« selbst angesichts des Umstandes, daß das Subjekt ein bukolischer Dichter ist, gewaltsam wirkt. Als Beleg für die angenommene Ausdrucksweise (»jemand tut χ singend = jemand singt über Tätigkeit x«) kann GALLAVOTTI (1941), 253, Anm. 1 nur Verg. ecl. 3,109-10 anführen: Et vitula tu dignus et hic, et quisquis amores/aut metuet dulcis aut experietur amaros. Aber dort liegen die Dinge ganz anders: der Schiedsrichter Palaemon spricht sein Schlußwort in Hinblick auf die soeben vorgetragenen Gesänge, in denen die beiden Hirten gezeigt haben,

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2. 2.

Vgl. meine Behandlung von Gallavottis Interpretation des Fragments in Abschnitt

5 3 Vgl. die von MUMPRECHT (1964) zu [Mosch.] 3, 81 und 82 beigebrachten Parallelen. 5 4 Vgl. ζ. B. [Theokr.] eid. 8, 55-6: άλλ' ύττό τ4 τκτρα t