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German, English Pages 278 [280] Year 2015
Das Entgegenkommende Denken
Band XV
Actus et I mago Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Schriftleitung: Marion Lauschke
Das Entgegenkommende Denken Verstehen zwischen Form und Empfindung Herausgegeben von Franz Engel und Sabine Marienberg
Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Exzellenzclusters "Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor" der Humboldt-Universität zu Berlin. Einbandgestaltung unter Verwendung von Francesco Colonna: „Hypnerotomachia Poliphili“, 1499 (Vorderseite) und Fossil eines Seeigels (Rückseite).
ISBN 978-3-11-043956-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043089-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043102-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. © 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Redaktionelle Mitarbeiterinnen dieses Bandes: Amelie Ochs, Johanna Schiffler und Patrizia Unger Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Printed in Germany Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
IX
Franz Engel & Sabine Marienberg Out for a Walk
1
Wolfram Hogrebe Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens
I. Prozessphilosophie 21
Robert E. Innis Energies of Objects. Between Dewey and Langer
39
Sascha Freyberg Ereignis und Objekt. Zur Whitehead-Kritik von Edgar Wind und John Dewey
II. Interaktion 57
Michael Kimmel Embodied (Micro-)Skills in Tango Improvisation. How a Collaborative Behavioral Arc Comes About
75
Marion Lauschke „Experience comes whole“. Zum Rhythmus der Kunsterfahrung
III. Steinartefakte 89
Harald Floss Paläolithische Steinartefakte. Die ältesten Werkzeuge der Menschheit
105
Horst Bredekamp Der Faustkeil und die ikonische Differenz
IV. Herders Schaaf: Das Entgegenkommende Vernehmen 121
Johann Gottfried Herder Abhandlung über den Ursprung der Sprache
125
Tilman Borsche Herders Scha(a)f. Wer kommt wem entgegen im Ursprung der Sprache?
135
Jürgen Trabant Herders Schaaf im Vorbeigehen und Entgegenkommen
V. Bewegung – Geste – Zeichen 147
Ulrich Mosch Übergänge. Bewegung – Geste – Zeichen in Carlos Kleibers Dirigieren
163
Sabine Marienberg Die Möglichkeit der Geste. Poietisches Handeln zwischen Bewegung und Zeichen bei Oskar Pastior
VI. Bildakte 181
Elisabeth Oy-Marra Vorsicht! Amor schießt auf den Betrachter. Guercinos Mars und Venus als handelndes Bild
201
Pablo Schneider Das fordernde Bild. Die Verbindung von Eigenverantwortung und Moral in der frühneuzeitlichen Bildbetrachtung
VII. Formakte 221
Nicola Suthor Meta/Physik der Skizze. Zum Nachvollzug des Gedankengangs im Linienzug
237
Yannis Hadjinicolaou The Mind and the Eye in the Hand. Arent de Gelder’s Processuality of Paint in the Context of Early Modern Art Theory
257
Bildnachweise
Franz Engel & Sabine Marienberg
Out for a walk
1. Im Nachlass von Edgar Wind in der Bodleian Library in Oxford befindet sich ein Selbstporträt des Philosophen und Kunsthistorikers als Kopffüßler (Bild 1). Es handelt sich um eine Gelegenheitszeichnung, womöglich an die Bürotür geheftet, um den Kollegen zu signalisieren, dass er, „E.W.“, sich die Beine vertritt: „out for a walk“. Der großzügige Schwung des Bleistifts bewirkt einen weiten Ausfallschritt des langbeinigen Spaziergängers, dem sich der Schriftzug in kursiver Heiterkeit nachbeugt. „out for a walk – DAS ENTGEGENKOMMENDE DENKEN“ lautete der durch diese Zeichnung angeregte Titel einer im Sommer 2013 abgehaltenen
Bild 1 Edgar Wind: „out for a walk“, Gelegenheitszeichnung, nach 1953, Oxford, Bodleian Library, Special Collections.
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Franz Engel & Sabine Marienberg
Tagung der Kolleg-Forschergruppe „Bildakt und Verkörperung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die in den Versalien angelegte Doppeldeutigkeit war Programm. Anders jedoch als im scholastischen Disput um die Wahrheit als Resultat der Angleichung des Verstandes an die Dinge, der Dinge an den Verstand oder beider aneinander, ging es um die Bewegung der Annäherung selbst – eine Bewegung, die keine rein verstandesmäßige ist und die Körperlichkeit des sich Entgegenkommenden ausdrücklich einschließt. Neben Winds Imprese war der Veranstaltung als Motto eine Passage aus Leonardo da Vincis Codex Arundel vorangestellt, in der die äußere und innere Bewegtheit des Forschers einander bedingen:
Und getrieben von meiner sehnsüchtigen Begierde schweife ich umher, um die große Fülle der verschiedenen und seltsamen Formen zu betrachten, die die kunstfertige Natur hervorgebracht hat; nachdem ich ein wenig inmitten der schattigen Klippen herumgelaufen war, gelangte ich zum Eingang einer großen Höhle, vor der ich recht erstaunt und unwissend verweilte, den Rücken gebeugt, die müde Hand aufs Knie gestützt, und mit der Rechten beschattete ich die gesenkten und geschlossenen Wimpern, und als ich mich mehrmals hin und her beugte, um zu sehen, ob ich dort etwas unterscheiden könne, verbot mir dies die große Dunkelheit, die darin war. Nach einer Zeit erwachte in mir plötzlich zweierlei: Furcht und Verlangen, Furcht vor der bedrohlich dunklen Höhle, Verlangen zu sehen, ob irgend ein wunderbares Ding darin wäre.1 Auch ohne im Text zu erfahren, ob Leonardo den Schritt ins metaphorische Dunkel gewagt hat, ist anzunehmen, dass seine eingangs nur durch Furcht und Verlangen bestimmte Haltung dort ihre Fortsetzung in einem zunehmend differenzierteren Spiel von Adaption und Formgebung gefunden hätte. Entgegenkommendes begegnet zunächst als bloße Möglichkeit einer Bestimmung. In seiner so verheißungsvollen wie mitunter bedrohlichen Offenheit gehört es zum beständig gegenwärtigen „Hintergrund des Nichtwissens”, dem man sich nicht mit bekannten Deutungsmustern, sondern nur ahnend nähern kann.2 Im Bemühen, „verschiedene und seltsame Formen“ darin auszumachen, artikulieren sich auch die Gebärden des Deutens, die vor dem Hintergrund eines jeweils mitgebrachten und probehalber preisgegebenen Wissens neue Bestimmungen hervorbringen. 1
2
Leonardo da Vinci: Codex Arundel [1478–1518], British Library, Arundel MS 263, AR 155r (Übersetzung der Autoren). Das gesamte Manuskript ist als Digitalisat zugänglich unter: http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=arundel_ms_ 263_f001r# (27. 10. 2015). S. den Beitrag von Wolfram Hogrebe in diesem Band.
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Out for a walk
2. Eine solche wechselseitige Konturierung lässt sich nicht von einem fixen Standpunkt aus, sondern nur in teilnehmend bewegter Beobachtung vollziehen – out for a walk. Allerdings bewahrt auch ein noch so entschiedener Aufbruch ins Unbekannte nicht unbedingt davor, in schon vorhandenen epistemologischen Gliederungen befangen zu bleiben. Als Marco Polo während seiner Indienreise auf Klein-Java (wie Sumatra auf mittelalterlichen Seekarten bezeichnet wurde) erstmals ein Nashorn sah, hatte er keinerlei Zweifel daran, was ihm da entgegenkam. Dem hervorstechendsten Merkmal des Tieres nach konnte es sich nur um ein Einhorn handeln. Zwar war es nicht annähernd weiß und um einiges plumper als in den herkömmlichen Schilderungen, doch ließ das charakteristische Horn gar keinen anderen Schluss zu:3
Auf Klein-Java leben viele wilde Elefanten und Einhörner, die kaum kleiner als Elefanten sind. Ihr Fell gleicht jenem der Büffel, und Füße haben sie wie Elefanten. Mitten aus der Stirn wächst das dicke schwarze Horn. Mit dem Horn verletzen sie niemanden, hingegen mit der Zunge, denn diese ist voll langer Stacheln […]. Das Einhorn hat einen Kopf wie ein wilder Eber und neigt ihn unverwandt bodenwärts. Mit Vorliebe hält es sich im Morast und im Schlamm auf. Zum Ansehen ist es ausgesprochen häßlich. Diese Tiere haben mit unsern Einhörnern gar nichts gemein, von denen man ja erzählt, sie ließen sich von Jungfrauen einfangen. Von diesen Tieren ist in allen Beziehungen das Gegenteil zu sagen.4 Die horngeschmückten Tiere weichen nicht nur graduell vom üblichen EinhornSchema ab, sie sind in vieler Hinsicht sogar konträr dazu. Dennoch wagt Marco keine Neudeutung, sondern entscheidet sich für die recht mutwillige Einordnung in eine bestehende Taxonomie, die für die Daheimgebliebenen um einige erstaunliche Charakteristika bereichert wird. In den Miniaturen der Ausgabe einer französischen Handschrift des Milione von circa 1400 ist das Einhorn zu einem (noch vertrauteren) Hirsch mit demonstrativ herausgestreckter Zunge geworden, während das Horn auf die Stirn eines der Menschenfresser gewandert ist, die laut Marco Polo auf der Insel ansässig waren. Einzelne Merkmale tauschen
3 4
S. hierzu auch Umberto Eco: Kant und das Schnabeltier, München 2003, S. 73f. Marco Polo: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard, Zürich 2008, S. 293f.
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Franz Engel & Sabine Marienberg
Bild 2 Unbekannter Illustrator: Einhorn und Menschenfresser auf Klein-Java, Il Milione, um 1400.
die Plätze, Bezüge verwirren sich und gleiten ins Phantastische ab, während man sich gleichzeitig weiterhin unbefangen geläufiger Formschemata bedient (Bild 2). Auch im wenig später von Johann Ohnefurcht in Auftrag gegebenen Buch der Wunder werden Marcos genaue Beobachtungen vernachlässigt und das Realität gewordene Fabelwesen erscheint in gewohnt feingliedriger Gestalt (Bild 3). Dass der unbekannte Illustrator den Text nicht eingehend genug studiert hat, ist unwahrscheinlich, ist dem Einhorn doch stets ein Elefant gleichsam als Referenzgröße beigesellt.5 Der Reisebegleiter Ferdinand Magellans und Chronist der ersten Weltumsegelung, Antonio Pigafetta, lässt sich auf der Insel Cimbombon, wo man zur Ausbesserung der Schiffe 42 Tage im Hafen lag, angesichts eines nie zuvor gesehenen Lebewesens immerhin auf eine Reihe von Experimenten ein. Unter dem Stichwort Lebende Bäume notiert er zwischen August und September 1521:
Ich begegnete hier seltsamen Bäumen, deren Blätter, wenn sie abgefallen sind, leben. Diese Blätter besitzen Ähnlichkeit mit denen des Maulbeerbaums und haben einen kurzen, spitzen Stiel und am unteren Ende an beiden Seiten Füße. Berührt man sie, laufen sie fort, zertritt man sie, 5
Ders.: Das Buch der Wunder. Aus: Le Livre du Monde [1404–1419], Ms. fr. 2810 der Bibliothèque Nationale de France, Paris, München 1999. Auf anderen Illustrationen im selben Band ist das Einhorn leuchtend weiß dargestellt (ebd., S. 126, S. 171).
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Out for a walk
Bild 3 Unbekannter Illustrator: Tierwelt auf Klein-Java, Le Livre du Monde, 1404–1419.
kommt kein Blut heraus. Ich bewahrte solch ein Blatt neun Tage lang in einer Schatulle auf. Wenn ich die Schatulle öffnete, spazierte das Blatt umher. Ich glaube, dass diese seltsamen Blätter von der Luft leben.6 Wenn Pigafetta auch nicht ahnt, dass es sich um heuschreckenartige Insekten handelt und durchgehend an seiner ursprünglichen Deutung festhält, so hat er doch den Begriff „Blatt“ nicht nur durch bloßen Augenschein erweitert (was im Fall des Nashorns vermutlich ratsam war), sondern ein vermeintliches Exemplar der Klasse der Blätter praktischen Erkundungen unterzogen. Er vollzieht so den Schritt vom distanzierten Beobachter zum auch körperlich involvierten Entdecker. Dennoch geht es auch hier nicht darum, die einmal vorgenommene Einordnung zu suspendieren und sich in einer grundlegend ungewissen Situation der Frage zu stellen, womit man es eigentlich zu tun hat – also nicht nur einem bestehenden Schema neue Aspekte hinzuzufügen, sondern das Problem der Klassifizierung und Klassifizierbarkeit selbst aufzuwerfen. Den sukzessiven Verlust sämtlicher Deutungskategorien hingegen erlebt der Protagonist der Erzählung There are More Things von Jorge Luis Borges: Ein junger Mann kurz vor dem Philosophieexamen gelangt während eines nächtlichen Unwetters durch die nur angelehnte Tür in das ehemalige Haus seines 6
Antonio Pigafetta: Mit Magellan um die Erde. Ein Augenzeugenbericht der ersten Weltumsegelung 1519–1522, hg. v. Robert Grün, Wiesbaden 2009, S. 195.
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Franz Engel & Sabine Marienberg
verstorbenen Onkels. Für den neuen Besitzer waren nach dem Verkauf einige verstörende Umbauten in Auftrag gegeben worden. Zu Gesicht bekommen hatte ihn niemand. Die Schilderung des Hauses bewegt sich konsequent jenseits des Verständlichen und enthält sich jeder ein Gesamtbild erlaubenden Detaillierung. Im Inneren herrscht schiere Mannigfaltigkeit – selbst die Anzahl der Gegenstände und ihre Abgrenzung untereinander ist ungewiss – und jeder Versuch einer Synthesis muss entweder scheitern oder ruft ein geradezu metaphysisches Entsetzen hervor. Auch Gestalt und Lebensweise des Bewohners anhand eines möglichen Gebrauchs des befremdlichen Mobiliars zu erschließen, gelingt nicht: Sonderbare Mulden und Leitern mit unregelmäßigen Abständen zwischen den Sprossen lassen allenfalls einen monströsen Körper erahnen, der dem menschlichen nicht gleicht. Zwischen Abscheu und Ungeduld bewegt sich der Eindringling auf ein Unfassliches hin, dem er sich, als der Bewohner unerwartet zurückkehrt, mit dem letzten Satz der Erzählung ungeschützt stellt: „Meine Füße berührten die vorletzte Sprosse der Treppe, als ich das Gefühl hatte, daß etwas die Rampe emporkam, beklemmend und langsam und mehrzählig. Die Neugier war stärker als die Angst, und ich schloß die Augen nicht.“7
3. Eine rückhaltlos ahnende Annäherung ans Entgegenkommende ist grundsätzlich nicht risikofrei und lässt denjenigen, der sie unternimmt, nicht unverändert. Von eben solchen Annäherungen handeln die hier versammelten Beiträge aus Philosophie, Archäologie, Kulturanthropologie, Kunstgeschichte, Sprach- und Musikwissenschaft. Die äußerliche Diversität der Gegenstände täuscht darüber hinweg, dass sie eines gemeinsam haben: Sie sind von Menschen gemacht; dabei lassen sich hier drei Arten von Gegenständen unterscheiden: objekthafte (Artefakte, Kunstwerke), soziale (gemeinsame Praxis, Sprache) und ideelle (Theorien und philosophische Positionen). Aus zeitlicher und kultureller Distanz kommen diese dem Betrachter – als vorgefundene und nicht selbst erzeugte – gewissermaßen naturhaft entgegen. Dieser Präsenz des entgegenkommenden Denkens dadurch auszuweichen, dass man seinen funktionalen oder ästhetischen, praktischen oder theoretischen Sinn allein durch die Rekonstruktion geschichtlicher Voraussetzungen erschließen zu können glaubt, hieße, sein gegenwärtig schöpferisches Potential zu verkennen. Den geformten Gegenständen wohnt eine 7
Jorge Luis Borges: There are More Things [1977], in: Werke in 20 Bänden, Bd. 13: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970–1983, München 1993, S. 129–136, S. 136. Im Titel klingt eine Passage aus Hamlet an, in der Hamlet dem vom umgehenden Geist des Königs verwirrten Horatio entgegnet: „And therefore as a stranger give it welcome. There are more things in heaven and in earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy.“ William Shakespeare: Hamlet I/5.
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Out for a walk
widerständige Kraft inne, die ihren Deutungsrahmen für den Menschen be schränkt. Als unverfügbares Teilmoment der Gegenwart fordern sie eine Haltung, die die Grenzen der Deutungshoheit zu erkunden und anzuerkennen bereit ist, im Sinne eines handelnden Ausprobierens, das gelingen mag oder auch nicht. Umberto Eco hat dies jüngst mit dem Beispiel veranschaulicht, dass es – so sehr wir auch wollten – unmöglich ist, einen Tisch so zu deuten, dass man auf ihm zwischen Turin und Agognate auf der Autobahn in Richtung Mailand radeln könne.8 Skepsis gegenüber den eigenen Deutungen ist auch im Umgang mit geisteswissenschaftlichen Gegenständen angebracht. Ein Artefakt, ein Werk, eine gesellschaftliche Konstellation, eine Theorie: Was entgegenkommt, hat einen bestimmenden Charakter, den wir nicht in eigenmächtigen Interpretationen zum Verschwinden bringen können. Durch bewusstes Einklammern (oder, wie bei Borges, durch den schrittweisen Verlust) bestehender kategorialer Formungen kann man es zwar nicht im Sinne einer ursprünglichen Unmittelbarkeit erreichen, aber doch als den immer wieder aufzusuchenden Anfang eines Verstehensprozesses begreifen, der der Widerständigkeit geformter Objekte Rechnung trägt. Philosophisch gerät damit jede Position unter Rechtfertigungsdruck, die Tatsachen als bloße Konstrukte unserer Theorien und Methoden betrachtet. Wolfram Hogrebe hat zu dieser Auffassung eine griffige Gegenformel gefunden: „Geist ist außen, bricht aber innen durch.“9 In seinem Beitrag entdeckt Hogrebe in den Schriften Gottlob Freges grundlegende Überlegungen zu einem entgegenkommenden Verstehen, das der begrifflichen Erkenntnis vorausgehen muss. Aus „was ist Erkenntnis?“ wird so „was ist vor der Erkenntnis?“ Entgegenkommendes Denken ist immer auch ein körperliches. Die Philosophie der Verkörperung wählt in der Regel in ihren vier Ausformungen, dem so genannten 4-E-Ansatz (extended, embedded, embodied, enactive) das denkende Subjekt als Ausgangspunkt.10 Die Frage in der gegenwärtigen Diskussion ist gewöhnlich, welche Rolle unser Körper und sein Umweltverhältnis für das Denken spielen.11 Im vorliegenden Unternehmen ist Ausgangspunkt ein verkör 8 9 10
11
Umberto Eco: Gesten der Zurückweisung. Über den Neuen Realismus, in: Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014, S. 33–51, S. 37f. Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009, S. 17. Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild: Einleitung, in: dies. (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013, S. 9–102, S. 64f. Zur Kritik der Theorie des Extended Mind s. a. Horst Bredekamp: „Sie begreift den Körper und die Mittel des Denkens im Prinzip weiterhin als Extensionen eines zerebralzentristisch zu denkenden Kerns, und damit leidet sie an dem Kurzschluss, dem sie sich zu entziehen sucht.“ Ders.: Der Bildakt, Berlin 2015, S. 18.
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Franz Engel & Sabine Marienberg
pertes Denken, das uns widerfährt und in einem prinzipiell offenen Dialog zur Anspannung und Schärfung unserer Erkenntnismittel zwingt. Auch die Tagung war in diesem Sinne dialogisch angelegt. Die Vortragenden der Berliner Forschergruppe wählten jeweils einen Gast zum Austausch über einen Gegenstand: Sascha Freyberg lud Robert E. Innis ein, den Beitrag der amerikanischen Prozessphilosophie zum Denken in Objekten zu erörtern. Marion Lauschke wählte Michael Kimmel als philosophierenden Tanzpartner, um der Frage nach spontan oder reflektiert gelingender Interaktion der Partner im Tango nachzugehen. Horst Bredekamp fand in Harald Floss nicht nur den wohl besten Kenner prähistorischer Steinartefakte, sondern auch einen produktiven, weil skeptischen Counterpart bezüglich der Frage nach der Bedeutung des Faustkeils für die Entwicklung des menschlichen Geistes. Um die Anfänge des Denkens geht es auch in Jürgen Trabants und Tilman Borsches Dialog über das vernehmende Verstehen in Herders Sprachursprungsszenario. Sabine Marienbergs Frage nach dem Verhältnis von Lautbewegung und Zeichenhaftigkeit in der Poesie stellt Ulrich Mosch in analoger Weise für das Dirigieren: Wann wird eine Geste zur bedeutsamen Handlungsanweisung und wann ist sie Ausdruck des passiven Mitgerissenseins der sie beherrschenden Musik? Die abschließenden Beiträge setzen sich mit der Theorie des Bildakts auseinander: Pablo Schneider fragt nach dem moralischen Impetus frühneuzeitlicher Bildkunst, während sich Elisabeth Oy-Marra jene Bilder vornimmt, in denen der Betrachter nicht nur moralisch, sondern tatsächlich von den innerbildlichen Figuren unter Beschuss genommen wird. Spielen hier die inhaltlichen Komponenten zur Konstitution von Bildaktivität die entscheidende Rolle, so untersucht der Dialog von Yannis Hadjinicolaou und Nicola Suthor die Rolle von Farbauftrag und Linienzug für den Bildakt als Formakt.
Wolfram Hogrebe
F rege als T heoretiker eines entgegenkommenden V erstehens
Philosophen, die Systeme der Logik analysieren, und solche, die wissenschaftsgeschichtlich interessiert sind, werden Frege als bedeutenden Vertreter des logizistischen Grundlegungsprogramms der Mathematik aufsuchen und präsen tieren.1 Diejenigen, die sprachphilosophisch interessiert sind, werden Freges Semantik und ihre Probleme in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellen. Wer vor allem ontologischen Fragen nachgeht, wird Frege als Theoretiker der drei Reiche vorstellen, und wer den Ursprüngen einer bestimmten Art zu philo sophieren im 20. Jahrhundert nachgeht, wird zu Frege als einem Ahnherren analytischen Denkens geführt. Dass Freges Werk so viele Zugangsmöglichkeiten bietet, mag als Fingerzeig dafür gewertet werden, dass man es hier mit einem Klassiker der Philosophie zu tun hat. Dafür spricht zudem der kontingente Umstand, dass Frege inzwischen wie andere Klassiker der Philosophie auch von einem Versäulungsprozess erfasst wurde. Seine Bronze-Büste ist im Philosophischen Seminar in Jena seit dem 5. September 1998 neben den Portraits von Fichte, Schelling, Hegel und Fries zu besichtigen, in gleicher Formation, ohne Fries allerdings, seit dem 15. 12. 2000 auch im Philosophischen Seminar der Universität Bonn (Bild 1). Frege ist als philosophischer Olympier überall als ein Denker anerkannt, dessen Gedankenreichtum weit davon entfernt ist, ausgeschöpft zu sein. So gibt es immer noch Bestandsstücke seines Denkens, die entdeckt sein wollen und unsere systematischen Interessen auch heute noch befruchten können. Viele solcher Bestandsstücke verdanken sich dem, was ich die Drift von Freges Denkentwicklung nennen möchte. Frege begann als Mathematiker und ging hier, wie man etwas salopp sagen könnte, „aufs Ganze“, indem er, wie er noch in seinem letzten Lebensjahr 1
Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung von: Frege als Hermeneut, in: Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, S. 67–84.
2
Wolfram Hogrebe
rückblickend schrieb, die Frage zu beantworten unternahm, „was man unter Zahlen und unter Arithmetik zu verstehen habe“.2 Kurz: „Von der Mathematik ging ich aus. In dieser Wissenschaft schien mir die dringlichste Aufgabe in einer besseren Grundlegung zu bestehen.“3 Um diese Grundlegung in Angriff zu nehmen, benötigte Frege wegen der „logischen Unvollkommenheit der Sprache“ notgedrungen das Instrument der Begriffsschrift: „So kam ich von der Mathematik zur Logik.“4 Die Drift in Freges Gedankenentwicklung gibt sich jetzt so zu erkennen, dass man dieses Schema einfach fortschreibt: Auch in der Logik ging Frege „aufs Ganze“ und wurde notgedrungen zum Semantiker und Sprachphilosophen. Auch hier ging er schließlich „aufs Ganze“ und wurde so notgedrungen sogar zum Hermeneuten. Als solcher ist er der Forschung natürlich nicht völlig entgangen,5 aber doch noch in subtilen Filiationen zu entdecken. So gibt es immer noch Areale vor allem seines späten Denkens, die es verdienen, für unsere Zeit fruchtbar gemacht zu werden. Dazu gehört erstens Frege als Theoretiker des Absurden, zweitens Frege als Theoretiker der Ahnung und drittens Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens. Ich beginne rekurrent mit letzterem. Frege konnte sehr witzig schreiben, in der Regel aber nur, wenn er polemisch wurde. Im Genre der Polemik war Frege jedenfalls ein Meister und es ist bedauerlich, dass es hierüber noch keine Studie gibt. Ein Beispiel für Freges 2
3 4 5
Gottlob Frege: Zahlen und Arithmetik [1924/25], in: Nachgelassene Schriften und wissenschaftlicher Briefwechsel, hg. v. Hans Hermes/Friedrich Kambartel/Friedrich Kaulbach, Bd. 1, Hamburg 1969, S. 295. Ders.: Aufzeichnungen für Ludwig Darmstaedter [1919], in: Nachgelassene Schrif ten (wie Anm. 2), S. 273–277, S. 273. Ebd. Insbesondere Gottfried Gabriel, einer der Herausgeber von Freges Schriften, hat als erster auf Freges Beiträge zur Ästhetik und seine Bedeutung für eine Theorie nicht-propositionaler Wissensformen hingewiesen; vgl. für unser Thema: Gottfried Gabriel: G. Frege über semantische Eigenschaften der Dichtung, in: Linguistische Berichte 8 (1970), S. 10–17; ferner ders.: Freges verborgene Erkenntnistheorie, in: Volker Gerhardt/Norbert Herold (Hg.): Perspektiven des Perspektivismus. Gedenkschrift für Friedrich Kaulbach, Würzburg 1992, S. 93–111. Angeregt durch diese Forschungen und ihnen thematisch eng folgend s. a. Christiane Schildknecht: Sense and Self. Perspectives on Nonpropositionality, Paderborn 2002. Seit 1978 habe ich in diese nicht-propositionale Dimension des Erkennens mit Rückgriffen auf die Deutungstradition der Mantik hineingedacht: Wolfram Hogrebe: Metaphysik und Mantik, Frankfurt/M. 1992; ders.: Ahnung und Erkenntnis, Frankfurt/M. 1996. Vgl. ferner die Arbeiten meiner Mitarbeiter: Carsten Klein: Kategoriale Unter scheidungen als Grenzbereich des Propositionalen, Bonn 2000; Joachim Bromand: Philosophie der semantischen Paradoxien, Paderborn 2001, sowie ders.: „Wovon man nicht sprechen kann, …“, Bonn 2001; Guido Kreis: Was ist unmittelbare Erfahrung?, in: Wolfram Hogrebe (Hg.): Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur, Würzburg 2005, S. 37–55.
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Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens
Bild 1 Gottlob Frege (1848–1925), Bronze von Karl-Heinz Appelt, Bonn.
polemische Meisterschaft ist unter anderem sicher auch seine Auseinandersetzung mit Alwin Korselt6 unter dem Titel Über die Grundlagen der Geometrie von 1906.7 Zunächst zeigt sich Frege erfreut, dass Korselt in einigen Punkten, zum Beispiel mit Ausdrücken wie „Wahrheitswert“, „das Wahre“ und „das Falsche“, seine, Freges, Terminologie übernimmt. Dann aber geht es zur Sache, insbesondere in Sachen Definition und Axiom. Hier vermisst Frege bei Korselt, der Hilbert verteidigt, einen eindeutigen Wortgebrauch. Frege destilliert allein fünf verschiedene Auffassungsweisen der Axiome bei Korselt heraus, in die sogar Elemente der formalen Theorie der Arithmetik etwa von Johannes Thomae eingeschmuggelt seien. Über die Beziehungen dieser Auffassungen untereinander schwebe zudem ein „geheimnisvolles Dunkel“. 6
7
Vgl. hierzu Lothar Kreiser: Die Hörer Freges und sein Briefpartner Alwin Korselt, in: Wittgenstein Studies, Diskette 1 (1995), Datei 24-1-95.txt; s. den nicht redi gierten Text unter: http://sammelpunkt.philo.at:8080/448/ (09. 09. 2015). Gottlob Frege: Über die Grundlagen der Geometrie [1906], in: Kleine Schriften, hg. v. Ignacio Angelelli, Darmstadt 1967, S. 281–323.
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Wolfram Hogrebe
Und jetzt bricht es mit Fichte’scher Rigorosität aus Frege heraus: „Klarheit! Klar heit! Klarheit! Meint Herr Korselt, daß es ein Vergnügen sei, sich von ihm durch diese verworrenen Dickichte führen zu lassen?“8 Mit diesem Ausbruch ist Freges polemisches Feuer aber noch keineswegs erloschen. Jetzt legt er erst richtig los, um Hilbert und Korselt gemeinsam zu karikieren: Herr Hilbert hackt Definition und Axiom beide ganz fein, mengt sie sorgfältig durcheinander und macht eine Wurst daraus. Herrn Korselt genügt diese Mischung nicht; er hackt auch noch die Thomaeschen Regeln über den Gebrauch der Zeichen klein, gibt eine Messerspitze meines Andeutens dazu und fügt aus eignen Mitteln die Beschreibung der Art hinzu, wie sich Erfahrungsgegenstände verbinden lassen, mengt alles gut durcheinander und macht eine Wurst daraus. An Mannigfaltigkeit der Zutaten fehlt es wenigstens nicht, und ich zweifele nicht, daß für den Liebhaber etwas Gutes herauskommt.9 Um noch eins drauf zu setzen, bietet Frege ein nach dieser Rezeptur komponiertes Beispiel, vor allem, um wieder Hilbert zu karikieren: „Jedes Anej bazet wenigstens zwei Ellah.“ „Wie kann jemand solchen haarsträubenden Unsinn schreiben! Was ist ein Anej? Was ist ein Ellah?“ So höre ich mit Entrüstung fragen. Bitte sehr! Das ist ein Axiom, nicht von der alten Euklidischen, sondern von der modernen Art. Es definiert den Begriff Anej. Was ein Anej sei, ist eine ganz ungehörige Frage. […] Wenn man keinen Gedanken in diesem Axiome findet, so schadet das nichts. Der Satz will gar keine Beschreibung bekannter Tatsachen sein, er deutet solche höchstens an, und zwar sehr fein, z.B. die bekannte Erfahrungstatsache, daß jede Wurst wenigstens zwei Enden hat […].10 Mit seiner Forderung nach definitorischer Eindeutigkeit verbindet Frege nicht zusätzlich die Forderung, dass alles definiert werden muss, ja er gesteht bekanntlich zu, dass es definitorische Grenzen gibt, und zwar genau da, wo man es mit einfachen Begriffen zu tun hat, die von einer Begriffschemie nicht zerlegt oder 8
9 10
Ebd., S. 285. In Fichtes Kritik an Rousseau heißt es einmal: „Hinstehen und klagen über das Verderben der Menschen, […] ist weibisch […] Handeln! Handeln! Das ist es, wozu wir da sind.“ Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten [1794], in: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I.3, hg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob, Stuttgart 1966, S. 67. Frege: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 285. Ebd.
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Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens
synthetisiert werden können. Denn, wie Frege sagt: „Die geistigen Tätigkeiten, die zur Aufstellung einer Definition führen, können doppelter Art sein; zerlegend oder aufbauend, ähnlich der Tätigkeit des Chemikers, der entweder einen gegebenen Stoff in seine Elemente zerlegt, oder gegebene Elemente sich zu einem neuen Stoff verbinden läßt. In beiden Fällen erfährt man die Zusammensetzung eines Stoffes.“11 Wo also eine solche Zusammensetzung von Elementen nicht möglich ist, ist auch keine Definition möglich: „Wir müssen logische Urelemente anerkennen, die nicht definierbar sind.“12 Zu solchen Urelementen gehören Frege zufolge leider so wichtige Terme wie ‚wahr’, ‚gut’, ‚schön’, aber auch ‚Punkt’ und ‚Funktion’. Sie alle sind Frege zufolge nicht definierbar, da nicht in Elemente zerlegbar, sie sind eben elementar. Gerade deshalb entsteht hier das Problem, wie wir solche Urelemente überhaupt verstehen können, wie wir uns mit ihnen verständigen können, wie wir anderen ihre Bedeutung vermitteln können. Frege stellt sich diesem Problem und an genau dieser Stelle wird er zum Hermeneutiker. Übrigens nicht zu seiner Freude, im Gegenteil: Wie die Gelenke unseres Driftschemas es bezeichneten, wurde er notgedrungen zum Hermeneutiker und versäumte nicht, sogleich auch Maßnahmen zur Schadensbegrenzung zu ergreifen. Zunächst stellt sich für Frege also das sachliche Problem, wie ein Benehmen über die Bedeutung nicht definierbarer Terme hergestellt werden kann. Ein „Einverständnis über das logisch Zusammengesetzte“ ist „durch Definition[en] leicht erreichbar. Da bei den Urelementen diese nicht möglich sind, muss hier etwas anderes eintreten; ich nenne es Erläuterung.“13 Solche Erläuterungen von Wortbedeutungen werden mit Hilfe von Beispielen gegeben, die in der Regel „der Gebrauchsweise“14 von Wörtern folgen, wie Frege à la Wittgenstein sagt,15 und er ergänzt: Auch „ohne eine Bildlichkeit des Ausdruckes wird oft nicht auszukommen sein“.16 Bilder helfen uns da weiter, wo unsere definitorische Kompetenz am Ende ist.
11 12 13 14
15
16
Ebd., S. 290. Ebd., S. 288. Ebd. Gottlob Frege: Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften [1924/25], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 286– 294, S. 290. Hans Sluga: Gottlob Frege, London 1999, S. 185f., vermutet sogar, dass Wittgenstein durch Freges Kontextprinzip zu seinem Sprachspielkonzept inspiriert worden sei: „Frege’s context principle has been transformed into the claim that the study of language must itself be seen as part of the study of human practices.“ Frege: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288.
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Trotzdem können Erläuterungen oder Bilder ein Verstehen nicht erzwingen. Sie werden, wie im letzten Jahrhundert in der Erlanger Schule gesagt wurde, nur einen protreptischen Status haben, sie dienen dazu, wie auch Frege wörtlich sagt, „auf das Gemeinte hinzuführen“.17 Auch Frege betont, dass „der Zweck der Erläuterungen […] ein praktischer ist“, sie dienen zum Beispiel „den Zwecken der Verständigung der Forscher untereinander und der Mitteilung der Wissenschaft“.18 Insofern gehören solche Erläuterungen, und das ist jetzt Freges hermeneutische Schadensbegrenzung, nicht eigentlich ins „System der Wissenschaft“,19 sie gehen „dem Aufbau des Systems voraus“.20 Man kann sie daher, so Frege, „einer Propädeutik zuweisen“.21 Frege braucht also Erläuterungen und Bilder, um das Verständnis elementarer Terme der Wissenschaften aufzubauen, aber er siedelt sie außerhalb der Wissenschaft an. Das auch deshalb, weil eine Erläuterung ihr Ziel, die Vermittlung eines Bedeutungsverstehens, nur „praktisch“ erreicht. Denn man kann natürlich nicht ausschließen, dass wir in unseren Erläuterungen „wieder Wörter der Sprache gebrauchen, die vielleicht ähnliche Mängel zeigen, wie die sind, denen die Erläuterung abhelfen sollte. So scheinen denn wieder neue Erläuterungen nötig zu werden. Theoretisch betrachtet kommt man so eigentlich nie ans Ziel; praktisch gelingt es doch, sich über die Bedeutung der Wörter zu verständigen.“22 Der Preis ist allerdings hoch. Darüber macht sich auch Frege als sensibler Hermeneut, der er hier wirklich ist, keine Illusionen. Auf Seiten derer, denen solche protreptischen Erläuterungen gegeben werden, muss man mit „etwas gutem Willen, auf entgegenkommendes Verständnis, auf Erraten“23 rechnen können. Aber auch auf Seiten desjenigen, der solche Erläuterungen gibt, sind gewissermaßen explikative Tugenden erforderlich. Erstens kann man von ihm, trotz gap of definitions, verlangen, „daß er selbst bestimmt wisse, was er meine“, ferner muss er „mit sich selbst im Einklang“ bleiben und schließlich muss er, „wenn sich die Möglichkeit eines Mißverstehens auch bei gutem Willen ergibt“, bereit sein, „seine Erläuterungen zu vervollständigen und zu verbessern“.24 Diese hermeneutischen Überlegungen Freges zu den Gelingensbedingungen von Erläuterungen sind in der Literatur mit Quines Principle of Chari17 18 19 20 21 22 23 24
Gottlob Frege: Logik in der Mathematik [1914], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 219–270, S. 254. Ders.: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288. Ebd. Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 224. Frege: Über die Grundlagen der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288. Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 224. Frege: Über die Grundlagen in der Geometrie (wie Anm. 7), S. 288. Vgl. hierzu gleichsinnig Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 224. Ebd.
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ty25 in Verbindung gebracht worden.26 Das ist zweifellos ein fruchtbarer Vergleich. Aber an Freges Text lässt sich zeigen, dass ihm mehr vor Augen schwebte als ein Nachsichtigkeitsprinzip, ein Vorgriff auf Vollkommenheit (Gadamer) oder ein principle of optimality (Dennett). Das wird vor allem in dem späten Text Freges Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften (1924/25) sehr schön deutlich. Hier resümiert Frege zunächst: „Nicht alles kann nämlich definiert werden, sondern nur, was begrifflich zerlegt worden ist, kann aus den durch die Zerlegung gewonnenen Teilen wieder zusammengesetzt werden. Was aber einfach ist, kann nicht zerlegt und also nicht definiert werden. Wenn man es doch versucht, kommt Unsinn heraus.“27 Es gibt für Frege also so etwas wie definitorische Schranken, sprachliche Ausdrucksschranken, die aber, was hier wichtig ist, nicht zugleich auch Verstehensschranken sind. Unser Verstehen und unser Bedeutungswissen reichen auch bei Frege offenbar weiter als unsere definitorische Kompetenz. Das ist sachlich insofern nachvollziehbar, als wir uns bei Definitionsversuchen schwieriger Terme häufig in Verlegenheit befinden, obwohl wir prägnant zu wissen glauben, worin die Bedeutung des fraglichen Wortes besteht. Wir bedienen uns in der alltäglichen Verständigungspraxis problemlos gewisser Terme und werden auch verstanden. Trotzdem können wir ihre Bedeutung auf Nachfrage nur unter Mühen erläutern. Wer zum Beispiel versuchen würde, so alltägliche Ausdrücke wie ‚zärtlich’, ‚sanft’, ‚behutsam’, ‚sorgfältig’, aber auch ‚elegant’ oder ‚tollpatschig’, ‚humorvoll’ oder ‚humorlos’ zu erläutern, wird um Beispiele, Beispielszenen und Bilder nicht herumkommen und wird dennoch – das hat Frege als Hermeneut richtig gesehen – auf ein entgegenkommendes Verständnis rechnen müssen. Frege vergleicht diese Situation auch dem Spracherwerb von Kindern, die in die Phase des Bedeutungsverstehens ja erst hineinwachsen. „Wie lernt das Kind“, fragt Frege, „die Erwachsenen verstehen?“28 Wenn man mit Quine bereits Schwierigkeiten bekommt, wenn man sich in Situationen begibt, in denen radikale Übersetzungen vonnöten sind, das heißt solche, die sich nicht auf bereits vorhandene Lexika stützen können,29 so ist die Situation beim kindlichen Spracherwerb noch wesentlich radikaler. In Quines 25
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27 28 29
Vgl. Willard Van Orman Quine: Word and Object, Cambridge, MA, 1960, § 13 u. § 15. Ferner: Donald Davidson: Truth and Interpretation, Oxford 1984, S. 136, 168, 196 et passim. Zur Geschichte vgl. Oliver Scholz: Die allgemeine Hermeneutik bei Georg Friedrich Meier, in: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik, Frankfurt/M. 1994, S. 158–191. Meines Wissens zuerst von Werner Stelzner: Selbstbeschreibung und Identität, in: Wolfram Hogrebe (Hg.): Fichtes Wissenschaftslehre 1794, Frankfurt/M. 1995, S. 117. Frege: Erkenntnisquellen der Mathematik (wie Anm. 14), S. 290. Ebd. Quine: Word and Object (wie Anm. 25), § 7.
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Situation der radikalen Übersetzung verfügen wir ja immerhin noch über einen kompetenten Sprecher, der sich die ihm völlig unbekannte Sprache erschließen will. Ein Kleinkind ist in diesem Sinne noch kein kompetenter Sprecher und muss doch eine beliebige, völlig unbekannte Sprache erlernen. Hier liegt, wie man analog zu Quine sagen möchte, die Situation eines radikalen Verstehens vor, die wir alle als Infanten erfolgreich gemeistert haben. Auch Frege stellt sich mit seiner Frage „Wie lernt das Kind die Erwachsenen verstehen?“ der Situation eines radikalen Verstehens. Denn, wie er ausführt, lernen Kinder dieses Verstehen nicht so, „dass sie das Verständnis weniger Wörter und grammatischer Verbindungen schon mitbringen, sodass man nur nötig hat, mit Hilfe dieser schon vorhandenen sprachlichen Kenntnisse ihnen das Unbekannte zu erklären“.30 Nein, so liegen die Dinge natürlich nicht, denn: „In Wirklichkeit bringen die Kinder ja nur eine sprachliche Anlage mit.“31 Wie also kann mit dieser Anlage allein in der Standardsituation radikalen Verstehens der Prozess des Sprachverstehens überhaupt gestartet werden? Wir bewegen uns hier mit Frege klarerweise in vorsprachlichen Zonen und sollten doch erläutern können, wie sich von hier aus das Erlernen einer Sprache ohne selber sprechen zu können aufbaut. Hiergegen ist die Situation der radikalen Übersetzung Quines geradezu harmlos. Auch an dieser schlüpfrigen Stelle weicht Frege aber nicht aus, bleibt indes in der ihm eigenen Art sehr vorsichtig und bietet doch interessante Fingerzeige. Auf die Frage also, wie Infanten sprachlos in den Spracherwerb überhaupt eintreten können, antwortet Frege anfänglich mit dem uns aus anderen Kontexten schon vertrauten, aber hier dann noch überraschend komplettierten Hinweis: „Man muss bei ihnen mit einem entgegenkommenden Verständnis rechnen können, ebenso wie bei den Tieren, die mit dem Menschen zu einem gegenseitigen Verstehen gelangen können.“32 Kinder und Tiere verfügen also, so Frege, womit man wenigstens rechnen können muss, über ein entgegenkommendes Verstehen, um in ein reziprokes Verstehen überhaupt eintreten zu können. Dieses reziproke Verstehen ist immer noch nichtsprachlicher Art, wie das gegenseitige Verstehen zwischen Tier und Mensch, auf das Frege sich hier bezieht, deutlich macht. An dieser Stelle wird jedenfalls auch sehr klar, dass Freges These von einem entgegenkommenden Verstehen sehr viel mehr besagt als das Principle of Charity als kommunikative Tugend. Über ein entgegenkommendes Verstehen verfügen Frege zufolge ja auch schon Lebewesen, die entweder noch nicht, wie Infanten, oder prinzipiell nicht sprechen können, wie Tiere. 30 31 32
Frege: Erkenntnisquellen der Mathematik (wie Anm. 14), S. 290. Ebd. Ebd.
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Frege dachte bei Tieren übrigens nicht an Amöben, Termiten oder Quallen, sondern an solche, die mit Menschen in einem Sozialverbund leben können, aber auch nicht an Fliegen, Mücken, Spinnen oder Kakerlaken, sondern vorzugsweise an Hunde. So unterhielt er zu seinem eigenen Hund ein sehr vertrautes Verhältnis. Über solche Details in Freges Leben sind wir – wie so oft – von Lothar Kreiser unterrichtet. Noch in seinen letzten Jahren mochte sich Frege von seinem Hund nicht trennen. So besuchte er von Bad Kleinen aus gelegentlich Verwandte: „Mußte er bei solchen Besuchen die Eisenbahn benutzen, saß er in der 3. Klasse unter lärmenden Marktfrauen, nur um sich nicht von seinem Hund trennen zu müssen.“33 Freges Auffassung eines entgegenkommenden Verstehens ist also sehr tief verankert und liegt offenbar in nicht näher analysierter Weise den Anfängen eines sozialsemantischen Selbstaufbaus des Geistes zugrunde, was immer das heißen mag. Man kann, Frege folgend, zumindest drei Leistungen mit dieser Verstehensart verbinden: erstens das gegenseitige Verstehen zwischen Tier und Mensch, zweitens den kindlichen Spracherwerb und drittens das Verstehen von Erläuterungen im vorwissenschaftlichen Bereich. Die ersten beiden Leistungen hat Frege nicht weiter analysiert oder kommentiert. Das Verstehen von Erläuterungen allerdings führt Frege in subtiler Form noch weiter, indem er gelegentlich auf eine Form des Verstehens zu sprechen kommt, die als eine erste, aber noch extrem schwache Form des Bedeutungsverstehens anzusprechen ist, die wir aber dennoch dringend brauchen. An dieser Stelle vollziehen wir den Übergang zu Frege als passagerem Theoretiker des Ahnens. Zunächst stoßen wir wieder auf die schon bekannten Definitionsschranken. Es kann leider auch das Wort ‚Funktion’, so Frege, nicht definiert werden. Ersatzweise bietet er Erläuterungen an, die in „die Gebrauchsweise von Funktionsbezeichnungen“34 einführen, um einem entgegenkommenden Verstehen auf die Sprünge zu helfen. Das Ziel solcher Erläuterungen ist die Herstellung einer „hinreichenden Deutlichkeit“. So beschließt Frege seine exemplarischen Ausführungen zur Gebrauchsweise von Funktionsbezeichnungen mit dem Satz: „[A]uch so wird es hinreichend deutlich sein, was ich meine, und man wird wenigstens ahnen können, welche Wichtigkeit die Einführung der Funktion in die mathematische Betrachtung und die der Funktionszeichen und Funktionsbuchstaben in die mathematische Zeichensprache hat.“35
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Vgl. hierzu Lothar Kreisers Rezension der Edition von Freges Nachgelassenen Schriften (wie Anm. 2), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 21 (1973), S. 519– 524, S. 523. Frege: Erkenntnisquellen in Mathematik (wie Anm. 14), S. 290. Ebd., S. 292.
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Dieses Ahnen ist in Freges Sprachgebrauch so etwas wie eine erste Verfestigungsform eines entgegenkommenden Verstehens, eine erste, wenngleich noch fragile, aber doch schon positive Form eines erratenden Verstehens. Mantik fundiert Semantik. Von einem solchen Ahnen macht Frege als Analytiker semantischer Verhältnisse auch selbst Gebrauch. So hält er Mathematikern, die sich bloß mit ihren Formeln begnügen, entgegen: „Hat man nicht doch im tiefsten Inneren eine Ahnung, dass der Gedankeninhalt die Hauptsache, ja eigentlich das ist, worauf es allein ankommt?“36 Ein Rückgriff auf Ahnungen als erste Verfestigungsform unserer verstehenden Bemühungen macht es Frege auch möglich, mit einem Phänomen nachsichtig umzugehen, das ich als semantische Dissonanz bezeichnen möchte. Eine solche liegt vor, wenn ein Wortgebrauch einem entgegenkommenden Verstehen signalisiert, dass der Sprecher wohl ahnt, was die korrekte Bedeutung eines Wortes ist, dass er dieser Ahnung in seinen Explikationen jedoch nicht immer entspricht. So billigt Frege zum Beispiel Weierstrass zwar zu, dass er wohl erfasst hat, was eine Zahl ist, dass er dem aber explikativ nicht treu bleibt: „Weierstrass hat eine richtige Ahnung von dem, was Zahl ist, und aus dieser richtigen Ahnung heraus verbessert und ergänzt er immer das, was aus seinen kundgegebenen Definitionen eigentlich folgen müßte. Er bewegt sich dabei in Widersprüchen und gelangt doch zu wahren Gedanken.“37 Die semantische Dissonanz – auch bei Mathematikern – besteht hier zwischen dem, was sie, wie Frege sagt, „für ihre Meinung ausgeben“ und dem, „was ihre Meinung ist. Wir haben das bei Weierstrass gesehen, bei dem wir eine Ahnung vom Richtigen voraussetzen mußten, im Widerspruch zu seinen eigenen Worten.“38 Frege spricht hier geradezu von einem Krankheitsbild von Mathematikern, das solche semantischen Dissonanzen erzeugt, er spricht von einem morbus mathematicorum, dessen „Hauptsymptome in dem Unvermögen bestehen, zwischen Zeichen und dem Bezeichneten zu unterscheiden“.39 Aber dieser Schritt in eine Wissenschaftspathologie soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Die wichtigste Funktion, für die Frege die Ahnung in Anspruch nimmt, ist zweifellos darin gegeben, dass sie uns ein vorläufiges Verstehen auch da schon sichert, wo Definitionen fehlen und nur Erläuterungen möglich sind. Wie schon gesagt: Mantik fundiert Semantik.
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Frege: Logik in der Mathematik (wie Anm. 17), S. 234. Ebd., S. 240. Ebd., S. 241 (Herv. v. Verf.). Ebd.
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Wer sich zum Beispiel den philosophischen Disziplinen der Logik, Ethik und Ästhetik zuwendet, möchte gern wissen, womit es diese Wissenschaften zu tun haben. Ein volles Verständnis wird sich gewiss erst nach einiger Beschäftigung einstellen, aber es ist nicht vermessen, vorab schon wenigstens ungefähr zu erfahren, was einen erwartet. „Beim Eintritt in eine Wissenschaft“, so Frege, „hat man das Bedürfnis, vorläufig wenigstens eine Ahnung von ihrem Wesen zu erlangen. Man wünscht ein Ziel zu sehen, dem man zustreben wird, einen Zielpunkt aufzustellen, der die Richtung gibt, in der man fortschreiten will.“40 Das hier ins Auge gefasste Zielpunktvokabular für Logik, Ethik und Ästhetik ist Frege zufolge mit den Worten ‚wahr’, ‚gut’ und ‚schön’ gegeben, aber keiner dieser Terme ist definierbar und doch verstehen wir sie ansatzweise. Hier hat also die Ahnung ihr Recht und wenn wir ehrlich sind, wird ein ahnender Anteil unserem Bedeutungsverstehen auch dann erhalten bleiben, wenn wir uns begrifflich ins Klare vorgearbeitet haben. Normalerweise fassen wir ein Zielpunktvokabular mittels abstrakter singulärer Termini und sprechen dann von dem Wahren, Guten, Schönen, aber auch von der Gerechtigkeit, der Liebe, der Sympathie etc. Keiner dieser Ausdrücke ist definierbar, allenfalls ein Stück weit explizierbar. Und wenn wir solche Explikationen miteinander konkurrieren lassen, sie gemeinsam kritisch gegeneinander abwägen wollen, können wir dies, wenn es um Adäquatheit geht, wiederum nur im Rückgriff auf unser intuitives oder ahnendes Bedeutungsverstehen. Gewiss bewegen wir uns dabei, wie Frege gesehen hat, immer nur im heuristischen Diskurs, aber es ist die Frage, ob unser Bedeutungsverstehen diesen jemals vollständig verlassen kann. Das hat Frege nicht gesehen. Wenn dem in der Tat so ist, dann wird allerdings unser Zielpunktvokabular auch grundsätzlich nicht eliminierbar sein. Es wird Explikate geben, die mehr oder weniger adäquat sind, aber kein Explikat erschöpft den geahnten Bedeutungsgehalt des Zielpunktvokabulars. Satzförmig kann dieser Gehalt offenbar nicht ausgeschöpft werden. Und so stellt die Ahnung ein nicht-propositionales Bedeutungsverstehen bereit, das für unsere Verständigungsverhältnisse charakteristisch ist. Für diese ist es ferner auch kennzeichnend, dass sie mit dem altehrwürdigen Wesen umgehen. Auch Frege formuliert so, dass man beim Eintritt in eine Wissenschaft eine Ahnung von ihrem Wesen erlangen möchte. Hier, im heuristischen Diskurs, sind wir zwangsläufig semantische Essentialisten. Wenn die Explikation eines Wortes, verglichen mit der Ahnung seiner Bedeutung, als inadäquat abgewiesen wird, tut man dies mit Bemerkungen wie: 40
Gottlob Frege: Logik [1897], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 137–163, S. 139.
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Das geht am Wesen der Sache vorbei! Das Wesen ist das bloß geahnte, nichtpropositionale Bedeutungsvollbild und dieses dirigiert unsere explikativen Be mühungen. Aber es gibt eben deshalb keine propositionale Repräsentation des Wesens, propositionale Bedeutungsexplikate bleiben immer fallibel und bleiben im Rückgriff auf das bloß geahnte, nicht-propositionale Bedeutungsvollbild revidierbar. Ein propositionaler Essentialismus kann natürlich nicht verteidigt werden. Das Wesen gehört zur Mantik, nicht zur Semantik. Dass Frege dem Eigensinn nicht-wissenschaftlicher Rede, also zum Beispiel den Sätzen der Dichtung, Rechnung trägt, ist in der Literatur (vor allem von Gottfried Gabriel) zu Recht verdeutlicht worden. Frege ist aber stets auch daran interessiert, alles, was zugleich mit einem Gedanken zum Ausdruck ge bracht wird, möglichst sauber von diesem Gedanken selbst abzusondern, also Ausdrucksmittel, die wahrheitswertindifferent sind wie rhetorische Mittel oder Konnotationen: „Was man Stimmung, Duft, Beleuchtung in einer Dichtung nennen kann, was durch Tonfall und Rhythmus gemalt wird, gehört nicht zum Gedanken.“41 Solche von Frege auch „Winke in der Rede“42 genannten Ausdrucksmittel sind für unseren kommunikativen Alltag und die Dichtung wichtig, für den Logiker nicht: „Dem auf das Schöne in der Sprache gerichteten Sinne kann gerade das wichtig erscheinen, was dem Logiker gleichgültig ist.“43 Aber auch in den Geisteswissenschaften werden solche rhetorischen Winke häufiger anzutreffen sein. Diese stehen, so Frege, eben deshalb „der Dichtung näher“, sind „weniger wissenschaftlich“.44 Freges Feststellung braucht hier, obwohl Frege selbst wohl im Stil des 19. Jahrhunderts dazu neigt, nicht abwertend aufgefasst zu werden. Wir wissen heute, dass jede Wahl von Beschreibungssprachen je nach Strenge von Zweckmäßigkeitsüberlegungen und vom Gegenstand der Beschreibung abhängt. Das besagt schon das bekannte Toleranzedikt für Präzision von Aristoteles. Hiernach soll man Genauigkeit (ἀκριβεία) „nicht auf dieselbe Weise bei allen Gegenständen fordern, sondern in jedem Fall gemäß der zugrunde liegenden Materie und soweit es der Untersuchung angemessen ist. Denn auch der Schreiner und der Geometer suchen die gerade Linie auf verschiedene Weise.“45 Heute wissen wir zudem, daß jede Wahl auch ihren Preis hat. Strengere Beschreibungssysteme liefern zwar stärkere Erklärungen, haben aber einen eingeschränkten Anwendungsbereich. Wer Ausdrucksstärke bevorzugt, muss Ein41 42 43 44 45
Ders.: Logische Untersuchungen [1918/19], in: Kleine Schriften (wie Anm. 7), S. 342–394, S. 348. Ebd. Ebd. Ebd., S. 347. Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, München 1972, S. 83 (1098 a 26–30); vgl. a. S. 83 (1104 a 1–4) et passim.
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bußen in der Erklärungsstärke hinnehmen und umgekehrt. Trotzdem könnte in beiden Fällen die aufgewendete erkennende Energie – falls es so etwas gibt – gleich bleiben, jedenfalls dann, wenn man Beehs Hypothese von der „Konstanz der erkennenden Energie“ akzeptiert: „Die Stärke und Rationalität der Erklärung ist umgekehrt proportional zur Größe ihres Anwendungsbereichs.“46 Auch über diese Hypothese kann man natürlich streiten und man tut es. Hier steht offenbar eine größere Klarheit über Komplexitätsschranken noch aus.47 Aber kommen wir zurück zu Frege. Für ihn hat gerade das, was er „sprachliche Winke“ nennt, also Metaphern und Bilder, nicht nur eine wichtige heuristische Bedeutung, sondern, wie man sagen möchte, geradezu eine mantische Antennenfunktion: „Wo es darauf ankommt, sich dem gedanklich Unfaßbaren auf dem Wege der Ahnung zu nähern, haben diese Bestandteile [also Bilder und Metaphern] ihre volle Berechtigung.“48 Das ist der hermeneutisch riskanteste Satz, den ich von Frege kenne. Was Frege hier das gedanklich Unfassbare nennt, ist mindestens der weite Bereich des Nicht-Propositionalen, an den wir angeschlossen bleiben, auch wenn wir uns um wahre Gedanken allein bemühen. Dass sprachliche Winke auch da noch ein kreatives Verstehen befördern können, wo es um nicht-propositionale 46 47
48
Volker Beeh: Sprache und Spracherlernung unter mathematisch-biologischer Perspektive, Berlin/New York 1981, S. 73f. Vgl. hierzu erste Schritte auch mit Blick auf Frege: Volker Beeh: Verständnis ohne Erkenntnis. Freges Sinn und Tarskis Undefinierbarkeit, in: Jochen Lechner (Hg.): Analyse, Rekonstruktion, Kritik. Logisch-philosophische Abhandlungen, Frank furt/M. 1998, S. 123–139. Komplexitätsschranken sind auch für das Verhältnis von Funktionen und multiplen Realisierungen charakteristisch, so dass hier reduktionistische Hoffnungen einen schweren Stand haben. Das zeigt Martin Carrier in der Studie: Bedeutung und Naturbeschreibung, Bonn 2000, sehr deutlich. Auch mit Blick auf die erstaunlichen jüngsten Ergebnisse der Genforschung taucht der Verdacht auf epistemische Komplexitätsschranken auf, die jedenfalls einfache Er klärungsstrategien bottom up erschweren und komplementäre Sichtweisen begüns tigen. Genetische Verwandtschaft spricht offenbar nicht immer für phänotypische Verwandtschaft und umgekehrt. Trotz der genetischen Verwandtschaft haben Fliege, Wurm und Mensch habituell vergleichsweise wenig gemein. Dasselbe gilt für Raupe und Schmetterling, die beide sogar dasselbe Genom haben. Andererseits sind die genetischen Unterschiede zwischen Feldmaus und Hausmaus größer als zwischen Mensch und Schimpanse; diese Beispiele bringt Barbara Hobom: Die erstaunliche Ähnlichkeit des Menschen mit dem Wurm, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (13. Februar 2001). Ferner variiert schon die Proteinproduktion ein und desselben Gens je nach Kombination in funktionsspezifischer Weise, ganz abgesehen davon, dass die intrinsische Plastizität dieser Verhältnisse noch unter die Modellierungsbedingungen der Umwelt gestellt werden muss. Komplexität und Erkenntnis ist jedenfalls ein spannendes Feld der Erkenntnistheorie. Vgl. hierzu Gregory Chaitin: The Unknowable, Berlin/New York 1999. Frege: Logische Untersuchungen (wie Anm. 41), S. 347.
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Wissensformen geht, ist nicht erst Frege deutlich geworden, sondern findet sich vor Frege schon bei Platon im Siebten Brief49 wie ebenso nach Frege bei Wittgenstein, der gerade für diese informellen Verstehensformen außerordentlich sensibel war. Ein prägnantes Beispiel für nicht-propositionales Wissen ist sicher das, was man Menschenkenntnis nennt. Hier stellt sich Wittgenstein die Frage: „Kann man Menschenkenntnis lernen?“ Und er antwortet: „Ja; Mancher kann sie lernen. Aber nicht durch einen Lehrkurs, sondern durch ‚Erfahrung’. – Kann ein Anderer dabei sein Lehrer sein? Gewiß. Er gibt ihm von Zeit zu Zeit den richtigen Wink. – So schaut hier das ‚Lernen’ und ‚Lehren’ aus.“50 Dieses Beispiel von Wittgenstein macht vor allem deutlich, dass uns der größte Teil unserer Lebenswirklichkeit in nicht-propositionalen Wissensformen präsent ist. Umso erstaunlicher, dass Philosophen sich dieser informellen epistemischen Kulisse bis heute, wenn überhaupt, zumeist nur widerwillig gestellt haben. Bivalente Wissensbestände sind für faule Denker einfach bequemer. Frege jedenfalls stieß auf solche nicht-propositionalen Wissensformen gerade in seinem Bemühen, Bedeutungsklarheit unantastbar zu machen. Aber dieses Bemühen scheiterte an definitorischen Schranken und so erkannte er außerhalb des propositionalen Raumes der Wissenschaften sogar Ahnungen an. Sie sind für ihn eine erste Form des Bedeutungsverstehens und bleiben auch die letzte, ganz einfach um sicherzustellen, dass wir auch die präziseste Bedeutungsfestlegung gegebenenfalls immer noch kritisch revidieren können. Woher Freges positive Einschätzung der Ahnung, die seinem wissenschaftlichen Naturell nun wirklich nicht liegt, kommen mag, ist von seinen Texten her schwer zu ermitteln. Ich vermute, dass er in Jena mit dem Text von Jakob Friedrich Fries Wissen, Glaube und Ahndung (Jena 1805) bekannt geworden ist, der eine positive Theorie der Ahnung bietet, die auch heute noch lehrreich ist.51 Jedenfalls scheut Frege sich nicht, die Zonen vorwissenschaftlichen Verstehens positiv zu akzentuieren und ihr Eigenrecht anzuerkennen, gerade um einer Vermengung mit wissenschaftlichen Verstehensmodi vorzubeugen. So notwendig Ahnungen als erste Form des Bedeutungsverstehens im heuristi49
50 51
Platon hält es nicht für sinnvoll, die ultimativen Einsichten in das Wesen der Dinge für alle aufzuschreiben oder ans Licht zu ziehen, mit Ausnahme derer, „welche es selbst vermittels eines leisen Fingerzeiges aufzufinden imstande wären […]“ (Briefe 341 e), übers. v. Franz von Kutschera: Platons Philosophie, Bd. 1, Paderborn 2002, S. 49. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1967, S. 264. Vgl. Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis (wie Anm. 5), S. 59ff.; ferner: Gottfried Gabriel: Fries über „Philosophen des Witzes“ und „Philosophen des Scharfsinns“, in: Wolfram Hogrebe/Kay Herrmann (Hg.): Jakob Friedrich Fries. Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker, Frankfurt/M. u.a. 1999, S. 165–174.
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schen Bereich auch sein mögen, im doktrinalen Teil bivalenter Wissenschaftsbestände haben sie natürlich nichts zu suchen. Hier ist umgekehrt jeder Hauch eines Geheimnisvollen sicherer Index dafür, dass epistemisch etwas nicht klar definiert, nicht in Ordnung ist. Und damit möchte ich abschließend auf Freges Miniaturtheorie des Absurden zu sprechen kommen. Karl Snell, Professor für Physik und Mathematik in Jena (1806–1886), hat das Klarheitspostulat für die Mathematik so ausgedrückt: „In der Mathematik muß alles so klar sein wie 2 · 2 = 4. Sobald da irgendetwas Geheimnisvolles erscheint, ist das ein Zeichen, daß nicht alles in Ordnung ist.“52 Frege zitiert diese Maxime Snells in einer seiner letzten Schriften zustimmend und fügt noch ergänzend an: „Aber er selbst [Snell] konnte, wenn er über die complexen Zahlen nach gaussischer Weise vortrug, nicht ganz das Geheimnisvolle vermeiden und er fühlte das auch selbst und war unbefriedigt von seinem Vortrage.“53 Das Geheimnisvolle ist hier also ein Zeichen dafür, dass analytisch nicht alles in Ordnung ist und das kann erstens besagen, dass etwas nicht hinreichend klar ist oder zweitens, dass etwas irrig oder geradezu falsch ist und drittens, dass etwas darüber hinaus geradezu absurd ist. Im Sinne dieser gesteigerten Variation findet sich bei Frege, mehr oder weniger implizit, tatsächlich eine kleine Theorie des Absurden. In seiner ebenfalls späten Abhandlung Zahlen und Arithmetik (1924/25) schreibt Frege: „Dass die Reihe der ganzen Zahlen einmal abbreche, ist nicht nur falsch, sondern wir finden es absurd.“54 Die Frage ist nur: warum? Frege gibt die Antwort: „Da muss ein Erkennen a priori beteiligt sein.“55 Was Frege als Spätkantianer hier andeuten will, ist vermutlich folgendes: Absurd finden wir etwas genau dann, wenn es sich nicht nur um etwas Unklares oder Falsches handelt, sondern geradezu um einen Kategorienfehler, eine Sinnwidrigkeit also, die eine lokale Interferenz zweier Kategorien oder Sprachen signalisiert. Im vorliegenden Fall also die Vorstellung, dass die Reihe der ganzen Zahlen einmal abbricht, oder auch „dass es eine grösste ganze Zahl geben könne“.56 Bei diesen Konzeptionen interferieren Beobachtungssprache und arithmetische Sprache und dies, so Frege, „deutet darauf hin, dass die Arithmetik nicht auf Sinneswahrnehmung beruhen kann; denn dann
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Gottlob Frege: Neuer Versuch der Grundlegung der Arithmetik [1924/25], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 298–302, S. 300. Ebd. Ders.: Zahlen und Arithmetik [1924/25], in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 2), S. 295–297, S. 297. Ebd. Ebd., S. 296.
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müßte man sich eben gegebenen Falls mit dem Abbrechen der Reihe der ganzen Zahlen abfinden […]“.57 Die Ursache für diese Interferenz sieht Frege im sinnlich eingeübten Ursprung des Zählens: „Das Zählen, aus einem Erfordernis des handelnden Lebens psychologisch entsprungen, hat die Gelehrten irre geführt.“58 Eine strukturgleiche Interferenz mit absurden Effekten würde Frege heute auch in der Neurophilosophie als Gefahr lauern sehen. Empirische Befunde der Hirnpsychologie wurden auch zu Freges Zeiten, zum Beipiel von Wilhelm Wundt, als Basis einer Erkenntnistheorie zu verstehen gegeben. Wir sprechen heute von neuronalen Erregungsmustern in Hirnarealen, die, wie Wirbel im Wasser, das Denken begleiten und mit geeigneten bildgebenden Verfahren sogar sichtbar gemacht werden können. Auch hier droht für Frege Absurdes: „An einem Flusse stehend bemerkt man oft Wirbel im Wasser. Wäre es nun nicht absurd, für einen solchen Wirbel den Anspruch zu erheben, er gelte oder er sei wahr, oder auch, er sei falsch? Und wenn nun die Atome oder Moleküle in meinem Hirn auch noch tausendmal lustiger und toller durcheinander tanzten als die Mücken am schönen Sommerabend, wäre es nicht ebenso absurd zu behaupten, dieser Tanz gelte oder sei wahr?“59 Immerhin mögen, das räumt Frege ein, hirnphysiologische Befunde für psychologische Gesetze relevant sein. „Bei logischen Gesetzen dagegen wäre dergleichen absurd; denn es handelt sich bei ihnen nicht darum, was dieser oder jener Mensch für wahr hält, sondern darum, was wahr ist. […] Ob es wahr ist, dass Julius Caesar von Brutus ermordet wurde, kann nicht von der Beschaffenheit des Gehirns von Professor Mommsen abhängen.“60 Das Absurde ergibt sich auch hier aus fälschlicherweise zugelassenen Interferenzen zwischen physiologischen, psychologischen und logischen Sprachen oder Kategorien. Und Freges beißende Ironie über den „Schein der Objektivität“,61 der so in der Erkenntnistheorie erschlichen wird, sollte auch heute noch zur Vorsicht mahnen, insbesondere wenn man an die im Sinne Freges absurden Folgerungen denkt, die Wolfgang Singer und Gerhard Roth aus den völlig überschätzten Experimenten von Benjamin Libet gezogen haben. Trotzdem werden wir umgekehrt ebenso gehalten sein, Freges starke Version eines Reiches der Gedanken zu modifizieren, vielleicht im Sinne eines faktizitätsabhängigen Platonismus, damit wir sicherstellen, dass eine Gerade zwischen zwei Punkten zwar da ist, bevor sie hergestellt ist, aber doch nicht da, bevor die Lage der beiden Punkte faktisch angegeben ist. Dieses Beispiel stammt von Goethe und Blumen57 58 59 60 61
Ebd. Ebd., S. 297. Frege: Logik (wie Anm. 40), S. 156. Ebd., S. 160. Ebd., S. 155.
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berg hat es aufgegriffen.62 An irgendeiner Version des Phänomens einer solchen sekundären Idealität werden wir festhalten müssen, wenn uns das Verweisende von faktisch Sinnlichem, das heißt das, was uns Zeichen und Symbole gegeben sein lässt, nicht abhanden kommen soll. Abschließend möchte ich noch die Frage stellen: Was hat man davon, wenn man Frege in der vorgestellten Form als Hermeneut entdeckt? Meines Erachtens zunächst dies: Frege ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass der oft beschworene Unterschied zwischen analytischer und hermeneutischer façon d’être der Philosophie nicht besonders interessant ist, vielmehr Züge einer gewissen epigonalen Künstlichkeit aufweist. Frege steht jedenfalls dafür, dass die kristallene Härte des Arguments nicht mit phänomenologischer Impotenz erkauft werden muss. Seine tastenden und sensiblen Schritte im Bereich informeller Wissensformen und des Bedeutungsverstehens sollten weitere Untersuchungen in diesen ebenso schwierigen wie faszinierenden Bereichen eher stimulieren als abschrecken. Mir ist bewusst, um das hier nachzutragen, dass das Format nicht-propositionalen Wissens, für das ein Bivalenzprinzip (wahr/falsch) nicht gilt,63 bei vielen Erkenntnistheoretikern bestenfalls Kopfschmerzen, schlimmstenfalls Kopfschütteln verursacht. Aber man bedenke ernsthaft: Auch ein Expertenwissen ist als Wissen gewiss propositional, aber nicht als Wissen von Experten. Eine gegebene Menge Daten oder Sätze gibt zwar Winke, wo die Sichtweise oder die Frage zu suchen ist, zu der sie passen oder eine Antwort sind, aber diese Suche wird von diesen Daten oder Sätzen nicht suspendiert und verlangt den Experten. Und umgekehrt gilt auch: Eine Sichtweise oder Frage gibt zwar Winke, im Focus welcher Daten relevante Daten sind oder die passende Antwort zu suchen ist, aber auch hier wird die Suche nicht suspendiert und verlangt den Experten. Für diese Verhältnisse von Suchen und Finden ist Freges Unterscheidung von Sinn und Bedeutung sinnvoll: Das Verstehen einer Suchanweisung impliziert noch nicht das Glück des Findens und erst darin besteht Frege zufolge Erkenntnis. Deshalb ist das Verstehen meistens leichter64 als das Erkennen, aber eben auch fragiler. Aber auch dieser Sachverhalt will erkannt sein. Wer soll das tun? Wir wollen sagen, solche Dinge sind Sache der Philosophie, ein Unternehmen, das sich damit abmüht, Klarheit in unsere plastischen Sinnverhältnisse zu bringen,
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Vgl. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. 1986, S. 374. Vgl. die bahnbrechende Arbeit von Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. Vgl. Beeh: Verständnis ohne Erkenntnis (wie Anm. 47), S. 131.
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Wolfram Hogrebe
ohne hoffen zu können, dass dieses Geschäft je ein Ende findet. So bleibt als Saum der Klarheit des Bedeutungsverstehens immer ein letztlich Unverstandenes, ein real unknown, das wir als ultimativen Hintergrund brauchen, um Bedeutungen und Bedeutungskontraste überhaupt registrieren oder auch nur ahnen zu können. Der späte Wittgenstein flankiert diese Vermutung: „Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt.“65 Diesem „Wink“ folgend erhielte das Unaussprechbare beziehungsweise darüber hinaus das real unknown eine fundierende Stellung für die Bedeutungsmöglichkeit des Aussprechbaren, erzeugte ein Nichtverstehen erst die Möglichkeit des Verstehens. Die sekundäre Idealität baut sich auf, wenn ein Wahrnehmbares auf ein Nicht-Wahrnehmbares, Unaussprechliches, Nicht-Gewusstes hin angesprochen wird. Die Heine-Frage „ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß p“, macht „daß p“ erst bedeutungsvoll.66 So sehen wir die Weltverhältnisse an, das Faktische im Lichte einer sich entziehenden, einer entzogenen Bedeutungshaltigkeit, auf die das Faktische verweist und dadurch zeichenhaft wird. Das Nichtverstehen ist der Sache nach das Erste, das Verstehen das Zweite. Aber erst, wenn das Verstehen dem Begriff nach das Erste ist und das Nichtverstehen das Zweite, gibt es die sekundäre Idealität, Zeichen und Symbole. Selbst wenn diese Dinge alles andere als klar sind, so ahnten das schon Frühromantiker wie Friedrich Schlegel: „Ja, das Köstlichste, was der Mensch hat, […] hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblick verlieren würde, wo man ihm den Verstand auflösen wollte.“67 Die heutige Philosophie muss das real unknown erst wieder entdecken, um ihren Adel aus der Tiefe des Raumes, das heißt bottom up, wiederzugewinnen. Sie ist Unterbau, nicht Überbau.
65
66 67
Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen, Frankfurt/M. 1977, S. 38; zitiert und interpretiert auch bei Gottfried Gabriel: Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in der Philosophie, in: ders.: Zwischen Logik und Literatur, Stuttgart, 1991, S. 32–64, S. 51. Vgl. dazu Wolfram Hogrebe: Erlöschende Subjektivität, in: Echo des Nichtw issens (wie Anm. 1), S. 357–367, S. 362. Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit, in: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, hg. v. Ernst Behler, Bd. 2, Abt. 1, München/Paderborn/Wien 1967, S. 362– 372, S. 370. Vgl. Wolfram Hogrebe: „Wer im Mythos lebt …“, in: Echo des Nichtwissens (wie Anm. 1.), S. 330–341, S. 337.
1. P roz e s s p h i lo s o p h ie
Robert E. Innis
E nergies of O bjects Between Dewey and Langer
1. Fra m i ng t he Issues: O n Consc iousness a nd For m In his rich and allusive Art as Experience John Dewey developed a pragmatist approach to the flux of experience that took over and extended to the aesthetic domain central features of William James’s and Charles S. Peirce’s analyses of consciousness, key elements and implications of which permeate Dewey’s writings. In his Principles of Psychology, which lurks in the constant background of Dewey’s masterwork, James described the “free water of consciousness” as a dynamic vortex of streams, eddies, and changing currents that encounter resis tances that give it an ever changing qualitative feel, manifested in what he called its “infinite iridescences.”1 These iridescences belong not just to the felt qualities of the experiential flux itself, to the pulsing life of subjectivity, but also to the objective field of resistances, the stones, banks, and differential depths at which they are encountered. Peirce characterized in a related, though still aquatic, image this complex dynamic phenomenon as the “bottomless lake of conscious ness.”2 Implicit in Peirce’s only superficially static image is the idea that consciousness itself is a form or matrix of ordering and is itself ordered, not just by its own immanent or autogenic impulses but by external or exogenic interruptions of its ongoing, fluctuating, underwater streams of experience. It is within this multi1 2
William James: Principles of Psychology, vol. 1, London 1891, pp. 255, 235. Charles S. Peirce: Collected Papers, vols. 7–8, ed. by Arthur W. Burks, Cambridge, MA 1958, vol. 7, par. 547: “I think of consciousness as a bottomless lake, whose waters seem transparent, yet into which we can clearly see but a little way. But in this water there are countless objects at different depths; and certain influences will give certain kinds of those objects an upward impulse which may be intense enough and continue long enough to bring them into the upper visible layer. After the impulse ceases they commence to sink downwards.”
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leveled matrix that what Cassirer called the “form worlds” of meaning arise, often without explicit action of our own. James saw this flux as divided into, or informed by, a triadic structure. His triad is different from Peirce’s triad of feeling, reaction, and thought, whose role in Dewey’s work is more implicit, although important, its place being taken by Peirce’s theory of “quality.”3 The stream of consciousness, as James described it, is (a) oriented toward a theme or focal core, which is (b) located in a field, which is (c) surrounded by a margin or fringe, which gives a distinctive “aura” to the forms of appearing. These forms for Dewey make up, when certain conditions are fulfilled, the boundary-less realm of the aesthetic, a realm that, in his startling image, arises out of the lowland of experience the way a mountain arises out of a plain. The Jamesian theme-field-margin or fringe structure informs Dewey’s experience-based approach to aesthetics and to aesthetic theory, just as Peirce’s theory of quality did. Such a schema characterizes the “frames” within which the objective correlates of the experiential flux are accessed and constituted. These frames are raised to a higher power in the realm of art and distinctively aesthetic experience. Dewey follows James in his notion that experience grows at its edges. Consider this passage from Dewey’s Art as Experience: We are accustomed to think of physical objects as having bounded edges; things like rocks, chairs, books, houses, trade, and science, with its efforts at precise measurement, have confirmed the belief. Then we unconsciously carry over this belief in the bounded character of all objects of experience (a belief founded ultimately in the practical exigencies of our dealings with things) into our conception of experience itself. We suppose the experience has the same definite limits as the things with which it is concerned. But any experience the most ordinary, has an indefinite total setting. Things, objects, are only focal points of a here and now in a whole that stretches out indefinitely. This is the qualitative “background” which is defined and made definitely conscious in particular objects and specified properties and qualities. […] For although there is a bounding horizon, it moves as we move. We are never wholly free from the sense of something that lies beyond. Within the limited world directly seen, there is a tree with a rock at its foot; we fasten our sight upon the rock, and then upon the moss on the rock, perhaps we then take a microscope to view some tiny lichen. But whether the 3
See Robert E. Innis: The ’Quality’ of Philosophy. On the Aesthetic Matrix of Dewey’s Pragmatism, in: Larry A. Hickman/Matthew Caleb Flamm/Krzysztof Skowronski/Jennifer ´ A. Rea (eds.): The Continuing Relevance of John Dewey: Re flections on Aesthetics, Morality, Science, and Society, Amsterdam 2011, pp. 43–60.
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scope of vision be vast or minute, we experience it as a part of a larger whole and inclusive whole, a part that now focuses our experience. We might expand the field from the narrower to the wider. But however broad the field, it is still felt as not the whole; the margins shade into that indefinite expanse beyond which imagination calls the universe. This sense of the including whole implicit in ordinary experiences is rendered intense within the frame of a painting or poem.4 An art work for Dewey, as distinguished from the material art product, is, as he outlines in a pivotal chapter on the “Organization of Energies” (AE 168–193), a framed, that is, organized, and realized field of energies of various sorts encountered in particular objects. In this sense it is a distinctive kind of form or thematic unity. For Dewey the art work is defined by, or constituted by, the “work” the material (in whatever medium) art product does in experience, by the types of meaning-experiences it gives rise to, including experiences of recollection and of stretching toward the future. Although Dewey does not utilize this terminology, we can say that the art work is a sign-configuration, fundamentally an iconic symbol in Peirce’s classification. Each instance of such a symbol has a defining felt quality, initiates specific forms of resistances by means of its differentially pertinent features, and carries or articulates a core import. The art work is accessed through what Peirce called the interpretants, or the “proper significate effects,” that the art product, in becoming an art work, engenders in the perceiver or, more generally, the interpreter. Following Peirce’s major triad of the typology of signs, we can say that the art work has a defining quality as an image (iconic aspect), is marked by differentially pertinent, and effectively constraining, features (indexical aspect), and is the embodiment of an idea or synthesizing import inseparable from its perceptual configuration or material quality or feel (symbolic aspect). Peirce schematized these interpretants, which are clearly derived from his system of categories and his major triad of signs, into (a) the emotional/affective, (b) the energetic, and (c) the logical. The point, independent of terminology, is that the object – indeed, for that matter, any object – gives rise to, and is accessed through, different types of “proper significate effects.” These effects, or powers to effect and to affect, are resident in the object but are only activated in the experiential encounter.5 4 5
John Dewey: Art as Experience [1934], New York 2005 [AE], pp. 200f. See Robert E. Innis: Peirce’s Categories and Langer’s Aesthetics, in: Cognitio 14/1 (2013), pp. 35–50, for a fuller explication of these correlations as well as chapter two of id.: Consciousness and the Play of Signs, Bloomington 1994. While the literature on Peirce’s theory of signs has grown to mountainous proportions, one can still profitably consult James Jakób Liszka: A General Introduction to the Semeiotic of
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Nevertheless, notwithstanding the processes of experience-dependent activation, these powers themselves are objective and materially embodied as potencies. They are real even if, for us, they have to be realized in our experience, which they inform and in their own way activate. On the Peircean-JamesianDeweyan position, both experience and the objects of experience are dynamic realizations and exemplifications of the interlocked processes of form and sign production. On the semiotic side, which Peirce explored obsessively, experience and its objects are dynamic realizations and exemplifications of signifying pro cesses. I have argued at length elsewhere that at both the experiential and semio tic poles, which ultimately are identical, experience itself is the emergence and creation of forms of various levels and types of complexity that are sources of differential degrees and kinds of semiotic energy.6 Of course, this is the focus of Cassirer’s and his great “continuator,” Susanne Langer’s, exploration of the “form worlds” emerging out of the protean nature of consciousness and the matrices of feeling or sentience.7
2. A n E xempl i f y i ng I nst a nc e How can we foreground and concretize, in the present context and in more detail, some defining and universal aspects of these energies of objects, especially those objects that are art images? What gives them their energy or types of energies? How, further, do the energies of objects mirror the very energies of their originating matrices?
6
7
Charles Sanders Peirce, Bloomington 1996, where these basic distinctions are sketched. Of special relevance for the theoretical and systematic background of these reflections see, besides Innis: Consciousness and the Play of Signs (as fn. 5), id.: Pragmatism and the Forms of Sense, University Park, PA 2002, and id.: Susanne Langer in Focus. The Symbolic Mind, Bloomington 2009. They flesh out a wider range of connections than could be attempted in an essay in this format. Cf. the pregnant text from one of Cassirer’s seminar papers, Ernst Cassirer: Language and Art II [1942], in: Donald Phillip Verene (ed.): Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer. 1935–1945, New Haven 1979, p. 186: “The sphere of art is a sphere of pure forms. It is not a world of mere colors, sounds, tactile qualities – but of shapes and designs, of melodies and rhythms. In a certain sense all art may be said to be language, but it is language in a very specific sense. It is not a language of verbal symbols, but of intuitive symbols. He who does not understand these intuitive symbols, who can not feel the life of colors, of shapes, of spatial forms and patterns, harmony and melody, is secluded from the work of art – and by this he is not only deprived of aesthetic pleasure, but he loses the approach to one of the deepest aspects of reality.” Note the references to rhythms, to nonlinguistic symbols, to feeling the life of the play of forms that exemplify the deep structures not just of art but of nature itself. All these themes are taken up by Dewey and Langer.
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Dewey and Langer offer substantial and complementary conceptual tools for engaging these questions. They will function as surrogates for a vast range of efforts to delineate the energetic powers of the image-world. For Dewey, “an esthetic experience, the work of art in its actuality, is perception.” (AE 169) For Langer, what is perceived, the art product on its way to becoming the art work, is a presentational symbol that mirrors and projects the “morphology of feeling” in processes of “symbolic transformation.” Such symbols must be both perceived and interpreted. In spite of Langer’s peremptory and wrong-headed dismissal of Dewey’s approach to art and the aesthetic, Dewey’s nuanced investigations of the perceptual conditions effecting the transitions out of ordinary perception are complemented by Langer’s remarkable exploration of the heuristic fertility of the art image to uncover the dynamics of minding and to present the infinite ways we feel the world. Both Dewey and Langer show that the energies of objects evoke in us deep resonances of selfrecognition and inform our processes of self-interpretation. They enliven us in their givenness and in their creation, in the processes of undergoing and undertaking that make up the “swing and sway” of experiencing, the dialectic of activity and passivity. Let us follow up these ideas with an example. Consider the following passage from Iris Murdoch’s novel The Sacred and Profane Love Machine. In this passage, Harriet Gavender, the wife of Blaise Gavender, the psychological and narrative pivot (and even butt) of the novel, is visiting the National Gallery in London and has been viewing a famous picture of St. Anthony and St. George by Giorgione, today usually called Il Tramonto (Fig. 1): She had felt very strange that afternoon in the National Gallery. An intense physical feeling of anxiety had taken possession of her as she was looking at Giorgione’s picture […] There was a tree in the middle background which she had never properly attended to before. Of course she had seen it, since she had often looked at the picture, but she had never before felt its significance, though what that significance was she could not say. There it was in the middle of clarity, in the middle of bright darkness, in the middle of limpid sultry yellow air, in the middle of nowhere at all with distant clouds creeping by behind it, linking the two saints yet also separating them and also being itself and nothing to do with them at all, a ridiculously frail poetical vibrating motionless tree which was also a special particular tree on a special particular evening when the two saints happened (how odd) to be doing their respective things (ignoring each other) in a sort of murky yet brilliant glade (what on earth however was going on in the foreground?) beside a luscious glistening pool out of which two small and somehow domesticated demons were cautiously
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emerging for the benefit of Saint Anthony, while behind them Saint George, with a helmet like a pearl, was bullying an equally domesticated and inoffensive little dragon. Hypnotized by the tree, Harriet found that she could not take herself away. She stood there for a long time staring at it, tried to move, took several paces looking back over her shoulder, then came back again, as if there were some vital message which the picture was trying and failing to give her. Perhaps it was just Giorgione’s maddening genius for saying something absurdly precise and yet saying it so marvellously that the precision was all soaked away into a sort of cake of sheer beauty. This nervous mania of anxious ’looking back’ Harriet recalled having suffered when young in the Louvre and the Uffizi and the Accademia. The last visit on the last day, as closing time approached, indeed the last minutes of any day, had had this quality of heart-breaking severance, combined with an anxious thrilling sense of a garbled unintelligible urgent message.8 This is a remarkable description of a full and deep encounter with, and problematic interpretation of, a remarkable painting, albeit of murky provenance.9 The body-mediated encounter with this painting – the art product on the way to becoming the artwork – is for Harriet first and foremost a work of embodied perception, just as the actual production of the painting was and as Dewey affirmed. Its enigmatic significance, however, elicits a work of interpretation, just as the painting itself is an interpretation or symbolic projection of a complex “spiritual” relationship conveying what Murdoch calls a “vital message.” But, in spite of its explicitness, indeed, its absurd precision, what it means seems to slip away beyond the bounds of discourse, even though the configuration of marks on the canvas, its formed matter as Dewey argued in the two chapters (6 and 7) devoted explicitly to form in his Art as Experience, was as “articulate” as possible and consummately beautiful. Harriet finds, or experiences rather, a deep “affective” affinity (not necessarily harmonious) between herself and the world
8 9
Iris Murdoch: The Sacred and Profane Love Machine, London 1974, pp. 41f. The figure in the foreground is not Saint Anthony. It is an allusion to St. Roch and his assistant. The background figures are not certain to be from Giorgione’s hand and St. Anthony is hidden to the far back right of the picture. Indeed, it appears that the figures of St. George and St. Anthony are reconstructions. This art historical fact in no way contravenes, however, Murdoch’s aesthetically rich description of the aesthetic encounter. I have discussed other aspects of Harriet’s experience of the painting: Robert E. Innis: Dimensions of an Aesthetic Encounter, in: SunHee Kim Gertz/Jaan Valsiner/Jean-Paul Breaux (eds.): Semiotic Rotations, Charlotte, NC 2007, pp. 113–134.
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Fig. 1 Giorgione: Il Tramonto, 1508, oil on canvas, 73,3 × 91,5 cm, London, National Gallery.
projected in the painting, what Dewey called its “resonances” and James its “aura.” The affective quality or affective tone that structures the painting offers her a source both of self-recognition and of a kind of shattered, even undefined and indefinable, self-completion. The painting “speaks” to her, energizes her, even though, by reason of the painting’s non-discursive logic (Peirce’s iconic symbolism), which Langer has explored in depth, she is not able to say or fully comprehend what it is “saying.” Indeed, following Langer, it is not saying anything at all. In this way, (a) the perceptual, (b) the existential hermeneutical, and (c) the semiotic dimensions of Harriet’s encounter are intertwined and reinforce one another. Murdoch pinpoints or foregrounds the distinctive features of the existential meeting between Harriet and the painting, but in a way that goes beyond this particular case. The imaginative description of Harriet’s inner consciousness and the described painting (neglecting art historical niceties) are clearly correlative and mutually defining. Both are perceptually thick, hermeneutically engaging and nuanced, and exemplify the diversity and complexity of signifying powers of the various sign systems that carry the perceptual qualities, objects,
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and significances embodied in, represented by, and expressed in the painting and in Murdoch’s text.10
3. O n R hy t h ms The work of art for Dewey is fully found or encountered in perceptual experience, and its energetic powers depend, first of all, on the existence of rhythms in nature. Murdoch’s text adverts to these in numerous ways by delineating the qualities of Harriet Gavender’s perceptual and affective foci. Distinctively aesthetic rhythm, though, goes beyond the play of natural rhythms. “[E]sthetic rhythm,” Dewey says, “is a matter of perception and therefore includes whatever is contributed by the self in the active process of perceiving.” (AE 169) This is certainly something we see exemplified and described in Murdoch’s text, which, as a presentational form embodied in discursive matter, has its own rhythmic structure. Each point of transition in the described active process of perceiving is guided by the pull of aspects of the painting and involves “furtherance, through the energy of the elements, of a complete and consummatory experience.” (AE 170)11 Rhythm is “ordered variation of manifestation of energy” and for Dewey “variation is not only as important as order, but it is an indispensable coefficient of esthetic order.” (AE 170) Aesthetic order, on his view, is a process. It is an ordering, a carrying forward, a cumulative progression, that is defined and measured not in terms of static elements but by what he calls “functional and operative traits.” (AE 172) The issue is not one of recurring units but of recurring relationships that “serve to define and delimit parts, giving them individuality of their own.” (AE 172) It is precisely this individuality that initiates Harriet Gavender’s new response, breaking the familiarity with the painting and putting her into play.12 She becomes conscious of a new effect – and of a new affect – and is thereby energized. Taking his lead from James’s acknowledgment of the “ever, not quite” feature of our experiencing, Dewey writes: “Every movement of experience in completing itself recurs to its beginning, since it is a satisfaction of a prompting initial need. But the recurrence is with a difference; it is charged with all the differences the journey out and away from the beginning has made.” (AE 175) 10 11 12
These philosophical implications are expanded in a different way in: Innis: Dimensions of an Aesthetic Encounter (as fn. 9). Dewey’s use of the term “furtherance” is reminiscent of its use later by the psychologist James Gibson. Of course, this reminds one of the Schillerian background to Dewey’s aesthetic theory as well of its exploitation in the German hermeneutic tradition, especially by Gadamer, who foregrounds the risk-taking and transformative side of the experience of art.
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Fig. 2 Pierre-Auguste Renoir: Bathers in the Forest (Baigneuses dans la forêt), about 1897, oil on canvas, 73,7 × 99,7 cm, Merion, Barnes Foundation.
Now, is this not precisely what is happening in Harriet’s re-encounter with the Giorgione, with her sense that it is “charged” with a new import? In her case and in ours, in Dewey’s words: “The need of life itself pushes us out into the unknown.” (AE 175) Harriet’s own life rhythm is marked by a dialectic of closure and awakening, and, as Dewey says, “every awakening settles something. This state of affairs defines organization of energy.” (AE 176) The “sudden magic,” in Harriet’s case her new engagement with the Giorgione, “gives us the sense of an inner revelation brought to us about something that we had supposed to be known through and through.” (AE 177) It is, as Dewey says, the “variety and scope of factors which, in being rhythmic each to each” build up and inform our perceptual frames. (AE 178) Our prior frames have to be “broken through” or interrupted (an instance of Peircean secondness) in order for the requisite degree of energy to be evoked, but the energy also has to come from our own willingness to be put into play, to be caught up in and informed by the pregnant image. This willingness itself can clearly surprise us, manifesting an openness or need we did not know we had prior to the encounter. In an analysis of “an actual painting,” albeit unnamed, but apparently one of Renoir’s bather paintings (Bathers in the Forest) or one of Cézanne’s
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Bathers from the Barnes Foundation collection,13 (Fig. 2) Dewey enumerates, in schematic and illustrative mode, five systems of rhythm or kinds of organic energy: (1) vertical and (2) horizontal rhythms controlling the movement of the eye across the painted surface and which offer moments of halt or arrest (Jamesian perchings) in the visual engagement, (3) color rhythms associated with areas and masses, (4) spatial rhythms constituted by “spatial intervals determined by a series of receding and intertwined planes,” giving rise to the impression of depth, (AE 181) and (5) rhythms of luminosity. It is clear that these are formal features of the art work as a perceptual object (an art product in Dewey’s terminology) and their bald enumeration is not unique to Dewey’s aesthetic theory. This seriation of features, however, transcends the commonplace or obvious because it is clearly informed by James’s differentiation of the transitive and substantive parts of consciousness and its assimilation to the image of the flights and perchings of a bird. But it is essential to note that the art work that Dewey is using as his semi-anonymous illustration can manifest these formal features without necessarily having any aesthetic power, although the one he is alluding to does, even if one might ask whether it applies better to the Renoir than to the Cézanne. It is the presence of tension and of stretched time or the coordination of what Dewey called “various sensory-motor energies” that moves the perceiver, willy-nilly, beyond mere recognitions to engagement and maybe even selftransformation. The mark of an objective organization of energies, in this and cognate cases, is that the object “seems to move from within,” (AE 183) an aspect of engagement certainly found in Murdoch’s linguistic reproduction of Harriet Gavender’s consciousness, a discursive reproduction which itself exemplifies what it is about, and as Rilke’s poem on the bust of Apollo does with its imputed demand to change one’s life. The livingness of the art work instigates and controls the organization of our energies and, Dewey says, it is the factor of livingness that engenders in our engagement with the art product “the feeling of dealing with a career, a history, perceived at a particular point of its development,” (AE 183) a process that is not closed, but open.
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In the critical edition of Art as Experience the Renoir painting is one of the illustrations. But it is placed in the chapter on the natural history of form. From Dewey’s descriptive analysis, however, one could just as easily infer that it applies to one by Cézanne.
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4. O n L iv i ng ness Langer, for her part, says confirmingly that the sphere of art is where “diverse means and very subtle ways of projecting ideas force themselves on one’s atten tion.”14 Of course, as Dewey remarks, in light of his transactional account of the organism-environment relation, lack of preparation in the perceiver can blunt or negate that force with deleterious consequences on multiple levels. The energies of the object or the art image have to be met by the energies of the perceiver. These creative energies both depend upon and give rise to the object and, as Langer shows, are mirrored in it. Consider the following passage from Langer in light of the connection of “energy” with “form” or, more pertinently, “living form”: [T]he artist’s eye sees in nature, and even in human nature betraying itself in action, an inexhaustible wealth of tensions, rhythms, continuities and contrasts that can be rendered in line and color; and those are the “in ternal forms” which the “external forms” – paintings, musical or poetic compositions or any other works of art – express for us. [Art] makes form expressive for us wherever we confront it, in actuality as well as in art. Natural forms become articulate and seem like projections of the “inner forms” of feeling, as people influenced (whether consciously or not) by all the art that surrounds them develop something of the artist’s vision. Art is the objectification of feeling, and the subjectification of nature. (M 86f.) In a later passage, Langer claims that in the artistic image there is an objective presentation of the “feeling of activities interplaying with the moments of envisagement,” (M 99) a point consonant with Dewey’s foregrounding of the rhythmic intertwining of undergoing and undertaking and with Murdoch’s “vital and urgent message” which Harriet Gavender experiences as addressed to her. Langer, in line with her own construction of a naturalistic semiotic theory of mind, holds that “[a]ll conscious experience is symbolically conceived experience; otherwise it passes ’unrealized’”; (M 100) that is, unfelt. Langer’s main thesis is that this symbolically conceived experience is realized paradigmatically in art works which are images, not models, of feeling.15 “The image of feeling,” 14 15
Susanne K. Langer: Mind. An Essay on Human Feeling, vol. 1, Baltimore/London 1967 [M], p. 81 (my emphasis). The distinction between image and model, both of which are classified as icons by Peirce, is developed more fully in the first volume of Langer’s Mind. Langer thinks of models as articulating explicitly the principles of construction of their objects, while images articulate in ways that truly transcend translatability or alternative formulations. Models can take many different forms and articulate the same object. Images, as Langer argues, each, in their material quality, are untranslatable. See
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Langer writes, “is inseparable from its import; therefore, in contemplating how the image is constructed, we should gain at least a first insight into the life of feeling it projects,” for “[f]eeling is projected in art as quality,” (M 106) another pivotal concept in Dewey’s aesthetics, the ultimate consequence of what he considered Peirce’s most important contribution to philosophy.16 It is the distinctive material quality of a sign-configuration, such as the Giorgione or the Renoir/ Cézanne bather-paintings, not primarily what they are about, that first renders it interruptive, a furtherance for ongoing consciousness and a resistance to habitual assimilation of experience. Dewey writes elsewhere: We say with truth that a painting strikes us. There is an impact that precedes all definite recognition of what it is about. As the painter Dela croix said about this first and preanalytic phase, “before knowing what the picture represents you are seized by its magical accord.” This effect is particularly conspicuous for most persons in music. The impression directly made by an harmonious ensemble in any art is often described as the musical quality of that art. (AE 151)17 The formal structure of the art image, for Langer, animates sensibility in the ways Dewey charts in his masterful chapter. Langer points out that the organization of the experiential field involves “symmetry, or correlation of counterparts, which creates the axis as a structural element” arising out of the “resting tonus of the whole organism.” (M 125) This is what Langer, in agreement with Dewey, called the “whole vital substructure” of our lives. (M 99) Langer confirms in this way Dewey’s notion that “livingness” is the correlative distinguishing mark of the energetic object or image, a mark that turns the stream of consciousness toward it. The energetic object is a semiotic “attractor” (René Thom) and force field of significance. The inner process of art, Langer says, is “from felt activity to perceptible quality; so it is a ’quality of life’ that is meant by ’livingness’ in art.” (M 152) Livingness is the prime mark of the expressive object and source of its energies.
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Langer (M 59): “An image does not exemplify the same principles of construction […] recognition and memory.” I have explored this notion in: Robert E. Innis: Signs of Feeling. Susanne Langer’s Aesthetic Model of Minding, in: The American Journal of Semiotics 28/1–2 (2012), pp. 43–61. See Innis: The ’Quality’ of Philosophy (as fn. 3). Cf. this cognate text: “Even at the outset, the total and massive quality has its uniqueness; even when vague and undefined, it is just that which it is and not something else. If the perception continues, discrimination inevitably sets in. Attention must move, and, as it moves, parts, members, emerge from the background. And if attention moves in a unified direction instead of wandering, it is controlled by the pervading qualitative unity; attention is controlled by it because it operates within it.” (AE 199)
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As Langer puts it, in agreement with Dewey’s position, livingness is pres ented by a pattern of tensions. This pattern, Langer says, “reflects feeling predominantly as subjective, originating within us, like the felt activity of muscles and the stirring of emotions”; (M 164) precisely a characterization of Dewey’s “live creature” and of what is happening to Harriet Gavender. The livingness of the image is rooted in a kind of what Langer calls “permanent tonicity” (M 175) that results from the dialectical fusion of structure and dynamism in the image, and also in the live organisms that we are, balanced between stability and instability, what Dewey called the “moving unbalanced balance of things,” in his book Experience and Nature.18 Structure in the image is derivative from design, to be sure, but dynamism (or energy) arises through the interaction of diverse elements that are integrated into the image as a whole, just as the mind is itself, on Langer’s conception, a process of integration, in fact, self-integration. It is this mirroring of features of minding (and of existential perplexity) and the supporting of self-recognition that Murdoch’s description foregrounds. Dewey’s schematic description of the forms of rhythm indicate that it is the polyrhythmic structure and tensions of the image-configurations that lend the quality of livingness to what appears on the marked surface or in the shaped materials, including linguistic materials, as Murdoch’s text so clearly manifests.
5. O n E x p er ient ia l Forc es Langer, and Dewey, too, is interested in the ability, as well as the necessity, of an Endgestalt, the finished artwork or art image, to hold “all the phases of the evolving vision.” (M 179) In the realized form of the art work, she asserts, we find retained all the experiential aspects “which an ordinary perceptual datum gives up as it reaches its full objective status; because the ordinary percept becomes a thing for the percipient, but the artist’s creation becomes a symbol,” (M 179) a presentational symbol or expressive form, which, as we all know, is a central notion in Cassirer’s project.19 It presents, as well as has in its material configuration, a complex physiognomy. Langer writes, with a clear echo of Cassirer’s insights: “[E]verything that enters into a work has some physiognomy or at least the seed of physiognomic value […]. There is a reflection of inward feeling in the most typically outward, objective data of sensation […]. Their character is never
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John Dewey: The Later Works: 1925–1953, vol. 1: Experience and Nature [1925], ed. by Jo Ann Boydston, Carbondale/Edwardsville 1988, p. 314. See the comprehensive charting of the development of the aesthetic dimension in Cassirer’s thought in: Marion Lauschke: Ästhetik im Zeichen des Menschen. Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst, Hamburg 2007.
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as fixed and simple as the distillations our conventional store of qualifying adjectives has made from them.” (M 179) A work’s ultimate character or import transcends discourse, interpretive discourse offering only gestures toward decipherment, even if the work’s matter is discursive. Not only do artworks, as pregnant images, arise out of a rich reservoir of mental complexity, but Langer’s thesis is that they display, in their materially embodied inner logic, life and mind itself. For Langer, in short, the art symbol projects a specific and distinctive image of mind – or phase or dimension of minding. But it is not about the mind, even if it is permeated by features proper to minding. These features are what, for both Dewey and Langer, create in and by means of the art work the semblance of being an organic whole and in this way a dynamic unity of internal relations. Both Langer and Dewey make use of the notion of “semblance,” but in slightly different ways and with different emphases. But they share a strong sense of the living wholeness of works of art. Both works of art and mental acts, Langer argues, have “characteristic dynamic forms.” (M 200) Langer’s chief, and eminently difficult and contentious, thesis is that the logical form of acts is projected in the art symbol, though the projection does not entail that the artistic elements themselves appear as acts. Rather, the elements of the art symbol have formal properties “which, in nature, characterize acts,” (M 204) such as inviolability, fusibility, revivable retention of past phases, tension, gestalt-character, contrast, accent, rhythm. All these properties are also delineated in so many terms by Dewey. When Langer says that the artwork, in its total qualitative dimension, gives the appearance of “springing out of a matrix or body of potentialities,” (M 206) she is referring to a phenomenal feature or distinctive mode of appearing of the object. All levels of feeling attendant upon bodily existence are reflected, according to Langer, in the art work: substantiality, depth, unity, individuality or “uniqueness,” this last property being the source of the work’s “aliveness” or “expressivity.” Mind as a quickening of nature in the rise of feeling is mirrored in the quickening of expressive media in the art work, a key notion in Dewey’s cognate organism-based aesthetics. Langer further strengthens Dewey’s notion of the energy of objects by introducing the very important concept of gradients. “Gradients of all sorts – of relative clarity, complexity, tempo, intensity of feeling, interest, not to mention geometric gradations (the concept of ’gradient’ is a generalization from relations of height) – permeate all artistic structure.” (M 211) It is these gradients that make up for Langer an art work’s “rhythmic quality.” (M 212) Now, as Dewey remarked, rhythm is “rationality among qualities.” (AE 175) Langer confirms Dewey in her contention that the phenomenon of phase beauty, a notion clearly connected with gradients and transitions, is a mark not only of a work’s comple-
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Fig. 3 Hans Hofmann: The Golden Wall, 1961, oil on canvas, 152,4 × 182,9 cm, Chicago, Art Institute.
tion, but that it is the result of successive phases. So, the organization of energies, to return to Dewey, is “cumulating and conserving,” analogous to the onward motion of the “waves of the sea.” (AE 179) Indeed, in one sense, the wave structure of the flow of consciousness is an alternation of compressions and releases and forms of resistance that prevent immediate discharge of its energy. Following James’s image of the flights and perchings of a bird as exemplifying the flow of consciousness, Dewey conceives of experience as “progressively enacted,” reaching, through a series of “flights,” balance and equilibrium in the “perchings” or resting places, a process James schematized conceptually in terms of the “transitive” and “substantive” parts of the field of consciousness. But the “final measure of balance or symmetry is the capacity of the whole to hold together within itself the greatest variety and scope of opposed elements,” (AE 187) mirrored in our bodily existence as a field of integrated tensions. This is a reformulation of the unitas in varietate principle of the classical tradition, a gesture toward the centrality of the “interworking of opposed forces” in a work of art that entails that everything depends “upon the scale attempted.” (AE 187)
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Fig. 4 Jackson Pollock: Autumn Rhythm (Number 30), 1950, enamel on canvas, 266,7 × 525,8 cm, New York, Metropolitan Museum of Art.
Dewey speaks of “reciprocal oppositions” that generate tension that unfolds in “ordered extension” (AE 189) and give a work of art “volume,” which is by no means to be identified with bulk. As he puts it, the property of “extension, of related variety, is the kinetic phase which marks the release of energies that are restrained in ordered intervals of rest,” another echo of the flights and perchings of a bird image of James. Is this not a proper characterization of such markedly different images as Hans Hofmann’s The Golden Wall or Jackson Pollock’s Autumn Rhythm (Figs. 3 and 4)?20 Dewey recognizes that speaking of energy may seem to some to be out of place in dealing with art, but that one must acknowledge its centrality if we want to understand art’s “power to move and stir, to calm and tranquillize” and to keep these aspects in some rhythmic balance. Aesthetic effect, as Dewey understands it, “is due to art’s unique transcript of the energy of the things of the world.” It is not a transcript of things alone, but of their energies. These transcripts, symbolic images of all sorts, connect aesthetic effect with “qualities of all experience as far as experience is unified.” Art, as Dewey says, “operates by selecting those potencies in things by which an experience – any experience – has significance and value.” (AE 192) The 20
Hans Hofmann: Search for the Real and Other Essays, ed. by Sara T. Weeks/ Bartlett H. Hayes, Jr., Cambridge 1967, p. 44: “A line concept cannot control pictorial space absolutely. A line may flow freely in and out of space, but cannot independently create the phenomenon of push and pull necessary to plastic creation. Push and pull are expanding and contracting forces which are activated by carriers in visual motion. Planes are the most important carriers, lines and points less so.”
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energies of objects are, or arise from, the potencies in things. Art works strive to make them manifest. It is clear, however, that Dewey demands what he calls “commensurate perception” in order for the art work – or any object engaged in the aesthetic mode – to be seen as having an “ideal quality,” that is a kind of significance transcending and not reducible to mere factuality. But such a quality arises out of experience and, for Dewey, does not enter into it from some eternal realm of essences. “Order, rhythm and balance, simply means that energies significant for experience are acting at their best.” (AE 192) For an artifact to be classified as having energy entails that it has a distinctive experiential force. Simply recognizing that it is an art product does not entail acknowledging it as having any worth. It has value and force to the degree that it emerges as a striking figure out of labile grounds, the flat lands of common experience, and thus becomes an art work. Dewey has shown that it is this sense of emergence, and its distinctive unique quality of condensed and cumulative intensive rhythmic order(s), that attracts us and holds us in its grip. This is the point of Langer’s claim, which is also Cassirer’s, that the absence of a sense of uniqueness, of a distinguishing physiognomic quality, is the source of a work’s deadness or lack of expressiveness. It does not give rise to an experiential field with “gradients of growth and development” (M 214) embodied in or enfolded in it.
6. Be t ween Desc r ipt ion a nd Presc r ip t ion Dewey’s critique of a separate realm of “ethereal things” that ignore the universal structures and matrices of experiencing broadens the aesthetic field to encompass nature itself in all its forms of manifestation. Langer, for her part, remarks that the artistic image is “incomparably simpler than life” and that the “theory of art is really a prolegomenon to the much greater undertaking of constructing a concept of mind adequate to the living actuality.” (M 244) The implication of these claims is twofold. First, if life itself, in all its forms, is more complex than art, which mirrors it and is itself a form of natural processes, that is, human processes, then all of life, and all natural processes, can become objects of aesthetic appreciation or be looked at aesthetically. The universe itself becomes a realm of ramifying forms of the organization of energies. It is, in the last analysis, our perception and cognate activities that are slack, not the universe, which is itself a vortex of energies. Secondly, one of the upshots of Dewey’s Art as Experience is that it arrives at a position that is almost Zen-like in its prescription to experience the suchness of things, to see them as embodiments of qualities in a mode of vision that simply lets them be in both their ordinariness and extraordinariness. At its
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best, both art and nature itself in its continuous upsurge of forms present to us objects, as Dewey puts it, “to the construction [and perception] of which the self has surrendered itself in devotion.” (AE 193) Because, as Langer writes, “[l]ife is incoherent unless we give it form,”21 we both construct forms as well as open ourselves to all the formative processes of nature. In this sense Dewey, and Langer, too, are both describing the dynamics of our experiencing and prescribing not just how we must cultivate these practices of attending but also what types of objects are most worthy of our engagement.
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Susanne K. Langer: Feeling and Form, New York 1953, p. 400.
Sascha Freyberg
E R E I G N I S U N D O BJ E K T Zur Whitehead-Kritik von Edgar Wind und John Dewey
1. Im zweiten Teil von Lewis Carrolls Roman Sylvie and Bruno ist an einer Stelle die Rede von einem seltsamen Spaziergang:1 „Once a coincidence was taking a walk with a little accident, and they met an explanation – a very old explanation – so old that it was quite doubled up, and looked more like a conundrum.“2 Der Inhalt dieser alten, bereits „gebeugten“ Erklärung bleibt im Dunkeln, um nicht unnötig von der Form abzulenken. Statt der üblichen lebenden Akteure sind die Protagonisten dieser Anekdote Umstände und Ereignisse.3 Durch dieses Verfah ren wird die Methodik des ganzen Werkes dargestellt (der implizierte Alterungsprozess kann außerdem als Bonmot zur Philosophiegeschichte gelesen werden). Nach fast zwei Jahrzehnten Arbeit schreibt Lewis Carroll im Vorwort zur Entstehung des Buches: „The task, at first, seemed absolutely hopeless, and gave me a far clearer idea, than I ever had before, of the meaning of the word ‚chaos’: and I think it must have been ten years, or more, before I had succeeded in classifying these odds-and-ends sufficiently to see what sort of a story they indicated: for the story had to grow out of the incidents, not the incidents out of the story.“4
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Robert E. Innis und Nils Röller sei hier für Spaziergänge und Gespräche gedankt. Ivan Boldyrev, Viola Nordsieck, Tullio Viola und den Herausgebern danke ich herzlich für ihre Hinweise zum Text. Lewis Carroll: Sylvie and Bruno Concluded, New York/London 1894, S. 376. Die zitierte Stelle wird wie folgt eingeführt: „‚Why should you always have live things in stories?’ said the Professor. ‚Why don’t you have events, or circumstances?’ – ‚Oh please invent a story like that!’ cried Bruno. The Professor began fluently enough“, um dann jedoch bald feststellen zu müssen, dass dies gar nicht so einfach durchzuhalten ist. Ebd., S. 375f. Lewis Carroll: Sylvie and Bruno, London/New York 1889, S. x.
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Ein anderer berühmter britischer Mathematiker, Alfred North White head, vollzog eine ähnlich radikale Wende hin zum Ereignisdenken. Er wurde dabei jedoch neben den Grundlagen- und Anwendungsproblemen der Mathematik – die auch den Hintergrund von Carrolls Werk bilden – vor allem durch die Umwälzungen der modernen Physik angetrieben. Die kosmologischen Veränderungen und ihre allgemeinen Konsequenzen wurden zur Motivation seiner Prozessphilosophie. Darin wird jene relationslogische Wende deutlich, die Ernst Cassirer mit dem Wechsel vom Substanz- zum Funktionsbegriff gekennzeichnet hat und die bereits bei Carroll angedeutet wird.5 Statt an fantastischen Geschichten begann Alfred North Whitehead an einer Naturphilosophie zu arbeiten, die sich zu einer oft nicht weniger abenteuerlich anmutenden Kosmologie auf der Grundlage einer spekulativen Prozessmetaphysik entfaltete. Vom Anfang dieser Entwicklung an war der Begriff des Ereignisses grundlegend, um eine Philosophie zu entwickeln, für die Werdensverhältnisse die Struktur der Wirklichkeit bilden. Wirklichkeit ist demnach das beständige Auftauchen von Neuem, eine Aktualisierung, die in einem engen Verhältnis zur Potentialität steht. Es ist kein Zufall, dass Whiteheads Ansatz oft an platonische und aristotelische Konzeptionen erinnert – sein Werk kann auch als stetige Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Formbegriff angesehen werden – jedoch sind seine Grundbegriffe geprägt, um die Spaltung der Welt, die bifurcation of nature, in einen subjektiven Bereich der „Erfahrung“ und einen objektiven Bereich der „Tatsachen“ zu vermeiden.6 Gleichzeitig schließt er an die antike Ansicht von der Notwendigkeit der Metaphysik im Zusammenspiel mit der Empirie an: „By ‚metaphysics’ I mean the science which seeks to discover the general ideas which are indispensably relevant to the analysis of everything that happens.“7 In seinem metaphysischen Hauptwerk Process and Reality. An Essay in Cosmology findet er hierfür den Begriff der „spekulativen Philosophie“ und definiert diese als „the endeavour to frame a coherent, logical, necessary system of general ideas in terms of which every element of our experience can be interpreted“.8 Dieser Anspruch muss zwangsläufig zu methodischen Überlegungen führen.
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Vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. S.a. Michael Hampe: Alfred North Whitehead, München 1998, S. 62. Zu Carrolls Ereignisdenken in Verbindung mit seinen sprachlichen Verfahren s. Gilles Deleuze: Logik des Sinns [1969], übers. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt/M. 1993. Vgl. Alfred North Whitehead: The Concept of Nature, London 1920, S. 30. Ders.: Religion in the Making, New York 1926, S. 72. Ders.: Process and Reality [1929], New York 1985, S. 3.
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Whitehead ist im Laufe der Zeit immer stärker auf die Schwierigkeiten bei der Formulierung metaphysischer Entwürfe eingegangen. So betont er zunehmend die Unangemessenheit und Begrenztheit der Sprache und der philosophischen Darstellungsform sowie den notwendig hypothetischen Charakter von Kategoriensystemen: „Metaphysical categories are not dogmatic statements of the obvious; they are tentative formulations of the ultimate generalities.“9 Nachfolgend sollen Whiteheads Ansatz und seine Schwierigkeiten anhand der (sympathetischen) Kritiken von Edgar Wind und John Dewey nachvollzogen werden. Dem heutigen Generalverdacht gegenüber „Metaphysik“ zum Trotz, soll „mit ihm gedacht“10 und so daran erinnert werden, dass die bei Whitehead zentrale Insistenz auf die Bedeutung von unhinterfragten Vorannahmen weiterhin gültig ist.11 Die Reflexion des Verhältnisses von „Ereignissen“ und „Objekten“ impliziert bei Whitehead das Problem der verkörperten Form. Die Diskussion dieses Verhältnisses, die sich in den Kritiken von Dewey und Wind findet, kann daher auch im Anschluss an den Beitrag von Robert E. Innis gesehen werden,12 zumal die dort dargestellten Konzeptionen von John Dewey und Susanne Langer (in unterschiedlicher Weise) in engem Zusammenhang mit Whiteheads Philosophie stehen.13 Wenn ästhetische Erfahrung als paradigmatisch angesehen, aesthetic order als Prozess verstanden und in Analogie beziehungsweise Kontinuität zu natürlichen Ordnungen gedacht wird, so stellen sich genau die Fragen, die Whitehead seinem Systementwurf der ungespaltenen Natur und seiner „organismischen Philosophie“ zu Grunde gelegt hat.14 Statt nun von 9 10 11
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Ebd., S. 4. u. 8. S. Isabelle Stengers: Penser avec Whitehead. Une libre et sauvage création de concepts, Paris 2002. Momentan könnte davon insbesondere die Reflexion der Lebenswissenschaften profitieren. S. dazu Michael Hampe: Die Wahrnehmungen der Organismen. Über die Voraussetzungen einer naturalistischen Theorie der Erfahrung in der Metaphysik Whiteheads, Göttingen 1990. S. Innis in diesem Band. Zu Dewey und Whitehead s. z.B. Maria-Sybilla Lotter: Erfahrung und Natur. Von der Philosophie der Naturwissenschaft zur pragmatistischen Metaphysik der Erfahrung, in: Michael Hampe/Helmut Maaßen: Die Gifford Lectures und ihre Deutung. Materialien zu Whiteheads „Prozeß und Realität“, Bd. 2, Frankfurt/M. 1991, S. 234–275; zu Langer, die eine Schülerin Whiteheads war, s. Donald Dryden: Whitehead’s Influence on Susanne Langer’s Conception of Living Form, in: Process Studies 26 (1997), S. 62–85; vgl. a. Robert E. Innis: Susanne Langer in Focus. The Symbolic Mind, Bloomington 2009. Whiteheads Metaphysik ist durch einen Vorrang des Ästhetischen geprägt. Die Aufgabe seines organismischen Ansatzes beschreibt Whitehead in Anlehnung an Kant dementsprechend als „critique of pure feeling“. Whitehead: Process and Reality (wie Anm. 8), S. 113. Dies kann in Richtung einer philosophischen Ästhetik spezifiziert werden. Vgl. Martin Kaplický: Aesthetics in the Philosophy of Whitehead, in: Estetika 48/2 (2011), S. 157–171; Reiner Wiehl: Philosophische Ästhetik
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verkörperten Formen auszugehen, will Whitehead diese quasi erst synthetisieren, denn aus seiner Sicht ergibt sich die Aufgabe der metaphysischen Legitimierung von Beschreibungen, die eine Kontinuität von Natur und Erfahrung annehmen.15 Insofern dieses Programm auch im zeitgenössischen Pragmatismus verfolgt wurde, verstand Whitehead sein Projekt selbst als eine entsprechende Metaphysik und „Kosmologie des Pragmatismus“.16 Durch die pragmatistischen Kritiken von Wind und Dewey wird vor allem die Legitimität des Vorgehens diskutiert und die Frage aufgeworfen, inwiefern Whiteheads Darstellungsweise seinem Vorhaben angemessen ist.
2. Anders als Dewey, der durch seine Kritik in direkten Dialog mit Whitehead tritt, verfasst Edgar Wind seine Auseinandersetzung im Modus von Prolegomena, wobei er den Anspruch erhebt, der deutschsprachigen Philosophie das Grundproblem Whiteheads darzulegen. Wind, der heute eher als Kunsthistoriker denn als Philosoph bekannt ist, hat sich im Rahmen seiner Habilitationsschrift Das Experiment und die Metaphysik mit Whiteheads Ansatz beschäftigt.17 Die pragmatistischen und prozessphilosophischen Debatten hatte er zuerst in den USA der 1920er Jahre kennengelernt, wo er nach seiner Dissertation (bei Erwin Panofsky und Ernst Cassirer) einige Jahre verbrachte, bevor er 1927 als Mitarbeiter der Bibliothek Warburg nach Hamburg zurückkehrte. Das Verhältnis von künstlerischem Objekt, Sinneserfahrung und Be schreibung bestimmt den Ausgangspunkt, von dem aus er sich dem Werk von Whitehead nähert. Methodologische und erkenntnistheoretische Fragen der ästhetischen Wechselwirkung bilden den Fokus seiner Untersuchungen zu den Möglichkeitsbedingungen einer „konkreten Kunstwissenschaft“ in seiner Dissertation Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand von 1922.18 Das Interesse an Whiteheads Ansatz wird dann aber besonders durch die Problemstellung der Habilitationschrift geprägt, in der die Kritik des Naturbegriffs und die Kantische Trennung von noumenon und phaenomenon im Mittelpunkt stehen.
15 16 17 18
zwischen Immanuel Kant und Arthur C. Danto, Göttingen 2005, S. 124–157. Als „Ästhetik der inneren Form“ wird dieser Gedanke durch die Verbindung der Prozessphilosophien von Bergson, Whitehead und Cassirer entwickelt von Viola Nordsieck: Formen der Wirklichkeit und Erfahrung, Freiburg/München 2015. S. Alfred North Whitehead: Adventures of Ideas, New York 1933, S. 237. S. Lotter: Erfahrung und Natur (wie Anm. 13), S. 259 u. 266. Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologischen Antinomien [1934], hg. v. Bernhard Buschendorf, Frankfurt/M. 2001. Edgar Wind: Ästhetischer und kunstwissenschaftlicher Gegenstand. Ein Beitrag zur Methodologie der Kunstgeschichte [1922], hg. v. Pablo Schneider, Hamburg 2011.
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Unter dem Titel Mathematik und Sinnesempfindung. Materialien für eine Whitehead-Kritik19 hat Wind 1932 die erste kritische deutschsprachige Auseinandersetzung mit der Philosophie Whiteheads vorgelegt.20 Dabei hat er sich bewusst auf die Diskussion der naturphilosophischen Werke beschränkt,21 da er die in diesem Bereich vollzogene Unterscheidung von Ereignissen und Objekten als die grundlegende philosophische „Tat“ von Whitehead ansieht, welche die Basis für dessen metaphysische Systembildung bildet. Wind zeigt dabei, dass die Vermeidung der bifurcation of nature bei Whitehead nicht Prämisse, sondern Konsequenz der Auseinandersetzung mit der physikalischen Forschung ist. Daraus folgt für ihn die Notwendigkeit der Bildung einer neuen Terminologie. „Was Whitehead behaupten will, ist lediglich dies: daß, solange die Grundbegriffe der Physik jene Schwierigkeiten [des Dualismus] irgendwie in sich enthalten, jede Einzellösung, mag sie technisch noch so gewandt sein, doch nur auf ein Kompromiß hinausläuft. Was verlangt wird, ist die Aufstellung von Grundbegriffen, die auf jene Schwierigkeiten überhaupt nicht erst hinführen.“22 Für die begriffliche Überwindung der Spaltung der Natur in der physikalischen Forschung gibt es zunächst zwei Bedingungen: die Aufhebung der Unterscheidung von Raum und Zeit und das Ineinandergreifen der raum-zeitlichen Ausdehnung (anstelle eines Nebeneinanders von einzelnen Lokalisationspunkten). Auf die physikalische Begründung dieser Forderungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Wichtig ist, dass Wind Whiteheads terminologische Lösung der Grundprobleme fokussiert und den Grundbegriff des Ereignisses hervorhebt.
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Edgar Wind: Mathematik und Sinnesempfindung. Materialien zu einer Whitehead-Kritik, in: LOGOS. Internationale Zeitschrift für die Philosophie der Kultur 21 (1932), S. 239–280. Eine kurze allgemeine Besprechung von Whiteheads Werk hatte zuvor Hugo Bergmann präsentiert. Vgl. Hugo Bergmann: Der Physiker Whitehead, in: Die Kreatur 2 (1927–28), S. 356–362. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine, wenn auch zunächst sehr begrenzte, Auseinandersetzung mit Whitehead im deutschsprachigen Raum, an der u. a. Max Bense und Gottfried Martin beteiligt waren. Vgl. George Kline: Whitehead in the Non-English-Speaking World, in: William Reese/Eugene Freeman (Hg.): Process and Divinity, La Salle, IL 1964, S. 235–268; s. a. Ernest Wolf-Gazo: Die Whitehead-Rezeption im deutschen Sprachraum seit 1945, in: ders./Harald Holz (Hg.): Whitehead und der Prozeßbegriff, Freiburg/München 1984, S. 53–70. Wind unterteilt, wie auch heute noch üblich, Whiteheads Werk in eine mathematische, eine naturphilosophische und eine metaphysische Phase. Durch alle Phasen gibt es jedoch eine ausgeprägte Kontinuität der Probleme. Ivor Leclerc hat dies als sukzessive Erweiterung der Perspektive von den mathematischen zu den metaphysischen Problemen beschrieben. S. Ivor Leclerc: Whitehead and the Problem of Extension, in: Journal of Philosophy 58/19 (1961), S. 559–565, S. 559. Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 249.
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Das Ereignis als Grundelement der Wirklichkeit bezeichnet bei White head konkret raum-zeitliches Geschehen im allgemeinen Sinne und ist (im Gegensatz zum einfachen Punkt Euklids) als komplexer Punkt, d.h. als Fülle konzipiert. Seine Grundeigenschaft ist die der Umfassung beziehungsweise Einbeziehung von bereits vergangenen Ereignissen, so dass ein kontinuierlicher Zusammenhang von Ereignissen im Modus der Ausdehnung folgt, die sich als stetige Verschachtelung veranschaulichen lässt. Wind präzisiert, dass die Ereignisse in zwei Beziehungen gestellt sind: In die Ausdehnungsrelation des Einbeziehens und Umfassens sowie in die Beziehung zu ihrer Bestimmung. Dieser entspricht dasjenige, was das Ereignis zu einem bestimmten Ereignis macht, was seine Selbst-Verwirklichung ermöglicht. Im traditionell platonischen Sinne wäre das seine „Form“, Whitehead spricht aber vom „Objekt“, um Objektivierung und Gegenständlichkeit zu betonen. Erst durch das Einbeziehen (ingression) der Objekte in den Verwirklichungsprozess werden Ereignisse zu Konkretisierungen, um dann im Moment ihrer Verwirklichung von der Aktualität wieder zur Potentialität (für neue Ereignisse) überzugehen.23 Wind erkennt die Bedeutung dieser Konzeption an (insbesondere als Fortschritt gegenüber dem Logizismus von Moore und Russell), macht aber einen durchgängigen „Trugschluß“ aus, der sich durch Whiteheads Werk zieht: die Atomizität des Objektbegriffs.24 Problematisch findet er die Ableitung als logischer Gegenpart des Ereignisses, denn Whitehead muss den Objekten (eben als Objekten) die entgegengesetzte Eigenschaft zusprechen: nämlich innerlich ungegliedert und äußerlich unverbunden zu sein.“25 Das bedeute, dass Objekte ganz außerhalb der Ausdehnungsbeziehung der Wirklichkeit stehen und quasi fertige Elemente bilden. Wind kennzeichnet die Schwierigkeiten, die dies für Beschreibungen impliziert, daran, dass die Rede von einem Teil des Objekts bei Whitehead ein „logisches Monstrum“ sei.26 Zudem muss am Objekt noch einmal das „Ereignishafte“ (zum Beispiel das Sichtbarwerden) und das „Objekthafte“ (das, was sichtbar wird) unterschieden werden.27 Wind kritisiert dementsprechend die Einteilung in „sense objects“, „perceptual objects“ und „scientific objects“ (die Whitehead später aufgegeben hat), da die Kategorie, unter die die meisten Dinge fallen würden („perceptual objects“, d. h. Wahrnehmungsobjekte im alltäglichen
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Whitehead spricht später in Process and Reality auch von „actual occasions“ und „actual entities“. Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 241f. Wind führt dies auf den Anschluss an Moores Methode im Streit um Bradleys „interne Relationen“ zurück, wobei zu berücksichtigen sei, dass Whitehead auch diesen gerecht werden wolle. Ebd., S. 252. Ebd. Ebd., S. 251.
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Sinne), widersprüchlich sei. Während beispielsweise Farben (als „sense objects“) und Elektronen (als „scientific objects“) durchaus der ideellen Trennung zugänglich seien,28 werde es für ganz alltägliche „Wahrnehmungsobjekte“ schwer fallen „das Objekt vom Ereignis derartig zu trennen, daß es alle Ausdehnung und damit alle Teilbarkeit verliert“.29 Hier kann Whitehead nicht auf die hypothetische Verfasstheit des konzeptuellen Schemas verweisen, das später ganz pragmatisch als Ermöglichung von Beobachtungen verstanden wird, denn Wind insistiert genau auf der Umsetzung dieser Möglichkeit der Beobachtung. Whitehead selbst hatte postuliert: „For natural philosophy everything perceived is in nature.“30 Dies bedeutet aber, dass die Naturprozesse und unsere Wahrnehmungen von ihnen in einem Zusammenhang betrachtet werden müssen. Aus diesem Problem ergibt sich eine systematische Dynamik: „Mit einer gewissen Folgerichtigkeit entwickelt sich so aus der ursprünglichen Meisterschaft Whiteheads in der Handhabung der mathematischen Technik ein Bedürfnis, die Grundlagen der Naturerkenntis zu erforschen; und der Empirist, der sich in diesen Forschungen durchzusetzen sucht, verwandelt sich unversehens in einen Metaphysiker.“31 Wenn Whiteheads Theorie haltbar sein soll, so Wind, muss sie sich anhand konkreter Beobachtungen testen und auch entsprechend modifizieren lassen. Begriffliche Unterscheidungen können zunächst gelten, ohne dass sie direkt bestätigt oder widerlegt werden können, aber dies bedeutet nicht, dass sie völlig außerhalb jeglicher prozessualer Formung und Rückwirkung stehen. Diesen Anschein machen aber Whiteheads Objekte und dementsprechend schlägt Wind vor, sie als „Begriff“ im Sinne einer Bestimmung zu übersetzen, obwohl er vermutet, dass Whitehead sich gegen eine solche Lesart wenden und darauf bestehen würde, dass sich in seinem Objektbegriff konzeptuelle und gegenständliche Aspekte verbinden lassen. Genau dies bezweifelt Wind jedoch, denn die ideelle Geltung werde nicht genügend mit sinnlicher Erfassung verbunden. Daher folgert er, dass Whitehead sich in seiner Naturphilosophie auf die „Beobachtbarkeit der Natur“ stützt, ohne zureichende Bedingungen für echte Beobachtungen zuzulassen und wirft ihm vor, damit einen Begriff der Beobachtung zu vertreten, der eher projektiv-mathematisch im Modus der Vorstellung operiert: „Diese Art der ‚Schau’ hat den Boden der Sinneswahrnehmung (im gewöhnlichen wie im Humeschen Sinne des Wortes) längst verlassen. Sie ist ein Akt der wissenschaftlichen Einbildungskraft und kann ihr Recht nur durch den Ausbau eines 28
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Auch hier findet Wind die Anwendbarkeit praktisch begrenzt. So würde man nach der rein ideellen Auffassung sagen müssen, dass Farbe immer eine bleibt, auch wenn sie durch Intensität und Schattierung je nach Ausdehnung und Lage auf der Leinwand eines Gemäldes faktisch unterschiedlich wahrgenommen wird. Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 251. Whitehead: The Concept of Nature (wie Anm. 6), S. 3. Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 246.
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Systems erweisen, das logisch in sich geschlossen ist und zugleich alle Tatsachen, über die es reflektiert, in sich aufnimmt.“32 Nun ändert sich durch die Erweiterung der Perspektive von der Naturphilosophie zur Metaphysik bei Whitehead auch der Begriff des Objekts. Schon in Science and the Modern World spielt beispielsweise besagte Einteilung der Objekte keine große Rolle mehr. Während damit einige Schwierigkeiten verschwinden, ist Whitehead weit entfernt davon, seine Grundunterscheidung von Ereignissen und Objekten in ihrer Rolle als Existenzkategorien aufzugeben. Er stellt nun aber die reine Funktion der Objekte stärker heraus und differenziert bereits verwirklichte, also objektivierte Ereignisse, sowie „andauernde“ und „ewige Objekte“. Die andauernden Objekte ersetzen größtenteils die scheinbar wirren Wahrnehmungsobjekte und sind als sich stabil haltende „societies“ von Ereignissen („actual entities“) gekennzeichnet, während die „ewigen Objekte“ die Potentialität und die „forms of definiteness“ umfassen. Winds Diagnose, dass Whiteheads Metaphysik in weiten Teilen die Entfaltung und Bearbeitung seiner Grundunterscheidung darstellt, scheint sich zu bestätigen. Durch die Kritik von John Dewey wird noch deutlicher, dass es nicht nur um das Problem der Beobachtung und Sinneswahrnehmung, sondern auch um die angemessene Beschreibungsweise, das heißt um die philosophische Darstellungsform geht.
3. Deweys Philosophie ist von circa 1920 bis 1950 im nordamerikanischen Raum bestimmend gewesen33 und hat auch auf Whiteheads Entwicklung eingewirkt. Beispielhaft für Whitehead, der seit der Berufung nach Harvard 1924 in den USA lebte, ist die pragmatistische Konzeption der Philosophie, die Dewey mit Peirce und James teilt und die den Graben zwischen Theorie und Praxis überwinden will. Speziell Dewey dürfte außerdem durch die Emphase auf eine Metaphysik des nichtreduktionistischen Naturalismus auf Whitehead Einfluss gehabt haben. Wie Wind erkannte auch Dewey die große Bedeutung von Whiteheads Philosophie. Da man es also mit einer freundlich gesinnten Lesart zu tun hat, erscheint die Kritik, die er an Whiteheads Konzeption übt, umso wichtiger. Erstmals hat sich Dewey in einer Rezension von Whiteheads Adventures of Ideas ausführlicher zu dessen Philosophie geäußert: „Mr. Whitehead is preeminent 32
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Ebd., S. 276. Vgl. Maria-Sybilla Lotter: Die metaphysische Kritik des Subjekts. Eine Untersuchung von Whiteheads universalisierter Sozialontologie, Hildesheim/ Zürich/New York 1996, S. 67ff. So auch festgestellt von Alfred North Whitehead: John Dewey and His Influence [1933], in: Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of John Dewey [1939], New York 1951, S. 475–478.
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among living thinkers for his extraordinary sensitiveness to the movement of things.“34 In diesem Zusammenhang verortet er auch das Grundproblem der Philosophie Whiteheads als „the question of how eternal objects can be influentially embodied in the processes of change that constitute the actuality of the universe.“35 In Deweys weiteren Kritiken wird dieser Punkt wieder aufgenommen. Jedes Mal betont er, dass er in Ausgangspunkt und Richtung mit Whitehead übereinstimme und die Differenzen in der Durchführung, in der „question of basic method“ lägen.36 Probleme ergäben sich nicht durch die Grundüberzeugungen Whiteheads, wie seine „fundamental conception of experience“ und sei nen „integrated Naturalism“, sondern durch den „intermediary apparatus“, einen Begriffsapparat, den Whitehead benötige, um die Elemente seines Systems miteinander zu verbinden – „the interweaving being required only because of the assumption of original independence and not being required if they emerge to serve functionally ends which experience itself institutes.“37 Dewey kritisiert also ebenso wie Wind die Trennung von „events“ und „objects“ beziehungsweise von „actual occasions“ und „eternal objects“ und konstatiert zudem ein Schwanken zwischen experimentellen („genetic-functional“) und mathematischen („formal-mathematic“) Auffassungen bei Whitehead, wofür er dessen Betonung eines „Rationalismus“ verantwortlich macht, der die kategorische Koordination bevorzuge. Die metaphysische Methodik Whiteheads, obwohl sie in eine sprachliche Form gekleidet ist, bewahre das „rationalistische“ Moment der Mathematik. Demgegenüber beruft sich Dewey immer wieder auf eine „empiristische“ Perspektive – eine Insistenz, die sicherlich auch aus seiner frühen psychologischen Forschung und seiner Beschäftigung mit den Problemen der Bildung herrührt. Zudem ist für Dewey ein „Objekt“ (wenn er den Begriff terminologisch verwendet) als „Ereignis mit Bedeutung“ definiert. Aus seiner Perspektive erfüllt eher der genetisch-funktionale Ansatz durch kontinuierliche Erkundung der Welt (von innen) die kritische Funktion der Überprüfung und Veränderung von metaphysischen Vorannahmen, während der formale Ansatz zwar nicht verworfen, aber nachgeordnet wird. Bei Whitehead sieht Dewey die gegenteilige Auffassung. Dementsprechend findet er auch in dessen Art der Dar34 35 36
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John Dewey: The Adventure of Persuasion [1933], in: The Later Works, Bd. 8: 1933. Essays and How We Think, Carbondale 1986, S. 355–359, S. 355. Ebd., S. 356. Vgl. John Dewey: Whitehead’s Philosophy [1937], in: The Later Works, Bd. 11: 1935–1937. Essays, Reviews, Trotsky Inquiry, Miscellany and Liberalism and Social Action, Carbondale 1987, S. 146–155, S. 153: „Because Whitehead’s philosophy is fraught with such potentialities for the future of the philosophizing of all of us, I have raised the question of basic method, instead of limiting myself to the more congenial task of selecting some one of its many suggestive developments for special comment.“ Ebd.
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stellung der Prozesse eine Doppeldeutigkeit, die in der Verbindung von an sich zeitlosen Elementen in ein umfassendes Geschehen besteht. Das Problematische der Unterscheidung von Ereignis und Objekt, so Dewey, sei die Trennung von Aspekten, die in der konkreten Situation immer zusammenhängen. In seiner Logic von 1938 schreibt er: „What is designed by the word ‚situation’ is not a single object or event or a set of objects and events. For we never experience nor form judgements about objects and events in isolation, but only in connection with a contextual whole. This latter is what is called ‚situation’.“38 Die Kontextualität und Situiertheit der (temporären) „Ganzheit“ ist hier entscheidend. Den Begriff der „ewigen Objekte“ lehnt Dewey dagegen rundweg ab, da er der allgemeinen Richtung von Whiteheads Philosophie als einer deskriptiven Prozessmetaphysik entgegen stünde. „The plea, then, for the alternative direction of development of his thought is in essence a plea for recognizing the infinite fertility of actual occasions in their full actuality.“39 Nun würde auch Whitehead nicht bestreiten, dass Ereignis und Objekt zusammenhängen, jedoch auf der logischen Notwendigkeit der Unterscheidung bestehen. Die Unterscheidung entspricht einer Differenz der metaphysischen Existenzweise: Beide Entitäten sind „real“, aber nur Ereignisse sind wirklich (actual), während Objekte keine eigenständige Wirklichkeit haben, sondern als bestimmte Potentialitäten nur Funktionen des Aktualisierungsprozesses, das heißt abhängige Entitäten sind. Whitehead hat das Verhältnis später oft mit den Aristotelischen Begriffen energeia und dynamis beschrieben.40 Entscheidend ist, dass sie einander bedingen: „[N]amely Actuality is the exemplification of Potentiality, and Potentiality is the characterization of Actuality, either in fact or in concept.“41 Das Ereignis ist Konkretisierung, das heißt Exemplifizierung einer echten Potentialität. Die Wirklichkeit ist Verkörperung. Doch wenn die Ereignisse zu sammenhängen und somit eine Wirklichkeit bilden, etwas verwirklichen und zugleich individuell sein sollen, muss es Whitehead zufolge etwas geben, das in die Verwirklichungsprozesse als bestimmte und bestimmende Form eingeht. Das Umgebende, das Entgegenkommende, Erfahrung überhaupt wäre sonst entweder disparat oder immer gleichartig – in beiden Fällen abgeschnitten vom Möglichen und bedeutungslos. Deswegen korrespondiert dem Ereignis als Wirklich38 39 40
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Ders.: The Later Works, Bd. 12: 1938. Logic, The Theory of Inquiry, Carbondale 1986, S. 71f. Ders.: Whitehead’s Philosophy (wie Anm. 36), S. 154. Vgl. Ivor Leclerc: Whitehead and the Theory of Form, in: Reese/Freeman (Hg.): Process and Divinity (wie Anm. 20), S. 127–137. Zur metaphysischen Diskussion des Verhältnisses von Whitehead zu Platon, Aristoteles, Spinoza etc. s. ders.: Being and Becoming in Whitehead’s Philosophy, in: Kant-Studien 51 (1960), S. 427–437. Alfred North Whitehead: Modes of Thought, New York 1938, S. 70.
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keit (actuality) bei Whitehead das Objekt als reale Potentialität,42 die einen Aspekt des Verwirklichungsprozesses bildet. Ohne selbständige Existenz, rein als Ingredienz des Geschehens, soll es die Funktion der platonischen Formen erfüllen, ohne die Natur zu spalten.
4. In der gleichen Ausgabe des Philosophical Review, in der Deweys Symposiumsrede von 1936 erschien, wurde auch eine Remarks betitelte Antwort von Whitehead auf die Beiträge des ihm gewidmeten Symposiums veröffentlicht.43 In seinem Text setzt er sich fast ausschließlich mit Deweys Kritik44 auseinander: „John Dewey asks me to decide between the ‚genetic-functional’ interpretation of first principles and the ‚mathematical-formal’ interpretation. There is no one from whom one more dislikes to differ, than from Dewey. William James and John Dewey will stand out as having infused philosophy with new life, and with a new relevance to the modern world. But I must decline to make this decision.“45 Whiteheads Anwort geht zunächst an der Kritik vorbei, denn Dewey hatte nur nach dem Primat der Methode gefragt, ohne in Abrede zu stellen, dass beide zusammenhängen müssen. Er scheint vielmehr mit dem Bezug auf die Metho den auf Deweys Kritik seiner Konzepte einzugehen: „The historic process of the world, which requires the genetic-functional interpretation, also requires for its understanding some insight into those ultimate principles of existence which express the necessary connections within the flux.“46 Auch für Whitehead ist zwar die „genetic-functional interpretation“ das Ziel, und so betont er hier ebenso wie an anderen Stellen die notwendige Kooperation der verschiedenen Methoden (Spekulation und Empirie, Logik und Beobachtung) sowie die Kontingenz jedes philosophischen Anfangs.47 Er besteht allerdings gegenüber Deweys „Empirismus“ auf dem Vorrang der konzeptuellen Koordinierung, die den Beob-
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Im Sinne einer Möglichkeit, die sich in Wirklichkeit überführen lässt, ist bspw. für Whitehead auch die Zukunft real. Wirklichkeit und Realität können insofern (wie im Deutschen) bei Whitehead unterschieden werden. Alfred North Whitehead: Remarks, in: Philosophical Review 46 (1937), S. 179–185. Eine Antwort auf den späteren Aufsatz von Dewey in Band 3 der Living Philosophers von Paul Schilpp zu Whiteheads Philosophie von 1941 gibt es leider nicht. Statt der sonst üblichen Antwort auf geäußerte Kritikpunkte wurden im Band nur neuere Aufsätze von Whitehead abgedruckt. Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 179. Dewey hat Whitehead in ähnlicher Weise gepriesen und gegen die philosophische „Professionalisierung“ abgesetzt. Dewey: Whitehead’s Philosophy (wie Anm. 36), S. 149. Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 179. Ebd., S. 185.
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achtungsordnungen zu Grunde liegt. Neue Erkenntnisse ergäben sich eher durch eine Kritik der konkreten Beobachtung und einen damit verbundenen Perspektivwechsel.48 Aus der Erfassungsform von Strukturen, Gesetzen und Regelmäßigkeiten folge notwendig der Vorrang des mathematischen Denkens, das zur kohärenten Aufstellung eines konzeptuellen Schemas entscheidend sei.49 Mathematische Methoden sind für Whitehead vor allem wegen ihrer speziellen Verbindung zur Abstraktion und der die Sprache übersteigenden konfiguralen Darstellungsweise wichtig,50 die explorativ genutzt werden könne. In der Zusammenarbeit von formalisierter Figuration und Sprache könne also eine alternative Terminologie entwickelt werden,51 die es ermöglicht, die notwendigen Reduktionen und Abstraktionen der Einzelwissenschaften zu kritisieren.52 Bei der Aufstellung eines spekulativen Schemas geht es Whitehead nicht darum, die Wirklichkeit, die er als emergent begreift, einer Kategorisierung zu unterwerfen, sondern er versteht letztere als tentatives Mittel zur Bildung neuer Beschreibungsweisen, die uns Wirklichkeit erst begrifflich erschließen. Ihre Vorläufigkeit nehme der metaphysischen Aufgabe dabei nichts von ihrer Notwendigkeit, denn nur die Aufklärung der grundlegenden Begriffe und Ideen verhindere Verwirrung in der Empirie.53 Da letztere von bestimmten Faktoren absehen muss, könne man sich den „ultimate generalities“ (beziehungsweise dem „totalen Fakt“) nicht anders als spekulativ und asymptotisch annähern. Der „Sprung der Imagination“ ist jedoch nicht willkürlich, sondern folgt einer
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Vgl. ders.: Adventures of Ideas (wie Anm. 15), S. 155. Schon in seiner Introduction to Mathematics hat er die Ansicht von der notwendigen Mathematizität der Erklärung von Ereignisrelationen vertreten und formu liert dort wegweisend: „Let us try to make clear to ourselves why explanations of the order of events necessarily tend to become mathematical. Consider how all events are interconnected.“ Alfred North Whitehead: An Introduction to Mathematics, New York/London 1911, S. 11. Vgl. Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 183. In einem Dialog mit Lucien Price sagt Whitehead: „I do not think in words. I begin with concepts, then try to put them into words, which is often very difficult.“ Dialogues of Alfred North Whitehead as Recorded by Lucien Price, Boston 1954, S. 150. Whiteheads Konzepte haben offensichtlich einen erweiterten, konfiguralen Sinn. So heißt auch ein frühes Werk: Mathematical Concepts of the Material World, London 1905. Vgl. Michael Hampe: Vernunft, Gefühl und wissenschaftlicher Wandel. Feyerabend – Dewey – Whitehead, in: ders.: Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt/M. 2006, S. 229–253, insbesondere S. 242. Whitehead: Adventures of Ideas (wie Anm. 15), Kap. IX, S. 154. Lotter hat dementsprechend Deweys fehlende Begründung für die normative Seite seines Naturalismus kritisiert. Vgl. Lotter: Erfahrung und Natur (wie Anm. 13), S. 268–271. Für eine solche Begründung, wie auch für die Kritik der Empirie spiele die Ausbildung einer eigenen „begrifflichen Matrix“ eine wichtige Rolle. Vgl. Hampe: Vernunft, Gefühl und wissenschaftlicher Wandel (wie Anm. 52), S. 246f.
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Methode: „The true method of discovery is like the flight of an aeroplane. It starts from the ground of particular observation; it makes a flight in the thin air of imaginative generalization; and it again lands for a renewed observation rendered acute by rational interpretation.“54 Die „imaginative generalization“ ersetzt in der Metaphysik Induktion und Deduktion und wird nur durch die logischen Bedingungen der Kohärenz sowie die faktischen Erfahrungen und Beobachtungen begrenzt, so dass Interpretation und Beobachtung, rationale und empirische Aspekte in ein wechselseitig regulatives Verhältnis gebracht werden können. Hier wird die zu Grunde liegende mathematische Denkweise deutlich. Mathematik im grundlegenden Sinne ist für Whitehead die Erforschung der Konfigurationen und der „Verbundenheit aller Dinge“ und somit zwar abstrakt, aber niemals bloß „formal“, sondern ebenfalls eine Wissenschaft mit Methoden der Entdeckung.55 Der mathematische Symbolismus und die Verschiedenheit der Kalküle impliziere zudem eine kreative Nutzung, so dass zukünftige Formen und Anwendungen noch gar nicht absehbar seien.56 Für Whitehead beinhaltet dieser Symbolismus eine durchaus anschauliche Seite. Es scheint also möglich, dass sich mathematische Schau und experimentelle Beobachtung nicht einfach nur gegenüber stehen, sondern sich verbinden lassen. In der „eigentümlichen sinnlich-mathematischen Methode“57 spiegelt sich auch die bereits angedeutete ästhetische Grundauffassung Whiteheads und so beendet er seine Antwort auf Deweys Kritik nicht zufällig mit platonischen Obertönen und dem Hinweis auf einen „dritten Weg“: „My own belief is that at present the most fruitful, because the most neglected, starting point is that section of value-theory which we term aesthetics. Our enjoyment of the values of human art, or of natural beauty, our horror at the obvious vulgarities and de-facements which force themselves upon us – all these modes of experience are sufficiently abstracted to be relatively obvious. And yet evidently they disclose the very meaning of things.“58 Da er diesen Ansatz selbst jedoch nicht konkret verfolgt hat, bleibt auch die Verbindung von Mathematik und sinnlicher Wahrnehmung, von axiomatischen und experimentellen Verfahrensweisen bei Whitehead unbestimmt. Sowohl eine umfassende Integration in seine Darstellungsform als auch eine genauere Analyse der Verbindung mit ihren medialen, performativen und ästhetischen 54 55 56 57 58
Whitehead: Process and Reality (wie Anm. 8), S. 6. Vgl. Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 183. „[O]ur mathematics and our symbolic logic, as hitherto developed, represent only a minute fragment of its possibilities.“ Ebd., S. 184. Wind: Mathematik und Sinnesempfindung (wie Anm. 19), S. 247. Whitehead: Remarks (wie Anm. 43), S. 185. Hier ergibt sich noch einmal ganz deutlich die Verbindung zu den Ansätzen von Susanne Langer und dem späten Dewey.
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Dimensionen fehlen, ohne dass ihre Bedeutung eigentlich verkannt wird. So hat Whitehead auch später immer stärker die Nähe der Philosophie zu poetischen Verfahren herausgestellt, ohne den Bezug auf die Mathematik aufzugeben.59 Damit scheint Whitehead zwar grundlegend mit Charles S. Peirce und dessen diagrammatic reasoning übereinzustimmen, jedoch ohne wie dieser die Problematik selbst expliziert zu haben.60 Es sind diagrammatische Prinzipien wie Anschaulichkeit und Modifizierbarkeit, die Wind und Dewey in Whiteheads Systementwurf vermissen. Für sie ist dieser Entwurf ohne Zweifel wichtig. Die Frage ist nur, ob er nicht besser wie ein Diagramm oder eine Fiktion gelesen werden muss. Während Whitehead die Aufgabe der spekulativen Philosophie in der Bestimmung der Abstraktionsebenen und der Hervorbringung einer Terminologie zur Entdeckung neuer Zusammenhänge sieht, weisen Wind und Dewey auf die Probleme der Methodik hin. Immer wieder scheint die kategorische metaphysische Darstellung apodiktisch und assertorisch zu werden. Dem könnte eine „fiktionale“ Lesart abhelfen, denn so würde der zugleich rationale und tentative Charakter deutlich. In einem solchen Sinne des begründeten Vorschlags hat auch Whitehead seinen Entwurf aufgefasst und dabei versucht, so abstrakt wie nötig und so konkret wie möglich zu sein. Dewey weist darauf hin, dass dies nicht in eine perfekte Symmetrie gebracht werden könne; insofern Whitehead dies versucht, bringe er seinen Gesamtentwurf in Gefahr.61 Wenn man den Ausgang von einer organismischen Konzeption nehme, sei man der konkreten Erschließung des asymmetrischen Zusammenhangs von Umwelt und Organismus in einer genetisch-funktionalen Sichtweise verpflichtet.62 „Aristotle dissected fishes with Plato’s thoughts in his head“63 – sicherlich, aber die Frage bleibt, wie die im Fisch verkörperten Formen mit den Formen ihrer Erfassung verbunden sind.
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Whiteheads letztes Buch endet mit den Worten: „Philosophy is akin to poetry […]. In each case there is reference to form beyond the direct meanings of words. Poetry allies itself to metre, philosophy to mathematic pattern.“ Whitehead: Modes of Thought (wie Anm. 41), S. 237f. Vgl. Helmut Pape: Was ist Peirce’ bildnerisches Denken?, in: Franz Engel/Moritz Queisner/Tullio Viola (Hg.): Das bildnerische Denken. Charles S. Peirce, Berlin 2012, S. 65–91. Das Problem stellt sich auch auf einer relationstheoretischen Ebene, wobei die Frage besteht, inwiefern Whitehead den Ansatz in seiner Metaphysik durchhalten kann. Einen ebenfalls platonisch inspirierten relationstheoretischen Ansatz skizziert bspw. Julius Schaaf: Beziehung und Idee, in: Kurt Flasch (Hg.): Parusia, Frankfurt/M. 1965, S. 3–21. Whiteheads Rede von „emotions“ bzw. „feelings“ sieht Dewey in diesem Zusammenhang als mögliche Verwechslung von Funktion und Inhalt an. Whitehead: Adventures of Ideas (wie Anm. 15), S. 136.
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5. Es sollte deutlich geworden sein, dass sich die verschiedenen Perspektiven nicht ausschließen. Es geht hier eher um einen Perspektivismus und Betonungen, die sich mit der Art der gestellten Probleme verändern können. Verkörperungsprozesse zu beschreiben bedeutet, Konkretheit und Abstraktheit in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Darin, dass im Falle der Wissenschaft die Verbindung von Experiment und Metaphysik beziehungsweise Empirie und Spekulation grundlegend ist, stimmen Whitehead, Wind und Dewey überein. Während nun Dewey und Whitehead die Akzente jeweils anders setzen, hat Wind versucht, in seiner Theorie des Experiments und im Begriff der instrumentellen Verkörperung die verschiedenen Aspekte in einen sukzessiv selbstregulierenden Systembezug zu bringen. Seine Konzeption könnte sich in diesem Punkt als möglicher Kompromiss erweisen. Da dies einer weiteren Untersuchung bedarf, sei abschließend nur noch auf die verschiedenen Auffassungen von Situiertheit und Zeit eingegangen. Während Whitehead ein Modell der „Verbundenheit aller Dinge“ mit Hilfe von Elementen in einem mathematischen Modus der Unendlichkeit konstruiert, betonen Wind und insbesondere Dewey die Begrenztheit und Endlichkeit von Handlungskontexten und die Bedeutung provisorischer „Ganzheiten“ – also Historizität und Deixis. Die Forschungsmethode des Pragmatismus impliziert für sie die Erforschung von konkreten problematischen Situationen. Dabei ist das Ziel der Forschung, unklare in entscheidbare Situationen umzuwandeln. Eine Situation steht in einer Kontinuität zu anderen Situationen, bildet aber einen immer nur von innen heraus erforschbaren Zusammenhang, in den Forschung und Reflexion selbst rückwirkend eingeschaltet sind.64 Der Bezug auf die Erfahrung soll bei Whitehead die Anwendbarkeit der metaphysischen Spekulation sichern, die auch die Koordination von Werten betrifft, aber laut Wind und Dewey steht dem bereits Whiteheads Darstellungsweise im Weg. Sein Ansatz entwickelt in ihren Augen eine Eigendynamik, die zur Aufnahme immer komplizierterer Termini – bis hin zu alles verbindenden Prinzipien (zum Beispiel Whiteheads God) – führt, was insbesondere Dewey moniert.65 Aber lässt sich dies überhaupt vermeiden, wenn man so radikal wie Whitehead an der „Verbundenheit der Dinge“ festhalten will? Diese Radikalität in Bezug auf die umfassende Strukturierung bedingt die Darstellungsform und ist von einem Klarheitspos64
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Wind bezeichnet diesen Aspekt der „Immanenz“ der Forschung als das „Prinzip der inneren Grenzsetzung“ und ihre Progression als Zyklus, der sich „selbst reguliert“, s. Wind: Das Experiment und die Metaphysik (wie Anm. 17), S. 100. Dewey hat sich mit diesem Problem ausführlich in seiner Logik beschäftigt, die er explizit als „Theorie der Forschung“ definiert. Vgl. Dewey: Logic (wie Anm. 38). Dewey sah darin wahrscheinlich auch ein Zugeständnis an dogmatische Ganzheitsvorstellungen, die er aus emanzipativ-pädagogischer Sicht ablehnt.
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tulat angetrieben, das noch die letzte Vorannahme explizieren will.66 Whiteheads Konzept der Verbundenheit aller Dinge mag für ihn die konsequente Durchführung der pragmatistischen Begriffsbestimmung bedeuten, nämlich den Begriff eines Gegenstandes aus seinen Erfahrungsrelationen zu gewinnen.67 Der Punkt ist, dass Whitehead meint, ausnahmslos alle möglichen Relationen mitdenken, das heißt vom Prinzipiellen ausgehen zu müssen. Wenn die Verbundenheit aller Dinge in den Blick genommen werden soll, kann es für ihn daher keinen bevorzugten Ort geben. Der pragmatistische Ansatz zielt jedoch darauf, die konkrete Beschaffenheit einer raum-zeitlich bestimmten Forschungssituation miteinzubeziehen. Nimmt man Whiteheads Formulierung auf, dass von konkreten Erfahrungen auszugehen sei, diese aber immer die „Haare geschnitten bekommen“,68 damit sie überhaupt kommunizierbar werden, so wird deutlich, dass man sich nicht einfach weigern kann, die schmutzigen Wirrköpfe der Erfahrung zu frisieren, jedoch der Versuch erfolgen muss, auch ihre Wildheit zur Geltung zu bringen.
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Das vermerkt ähnlich auch Dewey: The Philosophy of Whitehead [1941], in: The Later Works, Bd. 14: 1939–1941. Essays, Reviews, and Miscellany, Carbondale 1988, S. 123–140, S. 124. Schon vor seiner Zeit in Amerika hat Whitehead eine ähnliche Auffassung vertreten: „Consider in your mind some definite chair. The concept of that chair is simply the concept of all the interrelated experience connected with that chair.“ Alfred North Whitehead: The Organisation of Thought, London 1917, S. 111f. Diese schöne Illustration des Unterschiedes von Whitehead und Dewey hat Allison Heartz Johnson aufgezeichnet: „When asked by Dewey: Are you a rationalist or an empiricist, Whitehead replied that rationalism is needed to determine what system of abstraction is important – otherwise you get a muddle-headed empiricism. […] However, rationalism is not the basic factor. We must start with some insights. Rationalism then ‚cuts their hair; washes their faces and fixes them up’ so as to be presentable in the available universe of discourses.“ Allison Heartz Johnson: Whitehead as Teacher and Philosopher, in: Philosophy and Phenomenological Research 29/3 (1969), S. 351–376, hier S. 353 (Herv. v. Verf.).
1I . I n t e r a k t i o n
Michael Kimmel
E mbodied ( M icro -) skills in Tango I mprovisation How a Collaborative Behavioral Arc Comes About
1. I nt ro duc t ion My present topic is the nature of experts’ skills that “reach out into” other bodies, while achieving coordinated interactional feats.1 The enabling conditions of joint embodied improvisation are thrown into relief through tango argentino, a pair dance emphasizing togetherness, precision in execution, and virtuosic improvisation. The following analysis draws on cognitive-phenomenological research, notably on micro-genetic interviews, think-alouds, a 6-year diary of my participatory experience as a tanguero, as well as a motion capture study with dancers. Sophisticated systems like tango highlight a twofold issue: How can two agents move as one, with minimal response delay, as the proverbial “four-legged beast”? And how is dynamic structure, which is recognizable and frequently quite spectacular, brought about despite a shared, pre-arranged plan (as one might see in ballroom dancing) being conspicuously absent? Argentine tango is an emergent, yet formally precise and non-arbitrary joint achievement. So what ensures its coordinated unfolding, a perfectly synchronized, functionally meaningful, and dynamically stable whole, as opposed to a freewheeling dynamic? I shall argue that no single capability is responsible, but a set of wellintegrated skills providing for repertoire, dexterity, sensory acuity, musicality, and bodily self-cultivation, but also for a resonance loop to manage intersubjectivity in real-time, which is the locus of highly specialized interaction skills.
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This research was supported by the Austrian Science Fund (FWF) under the project grants P-19436 and P-23067. The author also wishes to thank Germano Milite and Betka Fislova for their continuous support and their participation in the photo sessions.
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Michael Kimmel
1.1. Con f r ont i ng t he Sup er i nd iv idu a l Well-connected joint improvisation – at the intersection of expressive, sensorimotor and interactional abilities – is arguably one of the most difficult things humans achieve. Tango constitutes a prime example of a new frontier in research, where social cognitive science takes on issues of non-scripted joint action and intersubjectivity. Scholarship focuses on “how changes at the micro-level of relationships between the system’s constituents give rise to new patterns of behavior at macro-levels” and on how “constituents of a system act together to constrain the multiple actions of other constituents.”2 Quandaries haunting social science since Durkheim’s day – the dialectics of structure versus emergence – have recently been receiving considerable stimulation from this new field. We are on the way to an exciting new view respecting the ontology of the superindividual, a dynamically emergent realm, while also recognizing the partial autonomy of the brain- and body-bound cognitive base.3 Pioneered by studies of mother-child interaction, empirical research now extends to collaborative creativity, bodywork, and sports science. Meanwhile, an integrative backdrop for theorizing collaborative sense-making is found in enactivist philosophy and dynamic systems research.4 New tools for dynamic analy-
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Manuela Lavelli/Andréa P.F. Pantoja/Hui-Chin Hsu/Daniel Messinger/Alan Fogel: Using Microgenetic Designs to Study Change Processes, in: Douglas M. Teti (ed.): Handbook of Research Methods in Developmental Science, Malden, MA 2006, pp. 40–65, p. 45. Steve Torrance/Tom Froese: An Inter-Enactive Approach to Agency: Participatory Sense-Making, Dynamics, and Sociality, in: Humana.Mente 15 (2011), pp. 21–53. Alan Fogel/Andrea Garvey/Hui-Chin Hsu/Delisa West-Stroming: Change Processes in Relationships. A Relational-Historical Research Approach, Cambridge 2006; Keith Sawyer: Group Creativity. Music, Theater, Collaboration, Mahwah, NJ 2003; Michael Kimmel/Christine Irran/Martin A. Luger: Bodywork as Systemic and Inter-Enactive Competence: Participatory Process Management in Feldenkrais: Method and Zen Shiatsu, in: Frontiers in Psychology for Clinical Settings 5/1424 (2015), pp. 1–23; Jérôme Bourbousson/Carole Sève/Tim McGarry: Spacetime Coordination Dynamics in Basketball: Part 2. The Interaction Between the Two Teams, in: Journal of Sports Sciences 28/3 (2010), pp. 349–358; Thomas Fuchs/ Hanne De Jaegher: Enactive Intersubjectivity: Participatory Sense-Making and Mutual Incorporation, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 8/4 (2009), pp. 465–486; Valentina Fantasia/Hanne De Jaegher/Alessandra Fasulo: We Can Work It Out: An Enactive Look at Cooperation, in: Frontiers in Psychology 5/974 (2014), pp. 1–11; Alan Fogel: Dynamic Systems Research on Interindividual Communication: The Transformation of Meaning-Making, in: The Journal of Developmental Processes 1 (2006), pp. 7–30; Olivier Oullier/Scott J.A. Kelso: Social Coordination from the Perspective of Coordination Dynamics, in: Robert A. Meyers (ed.): Encyclopedia of Complexity and Systems Sciences, Berlin 2009, pp. 8198– 8212.
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Embodied (Micro-)skills in Tango Improvisation
sis are proposed, responding to the daunting challenges of non-scripted interaction: 1. Available interaction patterns are not only extremely numerous, but relative to an environment in flux. Accordingly, constraints are dynamically evolving such that competent responsiveness to them requires “smart” ways of exploiting perception and reducing complexity. 2. Tango adds the twist that two bodies functionally (and phenomenologically) interpenetrate each other. Communication is not merely “symbolic.” 3. The interactional whole is difficult to decompose: Emergent effects are not reducible to the sum of the parts. Describing how a complex coordination dynamic emerges requires genuinely new conceptual tools. 4. We need a multi-causal theory of constrained emergence to explain how contextual, biomechanic, interactional and other factors conspire to bring about the dynamic. Accordingly, individual skills – which may take years to master in their multiplicity – exhibit a complex synergetic interplay. 5. We need a multi-timescale description, from permanent constraints as backdrops to situated ones in permanent flux.
1. 2 . St r uc t u r e d I mpr ov i s at ion Tango argentino allows for perfectly connected joint action on the spur of the moment as dancers respond to their creative fancy and the momentarily arising spatial and musical possibilities. A dance in a milonga – the prototypical tango venue – is created step by step. Without substantially planning ahead tangueros fluidly generate as many as four or five elements per second (walking, rotations, leg crosses, displacements, leg wraps or swings, embellishments). The 10–15 minutes a couple remains on the dance-floor one might see hundreds of combinations. These in turn draw from a yet larger pool of generative possibilities. The systemic “matrix” tango is set on includes literally thousands of states and linkages between them. That said, many dancers are less interested in virtuosity than togetherness and musicality. They seek enjoyable joint improvisation while transducing the music into bodily expression and, at the same time, harmoniously blending with the overall flow on the dance-floor. Overall, tango exhibits tremendous precision with constrained form both in terms of individual and interaction rules, thus manifesting structured improvisation.5 Only this fact and the contraints of leader-follower structure allow tango to be fluid and interpersonally coordinated despite the challenges of 5
Michael Kimmel: Intersubjectivity at Close Quarters: Shared, Distributed, and Superindividual Imagery in Tango Argentino, in: Cognitive Semiotics 4/1 (2012), pp. 76–124.
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a musically and spatially changing environment. That is, tango developed basic constraints of form and role so dancers can rapidly deal with a variety of specific challenge.
1. 3. Role- s p e c i f ic Sk i l l s Tango has complementary roles, a kind of distributed cognition,6 in which leaders and followers execute functionally complementary, yet perfectly synchronized actions. As a basis for extemporizing a leader “incorporates” offerings of the music, the partner, and the dance-floor in real-time, picking up what James J. Gibson calls affordances.7 These real-time action solicitations are specified by perceptual signatures (visual, tactile, balance, etc.) that are essentially ephemeral; they evolve and devolve on a moment-to-moment basis. The leader must match the perceived affordances of the moment with the action-related repertoire. The follower responds to “invitations” signaled by the leader with almost imperceptible delay. In between “invitations” followers remain neutrally poised in a good “axis” for immediate action-readiness, stay well-grounded and calm, for example to let their body be loaded with enough “passive” energy. Followers have some leeway for step timing or ornamentation, but without impairing the lead. In traditional tango, they shape the “how” by ensuring dynamic stability, relaxation, and precision, but not the “what,” the improvised choices made.
1.4 . D i a log ue a nd Mut u a l I nc or p or at ion Dancers frequently characterize tango as a dialogue with “kinetic connectivity”8 and an invitation-response structure. Unlike speech, followers “answer” the lead nearly continuously (and visibly wait their turn only a “requests” pause or are building up). Yet, even in the flux of near-simultaneous actions dancers easily pinpoint request and response onsets. Are invitations conventional in the same sense social invitations are? They are clearly more than this. Interaction via communicative cues, a symbolic interactional semiotics is augmented through physical push-pull connections in a joint weight system. Lead cues have immediate biomechanic consequences for a trained follower as long as she controls her body form (for example by not letting the open arm slip away when force impinges) and freezes many general degrees of freedom. Leader invitations like
6 7 8
Edwin Hutchins: Cognition in the Wild, Cambridge, MA/London 1995. James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979. Brandon Olszewski: El Cuerpo del Baile: The Kinetic and Social Fundaments of Tango, in: Body and Society 14/2 (2008), pp. 62–81.
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a reorientation of the chest suggestively point to a new direction on the right or left, which followers “amplify” into full-body movements. Informational and mechanistic coupling are thus hard to separate. The more the follower is organized the more mere suggestions will appear as physically compelling. Furthermore, dancers create musculoskeletal inter-body chains and literally expand into the other body, hence creating body extensions.9 Extensions establish a closed sensory control loop allowing the leader to “remote control” the follower’s legs incrementally without ever touching or seeing them. Froese and Fuchs speak of “mutual incorporation.”10 Thus, the coordinative dynamics belonging to two separate nervous systems are so closely coupled as if they comprised a single nervous system.
2. Ta ngo a s “Mu lt i-sk i l l” For the superindividual system to have a chance of working, a suite of basic skills needs to be mastered and integrated by both individuals. Only adherence to them makes movements “tango-like” to the observer. With the increasing automatization of these basic skills, notably by training multiple variations in different contexts, attention is freed for creative aspects, yet they remain the basis for all tango whether extemporized or choreographed.
2 .1. Bo dy H abit s Both tango partners cultivate a particular fundamental body organization. Dancers activate a characteristic tango habitus when entering the dance-floor as prerequisite for everything that follows: Postural uprightness, inner connection of legs and chest, balancing the body into a neutral action-ready state (“being in axis”), initiating movements from the body center, making the arms and torso muscles into flexible conduits passing information from the embrace to the hips and legs, and finding synergies that minimize fatigue, for instance letting the strong core muscles do much of the work. Functionally speaking, fundamental habits appropriately reduce degrees of freedom for both individual biomechanics and the interaction system to work. They can also be understood as a basic “grammar” with syntax and semantics in which many things are off-limits (“unwords”), such as bending the torso, stepping in directions that are not the cardinal ones (i.e. “bad word order”), uncontrolled loss of core tension or decoupling of 9 10
Andy Clark: Supersizing the Mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension, Oxford 2008. Tom Froese/Thomas Fuchs: The Extended Body: A Case Study in the Neurophenom enology of Social Interaction, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 11/2 (2012), pp. 205–235, p. 213.
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the chest-hip connection (i.e. “sloppy speech”). Much like a grammar, fundamental habits thus predetermine the bounds of what one can possibly say within the system, the dance genre. Basic “grammar” therefore prefigures organic responses by optimizing effort within bounds. Such somatic “pre-settings” are conducive to action-readiness, effortless and more indirectly, also to interpersonal communication: ones own good body habits make step onsets become “crisp” for the partner, i.e. the differential between inaction and action is felt more quickly when the body axis is precisely aligned and not wobbly.
2 . 2 . Mo tor Re p er toi r e s Within the language analogy, dancers also need a vocabulary. Tango has a finite number of basic “movemes.” “Movemes” are dynamic representations furnishing material for improvisation; they may be discussed at two levels. At the level of a single body, everything is either a step in a cardinal direction or a rotation in two possible ones (albeit in various degrees of weight transfer between legs). Much training revolves around mastering basic forms of that sort: Precise walking demands a measured use of controlled lability to generate energy through one’s body center. Pivoting requires minimizing resistance by aligning the axis and body lengthening, keeping hips level, slightly bent knees for grounding (“rotating into the ground”), and closing the heels in time. Thus motor control relies on basic action concepts. Dancers also acquire body-part specific motor commands, like shoulder opening, chest rotation, controlled lability (“weight projection”) and weight transfer. Experimenting with how a subtle adjustment at this level affects the partner is crucial. Beyond individual action concepts dancers will also learn dyadic “mov emes,” elementary interaction concepts such as {partners in open-legged stance, knees facing each other} ROTATION, WEIGHT SHIFT TO REAR LEG {crossed legs}. The difference to individual action concepts, obviously, is that the partner’s motor commands and states cannot be directly perceived, although the resulting sensory outcomes can. These outcomes, qua extended body (see below), have similar control-related consequences for the leader and almost match the immediate responsiveness to motor commands in one’s actual body. At both levels, dancers will master increasingly finer units as expertise grows. Motor commands and incremental responsiveness will become sensitive to subdivisions, such as the phases of a step. An added benefit is that improvisational decision options grow finer in tandem.
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2 . 3. Com mu n ic at ion Configurational habits that are mutually reproduced at each moment make signal transmission fast, precise, and unambiguous. Information flow thus owes to proper geometry, a dyadic grammar, notably by pointing the breastbones towards each other to ensure optimal energy/signal transmission. Establishing musculoskeletal inter-body chains from A’s legs to B’s torso and vice versa is equally essential. Such enabling dyadic “pre-calibrations” do a large part of the work in specific tasks by sufficiently narrowing the initial degrees of freedom of the couple. Dancers also acquire practical knowledge of how to issue signals and of reading their significance, so that a follower will learn to distinguish the onset threshold of the leader’s weight shift for initiating a step. Some of this intersubjectivity related knowledge is task-specific, some general. Especially followers can get around by concurrently respecting about eight or ten general precepts for receiving and channeling the leader’s energy and incorporating them as part of their body-grammar fundamentals. Further intersubjectivity skills for feeling and being felt add to this: Knowing how to calibrate the embrace, how and where to touch in order to gather the requisite information, and how to maximize feedback for the partner’s benefit. This can consist in improving one’s axis (or other body grammar), which inherently makes for clear communication and better distinction of techniques, amplifying signals in the lead by adapting the embrace or clarifying the abovementioned sternum-to-sternum connection. Finally, optimization and repair skills are needed whenever miscommunication occurs, either by dynamically correcting against deviations from an ideal trajectory underway or, on the leader’s part, rerouting on-the-fly if any other than the intended “moveme” seems easier to realize. Agents thus possess “good tricks” for dealing with fluctuations (micro-repairs, reciprocal compensation, etc.) and for returning the system to a metastable state of action-readiness.
2 .4 . Per c e p t ion For dancers it is crucial to feel the partner’s axis position, the weighted leg and step phase he or she is in through a potentially very small and peripheral interface. Following enactivist theory, perception involves subtle, yet skilled explor atory action such as dynamic touch.11 For example resistance can only be probed 11
J. Kevin O’Regan/Alva Noë: A Sensorimotor Account of Vision and Visual Con sciousness, in: Behavioral and Brain Sciences 24/05 (2001), pp. 939–973; Michael T. Turvey/Claudia Carello: Obtaining Information by Dynamic (Effortful) Touching, in: Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences 366/1581 (2011), pp. 3123–3132.
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actively by feeding impulses into the other body system. Thus, so-called epi stemic actions elicit specific kinds of useful percepts. In tactile cases this is most evident. To feel what the partner’s body “offers,” a certain embrace with the right degree of flexibility is crucial, in which signals get passed on to the body center. A degree of controlled weight sharing via controlled lability in the partner’s direction can amplify the signal. Epistemic actions in gaze patterns (eye saccades) are less evident, but the principle remains the same. According to Gibson, expertise requires “educating one’s attention” by attuning it to meaningful perceptual variables.12 That is, reliably tracking “what counts” in a moving body orients the dancers. When observing others or when dancing themselves, the dancers attentionally highlight tango’s functionally important body segments and relations, including hip, breastbone, and shoulderpoints in their interrelation. The hip points reveal the current movement direction of a body. How long the imaginary diagonal stretches, the upper- to lowerbody dissociation reveals how “loaded” the “body-coil” is. Other variables concern the dyadic status and include relative distance, speed and acceleration differentials, step phase synchronicity (or not), relative configuration of body fronts, and relative placement of weighted legs. The angle between the body fronts at hip level (opposite, T-form, V-form, …) reveals relative motion trajectories. The ability of integrally perceiving all these tell-tale factors may be dubbed “smart perception,” which works by extracting complex relational variables without distracting or time-consuming inferential synthesis. Situational percepts also indicate (inter)action affordances (“doables”). Thus, dancers with the torso above their supporting leg can always pivot. Or, a partner in mid-step position, provided one’s front is directed towards him or her, always allows a sacada (invasion) into the open step. Thus, tango situations possess perceivable geometric or dynamic signatures indicating (inter)action options ad hoc. The open degrees of freedom need not be known, they can be felt.
2 . 5. I m a ger y While being widely used by teachers, ultimately most dancers generate geometric and dynamic imagery (like “imagine yourself suspended from a string”). Imagery summarizes good habits in a simple didactic way by focusing on particular aspects around which the rest of the movement tends to organize itself. Typical imagery includes whole-body trajectories, postural geometries, balance around an axis, the distribution of active and relaxed zones across the body
12
Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception (as fn. 7).
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highlighting the center of gravity as a leading edge of movements. Imagistic reduction, for example reducing the torso to a ball in the abdomen rolling through space, can be quite effective provided that secondary aspects are automatized such as an upright inner axis that “takes the rest of the body along.” Other imagery specifies ideal pair geometries such as the different ways in which the torsos can be configured or how parallelograms in the body can be shifted. Imagery can also support “smart” perception, for example when one reads the center of gravity or body-axis into the perceived silhouette based on their key role for tango movement. Or, body-axis imagery can serve as a crystallizing core for organizing perceptual input by focusing attention on everything that impacts the axis status.
2 .6. Mu sic In listening to tango music, the ability to understand its “solicitations” is trained with increasing familiarity with tango pieces. This is prima facie a perceptual skill of temporal parsing and understanding musical micro-gestalts, of noticing small interesting variations in the rhythm. However, when followers complain about a leader’s “lacking musicality” this is frequently a superficial criticism. Transposing well-heard music into motor commands requires dexterity and timing skills in their own right, no matter how good one’s ear. Leaders in particular must train micro-motor skills of initiating and completing steps precisely on the beat. Music is thus the field par excellence demanding an integration of perceptual and motor skills, while making both commensurate with the avail able repertoire and with lightning-quick choices for staying with the music. Temporal micro-coordination to fit rhythms and melodies comes from listening to and interpreting the music with different intentionalities. Alternatively, differential perception of music styles like tango vals and the quick double-time milonguero rhythm may be trained.
2 .7. I mpr ov i s at ion In tango the demands of dexterity, interaction and the expressive medium converge for the leader. The expressive aspect is associated with “improvisation skills,” cognitively a highly complex topic.13 Suffice it to mention different modes for creating serial structure: In one mode leaders use planning ranges of two to eight
13
Michael Kimmel: A Cognitive Theory of Joint Improvisation: The Case of Tango Argentino, in: Vida Midgelow (ed.): Handbook of Dance Improvisation, Oxford (forthcoming).
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steps, in other words a mini-script. Scripting can work in interactive contexts, but only in a non-enforced mode, that is with sensitivity to the partner’s reaction or dancefloor contingencies and a willingness to reroute if necessary. Another mode is to select elements as small as a half-step at a time. (This may be a result of learning to decompose, adapt, reshuffle, or truncate scripts.) Node points furnish an auxiliary structure that supports basic step chaining as salient pair configurations stored in memory. “Surfing” the tango matrix by linking such nodes or even generating fitting pieces between distant nodes can serve as intuition pump. Finally, distinguished improvisers have a profound grasp of the generic logic of tango. They recognize momentary affordances by extracting invariants even from situations that are essentially new to them, because the sum total of pair geometry, weight distribution and related aspects signals possible options.
3. The Behav iora l A rc The behavioral arc notionally complements the idea of (micro-)skills by asking how these temporally and causally interpenetrate whilst “feeding” the interaction event. Willy-nilly, we study arcs whenever we aim to capture characteristic structures of becoming. A behavioral arc characterizes time-series segments of the dance with integrality to them, hence event clusters. Constituents of an arc are interwoven micro-events that (a) extend mutual cross-influences of a synchronic or diachronic sort (anticipation, planning, premodulation and preparation, dealing with after-effects) and (b) display synergetic trade-offs exceeding the sum of their parts. Arcs form a kind of bracket whether they arise as predesigned causal chains or as intentional links being woven on-the-go.
3.1. Sy nerg ie s Firstly, the arc concept highlights the synchronic complementariness of microskills within recognizable tango forms. Agents create contextually appropriate synergies of characteristic sorts. In many techniques proper posture, a particular geometry in the couple, a way of sensing, an (inter)action concept, and the right dynamic timing must coalesce for the task to succeed. In case of a volcada, an off-axis technique, the follower needs to manage her center of gravity adroitly to minimize weight in leaning. The leader must know how to step to create more distance to the partner’s legs to make her lean forward, but just enough, must know his step geometry to make the follower’s leg trace a circle, and must recognize the sensory signature of the endpoint to set her down. Synergies may involve key items that need to be present at all costs and frequently also need to come first so the rest can fall into place. In other synergies we see more equality between synergetes: Most often the movement works out when enough of them are present.
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Despite synergy requirements, tango also has a certain simplicity – or “simplexity”14 – to it. Multi-skill systems have evolved to intelligently reduce complexity and maximize efficiency by packing functions into integral synergies that crosscut the skill types listed earlier. Notably a good tango “axis” kills several birds with one stone: it is conducive to dynamic stability qua uprightness, to motility by providing a neutral starting position, to esthetics by virtue of elegance, to motor efficiency because the required core tension minimizes fatigue of weaker peripheral muscles, and to signal transmission by recruiting diagonal muscle chains that pass on impulses. Secondly, we see a diachronic build-up in which quite different microskills are deployed in a phase-sensitive, well-coordinated fashion that is jointly constitutive of a tango element. Each phase guides attention to specific subskills. A task might begin with subtle motor preparations while the previous task is still going on, e.g. checking neutral axis while perceiving that a potential decision point lies ahead. That this point has been reached is perceived as a moment of axis stability. A follower will now wait for the leader to initiate and simultaneously collect signals. The leader might inversely wait for the follower to perfect the axis before initiating while attending to the relevant feedback signatures and performing subtle exploratory (“epistemic”) actions15 like microrotating the follower to gauge feedback about her preparedness. When the leader begins a full-out (“pragmatic”) action this happens with slight leading ahead, but in controlled increments. The follower’s response is finely coordinated with the minuscule sequencing of lead increments. She actively monitors micro-signals like the degree of counter-body rotation from the leader, actively “melding into” them. She may also prepare her legs for the point of a step where her own “engine” kicks in. The leader monitors both his dynamics and whether the follower’s response fits to trigger micro-compensatory and task-protective routines as needed. In both dancers, certain body parts may subtly prepare for braking or stabilizing, for example calves and abdominals, without fully doing it yet.
3. 2 . Ti me s c a le s a nd Conte x t The arc concept applies at hierarchically embedded timescales: At the micro-timescale it has the span of a motor command of a modular “moveme” from the repertoire, which the leader matches with a minimal decision unit. Even this level of the arc displays causal nesting of micro-events. While the leader’s motor planning, usually 150–500 milliseconds in a joint step, 14 15
Alain Berthoz: Simplexity, New Haven/London 2012. David Kirsh/Paul Maglio: On Distinguishing Epistemic from Pragmatic Action, in: Cognitive Science 18 (1994), pp. 513–549.
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commits to a chosen “moveme” the “how” of executing this choice allows for modulation. Perceived “micro-affordances”16 between decision points guide the fine-tuning the incipient action to ensure its correct timing, micro-control, and dynamic correction in case of deviations from the ideal trajectory. At the meso-timescale leaders may envisage mini-scripts for the next few seconds. These collocations of “movemes” are analogous to multi-word formulaic speech. Scripting means planning and fluidly executing two to eight preplanned motor units, akin to “licks” in jazz, while bracketing out all rerouting options in-between. Dancers equally pay heed to “architectural” constraints for fitting several steps into a musical phrase. For instance, the tango vals music’s asymmetrical beat timing requires envisaging accentuation in advance. The entire dance may, in a weaker, but still relevant sense, have its macroarc. Characteristic, although non-deterministic structures may arise by and by, but may also involve a degree of sketch planning. Especially in performances, event templates are held in mind, such as “start with a quick passage, then vary, repeat an earlier theme, but make it more difficult, and end with an esthetic pose.” This reflects a weak type of intentionality only, as the main decisions of the leader occur after single steps or small multi-step scripts, at which time the system consolidates and opens its possibilities. The weaving of the arc begins with entering the dance-floor, the behavioral setting.17 Proper body habits and a good somatic milieu are actively pre-set in posture, being manoeuvrable, using specific muscles. Dancers then fine-tune their habits task-specifically to optimize synergies. Concerning tango milonguero, which has comparatively simple forms, but a double-time pacing, perfect neutral axis, soft knees, clear counter-body motion, a long upper body, a tight embrace and general relaxation will make the challenge of quick small movements easy. Moreover, dancers interpret momentary affordances in the light of prequel events or even the full interaction history; what dancers feed into the arc, notably if risks are taken, is frequently adapted to the couple’s perceived middleor long-range dynamics. For example, a leader who recalls his partner introducing a lot of forced ornamentations might want to curb his speed or avoid complex options for fear of “struggles,” or a follower recalling a rushed, insecure lead will strive to stand her ground with some exaggeration. Immediate precursor events also interwave elements of the arc in a more basic way: Improvised actions always pick up on positions of the previous moment (a spatial continuity requirement) and dynamic properties like high energy may spill over into the present moment. 16 17
Kimmel: Subjectivity at Close Quarters (as fn. 5), p. 103. Harry Heft: Ecological Psychology in Context: James Gibson, Roger Barker, and the Legacy of William James’s Radical Empiricism, Mahwah, NJ 2001.
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3. 3. D y n a m ic Sk i l l s The behavioral arc is the substrate for characteristic dynamic skills used to deliberately weave diachronic intentionality. At a relatively wide temporal grain, experts apply broadband modulators like breathing together, reducing energy for enhanced “interiority”, or staying close and present to relax the partner. Such modulators heighten the success of subordinate actions non-deterministically. That is, they indirectly tweak the entire system towards more efficient self-organization (control parameters in dynamic systems theory).18 At a smaller arc resolution of a half second or so leaders factor in skills for bringing about usable configurations at a remove (“I do X to enable/impel my partner to do Y, which enables action Z for me”). They strategically bring about affordances because they have experienced coregulative causalities many times over. They can anticipate proximal interaction outcomes not because they just “know” them, but because they are part of making it happen by active shaping and repairs on-the-fly. Leaders may promote desired affordances and “repair” dwindling ones by compensatory actions like increased contact or directivity. Dynamic specification of a goal while already moving is crucial. Fully improvising leaders who plan at most a “moveme” at a time specify the trajectory dynamically. This applies a fortiori to leaders who opportunistically exploit affordances of sudden occurrences or even incorporate mishaps and fluctuations to inspire their creativity, rather than blocking it. They skilfully exploit information gathered on the way. So too when wanting to improve rapport, dancers can optimally attune with the partner after beginning a step since the feedback picked up after initiation specifies what to further optimize. Experts make the dynamic their confederate and progressively add specifications both to taskstructure and means while the interaction is underway. It was said that synergies need not be pre-planned, not even for the next step. Nor need synergies be “off-the-shelf.” With growing experience, experts will rely less on “ready-mades,” and soft-assemble solutions instead.19 This means, leaders creatively blend in the here-and-now what is needed from semiindependent aspects of tango logic (maximal distance, maximal angle, etc.) and ensure a sufficient fit between these factors, often while experimenting rather freely within these bounds. Multiple micro-systems can coalesce under situated constraints in potentially unique ways. Soft-assembly requires a very advanced understanding of tango, its multiple constraints, and how these fit together.
18 19
Hermann Haken/Günter Schiepek: Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten, Göttingen 2006. Esther Thelen/Linda Smith: A Dynamic Systems Approach to the Development of Cognition and Action, Cambridge, MA 2004.
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4. D ia log ic De ter m i nat ion of t he A rc The behavioral arc arises collaboratively from causal interdependencies between micro-actions of two partners. From the individual contributions recurrent higher-level coordination patterns manifest tango techniques. Leaders and followers establish a resonance loop with each other through the embrace, a “mutual dynamical entanglement” of their bodies.20 These interdependencies are characterized as coregulation, a loop of constant reciprocal causation based, at each moment, on bidirectional information flow and on participatory sense-making of two a priori autonomous agents who, via structural coupling, produce an emergent coordination dynamic that is irreducible to the sum of its parts.21 Yet, I am not satisfied with letting matters rest with these necessarily limited shorthand abstractions.
4 .1. M ic r o -A n a lysi s of Col l ab or at ive E merge nc e For fully lifting the numinous aura from the superindividual “emergent,” we must shed light on the collective dynamic by specifying what links individual dynamics. This avoids ontological pitfalls associated with the collective realm and putting forth a micro-description that needs no such reifications. We shall now look at how individual contributions give rise to phase-by-phase action interdependencies, from which coordinative pattern arise. Within a “moveme,” leaders and followers micro-coordinate their action increments with respect to the partner, for example in forward walking: Each step demands a well-connected joint weight transfer and staying together, avoiding leg collisions (the follower’s free leg must have moved before the leader places his), and the step must end by collecting energy again and without overshooting (but to be kept “rolling” if desired). Individual micro-percepts and micro-actions link both roles tightly enough to ensure this coordinated unfolding (Fig. 1): … (0) {Leader senses that both partners are in start position} – (1) {Forward weight projection of leader, a controlled lability, informs the follower of incipient intention} – (2) {follower “loads up” torso, but stays in position, while channeling the information to the free leg, which extends backwards} 20 21
Froese/Fuchs: The Extended Body (as fn. 10), p. 205. Alan Fogel: Developing Through Relationships. Origins of Communication, Self, and Culture, Chicago 1993; Fuchs/De Jaegher: Enactive Intersubjectivity (as fn. 4); Floor Van Alphen: Tango and Enactivism: First Steps in Exploring the Dynamics and Experience of Interaction, in: Integrative Psychological and Behavioral Science 48/3 (2014), pp. 322–331.
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– (3) {sensing the follower’s leg stretch, the leader releases his weight fully while the follower activates the supporting leg to generate thrust}. Thus, the leader starts with a balance related percept of both bodies being in torso-above-leg-support position. This suggests readiness. He begins to send the torso forward by five or ten centimeters, thus making his body labile. This incipient weight shift is felt by the follower via resistance, tension changes, and diagonal forces in the embrace. The follower responds in the free leg. In turn, the
Fig. 1 Micro-coordination in a tango-foward step.
leg’s extension is felt by the leader through her shoulder-blade and diagonal forces in the embrace. When the leg has moved far enough, the leader releases his weight forward. As the follower reaches mid-step position she begins to actively push herself off while receiving the leader’s body weight until both pass through the start position again. In this way both roles take guidance from percepts in the partner and in themselves to initiate micro-actions phase-by-phase. Importantly, a step can be paused or reversed in most phases.
4 . 2 . “Con ne c t ive A lgor it h m s” I nter ac t i ng D y n a m ic a l ly The above said yields an informational model of causal interdependencies stretching across body-parts, agents, and phases (for example B’s leg reacts to A’s torso). The implication is that role- and task-specific control laws guide the agents.22 These robust perception-action linkages allow reacting to phase specific cues 22
William H. Warren: The Dynamics of Perception and Action, in: Psychological Review 113/2 (2006), pp. 358–389.
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through a “connective algorithm” and hereby execute a locomotion pattern in finely scaled increments. Note that a similar micro-level task analysis is possible for other techniques to specify phase- and role-specific triggers. Even task transitions can be explained analogously, either via salient “gatekeeper” cues triggering the appropriate control laws or because dancers simultaneously attend to all tango-relevant control dimensions and activate the situatively applicable laws. The reason for tasks being aborted or for rerouting, in this view, is the perceptual value of a control law moving out of the leader’s comfort zone. In such perceptual situations, good improvisers will reroute dynamically if possible, rather than enforce anything. In sum, two dancers connected in a tight resonance loop fully coregulate each moment of the interaction. Clearly, coordinated emergence is insufficiently explained through rote-learned contributions left to unfurl automatically after a joint task sets in. This would neither allow for precise timing, nor for interruptions at any point or ad hoc changes of trajectory. A fortiori, it is far-fetched to assume a numinous superindividual agency that simply makes the dancers behave in complementary patterns. They clearly remain semi-autonomous agents. However, it is the dynamic itself that, once initiated, calls up individually activated control structures which stepwise generate further percepts and actions cumulating to the appearance of superindividual agency.
4 . 3. E le me nt s of Col l ab or at ive E merge nc e Wrapping my analysis up, we get a multi-causal, but far from mysterious explanation of why collaborative emergence is structured. Tango’s functionally and esthetically coordinated unfolding has several ingredients: First, collaborative emergence requires permanent systemic structuration mechanisms in terms of consensual interaction frames, the wish to tango together, respecting etiquette, etc.23 Moreover, the superindividual purpose of tango is subtly reflected in the individual rules of posture, and, in a more tangibly interactional way, through the rapport enabling configurations and relational constraints of distance, angle, and the like. The aims of tango collaboration are thus embodied in the proper pre-calibrations serving as a “grammar.” Note that these enabling structures are not once set and then forgotten, but constantly monitored and actively maintained. Dancers know what proper rapport and a functional communication loop feels like, know sources of contact loss and learn appropriate countermeasures to micro-compensate. Next, we must explain how – via the interaction of role-bound microstrategies – coordinated meaningful tango forms and a characteristic dynamic 23
Fogel: Developing Through Relationships (as fn. 21).
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arc emerge. Why each role does the right thing at the right time is highlighted by how leaders and followers link up via interactive resonance mechanisms: both a sensorimotor and a musical resonance loop, which solicit individual contributions in real-time, increment-by-increment, and hereby support coordinated emergence. Such dynamic immediacy ensures a complementary unfolding down to the lowest timescale. Both loops require sensorimotor micro-skills whereby each emergent increment can be dynamically responded to. This happens through “connective algorithms” such as role-specific control laws. Thanks to constant monitoring the dancers can also fine-tune the interaction and repair glitches on-the-fly. When this fails further micro-skills allow dynamic rerouting, renegotiating stability, and troubleshooting in case of mishaps. While resonance loop mechanisms explain how coordination is maintained within incipient steps or rotations, the leader’s micro-intention determines which element is selected next. Leaders actively project ahead a joint outcome as imagery of the couple completing a “moveme.” This expressive intention is not strictly deterministic (any action can fail or the dancefloor be blocked), yet is a necessary counterpart to resonance mechanisms that coordinate the partners. Finally, when enough of the previous factors are present bonuses are reaped. Dyadic self-organizing tendencies arise such as partners mutually stabilizing each other in rotations. This is a case of the pair system “enslaving” the individual systems for their own good. Notably, good individual habits can add up to a dyadic surplus in organization that, by virtue of a circular causality,24 considerably facilitates the individual actions in return. A well-structured superindividual dynamic occasionally leads to novelty in the improvising couple feeling as if coming from a “third mind.” With everything else in optimal balance, chance fluctuations may self-organize into something genuinely new, yet viable. Unfortunately, a not so skilled pair dynamic can also “enslave” individual dynamics by enlisting them in a non-functional superindividual pattern of hesitation, blockage, and effort. Unexperienced dancers may self-perpetuate misunderstandings. Experienced dancers can be said to be experts in systemic dynamics with skills in breaking incipient negative stabilizations soon enough, for instance by “rebooting” the system.
5. Conc lusion In dissecting a sophisticated joint improvisation system I have inquired into feats of superindividual coordination both as regards their substrate and emergent dynamics arising through kinetic and informational coupling.
24
Haken/Schiepek: Synergetik in der Psychologie (as fn. 18), p. 83.
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Michael Kimmel
Interactive capabilities in tango argentino – precise and efficient, yet rich in variability – necessitate a multi-skill ecology. Skilled dancers recruit conglomerates of perceptual, motor, interactional, and – with improvisation in view – cognitive decision skills. Multiple skills must become confluent both synchronically and diachronically as dynamic interdependencies with the partner, space and music arise. In making the behavioral arc my notional lynchpin I provided a conceptual linkage (a) between various micro-skills in their emergent synergies (b) between the leader’s and follower’s role-specific strategies and the emergent dance structure. From the viewpoint of expertise, my inquiry sits well with metatheories for superindividual process management, for example in psychotherapy research (cf. synergetics).25 From this angle, possessing joint impro visational skills implies that agents manage emergence. They actively relate to multiple timescales of the behavioral arc. Finally, how does the superindividual “get into” a brain-and-body-bound system, the locus of skill? How can individuals incorporate the (intended and perceived) collective dynamic? My answer was that the superindividual is in leaders’ minds qua micro-intention for the next interaction concept, but more than this, that it is encapsulated in dynamic micro-skills working to connective ends (control laws, dynamic repairs) as well as in how dancers constantly and skilfully limit the degrees of freedom, both individually and as a couple. Thus, our viewpoint depicts dancers as (semi-)autonomous agents, yet linked in a system establishing its higher-order reality, provided both individuals “feed” this system in the appropriate ways. My argument ultimately sheds light on the structure versus emergence conundrum: How can one have both precision and improvisational flexibility/ creativity? No doubt, in other dances, martial arts, teamwork, and other social interactions, the mix of elements and their underlying (micro)-skills will differ, yet the type of systemic account needed to understand collaborative emergence will be similar. The present paper in sum illustrates the necessity of a multicausal and synergetic analysis of individual skills put into their context of dynamic interaction where transactional models of criss-crossing information flow support constant mutual adaptation.
25
Günter Schiepek/Heiko Eckert/Brigitte Kravanja: Grundlagen systemischer Therapie und Beratung: Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen, vol. 1: Systemische Praxis, Göttingen 2013; Guido Strunk/Günter Schiepek: Therapeutisches Chaos. Eine Einführung in die Welt der Chaostheorie und Komplexitätswissenschaften, Göttingen 2014.
Marion Lauschke
„ E xperience comes whole“ Zum Rhythmus der Kunsterfahrung
Edmund Husserl geht mit Alexander Pfänder am Bodensee spazieren. Sie werden Zeugen eines großartigen Sonnenuntergangs. Pfänder fragt Husserl: „Glauben Sie wirklich, dass Sie diesen Sonnenuntergang konstituiert haben?“1
1. DA S EN TGEGEN KOM M EN DE DEN K EN den ken Tagungstitel sowie Buch- oder Aufsatztitel sind Abstraktionen oder Konzentrate. In ihnen bringen Veranstalter und Autoren das für sie thematisch oder methodisch Wesentliche in prägnanter Kürze zum Ausdruck. Der im Tagungsprogramm in Versalien gesetzte Titel DAS ENTGEGENKOMMENDE DENKEN eröffnet einen Spielraum der Interpretation. In seiner Doppeldeutigkeit changierend, ermöglicht er, einem Kippbild ähnlich, entweder ein durch Eigenbewegung gekennzeichnetes, also lebendiges und aktives Objekt zu denken oder ein anschmiegsames, konziliantes, bewegliches – entgegenkommendes – Denken zu konzipieren. DAS ENTGEGENKOMMENDE DENKEN wendet sich in dieser Auslegung gegen die Fiktion eines omnipotenten ego cogito als Ursprung der Weltkonstitution, als dessen Karikatur Edmund Husserl in den Eingangszeilen herhalten musste, das heißt gegen einen Konstruktivismus, der sich selbstreferentiell gegen die Herausforderungen des Objekts immunisiert; und es wendet sich gegen den körperlosen Tanz postmoderner Reflexionsakrobatik um 1
Husserl sei Pfänder eine Antwort auf die Frage schuldig geblieben. Diese Anekdote, die sich auf eine Begebenheit bezieht, welche sich im Sommer 1921 ereignet haben soll, wird von Hans-Georg Gadamer überliefert. Vgl. Herbert Spiegelberg: Neues Licht auf die Beziehungen zwischen Husserl und Pfänder, in: Tijdschrift voor Filosofie 36/3 (1974), S. 565–573.
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die Leerstelle des Sinns und der Sinne. DAS ENTGEGENKOMMENDE DENKEN favorisiert Entwürfe, die einen Vorrang der Objekte als entgegenkommende postulieren und sie in dieser Eigenschaft beziehungsweise Potenz analysieren; und es favorisiert Entwürfe, die das Subjekt in seiner (mentalistisch eingeschlossenen) Konstitutionsleistung depotenzieren und eine Rezeptivität voraussetzen, der körperliche Bewegung – going out for a walk – inhärent ist, wie es bei denjenigen Ansätzen der Kognitionstheorie der Fall ist, die das menschliche Denken auf sensomotorische Fähigkeiten zurückführen. Versucht man, die doppelte Bewegung des einander Entgegenkommenden zu denken, fällt auf, dass eine Begegnung nicht vorgesehen ist. Es hieße jedoch, die mit der Formulierung des Tagungstitels verbundene Intention grob misszuverstehen, würde man sich ausschließlich auf den Dualismus des doppelten Entgegenkommens fokussieren. In Bezug auf Artefakte – deren Entgegenkommen hier im Zentrum steht – kann davon gesprochen werden, dass sie ihre Betrachter „ansprechen“ oder „treffen“ und somit in Bewegung, das heißt lebendig, erscheinen, und ein entgegenkommendes Denken wird in der Bewegung auf Objekte stoßen. Mit der Explikation des Denkbildes als spiegelbildlicher Bewegung soll jedoch auf einen Problembereich hingewiesen werden, der aus der Perspektive pragmatistischer Ästhetik in den Blick gerät. Aus dieser Perspektive erscheinen die in der Äquivokation enthaltenen Postulate aktiver Artefakte und motorischer Denker als Brückenpfeiler eines Bauwerks, dessen Verbindungsglied fehlt: Die duale Konstruktion lässt die Möglichkeit außer Acht, das intrikate transformative Geschehen zwischen Artefakt und Betrachter zu adressieren und die Erfahrung des lebendig wirkenden Kunstwerkes als Emergenz dieses Prozesses in actu zu begreifen. Es fehlt, in der Formulierung von Robert Innis: „The bodymediated encounter with this painting – the art product on the way to becoming the artwork.“2 Ein weiteres prozesslogisches Problem stellt aus dieser Perspektive die Substantivierung beziehungsweise Objektivierung des hinsichtlich seiner Attribute nicht weiter bestimmten „Entgegenkommenden“ dar. Im einsetzenden Prozess der (peripheren) Bewegungswahrnehmung, dass und wie etwas entgegenkommt, die sich von der (fokussierten) Gegenstandswahrnehmung dessen, was entgegenkommt, unterscheidet, lassen sich Subjekt und Objekt nicht trennen. Eine Objektkonstitution findet nicht statt. In dem Moment hingegen, in dem etwas als entgegenkommend gedacht wird, in dem also ein Subjekt einem Objekt gegenüber steht, kommt es nicht mehr, ist es schon angekommen, wird es aus
2
Robert E. Innis: Perception, Interpretation, and the Signs of Art, in: The Journal of Speculative Philosophy. New Series 15/1 (2001), S. 20–32, S. 21.
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„Experience comes whole“
der lebendigen Erfahrung abgesondert, entgegengestellt und vergegenständlicht. Das Entgegenkommende lässt sich nicht denken. Sobald es als etwas, als Substanz, gedacht wird, kommt es nicht mehr; solange es kommt, affiziert es und wird nicht als etwas gedacht. Denn in dem Moment, in dem das Ereignis geschieht, das mit „Entgegenkommen“ bezeichnet werden soll – etwa die lebendige Anmutung des Kunstwerkes – ist der Betrachter bereits von ihm ergriffen und durchdrungen. Will man das Geschehen der lebendigen Kunsterfahrung erfassen, lassen sich keine einander entgegenkommenden Entitäten denken. Sie sind ineinander verwoben.3 Werden beide Akteure getrennt beschrieben, lassen sich Kunstprodukt und Rezipient zwar in ihrer Potentialität, nicht jedoch in der Aktualität des Geschehens selbst denken. Durch Hypostasierung eines Vorrangs des Objekts, dessen Emphase der eingangs skizzierten Gegenbewegung geschuldet ist, wird zwar ein übersteigerter Konstruktivismus korrigiert, jedoch abermals ein Dualismus riskiert und eine erneute Trennung zweier in der Kunsterfahrung interagierender „Akteure“ zementiert.
3
Zur Verdeutlichung dieser „primären Indifferenz“ sei an die von Ernst Cassirer charakterisierte Ausdruckswahrnehmung erinnert. Cassirer beschreibt das Ausdrucksphänomen als eine „Grenzscheide der geistigen Entwicklung, als sie noch völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch andererseits über sie bereits hinausgeht“. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Teil 1: Die Sprache, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2001, S. 125. In der Ausdruckswahrnehmung gibt es die „Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren“. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Teil 3: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 13, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2002, S. 82. Kennzeichnend ist für die Ausdruckswahrnehmung, „daß ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewußtsein ihr nicht von Anfang an eignet. Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen […].“ Ebd., S. 83. Das mythische Bewusstsein, an dem Cassirer die Ausdrucksfunktion exemplifiziert, „,hat‘ den Gegenstand nur, indem es von ihm überwältigt wird; es besitzt ihn nicht, indem es ihn fortschreitend für sich aufbaut, sondern es wird schlechthin von ihm besessen“. Ders.: Philosophie der symbolischen Formen. Teil 2: Das mythische Denken, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12, hg. v. Birgit Recki, Hamburg 2002, S. 88. Der Unterschied zur Wahrnehmung von Kunstwerken besteht jedoch darin, dass der Betrachter sich freiwillig affizieren lässt und (prinzipiell) jederzeit von der Haltung des affizierten Objekts, dem die Gegenstände auf den Leib rückten, in diejenige des distanzierten Betrachters wechseln kann. Der Begriff der „primären Indifferenz“ entstammt Thiemo Breyers Aufsatz: Philosophie der Verkörperung – Grundlagen und Konzept, in: Gregor Etzelmüller u.a. (Hg.): Verkörperung als Paradigma der theologischen Anthropologie, Berlin 2016 (in Vorbereitung).
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2. E x p er ienc e c omes whole Mark Johnson konstatiert in The Meaning of the Body zur Skizzierung der ästhetischen Erfahrung im Anschluss an John Dewey und in dem DAS ENTGEGENKOMMENDE DENKEN äquivalenter Prägnanz: „Experience comes whole“.4 „Experience comes whole“ ist eine Formulierung für dasjenige dynamische Moment der Erfahrung, in dem keine Gegenstände des Denkens identifiziert werden, sondern sich die Erfahrung selbst in spezifischer Qualität aus dem Fluss der Erfahrung heraushebt und dem Subjekt der Erfahrung entgegenzukommen scheint – ein Moment, das dem routinierten, der Zweckrationalität unterliegenden Umgang mit bekannten Gegenständen des Alltags entgeht, mit ästhetischen Mitteln jedoch in Szene gesetzt und prolongiert werden kann. In dem Aufsatz Qualitative Thought von 1930 hat Dewey die Initialphase des Denkens, die unübersehbar ästhetische Züge trägt, wenngleich Dewey sie an den Anfang jedes Denkens setzt, dicht beschrieben, weshalb die Passage im Folgenden umfänglich zitiert wird: The only thing that is unqualifiedly given is the total pervasive quality; and the objection to calling it “given” is that the word suggests something to which it is given, mind or thought or consciousness or whatever, as well possibly as something that gives. In truth ,given‘ in this connec tion signifies only that the quality immediately exists, or is brutely there. In this capacity, it forms that to which all objects of thought refer, al though, as we have noticed, it is never part of the manifest subject-matter of thought. In itself, it is the big, buzzing, blooming confusion of which James wrote. This expresses not only the state of a baby’s experience but the first stage and background of all thinking on any subject. There is, however, no inarticulate quality which is merely buzzing and blooming. It buzzes to some effect; it blooms toward some fruitage. That is, the quality, although dumb, has as a part of its complex quality a movement or transition in some direction. It can, therefore, be intellectually symbolized and converted into an object of thought.5 Robert Innis schematisiert diesen beginnenden Formprozess der Erfahrung als einen Berg, der sich aus einer Ebene erhebt.6
4 5 6
Mark Johnson: The Meaning of the Body. Aesthetics of Human Understanding, Chicago/London 2007, S. 145. John Dewey: Qualitative Thought, in: The Late Works, Bd. 5: 1925–1953, hg. v. Jo Ann Boydston, Carbondale/Edwardsville 1984, S. 254. „These forms for Dewey make up, when certain conditions are fulfilled, the boundary-less realm of the aesthetic, a realm that, in his startling image, arises out of the
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„Experience comes whole“
Kennzeichnend für die These „experience comes whole“ sind folgende fünf Aspekte, die in der Schematisierung sichtbar werden: 1.
2.
3.
4.
5.
„Whole“, ungeschieden, sind in der skizzierten Erfahrung Subjekt und Objekt. Wir sehen nur eine Linie oder Formation, nicht zwei einander entgegenkommende Entitäten. Werden Subjekt und Objekt in dieser Initialphase der verkörperten Erfahrung als getrennt gedacht, wird es nicht mehr gelingen, sie als in der lebendigen Kunsterfahrung interagierend zusammenzuführen. Sie sind zwar separat zu adressieren, aber nicht als Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis der Interaktion. Kennzeichnend für die Ansätze von John Dewey und Mark Johnson ist ihr konfigurativer Ausgangspunkt, durch den sie einen „methodischen Individualismus“, der die Interaktion aus dem Blick verliert, vermeiden. „Whole“ kennzeichnet die Integrität der affektive, volitionale und kognitive Elemente beinhaltenden Erfahrung. Über diese Integrität verankern Dewey und Johnson auch abstraktere Formen des Denkens in basalen Lebensprozessen und Aktivitäten und vermeiden einen Dualismus. „Whole“, ohne Binnendifferenzierung (oder „konfus“ in der Tradition Leibniz-Baumgartens), ist auch die Erfahrung selbst. Es geht in der ästhetischen Erfahrung nicht um das erkennende Studium einzelner Details des Kunstwerkes oder seiner Wirkungskomponenten, sondern um seine Wirkung als Ganzes. In diesem Sinne ist sie ein Gestaltphänomen. Des weiteren beinhaltet das Auftauchen des Berges eine zeitliche Ausdehnung, was darauf hinweist, dass es sich nicht um die Betrachtung statischer Entitäten, sondern um einen Prozess handelt. Die Verlaufsform wiederum weist auf spezifische Qualitäten der Erfahrung wie Intensität und Intensitätskontur hin. Ein weiterer Aspekt, der nicht schematisiert werden kann, ist der vektorielle Charakter der Erfahrung selbst. „Pervasive“, durchdringend, sich ausbreitend ist der von Dewey verwendete Begriff für diese Erfahrung. Sie ist nicht in sich geschlossen,7 sondern drängt über sich hinaus zur transformierenden, medialen Semiotisierung.
Das „Kommen“ einer Erfahrung bezeichnet ihre dynamische Qualität. Sie macht sowohl den belebenden Aspekt einer ästhetischen Erfahrung, die lebendige Anmutung des Kunstwerkes als auch die Spannung aus, die den Transfor-
7
lowland of experience the way a mountain arises out of a plain.“ Robert E. Innis in diesem Band, S. 22. Die prozessphilosophische Konzeption von Gegenständen als Foci der Aufmerksamkeit innerhalb eines nicht scharf begrenzten Feldes kann hier nicht entfaltet werden; vgl. dazu den Beitrag von Robert E. Innis in diesem Band.
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mationsprozess des Denkens motiviert, in dem der Denkende sich vom zu Denkenden trennt und distanziert und sich ein Objekt des Denkens ausdifferenziert. Der Verzicht auf Trennung von Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Gefühl und Denken und ihre Integration als Faktoren eines Prozesses ist Voraussetzung für die Beschreibung der vorbegrifflichen dynamischen Erfahrung, in der ein an sich statisches Objekt wie ein Artefakt als bewegt, als auf uns zukommend wahrgenommen wird. Gegenstand der folgenden Argumentation sind Versuche, die Dynamik solcher Interaktionen zu beschreiben.
2 .1. Vit a l it ät sfor me n a l s I nter a k t ion smu ster In dem ungeschiedenen Ganzen der lebendigen Anmutung eines Artefaktes ist ein Moment relevant, das sich schematisch erst dann darstellen lässt, wenn nicht mehr abstrakt, sondern über konkrete Qualitäten der Erfahrung gesprochen wird.8 Mark Johnson hat den gemeinsam mit George Lakoff entwickelten Begriff des image schema9 für räumliche sowie dynamische Muster der Erfahrung weiterentwickelt, um sie an die Erfordernisse einer Beschreibung ästhetischer Erfahrung anzupassen. Diese Weiterentwicklung erfolgt unter Bezug auf Maxine Sheets-Johnstone, die in zahlreichen Publikationen10 auf kinetisch wie kinästhetisch wahrnehmbare Bewegungsqualitäten hinweist, durch die Bewegungen als Raum generierende Prozesse betrachtet und nicht auf einen – den Prozess und seine spezifischen Qualitäten ignorierenden – Wechsel statisch konzipierter Orte reduziert werden können. Den Begriff „vitality affect contours” entlehnt Johnson jedoch Daniel Stern, der ihn bereits 1985 in The Interpersonal World of the Infant zur Charakterisierung der Affektabstimmung in der nonverbalen Kommunikation zwischen Säuglingen und Bezugspersonen verwendet hat.11 Affektabstimmung stellt Stern zufolge die erste und wichtigste Form der Intersubjektivität dar. Vitality affect contours – oder dynamic forms of vitality beziehungsweise temporal feeling shapes (Stern verwendet verschiedene Begriffe, um Aspekte desselben Phänomens zu konturieren) – kennzeichnen die grund-
8 9
10 11
S. nächste S., Bild 1. George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things, Chicago 1987; Mark Johnson: The Body in the Mind, Chicago 1987; George Lakoff/Mark Johnson: Philosophy in the Flesh, New York 1999. S. die 2., erweiterte Auflage von Maxine Sheets-Johnstone: The Primacy of Movement, Amsterdam 2011. Daniel Stern: The Interpersonal World of the Infant. A View from Psychoanalysis and Developmental Psychology, New York 1985, S. 56.
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legenden dynamischen Formen der Wahrnehmung, die entscheidend dafür sind, dass wir jemanden und etwas als lebendig wahrnehmen. Für Affektabstimmung ist, so Stern, eine hinsichtlich bestimmter Eigenschaften analoge, hinsichtlich des „Mediums“, in dem die Handlung stattfindet, jedoch modifizierte Nachahmung erforderlich. Die Entsprechung hat hier transmodalen Charakter, und die Abstimmung stellt eine selbständige charakteristische Form affektiver Transaktion dar. Was wahrnehmbar und in der Interaktion transformiert reproduziert wird, ist die Form, die Qualität einer Handlung, deren Merkmale Intensität, Intensitätskontur, Takt, Rhythmus, Dauer und Gestalt sind.12 Bei dieser „bislang noch rätselhaften, amodalen Repräsentation, die dann in jedem Sinnesmodus wiedererkannt werden kann“, handelt es sich nicht um „Bilder, Töne, haptische Eindrücke“, deren transmodale Wahrnehmung für Synästhesie charakteristisch ist, sondern vielmehr um „Formen, Intensitätsgrade und Zeitmuster“.13 Sie sind nicht mit diskreten kategorialen Affekten wie Freude oder Traurigkeit identisch, sondern mit deren dynamischen Erscheinungsformen (Bild 1).
Bild 1 Schema aus Daniel Stern: Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development, Oxford 2010, S. 8.
12
13
Im späteren Buch, Daniel Stern: Forms of Vitality: Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development, New York 2010, unterscheidet Stern die Komponenten Kraft, Zeit, Raum und Intention bzw. Gerichtetheit. Stern verwendet die Begriffe „metamodal“, „crossmodal“ und „amodal“ syno nym. Zur Diskussion des unglücklich gewählten Begriffs „amodal“ sei auf Johnson: The Meaning of the Body (wie Anm. 4), S. 42, verwiesen.
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Obwohl die einzelnen Komponenten wie Kraft, Zeit, Raum und Intention beziehungsweise Gerichtetheit, die Bewegungen kennzeichnen und sie als Vitalitätsformen wahrnehmbar machen, getrennt analysierbar und messbar sind, ergeben sie nur gemeinsam das Phänomenen „Lebendigkeit“. Vitalitätsformen sind Gestaltphänomene und – dies ist aus der relationalen Perspektive, den dieser Text einnimmt, von Bedeutung – sie sind nicht auf „Dynamik“ zu reduzieren: „The forms of vitality are different. They are psychological, subjective phenomena that emerge from the encounter with dynamic events.“14 Ansätze wie derjenige von Daniel Stern verfahren notwendigerweise disziplinär mehrgleisig, und so verbindet Stern die phänomenologische Beschreibung und Reduktion des zu untersuchenden Phänomens auf seine Basisform mit Versuchen, es naturwissenschaftlich zu erklären. Neurologisch lässt sich das Phänomen bislang jedoch nur in Ansätzen nachvollziehen. Die Erforschung von Spiegelneuronen richtet sich, so Stern, derzeit auf zielgerichtete Handlungen; Erklärungen der Feinabstimmung der sozialen und kulturellen Welt lassen noch auf sich warten. Als vielversprechenden Kandidaten bewertet er den Versuch, die qualitativen Verlaufsformen dynamischen Erlebens auf Aktivierungs kurven des zentralen Nervensystems zurückzuführen: „The complexity of this system [the arousal system] and its differentiation into separate parts provides support for the idea that the arousal system could produce a multitude of highly specific and complex arousal profiles, each eliciting a specific vitality form.“15 Ob Arousalprofile als Ursachen für Vitalitätsformen betrachtet werden können, es sich also um eine Kausalität und nicht nur um eine faszinierende Isomorphie handelt, ist nicht ausgemacht: „Forms of vitality are not directly based on phys ical nature. Yet they correspond with realities in nature that may not exist independent of mind.“16 Von Bedeutung in dem hier behandelten Zusammenhang ist, dass Vitalitätsformen nicht einem einzelnen Akteur der Interaktion zuzuschreiben sind, sondern aus der affektiven Interaktion zweier Akteure als „matching“ emergieren, die Interaktion strukturieren und sich zu Interaktionsmustern der betreffenden Dyade habitualisieren können. Die als körperliche Resonanz erlebbare Abstimmung von Vitalitätsformen lässt sich nicht nur in der Interaktion zwischen Menschen, sondern ebenso in ästhetischer Erfahrung beobachten. Ohne die Rezeption von Kunst mit spontanem Verhalten gleichzusetzen, weist Stern auf Ähnlichkeiten hin und bezeichnet Affektabstimmung bereits in seinem frühen Werk The Interpersonal World of the Infant als Vorläufer des Kunsterlebens.17
14 15 16 17
Stern: Forms of Vitality (wie Anm. 12), S. 7 (Herv. v. Verf.). Ebd., S. 62f. Ebd., S. 30. Stern: The Interpersonal World of the Infant (wie Anm. 11), S. 161.
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2 . 2 . Pa r t ic ip ator y S e n s e-M a k i ng – D er R hy t h mu s der I nter a k t ion Der entscheidende Punkt, der Dewey, Johnson und Stern eint, ist, dass sie Formen dynamischer Qualitäten der Erfahrung beschreiben, die aus der Resonanz von Rhythmen des Objekts mit solchen des resonierenden Subjekts emergieren. Durch die Überlegungen zu Rhythmen, die aus der Interaktion verschiedener Agenten hervorgehen, sich akkumulieren, im Verlauf selbst wiederum produktiv werden und Beziehungen prägen, das heißt zu Faktoren dynamischer Systeme werden, können die Theorien Deweys, Johnsons und Sterns als Matrix aktueller Forschungen betrachtet werden, in denen versucht wird, enaktivistische Kognitionstheorien für das Verständnis sozialer Interaktion fruchtbar zu machen. Interaktionsrhythmen stehen ebenfalls im Zentrum der Überlegungen Hanne de Jaeghers zum Participatory Sense–Making, einem Ansatz, den sie in Zusammenarbeit mit Ezekiel Di Paolo, Thomas Fuchs und anderen fortentwickelt.18 De Jaegher unterscheidet in ihrer Analyse sozialer Interaktion zwischen pre-coordination oder kontinuierlicher Koordination auf der Basis sensomotorischer Adaption, die sich unwillkürlich zwischen Personen vollzieht: „an interaction rhythm starts to be generated as soon as people meet“19 und interactional coordination: das heißt „interaction that generates coordination“20 – also einer Koordination, die durch die Interaktion erst entsteht. Zur Erklärung von pre-coordination referiert de Jaegher auf mechanisch-behaviouristische Momente der Synchronisierung, welche durch Kopplung sensomotorischer Systeme entstehen und die so weit gehen, dass sich der Herzschlag von Therapeuten und Klienten in der Musiktherapie synchronisieren kann.21 De Jaegher zufolge ist pre-coordination eine Art kontinuierlicher Zustand der Antizipation, in dem Aktion und Perzeption der Interakteure eng miteinander verwoben sind. Sie vollzieht sich nach dem Modell adaptiver Oszil-
18
19 20 21
Hanne de Jaegher: Social Interaction Rhythm and Participatory Sense-Making: An Embodied, Interactional Approach to Social Understanding, with Some Implications for Autism, University of Sussex 2006, unter: http://hannedejaegher.files. wordpress.com/2010/05/hannedphilboekformaat.pdf (22.04.2015). Vgl. auch Tho mas Fuchs/Hanne de Jaegher: Enactive Intersubjectivity: Participatory SenseMaking and Mutual Incorporation, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 8/4 (2009), S. 465–486, und Hanne de Jaegher/Ezequiel Di Paolo: Participatory Sense-Making. An Enactive Approach to Social Cognition, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 6/4 (2007), S. 485–507. De Jaegher: Social Interaction Rhythm and Participatory Sense-Making (wie Anm. 18), S. 134. Ebd., S. 144. Ebd., S. 119.
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latoren, deren Sendefrequenzen sich kontinuierlich bereits während des Empfangs an eingehende Frequenzen angleichen.22 Um soziale Interaktion zu verstehen, genügt es jedoch nicht, eine kontinuierliche präkognitive Koordination vorauszusetzen. Das spontane, unreflektierte Nachahmen oder Spiegeln der Bewegungen anderer in Interaktionszusammenhängen, bei dem unsere Körper sich mit denen anderer synchronisieren, ist ein Aspekt des komplexen Phänomens. Auf der Beobachtung, dass bereits die pure Wahrnehmung eines bestimmten Verhaltens die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir uns genauso verhalten, basiert die Annahme eines „perception-behav ior link“.23 Hier handelt es sich jedoch nicht um eine Kausalkette, sondern um eine erhöhte Bereitschaft. In Bezug auf Rhythmen kann es nicht nur zu Synchronisierungen kommen. Die Spannung zwischen Individuen, die jeweils ihren eigenen Rhythmen folgen,24 spielt bei der Entstehung von Interaktionsrhythmen ebenso eine Rolle: „[W]hat happens is that we both participate in an interactive rhythm, which at the same time also already manifests itself in ourselves. The interaction rhythm is one process, but one in which the individual interactors actively participate.“25 In diesem Sinne gibt es keinen individuellen Rhythmus, der nicht immer schon durch andere Rhythmen mitkonstituiert ist, und es gibt das Beharrungsvermögen, dem (scheinbar) eigenen Rhythmus zu folgen. Durch die Fähigkeiten zur Regulation und Koregulation entsteht soziale Interaktion. Gemeinsame Bedeutungsgebung – participatory sense making – entsteht jedoch erst dann, wenn soziales Verhalten durch Intentionalität und eine „rhythmische Kapazität“ gesteuert wird, die der Interaktion die Flexibilität gibt, dem eigenen Rhythmus zu folgen, sich dem Rhythmus anderer anzupassen und auf Reibungen, die 22
23
24 25
Port, Cummins und McAuley haben dieses Modell für die Erklärung muskulärer Reaktionen eines Hörers auf akustische Signale eines Sprechenden entwickelt, die in einer solchen Geschwindigkeit erfolgen können, dass sie unterhalb der gewöhnlichen Reaktionszeit auf einen externen Reiz liegen; vgl. Robert Port/Fred Cummins/Devin McAuley: Naive Time, Temporal Patterns and Human Audition, in: Robert Port/Tim van Gelder (Hg.): Mind as Motion, Cambridge, MA 1995, S. 339– 437. Je ähnlicher die Eigenfrequenzen von Sender und Empfänger einander sind, umso einfacher ist die Adaption. De Jaegher weist aber auch auf Untersuchungen hin, die einen derartigen Mechanismus auch in anderen Sinneskanälen erforschen. Dewey verwendete für ein solches Phänomen bereits 1896 die Formulierung „the so-called response is not merely to the stimulus; it is into it“. John Dewey: The Reflex Arc Concept in Psychology, in: Psychological Review 3 (1896), S. 357–370, S. 359. Tanya Chartrand/John Bargh: The Chameleon Effect. The Perception-BehaviorLink and Social Interaction, in: Journal of Personality and Social Psychology 76/6 (1999), S. 893–910. Gemeint sind z.B. Sprechrhythmen oder Atemrhythmen. Jaegher: Social Interaction Rhythm and Participatory Sense-Making (wie Anm. 18), S. 131.
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zwischen unterschiedlichen Rhythmen von Personen entstehen, zu reagieren. Die aus Interaktionserfahrungen von Individuen resultierenden Interaktionsrhythmen prägen als „relational knowledge“26 zukünftige Interaktionen: Soziale Interaktionsrhythmen haben Geschichte und prägen Geschichten.
2 . 3. Ku n st a l s I nter a k t ion s er f a h r u ng De Jaegher hat gezeigt, welche Bedeutung Rhythmen für die soziale Interaktion haben. Sense-making findet jedoch auch in der Interaktion mit Artefakten statt. Der einzige Unterschied, den sie konstatiert, ist der, dass in der Interaktion mit Artefakten das sense-making keine Wechsel-, sondern einseitige Orientierung ist. Objekte haben keine Intentionen. Sie seien nur reaktiv.27 Trifft diese Unterscheidung auf Interaktionen mit allen Objekten – auch mit Artefakten – zu? Eine Anwendung des Participatory-sense-making-Ansatzes auf Interaktion mit Artefakten ist unter zwei Voraussetzungen möglich: 1. Der Integration einer medialen Komponente, die berücksichtigt, dass Artefakte ihrerseits Ergebnisse der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt sind und durch ihren Zeugnischarakter zu quasi-sozialen Agenten werden. „[T]he expression of the self in and through a medium, constituting the work of art, is itself a prolonged interaction of something issuing from the self with objective conditions, a process in which both of them acquire a form and order they did not at first possess.“28 2. Die Verlaufsform der Wahrnehmung wird nicht als willkürlich, sondern als durch das Artefakt selbst forciert betrachtet. In Forms of Vitality, in dem Stern Erfahrungen qualitativer Dynamik erstmals explizit in Bezug auf die Kunst untersucht, fokussiert er auf die „zeitgebundenen“ Künste wie Musik, Theater und Film. Mit Rekurs auf Paul Klee und Heinz Werner weist er jedoch darauf hin, dass auch in Bezug auf Bilder, deren Erfassung von zeitlicher Dauer ist, von einem sich entfaltenden Narrativ ge sprochen werden kann. Die Bewegungswahrnehmung führt Stern zum Beispiel auf farbliche Kontraste zurück, die dafür verantwortlich sind, dass Elemente in der Wahrnehmung vor- oder zurücktreten.29
26 27 28 29
De Jaegher/Fuchs: Enactive Intersubjectivity (wie Anm. 18), S. 482. Ebd., S. 477. John Dewey: Art as Experience [1934], New York 2005 [AE], S. 67f. Daniel Stern: Forms of Vitality (wie Anm. 12), S. 31, Anm. 1. Die Narrative einer sich in der Wahrnehmung vollziehenden Dynamik habe ich an einem Gemälde von Mark Rothko exemplifiziert; vgl. Marion Lauschke: Presymbolic Formation. Reflections on Bodily Communication between Humans and Artefacts, in: Cassirer Studies 5/6 (2012/13), S. 139–156.
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Marion Lauschke
Die von Dewey und Johnson untersuchten „Interaktionen“ beziehungsweise das vitality form matching, das Stern beschreibt, vollziehen sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle und nicht als intentionale Akte. Fokussiert man jedoch die Potenz ihrer Form, wird es möglich, auch hier von Interaktion zu sprechen. Dazu ist eine begriffliche Unterscheidung notwendig, die Dewey in Art as Experience vornimmt. Um die ästhetische Erfahrung als emergentes Phänomen beschreiben zu können, trennt er zwischen dem materiellen „Kunstprodukt“ und dem „Kunstwerk“ als Erfahrung: „The first is physical and potential; the latter is active and experienced.“ (AE 168) Erst im Prozess der Erfahrung, das heißt in der Interaktion von Kunstprodukt und Rezipient, entsteht das „Entgegenkommende“. Es sind zu Rhythmen organisierte Energien auf beiden Seiten, die den Prozess in Gang setzen, und erst wenn sie ein Rhythmus in der Erfahrung selbst werden, sind sie ästhetisch. (AE 169) Dennoch erschöpft sich die Interaktion von Betrachter und Kunstwerk nicht in der als „qualitativ“ bezeichneten initialen Phase der unmittelbaren Erfahrung. Sie ist nach Dewey zwar conditio sine qua non: „[A]n esthetic necessity: the immediacy of esthetic experience. It cannot be asserted too strongly that what is not immediate is not esthetic.“ (AE 123) Aber aus der ästhetischen Erfahrung wird nur dann ein Kunstwerk, wenn ihr Phasen der reflexiven Auseinandersetzung folgen. (AE 150) Hier geht es jedoch um die initiale Phase körperlicher Resonanz. Dewey schreibt: „We say with truth that a painting strikes us. There is an impact that precedes all definite recognition of what it is about.“ (AE 151) Wenig später liefert er die Begründung: „Interaction of environment with organism is the source, direct or indirect, of all experience and from the environment come those checks, resistances, furtherances, equilibria, which, when they meet with the energies of the organism in appropriate ways, constitute form. The first characteristic of the environing world that makes possible the existence of artistic form is rhythm.“ (AE 153) Dewey stellt sich jeder auf Konvention beruhenden Interpretation der lebendigen Wirkung von Kunstwerken entgegen. Der beschriebenen rhythmischen Formkraft der Natur korrespondiert eine „acute sensitivity of response“. (AE 159) Es zeigt sich somit, dass Dewey nicht nur als veritabler Enaktivist avant la lettre gelten kann. Mit seiner Ästhetik hat er dem Enaktivismus ein Feld abgesteckt, das dieser erst noch bestellen muss. Eine integrale Theorie der Kunst(erfahrung), die die in den Kulturwissenschaften realisierte Formreflexion der Artefakte, die wahrnehmungspsychologische und kognitionswissenschaftliche Reflexion von Lebens- und Denkprozessen, subtile phänomenologische Beschreibungen von Kunst- und Bewegungserfahrung sowie dynamische System- und Interaktionstheorien vereint, kann jedoch nur im interdisziplinären Verbund entstehen. Form lässt sich nicht statisch denken. Sie ist ein Interaktionszusammenhang.
1I I . S t ei n a rt e fa k t e
Harald Floss
Paläolithische S teinartefakte Die ältesten Werkzeuge der Menschheit
Die ältesten von Menschen belegbar hergestellten Erzeugnisse sind Steinartefakte.1 Ihr erstes Auftreten markiert nach gängiger archäologischer Definition damit gleichsam den Beginn der Menschheit. Für die Kunstgeschichte sind Steinartefakte dadurch interessant geworden, dass der Bildbegriff, Horst Bredekamp zufolge, jedwede Form von Gestaltung umfasst und Steinartefakte damit, dieser Hypothese folgend, als von Menschen geformte Objekte zu den ältesten Ergebnissen eines Bildaktes geworden wären.2 Im Folgenden geht es darum, aus Sicht der Ur- und Frühgeschichte zu klären, was paläolithische Steinartefakte sind und welche komplexen Faktoren für ihr jeweiliges Aussehen verantwortlich zeichnen können. Vorweg genommen sei, dass auch Ur- und Frühgeschichtler paläolithische Artefakte selbstredend als Ergebnis eines Gestaltungsprozesses betrachten, da sie nun einmal von Menschen geformt wurden. Ebenfalls wird bestimmten Einzelstücken gewissermaßen eine symbolische Aufladung zuerkannt, da es Artefakte gibt, die Charakteristika ausweisen, die über den reinen ergonomischen Nutzen hinausgehen. Diese Erkenntnisse sollten aber nicht dahingehend instrumentalisiert werden, Steinartefakten eine unmittelbare und zielführende Vorläuferrolle dessen beizumessen, was im Allgemeinen unter dem Begriff der Eiszeitkunst subsumiert wird.
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Harald Floss (Hg.): Steinartefakte – vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit, Tübingen 2012. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010; s.a. seinen Beitrag in diesem Band.
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Werk zeug gebrauc h a ls c o n d it i o hum a n a? Den Werkzeuggebrauch als conditio humana zu verstehen, ist heute zwar eine verbreitete Annahme. Sie ist allerdings in einen gewissen Erklärungsnotstand geraten, da auch Tiere, wie etwa Affen oder manche Vögel, durchaus den Werkzeuggebrauch kennen. Eine Lösung hin zum Alleinstellungsmerkmal des Menschen gelingt auf mühsame Weise den Kognitionswissenschaften durch das Heranziehen der sogenannten Planungstiefe. Während etwa Schimpansen primäre Werkzeuge zum Sammeln von Ameisen oder zum Extrahieren von Termiten verwenden, kennen die frühen Menschen einen sekundären Werkzeuggebrauch. Dies bedeutet, dass man ein Werkzeug verwendet, um ein Werkzeug herzustellen, mit dem man ein bestimmtes Ziel verfolgt. Diese Verkettung ist auf der Erde seit circa 2,7 Millionen Jahren belegt.
Da s Pa läol it h i k u m Das Paläolithikum, auch Altsteinzeit genannt, ist die erste und bei weitem längste Periode der Menschheitsgeschichte. Ihr Beginn wird derzeit in Afrika mit dem Vorkommen ältester Steinartefakte vor circa 2,7 Millionen Jahren angesetzt. Berücksichtigt man Schnittspuren auf Knochen, die nur von solchen Artefakten stammen können, verschiebt sich der Beginn der Altsteinzeit möglicherweise sogar auf ein Alter von circa 3,4 Millionen Jahren. In Europa beginnt diese Periode vor circa 1,2 Millionen, Georgien eingerechnet sogar vor circa 1,7 Millionen Jahren. Die Altsteinzeit endet vor circa 10.000 Jahren mit dem Ende der letzten Eiszeit und dem Übergang zum Mesolithikum (Mittelsteinzeit), der Periode der nach-eiszeitlichen Sammler und Jäger vor Beginn von Ackerbau und Viehzucht. Das Paläolithikum nimmt damit zeitlich 99,7 Prozent der Menschheitsgeschichte ein.
Stei na r tefa k te u nd Geofa k te Ein erstes großes Problem bei der Beschäftigung mit Steinartefakten liegt in ihrer einwandfreien Authentifizierung. In der Natur gibt es zahlreiche Prozesse, aus denen Objekte hervorgehen können, die man leicht mit Artefakten verwechseln kann (Bild 1). Durch das Aneinanderschlagen von Steinen in Flüssen, Meeresufern und Gletschermoränen, durch Windschliff, Sedimentdruck und Bodenbewegungen sowie durch Veränderungen durch Frost und Hitze ist die Natur in der Lage, Gegenstände hervorzubringen, die Geofakte beziehungsweise Pseudoartefakte genannt werden und die prähistorischen Steinartefakten sehr ähnlich werden können. Dieselben Vorgänge können andererseits in der Lage sein, reelle Steinartefakte so zu überprägen, dass ihre Erkennbarkeit eingeschränkt ist.
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Bild 1 Faustkeil oder nicht? Nicht das kantenscharfe Stück rechts ist ein Faustkeil, sondern das Stück links. Dabei handelt es sich um einen in Schottern der Garonne verrundeten Acheuléenfaustkeil aus einem vulkanischen Rohmaterial. Rechts sieht man ein völlig durch Frostabplatzungen über prägtes Stück Kalkstein von der Schwäbischen Alb, das formal sehr einem Faustkeil ähnelt, aber ein Naturprodukt ist.
D ie Merk ma le der A r tefa k te Dessen ungeachtet hat die Urgeschichtsforschung, unterstützt durch Erkenntnisse der Bruchmechanik und der glastechnischen Physik, ein Instrumentarium erarbeitet, das die einwandfreie Erkennbarkeit von Steinartefakten ermöglicht (Bild 2). Die Steinartefakte des Paläolithikums sind sogenannte geschlagene Steinartefakte. Übt man mit Hilfe eines Schlaginstrumentes, zum Beispiel eines Steins oder eines Geweihhammers, auf einen glasähnlichen Körper – in der Urgeschichte handelt es sich vor allem um Feuerstein oder ähnliche Materialien – einen Schlag aus, so kommt es allein oder in Kombination zu Brüchen, die mit typischen Merkmalen verknüpft sind, zum Beispiel Hertz’scher Kegel, Schlagbuckel (Bulbus), Schlagnarbe, Schlagwellen oder Radialstrahlen.3 Grundsätzlich können Bearbeitungstechniken, die auf das Abschlagen von Stücken von sogenannten Kernen abzielen, von Herstellungsweisen unterschieden werden, bei denen es umgekehrt darauf ankommt, ein substanzielles Kernstück zuzuformen.
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Harald Floss: Grundbegriffe der Artefaktmorphologie und der Bruchmechanik, in: ders. (Hg.): Steinartefakte (wie Anm. 1), S. 117–132.
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Bild 2 Typische Schlagmerkmale von Steinartefakten. Oben links Hertz’scher Kegel in vollkommener Ausprägung, oben rechts Ventralfläche eines Abschlags mit typischen Merkmalen (partieller Kegel, Bulbus, Radialstrahlen, etc.), unten Abschlagmorphologie mit Dorsal- und Ventralfläche und im Profil.
Kerne, Abschläge sowie die letztgenannten Kerngeräte verfügen ebenfalls über ganz spezifische Flächen und Einzelmerkmale.
Fragestel lu ngen Bei der Beschäftigung mit Steinartefakten kommen vier grundsätzliche Fragestellungen zum Tragen: Zunächst kann bei einem Artefakt das zugrunde liegende Rohmaterial erörtert werden. Eine zutreffende Art- und Herkunftsbestimmung der Gesteine kann Rückschlüsse auf die begangenen Territorien der paläolithischen Sammler und Jäger sowie über Tauschverbindungen mit anderen Gruppen gestatten. Die Technologie als Arbeitsgebiet beschäftigt sich mit den Herstellungsweisen von Artefakten. Die Typologie oder Formenkunde widmet sich den fertig gestellten Werkzeugen, ihrer Form und den chronologischen beziehungsweise kulturellen Rückschlüssen, die daraus gezogen werden können. Schließlich dient die sogenannte (Mikro-)Gebrauchsspurenanalyse der Ermittlung der reellen Anwendung und Funktion eines Steinartefaktes.
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Rea le u nd ver mei nt l ic he E nt w ic k lu ngstenden zen Bei der Entwicklung der paläolithischen Steinartefakte gibt es gewisse Tendenzen, die mit bestimmten Ausprägungsformen verbunden sind (Bild 3). Die ältesten Steinartefakte auf der Erde sind sogenannte Geröllgeräte und einfache Ab schläge. Diese einfachen Artefakte sind mit dem Begriff des Oldowan verbunden und kommen in Afrika seit circa 2,7 Millionen Jahren vor. Vor circa 1,8 Millionen Jahren treten sodann die ersten Faustkeile auf. Dabei handelt es sich um mehr oder weniger flächig überprägte Kerngeräte, die über eine Spitze und ein meist sich kontinuierlich verbreiterndes und verdickendes Basisteil verfügen. Faustkeile gelten als Multifunktionsgeräte. Sie kommen in Europa, Afrika und
Bild 3 Vier Meilensteine in der Entwicklung paläolithischer Steinartefakte. Oben links Geröllgerät des Oldowan, oben rechts Faustkeil des Acheuléen, unten links Levalloisspitze des Moustérien, unten rechts Klinge aus dem Magdalénien. Verschiedene Fundstellen.
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in den südwestlichen Teilen Asiens vor. Die letzten Faustkeile gibt es am Ende des Mittelpaläolithikums vor circa 40.000 Jahren. Eine weitere wichtige Etappe in der Entwicklung von Steinartefakten liegt in der Vorpräparation von Kernen, die es ermöglicht, Form und Größe des erwünschten Zielproduktes besser vorherzubestimmen. Der wichtigste Vertreter dieser Präparationen ist die sogenannte Levalloismethode. Dabei wird ein Kern aufgewölbt und ein Zielabschlag abgetrennt. Die Methode ist sehr materialaufwendig. Ihre Anfänge liegen vor circa 350.000 Jahren und definieren den Beginn des Mittelpaläolithikums, ihr Ende fällt in etwa in dieselbe Zeit wie das Ende der Faustkeile vor circa 40.000 Jahren. Ein weiterer Meilenstein prähistorischer Steinartefakte ist die Erzeugung von Klingen. Ihre Anfänge liegen im Mittelpaläolithikum, ihre regelhafte Verbreitung und serielle Erzeugung beginnt allerdings erst mit dem Jungpaläolithikum. Klingen und ihre kleinen Brüder und Schwestern, die Lamellen, sind lang-schmale Artefakte mit parallelen Dorsalgraten und Kanten. Mittels der sogenannten Kernkantenmethode erlangt die Klingenproduktion im Jungpaläolithikum zweifellos einen Höhepunkt. Während etwa noch die Levalloismethode meist auf die Erzeugung eines oder weniger Zielprodukte ausgerichtet war, führt die serielle Klingenerzeugung insbesondere am Ende des Jungpaläolithikums zu einer standardisierten, um nicht zu sagen vorindustriellen Erzeugung von Klingen. Dabei kam es darauf an, aus einem bestimmten Volumen Rohmaterials möglichst viele Schneidekanten zu erzeugen. Am Ende der letzten Eiszeit nimmt das Ausmaß der Klingenerzeugung ab, wofür vermutlich die veränderten Umweltbedingungen verantwortlich zeichnen. Nach diesem groben Abriss der wichtigsten Vertreter paläolithischer Stein a rtefakte muss allerdings die Frage erlaubt sein, inwieweit es tatsächlich eine lineare und stringente Entwicklung paläolithischer Steinartefakte gibt und ob von den verschiedenen im Paläolithikum vertretenen Menschenformen und ihren jeweiligen intellektuellen wie physischen Eigenschaften auf die Herstellung spezifischer Steinartefakte geschlossen werden kann. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob eine bestimmte kognitive Grunddisposition ausschließlich beziehungsweise vornehmlich für spezifische Ausprägungen von Steinartefakten verantwortlich ist. Hier verkomplizieren sich die Dinge dann doch deutlich. Denn zunächst wäre die gestellte Frage vermutlich mit „Ja“ zu beantworten, da Geröllgeräte vor mit entwickelten Australopithecinen, Faustkeile mit dem Homo erectus, nehmlich die Levalloismethode mit dem Neandertaler und die Klingenerzeugung mit Homo sapiens in Verbindung zu bringen sind. Kommt aber ein engmaschigerer Maßstab zur Anwendung, wird offenkundig, dass Geröllgeräte sehr wohl auch in nach-altpaläolithischem Kontext vorkommen können, dass Faustkeile sowohl von Homo erectus und Derivaten, wie vom Neandertaler erzeugt wurden, dass
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die Levalloismethode in verschiedenen Erdteilen sowohl von Neandertalern als auch anatomisch modernen Menschen eingesetzt wurde und dass auch Klingen sowohl bei Neandertalern als auch bei Homo sapiens eine Rolle spielten. Bei näherer Betrachtung eines bestimmten Artefakttyps, wie zum Beispiel des Faustkeils, wäre vielleicht zunächst zu vermuten, dass sich diese von eher grob und partiell hin zu filigran und minutiös bearbeiteten Formen entwickelt haben. Die herzförmigen Typen des Moustérien de tradition acheuléenne vom Ende des Mittelpaläolithikums mögen zunächst auch in diese Richtung weisen. Allerdings sind seit einer Weile auch sehr fein bearbeitete Faustkeile aus sehr alten Kontexten bekannt, zum Beispiel aus der circa 500.000 Jahre alten Fundstelle Boxgrove in Südengland (Bild 4).
Fa k toren der E i n f lussna h me Es ist also schwierig, eine stringente Entwicklungslinie von Steinartefakten zu rekonstruieren. Bezüglich der frühen Phasen des Paläolithikums entsteht der Eindruck, als habe es über längere Zeiten hinweg ein Hintergrundset von Techniken und Methoden gegeben, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen so
Bild 4 Fiktive, nicht quantitativ untermauerte Darstellung zur Entwicklung alt- und mittelpaläolithischer Steinartefakte am Beispiel eines ca. 500.000 Jahre alten, minutiös bearbeiteten Faustkeils aus Boxgrove, Südengland. Nicht der gerade Pfeil, der eine stringente Entwicklung andeutet, entspricht der Realität. Vielmehr folgt die Evolution alt- und mittelpaläolithischer Steinartefakte mit der ondulierten Kurve einem über längere Zeiten hinweg vorhandenen Grundfundus, der unter bestimmten Verhältnissen zu lithischen Umsetzungen kommen kann, die weder in der Quantität und Ausprägung der Produkte, noch in der Feinheit der Bearbeitung stringenten Entwicklungslinien folgen.
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oder so zur Anwendung oder gewissermaßen zum Ausbruch kam. Dennoch gibt es spätestens seit dem späten Mittelpaläolithikum Hinweise auf differenzierte kulturelle Traditionen. Steinartefakte sind hier nach wie vor in der Lage, Informationen von Chronologie und kultureller Prägung zu transportieren. Steinartefakte auf die x-te Detailebene herunterzubrechen, wie es in den Arbeiten der aufstrebenden französischen Technologengeneration zu beobachten ist, ist insofern problematisch, als die Gefahr besteht, sich in Details zu verrennen und die Übersicht über das Ganze zu verlieren. Es ist schlicht falsch, die Typologie als ein starres und überkommenes Konzept abzulehnen, denn technologische Prozesse und die Funktion von Artefakten sind nur zum Teil für die Form der Stücke verantwortlich. So finden wir seit dem späten Mittelpaläolithikum unterschiedliche Stränge der Tradierung von Steinartefakten (Bild 5). Blattspitzen der Blattspitzengruppen, Abschlaggeräte des Moustérien sowie die Keilmesser und Faustkeile des Micoquien können sehr wohl in identischer Weise eingesetzt worden sein, ihre Form ist jedoch sehr verschieden. Damit zeigt sich, dass die Aussage, die Form von Artefakten sei ausschließlich von funktionalen Aspekten beeinflusst, falsch ist. Der Leitsatz form follows function ist nur bedingt auf Steinartefakte übertragbar. Ein gewöhnliches mitteleuropäisches Taschenmesser kann ohne Zweifel auch zum Abisolieren von Kabeln oder zum Säubern von Fingernägeln verwendet werden, deswegen wird es aber formal wie nomenklatorisch weder zum Abisolierer noch zur Nagelfeile.
Bild 5 Spätmittelpaläolithische Steingeräte unterschiedlicher kultureller Tradition, aber mit ähnlicher Funktion. Von links nach rechts Blattspitze, Moustérienspitze, Micoquienfaustkeil. Verschiedene Fundstellen.
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Letztlich sind die Faktoren, die Einfluss auf das Aussehen von Steinartefakten haben, sehr vielfältig (Bild 6), und es ist ein komplizierter Vorgang, die jeweils maßgeblichen Kriterien herauszufiltern. Als erstes muss das zugrunde liegende Rohmaterial genannt werden. In manchen Regionen gibt es keine hochwertigen Rohstoffe. Dort sehen die Artefaktinventare dann deutlich ärmer aus als in Regionen, die von erstklassigen Silices nur so strotzen. Deshalb sind die archäologischen Hinterlassenschaften in diesen Gegenden aber nicht kulturell weniger bedeutsam oder kulturhistorisch weniger repräsentativ. Auch wenn der rein umweltdeterministisch geprägte Ansatz der New Archaeology zweifellos überwunden wurde, so können dennoch Klima und Umwelt einen erheblichen Einfluss auf den Habitus von Steinartefaktensembles ausüben. Es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass Steinartefakte, die in gemäßigten Klimaten entstanden sind, „schöner“ oder signifikanter aussähen, als solche, die in kalt-trockenem Klima hergestellt wurden. Das Gegenteil ist richtig. In der kalt-trockenen Umwelt des Eiszeitalters gibt es weniger zur Verfügung stehende organische Rohmaterialien, wie etwa Holz. In kalten Klimaten neigen Sammler und Jäger auch zu einer saisonal bedingten starken Strukturierung der Siedlungsweise, die neben Phasen der Wanderung auch längere Phasen der Sesshaftigkeit beinhaltet. In einem solchen Milieu bestehen erheblich bessere Möglichkeiten zur systematischen Beschaffung von Rohstoffen und zur sorgfältigen Präparation der Rohstücke als
Bild 6 Am Beispiel eines Faustkeils werden die Faktoren dargestellt, die auf das Aussehen eines Steinartefaktes Einfluss ausüben können.
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in einem stärker bewaldeten Milieu, in dem die Vereinzelung des Wildes die Wildbeuter zu einer hohen Mobilität und einem unsteten Lebenswandel zwingen. Am Ende der letzten Eiszeit, als ein ständiger Wechsel zwischen kalten und gemäßigten Klimaphasen herrschte, ist folglich ein mehrmaliger Wandel von „gut“ (kalt) und „schlecht“ (warm) gearbeiteten Artefaktensembles zu beobachten. Einen unerwarteten Einfluss auf die Ausprägung von Artefakten, so wie sie von Archäologen schließlich aufgefunden werden, hat sodann auch die Besiedlungsdauer prähistorischer Fundstellen. Steinartefakte sind keine statischen Ge bilde. Sie sind in stete Umformungs- und Nachschärfungsprozesse eingebunden. Je länger Artefakte in den Siedlungszyklus eingebunden sind und je länger eine Fundstelle besiedelt wird, desto mehr kommt es zu Reduktions- und Um formungsprozessen. Mit anderen Worten: Ein von Archäologen aufgefundenes Steinartefakt hätte möglicherweise völlig anders ausgesehen, wäre die zugrunde liegende Fundstelle nur einige Tage länger besiedelt worden. Wie bereits angesprochen, können schließlich auch die kognitive und physische Grunddisposi tion, der jeweilige chronologische wie kulturelle Hintergrund und auch die Funktionsvielfalt der Fundstelle Einflüsse auf das Aussehen von Steinartefakten ausüben. Noch wenig erforscht sind darüber hinaus individuelle Züge der herstellenden Person. Klar wird, dass die Frage der anthropologischen Trägerschaft mit der jeweiligen kognitiven und physischen Grunddisposition nur einen von vielen Faktoren darstellt, die den Habitus von Steinartefakten beeinflussen können. Die kognitive Disposition des Menschen ist als Voraussetzung notwendig, erklärt aber nicht hinreichend die jeweiligen spezifischen Ausformungen der Artefakte.
Stei na r tefa k te – meh r a ls nu r Werk zeuge? Ohne Hochrechnungen bemühen zu wollen, dürfte die Gesamtzahl der überlieferten paläolithischen Steinartefakte der Erde grob geschätzt im Milliardenbereich liegen. Der Alltag beschert dem Archäologen auf den Ausgrabungen viele kleine Feuersteinsplitter und jedes signifikante Stück, mit dem zum Beispiel die Fundstelle datiert werden kann, ist eine große Freude. Selten tauchen Artefakte auf, die den Eindruck erwecken, als setzten sie sich vom Gros des sonstigen Artefaktbestandes ab, so als seien sie über einen längeren Zeitraum im Umlauf gewesen. Dieser in der angloamerikanischen Literatur mit dem Begriff curation umschriebene Vorgang kann bedeuten, dass sie über einen längeren Zeitraum bei den Wanderungen und beim Lagerplatzwechsel der altsteinzeitlichen Sammler und Jäger mitgeführt wurden, es kann aber in Fällen besonders weiter Transportdistanz auch für eine Einbindung in überregionale Tauschverbindungen sprechen. Solche Stücke sind meist daran zu erkennen, dass es sich um Einzel-
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Paläolithische Steinartefakte
stücke aus besonders seltenen und exotischen Rohmaterialien handelt. Diese länger behaltenen Stücke können aber zunächst, so wie die schneller verworfenen auch, in den alltäglichen Arbeitsprozess eingebunden gewesen sein. Schließlich gibt es, von der Sekundärliteratur gerne aufgegriffen, sehr selten auch Stücke, die sich durch verschiedene Besonderheiten auszeichnen, so als seien sie ihrem Hersteller und/oder Besitzer besonders wichtig gewesen und als habe man für ihre Herstellung mehr Aufwand betrieben, als es für ein simples Werkzeug nötig gewesen wäre. Solche Stücke können aus besonders attraktiven Rohmaterialien bestehen (zum Beispiel aus Bergkristall, Jaspis oder sonstigen Halbedelsteinen), besonders groß sein, besonders symmetrisch, besonders minutiös zugearbeitet, sie können sich durch andere Charakteristika wie etwa ein Loch zum Aufhängen oder ein beinhaltetes Fossil auszeichnen oder in Depots gefunden worden sein. Zu außergewöhnlicher Berühmtheit haben es in diesem Zusammenhang Faustkeile gebracht, deren Symmetrie und feine Bearbeitung manche Kollegen dazu veranlasst hat, sie als Ausdruck ästhetischen Empfindens anzusehen, bis hin zu Hypothesen, Faustkeile haben in der Altsteinzeit als Repräsentationsgut und gar als Hochzeitsgeschenke gedient. Insbesondere der Faustkeil von West Tofts, Norfolk, ist wegen eines zentral platzierten Fossileinschlusses berühmt und wird auch von Horst Bredekamp besonders gewürdigt.4 Während das Herausheben solcher Einzelstücke aus dem unübersichtlichen Konvolut altsteinzeitlicher Artefakte durchaus gerechtfertigt erscheint, stellt sich dennoch die Frage, was diese Stücke über die frühe Menschheitsge schichte sagen. Es ist zweifelhaft, ob ein steinzeitliches Werkzeug, so ansprechend es von einem ästhetischen Standpunkt aus auch sein mag, auf derselben Bewertungsebene behandelt werden sollte, wie die Eiszeitkunst am Beispiel der komplexen Höhlenmalerei der Grotte Chauvet oder des Vogelherdpferdes aus dem Aurignacien der Schwäbischen Alb. „Waffen und Werkzeuge haben neben ihrem ästhetischen stets auch einen technisch-praktischen Wert. Sie können und müssen insofern von Objekten unterschieden werden, die ausschließlich eine ornamentale Bedeutung haben.“5 Auf die Gegenwart übertragen – und die provokative Note dieses Vergleichs ist durchaus beabsichtigt – würde eine Mistgabel, so symmetrisch sie auch geformt und so sehr ihr Stahl auch gleißen mag, kaum zum Vergleich mit dem Blauen Pferd eines Franz Marc taugen. Manchmal scheint es, als neige der mit altsteinzeitlichen Inhalten weniger vertraute Wissenschaftler dazu, diesen langen und ältesten Abschnitt der Menschheitsgeschichte kulturgeschichtlich als wabernde und undifferenzierte Masse anzusehen, in die Realisierungen aus 4 5
S. Horst Bredekamps Beitrag in diesem Band. Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin, Berlin 2011, S. 223.
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den unterschiedlichsten Ebenen zusammengeworfen werden können. Zwar ist es richtig, insbesondere Sammler/Jäger-Populationen holistische Sichtweisen zu attestieren, andererseits verdienen diese frühen Gesellschaften Anerkennung ob ihrer komplexen und differenzierten Lebensbereiche.
H i nterg r u nd i n for mat ionen Vermutlich dürfte sich der neutrale Leser ob des Gesagten ungläubig die Augen reiben. Nun interessiert sich die deutsche Kunstgeschichte nach einer längeren Phase erstmals wieder für Inhalte der Steinzeit und dann ist es den Prähistorikern offenbar auch nicht recht. Um diesen Vorgang zu erklären, bedarf es eines weiteren Bogens. Die Urgeschichtsforschung ist eine recht junge Wissenschaft. Ihre Anfänge liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich zu den theoretischen Grundlagen des Evolutionismus herausragende Entdeckungen gesellten, wie der des Neandertalers aus dem gleichnamigen Talabschnitt der Düssel in der Nähe von Mettmann. Allerdings hatten es diese frühen Menschenformen, insbesondere der Neandertaler, lange schwer, und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurde er eher diskreditiert, als eine dem Homo sapiens vergleichbare Anerkennung zu erfahren. Erst in den zurückliegenden Jahrzehnten setzte eine berechtigte Ehrenrettung dieser verkannten Menschenformen ein, indem ihnen viele unerwartete kulturelle Errungenschaften attestiert wurden. Zu denken ist hierbei an Bestattungen, die kunstfertige Bearbeitung verschiedener Materialien oder die Sprachfähigkeit. Allerdings gibt es seit einer Weile eine nach Dominanz strebende Fraktion unseres Faches, zu nennen sind unter anderen João Zilhão und Francesco d’Errico, die in einer Art Kreuzzug unter Ziehung sämtlicher Register in ihrer Beurteilung so weit geht, sämtliche Unterschiede zwischen frühen Menschenformen – zum Beispiel dem Neandertaler und dem Homo sapiens zu negieren – mit anderen Worten den Übergang vom europäischen Mittel- zum Jungpaläolithikum als einen x-beliebigen Moment der Menschheitsgeschichte abzutun. In diesem Vorhaben werden – unter dem faden Begriff der kulturellen Modernität subsumiert – jegliche auch noch so unzusammenhängenden und insignifikanten Äußerungen assembliert, die den Perioden jenseits des europäischen Jungpaläolithikums Innovation, Dynamik und Modernität attestieren. In diesem Zusammenhang werden eben auch, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen, Steinartefakte bemüht, eine Art Protokunst zu vertreten.
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Besser, sc h lec hter? A nder s! Dies ist der Punkt, an dem eine kritische Hinterfragung des Status quo der Urund Frühgeschichte angebracht ist. Es bleibt festzustellen, dass sich zwischen dem europäischen Mittel- und Jungpaläolithikum deutliche gesellschaftliche und vermutlich auch religiöse Unterschiede bemerkbar machen und dass es einen völlig unterschiedlichen Vorgang darstellt, ein regelmäßiges Steinartefakt zu schlagen oder in tiefe Höhlen einzudringen, um dort Malereien an den Höhlenwänden zu verewigen. Ein Werkzeug ist und bleibt ein Werkzeug. Es mag zwar kunstfertig gestaltet sein, aber es bleibt ein Werkzeug. Zwar sind die Höhlenmalereien des Jungpaläolithikums wie Werkzeuge im weiteren Sinne ebenfalls utilitär zu beurteilen, da eine steinzeitliche Gesellschaft solche Aktivitäten zweifelsfrei nicht nur als l’art pour l’art vollzogen hat. Ein derart großer Aufwand, wie er für Höhlenkunst nötig war, wurde nur betrieben, weil eine Notwendigkeit dafür bestand. Dennoch handelt es sich hierbei um eine völlig andere Ebene. Das Eindringen in tiefe Höhlen muss außergewöhnlich motiviert gewesen sein, denn es gab vordergründig keinen alltagstauglichen Grund, in dunkle, gefährliche und nasse Unterwelten vorzudringen. Auch wenn es Spekulation bleibt, so erscheint es dennoch offensichtlich, dass es dort Dinge zu klären gab, Probleme, die man im Alltagsleben angehäuft hatte. Sammler und Jäger töten Tiere und in animistisch geprägten Gesellschaften können in Tieren auch Ahnen wohnen. Dadurch erwächst – um der Argumentation Constantin Rauers zu folgen – ein Problem, das nur im Ritual gelöst werden kann.6 Im Dunkel der Höhlen scheint man sich auf die Suche nach der Geisterwelt gemacht zu haben. Die verbreiteten Handnegative als Teil der Höhlenmalerei scheinen gleichsam apotropäische Züge zu tragen: Wir wissen, dass wir etwas verbrochen haben, aber bleibt, wo ihr seid, wir machen das schon wieder gut. Auch die verbreitete jungpaläolithische Gepflogenheit, in Spalten und Löchern der Höhlenwände Knochensplitter und Steinartefakte zu stecken, deutet sehr auf eine Art Opfergabe hin. Im Jungpaläolithikum treten verschiedene Innovationen auf, zum Beispiel die figürliche Kunst, Musikinstrumente und formüberarbeiteter Schmuck. Im vorherigen Mittelpaläolithikum scheint demgegenüber keine gesellschaft liche Notwendigkeit bestanden zu haben, derartige Objekttypen herzustellen. Vielleicht war der Neandertaler – und dies ist ein heißes Eisen – von seiner Bildkompetenz her auch nicht dazu in der Lage. In jedem Fall sollte deutlich geworden sein, warum manche Autoren so vehement dafür argumentiert haben,
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Constantin Rauer: Homo Cultus. Vom Ursprung des Menschen, Berlin 2016 (in Vorbereitung).
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Steinartefakten aus der Frühphase der Menschheit mehr Aufmerksamkeit zu kommen zu lassen, als ihnen zusteht.
Fig ü rl ic h b ea rb eite te Stei na r tefa k te Tatsächlich ändern sich die Bedingungen ab dem Beginn des Jungpaläolithikums. Nun treten erstmals – und das sollte schon zu denken geben – in einem Milieu, das figürliche Darstellungen kennt, interessanterweise auch Steinartefakte auf, die so geschlagen sind, dass sie figürliche Formen annehmen. Beispielhaft seien einige Artefakte in Tierform und in Form stilisierter Frauenfiguren angeführt. Am Ende der letzten Eiszeit, im Magdalénien, zeigt die Eiszeitkunst Tendenzen zur Abstraktion. Die einst voluminösen Frauenfiguren des Gravettien werden nun zu stabförmig reduzierten Wesen, bei denen an körperlichen Details nur noch das Gesäß und die Brüste verbleiben. Ohne die Kenntnis um verschiedene Grade der Reduktion wäre es nicht möglich, manche dieser stilisierten Gebilde als Frauenfiguren zu identifizieren. Normalerweise in Elfenbein, Knochen oder schnitzbaren Gesteinen umgesetzt, gibt es sie, wie hier gezeigt, auch in Form geschlagener Steinartefakte. Ein besonderes Artefakt in Tierform ist ein, zunächst wertfrei beschrieben, Vielfachbohrer aus der gravet-
Bild 7 Figürlich zugeformte paläolithische Steinartefakte. Oben links Mehrfachbohrer in Tiergestalt (stehender Bär, Fellbalg?), Senozan, Frankreich, Fund Jean Duriaud; oben rechts Artefakt in Tiergestalt, Le Cap Blanc, Dordogne; unten links Artefakt in Tiergestalt, Etiolles, Pariser Becken; unten rechts zwei stilisierte Frauenfiguren, Wilczyce, Polen.
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tienzeitlichen Freilandfundstelle Senozan nördlich von Mâcon (Saône-et-Loire, Frankreich). Dieses Steinartefakt fiel unmittelbar durch seine Tiergestaltigkeit auf (Bild 7). Ob hier ein aufrecht stehender Bär oder die Silhouette eines Fellbalges wiedergegeben werden sollte, bleibt allerdings derzeit noch unklar.
Fa z it Steinartefakte sind nach wie vor der bedeutendste Vertreter der materiellen Kultur des Paläolithikums. Sie liefern uns zahlreiche wertvolle Informationen zur Lebensweise unserer frühesten Vorfahren. Durch ihre ununterbrochene Präsenz in den archäologischen Fundstellen sind sie zudem deutlich besser für Vergleiche geeignet als seltene Objektkategorien. Steinartefakte sind vornehmlich Werkzeuge zur Ausübung von Tätigkeiten des alltäglichen Lebens. Man hat mit ihnen Tiere zerlegt, Felle bearbeitet, Bäume gefällt und Werkzeuge aus organischen Rohmaterialien gefertigt. Ein optisch ansprechendes Aussehen solcher Stücke entbindet sie im Übrigen nicht zwingend von einer praktischen Anwendung. Dennoch erwecken einige wenige Stücke darüber hinaus den Eindruck, dass sie mehr waren als ein reines Werkzeug. Man hatte für ihre Herstellung deutlich mehr investiert, als es zur Ausübung des ihnen zugewiesenen Tätigkeitsfeldes nötig gewesen wäre. Solche Artefakte attestieren dem jeweiligen Hersteller beziehungsweise Besitzer ein affektives Verhältnis zu diesem Stück. Derartige Verhaltensweisen können bereits für sehr frühe Menschenformen, wie etwa den Homo erectus oder den Neandertaler, nachgewiesen werden. Dies ist angesichts der lange währenden Diskre ditierung dieser Menschen ein sensationelles Ergebnis. Der Enthusiasmus ob dieser Erkenntnisse darf allerdings nicht dazu verleiten, anzunehmen, dass solche Objekte bereits als Vorläufer von Kunst oder gar als Kunst selbst anzuerkennen wären. Der Weg von Steinartefakten hin zu den Höhlenmalereien und den Skulpturen der Eiszeitkunst ist ein weiter. Die Grunddisposition der Menschen, ihre basalen Fähigkeiten sind eine Sache. Die gesellschaftliche Realität, das kollektive Gedächtnis, die Tradierung von Gebräuchen und Ritualen, von Kult und Religion eine andere. Die Feinheit einer Blattspitze und Schönheit der Malereien von Lascaux betrifft zunächst beiderseits den Sinn für Ästhetik. Das Formen eines Faustkeils und das Formen einer Tierskulptur berührt zunächst gleichermaßen den Vorgang von Gestaltung. Hinter diesen vordergründigen Gemeinsamkeiten liegen aber Welten des Unterschieds.
Horst Bredekamp
D er Faustkeil und die ikonische D ifferenz Für Gottfried und Margret Boehm1
1. D ie I n novat ionstec h n i k des Faust kei ls Im neunzehnten Jahrhundert gehörten Werke der Frühzeit zum ersten Element des kunstgeschichtlichen Kanons. So vertrat Franz Kuglers Handbuch der Kunstgeschichte von 1842 ein Konzept, das von der Gegenwart über die Renaissance, den Islam, das europäische Mittelalter, die römische, griechische und ägyptische Antike und über die Kunst der außereuropäischen Gemeinschaften bis schließlich zur Kunst der Frühzeit und zu ihren ersten Steinartefakten reichte. Die erste Tafel der illustrierten Ausgabe von Hermann Guhl lässt die Steinmonumente von Carnac und Stonehenge deutlich erkennen (Bild 1).2 Angesichts der erstaunlichen Entdeckungen und Durchdringungen nicht nur der Höhlenmalerei, sondern auch und vor allem im Bereich der Analyse der Steinartefakte, wie sie durch Harald Floss geleistet worden ist,3 stellt sich die Frage, ob die im späteren 19. Jahrhundert vollzogene Trennung zwischen vorund frühgeschichtlicher Archäologie und Kunstgeschichte4 auf diesem Gebiet nicht in Ansätzen aufgehoben werden sollte, um die kunsthistorischen Methoden des Formvergleichs und der Formanalyse zu rehabilitieren. Als Gebrauchs- und Symbolform war die Gestaltung des Faustkeils über mehr als eineinhalb Millionen Jahre in der Grundform stabil. In der konkreten 1
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Der Artikel stellt den Auszug eines Vortrages dar, den ich im Rahmen des Symposiums aus Anlass von Gottfried Boehms Emeritierung an seinem 70. Geburtstag in Basel halten konnte. Ihm und seiner Frau Margret (†) sei dieser Artikel, der die wesentliche Anregung aus seinem Konzept der „ikonischen Differenz“ gezogen hat, gewidmet. Ernst Guhl/Joseph Caspar: Denkmäler der Kunst, Bd. 1, Stuttgart 1851, A. Taf. I. Harald Floss (Hg.): Steinartefakte – Vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit, Tübingen 2012. Zu dieser Aufspaltung s. Ulrich Pfisterer: Altamira – oder: Die Anfänge von Kunst und Kunstwissenschaft, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 10 (2007), S. 13–80.
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Bild 1 Joseph Caspar: Denkmäler des nordeuropäischen Alterthums, Stuttgart 1845, Taf. 1.
Ausprägung aber machten sich zeitlich großflächige Schwankungen bemerkbar, die keinesfalls einen linearen Fortschritt bedeuteten; vielmehr traten teils frühe Fertigkeiten einer überaus differenzierten und gekonnten Vollendung der Form auf, die später wieder verloren gehen konnten.5 Es scheint, als ob die Schulung der Formgebung und die Anwendung der Faustkeile während des Altpaläolithikums gleichsam in die Genetik des körperbezogenen Formempfindens eingeschrieben worden sei.6 Auf dieser Basis wurde die seit dem frühen 20. Jahrhundert bekannte Schildkern-Technik entwickelt, bei der die Schlagführung auf eine horizontal durch den Stein gehende Ebene reagierte. Jeder Schlag zielte auf einen unsichtbaren Horizont, der imaginativ die Bedingungen der Abschläge definiert. Es handelte sich um eine Gestaltungs5 6
Jean-Marie Le Tensorer: Faustkeile, in: Floss: Steinartefakte (wie Anm. 3), S. 209– 218, S. 216. Dies allein schon auf Grund der in die zweistellige Milliardenzahl gehenden Menge der hergestellten Faustkeile. Vgl. Michael Brandt: Wie alt ist die Menschheit? Demographie und Steinwerkzeuge mit überraschenden Befunden, Holzgerlingen ²2006, S. 122; Paul Natterer: Philosophie der Biologie. Mit einem Abriss zu Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft und einer interdisziplinären Bilanz der Evolutionsbiologie, Norderstedt 2010, S. 134.
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Bild 2 Herausarbeiten des Faustkeils nach der Levallois-Technik.
form, die ein markantes Durchdringungsvermögen der räumlichen Struktur des Steines voraussetzte. Das Ziel war, von dem derart präparierten Stein die Abschläge mit jeweils einem einzigen Schlag abzusprengen (Bild 2).7 Diese hochdifferenzierte Technik bezeugt das Entwicklungs- und Differenzierungspotential, das mit der Produktion des Faustkeils verbunden war, und dieses hat mit der Erfindung der Innovation auch die Möglichkeit, wenn nicht den Zwang hervorgebracht, Variationen zu entwickeln. Damit aber vermochte die Faustkeilproduktion jenes Moment der Entwicklung zu erzeugen, das Entscheidungen über die Gestaltung erforderte. Der Prähistoriker Michael Walker hat in diesem Sinn von verschiedenen „Moden“ gesprochen, gegenüber denen sich der Skulpteur hätte verhalten müssen.8 Es ist dieses Zusammenwirken von Nutzen und überschüssiger Gestalt, aus deren Spannung ein markantes Element der Evolution des Humanum entstand.
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Vgl. Fiorenzo Facchini: Die Ursprünge der Menschheit, Stuttgart 2006, S. 142. Michael J. Walker: Long-Term Memory and Middle Pleistocene „Mysterians“, in: Sophie A. de Beaune/Frederick L. Coolidge/Thomas Wynn (Hg.): Cognitive Archaeology and Human Evolution, New York 2009, S. 75–84, S. 82ff.
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Von besonderer Bedeutung ist die immer wieder auftretende, gekonnt eingesetzte asymmetrische Gestalt, wie sie vier von Jean-Marie Le Tensorer in Syrien ausgegrabene Faustkeile in besonders subtiler Form aufweisen (Bild 3).9 Für eine derart fein eingesetzte Minimalstörung der spiegelbildlichen Asymmetrie aber ist der differenzierende Vergleich die Basis; auf ihr gründet jede bewusste Stiftung von Ordnung und Freiheit. Der Grund der Gestaltung, Wertschätzung und Sammlung besonders ausgewiesener Gegenstände beruht hier allgemein auf der Fähigkeit, den durch Vergleich geschaffenen Sinn für Differenz zu schärfen, und hierzu muss die asymmetrische Fertigung gedient haben. Sie stellt den Beweis für den unlösbaren Bedingungszusammenhang von Funktion und Form, in dem unscheidbar die Gestalt die Funktion wie die Funktion die Gestalt prägt.10
2. D ie I n k lusion von Fossi l ien Eine Reihe von nicht anders als spektakulär zu nennenden Funden hat diese Dialektik von Nutzen und Freiform auch für die Binnengestaltung der Faustkeile belegt. So hat eine Gruppe französischer Forscher eine Fülle von Indizien zusammengeführt, die für nicht-utilitäre Gestaltungsformen der Steinzeit sprechen. Dem Ton der Publikation ist anzumerken, dass sie auch eine Art Mutprobe gewesen ist.11 Eine Teilgruppe bezieht sich auf Fossilien, die in einer Pionierarbeit von Kenneth P. Oakley aus dem Jahr 1985 als Motive einer differenzierenden Ästhetik thematisiert worden sind.12 Es handelt sich um Fossilien, die in Faustkeilen oder anderen Steinartefakten eingeschlossen und in dieser Inklusion in besonderer Weise hervorgehoben wurden. Ihre Bedeutung ist schwerlich zu überschätzen. Insofern sie ein Minimum von Formgestaltung in der Art der Inklusion, also der bewussten Wahrnehmung der formalen Differenz offen-
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Michel Lorblanchet: La naissance de l’art. Genèse de l’art préhistorique, Paris 1999, S. 141. Eine Grundlage für all diese Fragen ist durch das von Harald Floss herausgegebene Handbuch „Steinartefakte“ geschaffen worden, insofern hier mit den Fragen des Materials und der Technik auch das Problem des symbolischen Gehalts neu gestellt worden ist. Insbesondere Le Tensorer betont geradezu mit Inbrunst, „dass diesen Stücken ein Bemühen um Ästhetik innewohnt. Der funktionellen schließt sich wahrscheinlich eine spirituelle Dimension an, sofern der Hersteller das Material in Richtung einer von ihm als notwendig erachteten Idealform gestaltet, die in funktioneller Hinsicht keinen Vorteil bedeutet.“ Le Tensorer: Faustkeile (wie Anm. 5), S. 215. Marie-Hélène Moncel/Laurent Chiotti/Claire Gaillard/Gérard Onoratini/David Pleurdeau: Non-Utilitarian Lithic Objects from the European Paleolithic, in: Archeology, Ethnology and Anthropology of Eurasia 40/1 (2012), S. 24–40. Kenneth P. Oakley: Decorative and Symbolic Uses of Fossils, Avon 1985.
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Bild 3 Vier Faustkeile, Nadaouiyeh Ain Askar, Syrien, Acheuléen, Finder: Jean-Marie Le Tensorer, Photographie: E. Jagher.
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baren, bekräftigen sie jenes Formdenken, das Gottfried Boehm die ikonische Differenz nennt.13 Diese Inklusionen müssen Fall für Fall daraufhin befragt werden, ob das Fossilium in seinem Eigenwert erkannt und herausgestellt wurde, oder ob der Zufall im Spiel war. Ein erstes Beispiel mag dies verdeutlichen. Bei einem jener Quarzit-Polyeder, wie sie als dritte Sonderform neben Faustkeil und Cleaver vermutlich in der Funktion als Schaber vorkommen, einem aus dem Mittelpaläo lithikum stammenden Exemplar des in der Osteifel gelegenen Kraterkegels Schweinskopf, besticht zunächst die Finesse, in der dieser Stein an den Seiten in Flächen begradigt worden ist (Bild 4).14 Eine der Flächen weist das Fossil einer herzförmigen Muschel auf. Es könnte eingewandt werden, dass die Muschel in dieser Fläche derart exzentrisch sitzt, dass von einer Hervorhebung nicht wirklich gesprochen werden könne. In der Umzeichnung wird jedoch deutlich, dass über dieser Muschel und rechts von ihr vermutlich kein Stein vorhanden war, der es ermöglicht hätte, sie stärker in den Mittelpunkt zu rücken (Bild 5). Umso erstaunlicher ist die Behutsamkeit, mit der die rechte Seite der Muschel bewahrt wurde, obwohl die Fläche, in der sie sitzt, hier eine Begradigung verlangt hätte. Was auf den ersten Blick in seiner Position als zufällig gelten könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung als besonders feines Bemühen, die Intaktheit der speziellen Form zu erhalten. Ein ähnlich komplex zugehauener, in Tercis-les-Bains ausgegrabener Stein lässt jenseits seiner polyedrischen Bestimmung bis auf eine Erhebung, die nach rechts oben absteht, zunächst keine Besonderheit erkennen (Bild 6).15 Daran, dass die Erhebung wie ein Hals oder ein Kragen sauber herausgeschlagen ist, kann kein Zweifel bestehen. In der frontalen Sicht auf diesen Steg zeigt sich auf seiner Oberfläche das Fossil eines relativ genau in der Mitte sitzenden Seeigels (Bild 7). Mit verblüffender Exaktheit ist dieses Gebilde in die Mitte einer ovalen Form gesetzt worden, als blicke man auf die ornamentierte Kalotte eines Kopfes mit einem daruntersitzenden Korpus (Bild 8). Vermutlich diente der gesamte Stein als eine Art Handschmeichler, aus dem, wenn er mit der Hand umschlossen war, 13
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Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38, S. 30; ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 34–38. Joachim Schäfer: Der altsteinzeitliche Fundplatz auf dem Vulkan SchweinsbergKarmelenberg, Köln 1990, Abb. 43, 2, Taf. 37; ebd., S. 81, S. 129f.; Lorblanchet: La naissance de l’art (wie Anm. 9), S. 91, S. 93 sowie S. 92, Abb. 2; Gerhard Bosinski: Urgeschichte am Rhein, Tübingen 2008, S. 142. Gilles Serge Odin/Jacques Pelegrin/Didier Néraudeau: Un fossile d’oursin préservé sur un nucléus paléolithique (site de plein air de Tercis, Landes, France), in: Paléontologie humaine et préhistoire (Archéologie préhistorique)/Human Palaeontology and Prehistory, Comptes Rendus Palevol 5/5 (2006), unter: doi: 10.1016/j.crpv.2006. 01.004, S. 743–748 (10.04.2015).
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Bild 4 Schaber mit Inklusion einer Muschel, Devonischer Quarzit, Kraterkegel Schweinskopf/Osteifel, Mittelpaläolithikum, Neuwied, Archäologisches Forschungs zentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution, Schloss Monrepos. Bild 5 Schaber, wie Bild 4, Umzeichnung.
Bild 6 Handschmeichler (?) mit Inklusion eines Seeigels, Tercis-les-Bains, Mittelpaläolithikum, Paris, Muséum national d’Histoire naturelle. Bild 7 Inkludiertes Fossil des Seeigels.
Bild 8 Faustlage des inkludierten Fossils.
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Bild 9 Seitensicht des inkludierten Fossils. Bild 10 Faustkeil mit Fossil einer Muschel, La Plane/Dordogne, Mittel paläolithikum, Finder: Alain Turq.
das Fossil eines Seeigels auf der Spitze des Sporns entgegenblickte: Inkunabel des haptischen Bildes. Hier ist ein Fossil deutlich aus der Umgebung herausgearbeitet und erhöht. In dieser erhobenen Isolierung ist die Idee des Sockels enthalten (Bild 9). Er hat hier offenkundig seine erste überlieferte Formulierung erfahren. Muschelfossilien, wie sie das erste Beispiel aufwies, wurden auch in Faustkeilen betont. Ein solches Exemplar zeigt eine in Richtung des Steinzentrums weisende, fossile Muschel aus La Plane in der Dordogne (Bild 10).16 Vor allem ist auffällig, dass um den nach links hin spitz zulaufenden Kopf der Muschel ein breiter, wie zum Respekt belassener Streifen stehen geblieben ist, während auf der Seite der breiten Ausfächerung der Muschelrippen ein schmaleres Band nicht weniger gleichmäßig herumgeführt wurde. Die Zurichtung des Steins zum Faustkeil hätte verlangt, dass die linke Seite abgeschlagen worden wäre. Dies aber ist nicht geschehen. Seine Aufgabe bestand nicht darin, als Gerät genutzt, sondern gesammelt und gesehen zu werden. Dem fossilen Bildrelief sollte offenkundig ein Rahmen gegeben werden, um es in seinem Ambiente hervorzuheben.
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Lorblanchet: La naissance de l’art (wie Anm. 9), S. 91, Abb. 82.
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Bild 11 Faustkeil mit Fossil eines Seeigels, Swanscombe/England, Altpaläolithikum, Liverpool, Acheuléen, World Museum. Bild 12 Seitensicht des Faustkeils mit Fossil eines Seeigels.
Bild 13 Fossil eines Seeigels, Detail.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dieser Gestaltungsformen bietet ein Faustkeil aus Swanscombe in England (Bild 11).17 Er lädt in der Bauchpartie relativ breit aus und auf der rechten Seite zeigt er eine ungewöhnliche Ausbuchtung. Am Boden stehen ebenfalls zwei Höcker über, die wie zwei Füße wirken. In der Mitte ist das Fossil eines Seeigels zu erkennen. Auf allen Seiten des Rundes fällt das Gelände ab, so dass der Seeigel wie auf einem Sockel präsentiert ist 17
Vgl. Kenneth P. Oakley: Emergence of Higher Thought 3.0–0.2 Ma B.P., in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B: Biological Sciences 292/1057 (1981), S. 205–211, S. 209, Fig. 3; Lorblanchet: La naissance de l’art (wie Anm. 9), S. 90, Abb. 89; Kenneth J. McNamara: The Star-Crossed Stone. The Secret Life, Myths, and History of a Fascinating Fossil, Chicago/London 2011, S. 22ff.
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(Bild 12). Aller Wahrscheinlichkeit nach, dies zeigt die Seitenaufnahme, war dies die Situation, die der frühzeitliche Bearbeiter vorgefunden hat. Auf der linken Seite hat er versucht, den dort hochstehenden Stein entsprechend abzuarbeiten und auf diese Weise eine gleichmäßige Hervorhebung des ornamentierten Rundes zu erreichen. Deutlich ist dies links oben von der Mitte zu erkennen, wo die Spitze eines Schlagwerkzeuges genau dort angesetzt hat, wo das Rund sich fortsetzt (Bild 13). Hier ist ein Teil des Seeigel-Kreises mit abgeplatzt. Vermutlich ist bei diesem Schlag auch das linke Kreissegment verloren gegangen, aber im gesamten südwestlichen Bereich ist versucht worden, entlang des Rundes in die Tiefe zu gehen. Insgesamt ist die Kreislinie des fossilen Tieres stehen geblieben, so dass die mittlere Positionierung des Seeigels in dessen gesamter Rundung nachvollzogen werden kann. Hier wird deutlich, warum die Fähigkeit, die Form als autonome Größe zu begreifen, als ein universales Element der Menschwerdung der Humanoiden anerkannt werden kann. Sie zwingt dem Schöpfer die Bedingungen der Gestaltung auf.
3. Da s Beispiel von West Tof ts: D ie Tr iebk ra f t der For m Eine nochmalige Steigerung dieser ostentativen Steinkunst bildet ein ca. 200.000 Jahre alter Faustkeil aus West Tofts, Norfolk in England (Bild 14).18 Die Silhouette gehorcht dem Stil der symmetrisch-asymmetrischen Zubereitung, aber in der Mitte des Bauches sitzt zusätzlich die fossile Muschel Spondylus spinosus. Mit einer bemerkenswerten Finesse ist sie in die zentrale Achse des Gebildes gebracht worden. Verwitterungsspuren an der Muschel lassen erkennen, dass diese an der Oberfläche gelegen hat, um dort auf die Aufmerksamkeit eines Auges zu treffen, das den Wert dieser Besonderheit erkannte. Offenkundig bot der zugehörige Stein die Möglichkeit, nicht nur die Muschel in die Mitte des Bauches zu setzen, sondern auch die Richtungen der Muschel und des Steines auf derselben vertikalen Achse reziprok gegeneinander laufen zu lassen. Die Rundkante der Muschel weist nach oben zum Kopf des Faustkeils, während die Spitze des Fossils nach unten zum breiten Fuß des Steines ausgerichtet ist. Auf der Basis dieser Differenzbestimmung hat der Fossilrahmen etwas Einzigartiges geschaffen. Natürlich hatte der Skulpteur keine Vorstellung von dem, was ein Fossil war, aber sein Auge muss die Form mit einer solchen Wertschätzung wahrgenommen haben, dass es dieses mit Sinn für Proportionen rahmte (Bild 15).19 Indem er das Ding durch diese Rahmung in ein 18 19
Vgl. Oakley: Emergence of Higher Thought (wie Anm. 17), S. 208f. John Feliks: The Impact of Fossils on the Development of Visual Representation, in: Rock Art Research 15/2 (1998), S. 109–124, S. 114 –116.
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Bild 14 Faustkeil mit Inklusion der fossilen Muschel Spondylus spinosus, West Tofts/ Norfolk (England), ca. 200.000 Jahre alt, Cambridge, Museum of Archaeology and Antropology. Bild 15 John Feliks, Schematische Darstellung des Faustkeils von West Tofts.
Bild verwandelte, hat er die Gattung des „Bildes im Bild“ in die Welt gesetzt. Damit aber ist das Denken in ikonischer Differenz zum raffinierten Monument seiner selbst geworden. Die Fossilien können als Anstoß gewertet werden, über die bildliche Differenzerfahrung einen Impuls zur Ausbildung des Distanzbewusstseins an sich zu gewinnen. Dieses ungeheure kleine Monument war bisher nur durch eine einzige Photographie der Vorderseite bekannt, die in ihrer Beleuchtung die Grobstruktur der plastischen Gestaltung verdeutlichte (Bild 14). Bei einer weicheren Lichtgebung auf das Gebilde dagegen kommen die Differenzierungen der Binnenstruktur stärker zum Vorschein (Bild 16), und diese können nun auch über die Schmalseiten wie auch die Rückfront verfolgt werden. Der Blick auf die rechte Schmalseite offenbart die den Faustkeilen eigentümliche schwingende Eleganz auf eine besonders eindrucksvolle Weise (Bild 17). Die Linienführung zeigt im unteren Teil des Überganges von der Vorder- zur Schmalseite eine bauchige Erhebung, hinter der die Muschel verborgen und geschützt wird. Großartig läuft die sich anschließende Muldung nach oben hin wie eine Dünung aus, um dann wieder zu einem kleineren Hügel anzusteigen. Die Linie des Überganges zur Rückseite lässt in ihrer unterschiedlichen Farbigkeit und Materialität erkennen, dass der Stein von der Spitze an zu etwa zwei Drittel der Fläche abgeschlagen und bearbeitet wurde. Der untere poröse braune Teil war dagegen der Witterung ausgesetzt. Dieses Verfahren erweist, dass der Produzent dieses Steinartefaktes nicht nur zwischen Fossil und Umge-
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bung zu unterscheiden wusste, sondern auch die stoffliche und farbliche Differenzierung zwischen unbearbeiteten und abgeschlagenen Oberflächen für die Formgebung genutzt hat. Dieses Prinzip offenbart auf der Rückseite seine erstaunliche Finesse (Bild 18). Nach rechts hin gabelt sich die Zone der ursprünglichen Oberfläche des Steins auf, so dass der untere Arm die gesamte Unterseite des Faustkeils bedeckt, während die obere, nach rechts hin steigende Abzweigung in ihrer gesamten Länge durch die Flächen des abgeschlagenen Steines nicht weniger gekonnt gerahmt wird wie die Muschel der Vorderseite. Die poröse braune geschwungene Fläche ist wie mit einem hellen Halo umgeben. Dieses Prinzip wirkt besonders markant am rechten oberen Rand, wo der Arm in eine Parallele zur äußeren Konturlinie des Steins gebracht wurde. Dieses Verfahren beeindruckt umso mehr, als jenseits der hellen perlmuttartigen Kragenbildung die tieferliegende, dunkle Steinschicht einen zweiten Rahmen für die braune Astform bildet. Eindrücklich wird auf der linken Schmalseite sichtbar, wie gerade die Rückseite im Vergleich zur Vorderseite geschlagen worden ist (Bild 19). Durch diesen Unterschied wird nochmals evident, dass der bauchige Hügel der Vorderseite bewusst stehen gelassen wurde. Diese sich aus der Seitensicht erneut deutlicher abzeichnende Erhebung war geeignet, das Muschelfossil wie in einer Wanne einzumulden und zu schützen. Erst durch die Umkreisung dieser Skulptur wird das Prinzip der doppelten Rahmung, das auf der Rückseite das bestimmende Element war, auch auf der Vorderseite virulent (Bild 20). Der helle, perlmutthafte Kragen läuft auch hier um die braune Originaloberfläche, um in erster Instanz die Muschel zu rahmen. Erst dann folgt die tiefere Zone der dunkleren Tönung des Steins zu den Seiten hin. Im Vergleich zwischen Vorder- und Rückseite zeigt sich ein durchgehendes Gestaltungsprinzip, das nicht nur mit der Möglichkeit zur Höhenkragung und zur Einmuldung, sondern auch mit der unterschiedlichen Materialität und Farbigkeit des Steins rechnet. Aus dem Zusammenspiel ergeben sich Differenzierungen, die nicht nur dem System der ikonischen Differenz, sondern auch der farbigen Geometrie ein Denkmal setzen. In den inkludierten Fossilien und der räumlichen und farbigen Gestaltung wird eine Triebkraft der Form erkennbar, die das gegenwärtig intensiv diskutierte Rätsel erklärlich macht, warum die menschliche Evolution relativ unabhängig von den unmittelbaren Umwelt- und Klimabedingungen geschehen ist. In diesem Prozess ist jener Distanzraum erschaffen worden, der für die Ausbildung einer Sphäre der Reflexion die conditio sine qua non darstellt. Die distanzierte, dem Menschen entgegenkommende Form birgt in ihrem Überschusscharakter jenes Movens, das nichts mit Magie, sondern mit dem semantischen Angebot, der Affordance zu tun hat, die James Gibson der gesamten Umwelt
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Der Faustkeil und die ikonische Differenz
Bild 16 Faustkeil mit Fossil einer Muschel, West Tofts/Norfolk (England), Neuaufnahme 2013, Cambridge, Museum of Archaeology and Anthropology. Bild 17 Rechte Schmalseite des Faustkeils von West Tofts. Bild 18 Rückseite des Faustkeils von West Tofts. Bild 19 Linke Schmalseite des Faustkeils von West Tofts.
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attestiert.20 Es handelt sich um einen scharfen Schnitt gegenüber der neokantischen, subjektzentrierten Weltaufschließung der Egologik.21 Hier ist es aber nicht die gesamte Umwelt, die sich dem Menschen aus ihrer eigenen Unabhängigkeit heraus anbietet, sondern das Agieren des formgewordenen Differenzbewusstseins als entgegenkommende, sich anbietende und herausfordernde Größe. In diesem Sinn wäre die milliardenfach erprobte und entwickelte Herstellung des Faustkeils als einer symbolischen Form, von der ein gewisser Druck auf das Zusammenspiel handwerklicher und neuronaler Prozesse ausging, ein erster und elementarer Beleg für das Phänomen des Bildakts.22
Bild 20 Vorder- und Rückseite des Faustkeils von West Tofts.
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James Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, München 1982. Vgl. Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2014, S. 77f. Horst Bredekamp: Der Bildakt, Berlin 2015.
1V. He r de r s S c h A a f : Da s E n tg e g e n ko m m e n de Vernehmen
Johann Gottfried Herder
A bhandlung über den U rsprung der Sprache (1 7 7 2) 1
Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden. Denn was ist Reflexion? Was ist Sprache? Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen, und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache. Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist! Lasset uns nur beide Begriffe entwickeln! Reflexion und Sprache – Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammlen, auf Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften, lebhaft oder klar erkennen; sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis giebt deutlichen Begriff; es ist das Erste Urteil der Seele – und – Wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! lasset uns ihm das ευρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden.
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Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985, S. 695–810, S. 722–725.
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Johann Gottfried Herder
Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn: ihm wie keinem andern Tiere. Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe! nicht wie dem blutleckenden Löwen – die wittern und schmecken schon im Geiste! die Sinnlichkeit hat sie überwältigt! der Instinkt wirft sie darüber her! – Nicht wie dem brünstigen Schafmanne, der es nur als den Gegenstand seines Genusses fühlt, den also wieder die Sinnlichkeit überwältigt, und der Instinkt darüber herwirft; nicht wie jedem andern Tier, dem das Schaf gleichgültig ist, daß es also klar dunkel vorbeistreichen läßt, weil ihn sein Instinkt auf etwas anders wendet – Nicht so dem Menschen! so bald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet ihn kein Instinkt: so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal, – das Schaf blöcket! sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöcken, das ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blöckt, und nun erkennet sies wieder! „Ha! du bist das Blöckende!“ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet, und nennet. Dunkler? So wäre es ihr gar nicht wahrgenommen, weil keine Sinnlichkeit, kein Instinkt zum Schafe ihr den Mangel des Deutlichen durch ein lebhafteres Klare ersetzte. Deutlich unmittelbar, ohne Merkmal? So kann kein sinnliches Geschöpf außer sich empfinden: da es immer andre Gefühle unterdrücken, gleichsam vernichten, und immer den Unterschied von zween durch ein drittes erkennen muß. Mit einem Merkmal also? und was war das anders, als ein innerliches Merkwort? »Der Schall des Blöckens von einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des Schafs, wahrgenommen, ward, kraft dieser Bestimmung, Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte.« Er erkannte das Schaf am Blöcken: es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann – Was ist das anders als Wort? Und was ist die ganze menschliche Sprache, als eine Sammlung solcher Worte? Käme er also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen vorblöcken zu wollen, oder zu können; seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblöckt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblöckt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden! eben so natürlich und dem Menschen notwendig erfunden, als der Mensch ein Mensch war. Die meisten, die über den Ursprung der Sprache geschrieben, haben ihn nicht da, auf dem einzigen Punkt gesucht, wo er gefunden werden konnte; und vielen haben also so viel dunkle Zweifel vorgeschwebt: ob er irgendwo in der menschlichen Seele zu finden sei? – – Man hat ihn in der bessern Artikulation
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Abhandlung über den Ursprung der Sprache
der Sprachwerkzeuge gesucht; als ob je ein Ourang-Outang mit eben den Werkzeugen eine Sprache erfunden hätte? Man hat ihn in den Schällen der Leidenschaft gesucht; als ob nicht alle Tiere diese Schälle besäßen, und irgend ein Tier aus ihnen Sprache erfunden hätte? Man hat ein Principium angenommen, die Natur und also auch ihre Schälle nachzuahmen; als wenn sich bei einer solchen blinden Neigung, was gedenken ließe? Und als wenn der Affe mit eben dieser Neigung, die Amsel, die die Schälle so gut nachäffen kann, eine Sprache erfunden hätten? Die meisten endlich haben eine bloße Konvention, einen Einvertrag, angenommen, und dagegen hat Rousseau am stärksten geredet; denn was ists auch für ein dunkles, verwickeltes Wort ein natürlicher Einvertrag der Sprache? Diese so vielfache unerträgliche Falschheiten, die über den menschlichen Ursprung der Sprache gesagt worden: haben endlich die gegenseitige Meinung beinahe allgemein gemacht – ich hoffe nicht, daß sie es bleiben werde. Hier ist es keine Organisation des Mundes, die die Sprache machet: denn auch der zeitlebens Stumme war er Mensch: besann er sich; so lag Sprache in seiner Seele! Hier ists kein Geschrei der Empfindung: denn nicht eine atmende Maschine, sondern ein besinnendes Geschöpf erfand Sprache! Kein Principium der Nachahmung in der Seele; die etwannige Nachahmung der Natur ist bloß ein Mittel zu Einem und dem Einzigen Zweck, der hier erklärt werden soll. Am wenigsten ists Einverständnis; willkürliche Konvention der Gesellschaft; der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen; hätte er sie auch nie geredet. Sie war Einverständnis seiner Seele mit sich, und ein so notwendiges Einverständnis, als der Mensch Mensch war. Wenns andern unbegreiflich war, wie eine menschliche Seele hat Sprache erfinden können; so ists mir unbegreiflich, wie eine menschliche Seele, was sie ist, sein konnte, ohne eben dadurch, schon ohne Mund und Gesellschaft, sich Sprache erfinden zu müssen.
Tilman Borsche
H erders S cha (a)f * Wer kommt wem entgegen im Ursprung der Sprache?
Ich nehme den Titel das Entgegenkommende Denken beim Wort und lasse Herders Text, den ich nicht zum ersten Mal lese, auf mich zukommen. Mir begegnet ein alter Freund, der überraschend viel Neues zu berichten hat. Ich lasse mir die berühmte Passage noch einmal auf der Zunge des inneren Ohres zergehen, Wort für Wort.
1. E i nsa m keit des er sten Wor tes Wie schon früher, und so wird es vielen Lesern gehen, stolpere ich wieder über folgende Stelle, die Herders These auf charakteristische Weise zuspitzt: Der Schall des Blöckens von einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des Schafs, wahrgenommen, ward, kraft dieser Bestimmung, Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte.“ Er erkannte das Schaf am Blöcken; es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee [englisch/locke’sch: idea, d. h. bestimmte, hier: „gefaßte“ Vorstellung] deutlich besann – Was ist das anders als Wort? […] Käme er also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen vorblöcken zu wollen, oder zu können; seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblöckt1 *
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In der Erstausgabe der Herder’schen Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 hatte das Schaf zwei a: „Schaaf“. Die Klassiker-Ausgabe, die wir hier zitieren, Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764– 1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985, S. 695–810, modernisiert die Original-Orthographie. Es kam uns beim Ur-Schaf aber darauf an, es in seiner gleichsam blökenden Ursprungs-Form zu präsentieren. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772, in: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Geier, Frankfurt/M. 1985, S. 724.
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Wie bei Hobbes und Locke und letztlich Aristoteles ist die Mitteilungsfunktion der Sprache wichtig, aber sie ist sekundär. Erst bildet sich das innere Wort der Seele – und dieses, die deutliche Vorstellung, verdankt sich allein der Wahrnehmung – dann erst folgt dessen etwaige Mitteilung. Eine dritte Grundfunktion des Wortes beziehungsweise der Rede wird gar nicht erwähnt, kommt gar nicht vor: das Vernehmen der Äußerung des inneren Wortes eines anderen, das als äußeres Wort von außen an mein Ohr dringt und nicht etwa dort, sondern innen, im sensus communis, vernommen wird. Das vernommene Wort gibt es wohl auch, aber erst nachträglich, vermutlich als Kollateraleffekt. Mit dem logischen Sprachursprung hat es nichts zu tun. Wir aber sind mit diesem Hinweis beim Thema angelangt: dem vernehmenden Denken. Die Darstellung Herders ist hier offensichtlich nicht als rhetorische Übertreibung zu verstehen. Sie wird von zahlreichen anderen Stellen seines Textes bestätigt. „[D]er Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen; hätte er sie auch nie geredet.“2 Hier komme ich ins Staunen: Hatte sich Herder nicht gerade über seine historischen Gesprächspartner lustig gemacht, indem er ihnen vorhielt, dass „der Einsame im Walde“ oder in der Wüste oder wo auch immer nicht nur nicht geredet, sondern, noch vor allen Schwierigkeiten der Spracherfindung, gar nicht erst überlebt hätte? Das idyllische Bild vom Schaf zeigt die Sprache als vom einsamen Menschen erfunden, auf natürlichem Wege, aus seiner natürlichen Kraft, conatus (Leibniz), oder sehr schön auf Deutsch: aus einer „Drängnis“. Herders Denkstil ist die Kritik – wie der Kants und doch ganz anders als bei Kant. Denn im Gegensatz zum kritischen Geschäft Kants ist Herders Kritik immer personenbezogen. Das beginnt mit seinen frühesten Literaturkritiken in der Ersten Sammlung von Fragmenten (1767) und hört noch nicht auf bei der eben deshalb so unfruchtbaren und kaum lesbaren Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799). Durch diesen kritischen Blickpunkt lässt er sich verleiten, dem Kritisierten von Anfang an zu viel zuzugestehen. Er ist mit einer vorliegenden These (einer Antwort, einer Lösung) – im Fall der Sprachursprungsschrift sind es zwei entgegengesetzte Thesen – unzufrieden. Aber das Problem, die Frage lässt er sich vorgeben. Sein kritisches Ziel besteht – auch hier – darin, eine gegebene Frage neu und anders zu beantworten. Für eine von der Königlichen Akademie gestellte Preisfrage ist das gewiss ein sehr passendes, ein angepasstes, ein vernünftiges Verfahren. Das Resultat ist bekanntlich revolutionär. Und doch hätte er, denke ich, mit seinen eigenen Mitteln – durch Denken verstanden als Kritik anderen Denkens – weiter kommen können, wenn er das
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Schema der Erkenntnisstufen von Aristoteles nicht nur kritisch modifiziert, sondern verlassen hätte. Ich befrage den Text also weiter: Was führt den Menschen über die Stufe des animalischen Denkens, der animalischen Erfahrung, die beide nie bestritten wurden, hinaus zu dem, was man dann, Herder schließt sich hier dem philosophischen Sprachgebrauch an, „Erkenntnis“ zu nennen pflegt? „[Der Mensch] so bald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen“.3 Alle Tiere, einsame wie in Gesellschaft lebende, haben als solche lebendige Kräfte, Bedürfnisse, Drängnisse, die ihnen angeboren sind. Beim Menschen, dem viele Bedürfnisse fehlen beziehungsweise bei dem sie weniger stark ausgeprägt sind, soll es zusätzlich auch das Bedürfnis nach Sprache (zur Sprach erfindung) sein; Herder expliziert das an dieser Stelle, nach dem Vorherigen gut motiviert, mit dem Bedürfnis des „Kennenlernens“. Dazu soll keine neue, den übrigen Lebewesen fremde, okkulte Kraft, kein eigener „übernatürlicher“ Sinn erforderlich sein (kein „Wissenssinn“), sondern nur ein passendes Verhältnis der anderen Sinne, die er mit den Tieren teilt, aber in gemäßigter Intensität und in einem eigenen Verhältnis zueinander gestimmt. Sein Auge sieht, sein Ohr hört, seine Nase riecht und so weiter, ganz so wie bei anderen Sinnenwesen auch. Aber keiner dieser animalischen Sinne „lernt kennen“, d.h. „deutlich“ unterscheiden. Das Bild des wilden und einsamen Menschen, bei dem dieses spezifisch menschliche „Drängnis“ sich offenbaren muss, übernimmt Herder aus der ihm vorgegebenen Tradition. Er übergeht dabei, dass, beziehungsweise stellt sich gar nicht die Frage, ob der Einsame das Bedürfnis hat, überhaupt haben kann, „etwas“ (das „Schaf“) kennenzulernen. Woher sollte er das Kennenlernen kennen? Keiner der Sinne kann es ihm zeigen. Vielmehr müsste man davon ausgehen, dass er das Kennenlernen nicht kennt, ganz so wie es Herder auch von den Tieren schildert, die mit Hilfe ihrer Sinne „Erfahrungen“ machen und aus Erfahrungen „lernen“, aber nichts „deutlich“ (d.h. in der terminologischen Tradition von Leibniz, die hier leitend ist, in Worten beziehungsweise Begriffen) unterscheiden, mithin nichts „kennen“ und nichts „anerkennen“ – nicht etwas als Schaf und nicht etwas als Wolf und nicht als dies und nicht als das; sie bilden kein inneres Wort. Warum aber bilden sie kein „inneres Wort“, wenn der Mensch das doch tut? „Merkmale“, genauer das, was wir als sprechende Wesen in der Reflexion auf unser Denken und Sprechen als Merkmale unterscheiden – Merkmale für dies und für das – erfassen die tierischen Sinne oft mit weit größerer Präzision, als die menschlichen Sinne das vermöchten. Das innere Wort, von Herder im Anblick des Schafs als die Urszene, der Ursprungsort des Sprechens identifiziert, muss eine andere Quelle haben. Kurz, hier ist, in der Logik des Bildes, ein entscheidender Schritt übersprungen. Nicht nur geschieht die Erfindung der
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Sprache – man kann die „Erfindung“ hier auch streichen, unsere Rede vom „Erfinden“ führt auf einen Abweg – nicht nur geschehen deutlich unterscheidendes Denken und Sprechen niemals in ursprünglicher „Einsamkeit“. Vielmehr bedarf auch die Kraft des Denkens eines spezifischen Gegenstands, eines spezifischen Widerstands, um sich zu zeigen, zu äußern, wirklich zu sein. Wahrnehmung ist daher wesentlich und unverzichtbar – ohne Sinne gibt es kein menschliches Denken. Aber sie genügt nicht für eine Bestimmung des menschlichen Denkens und Sprechens, sie ist nicht dessen alleinige Voraussetzung. Sonst würden Tiere mit besseren Augen schon länger und vermutlich viel besser sprechen als wir; das tun sie aber nicht. Wie das Auge nicht „wirklich“ sehen lernt, wenn ihm nicht sichtbare Gegenstände im Medium des Lichts entgegentreten (oder wenn es von Anfang an in absolute Dunkelheit versetzt würde), so lernt auch der Mensch nicht denken und sprechen, wenn nicht – ja, was fehlt hier? Was ist hier das Analogon zu den Unterschieden der Farben und Formen der Dinge, die wir sehen, und dem Medium des Lichts, durch das wir sehen, für das Auge? Die Einsamkeit als solche ist nicht das Problem. Auch zehn Sinnenwesen mit gesunden Augen in absolute Finsternis versetzt, werden nicht sehen lernen, obwohl sie die natürliche Fähigkeit und das natürliche Bedürfnis, Drängnis danach haben (doch was heißt in diesem Fall „haben“?). Mit der Sprachfähigkeit verhält es sich nicht anders als mit der Sehfähigkeit. Auch sie bedarf eines spezifischen Gegenstands, Widerstands, um sich zu zeigen, zu äußern, wirklich zu sein, und sie bedarf eines spezifischen Mediums. Doch welches sind ihre spezifischen Gegenstände? Dinge in der Welt? Deren Farben und Formen zeigen sich dem Auge, auch dem tierischen. Ihre Töne? Die tönen dem Ohr, auch dem tierischen. Ihre taktilen Eigenschaften, ihre Gerüche oder Geschmäcker? Die gelangen – als solche, wie wir denkenden und sprechenden Wesen sagen – durch die sinnlichen Pforten des lebendigen Köpers in das Innere der tierischen wie der menschlichen Seele. Aber nur als „Empfindungen“; und auch diese Darstellung, schon die Bezeichnung von Empfindungen als Empfindungen (im Unterschied z.B. zu Wahrnehmungen und Gedanken) ist eine Darstellung von außen, Fremddarstellung aus der DrittePerson-Perspektive. Die tierische Seele, zumindest nach Herder, bildet kein inneres Wort, keinen deutlichen Gedanken, oder, wie wir eher sagen würden, keine allgemeinen Begriffe.
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2. „Gesc höpf der Herde“ – d a s z weite Nat u rgese t z des Mensc hen Man kann nicht alles auf einmal sagen. Interpreten sind sich weitgehend einig, dass Herder in der hier diskutierten Passage nicht eine „wahre“ Geschichte vom „wirklichen“ Ursprung der Sprache erzählen will, so wenig wie das Hobbes oder Rousseau getan haben, sondern eher eine Funktionsanalyse der menschlichen Sprache gibt, die er in eine ansprechende fiktive Erzählung ihres Ursprungs kleidet. Letzteres ist ihm mit Epochen überdauernder Wirkung gelungen. Doch die Macht der Erzählung, die Macht der Bilder, die durch die Erzählung im Geist der Hörer und Leser evoziert werden, reißt auch den Autor mit sich fort. Genau damit aber verfällt er, so scheint es mir, demselben Fehler, den er an seinen Vorgängern kritisiert: Seine Begegnung mit dem Schaf setzt die Sprache als bereits erfunden und im internen Gebrauch befindlich voraus, die Sprache als ein Gespräch der Seele mit sich selbst; oder in seinen Worten: als ein Bedürfnis etwas als etwas kennenzulernen. Nur wenn dieses Bedürfnis vorausgesetzt ist, kann der Mensch das Gefundene mit einem heureka begrüßen. Man vergegenwärtige sich: Derjenige, der diesen Ausruf traditionsbildend prägte, Archimedes, war, als er ihn, seiner Badewanne entsteigend, begeistert ausrief, sprachlich voll ausgebildet. Er hatte ein neues, ein inneres Wort (einen bestimmten Gedanken) von einer ihm längst vertrauten Art für einen Sachverhalt gefunden, der ihm im Kontext seiner hoch differenzierten Weltansicht plötzlich neu aufgegangen war. Diesen Fund teilte er den Syrakuser Mitbürgern durch das griechische heureka mit. Für Ursprungsszenen dieser Art passt die Herder’sche Erzählung – einigermaßen. Denn heureka beschreibt nur einen Fund überhaupt und sagt nichts über das Gefundene, wie es das innere Wort ‚Schaf’ ja tun soll. Das innere Wort ‚Schaf’ merkt sich und erinnert das Weiß-Sanft-Wollichte, das blöckt. Das Gewinnende an dieser Erzählung und zugleich das Verführerische ist Folgendes: Sie passt besser, fügt sich besser als alle vorangegangenen – als die Erzählungen der kritisierten Herren Hobbes, Condillac, Rousseau, um nur diese zu nennen – in die Erfahrungswelt der Leserschaft, die selbst ein sprachlich voll entwickeltes, zudem literarisch und wissenschaftlich gebildetes, sprich: aufgeklärtes Publikum repräsentiert. Die Erzählung Herders übertrumpft die herrschenden Diskurse, doch dabei blendet sie anderes aus. Um in der Nähe seines Bildes zu bleiben: Wenn er, Herder, in Estland auf die Pirsch gegangen wäre und hätte endlich das Einhorn entdeckt, das er suchte, und sein Schnalzen vernommen, dann wäre ein „heureka“ fällig gewesen, und dafür hätte die Erzählung vollständig gepasst. Nicht so für das erste Wort des ersten Menschen, dem – zum wievielten Male? – ein Schaf entgegenkam. Und zwar nicht nur weil dieser erste Mensch faktisch nicht allein unterwegs war, sondern weil es wesentlich zur Funktion, Herder
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zufolge: zur Kraft des Sprechens und Denkens gehört, dass es nicht allein sei (ich komme darauf zurück). Vielmehr ist festzuhalten: Das stille Sprechen der Seele mit sich selbst braucht, vielleicht nicht „vor“, aber doch unabhängig von allen Mitteilungsabsichten, spezifische Gegenstände, und das sind nicht die Gegenstände der bekannten fünf Sinne. Dass auch Sinne sowie die entsprechenden Gegenstände und Medien notwendige Voraussetzungen für Denken und Sprechen sind (wie für das Gesicht sowohl das Auge als auch Licht sowie Farben und Formen sichtbarer Gegenstände), dass also dem Menschen kein reines Denken unabhängig von aller sinnlichen Empfindung und Wahrnehmung möglich sei, das hatte Herder gerade im I. Teil des vorliegenden Textes lang und breit entwickelt. Als Sinnenwesen sind wir allen Tieren ähnlich. Doch das ist jetzt nicht mehr das Thema. Lange dachte ich, diese Einseitigkeit und diese Unvollständigkeit der Erzählung des Sprachursprungs sei allein der Not der Darstellung, nicht alles auf einmal sagen zu können, sowie den Gegnern, an denen sich der Autor abarbeitet, geschuldet. Das fehlende Moment werde im II. Teil nachgereicht. Rückblickend stellt Herder dort nämlich zusammenfassend fest, dass es im I. Teil um den „philosophischen Beweis“ ging, „daß der Mensch sich seine Sprache hat erfinden müssen“, während es im II. Teil um die Frage geht, „unter welchen Umständen er sie sich am füglichsten habe erfinden können“.4 Gesucht ist hier eine empirische Plausibilisierung, eine Erhärtung für die im I. Teil präsentierte metaphysische Hypothese durch historische Belege. Im ersten Hauptgesetz der Natur des Menschen (Teil II, 1) geht es zunächst um die inhärente Progression der Sprache. Die vollkommen entwickelte Sprache steht nicht am Anfang der Menschheit; wer wollte dieser These widersprechen, die sich kritisch gegen die Idee einer adamitischen Ursprache beziehungsweise den Mythos des weisen Sprachgesetzgebers (Kratylos) wendet? Die Anfänge der Sprache sind vielmehr sinnlich und dunkel, emotional und intensiv. Sprache entwickelt sich aus diesen Anfängen weiter, und die verschiedenen Sprachen ebenso. Hier malt Herder Evolution in sein Historienbild der Menschheit, eine Evolution, die keineswegs linear verläuft, sondern eher umweltadaptive und kompetitive Züge trägt. Darin unterscheidet sich die Naturgeschichte der Sprache kaum von der (übrigen) Naturgeschichte, die Herder ebenfalls de facto evolutionär beschreibt, auch wenn er das Wort, die Idee, zumindest was den Menschen betrifft, zu verwenden sich nicht gestattet. Diese treffenden und zukunftweisenden Reflexionen zur Sprach(en)geschichte setzen selbstverständlich immer schon anfängliche Sprache(n) voraus, deren natürliche Veränderungen hier als Prozesse der Kultivierung und Vervollkommnung, eben als Progressus skizziert
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werden. Das passt in das Selbstbild des Jahrhunderts und knüpft zudem an Lessing an. So wirkt es überzeugend, aber nicht überraschend. So viel zum ersten Naturgesetz. Das zweite Naturgesetz könnte und sollte der Ort sein, an dem die Einseitigkeit der metaphysischen Erörterung der Sprache im Bild des einsamen Sprachursprungs – in der Begegnung Mensch und Schaf – aufgehoben werden müsste: „2. Naturgesetz: Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Herde, der Gesellschaft“. Daraus schließt Herder unmittelbar: „[D]ie Fortbildung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, notwendig.“5 Ist das schlüssig? Ist das alles? Welche Funktion hat in diesem Zusammenhang die Herde? Es geht um gegenseitige Hilfe, um Lehren und Lernen (mit und durch Sprache). In Abwandlung des Eingangssatzes der Sprachursprungsschrift ließe sich hier einwenden: Anders als die Tiere braucht der Mensch Erziehung, um Mensch zu werden. Doch das trifft nur graduell zu. Auch Tiere haben mehr oder weniger lange überlebenswichtige Zeiten der Aufzucht, wie es heißt. Aber zur Aufzucht der Jungen gehört nicht die Spracherziehung. Indirekt gibt Herder das zu. Er leitet aus der Spracherziehung das Eigentumsrecht des Menschen auf die von ihm benannten Dinge dieser Welt ab: [I]ch habe mehr Recht [auf die Dinge (die Kräuter und die Wiesen), die ich benannt habe] als die Biene, die darauf summet, und das Vieh, das darauf weidet; denn die haben alle die Mühe des Kennenlernens und Kennenlehrens nicht gehabt! Jeder Gedanke also, den ich darauf gezeichnet, ist ein Siegel meines Eigentums, und wer mich davon vertreibet, der nimmt mir nicht bloß mein Leben, wenn ich diesen Unterhalt nicht wieder finde; sondern würklich auch den Wert meiner verlebten Jahre, meinen Schweiß, meine Mühe, meine Gedanken, meine Sprache – ich habe sie mir erworben! und sollte für den Erstling der Menschheit eine solche Signatur der Seele auf eine Sache, durch Kennenlernen, durch Merkmal, durch Sprache, nicht mehr Recht des Eigentums sein, als ein Stempel in der Münze? „Wie viel Ordnung und Ausbildung bekommt die Sprache also schon eben damit, daß sie väterliche Lehre wird!“ wer lernt nicht, indem er lehret? Wer versichert sich nicht seiner Ideen, wer mustert nicht seine Worte, indem er sie andern mitteilt, und sie so oft von den Lippen des Unmündigen stammlen höret? Hier gewinnt also schon die Sprache eine Form der Kunst, der Methode! hier würde die erste Grammatik, die ein Abdruck
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der menschlichen Seele, und ihrer natürlichen Logik war, schon durch eine scharfprüfende Zensur berichtigt.6 Ich fasse zusammen und spitze zu: Für die erste Erfindung hält Herder an dem einsamen Wilden fest. Erst wenn dieser seine Berufsausbildung als Sprachschöpfer abgeschlossen und die ersten Produkte seiner Kunst erstellt hat, gründet er eine Familie und lehrt nun Weib und Kind in der Kunst der Rede. Braver Bürger. „Familiensprache“. Und er erhebt einen Besitzanspruch nicht nur auf diejenigen Dinge, die er sich unmittelbar einverleiben will, auf Vorräte, die er gesammelt hat, sondern auch auf diejenigen, die er benannt hat, und zwar aus eben diesem Grund. Die erste Benennung begründet einen Rechtsanspruch auf den Besitz der Sache.
3. Fremde Ver nu n f t Die ganze folgende Darstellung zeigt: Der Sprachursprung der Sprachursprungsschrift bleibt einsam und damit wirklichkeitsfremd. Das hat sein erster Leser bereits gesehen und moniert: Johann Georg Hamann.7 Herder ist groß genug, diesen Mangel zuzugeben. In der zweiten Preisschrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1774, Erstdruck 1778) ergänzt er den Sprachursprung, der für ihn ja schon immer mit dem Ursprung der Vernunft im Menschen gleichbedeutend war, um eine entscheidende Pointe. Es war nicht das Schaf, das dem Menschen entgegen kam, um ihn zur eigenständigen Spracherfindung zu stimulieren. Es war der Andere: die „Lehre“, ein „Wink“, der „Sinn eines Fremden“, die die Sprachfähigkeit in ihm zum Leben erweckten. Unser Erkenntnis ist also, obs gleich freilich das tiefste Selbst in uns ist, nicht so eigenmächtig, willkürlich und los, als man glaubet. Das Alles abgerechnet (was bisher gezeigt ist), daß unser Erkennen nur aus Empfindung werde, siehet man, der Gegenstand muß noch durch geheime Bande, durch einen Wink zu uns kommen, der uns erkennen lehre. Diese Lehre, dieser Sinn eines Fremden, der sich in uns einprägt, gibt unserm Denken seine ganze Gestalt und Richtung. Ohngeachtet alles Sehens und Hörens und Zuströmens von außen, würden wir in tiefer Nacht und Blindheit tappen, wenn nicht frühe die Unterweisung für uns gedacht und gleichsam fertige Gedankenformeln uns eingeprägt hätte. Da hob sich unsre Kraft empor, lernte sich selbst fühlen und brauchen; lange, und 6 7
Ebd., S. 788f. Vgl. Herders Brief an Hamann vom 1.8.1772, in: Johann Georg Hamann: Briefwechsel, Bd. 3, hg. v. Walther Ziesemer/Arthur Henkel, Wiesbaden 1957, S. 10f.
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oft Lebenslang gehen wir an den uns gereichten Stäben frühester Kindheit, denken selbst, aber nur in Formen, wie andre dachten, erkennen, worauf uns der Finger solcher Methoden winkt; das andre ist für uns, als ob es gar nicht wäre.8 Der so beschriebene Sprachursprung ist realistischer, er ist viel weniger spektakulär, und er hinterlässt wieder ein Geheimnis, den „Wunderstab“, von dem schon einmal in der Ursprungsschrift die Rede war, als Herder seinen Lesern klar machen wollte, dass die Erfindung der Sprache keine absichtliche Tat der philosophischen Abstraktion gewesen sein konnte: „und denn läßt sich gewiß nicht mit einem Stabe das Wunder [der Spracherfindung] tun, gewiß nicht mit der einzigen kalten Abstraktionsgabe der Philosophen je Sprache erfinden – war das aber unsre Frage?“9 Herdes Untersuchungen, die alte wie die neue, fragen nicht, warum und weshalb, woher und durch wen Sprache entstand beziehungsweise instituiert wurde, sondern wie die Sinne und die Triebe des Tieres „Mensch“ sich so mäßigen und zusammenwirken konnten, dass Besinnung möglich wurde, indem ihr maßvolles Zusammenspiel eine neue Qualität gewann, die Herder mit einem genialen, weil völlig unauffälligen Neologismus „Besonnenheit“ nannte. Mit diesem Namen bezeichnete er das, was gewöhnlich „Vernunft“ genannt wurde und auch wird; mit einem Wort also, das viel richtiger gebildet ist, nämlich aus „vernehmen“, als es sein Gebrauch in der Philosophie noch erkennen lässt, der daraus ein eigenständiges, von den Sinnen vollständig getrenntes, unkörperliches Erkenntnisorgan machen wollte. Am Anfang also steht das innerlich vernommene Wort. Oder: das innere Wort ist eine vernommenes. Dieses Wie des Zusammenspiels animalischer Kräfte, Organe und Bedürfnisse des Menschen, die zur phylogenetischen Entwicklung von Sprache führten, ist auch das Thema vieler der (hoch spekulativen) empirischen Sprachursprungstheorien der Gegenwart. Johann Georg Hamanns Antwort auf diese verschärfte Frage nach dem Ursprung von Sprache und Vernunft war eine theologische: Die Kondeszendenz Gottes zu jedem einzelnen Menschen. Dieser Rekurs auf die Theologie, den Hamann vorschlug, weil ihm die bekannten Alternativen, die aufgeklärte Philosophie und Wissenschaft zu bieten hatten, inklusive des Herder‘schen Vorschlags, das Schaf zum ersten Lehrer zu erheben, unzureichend zu sein schienen – sie alle übergehen das Problem, das sie lösen sollten – dieser Rekurs, den der
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Johann Gottfried Herder: Werke, Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum, hg. v. Jürgen Brummack/Martin Bollacher, Frankfurt/M. 1994, S. 358f. Herder: Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 782.
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Theologe Herder dann faute de mieux ebenfalls akzeptierte, ist heute kaum noch gangbar. Die neue Lage zeichnet einen anderen Weg vor. Heute werden sich Lehrer und Schüler, Gott und Mensch oder, mit Giambattista Vico zu sprechen, der Kultur schaffende Heros und seine Anhänger weniger klar unterscheiden lassen als nach dem Bild von der großen Kette des Seins, des Denkens und der Tradition nach Hamann und Herder, einer Kette, die immer ein erstes Glied verlangt. Was können wir stattdessen sagen? Das erste Wort geht aus gemeinschaftlichen Praktiken hervor, die noch keine Sprache sind. Diese Redeweise hat sich Kredit verschafft, sie hat sich eingebürgert. Ihre Botschaft ist ebenso klar und leicht zu vermitteln, wie es unklar und schwer zu bestimmen ist, wann das Produkt, das aus solcher vorsprachlichen Praxis hervorgeht, ein Wort (parole) genannt zu werden verdient. Dieser Ursprung findet immer und überall statt, wo gesprochen wird, wie Humboldt in nobler Kritik an Herder feststellt. (Humboldt schweigt, wenn er kritisiert.) Doch genau das lässt sich bei näherem Hinsehen auch schon der Herder’schen Analyse entnehmen: Süssmilch, Condillac und Rousseau, die ihrerseits kritisch auf lange und komplexe Traditionen antworteten, reichten Herder, der ihnen entgegen trat, den Stab der Lehre; Herder griff ihre Lehren auf, aber er griff sie auf als Fehdehandschuh. Er erfand den Sprachursprung neu, und zwar durch neue metaphysische Hypothesen und philosophische Beweise, ausgestattet zudem mit einem neuen Erfahrungsschatz an Wissen über Sprachen. Hamann, dem die Sprachursprungsschrift Herders entgegenkam, zeigte dem Freund mit dem Stab der Kritik die Schwächen seiner Hypothesen auf, die sich in ihrer Fragestellung (zu) eng an den zu Recht kritisierten Positionen orientierten und damit deren Mängeln selbst verfielen. Aber gerade diese punktgenau zeitgemäße Kritik der zeitgenössischen Autoritäten hatte für Herder den großen Erfolg der ersten Preisschrift gebracht. Die weisere, durch Hamann inspirierte spätere Fassung, niedergelegt in der zweiten Preisschrift, blieb nicht nur ohne Preis, sie blieb weitgehend ohne Resonanz.
Jürgen Trabant
H E R D E R S S C H A A F I M VO R BE I G E H E N U N D E N T G E G E N KO M M E N
Nichts kommt dem Denken so vergnüglich und so bedenkenswert entgegen wie Herders Schaaf1 in der voranstehenden Passage aus der Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Es ist geradezu, als sei Herders Sprachursprungs-Szenario eine Urszene jenes Denkens des Entgegenkommenden, das hier gedacht werden soll.
1. E ntgegen kom men u nd St i l lestehen Die Welt, das Lamm, erscheint zunächst wie eine Art Film, vorübergehend. Das agnus mundi geht vorbei: „Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn.“ Dann steht die Welt still: „es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht.“ Aber dann tönt die Welt: „Das Schaf blöcket!“ Und: „Dies Blöcken, das ihr [der Seele] am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr.“ Etwas in der Welt reißt sich los, springt hervor, kommt entgegen. Dies wiederholt sich: „Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blöckt, und nun erkennet sies wieder! ‚Ha! du bist das Blöckende!‘ fühlt sie innerlich.“2 Der Mensch gegenüber steht still. Wieso denke ich, dass der Mensch stillsteht, wieso ist er nicht in Bewegung, out for a walk and walking? Der Mensch ist von der Natur ausgestattet mit Besonnenheit: „[D]iese ganze Disposition seiner 1
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In der Erstausgabe der Herder’schen Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 hatte das Schaf zwei a: „Schaaf“. Die Klassiker-Ausgabe, die wir hier zitieren, Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1985, S. 695–810, modernisiert die Original-Orthographie. Es kam uns beim Ur-Schaf aber darauf an, es in seiner gleichsam blökenden Ursprungs-Form zu präsentieren. Ebd., S. 723.
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Natur wollen wir [...] Besonnenheit nennen.“3 Das ist die Fähigkeit, die den Menschen auszeichnet vor allen anderen Wesen der Natur. Es ist die Fähigkeit, den „Ozean von Empfindungen“4 anzuhalten, die von der Welt auf den Menschen eindringen, oder eben zu denken. Die Welt kommt dem Empfindenden, der Sinnlichkeit des Menschen, ozeanisch entgegen. Besonnenheit ist eine StillStell-Fähigkeit. Zum Denken muss man stillestehen, man muss anhalten, sich selbst und das zu Denkende. Besonnenheit ist des Weiteren ein „Bedürfnis kennen zu lernen“,5 also ein ganz bestimmter Appetit, den nur der Mensch hat, ein appetitus noscendi, wie Augustinus das genannt hat. Herder grenzt ihn deutlich ab von den anderen Appetiten: von dem alimentarischen wie von dem sexuellen: „Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe! nicht wie dem blutleckenden Löwen – die wittern und schmecken schon im Geiste! die Sinnlichkeit hat sie überwältigt! der Instinkt wirft sie darüber her! – Nicht wie dem brünstigen Schafmanne, der es nur als den Gegenstand seines Genusses fühlt, den also wieder die Sinnlichkeit überwältigt, und der Instinkt darüber herwirft.“6 Nahrungsaufnahme und sexuelle Vereinigung sind die grundlegenden Dimensionen des Verhaltens des Tiers zur Welt – auch des Menschen, sofern er ein Tier ist: Inkorporation der Welt zur Erhaltung des Lebens des Einzelnen einerseits, Penetration der Welt zur Erhaltung der Art andererseits (wobei Herders „Darüber-Her-Werfen“ eine völlig männliche Perspektive einnimmt). Besonnenheit dagegen, appetitus noscendi, ist als dritter Appetit nur dem Menschen eigen und die irreduzible anthropologische Differenz zum Tier: „Nicht so dem Menschen! so bald er in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet ihn kein Instinkt: so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder davon ab.“7 Der kognitive Appetit ist nicht zugreifend wie die beiden anderen, sondern entgegenwartend. Er ist aber auch nicht völlige Passivität oder Rezeptivität, er ist ja ein Bedürfnis, also ein Bezogen-Sein auf etwas, eine Art Begehren. Das versuche ich mit dem Ausdruck „Entgegenwarten“ anzudeuten. Das Denken selbst kommt also dem Entgegenkommenden durchaus entgegen. Es ist aber deutlich zurückhaltender als der alimentäre und der sexuelle Appetit. Der kognitive Appetit wird durch das Denken in Sprache befriedigt.
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Ebd., S. 719. Ebd., S. 722. Ebd., S. 723. Ebd. Ebd.
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HERDERS SCHAAF IM VORBEIGEHEN UND ENTGEGENKOMMEN
2. Beson nen heit Herder benutzt den Ausdruck „Besonnenheit“ statt des in der europäischen Philosophie üblichen Ausdrucks „Reflexion“ (den er aber durchaus ebenfalls weiter verwendet). Ich denke, es sind zwei Gründe, die Herder zu dieser Wahl veranlasst haben: Erstens möchte er ein ethisches Moment in die theoretische Dimension übertragen: „Besonnenheit“, die griechische sophrosyne, ist ja ein Ausdruck der praktischen Philosophie, der die Bedächtigkeit, das maßvolle Verhalten meint. Er eignet sich daher gut zur Bezeichnung dieses Anhaltens, des Stillstellens, und er deutet ein personales Verhältnis zur Welt an: Die Welt ist nicht nur Gegenstand, Objekt, sondern sie ist wie ein anderes Lebewesen, ein mir entgegenkommendes Lebendiges. Zweitens möchte Herder mit „Besonnenheit“ die Visualität des Ausdrucks „Reflexion“ umgehen oder zumindest mildern. „Reflexion“ ist eine visuelle Metapher. Der visuelle semantische Marker passt aber nicht recht zu der Art, wie Herder das Denken denkt. „Besonnenheit“ hat keinen Bezug zu einem bestimmten Sinn. Sofern Herder die theoretische Dimension der Philosophie sogar entschieden ins Akroamatische, ins Hören, einstellt, ist Besonnenheit ein besseres Wort als Reflexion. Das Visuelle, die „Reflexion“, wird damit nicht getilgt, es ist allerdings nur ein Moment einer multisensoriellen Erfahrung aus Tasten, Sehen und Hören: „Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blöckt, und nun erkennet sies wieder! ‚Ha! du bist das Blöckende!‘ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet, und nennet.“8 Die Seele sieht, die Seele tastet. Aber sie findet sehend und tastend noch nicht, was sie sucht. Was sie sucht, bringt ihr erst der Laut entgegen. Nicht das Sehen, nicht das Tasten, sondern das Hören ist die sensorielle Basis der den Menschen definierenden geistigen Aktivität, der Sprache. Herder begründet ausführlich, warum das Hören der Sinn der Sprache, und also des Denkens, ist. Es gibt eine kleine Phänomenologie der Sinne in der Abhandlung.9 Herder zufolge kommt die hörbare Welt dem Menschen so entgegen, wie es seiner besonnenen Natur am meisten entspricht: Sie kommt nicht zu nah, wie das Tastbare, sie ist nicht zu fern, wie das Sichtbare. Mensch und Welt korrespondieren im Klang am besten. Das Gehör ist in der Systematik der Sinne der mittlere Sinn. Zwei Momente sind also an Herders Sprachursprungsszene zentral beziehungsweise neu gegenüber seinen Vorgängern: erstens, dass Sprache Kognition ist und zweitens, dass Kognition vorrangig akroamatisch und nicht optisch generiert wird. 8 9
Ebd. Vgl. ebd., S. 746–750.
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3. Kog n it ion Die Philosophie der Aufklärung hat seit Bacon darüber geklagt, dass sich die Wörter als schlechte, unwissenschaftliche Gedanken in das Denken einmischen: „verba vim suam super intellectum retorquent et reflectunt.“10 Sie hat also zwar die Sprache als Erzeugerin von Denken entdeckt, kritisiert aber gleichzeitig die Wörter als idola fori, „Götzen des Marktplatzes“. Das heißt, das Denken in der Sprache ist schlecht, unwissenschaftlich, volkstümlich und stört das wissenschaftliche Denken. Die Philosophie denkt daher über das Entstehen der Sprache und der schlechten Wörter nach und sucht nach Auswegen. Das Denken in Sprache ist nach Locke eine Krankheit, die Arzneien, remedies, braucht, die von den philosophischen doctores verabreicht werden.11 Condillac rekonstruiert zu diesem Zweck die Ätiologie dieses kognitiven Leidens, die Sprachentstehung. Aber er erzählt sie als kommunikatives Geschehen – und verpasst damit das kognitive Wesen der Sprache.12 Herder kritisiert das messerscharf: Aus dem „Geschrei der Empfindungen“, dem cri des passions des Anfangs, entstehe niemals menschliche Sprache. Aus dem Expressiv-Appellativen und Kommunikativen kann das Welterschließend-Kognitive der Sprache nicht hervorgehen. Sprache ist für Herder nämlich primär „Bildung des Gedanken“, wie Humboldt im Anschluss an Herder sagen wird und wie es im Übrigen auch die moderne kognitive Linguistik sagt, sei sie nun Chomsky’scher oder Lakoff’scher Prägung. Das spezifisch Menschliche der Sprache ist Kognition, nicht Kommunikation. Denken und Sprechen fallen zusammen. Das erste Wort ist bei Herder der erste deutliche Gedanke: „‚Ha! du bist das Blöckende!‘ fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet, und nennet.“ Herder radikalisiert konsequent die moderne gesamteuropäische Intui tion, die seit der Renaissance immer mehr zur Gewissheit wird: Sprache ist Denken, genauer: klares und deutliches Denken: cognitio clara distincta.
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Francis Bacon: Neues Organon [1620], hg. v. Wolfgang Krohn, Darmstadt 1990, Aphorismus 59. Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding [1690], hg. v. John W. Yolton, Bd. 2, London/New York 1971–74, S. 106ff.; Buch III, Kap. XI: Of the Remedies of the Foregoing Imperfections and Abuses. Vgl. Etienne Bonnot de Condillac: Essai sur l’origine des connaissances humaines [1746], hg. v. Charles Porset, Auvers-sur-Oise 1973.
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4. Hören Mit dem zweiten Moment, dem akroamatischen Charakter dieses kognitiven Vorgangs, setzt sich Herder von der gesamten europäischen Tradition ab. In der so intensiv geführten Debatte des 18. Jahrhunderts um die kognitive Rolle der Sinne – Locke, Condillac, Mendelssohn, Lessing – spielt der junge Herder eine herausragende Rolle. Von den Kritischen Wäldchen über die Plastik zu Vom Erkennen und Empfinden denkt er über die Rolle der Sinne in der Erkenntnistheorie nach. Bedeutsam ist bekanntlich Herders Neubewertung des Haptischen. Vom Erkennen und Empfinden ist Herders philosophisches Programm, ein Programm für die Gemeinsamkeit der Sinne, für einen sensus communis. In der Leibnähe des Denkens liegt im Übrigen auch die Nähe der empiristischen oder sensualistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts zu dem, was man gemeinhin Philosophie des Embodiment nennt, die gleichsam eine modernisierte Versionen des Sensualismus ist. Wenn Herder nun in der Abhandlung dem Gehör eine so zentrale Rolle in der kognitiven Entfaltung des menschlichen Denkens in Sprache gibt, so ist dies dennoch keine hierarchische Präferenz, kein Sieg des Ohres über das Auge und die Hand: Zentralität des Hörens meint nicht Superiorität. Im sensus communis wirken nämlich alle Sinne gleichberechtigt zusammen. Wie stark die Gemein samkeit der Sinne bei Herder ist, zeigt schon der (leicht ungrammatische) Eingangssatz der Ursprungsszene: „Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn.“ Die Welt präsentiert sich dem Menschen offensichtlich zunächst als Bild. Das Betonen des Hörens ist dann aber eine subtile Korrektur der alt-europäischen Metaphysik, die exklusiv auf dem Auge und der Hand basiert. Herder entdeckt hier – im Anschluss an Leibniz – das Ohr als Erkenntnisorgan. Er befreit es damit auch von seiner exklusiven Bindung an die pragmatische oder ethische Dimension. Das fundamentale kognitive Geschehen ist ein akroamatisches Geschehen, das im Psychischen des Menschen wiederklingt, als mentale Resonanz: Dem Ohr kommt die Welt als Klang entgegen. Der Klang dringt in den Menschen ein, so dass er die Welt denken kann. Der Gedanke ist ein innerer Klang. Diese Interiorität des ersten Gedanken-Worts radikalisiert das Kognitive der Sprachgenese, indem sie die Sprache ins Mentale verlegt und noch nicht kommunikativ entäußert: Das innere Wort ist noch kein Laut, es hat noch keine Stimme (phonè), es ist Gehörtes, Ge-Horch. Herder legt größten Wert auf die Feststellung der völligen Abwesenheit von Laut und Kommunikation bei der Genese der Sprache „ohne Mund und Gesellschaft“: „der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen; hätte er sie auch nie geredet.“13 13
Herder: Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 725.
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Sprache ist akroamatisch und kognitiv. Das Phonetische, der Mund, und das Kommunikative, die Gesellschaft, kommen dann als weitere Dimensionen hinzu, sie sind aber offensichtlich nicht das Wesen der – menschlichen – Sprache.14
5. Bi ld u nd L aut-Bi ld Das Ohr ins Zentrum der menschlichen Kognition zu stellen, ist tatsächlich etwas völlig Neues. Das alte Denken richtete Erkenntnis auf das Visuelle aus. Europas Epistemologie ist ja mitnichten phono-zentrisch, wie Derrida meinte, sondern ophtalmo-zentrisch und chiro-zentrisch: Das Denken wird vor allem als ein Sehen und Ergreifen gefasst. Schauen wir uns nur die entsprechenden Wörter an: Begriff, Anschauung, conceptus, Vor-Stellung, intuitio, idea, Reflexion, etwas fassen, das sind alles visuelle und haptische Metaphern. Vernehmen scheint etwas Auditives zu sein, aber es ist in Wirklichkeit etwas Haptisches: Es kommt von nehmen. Auch die Vernunft ist daher nichts Akroamatisches. Der Verstand sowieso nicht. Das französische entendement scheint eine akustische Metapher zu sein. Intendere, später entendre, ist aber das „Richten-auf“, nicht primär der Ohren, sondern allgemein der Aufmerksamkeit. Es ist eher eine Hinwendung des gesamten Körpers. Von da aus spezialisiert sich entendre erst auf das Hören. Das Hören-auf ist in der europäischen Tradition keine theoretische Metapher, sondern eine Metapher der praktischen Philosophie. In Europa hört man nicht auf die Welt, man hört auf den Anderen: ob-audire, „entgegen-hören“, ge-horchen. Gehört – und also gehorcht – wird im Bereich des Ethisch-Praktischen, nicht im Bereich des Theoretischen. Herders Wende zum Ohr ist daher etwas Unerhörtes. Und sie bleibt auch völlig isoliert und hat keine unmittelbaren Nachfolger. Heidegger hat das Hören noch einmal stark gemacht im Zusammen hang mit der Thematisierung der Sprache. Aber in Sein und Zeit hört der Sprechende nicht auf die Welt, sondern auf die Stimme des Freundes.15 Heidegger siedelt also das Akroamatische traditionell im Intersubjektiv-Pragmatischen an. Vielleicht kann Heideggers späteres geheimnisvolles „Geläut der Stille“16 als Quelle der Sprache als ein Echo von Herders akroamatischer Wende betrachtet werden. Wenn Herder das Denken – oder das typisch menschliche Denken – auf das Hören ausrichtet, so bereichert er das Denken des Denkens um die folgenden Momente:
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Dies ist genau der Punkt, an dem Tilman Borsches Kritik im vorangehenden Beitrag ansetzt. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927], Tübingen 161986, S. 163. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 30.
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Die Welt, die entgegenkommt, ist eine lebendige: Sie hat eine Stimme und sie hat ein Inneres, aus dem diese Stimme erschallt, eine Seele, eine anima. Herder, so scheint mir, steigt mit der Akroamatisierung des Erkennens tiefer hinab ins Erkennen, wenn er diesen – sagen wir es ruhig – vorsichtig „animistischen“ ersten Schritt des Erkennens dem üblichen sehenden Erkennen voranstellt oder zugrundelegt. Wolfram Hogrebe schreibt einmal, dass jede Erkenntnistheorie einen methodischen Animismus annehmen müsse, damit die Menschen irgendetwas verstehen: „[...] and here I would like to add the suspicion that without a minimum of animism, our relationship to objects, i.e., our referentiality or intentionality, would collapse.“17 Dieses animistische Minimum könnte im Herder’schen Hören auf die Welt seine weitere Begründung finden. Wenn das Entgegenkommende eine Seele hat, eine anima, dann ist es wie Ich, es ist ein Du. Daher ist Besonnenheit eben auch hier im Kognitiven eine ethische Kategorie geblieben. Das Kognitive, auf das Herder seine Sprachursprungsszene so leidenschaftlich abstellt, ist gleichzeitig auch personal und damit kommunikativ, die tönende Welt, die ich erkenne – „Ha! du bist das Blöckende“ – ist gleichzeitig eine Welt, mit der ich dialogiere: Du.18 Durch die Präferenz des Hörens schwächt Herder gewiss den üblichen handelnden Zu-Griff auf die Welt. Die Hand greift, geleitet vom Auge, tätig auf die Welt zu: Be-Griff. Das Ohr ist weniger aktiv als das Auge. Es kann ja nicht einmal geschlossen werden. Aber es richtet sich auf die Welt (intendere, entendre), und es lässt die Welt entgegenkommen, es wartet entgegen. Das begründet gewiss ein kontemplativeres, passiveres Verhältnis zur Welt. Hören-auf, ob-audire, ist nicht Sehen und Fassen, Be-Greifen. Das hörende Denken bildet keinen Begriff (con-ceptus), sondern ein Gehorch (con-auditus). Vielleicht liegt hierin die tiefste Differenz – ja der Abgrund – des Herder’schen Denkens zu seinem Lehrer Kant. Bei Kant sind Auge und Hand die dominierenden kognitiven Metaphern: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“19 Visueller und haptischer kann man nicht denken: Die Hand greift unter Führung des Auges auf die Welt zu, das Auge schaut auf die
Wolfram Hogrebe: Mantics and Hermeneutics, in: Archive of the History of Philosophy and Social Thought 56 (2011), S. 233–245, S. 244. Dies ist zumindest eine Spur des essentiellen Anderen, den Tilman Borsche in der Abhandlung vermisst. Immanuel Kant: Werkausgabe, Bd. 3, 4: Kritik der reinen Vernunft [1787], hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 111990, A 51.
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gefüllte Hand. Herder erinnert demgegenüber an den vergessenen Klang der Welt und einen sanfteren Zugang zur Welt. Was da entgegenkommt, auch das ist nicht unerheblich, ist schließlich ein Lamm. Diese Welt ist nicht feindlich. Sie ist sanft, weiß, wollig. Dies ist eine weitere Alternative zu den traditionellen Kognitions-Beziehungen. Traditionellerweise kommt die Welt dem Menschen als Furchterregendes entgegen, das ihn bedroht und das er bannen oder besiegen muss. So denkt zum Beispiel noch Giambattista Vico im Anschluss an antike Vorstellungen die entgegenkommende Welt: Was bei Vico entgegenkommt, ist die feindliche, gewalttätige Macht des Gewitters, als Laut und Gesehenes, als Donner und Blitz. Die Menschen bannen das Fürchterliche in phonischer Mimesis, in einem phonischen eikon, einem Bild des Donners – Ious – oder des Blitzes – Zeus.20 Herders friedliches Laut-Bild entsteht dagegen nicht aus Furcht (timor), sondern aus der Freude über die Begegnung mit der Welt: „Ha! du bist das Blöckende!“ Schließlich erweitert Hören den Raum des Denkens erheblich. Akustische Wahrnehmung ist sphärisch, das Gehörte umgibt den Hörenden, es kommt ihm nicht nur entgegen, also von vorn, sondern es kommt von allen Seiten. Das akroamatisch Gedachte ist nicht nur Ob-jekt, sondern Zirkum-jekt.
Diese Züge einer akroamatischen Annäherung an die Welt sind im Kontext einer Theorie der Gemeinsamkeit aller Sinne, eines sensus comunis, Momente einer alternativen Bild-Theorie und keine Feind-Bilder oder Bilder-Feinde.
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Die Genesis der Sprache und des Denkens ist eine Antwort auf den Ruf der Welt. Meine kognitive Disposition antwortet auf den Klang der Welt: „Ha! du bist das Blöckende!“ Mein erster Gedanke, mein Wort, ist ein Gehorch, kein Begriff. Die Welt ist ein (von allen Seiten) Entgegenkommendes. Die Welt ist ein Lebendiges, sie hat eine Stimme, sie ist ein Du. Die Welt ist ein friedliches Entgegenkommendes. Sofern er keinen Antagonismus zum Sehen kennt, lädt Herder dazu ein, das im Akroamatischen Durchgespielte auf Kognition überhaupt, auf die anderen Sinne in der Gedanken- und Sprach-Bildung, auszudehnen. Die Vgl. Giambattista Vico: Princìpi di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni [1744], in: Opere, hg. v. Andrea Battistini, Bd. 1, Mailand, S. 411–971, § 447.
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Besonnenheit heißt bei Herder immer noch „Reflexion“, also „ZurückBiegung“. Auch das Visuelle und das Haptische kommen entgegen. Sie bieten sich an: „Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht“. Also auch: „Ha du bist das Weiße! Ha! Du bist das Sanfte!“ Damit ist insgesamt eine andere Haltung gegenüber der Welt gegeben als unser naturalistisches Zugreifen. Das herrische Verfügen-über wird zu einer AntWort, der Be-Griff zum Ge-Horch. Herders Hören und Denken des Entgegenkommenden ist im Mainstream des europäischen Denkens erfolglos geblieben. Das Hören auf die Welt konnte sich nicht gegen die dominante Philosophie des Be-Griffs durchsetzen. Übrigens auch politisch nicht: Herders Anti-Kolonialismus hat den zweiten brutalen europäischen Zu-Griff auf die Welt, den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, ja in keiner Hinsicht verhindert, ebenso wenig wie Alexander von Humboldts vehemente Kritik des spanischen Kolonialismus. Aber beide – Herder und Humboldt – haben Europas Ehre gerettet. Auch das spricht dafür, dass Herders alternative Sprach- und Erkenntnistheorie zwar erfolglos, aber nicht falsch ist. Sie gemahnt das von Hand und Auge dominierte europäische Denken an eine sanftere und sinnlich umfassendere Annäherung an eine Welt, die ihr ja auch manchmal friedlich entgegenkommt.
7. Ausbl ic k Die nächste Generation folgt Herder zwar in der kognitiven Ausrichtung seiner Sprachtheorie, nicht aber in seiner akroamatischen Erkenntnistheorie: Wilhelm von Humboldt fasst wie Herder Sprache als Bildung des Gedanken, wie dieser hat er eine radikal kognitive Auffassung von Sprache. Dass er bei der Entfaltung seiner eigenen Theorie der sprachlichen Genese des Denkens an Herder denkt, entnehme ich der Wiederholung des zentralen Herder’schen Gedankens, dass „der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen“.21 Bei Humboldt heißt es: „Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine nothwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit.“22 Aber Herders akroamatischer Ansatz wird nicht aufgegriffen. Der Prozess des Denkens ist traditionell als Sehen gefasst: „Subjective Thätigkeit bildet im Denken ein Object. Denn keine Gattung der Vorstellungen kann als ein bloß empfangendes Beschauen eines schon vorhandenen Gegenstandes betrachtet wer21 22
Herder: Werke, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 725. Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Albert Leitzmann/ Bruno Gebhardt/Wilhelm Richter, Berlin 1903–36, S. 55.
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den.“23 Die erste Bewegung des Denkens ist daher auch weniger die der Welt, die entgegenkommt, als die des Subjekts, das zugreift und „handelt“. „Thätigkeit“ ist der zentrale Ausdruck. Das Gesehene oder Beschaute verbindet sich dann mit der Stimme: „Sie [die intellectuelle Tätigkeit] ist aber auch in sich an die Nothwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen.“24 Dann erst tritt auch das Ohr in Aktion, als ein Hören auf die eigene Stimme (Humboldts Feststellung dieses kognitiven loops ist im übrigen eine ganz neue Erkenntnis in der europäischen Sprachreflexion), nicht auf die Welt: „Denn indem in ihr [der Sprache] das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniß desselben zum eignen Ohre zurück.“25 Auge (Beschauen) und Hand (Tätigkeit), Stimme (Laut) und Ohr wirken also ausdrücklich zusammen in der Produktion des Denkens, in der Bildung des Gedanken (wie es gleichsam bildhauerisch heißt): „Die unzertrennliche Verbindung des Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur.“26 In der Tätigkeit des Subjekts ist vom Entgegenkommen der Welt nicht mehr die Rede. Dennoch ist auch bei Humboldt die Welt keine feindliche oder völlig fremde: Es muss etwas an ihr sein, das mit dem Menschen korrespondiert, es gibt „eine vorgängige Uebereinstimmung zwischen dem Subject und Object“.27 Um die Welt zu verstehen, muss man „sich in einem andren Sinn schon verstanden haben“, das heißt, dass ich ihr – wie dem Herder’schen Lamm – eine Stimme und eine anima unterstellen muss, damit wir über die „Brücke der Verständigung“ zueinander kommen können: „Wo zwei Wesen durch gänzliche Kluft getrennt sind, führt keine Brücke der Verständigung von einem zum andren, und um sich zu verstehen, muss man sich in einem andren Sinne schon verstanden haben.“ 28 Das Prinzip des Gesprächs durchwaltet schon den fundamentalen Prozess der Bildung des Gedanken.
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Ebd. (Herv. v. Verf.). Ebd., S. 53. Ebd., S. 55 (Herv. v. Verf.). Ebd., S. 53 (Herv. v. Verf.). Wilhelm von Humboldt: Ueber die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: Gesammelte Schriften (wie Anm. 22), Bd. 4, S. 47. Ebd.
V. B e w e g u n g – Ge s t e – Zei c h e n
Ulrich Mosch
Ü BE RG Ä N G E Bewegung – Geste – Zeichen in Carlos Kleibers Dirigieren
Vorb emerk u ng z u m Gegenst a nd Die Musikwissenschaft versteht sich heute, wenn auch längst nicht mehr ausschließlich,1 immer noch weithin als Philologie, die sich mit musikalischen Texten befasst, weniger dagegen mit dem Akt ihrer klanglichen Hervorbringung, der Aufführung. Das ist an sich erstaunlich, denn erst der Akt der klanglichen Reproduktion verhilft der Musik zum Dasein als einem sinnlich erfahrbaren Zeitgegenstand. Ohne Aufführung bliebe der Text totes Zeichen. Die Scheuklappen aufgrund dieses Selbstverständnisses als Philologie gingen so weit, dass in einem Standardwerk wie der seit den neunziger Jahren neu bearbeiteten Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart ein Artikel über Aufführung gänzlich fehlt und der Artikel „Aufführungspraxis“ den Begriff ‚Aufführung‘ verwendet, ohne ihn näher (historisch) zu bestimmen.2 Im 2001 erschienenen englischsprachigen Pendant The New Grove Dictionary of Music and Musicians ist unter dem Stichwort „Performance“ wenigstens ein kurzer Artikel zu finden, der sich allerdings auf Äußerliches beschränkt und sich nicht einmal ansatzweise auf eine Analyse dessen einlässt, was während des Aktes der klanglichen
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Vgl. dazu etwa jüngst Nicholas Cook: Beyond the Score, Oxford 2013, sowie die umfangreiche Literatur zum Thema „musikalische Geste“, u.a. Anthony Gritten/ Elaine King (Hg.): Music and Gesture, Farnham, Surrey/Burlington VT 2006; dies. (Hg.): New Perspectives on Music and Gesture, Farnham, Surrey/Burlington VT 2011; Rolf Inge Godøy/Marc Leman (Hg.): Musical Gestures: Sound, Movement, and Meaning, New York 2010. Vgl. Dieter Gutknecht: Aufführungspraxis, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1: Sachteil, Kassel u.a. 1994, Sp. 954−986; einzelne Aspekte werden in Hermann Danusers Artikel „Vortrag“ in dieser Enzyklopädie abgehandelt; vgl. ebd., Bd. 9, Sp. 1817−1836.
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Realisierung eines Musikstückes passiert.3 Ich schicke dies voraus, weil ich mich mit meinen Überlegungen auf ein noch wenig beackertes Terrain begebe, dazu noch mit der Schwierigkeit behaftet, dass es nicht einfach ist, über die Phänomene zu sprechen.
1. Womit ich mich im Folgenden befassen werde, ist der Akt der Aufführung von Musik, ein Akt, der nicht nur seine hörbare, sondern in der Regel auch seine sichtbare Seite hat. Igor Strawinsky galt, wie er in den 1939 an der Harvard University unter dem Titel Poétique musicale auf Französisch gehaltenen John Eliot Norton Lectures hervorhob, das „Sehen“ des Musizierens gar als unabdingbar, um Musik zu verstehen.4 Er stellte sich damit ganz in Gegensatz zu Richard Wagner, der im Festspielhaus in Bayreuth das Orchester und damit die instrumentale Klangerzeugung ausdrücklich vor den Augen des Publikums verbergen wollte, indem er den Orchestergraben vom Zuschauerraum aus uneinsehbar bauen ließ. So mag es fast als Ironie erscheinen, wenn ich mein Thema unter anderem anhand von Wagners Tristan und Isolde entwickeln werde, und zwar anhand eines ganz außerordentlichen Dokuments: Einer Filmaufnahme aus Bayreuth aus dem Jahre 1976 aus dem Blickwinkel der Inspizientenkamera, die auf den Dirigenten, und nur auf ihn, gerichtet ist. Über die gesamten dreieinhalb Stunden sind weder die Bühne noch das Orchester zu sehen, sondern allein der Dirigent, und dieser war damals Carlos Kleiber.5 Warum Carlos Kleiber als Beispiel? Zum einen natürlich, weil er ein großartiger Dirigent war, der es wie kaum ein anderer verstand, mal das Orchester förmlich zu elektrisieren, mal in unvergleichlicher Weise die Musik strömen zu lassen und sie dabei gleichwohl großräumig als Zeitgegenstand zu disponieren, und zum anderen – nicht unwichtig für meinen Zugang – weil er außerordentlich bewegungsbegabt war. Des Weiteren ist bei ihm immer wieder zu beobachten − und dies nicht nur in dem hier vorgestellten Dokument − wie sich
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Vgl. Jonathan Dunsby: Performance, in: Stanley Sadie (Hg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 19, London 2001, S. 346–349. Die Situation der Musikwissenschaft ist vergleichbar zu jener der Literaturgeschichte als Philologie im Verhältnis zu den sogenannten Sprechkünsten. Vgl. dazu Reinhart MeyerKalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001. Vgl. Igor Strawinsky: Poétique musicale, hg. v. Myriam Soumagnac, Paris 2000, S. 148. Diese Aufnahme aus der Frühzeit des Videomitschnitts weist unübersehbare technische Schwächen auf, die aber dem Quellenwert keinerlei Abbruch tun.
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das Verhältnis zum Orchester, für Momente wenigstens, vom Bestimmen zu einem Sich-Bestimmen-Lassen wandelt, ein im Hinblick auf die Funktion des Dirigenten, nämlich das Orchester zu leiten, hochinteressantes Changieren zwischen Führen und … ja, was eigentlich? Sich der Musik zu überlassen, sich dazu zu bewegen, wie es ein Tänzer tut? Was mich an den einschlägigen Stellen interessiert, ist die sich wandelnde äußere Erscheinung der Bewegungen, je nachdem, worauf sich die Intentionen des Dirigenten richten: Nicht mehr die Geste, das Zeichen für die Orchestermusiker, scheint an diesen Stellen das Ziel zu sein, sondern die Bewegung selbst. Wenn wir einem Dirigenten wie Carlos Kleiber zugleich zuschauen und zuhören, wird das Entgegenkommende, das wir, die Wahrnehmenden, wie Husserl gesagt hätte, als Zeitgegenstand konstituieren, jedenfalls für Augenblicke, phasenverschoben gleich doppelt greifbar: Sichtbar als vom Dirigenten verkörpertes Vorgestelltes, Vorausimaginiertes, und hörbar als das tatsächlich Realisierte – mit den Worten Walter Benjamins könnte man sagen: Zugleich das Projekt einer Musik und dessen „Totenmaske“, das heißt die daraus tatsächlich gewordene Musik. Entgegenkommendes aber auch noch in einem weiteren Sinne: Dass nämlich das vom Dirigenten hervorgebrachte (Zeit-)Objekt ein Eigenleben entfaltet, das Geschehende sozusagen als vorhersehbar Unvorhersehbares, als Ereignis, auf das Kleiber reagiert und dem er sich wenigstens partiell auch einmal überlässt: mit Hingabe, Freude, Genuss. Wo das geschieht, verändert sich die Geste: Sie ist nicht mehr Zeichen für andere Musiker, sondern Bewegung zur Musik. Dabei scheint sich Kleiber auf einem schmalen Grat zu bewegen, zwischen Verkörperung als Zeichengebung und einer Verkörperung ähnlich jener bei einem Tänzer, welche gleichwohl für einen Orchestermusiker nach intensivem Probenprozess immer noch ein Stück weit „lesbar“ bleibt.
2. Bevor wir die ausgewählten Beispiele näher betrachten, zunächst einige Überlegungen zur Frage, was Dirigieren eigentlich ist. Wir haben es dabei mit einer besonderen Form von „musikalisch“-körperlichen Bewegungen zu tun: Sie dienen nicht wie bei einem Instrumentalisten unmittelbar der Hervorbringung von Klängen. Vielmehr sind es die Bewegungen eines Menschen, der andere animiert, Klänge mittels ihres eigenen Bewegungsapparates zu produzieren. Es handelt sich also um Bewegungen, die zwischen Zeichen und Geste angesiedelt sind. In seinem 1929 erstmals publizierten Lehrbuch des Dirigierens unterschied Hermann Scherchen drei Momente dieser Tätigkeit: „1. die Darstellung des metrischen Ablaufs der Musik. 2. die Aufzeichnung [ich würde eher sagen: die (gestische) Zeichnung] ihrer expressiv gestaltenden Kräfte. 3. die eigentliche
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Führung des Orchesters (zugleich das Vermeiden fehlerhaften Spielens der Musik und die Ausgleichung von Schwankungen und Ungenauigkeiten).“6 Demnach sind im Hinblick auf eine Analyse unseres Gegenstandes drei verschiedene Aspekte zu unterscheiden: die Koordination der Musiker und der Zusammenhalt des gesamten Sänger- und Orchesterapparates, die Gestaltung der Musik (deren Ausarbeitung im Detail allerdings vor allem während des Probenprozesses stattfindet) und die Aktualisierung des früher Erarbeiteten während der Aufführung: die klangliche Realisierung und Entfaltung der Musik als Zeitgegenstand. Notierte Musik ist eben nicht einfach eine Ansammlung von Noten, deren präzise Ausführung im Einzelnen genügte, um ihr ganzes Potential auszuschöpfen. Sie ist vielmehr ein komplexer musikalischer Zusammenhang, der im körperlichen Vollzug durch den Dirigenten wie durch die Musiker zu entfalten und zu aktualisieren ist: Durch Phrasieren und Atmen, durch die bewusste Herstellung von Korrespondenzen oder Divergenzen sowie um die insgesamt dynamische Architektur des Ganzen sinnfällig zu machen. Andernfalls entsteht nur, was Theodor Adorno im Hinblick auf zeitgenössische Musik einmal als „Kauderwelsch“ bezeichnet hat.7 Dabei ist eine Kontinuität als körperlicher Vollzug die Basis nicht nur für ästhetische Phänomene wie Ganzheit oder Geschlossenheit, sondern genauso für solche wie Brüchigkeit, Festigkeit oder lockere Fügung, analog zur Differenz zwischen einem physischen Artikulationszusammenhang und einem kommunizierten Sinnzusammenhang bei gesprochener Sprache. Von diesem Aspekt spricht der Komponist und Dirigent Felix Weingartner in seinem kleinen Büchlein Über das Dirigieren (1896), wenn er Richard Wagner das Verdienst einer neuen Vorstellung vom Dirigenten zuschreibt, „in dessen Tätigkeit man [...] nicht mehr nur das äußerlich zusammenhaltende [Element – später im Text nennt er dies abfällig das ‚bloße Taktschlagen‘], sondern hauptsächlich das innerlich beseelende Element einer orchestralen, choralen oder dramatischen Musikaufführung zu erblicken sich angewöhnt hat“.8
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Hermann Scherchen: Lehrbuch des Dirigierens, Leipzig 1929, S. 195. Die ersten beiden Aspekte waren auch Gegenstand eines Kommentars und einer Vorführung im Rahmen einer von Leonard Bernstein gestalteten Fernsehsendung zum Thema „The Art of Conducting“, die am 4. Dezember 1955 über CBS Television Network im Rahmen der Reihe Omnibus ausgestrahlt wurde; s. Leonard Bernstein: Omnibus (2009, Archive of American Television, Port Washington, NY: EJ Entertainment), DVD 2, ca. 15:20–17:10. Theodor W. Adorno: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion, in: Nachgelassene Schriften, Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 2, hg. v. Henri Lonitz, Frankfurt/M. 2001, S. 240. Felix Weingartner: Über das Dirigieren, Berlin 1896, S. 1.
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Zur Veranschaulichung des eben Gesagten mag eine Gegenüberstellung von Carlos Kleiber und seinem nicht minder berühmten Vater Erich Kleiber dienen, die beide im Abstand von einigen Jahrzehnten dasselbe Stück dirigierten, den Walzer An der schönen blauen Donau von Johann Strauß. Georg Wübbolt konfrontierte Filmaufnahmen davon im Rahmen seines Dokumentarfilms über Carlos Kleiber mittels geteiltem Bildschirm (Bild 1a).9
Bild 1a Erich Kleiber links und Carlos Kleiber rechts, jeweils den Walzer An der Schönen blauen Donau von Johann Strauß dirigierend.
Bild 1b Erich Kleiber.
Der wohl auffälligste Unterschied ist zunächst, dass Erich Kleiber in der Manier der alten Schule dirigiert: Meist allein mit dem rechten Arm − die linke Hand entspannt herabhängend oder unbeweglich vor dem Bauch (Bild 1b) − und 9
Carlos Kleiber – I Am Lost to the World (2011, Georg Wübbolt, Major Entertainment).
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mit zackigen Bewegungen; der Sohn dagegen mit weichen, höchst individuellen Bewegungsformen (Bild 1c−e). Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass der Bewegungsstil sich nicht eins zu eins im Klangresultat abbildet. Dass Carlos Kleiber in dem Ausschnitt nur gelegentlich einmal zu den Zügeln greift – ein weiteres Beispiel für jenes, wenigstens für Augenblicke, Sich-der-Musik-Überlassen – ist wohl der Tatsache zuzuschreiben, dass es sich hier um eine Probensituation handelt, in der er sich mehr noch als im Konzert jenen Wechsel von Führen und Sich-Überlassen erlaubte. Auch heute noch gibt es verschiedene Dirigententypen: Einerseits den eher koordinierenden Typus − verkörpert zum Beispiel von Pierre Boulez − der den Orchestermusikern die Aufgabe überlässt, mit aller Energie ihren jeweiligen Part zu realisieren, und andererseits den eher energetisierenden Typus, der die Musiker mittels suggestiver Bewegungen mitreißt, wie ihn Leonard Bernstein repräsentierte. Da hier äußerst komplexe Kommunikationsvorgänge im Spiel sind, bei denen nicht nur die Armbewegungen, sondern auch die Augen, die körperliche Ausstrahlung und Präsenz und nicht zuletzt die − auf welchen Wegen auch immer − übertragene geistige Kraft eine Rolle spielen, lassen sich jedoch die Dirigenten vielfach nicht einfach der einen oder der anderen Kategorie zuweisen. Und es ist ein Irrtum zu glauben, die Schönheit der Bewegung könne im Hinblick auf das Klangresultat ein Urteilskriterium sein: Georg Solti wäre hier ein gutes Gegenbeispiel. Das Verhältnis von Dirigent und Musikern, das auch für Carlos Kleiber charakteristisch erscheint, beschreibt Weingartner am Beispiel von Richard Wagner unter Berufung auf einen Flötisten, der unter ihm in der Dresdner königlichen Kapelle gespielt hatte: […] die höchstens mittelgroße Figur in strammer Haltung, die Bewegungen des Armes nicht übermäßig groß oder weitausholend, sondern straff und sehr deutlich markiert; trotz der Lebendigkeit keine Unruhe; im Konzert meistens die Partitur nicht benötigend, den ausdrucksvollen Blick auf die Spielenden gerichtet und mit jener königlichen Souveränität das Orchester beherrschend, die er schon als Knabe bei Weber bewundert hatte. Der alte Flötist [...] erzählte mir, die Mitglieder der Kapelle hätten oft, wenn Wagner dirigiert habe, gar nicht mehr das Gefühl gehabt, geleitet zu werden. Jeder glaubte, frei seinem eigenen Gefühl zu folgen, und doch habe alles wundervoll zusammengewirkt. Es war Wagners ge waltiger Wille, der sich eindringlich, aber ganz unbewusst, auf die einzelnen übertragen hatte, so dass jeder sich frei wähnte, während er doch nur dem Leiter folgte, dessen künstlerische Kraft in ihm lebte und wirkte.10 10
Weingartner: Über das Dirigieren (wie Anm. 8), S. 7.
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Bild 1c–e Carlos Kleiber.
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Auch Carlos Kleiber besaß einerseits eine ungewöhnliche Fähigkeit, das Orchester zu führen und zu diesem Zweck Musik prospektiv in Bewegung zu übersetzen und zugleich auch, um Weingartners Begriff aufzunehmen, die Fähigkeit, die Musik „zu beseelen“. Schaut man sich die erhaltenen Filmdokumente an, so scheint es, als ob er auf einem „lebendigen Instrument spielte“, dem Orchester. Die Struktur der Musik, so wie sie Kleiber auffasste, ihre Spannungsverläufe, ihr formaler Bau und ihre innere Dynamik werden in der Sequenz seiner Bewegungen sichtbar. Andererseits gehen die suggestiven Bewegungen des diesbezüglich außerordentlich mit Phantasie und Erfindungskraft begabten Dirigenten weit über das bloße Schlagen des Taktes hinaus. Dies brachte ihm immer wieder den Vorwurf ein, er könne gar nicht richtig dirigieren, ein Vorwurf, der sich auf die handwerkliche, konventionelle Seite des Dirigierens bezog, der sich aber beim Hören des Resultats als gegenstandslos erweist. Dabei versteht sich bei dem Dokument aus Bayreuth, das hier in den Mittelpunkt gerückt ist, dass ein mögliches Showelement mit Blick auf das Publikum gar keine Rolle spielen konnte, denn im Festspielhaus sieht das Publikum den Dirigenten ja nicht. Kleibers Bewegungen dienten allein der Kommunikation mit den Orchestermusikern und vielleicht auch (gelegentlich) ein Stück weit der puren Freude an der Bewegung, möglicherweise auch dem Selbstausdruck.
3. Aus dem umfangreichen Material zu Tristan und Isolde11 habe ich zwei Ausschnitte ausgewählt, die ich näher betrachten möchte: Zum einen die Einleitung zum Ersten Aufzug und zum anderen Isoldes „Liebestod“, der das Werk beschließt. Was wir in der Einleitung sehen, lässt sich in zweierlei Hinsicht aufschlüsseln: Zum einen ist durchgehend die der Konvention entsprechende Schlagfigur des Sechs-Achtel-Taktes deutlich zu erkennen (Bild 2), allerdings in vielfach abgestuften, hinsichtlich ihres Charakters unterschiedlichen Realisierungen;
Bild 2 Schlagfigur des Sechs-Achtel-Taktes, schematisch. 11
Vgl. Anm. 5.
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zum anderen sind, ohne dass sich das eine vom anderen scharf trennen ließe, die individuellen körperlichen Gesten zur Artikulation der zeitlichen Struktur der Musik und ihrer Spannungsverläufe zu sehen, welche die Schlagfigur überformen und ergänzen. Kleiber führt das Orchester mit großer Souveränität im Wesentlichen mit der rechten Hand; die linke zeichnet dagegen vor allem melodische Phrasen nach, auch in ihrer inneren Artikulation, oder wird zusammen mit der rechten für Übergänge oder Betonungen herangezogen. Auffällig ist
Bild 3a−c Carlos Kleiber in der Einleitung zum ersten Aufzug von Richard Wagners Tristan und Isolde in den Takten 2 und 6 auf Zählzeit eins und beim weit ausholenden Auftakt zu Takt 10.
dabei seine hohe Flexibilität hinsichtlich des Tempos, ohne dass aber das Orchester irgendwelche Schwierigkeiten zu haben scheint, ihm zu folgen. Der allererste Einsatz beginnt, kaum angedeutet, mit Schlag vier und fünf der Schlagfigur, um den Auftakt auf Schlag sechs vorzubereiten, der zur Zählzeit eins des folgenden Taktes hinführt. Auf den lang ausgehaltenen Klängen in den Takten 1 und 2 rafft Kleiber die Schläge jeweils nach der deutlich markierten Zählzeit eins, um den Auftakt zum folgenden Takt sorgfältig präparieren und ganz in Ruhe nehmen zu können. Kleiber disponiert, das wird gleich in den ersten Takten sichtbar, großräumig einander korrespondierende Bewegungsverläufe, die den Aufbau der Musik spiegeln (Bild 3a–c). Die drei ersten Phrasen werden als einander entsprechend und zugleich, den Angaben der Partitur genauestens folgend (Bild 4a–c), allmählich steigernd vorgestellt, wobei der Akzent − jedesmal mit ein wenig gesteigertem Nachdruck − jeweils auf dem sogenannten Tristan-Akkord (Zählzeit eins der Takte 2, 6 und 10) liegt. Klar erkennbares Ziel des Spannungsaufbaus ist an dieser Stelle der mit einer dynamischen Steigerung bis zum Fortissimo erreichte Trugschluss zur unteren Mediante der Grundtonart a-Moll, will heißen zum zunächst mit einem Quartvorhalt verbundenen F-Dur in Takt 17.
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Bild 4a–c Richard Wagner, Tristan und Isolde, Klavierauszug, Takt 1–64.
Die hier mit der Auflösung des Vorhaltes auf Zählzeit vier fast unmerklich einsetzende „unendliche Melodie“ der Celli bringt Kleiber mit nun weiter ausgreifenden Bewegungen in einen nicht enden wollenden Fluss, den er gleichwohl genauestens in feinsten Nuancierungen artikuliert und kontrolliert: Zunächst in um einen Halbtakt verschobenen Viertaktgruppen mit jeweils klarer Hervorhebung der Zählzeit eins der Volltakte, wobei das Neuansetzen in den Takten 21 und 24/25 durch Markieren des auftaktigen Sechzehntels beziehungsweise der Sechzehntelkette − den Fluss aufhaltend, ohne ihn aber zu unterbrechen − vorbereitet wird; dann mittels einer Verkürzung des Rhythmus des Neuausholens durch die Hervorhebung der beiden Bläserakkorde in Takt 29 und 31, um schließlich mit einem letzten Neuansetzen den Höhepunkt dieser langen Phrase in Takt 36 anzusteuern. Ab Takt 45 folgende (entsprechend Takt 25 folgende) holt Kleiber dann, nach einem kurzen „Verschnaufen“ in den vorausgehenden Takten, zu einer gewaltigen Steigerung (Spannung, Tempo und Dynamik) aus, die erst in Takt 83 ihr Ziel findet. Dabei ist interessant zu beobachten, dass er die sforzati der Melodie unmittelbar nach den Bläserakkorden in den Takten 49 (entsprechend Takt 29 ohne sforzato), 51 (entsprechend Takt 31 ohne sforzato) und 52 ganz bewusst setzt, im ersten Fall sogar, indem er aufsteht, um den Akzent umso tiefer ausholend realisieren zu können. Insgesamt lässt sich festhalten, dass einerseits Kleibers Auffassung des Notentextes, der formale Aufbau der Musik und die innere Dynamik, sichtbar
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wie hörbar wird. Andererseits zeigt sich, dass der musikalische Zusammenhang wesentlich ein im Moment der Aufführung verkörperter Zusammenhang ist. Was sich schon am Anfang des Werkes eindrucksvoll manifestiert, die dirigierend realisierte großräumige Formdisposition, prägt seinen Schluss − Isoldes „Liebestod“ − in eminenter Weise. Kleibers Körperhaltung drückt hier Spannungsverläufe unmittelbar aus. Was zu sehen ist, lässt sich teilweise mit Vorstellungen aus der Tanzanalyse interpretieren: Wenn Kleiber etwa bei der Textstelle „[…] in mich dringet, auf sich schwinget, holder hallend um mich klinget?“ aufsteht und die Arme weit öffnet und ausbreitet (Bild 5a), so lässt sich das als ein Verströmen interpretieren, als Hingabe – hier seine Hingabe an den Klang – und zugleich als eine Offenheit, den Klang entgegenzunehmen. Sich unter höchster Körperspannung hinter das Dirigentenpult zu ducken und sich allmählich, zunächst mit sparsamsten Bewegungen, dann zunehmend weiter ausgreifend aufzurichten, bis er ganz erhoben ist (Bild 5b−e), stellt eines von Kleibers Mitteln der großräumigen Spannungssteigerung dar. Der musikalische Spannungsverlauf korrespondiert hier genau der Spannungskurve des Körpers. Dabei scheint es so, als ob die Energie über die Hände und den Dirigentenstab auf das Orchester überginge und von diesem unmittelbar in Klang umgesetzt werde. Die markantesten Gesten dieses Schlusses: Das Sich-Öffnen, das plötzliche Ducken, der halb erhobene und schließlich der ganz aufgerichtete Körper erscheinen an den formal zentralen Punkten dieser mit einem ungeheurem Sog
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Bild 5a–e Carlos Kleiber im Schlussabschnitt, dem sogenannten „Liebestod“, während der Steigerung in den Takten 32–19 vor dem Schluss des Werkes.
fließenden Musik, eingeschlossen gelegentlich durchaus auch kuriose Bewegungserfindungen an der Schwelle des Entgleitens. Auch beim Dirigieren ist die Bewegung eigentlich Mittel zum Zweck. Es gibt aber Momente, in denen der Dirigent sich der Musik oder auch das Orchester sich selbst überlassen kann. Betrachtet man diese Bilder, so scheint es hin und wieder – davon war schon die Rede – als ob sich Kleiber zur Musik bewegte,
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nicht sie führte. Dies dürfte auch tatsächlich der Fall gewesen sein. Dass so etwas überhaupt möglich ist, hat damit zu tun, dass jede Aufführung das Resultat eines nicht selten langen Probenprozesses ist. Das heißt: Die Bayreuther Musiker damals kannten Kleibers Auffassung des Tristan genau und folgten ihm auch dann, wenn er momentan die Zügel schleifen ließ, wobei er, sobald nötig, die Initiative wieder ergriff. Dies sind Momente, in denen Kleiber dem nahe kommt, was für den Tanz entscheidend ist: Dass die Bewegung nicht mehr Mittel zum Zweck ist – jenem der Koordination, der Führung und der Energetisierung beim Dirigenten oder der Klangproduktion bei den Musikern – sondern selbst Ziel. Auch an solchen Stellen verliert Kleiber indessen den Kontakt mit dem Orchester nicht. Was sich ändert, ist aber die Art der Beziehung. Sie wird gelockert bis zur Grenze der Belastbarkeit. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Suggestionskraft seiner Bewegungen ungebrochen ist, vielleicht sogar noch einmal zunimmt. Für die Musiker bleiben die Gesten somit wenigsten ein Stück weit „lesbar“.
4. Abschließend seien vier Aspekte des Angesprochenen durchaus erratisch nochmals fokussiert: 1. Verkörperung: Für einen Instrumentalisten gilt: Bewegung − einmal abgesehen vom Virtuosengehabe − ist allein resultatorientiert; sie zielt auf ein bestimmtes Klangresultat. Instrumentalisten, ganz gleich ob Solisten oder Orchestermusiker, müssen aber schon allein aus praktischen Gründen (Atem, Bogentechnik bei Streichern, „Bewegungschoreographie“ bei Schlagzeugern und so weiter) immer über den Einzelklang hinausdenken, müssen das Kommende vorbereiten und in jedem Augenblick, auf ihren Part und seine Funktion im Ganzen bezogen, eine Vorstellung davon haben, woher sie im Stück musikalisch kommen und wohin sie gehen wollen. Der Dirigent muss führen, und das ist nur möglich, wenn er mit der Vorstellung das Ganze umfassend dem gegenwärtig Geschehenden (weit) voraus ist. Er muss das, was gleich geschehen soll, im Hinblick auf das Ziel des musikalischen Fortgangs, einer Entwicklung oder eines Prozesses, und letzten Endes bis hin zum Schluss des Satzes, Aktes oder Werkes disponieren. Auch sein Tun ist resultatorientiert, allerdings in anderer Weise: Beim Dirigenten besteht kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen Bewegung und Klang. Die Form des Zeitgegenstandes wird artikuliert mittels Gesten, die hinsichtlich Ausgreifen, Intensität und körperlichem Einsatz variieren; Spannungsbögen sind wesentlich körperliche Spannungsbögen. Dabei spielt der untere Rücken, bei Kleiber schön zu sehen, offenbar als Kraftzentrum eine besondere Rolle, von gleichsam gefesselter bis hin zu entfesselter Bewegung.
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Bei Tänzern dagegen ist die Bewegung selbst das Ziel: Sie folgt zwar der Musik, doch auch hier muss die Vorstellung immer schon dem aktuell Geschehenden voraus sein, etwa bei einer komplexen Sprungfolge, die hinsichtlich Verlauf und Kraftaufwand antizipiert werden muss, um sie angemessen vorbereiten und wunschgemäß ausführen zu können. Bei den Tänzern geht es darüber hinaus darum, die eigenen körperorientierten Projektionen – das, was Husserl „Protentionen“ genannt hat – im Einklang mit der Musik zu halten.12 2. Körperschema: Das Körperschema von Carlos Kleiber als Dirigent, das legen die Bilder nahe, umfasst mehr als nur das physisch mit den Armen direkt Erreichbare: Es umfasst das ganze Orchester, den Chor und die Gesangsolisten auf der Bühne.13 Kleiber ist während der Aufführung intentional bei ihnen; sie werden Teil seines Körpers, gehen gleichsam in ihm auf, jedenfalls dort, wo er aktiv führt. Zu sehen ist dieses innige Verhältnis insbesondere da, wo er den Fluss und die Qualität der Klänge förmlich mit den Armen und Händen zu modellieren scheint. 3. Wissensformen: Wie jeder Dirigent es tut, entwickelte Kleiber aus dem Partiturstudium die eigene Auffassung von Wagners Musik. Diese ist − das ist offensichtlich, wenn man ihm zuschaut − mehr als nur eine Klangvorstellung. Sie besteht zugleich aus einem das musikalische Ganze umfassenden körperlichen Vollzug, der − gerade bei ihm − in jedem Detail genau gewusst wird, ohne dass hier jedoch ein Wissen in propositionaler Form vorläge. Kleiber war berühmt für seine Vergleiche, mit denen er das, was er sich vorstellte, vermittelte.14 Sie waren aber nur Behelfsmittel, um in einem nicht-propositionalen Wissensbereich das Gewünschte zu erzielen. Die Erfahrung der inneren Dynamik, das ruhige Strömen, manchmal auch das Mitreißende des musikalischen Flusses lässt sich allenfalls metaphorisch beschreiben, kaum aber erfahrbar machen 12
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Genau hier liegt die Problematik von Xavier Le Roys Solo-Choreographie zu Strawinskys Le Sacre du printemps aus dem Jahre 2007: Als Dirigent vor einem Orchester würde der Choreograph unweigerlich scheitern, da die prospektive musikalisch gestaltende Vorstellung fehlt. Er folgt lediglich der Musik mit seinen einem Dirigat Simon Rattles nachgebildeten Bewegungen. Vgl. dazu Maurice Merleau-Pontys Ausführungen zur Intentionalität des Leibes in: ders.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm, Berlin 1966, insbesondere S. 175ff. Schöne Beispiele dafür stammen aus der filmisch dokumentierten Probenarbeit zu Carl Maria von Webers Freischütz in Stuttgart. Um zu Beginn der Ouvertüre einen Einsatz aus dem Nichts zu erreichen, wies Kleiber die Musiker an: „Lassen Sie immer den anderen anfangen.“ Und das Resultat entsprach genau dem, was er sich vorgestellt hatte (s. hierzu auch den Beitrag von Sabine Marienberg in diesem Band). Oder in Bezug auf eine tänzerische Partie bat er die Musiker, nicht zu spielen, als ob der Tänzer „Übergewicht“ hätte, sondern tänzerisch leicht, nicht „so elefantisch“.
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über die Sprache. Wollte man dies doch erreichen, so müssten diese Qualitäten in eine sprachliche Form übersetzt werden, die das scheinbare Nicht-EndenWollen, die großräumigen Steigerungen in ihrem Medium realisiert. 4. Wandlungen der Körpererscheinung: Die dokumentierten Dirigate Kleibers lassen an verschiedenen Stellen erkennen, dass sich durch den Wechsel der intentionalen Fokussierung des sich Bewegenden die Körpererscheinung verändert: Wenn Kleiber sich auf sich selbst zurückzieht und in die Rolle desjenigen schlüpft, der der Musik zuhört und ihr bewegungsmäßig nur folgt, wird dies auch in Nuancen an seinem Körper und den Bewegungen sichtbar. Für diesen Aspekt besitzen wir als von außen Beobachtende offenbar ein außerordentlich gut entwickeltes Sensorium, das wir auch im Alltag diagnostisch einsetzen, eine Art „somatischer Aufmerksamkeit“15 für den anderen. Beschreibend sind solche Phänomene aber schwer zu fassen.
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Zustände „somatischer Aufmerksamkeit“ sind auch für Marion Lauschkes Überlegungen zum Rhythmus der Kunsterfahrung zentral (s. Lauschke in diesem Band).
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D I E M Ö G L IC H K E I T D E R G E S T E Poietisches Handeln zwischen Bewegung und Zeichen bei Oskar Pastior
1. „Die sprachliche Geste“, schreibt Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung, „bringt, wie jede andere Gebärde, ihren Sinn selber hervor.“1 Mit dieser Erweiterung des Gestischen von den körperlichen Gebärden in die Sprache hinein bricht er mit gleich zwei traditionellen Vorannahmen darüber, was eine Geste ausmacht. Zum einen ist sie in Merleau-Pontys Verständnis alles andere als eine bereits lexikalisierte Zeigehandlung: Sie wird nicht einfach im Rahmen eines schon bestehenden und davon unberührten Bedeutungszusammenhangs vollzogen, sondern sie öffnet und verändert ihn. Zum anderen gilt sie nicht als vorsprachliches oder lediglich redebegleitendes Geschehen, sondern als der Sprache wesentlich zugehörig. „Vorsprachlich“ ist die Geste nur im Sinne einer die Sprache zuallererst ermöglichenden Tat, die – als weder rein natürlich-motorischer Lautvorgang noch als bloß konventionelles Zeichen – die Sinngenese im lebendigen Sprechen begründet. Gemeint ist damit ein ursprüngliches Sprechen im emphatischen Sinn: „das des Kindes, das sein erstes Wort spricht, das des Verliebten, der zuerst sein Gefühl entdeckt, das des ‚ersten Menschen, der gesprochen hat‘, oder das des Schriftstellers oder Philosophen, der, die Überlieferung durchstoßend, eine ursprüngliche Erfahrung zu neuem Leben erweckt.“2 Ein solcherart anfängliches Sprechen, auch das „des ersten Menschen, der gesprochen hat“, vollzieht sich jedoch immer schon in der Sprache. Nur als Ausdrucksbewegung innerhalb einer geteilten sprachlichen Welt ist Verstehen überhaupt denkbar:
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Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung [1945]. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 220. Ebd., S. 212.
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[D]ie schon verfügbaren Bedeutungen verknüpfen sich plötzlich nach einem bislang unbekannten Gesetz, und ein neues kulturell Seiendes hat ein für allemal seine Existenz begonnen. Gedanke und Ausdruck konstituieren sich somit in eins und zumal, wenn unser kultureller Erwerb jenem noch unbekannten Gesetz gemäß in Bewegung gerät – so wie unser Leib, eine bislang fremde Gewohnheit erwerbend, plötzlich eine neue Geste sich zu eigen macht. […] Soll das Wunder geschehen, so muss die phonetische Gestik sich eines Alphabets bereits erworbener Bedeutungen bedienen, die Wortgebärde in einem den Unterrednern gemeinsam eröffneten Ausblick sich einzeichnen, so wie das Verständnis jeder anderen Geste eine gemeinsame Wahrnehmungswelt voraussetzt, in der sie sich abspielt und ihren Sinn entfaltet.3 Die Gleichursprünglichkeit von Ausdruck und Gedanke, Mitteilung und Verstehen in der Geste ist eine wiedergewonnene Ursprünglichkeit, die lebendige Verwirklichung des sprachlichen In-der-Welt-Seins. Begriffliche Bedeutungen sind diesem gestischen Erfassen nachgeordnet, und was immer begrifflich verfügbar ist, verdankt sich einer vorgängigen erstmaligen Verbindung von lautlicher und gedanklicher Artikulationsbewegung, die einerseits leiblichen Vollzügen entspringt und andererseits über sie hinausweist.4 Gesten sind somit schöpferisch und bedingt zugleich, sie sind freie Setzungen und doch gebunden an die unhintergehbare Leiblichkeit des Sprechers wie der Sprache selbst. In dieser Perspektive ist das Gestische kein Teilmoment der Sprache, es ist ihre Substanz. Ein solcherart weit gefasster und differenzierter Gestenbegriff lässt sich mit einem Blick auf die Wortgeschichte durchaus rechtfertigen: Das lateinische gestus wird gebildet aus der Wurzel gero, die ein erstaunlich breites Bedeutungsspektrum hat: gero heißt zunächst ‚tragen‘, reflexiv ‚sich betragen‘, ‚sich verhalten‘, es bedeutet sowohl (verborgen) ‚in sich tragen‘ als auch (sichtbar) ‚zur Schau tragen‘ und ‚zeigen‘; es heißt darüber hinaus auch ‚tun‘ – umfasst jedoch gleichzeitig dessen weniger intentionale Seiten, nämlich ‚vorgehen‘ und ‚geschehen‘, bis hin zum ‚ertragen‘.5
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Ebd., S. 217, S. 229. „Eine stets aufs neue inmitten der Fülle des Seins geschaffene Öffnung ist die notwendige Bedingung […] der Schöpfung der Worte wie der Begriffe. Dies ist jene Funktion, die wir durch die Sprache hindurch erahnen: eine stets sich erneuernde, auf sich selber sich stützende, der Welle gleich, die immer aufs neue sich sammelt, um sich neuerlich über sich hinaus zu werfen.“ Ebd., S. 232f. Josef M. Stowasser/Michael Petschenig/Franz Skutsch: Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, München 1979, S. 199. Zu Etymologie und Wortgebrauch von ‚Geste‘ s.a. Jean-Claude Schmitt: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 28–33, S. 36f.
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Von der Bewegung ist die Geste ursprünglich gar nicht so klar zu trennen. Gestus wurde im Lateinischen oft synonym mit motus gebraucht – im engeren Sinne mit dem motus corporis, der dann oft, aber nicht notwendigerweise, mit den Bewegungen der Hände gleichgesetzt wurde. Darüber hinaus bezeichnete es die Bewegung von Tieren, Seelen und Planeten. Enthalten sind auch hier wieder eine aktive oder sich vollziehende und eine passive Seite: Aktiv ist der motus in Form der von Menschen hervorgebrachten, mitunter absichtsvoll als Zeichen eingesetzten Körperbewegungen. Passiv ist er in Form des Eingebundenseins in und des Konfrontiertseins mit Bewegungen allenthalben – Bewegungen, die das ganze Universum durchziehen, vermutlich sogar geheimen Bewegungsgesetzen, die man zunächst einmal am eigenen Leib erfahren muss, um sie zu verstehen.6 Die Geste ist damit nach zwei Seiten hin durchlässig, nämlich einerseits zu Bewegung und Vorgang, zum bloßen und noch gar nicht „als etwas“ erkannten Geschehen oder Widerfahrnis, und andererseits zum Zeichen, das sich in Form allgemein verständlicher Zeigeschemata denotativen und kommunikativen Absichten widerstandslos beugt und ein augenblickliches Verständnis verheißt. Man könnte Gesten demnach auch als einen Zwischenschritt oder Übergang verstehen, in dem eine Bewegung schematisch Gestalt gewinnt, in ihrer formalen Eigenschaft ins Zeichenhafte umschlägt beziehungsweise ein Zeichen ermöglicht – oder, in umgekehrter Blickrichtung, in dem ein Zeichen sich als ein schematischer Aspekt an einer vollzogenen Bewegung zeigt und so sowohl die Bewegungsgesetze des Materials als auch die es aktuell artikulierenden Verfahren freilegt.
2. Oskar Pastior hat den Spielraum zwischen Bewegungen einerseits und ihren bedeutsamen Schematisierungen andererseits unablässig durchmessen, ihn in sprachlichen, klanglichen und auch zeichnerischen Gesten beständig neu aufgespannt und zum Kollabieren gebracht. Seine bange Neugier richtet sich, Leonardos forschendem Blick in die Höhle nicht unähnlich,7 auf vielfältige und wundersame Formen, darunter insbesondere diejenigen, die die kunstfertige Sprache hervorbringt. Das dergestalt Entgegenkommende zu denken bedeutet, es selbst im Medium der Sprache zu erkunden, es als geformtes Material gleichermaßen ernst
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In diesem Sinne lässt sich auch die Spannung zwischen Bestimmen und SichBestimmen-Lassen im Dirigieren Carlos Kleibers verstehen (s. hierzu den Beitrag von Ulrich Mosch in diesem Band). Vgl. Engel/Marienberg, S. IX in diesem Band.
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zu nehmen und aufs Spiel zu setzen, in einer Art der Aneignung, die so sorgfältig und behutsam wie respektlos ist. Man könnte von Subversion durch Anerkennung sprechen. Die Anerkennung gilt allerdings weniger den bestehenden sprachlichen Schemata als solchen als vielmehr dem flüchtigen Augenblick ihres Zustandekommens. Oder anders: Dass sich immer nur rückblickend zeigt, was zunächst ein Vorgang war,8 lässt die Hoffnung zu, dass Vorgänge weiterhin stattfinden; und selbst das Innehalten zwischen zwei hervorgebrachten oder wahrgenommenen Vorgängen, die sich in ihm nach vorn und rückwärts voneinander abgrenzen, findet nicht klanglos statt: Das Aufhören im Wort ist ein langsamer Vorgang, der erst von seinem Ende her, also lieblos anfällt. Dann sehen wir, wie die Zerstückung einer Mondscheibe an die Zerstückung eines Daches fällt, aber das schleifende Geräusch, das wir uns vorstellen, weil es das Aufhören im Wort hervorruft und nicht in unserer Vorstellung, hören wir nicht, wie es aufhört, noch den Staub, den es wirbelt, wie er unerfahren zurückfließt, noch den Rand, wie er glost, weil ein Brennglas ihn schiebt. Von seinem Ende her betrachtet, ist das Aufhören im Wort ein schmerzloser Abgang vom Abschied des Haltens, also ein wortloser Zustand, der aufhört, weil mit dem Wort das was im Wort das langsame Aufhören hervorruft, anzufallen aufgehört hat.9 Pastiors Versuche, der Dynamik zwischen Bewegung und Zeichen sprachlich nachzuspüren, haben etwas hartnäckig Methodisches und erforschen das gestische Potential in sämtlichen Sprachschichten, deren jeweilige Eigengesetzlichkeiten in Form vorhandener oder wechselnder selbst auferlegter Regeln ihm willkommene Hindernisse sind. Dies können begrenzte Lautvorräte sein, sich verselbständigende phonetische oder grammatikalische Vorschriften oder auch Versschemata und Gedichtformen. All diese Vorgaben versteht er, ganz unmetaphorisch, als Denkmodelle, als irreduzible Handlungsanweisungen, die eine je eigene Art der „Kenntnisnahme durch Sprache“10 provozieren und mitunter zu geradezu alchemistischen Materialfügungen führen.11 8
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„gegen unbestimmtheit lesen wir zu schnell, damit im rückspiel klappt, was sonst vorgang heißt“, Oskar Pastior: Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M. 1994, S. 51. Aus: Oskar Pastior: Höricht, in: Werkausgabe, Bd. 2: „Jetzt kann man schreiben was man will“, hg. v. Michael Krüger, München 2003, S. 106. Oskar Pastior/Francesco Petrarca: 33 Gedichte, München/Wien 1983, S. 78. Vgl. Oskar Pastior: Jalousien aufgemacht. Ein Lesebuch, hg. v. Klaus Ramm, München/Wien 1987, S. 34: „Wahrscheinlich kommt man nicht herum, sich in einem speziellen Sinn als Mystiker zu sehen. […] Der im Einzelfall, am Einzeltext also, die Wirrnis, indem er sie leibhaftig demonstriert, leibhaftig zu entwirren versucht. Mit leibhaftig meine ich die Sprache als Leib.“
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3. Unter den selbst gewählten und zu Anlässen umgedeuteten Hindernissen findet sich auch eine beachtliche Reihe von poetischen Auseinandersetzungen mit fremdsprachlicher Literatur, von denen beispielhaft nur das Petrarca-Projekt herausgegriffen sei. Es handelt sich hierbei um einen Versuch, den Rime aus Petrarcas Canzoniere (1327–74) in eigenen Texten zu begegnen, ihre später petrarkistisch erstarrte Zeichenhaftigkeit als erstmaliges Sprechen zu verstehen und seinerseits mit Pastiorschen Sprachgesten in Bewegung zu versetzen; der Klappentext spricht von der „wörtlich-unwörtlichen Erotik eines Denkstreits“.12 Der systematische Charakter und der feststehende motivische Reigen des Canzoniere müssen dabei ein besonderer Anreiz gewesen sein, ein Anreiz nämlich, den Bildern und Bildernetzen ihre Selbstverständlichkeit zu rauben, die Metaphern, wie es im Nachwort heißt „in statu nascendi zu überraschen“,13 sie „abzuklopfen, anzurubbeln, wie Abziehbilder; […] um herauszufinden, was sich, eher matt, monochrom, an Anschauung, Erkenntnisvorgängen, ja vielleicht Er kenntnistheorie ‚darunter‘ verbirgt; bei Petrarca verborgen haben mag.“14 Wobei es ein „Darunter“ im Sinne außersprachlicher Referenz für Pastior ebenso wenig gibt wie ein sprachliches „Darüber“, das nicht selbst in seinen Gegenstand verstrickt ist.15 Die Aufgabe bestand darin, so zu tun, als ob man von Amors Pfeilen, Augen und Sternen, bitterer Süße und stummen Schreien zwar schon einmal gehört habe, ihr Auftauchen aber nicht als bekannte „Anwendungsfälle von“, sondern als prototypische, Bedeutung erst ermöglichende „Beispiele für“ verstehe – Beispiele für etwas, das eben erst im Entstehen begriffen ist und dessen Bedeutungen und Nebenbedeutungen aus ihrem momentanen und lokalen Mitund Gegeneinander erwachsen.16 12 13
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S. hierzu auch Stefan Matuschek: Im Unerreichbaren heillos verheddert. Oskar Pastiors ‚Petrarca-Projekt‘, in: Arcadia 29/3 (1994), S. 267–277. Bei Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 1), S. 232, findet sich ein ganz ähnlicher Hinweis auf die Verlebendigung systematischer Sprache im gestischen Akt des Sprechens: „[…] man könnte zwischen sprechender Sprache und gesprochener Sprache unterscheiden. In der sprechenden Sprache begegnet uns die Bedeutungsintention in statu nascendi.“ Pastior/Petrarca: 33 Gedichte (wie Anm. 10), S. 78. Vgl. Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 91: „Und immer noch vom Unsinn, hier ,über‘ Chaos und ,über‘ Ordnung zu sprechen, so als stünde uns eine Sprache außerhalb von Chaos und Ordnung zu Gebote; als sei jedes ,Sprechen darüber‘ fraglos davon ausgenommen und diesem Spannungsfeld enthoben; ja als sei das nicht nur möglich, sondern auch tauglich zur Klärung eines Sachverhaltes, der unbedingt bedingt, also ein Sprachverhalt ist.“ Vgl. Pastior: Jalousien aufgemacht (wie Anm. 11), S. 56: „Metaphorisch: bereits das ‚so und nicht anders‘ (‚hier und nicht dort‘, ‚zu diesem und nicht zu jenem Zeit-
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Die von Petrarcas Rime angeregten Dichtungen Pastiors sind, von verinselten rhythmisierten Verseinschüben abgesehen, allesamt Prosastücke. Inwiefern hier erlittene Bewegung in Eigenbewegung artikuliert wird und sich im Sinne eines Denkmodells von ihr artikulieren lässt, kann man daher weniger an Versformen, wohl aber anhand von in ihnen wirksamen Sprach- und Gedankenfiguren andeuten. Ein Motiv, das den gesamten Canzoniere durchzieht, ist der Unsagbarkeitstopos, d.h. der Umstand, dass Petrarca sich außer Stande sieht, seiner so erfüllenden wie aussichtslosen Liebe zur für ihn unerreichbaren Madonna Laura sprachlich gerecht zu werden und eben dies zum Ausgangspunkt seines Sprechens nimmt. Der so beredt um Ausdruck ringende glücklich-verzweifelte Zwie spalt bringt oft ganze Kaskaden von antithetischen Reihungen, Parallelismen und Chiasmen hervor, die nur in heutigen Ohren klischeehaft gestanzt wirken. In der Rima CXXXIV durchweben sich diese so mustergültig, dass sie in späteren petrarkistischen Dichtungen einen fast zwanghaften Modellcharakter bekam: Pace non trovo e non ho da far guerra; E temo, e spero; e ardo e son un ghiaccio; E volo sopra ’l cielo, e giaccio in terra; E nulla stringo, e tutto ’l mondo abbraccio. Tal m’ha in prigion, che non m’apre nè serra; Nè per suo mi riten, nè scioglie il laccio; E non m’ancide Amor, e non mi sferra; Nè mi vuol vivo, nè mi trae d’impaccio; Veggio senz’occhi, e non ho lingua, e grido; E bramo di perir, e chieggio aita; Ed ho in odio me stesso, ed amo altrui: Pascomi di dolor, piangendo rido; Egualmente mi spiace morte e vita: In questo stato son, Donna, per vui.17 Was macht nun aber Pastior aus dieser Vorgabe? Er folgt den Figuren des Hinund Hergerissenseins, nur ist das Dilemma, das ihn quält und von seiner Qual
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punkt‘) eines Textes; die Privatsprache (Geheimjargon) mit der sich der Autor, im Vertrauen auf die Solidarität einzelner Leser, gegen die Vereinnahmung durch totale Zeichensysteme wehrt; der Grundwiderspruch zwischen Sprechen und Sprache, dem singulären Material-Akt (Leibhaftigkeit) und, sagen wir, dem Ideologieanspruch (Leisten); die Zwischenbereichlichkeit (Physiologie, Naturphänomen, Erfahrung, Bedeutung, Einklang und Störung…); und sicher noch vieles andere mehr. Da erschiene mir die Unterhaltung bloß über Stilfiguren doch ein wenig wenig.“ Pastior/Petrarca: 33 Gedichte (wie Anm. 10), S. 47.
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singen lässt, ein ganz anderers: Das unerreichbare Du ist keine geliebte Frau. Es ist Petrarca beziehungsweise dessen antithetischer Sprachgestus, der Pastiors eigene Gesten schmerzhaft bestimmt und in dieser Begrenzung zugleich unablässig herausfordert: Kein Grund zum Aufhören, kein Grund zum Weitermachen; das Schlimmste kommt noch, die Hoffnung dauert; ich behaupte zu brennen und nehme einen Gletscher wahr; wer sagt, daß man nicht anderswo sein könnte – aber ich bin hier; außerstande, etwas zu besitzen, umarme ich die Welt: Du bist die Klammer, die mich weder schützt noch bedroht, weder ein- noch ausschließt; darum ist auch mein Inbild von dir weder tödlich noch gesund – es braucht mich so wenig wie es mich losläßt; bald werden die Sinne ersetzt – womit hörst du, wenn ich keinen Mund habe?; im Begriff, nicht mehr zu sein, klammere ich mich an ihn; im Eigensinn „den ich hasse“ liebe ich „was ich nicht habe“ – am Widerspruch mich weidend, tun mir die Paare weh; Ja und Nein sind mir gleichermaßen verdächtig; so also steht und fällt es, Partner, um mich durch dich.18 Eine Verschmelzung mit dem Objekt der Sehnsucht ist hier ebenso wenig erwünscht wie dort, fiele damit doch der Grund zum Weitersprechen weg; und das von Petrarca vielfach formulierte Ungenügen an den eigenen Versen gerät Pastior zum Zweifel am Sinn seiner strategischen Annährung an den Canzoniere, von der er doch nicht lassen kann: „Das Schlimmste kommt noch, die Hoffnung dauert.“ Dass Pastiors Verse Petrarca-Gedichte sind, so wie Petrarcas Rime LauraGedichte, zeichnet sich schon im ersten Text des Bandes ab, der Petrarcas alliteratives Spiel mit dem Namen der nie explizit genannten Laura zunächst aufgreift, dann aber an die Leerstelle der nur in sprachlichen Umkreisungen verkörperten Geliebten Petrarca setzt: „Wenn um mir Luft zu machen ich den Laut bewege, der dich bei mir ‚wie eingefleischt‘ vertritt“.19 Verständlich werden Pastiors Gesten nur, wenn man sie als Figuren der aktiven Hingabe an Petrarcas fremdes Sprechen liest, ohne die das eigene gestaltlos bliebe: „Aber was wäre ‚im eigenen Namen‘ denn anderes als ‚im Hinblick auf dich‘?“20 Um Übersetzungen im eigentlichen Sinn geht es hier nicht, eher schon um eine Art widerstrebende, bisweilen rebellische Aneignung, in der immer neue Durchlässigkeiten und Abgrenzungen zwischen Petrarcas und Pastiors 18 19 20
Ebd., S. 11. Ebd., S. 7. Ebd., In der Aneignung der Rima CXXXIV verschiebt sich dann auch das Spiel mit dem ‚L‘ zum Petrarca und Pastior gemeinsamen ‚P‘: „am Widerspruch mich weidend, tun mir die Paare weh […] so also steht und fällt es, Partner, um mich durch dich.“
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Texten zum Vorschein kommen.21 Der Gedanke an eine Übersetzung wäre übrigens schon deshalb verfehlt, weil Pastior gar kein Italienisch sprach. Zwar war ihm durch das vertraute Rumänisch das Italienische nicht völlig fremd, aber doch fremd genug, um die Unternehmung abenteuerlich werden zu lassen; und wo sich im Verlauf der Arbeit Fremdes in Bekanntes aufzulösen drohte und Petrarcas Dichtung Zeichencharakter annahm – wo also im Grunde nichts mehr entgegenkam, weil es zunehmend schon da zu sein schien – hat Pastior Wörterbücher und Grammatiken konsequent dazu benutzt, seine Gewissheiten zu zerstreuen und den Wörtern und Konstruktionen ihre Vieldeutigkeit zurückzu verleihen. Die entgegenkommende Sprache Petrarcas war insbesondere auch deshalb gegen übereilte Verständnisversuche schützenswert, weil, wie er schreibt, „unter der Kuppel der fremden Sprache … ihre Eigengeräuschlichkeit überdeutlich wird“,22 also eine weitere leibhaftige Sprachschicht, an der es sich zu reiben lohnt.
4. Auch innerhalb ein und derselben Sprache gibt es Eigengeräuschlichkeiten,23 die in ihrer folgenreichen Verflechtung mit Syntax und Semantik eine Art gegenseitiges gestisches Differenzierungsgeschehen auslösen. Obwohl ein Gedichtband Pastiors speziell als Höricht betitelt ist, richten sie sich doch allesamt auch, wenn nicht sogar vornehmlich, an das Gehör.24 Dem „Unsinn, Text auf Musik 21
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Vgl. Pastior: Jalousien aufgemacht (wie Anm. 11), S. 23: „Es gibt […], streng genommen, kein Übersetzen. Nur Konfrontation, Begegnung mit der Grenze, die Illusion des Kennens und Lernens – und wie ich sprachlich reagiere“; Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 99: „Nur solange ‚meine Petrarca-Gedichte‘ unvergleichlich erscheinen, schenkt der Leser ihnen Glauben, oder nicht.“ Pastior/Petrarca: 33 Gedichte (wie Anm. 10), S. 78. Mit Bezug auf den Band Oskar Pastior: Lesungen mit Tinnitus: Gedichte 1980–85, München/Wien 1986, spricht Pastior vom Tinnitus als „eine[r] Art Metapher für das Eigengeräusch des Materials ohne das es nicht funktioniert; für die grundsätzliche Unreinheit von Sprache und Denken schlechthin.“ Pastior: Jalousien aufgemacht (wie Anm. 11), S. 179. „Eine materiale Auffassung von Sprache setzt immer auch auf Lautung. Selbst wenn sie die klanglich nicht auffälligen Dinge wie Relationen, Wertigkeiten von Absenzen, Syntagmatisches und Spielregeln (oder Verstöße gegen sie) ebenfalls durchaus zu den Materialien zählt. Die Haut (der Laut) ist mir dabei näher als das Hemd (die Letter)”, so Pastior in Michael Lentz: Interview mit Oskar Pastior, Salzburg, 13.6.1996, in: ders.: Lautpoesie/ -musik nach 1945. Eine kritisch-dokumentarische Bestandsaufnahme, Bd. 2, Wien 2000, S. 1089–1096, S. 1089. Zum Klanglichen bei Pastior s. insbesondere Ludwig Harig: Der Mensch mit dem geflügelten Ohr. Oskar Pastior und seine Hör-Poesie, in: Klaus Schöning (Hg.): Hörspielmacher. Autorenporträts und Essays, Königstein/Ts. 1983, S. 257–265; Klaus Ramm: Zehrt das Ohr vom Ohr das zehrt. Ein Radioessay über die verschlungene Akustik
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zu reduzieren“ misstraut Pastior allerdings ebenso wie dem „Unsinn, Text auf ein Sinnkonstrukt zu reduzieren“:25 Und die Musik des Textes ist eben nicht nur die physikalische Frequenz der Vokaltöne und Mitlautgeräusche oder die rhythmische Kaskade im Silbenfall – Sprachmusik kommt ja, und das ist ihre Stärke, vor allem aus dem Beziehungsgeflecht der Sprache selber, den Tentakeln der Grammatik, der Syntaxerfüllung (oder Nichterfüllung), der assoziativen Weiterführung (oder Streuung, oder Blockade), den logisch-alogischen Interferenzen – ein ganzes Gewimmel von Vorgängen und Nachdenklichkeiten, die „hinter“ der Akustik stattfinden, auch wenn sie über die akustisch vernehmbaren Sätze laufen. Man sollte also nicht zu leichtfertig unter Sprachmusik nur diese mimetisch-abziehbildchenhafte ‚Lautmalerei‘ verstehen.26 Bei dem Experiment, lautlich vollzogene Unterscheidungen semantisch und syntaktisch wirksam werden zu lassen, hat man es mit einem Hören durch Sprechen zu tun – mit einer doppelten gestischen Konturierung, die aus einer Art hochsensiblem gegenseitigem Nachlauschen entsteht und so die Eigenbewegungen beider Bereiche überzeichnet. Erleiden und Hervorbringen der Geste schließen einander nicht aus.27 Im Abschnitt Der Leib als Ausdruck und die Sprache bemerkt Merleau-Ponty, dass „dem geglückten Ausdruck die Bedeutung ein Dasein im Text gleich dem eines Dinges, ein Leben im Organismus der Worte verdankt, daß sie dadurch dem Schriftsteller und dem Leser gleichwie ein neues Sinnesorgan zuwächst und so durch den Ausdruck sich uns ein neues Erfahrungsfeld, eine neue Erfahrungsdimension eröffnet.“28
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in der Poesie Oskar Pastiors, in: Jörg Drews (Hg.): Vergangene Gegenwart – Gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960–1994, Bielefeld 1994, S. 73–96. Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 76. Stefan Sienerth: Interview mit Oskar Pastior: „Meine Bockigkeit, mich skrupulös als Sprache zu verhalten“, in: ders.: „Daß ich in diesen Raum hineingeboren wurde...“. Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa, München 1997, S. 199–216, S. 216. Während einer Probe zur Freischütz-Ouvertüre mit dem Südfunk-Sinfonieorchester bat Carlos Kleiber die Musiker, bei den ersten Tönen nicht selbst mit dem Spielen zu beginnen, sondern die anderen anfangen zu lassen. Diese nur vordergründig widersinnige Anweisung hatte nicht etwa eine endlose Generalpause zur Folge, sondern vielmehr ein empfindliches Aufeinander-Hören, aus dem allmählich ein tastend-wartender Klang hervorging; Carlos Kleiber. Probe und Aufführung (2008, Naxos). Ausführlich zu Kleiber s. den Beitrag von Ulrich Mosch in diesem Band. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (wie Anm. 1), S. 216. Pastior spricht vom „Wort als Ohr der Kognition“. Pastior: „Jetzt kann man schreiben was man will“ (wie Anm. 9), S. 339.
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In einem seiner bekanntesten Lautgedichte, Testament auf jeden Fall, greift Pastior zurück auf sein allererstes Gedicht. Es besteht aus vier Wörtern – „Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht“ – und veranschaulicht laut einer autobiographischen Notiz „den siebenbürgischen Sommernachmittag eines Kindes in Hinsicht auf die Nichtverlässlichkeit geschlossener Räume“.29 Analog zum Öffnen und Schließen der Jalousien geht es um Gegensatzbildung im Kleinsten, Mittleren und Großen. Hierdurch wird ein Faltungs- und Entfaltungsprozess in Gang gesetzt, die der Prädikator ‚Jalousie‘ solange (verborgen) in sich trägt, bis er ihn, durch Sprachbewegung, auch sichtbar zur Schau trägt: Testament – auf jeden Fall Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht. Jaluzien aufgerauft, Zuluzien raufgezut. Luluzien zugemault, Zulustoßen zugemault. Maulusinen angenehm, Aulusinen zugenehm. Zufaliden aftamat, Infaliden aftamat. Afluminion zugesaut, Aluflorion zugebart. Marmelodien zusalat, Marmeloiden busalat. Aufgemalt o aufgemalt, zugedaut o zugeduzt. Duzentrum o Lepenslau, Hufenbruzen Openbrekt. Primolimes Heiferzocht, Benelalia Zuverzum. Ma mu, Amarilles off off. Bulamanium Absalom, Albumenium Zusalon. Nostradamul Hanomag, Lanatolior Gartemslauch. Futusilior Abfallgeist, Mutunalia Pirrenholst. Zephaluden Enziaul, Zephaleden Ychtiol. Nebelnieren Löwentran, V-Scharnieren Besenraum. Ebeltüren C-Streusalz, Aventuiren Abstrahldom. Stalagmisda Oberom, Virostrato Luftballon. Jalopeten angemacht, Sulalaika Kukumatz. Mulu aufu, mulu zuzu, zuzu muz. Monte Ma o Monte Zu.30
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Pastior: Jalousien aufgemacht (wie Anm. 11), S. 215. Ebd., S. 215f.
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Es sind die interferierenden, sich überlagernden und durchkreuzenden Lautund Bedeutungsbewegungen, die momentan und überraschend ihre jalousienhaften Konturen aufblitzen lassen. Man erlebt ein Überspringen von klanglichen auf gedankliche Assoziationen, ein atemloses Vorwärtsdrängen, erstauntes Nachfolgen oder sich Verfangen in Wiederholungen, ein anschließendes Wiederaufnehmen eines akustischen Fadens, semantische Auffächerungen, die wenig später in Assonanzen zersplittern – wodurch die Sprache letztlich sich selbst abzutasten beginnt und die Bemerkung über die Unzuverlässigkeit geschlossener Räume eine ganz andere Dimension gewinnt.31 Die Erfahrung einer so unermüdlichen Durchführung lässt sich schwerlich subsumierend aussagen, und selbst ein vermeintlich metapoetisches Sprechen, wie etwa in den Gedichtgedichten, ist ein nur vordergründiges „Sprechen über“, das seinen Vollzug gleichermaßen vorführt und verlangt. in der ersten zeile steht ein A und noch ein A es sind die beiden A der ersten zeile in der zweiten zeile steht ein A und noch ein A es sind die beiden A der ersten zeile aber untereinander vertauscht in der dritten zeile steht ein A und noch ein A es sind nicht mehr die beiden A der ersten zeile sondern die beiden A der vierten zeile allerdings untereinander vertauscht das kommt in der vierten zeile zum vorschein wo ein A steht und noch ein A also die beiden A der vierten zeile allerdings untereinander nicht vertauscht das gedicht kann horizontal und vertikal gelesen werden wodurch die wirkung frappant gesteigert wird bitte nachzeichnen.32 Der abschließenden Bitte durch die Anordnung von je zwei ‚A‘ in vier Zeilen Folge leisten zu wollen, ohne auch den bewegten Hergang ihrer Vertauschungen zu veranschaulichen, würde sie zweifellos unerfüllt lassen. Das bloße Vorführen des Formschemas „A A“ bleibt ebenso leer, wie eine zwar behauptete, aber nicht sinnfällig gemachte Interpretation der internen Beziehungen der Formelemente fragwürdig ist. Um die abenteuerliche horizontale und vertikale Dynamik wirksam werden zu lassen, müssten das abstrakte Schema und seine leibhaftige Verwirklichung sich zeichnerisch in einer Weise durchdringen, die das zeitlose Modell zugleich mit seiner einzigartigen Genese zu erfassen erlaubt.
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Von Pastior selbst gelesen nachzuhören auf: Oskar Pastior. Die Letzte Lesart (2007, Hörbuch Verlag). Oskar Pastior: Gedichtgedichte, München 1976, S. 10; ebenfalls von Pastior vorgetragen zu hören auf: oskar pastior. die Letzte Lesart (wie Anm. 31).
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5. Die Aufforderung zum Nachzeichnen in Form eines Nachvollzugs, der von Mimesis nichts wissen will, ist unter anderem wörtlich zu nehmen. Pastior selbst ist ihr vielfach in Zeichnungen nachgekommen, die sich als durchgeführte Artikulationen seiner Denkmodelle in einem anderen Medium verstehen lassen – zeichnerische Kenntnisnahmen der eigenen Verfahren, die, einmal begonnen, ebenso wie die sprachlichen Kenntnisnahmen zur Verselbständigung neigen.33 Eine der bemerkenswertesten zeichnerischen Kenntnisnahmen findet sich, unter zahlreichen anderen, in dem kleinen Band „sestinenformulate“. monadengraphiken und minisestinen.34 Umgetrieben wurde Pastior in diesem Projekt von den transformatorischen Entfaltungsmöglichkeiten, die sich in den Handlungsanweisungen für das Verfassen von Sestinen verbergen. Die Herstellungsregel für eine Sestine, eine ursprünglich provenzalische Gedichtform aus sechs Strophen zu je sechs Zeilen und einer dreizeiligen Coda, besteht in der fortgesetzten Vertauschung der Endwörter der sechs Zeilen der ersten Strophe in den nachfolgenden: Aus 1-2-3-4-5-6 wird 6-1-5-2-4-3 wird 3-6-4-1-2-5…, bis nach sechs Durchläufen in der Coda die Endwörter, jeweils in der Mitte und am Ende der Zeile, wieder in der Ausgangsreihenfolge aufgegriffen werden. Das fortlaufende Durchspielen von Endwörterkombinationen schafft ein vielfältiges internes Echo in immer neuen Brechungen, wodurch der präsentierte Gedanke unermüdlich vertieft und gleichzeitig ins Unendliche fortgesponnen und fortspinnbar erscheint. Dies ist ein auf den ersten Blick schlichtes, beim Versuch seiner graphischen Aneignung aber zur Verzweiflung treibendes generatives Prinzip, ein Denkmodell mit unabsehbaren Folgen, das zunehmend nach der dritten und vierten Dimension zu verlangen scheint (Bild 1). Die Zeichnung trägt den Schriftzug Mit der Zeit von Laokoon lernen – ein Bezug sowohl auf das Leiden an der Sestine als auch auf die von Lessing vorgenommene Unterscheidung zwischen Poesie und bildenden Künsten, d.h. die scharfe Trennung der Dichtung, die aufeinander Folgendes in seiner ganzen Vielfalt zeigt, von Malerei und Skulptur, die nebeneinander Existierendes in einem einzigen Augenblick darstellen. Die vierte Dimension wird im Titel zwar ausdrücklich genannt, muss in der Betrachtung der bildlichen Darstellung aber erst geduldig investiert werden. Um das lose verknotete Gebilde – das durch die gestrichelten Linien so plastisch greifbar wirkt, dass es eine Berührung geradezu herausfordert – zu verstehen, muss man es leibhaftig erfassen. Was beim 33
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Vgl. Sienerth: Interview mit Oskar Pastior (wie Anm. 26), S. 208: „Wenn ich hin und wieder zeichne, bin ich neugierig, was für eine Aufgabe ‚dieser Stift da‘ löst, indem er sie stellt.“ Oskar Pastior: „sestinenformulate“. monadengraphiken und minisestinen, Paris 2003 (La Bibliothèque Oulipienne numéro 126).
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Bild 1 Oskar Pastior: „sestinenformulate“: Mit der Zeit von Laokoon lernen.
bloßen Hinsehen verborgen bleibt, enthüllt sich, sobald man die Schlingen des Knäuels kontinuierlich mit dem Finger verfolgt: Um einen in Form einer liegenden Acht gedrehten Strang ohne Anfang und Ende windet sich ein weiterer, dessen freundlich dargebotene Enden zu Unrecht glauben machen, dass ein leichter Zug daran genügen würde, um das ganze Gefüge weich in ein einziges Band auseinander fallen zu lassen.35 Wir haben es mit einer im Grunde unmöglichen Figur zu tun, in der zeitloser Augenblick und zeitlicher Vorgang einander durchschleifen und weder in ein augenblicklich klares Nebeneinander zu bringen sind, noch allein mit dem den Windungen folgenden Finger erschlossen werden können.36 Bei dem Versuch, die Beziehungen zwischen einem zu Grunde liegenden Schema und seiner Verwirklichung selbst gestisch anschaulich zu machen, gerät man unweigerlich in ein Dilemma zwischen Wissen und Tun. Der so unwiederholbare wie ewige Gegenstand wird nur im unterschiedenen Miteinander von durchlaufener Bewegung und Vergegenwärtigung des Modells gewonnen, im Auffinden der grenz-
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S. hierzu auch den Essay von Ann Cotten: Zum Stillschweigen, Brüllen und Formulieren, mit einer Bemerkung über die Möbiusschleife, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Oskar Pastior. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur 186/IV, 10 (2010), S. 59–64. Dies gilt auch für die durchgeführte Sestine: „Denn durch den anamorphotischen Innen-Außen-Spiegel betrachtet, etwa einer Möbiusschleife, wäre sie [d.h. die Sestine] ja die Zeitlupe „in effigie“ (also auf zeitenthobenem Papier) bzw. der Raumraffer im Prozeß – Ding und Unding in einem.“ Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 86f.
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bildenden Kontur, die abhanden kommt, solange man sich nur auf den motorischen Vorgang oder den schematisierenden (Rück-)Blick verlässt. Wie die zeichnerische ist auch die Kenntnisnahme durch Sprache – ob diese nun als Deutsch, Italienisch, Sestine,37 Sonett, Anagramm oder Palindrom auftritt – eine gegenseitige, d.h. die Kenntnisnahme eines Modells im leibhaftigen Vollzug und umgekehrt. Der einmalige Sprechakt ist die unableitbare Verwirklichung eines Schemas, das ihn sowohl ermöglicht als auch aus ihm hervorgeht. Es ist die ursprüngliche Geste, die der kontinuierlichen Bewegung Form gibt und das sprachliche Modell bewegt.38
6. Das plötzliche Innehalten, die rückblickend potentiell zum Zeichen gerinnende Geste samt dem dadurch entstehenden Spalt inmitten eines kontinuierlichen Vorgangs, hat immer auch etwas Gespenstisches – und ist doch notwendig, um zeitliche Verläufe überhaupt artikulieren zu können. In den Tanztraktaten der Renaissance wurden solche Einschnitte durch eine ebenfalls gespenstische Metapher fasslich zu machen versucht, nämlich durch die Vorstellung von fantasmata,39 wellenartig fließenden Schatten in schwer greifbarer Bewegung, die in gewissen Momenten durch die Vorstellung wirkmächtiger Bilder plötzlich todesähnlich einfrieren und sogleich wieder in einen lebendigen Schwung überführt werden. So sollte der Tänzer in der Bassa Danza zwischen einer langsamen ausgreifenden und einer anschließenden schnelleren und kürzeren Bewegung für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick erstarren, als habe er geradewegs die Medusa erblickt – um unmittelbar darauf, dem Aufflug eines hungrigen Falken gleich, zu neuer Lebendigkeit zu finden. Was durch den imaginierten Anblick des Medusenhauptes entstand, war eine im Moment versteinerte Geste, konturiert durch die haarfeine Zäsur, die einen Schritt und den nächsten, Langsam und Schnell, Schwer und Leicht voneinander trennt und die so hergestellten lokalen Polaritäten als zwei auf einander bezogene Momente eines individuell gegliederten Vorgangs ersichtlich werden lässt. 37
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Ebd., S. 86: „Linguistisch besehen aber wäre die Sestine […] natürlich bloß eine unter vielen Sprachen […] eigenwilliger vielleicht, so hoffe ich, als andere Sprachen, deren es noch und noch gibt.“ Vgl. Pastior: Das Unding an sich (wie Anm. 8), S. 102: „Sprachen sind eben nicht nur bewegliche Normen, sondern auch die normenbewegenden Texte; und ein Text lebt, weil er, singulär, Normen nicht gerecht wird und das auch weiß (wer sonst?).“ S. Fifteenth-Century Dance and Music. Twelve Transcribed Italian Treatises and Collections in the Tradition of Domenico da Piacenza, vol. 1: Treatises and Music, Translated and Annotated by A. William Smith, Hillsdale, NY 1995, S. 12, S. 88; s.a. Jennifer Neville, The Eloquent Body. Dance and Humanist Cultur in FifteenthCentury Italy, Bloomington 2004, S. 70 u. 86f.
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In der Aufzeichung von Carlos Kleibers Proben zur Freischütz-Ouvertüre bemerkt man erstaunt, dass fantasmata auch noch im 20. Jahrhundert durch die musikalische Praxis geistern: „Glauben sie an Geister?“, fragt Kleiber die Musiker. Gemischte Reaktionen aus dem Orchester lassen annehmen, dass nicht alle gleichermaßen empfänglich für übernatürliche Erscheinungen sind. „Egal“, lautet die Antwort, „für die Dauer dieser Ouvertüre: Glauben sie an Geister!“ 40 Ob die Musiker nun selbst als Geister agieren oder sich von ihnen umgeben fühlen sollen, ist hier nicht zentral. Zu fragen wäre eher, ob die Geister, von denen Kleiber spricht, überhaupt noch eine gestisch gliedernde Kraft im Sinne einer ursprünglichen Erfahrung besitzen, oder ob sie längst selbst zum Zeichen geworden sind, indem wir etwa vor dem Hintergrund des romantischen Reigens seliger Geister recht genau wissen, was wir uns darunter vorzustellen haben. Oder inwiefern man es beim die musikalische Bewegung artikulierenden Schlag des Dirigenten nicht nur mit einer zeichenhaften Wiederkehr des Gleichen zu tun hat, sondern auch mit Gesten, die zunehmend zum bestürzend Unvergleichlichen werden und sich selbst mehr und mehr in Bewegung auflösen, wenn man „das Brennglas auf das Aufhören im Wort [oder Schlag] hält“ und der „Staub, den es wirbelt […] unerfahren zurückfließt.“41
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Carlos Kleiber. Probe und Aufführung (wie Anm. 27). Pastior: Höricht (wie Anm. 9), S. 106.
V I . B i l da k t e
Elisabeth Oy-Marra
VOR SIC H T! A M OR S C H I E S S T AU F D E N BE T R AC H T E R Guercinos Mars und Venus als handelndes Bild
Kaum einer hat mögliche Konsequenzen der Bildbetrachtung so eindringlich geschildert wie Giambattista Marino in dem Gedicht Statua di Bella Donna, in dem die Wirkung einer Porträtskulptur einer schönen Frau beschrieben wird: La figura ritratta Medusa mi rassembra. La scultura si è fatta. Ch’altrui cangia le membra. Già già sento cangiarmi a poco a poco Di fuor tutto in macigno, e dentro in foco. […] E sì di senso lo stupor mi priva, Ch’io son quasi la statua, ella par viva.1 Der in diesen Zeilen als Austausch von Bild und Betrachter beschriebene Vorgang der Bildbetrachtung setzt das Bild, von dem ein Verwandlungsprozess ausgeht, als ein „auf Augenhöhe“ handelndes. Der Betrachter ist nach dem eindringlichen Anblick des schönen Bildnisses nicht mehr der gleiche, sondern bleibt in seinem Erstaunen starr und regungslos, während das Bild stattdessen zum Leben erwacht. Gleich zu Beginn bindet Marino den von ihm beschworenen reziproken Prozess der Bildbetrachtung an den Blick der Medusa zurück, der der Mythologie
1
Giambattista Marino: La Galeria [1619], hg. v. Marzio Pieri/Alessandra Ruffino, Trento 2005, S. 405; Giambattista Marino: La Galeria, zweisprachige Auswahl (Italienisch–Deutsch), übers. v. Christiane Kruse/Rainer Stillers, Mainz 2009, S. 348f.: „Das Porträt scheint mir Medusa zu sein. / Die Skulptur ist so gemacht, / dass sie anderen die Glieder verwandelt. / Schon fühle ich nach und nach mich wandeln, / außen ganz in einen Felsblock und innen in Feuer. […] /Und so sehr raubt mir die Statue die Sinne, / dass ich beinahe die Statue bin und sie lebendig scheint“; vgl. a. Elizabeth Cropper: The Petrifying Art. Marino’s Poetry and Caravaggio, in: Metropolitan Museum Journal 26 (1991), S. 193–212.
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zufolge all jene, die von ihm getroffen wurden, in Stein verwandelte. In Marinos Gedicht geht die Verwandlung des Angeblickten jedoch nicht von der Medusa aus, sondern von dem Porträt einer Frau. Es ist hier nicht das von Leonardo und Caravaggio gemalte furchteinflößende Antlitz der Gorgo, sondern im Gegenteil der Blick einer Schönheit, der eine vergleichbare Wirkung entfaltet. Der Medusenblick und insbesondere dessen Beschreibung von Marino spielt auch heute noch für bildtheoretische Fragen, so zum Beispiel in Horst Bredekamps Theorie des Bildakts, eine große Rolle.2 Tatsächlich lässt sich gerade an diesem wie eine Waffe wirkenden Blick eine besondere, auf den Betrachter zielende Wirkung konstatieren, die seinen Blick auf das Bild zu verwandeln versteht: Anstatt das Bild durch seinen Blick zu beherrschen, ist es der Blick aus dem Bild, der Macht über den Betrachter gewinnt. Der von Bredekamp anhand des reziproken Blicks entwickelte intrinsische Bildakt markiert daher eine der Formen des handelnden Bildes. Ob und wie uns ein Bild ansieht, ist jedoch nicht allein an den Blick aus dem Bild gebunden. Georges Didi-Huberman hat die Frage, wann wir uns von einem Bild oder Objekt angesehen fühlen, auch an Beispielen aufzeigen können, die keine Repräsentationen von etwas darstellen. Der Akt des Sehens ist ihm zufolge nicht die „Tätigkeit einer Wahrnehmungsmaschine, der die Wirklichkeit als aus tautologischen Evidenzen zusammengesetzt erscheint. Der Akt des Zu-sehen-Gebens besteht nicht darin, Augenpaaren sichtbare Evidenzen zu geben, damit sie sich der ‚visuellen Gabe‘ einseitig bemächtigen, um damit einseitig Befriedigung zu erlangen.“3 Der Akt des Zu-sehen-Gebens muss stattdessen das Subjekt beunruhigen können.4 Dies kann genauso gut durch Dinge des täglichen Lebens geschehen, auch wenn die Kunst hierbei eine Sonderstellung einnimmt. Bilder der Kunst seien nämlich in der Lage, so die These DidiHubermans, die psychischen Bedingungen einer Beunruhigung des Sehens präsentieren zu können.5 Die Beunruhigung des Sehens im Sinne Didi-Hubermans gehört zu den Voraussetzungen für das handelnde Bild. Der Medusenblick
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Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 233–306, S. 236. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S. 61f. Didi-Huberman betont, dass das „Sehen stets eine Operation eines Subjekts [ist], also eine gespaltene, unruhige, bewegte, offene Operation“. Ebd., S. 62. Die Frage, wann und warum sich der Betrachter von einem Bild oder von einem Objekt angeblickt sieht, denkt er dialektisch als ein Spiel mit den das Subjekt umgebenden Dingen, ihrer Präsenz und Absenz. Es sind vor allem die minimalistischen Kuben von Tony Smith, anhand derer er die verstörende, das Sehen in Unruhe versetzende Macht aufzeigt; s. ebd., S. 63–101. Ebd., S. 81.
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VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER
Bild 1 Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Mars, Venus und Amor, 1633, Öl auf Holz, 139 × 161 cm, Modena, Galleria d’Este.
gehört sicherlich zu den wirkmächtigsten Möglichkeiten, einen frühneuzeitlichen Betrachter verstören zu können.
1. Der b egeh rl ic he Bl ic k des Be t rac hter s Im Folgenden möchte ich ein wenig diskutiertes Gemälde des Malers Francesco Barbieri (1591–1666), Mars und Venus, in die Diskussion einbringen, welches das handelnde Bild geradezu wörtlich in Szene zu setzen scheint (Bild 1).6 Die Bildhandlung ist gleichsam auf den Betrachter bezogen, ohne dass dies jedoch allein durch Blicke geschieht. Vielmehr sind es die Gesten, die sich an den Betrachter wenden, so als könne er Gegenstand der Bildhandlung werden. Wenn Guercinos Gemälde auch nicht als „kritisches Bild“ im Sinne Walter Benjamins diskutiert werden kann, so nimmt es doch ohne Weiteres den Stellenwert einer
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Zum Gemälde vgl. Ausst. Kat.: Giovanni Francesco Barbieri. Il Guercino 1591–1666, hg. v. Denis Mahon, Bologna 1991, Nr. 77, S. 212–214.
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Bild 2 Jacopo Tintoretto: Vulkan überrascht Venus und Mars, um 1555, Öl auf Leinwand, 135 × 198 cm, München, Alte Pinakothek.
gemalten Kunsttheorie ein,7 von der aus die These, es handele sich um ein aktives Bild, einen Aktanten im Sinne Bruno Latours im Hinblick auf seinen Betrachter, erst aufgezeigt werden kann. Dargestellt ist eine mythologische Szene, wie sie sehr häufig gemalt wurde: An den drei Protagonisten der Handlung, Mars, Venus und ihrem Sohn, dem Amorknaben, lässt sich erkennen, dass die Szene vom illegitimen Liebesverhältnis zwischen Venus und ihrem Liebhaber Mars handelt. Anstatt nun aber das Liebesverhältnis in Szene zu setzen, wie dies etwa Tintoretto mit viel Humor getan hatte (Bild 2), wird die Erwartung des Betrachters abrupt verunsichert. Angezogen von der Schönheit der nur dürftig mit einem Tuch bedeckten Göttin, die auf dem dicht an den Bildrand herangerückten Bettlager sitzt, scheint der Betrachter Venus tatsächlich für sich interessiert zu haben, denn diese wendet sich ihm verhalten zu, ohne ihn jedoch anzublicken, während sie von ihrem empörten Liebhaber, der im Hintergrund herrisch den schweren Samtvorhang vorgezogen hat, keine Notiz nimmt. Noch überraschender ist jedoch das Verhalten des kleinen Amorknaben, der – dem blinden Amor spottend – es ganz und gar auf den Betrachter abgesehen hat. Sein Pfeil ist tatsächlich allen Grenzen des 7
Zum Begriff des kritischen Bildes vgl. Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an (wie Anm. 3), S. 159–190.
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VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER
Bild 3 Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Venus, Mars, Cupido und der Vater Zeit, um 1624/26, Öl auf Leinwand, 127 × 175 cm, Altrincham, National Trust.
Bildes zum Trotz genau auf ihn gerichtet. Er zielt so direkt und unverwandt auf ihn, dass man vor dem Bild nur in Deckung gehen kann, will man nicht von diesem verhängnisvollen Pfeil getroffen werden. Dabei folgt er den Weisungen seiner Mutter, die ebenso unverhohlen mit ihrem rechten Zeigefinger aus dem Bild weist. So unmissverständlich Zeigefinger und Pfeil auch aus dem Bild herausweisen, werden die Gesten doch gemildert, weil die Blicke der Göttin und ihres Sohnes unbestimmt bleiben. Sie treffen sich nicht mit dem des Betrachters, sondern schauen diesen scheinbar aus höheren Gefilden an, ohne eine Konfrontation mit dem Ziel ihres Handelns anzustreben. Dass es Venus ist, die ihrem Sohn befiehlt, wird nicht nur durch ihren Zeigegestus deutlich. Vielmehr stützt sie sich mit ihrer linken Hand auf dem Köcher mit den Pfeilen ab und macht so abermals deutlich, dass nicht ihr Sohn, sondern sie selbst Herrin über diese Geschosse und damit die Auftraggeberin des Knaben ist. Damit weicht der Maler in zweifacher Hinsicht von der kodifizierten Ikonographie von Mars und Venus ab: Nicht nur ist im Bild nun der Liebhaber der Göttin, Mars, mit der Untreue seiner Geliebten konfrontiert, die er – nicht anders als sein Rivale, der ewig betrogene Ehemann Vulkan – durch das beherzte Lüften des Vorhangs beim Versuch überrascht, mithilfe ihres Sohnes einen neuen Liebhaber zu finden. Auch nimmt Guercino durch den Verzicht auf die Augenbinde Amors Abstand von der humanistischen Interpretation, die den „blinden“ Amor, der eben nicht auf
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bestimmte Personen mit seinem Liebespfeil zielt, sondern blind und damit zufällige Opfer findet, zum Gegenstand hatte.8 Mit diesen deutlichen Abweichungen erweist Guercino sich als einer jener Maler, der sich in der Nachfolge Caravaggios nicht mehr sklavisch an die ikonographische Tradition hält, sondern mit seinem Gemälde interpretierend eingreift, indem er mythologisch-ikonographische Diskurse im Bild weiterdenkt. Ähnliches hatte der Maler bereits zehn Jahre zuvor getan, als er Venus, Mars und den Vater Zeit darstellte und zwischen ihnen den Amorknaben, den Venus mit dem gleichen aus Eisen geschmiedeten Netz bedeckt, mit dem Vulkan sie und ihren Liebhaber einst während des Liebesaktes gefangen genommen hatte (Bild 3).9 Die dabei entstehende Ambiguität gehört zu einem neuen Bildverständnis, das seinen Betrachter mit einer poetischen Auffassung konfrontiert und dabei von einer wörtlichen Textinterpretation abweicht.10 Zudem spielt diese ungewöhnliche Darstellung von Mars und Venus zum einen mit der auf Täuschung angelegten Bildstrategie, die durch Verwischung der Grenzen zwischen Bild und Betrachter diesen bewusst zu verunsichern versucht. Zum anderen haben wir es hier mit einer Form der Reziprozität zu tun, die nicht vom Blick aus dem Bild ausgeht. Dennoch scheinen die Protagonisten des Bildes auf den von ihnen selbst provozierten Blick des Betrachters zu reagieren. Der aus dem Bild gerichtete Pfeil kann durchaus als Reaktion eines interessengeleiteten Sehens gedeutet werden, das von der Schönheit des weitgehend nackt sich darbietenden Körpers der Venus hervorgerufen wird. Doch wäre sie keine Göttin, wenn sie sich voyeuristischen Blicken aussetzen ließe. Dies ist sicher einer der Gründe, warum der Maler die Gefahr inszeniert, die von derlei Ansinnen ausgeht. Es ist nicht ihr Blick, den der Betrachter spürt, und den sie, die in höheren Gefilden Weilende, eben nicht direkt auf ihn richtet, sondern ihr Fingerzeig und der ihm folgende Pfeil Amors, der auf die Präsenz des Betrachters vor dem Bild reagiert und dessen vermeintliche Neutralität demaskiert. Zudem deckt der auf ihn gerichtete Pfeil das Begehren auf, mit dem sich der Betrachter dem Bild nähert, und verweist auf die Gefahr, die mit seinem Blick auf die Göttin verbunden ist. Tatsächlich scheint der Bildbetrachter seine im Blick auf das Bild ausgeübte Souveränität in dem Maße zu verlieren, in dem er den Reizen der
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Zum humanistischen Verständnis des blinden Amors vgl. Erwin Panofsky: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, übers. v. Dieter Schwarz, Köln 1980, S. 153–202, (Erwin Panofsky: Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance [1939], New York u.a. 1962). Ausst. Kat.: Giovanni Francesco Barbieri (wie Anm. 6), S. 182ff. Vgl. Lorenzo Pericolo: Caravaggio and Pictorial Narrative. Dislocating the Istoria in Early Modern Painting, London u.a. 2011; Valeska von Rosen: Einleitende Überlegungen, in: dies. (Hg.): Erosionen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den bildenden Künsten, Dichtung und Musik, Wiesbaden 2012, S. 1–28.
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VORSICHT! AMOR SCHIESST AUF DEN BETRACHTER
Bild 4 Annibale Carracci: Schlafende Venus, 1602, Öl auf Leinwand, 190 × 328 cm, Chantilly, Musée Condé.
Venus erliegt. Doch nicht nur die Gefahr, von Venus selbst „beherrscht“ zu werden, droht dem allzu ergebenen Betrachter. Dass seine Liebe nicht gut für ihn ausginge, macht auch die Erscheinung des Mars im Hintergrund deutlich. Dieser versucht ja gerade durch seine herrische Haltung, Venus für sich zurück zu gewinnen. Der in seiner blank polierten Rüstung und dem bestimmt auf dem Bett aufgestützten Kommandostab dargestellte Kriegsgott wird – soviel scheint klar – jeden Konkurrenten einschüchtern. Zugleich enttarnt er alle begehrlichen Blicke, indem sie von seiner blanken Rüstung geradezu zurückgeworfen werden. Die dunklen im Hintergrund aufziehenden Wolken tun ihr übriges, um die Bewegung der nackten und scheinbar schutzlosen, sich aus dem Bild wendenden Göttin als Unheilvolle zu entlarven. Indem das Bild die Blicke herausfordert und zugleich darauf antwortet, wird der Betrachter Teil eines performativen Prozesses der Wahrnehmung. Dieser geht vom Bild aus, das sich nicht als passiv in Besitz genommenes Ding seinen Wünschen fügt, sondern im Gegenteil aktiv daran beteiligt ist, geheime Wünsche nicht nur zu provozieren, sondern auch ihre Gefahren erfahrbar zu machen; eine Erfahrung zu vermitteln, die auch als Selbstvergewisserung durch den Dialog mit dem Bild bezeichnet werden kann. Dass im Bild dargestellte Figuren als handelnde begriffen werden konnten, lässt sich beispielhaft an einer dem Maler bekannten Bildbeschreibung Giovan Battista Agucchis über das Gemälde der Schlafenden Venus von Annibale Carracci zeigen, die die Wohlgefälligkeit und Ambivalenz des erotischen Blicks und die in den Putten zum Ausdruck gebrachten vielfältigen Formen der
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Liebe thematisiert (Bild 4).11 Zwar sei die Göttin schon immer von allen bewundert worden, doch habe sie darüber hinaus begehrt, dass – während sie schlief – ihre Schönheiten mit Bewunderung betrachtet würden: „sue bellezze con ammirazion contemplate“.12 Mit diesen Worten begründet der Autor seine Beschreibung der im Schlaf ihre Reize darbietenden Göttin und – mehr noch – er glaubt, sie habe sich nur deswegen zum Schlafen gelegt, damit ein ausgezeichneter Maler sie porträtieren möge: „in tal guisa si accomodò, presaga di dover una volta essere in quella ritratta da un eccellente pittore“.13 Bereits nach der ersten Andeutung ihrer wunderschönen Körperteile bemerkt Agucchi, wie sehr das Verlangen gesteigert werde, wenn den begehrlichen Augen der Blick verwehrt wird.14 So ist es nur folgerichtig, wenn Agucchi konstatiert, dass das vom Bild provozierte Begehren sich nicht im Sehen erschöpft, sondern auch das Berührenwollen mit einschließt. So beschreibt er denn auch, dass – nähere sich der Betrachter schließlich dem Gemälde – dieser sich kaum zurückhalten könne, die Göttin und ihre Putten nicht doch mit der Hand zu fühlen: „di non istendere la mano su le figure“,15 um ihre Weichheit und das Relief zu überprüfen. Doch er warnt ihn zugleich, nicht ganz und gar in das Bild einzutreten, denn er würde dann nicht nur die Schönheiten der Göttin betrachten wollen, sondern könne sich sicher nicht zurückhalten, ihr Lager heimzusuchen: „non che ad avviccinarti al letto per ammirarle, ma quasi quasi a salirvi sopra“.16 Dies aber, so ist sich der Autor sicher, würde den Zorn und die Rache der Göttin provozieren.17 Mit diesem Spiel der Betrachtung der schlafenden Göttin, deren Schlaf er zur Bedingung seiner 11
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Giovan Battista Agucchi: Descrizione della Venere dormiente di Annibale Carracci, erstmals abgedruckt in: Carlo Cesare Malvasia: Felsina pittrice. Vite de’ pittori bolognesi, Bologna 1678, S. 360–367. Für eine ausführlich kommentierte Übersetzung vgl. Anne Summerscale: Malvasia’s Life of the Carracci. Commentary and Translation, University Park, PA 2000, S. 334–355; zur Beschreibung vgl. Julian Kliemann: Bellori verwendet Agucchi. Ein Vergleich ihrer Beschreibungen der Schlafenden Venus von Annibale Carracci, in: Elisabeth Oy-Marra/Marieke von Bernstorff/Henry Keazor (Hg.): Begrifflichkeit, Konzepte, Definitionen. Schreiben über Kunst und ihre Medien in Giovan Pietro Belloris Viten und der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2014, S. 215–256. Kliemann: Bellori verwendet Agucchi (wie Anm. 11), S. 243: „ihre Schönheiten mit Bewunderung betrachtet“. Ebd.: „auf diese Weise machte sie es sich bequem, so als ob sie sich darüber bewusst gewesen wäre, einmal von einem berühmten Maler porträtiert zu werden.“ Ebd.: „quanto la vista ne toglie a gli occhi cupidi di mirar troppo oltre, tanto ne accreschi il disio“ („in dem Maße, in dem den gierigen Augen eine Schranke ge setzt wird, nicht darüber hinaus zu schauen, wächst das Begehren“). Ebd.: „nicht die Hand nach den Figuren auszustrecken“. Ebd.: „nicht nur sich ihrem Lager zu nähern, sondern es heimzusuchen“. Mit „salirvi“, was soviel wie hinaufsteigen, besteigen bedeutet, wird zudem auf die Phantasie des Geschlechtsakts mit der Göttin angespielt. Ebd., S. 252f.
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Betrachtung erhebt, steht Agucchi nicht nur in der petrarkistischen Tradition der Beschreibung schöner Frauen,18 sondern ruft auch den Topos des schlafenden Amor auf, dessen Reiz ebenfalls darin bestand, nicht zu wissen, ob der Betrachter durch sein Hinzutreten den Schlaf des göttlichen Knaben stören könne samt der damit verbundenen Ungewissheit über die Folgen seines Erwachens.19 Insofern lässt sich Guercinos Mars und Venus-Gemälde auch als Kommentar zur berühmten Beschreibung von Annibales Schlafender Venus lesen, die Guercino sicherlich während seines Rom-Aufenthaltes in den Jahren 1621–23 im Palazzo Farnese bewundert haben wird und deren Beschreibung er mit großer Wahrscheinlichkeit kannte.20 Tatsächlich ist auch Guercinos Venus auf einem Bett dargestellt, von dem sie sich jedoch gerade aufgerichtet hat. Daher gibt sich seine Venus gerade nicht den Blicken der Betrachter hin, sondern verhält sich ihnen gegenüber als Wählende und Handelnde, ohne jedoch ihren Blick auch tatsächlich zu suchen. Ähnlich wie im Fall der Schlafenden Venus von Annibale Carracci, die der Maler für Odorado Farnese schuf, lässt sich der Betrachter von Guercinos Mars und Venus genau benennen. Es handelt sich um keinen geringeren als den Herzog von Modena, Francesco d’Este I.21 Vermittelt durch den mit seiner Sammlung beauftragten Cesare Cavazza malte Guercino das Gemälde für Francesco I. im Lauf des Jahres 1633. Dass es für den Herzog bestimmt war, geht nicht nur aus den Quellen eindeutig hervor, sondern wird auch im Gemälde selbst thematisiert: Der Köcher des Amor, auf den Venus sich stützt, trägt das Wappenzeichen von Francesco I., den Adler. Leider ist keine eindeutige Aussage darüber überliefert, wie der Herzog das Gemälde verstanden hat. Wahrscheinlich wird er sich geschmeichelt gefühlt haben, da die Göttin hier dem Herzog vor ihrem
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Zur petrarkistischen Tradition der Beschreibung einzelner Körperteile vgl. Elizabeth Cropper: On Beautiful Women. Parmigianino, Petrarchismo, and the Vernacular Style, in: The Art Bulletin 58 (1976), S. 374–394. Zum schlafenden Amor Caravaggios im Palazzo Pitti in Florenz vgl. David M. Stone: In Praise of Caravaggio’s Sleeping Cupid: New Documents for Francesco dell’Antella in Malta and Florence, in: Melita Historica. A Scientific Review of Maltese History 12/2 (1997), S. 165–177; sowie Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, Berlin 2009, S. 201–224, wo zudem die fließenden Grenzen zwischen schlafendem Amor und schlafendem Christuskind ausgelotet werden. Zum Ort des Gemäldes vgl. Uta Grünberg: Potestas amoris. Erotisch-mythologische Dekorationen um 1600 in Rom, Petersberg 2009, S. 136–140, sowie Elisabeth Oy-Marra: Spiegelbilder/Liebesblicke: Annibale Carraccis Rinaldo und Armida und seine Schlafenden Venus als Gegenbilder?, in: Jörn Steigerwald/Valeska von Rosen (Hg.): Amor sacro e profano. Modelle und Modellierungen der Liebe in Literatur und Malerei der italienischen Renaissance, Wiesbaden 2012, S. 305–332. Vgl. hierzu und im Folgenden: Ausst.: Kat.: Giovanni Francesco Barbieri (wie Anm. 6), S. 212f.
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Liebhaber, dem Kriegsgott Mars, den Vorzug gibt.22 Dass Venus es auf Francesco I. von Modena abgesehen hat, mag jedoch auch inhaltlich im Sinne eines panegyrischen concetto verstanden worden sein: Tatsächlich erzählt der Mythos von der Liebesbeziehung der Venus zu einem Sterblichen, nämlich zum Trojaner Anchises, dem sie einen Sohn, Aeneas, gebar. So gesehen konnte der Herzog sich geschmeichelt fühlen und sich durch den Fingerzeig der für den Herzog unerreich baren Venus nun als zweiten Anchises ausgezeichnet verstehen, womit Venus dann als potentielle Stammmutter der Este erscheint.23 Dieser mythologisch-dynastische Deutungsrahmen schmälert das Handlungspotential des Bildes jedoch nicht. Das Gemälde verweist nämlich keineswegs auf eine Tradition, sondern inszeniert die dynastische Geschichte als eine noch nicht vollzogene, die sich vor den Augen des Herzogs an ihm selbst erst erweisen muss. Insofern appelliert das Bild auch an die mit der Wahl der Venus verbundene Verpflichtung, sich der virtus Anchises’ würdig zu erweisen. Damit erklären sich auch die Unterschiede zu Jacques de Gheyns II. Bogenschützen aus dem Jahr 1610 (Bild 5), der ganz ähnlich wie Guercinos Amor mit seiner Waffe aus dem Bild heraus auf den Betrachter zielt. Doch abgesehen von seiner Armbrust hat dieser Bogenschütze wohl eher eine Betrachterin im Auge, denn die gespannte Armbrust korrespondiert unübersehbar mit seinem erigierten Penis. Dabei versucht die Frau hinter ihm, ihn davon abzuhalten und ihn stattdessen für sich zu interessieren. Bei de Gheyn II. fallen Auge und Pfeil jedoch so deutlich zusammen, dass Hans Belting darin sogar den „Maler, der den Betrachter mit dem Sehstrahl ins Auge trifft“ sehen wollte.24 Während der Bogenschütze de Gheyns II. sein linkes Auge zusammenkneift, um besser zielen zu können, hat der Amor Guercinos zwar seinen auf der Augenhöhe des Betrachters liegenden Bogen gespannt, doch schaut er wie seine Mutter eher auf sein Ziel herab, anstatt es genau mit dem Pfeil ins Auge zu fassen. Nun mag der Maler schon aufgrund von so ungleichen Protagonisten wie der (falschen) Göttin und ihrem
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Ebd. In einem Brief des Herzogs an den Maler aus der Zeit, veröffentlicht von Adolfo Venturi: La Reale Galleria Estense di Modena, Modena 1888, S. 188, lässt sich ein Passus: „mi rimetto alla prudenza di lei circa il fare altra figura che potesse anche meglio rappresentare bizzaria“ dahingehend erschließen, dass er den Kunstgriff des Malers als „bizzaria“, als Kunststück angesehen hat. Demgegenüber hat Carlo Cesare Malvasia: Felsina Pittrice, Bd. 2, Bologna 1678, S. 263, in seiner Vita Guercinos die Haltung von Venus und Amor als „con una Venere che insegna ad Amore di saettare; ed un Marte“ missverstanden. Gerade die Este haben den Aeneas-Mythos dynastisch ausgedeutet; vgl. Amalia Mezzetti: Le Storie di Enea del Dosso nel camerino d’alabastro di Alfonso I d’Este, in: Paragone 189 (1965), S. 71–84. Auch in der Galleria Farnese ist Venus mit Anchises als Venus genetrix und damit als Stamm-Mutter der Farnese dargestellt. Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2009, S. 236.
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Bild 5 Jacques de Gheyn II.: Bogenschütze und Milchmagd, 1610, Kupferstich von Andries Stock (?), um 1610, 41,2 × 32,8 cm, Amsterdam, Rijksmuseum.
hochgestellten Betrachter auf eine direkte Konfrontation des Betrachters mit dem Blick der Göttin verzichtet haben. Gerade indem er den Blick der Venus und den Amors gegenüber dem Betrachter erhöht hat, übt das Bild aber umso mehr Macht über seinen Betrachter aus, da dieser sich der Entschlossenheit seiner Protagonisten nicht entziehen kann. Obgleich beide Bilder die eigene ästhetische Grenze bewusst verletzen, lassen sich Bogenschütze und Amor daher nur bedingt vergleichen. Folgt der Bogenschütze seinem derben Verlangen, um das kein Hehl gemacht wird, handelt Amor stattdessen in göttlichem Auftrag, dessen in Aussicht gestellter Vollzug nicht auf den Geschlechtsakt beschränkt ist, sondern das Verlangen des Betrachters im Hinblick auf den Vollzug einer dynastischen Geschichte erregen will.
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2. Bi ld gesc h ic ht l ic he Ü b erleg u ngen z u Guerc i nos Pfei l Die Invention eines auf den Betrachter zielenden Schützen wurzelt bildgeschichtlich jedoch in einer viel weiter zurückreichenden Tradition. Sie spielt vor allem mit einer ästhetischen Grenzverletzung: Der Fingerzeig und mehr noch der aus dem Bild zielende Pfeil scheinen keine Rücksicht zu nehmen auf die Tatsache, dass es sich hierbei um ein Bild handelt, das eine eigene Wirklichkeit besitzt und dessen Protagonisten sich nicht im gleichen Raum bewegen wie der Betrachter. Bereits Carlo Ginzburg ist – ohne Guercinos Venus und Amor zu berücksichtigen – dieser Tradition im Sinne einer Spurensuche des berühmten Plakats I Want You for U.S. Army nachgegangen, auf dem ein Mann mit ausgestrecktem Zeigefinger den Betrachter zum Eintritt in die Armee bewegen will.25 Ginzburg führt in dieser Studie den aus dem Bild weisenden Zeigegestus des Mannes auf dem Plakat auf eine Tradition zurück, die in Plinius’ Beschreibung eines JupiterGemäldes des Apelles ihren Anfang hat. Tatsächlich beschreibt der antike Autor ein Gemälde des Zeus im Artemis-Tempel von Ephesos, dessen Besonderheit im deutlichen Hervortreten der Finger bestand und in dem der Blitz sogar außerhalb des Gemäldes war: „digiti eminere videntur et fulmen extra tabulam esse“.26 Dank der Übersetzung der Naturgeschichte durch Cristoforo Landino 1476: „Pare che le dita sieno rilevate et el fugore sia fuori della tavola“, wird, wie Ginzburg zeigen kann, diese Beschreibung zum locus classicus für perspektivische Verkürzungen in der Malerei.27 Neben Michelangelos Darstellung Gottvaters mit ausgestrecktem, befehlendem Arm für die Erschaffung der Welt an der Sixtinischen Decke, erscheint auch in Pontormos Aktstudie eines Mannes (Bild 6) dieses Motiv, in dem der rechte Arm und Zeigefinger kraftvoll aus dem Bild hinausweisen. Ob Guercino die Zeichnung Pontormos gekannt hat, ist ungewiss, doch wird auch er die Textstelle des Plinius über das Bild des Zeus in Ephesos
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Carlo Ginzburg: ‚Your Country Needs You‘. A Case Study in Political Iconography, in: History Workshop Journal 52 (2001), S. 2–21. C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturalis Historia, XXXV, 92, übers. v. Roderich König, Düsseldorf/Zürich 21997, S. 75: „Es scheint, als würden die Finger deutlich hervorragen und der Blitz außerhalb des Gemäldes sein.“ Ginzburg: ‚Your Country Needs You‘ (wie Anm. 25), S. 8–12; Plinio: Historia Naturale, Ed. C. Landino, Venetiis 1476; zu Ludovico Dolce: Dialogo della pittura … intitolato l’Aretino, Venezia 1557, fol. 37r. Ginzburg beschränkt sich jedoch nicht auf diese Plinius-Stelle, sondern zieht auch diejenige über ein ArtemisGemälde des Apelles heran, die den Betrachter immer angesehen habe, egal von wo aus er sich ihr genähert habe (Naturalis Historia XXXV, 120), sowie den Bericht über Pausias, der den Stier von vorn gemalt habe, ohne dass dabei die Größe des Körpers nicht zur Geltung gebracht worden sei (Naturalis Historia XXXV, 126). Ich messe diesen Stellen jedoch keine große Bedeutung bei.
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Bild 6 Jacopo da Pontormo: Aktstudie, um 1522/25, Zeichnung, 28,1 × 18,5 cm, London, British Museum.
gelesen haben. Dabei ist es allerdings nicht ganz unbedeutend, dass Guercino den aus dem Bild weisenden Zeigefinger nicht einem Mann, sondern einer Frau – wenngleich einer Göttin – zuerkennt. Obgleich ihre Geste die so oft kopierte Handhaltung von Caravaggios Christus in der Berufung des Matthäus (Bild 7) paraphrasiert, scheint es ihr doch im Unterschied zu Pontormos Akt an Kraft zu mangeln. Dies ist jedoch weniger der Haltung als vielmehr der Tatsache geschuldet, dass ihr Blick nicht wie bei Pontormo der Hand folgt. Während Zeigefinger und Pfeil auf den Betrachter treffen, blicken Venus und Amor scheinbar von einem höheren Standort auf ihre „Opfer“ herab.28 28
Deshalb lässt sich der Blick der Venus nicht mit den Christus-Porträts von Dirk Bouts, Antonello da Messina oder Hans Memling in Verbindung bringen, die
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Bild 7 Caravaggio: Berufung des heiligen Matthäus, 1599/1600, Öl auf Leinwand, 322 × 340 cm, Rom, San Luigi dei Francesi.
3. A mor a ls Si n nbi ld der Ma lerei Obgleich Amor im Gemälde von Guercino als Sohn der Verbindung von Venus und Mars präsentiert wird, hat Guercino in Amor mehr als nur eine mythologische Figur gesehen. In seinem rätselhaften Selbstporträt des Malers in der National Gallery of Art in Washington D.C. (Bild 8) nimmt ein Amor fedele das Gemälde auf der Staffelei im Hintergrund ein, vor dem sich der Maler selbst porträtiert hat. Jener hält mit seiner Rechten das Halsband eines Windhundes, mit der Linken den Bogen, während er sinnierend aus dem Bild schaut. Anders als im Gemälde von Mars und Venus ruhen Amors Pfeile jedoch alle im Köcher, dafür hält der Maler seine Pinsel aber ganz ähnlich wie ein Pfeilbündel in Hän-
Ginzburg auf Cusanos Visione Dei und die von Plinius beschriebene Minerva zurückführt (Naturalis Historiae XXXV, 92), die ihren Betrachter egal von welchem Standpunkt aus angeschaut hätte; s. Ginzburg: ‚Your Country Needs You‘ (wie Anm. 25), S. 9f.
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Bild 8 Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Selbstbildnis vor einem Gemälde des „Amor Fedele“, 1655, Öl auf Leinwand, 116 × 95,6 cm, Washington D.C., National Gallery.
den, von dem er einen gezückt hat und bereit hält. Durch die Nähe der Pfeile im Köcher Amors zu den Pinseln in den Händen des Malers werden beide miteinander deutlich in Beziehung gesetzt. Handelt es sich bei dem gemalten Amor auf dem Bild hinter ihm also um eine Metapher der Malerei, deren Werkzeuge ihre Pfeile sind? Tatsächlich lässt sich der Pfeil nicht nur als Metapher der Rede, sondern auch als Metapher der Malerei verstehen. Die Analogie von Rede und Pfeil ist zunächst ein klassischer Topos, der seinen Ursprung in Homers „gefiederten Worten“ hat und der sowohl in der antiken als auch in der italienischen Literatur der Renaissance sowie in der Rhetorik häufig bemüht wurde.29 Er beruht auf dem Bild des treffenden Pfeils, der durch seine harte Spitze in das Tier oder den 29
Christine Ott: Pfeile ohne Ziel? Worte, Sachen und Bilder bei Giovan Battista Marino, in: Rainer Stillers/Christiane Kruse (Hg.): Barocke Bildkulturen. Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos Galeria, Wiesbaden 2013, S. 107–134.
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Menschen nicht immer tödlich eindringt, in jedem Fall jedoch eine Wunde hinterlässt. Tatsächlich fordert Quintilian, bei dem die Wirkung der Rede auf den Rezipienten im Vordergrund seiner Überlegungen steht, der Hörer solle durch die Pfeile der sprachlichen Energeia getroffen und verwundet werden.30 Auch die Empfehlung Cesare Ripas, die Eloquenza mit Brustpanzer, Stoßdegen und Rute gerüstet darzustellen, steht in dieser Tradition.31 Bekanntlich hat Domenichino in seinem Gemälde Die Jagd der Diana anhand der Übertragung der Erzählung des Wettschießens der Männer im Gefolge des Aeneas auf die Nymphen der Diana eine Allegorie der verschiedenen Arten der Rede geschaffen, die Rede und Bild zudem deutlich in Beziehung setzt (Bild 9).32 Bereits Leon Battista Alberti hat diese Analogie gezogen. Seiner Meinung nach spannt ein Maler den Bogen vergeblich, wenn er nicht weiß, worauf er mit dem Pfeil zielen soll.33 Im Gegensatz dazu findet die Analogie von Pfeil und Pinsel ihre Zuspitzung im Topos des Amor pictor, von dem Petrarca sagt, er habe mit seinen Pfeilen das Bild seiner Geliebten ins Herz gemeißelt.34 Während die Redemetapher sich gerade die scharfe Spitze des Pfeils zu Nutze macht, um die treffsichere und nachhaltige Wirkung der Worte zu beschreiben, haben Pinsel eine weiche Spit-
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Vgl. Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002, S. 172–196, besonders S. 186f., sowie Christine Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 110, die zeigt, dass das Pfeilmotiv sowohl die Lebendigkeit (Aristoteles) als auch die Überzeugungskraft (Quintilian) sowie die Treffsicherheit (Aischylos) bezeichnen kann. Ott betont auch den Unterschied von Enargeia (Anschaulichkeit, Bildhaftigkeit der Rede) und Energeia (die Lebendigkeit der Rede). Cesare Ripa: Iconologia, Perugia 1603, S. 207: „Giovane, bella & armata si dipinge“; vgl. Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 110, sowie Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des „Ut-pictura-poesis“ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208. Vgl. Julian Kliemann: Kunst als Bogenschießen. Domenichinos Jagd der Diana in der Galleria Borghese, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 31 (1996), S. 273–312. Vgl. David Summers: The Judgement of Sense. Renaissance Naturalism and the Rise of Aesthetics, New York 1987, S. 34. Vgl. Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 116–125; Margot Kruse: Das Porträt der Geliebten und ‚Amor pictor‘. Tradition und Abwandlung einer petrarkistischen Motivkombination in Ronsards Amours de Casandre, in: Andres Kablitz/Ulrich Schulz-Buschhaus (Hg.): Literarhistorische Begegnungen. Festschrift für Bernhard König, Tübingen 1993, S. 197–212; Margot Kruse zitiert hier aus den Rerum vulgarium fragmenta das Sonett CXXX, V. 1–15, und ein Sonett von Antonio Tebaldeo, in dem die Bezeichnung „Amor pictor“ auch tatsächlich nachzuweisen ist; Ulrich Pfisterer: Lysipp und seine Freunde. Liebesgaben und Gedächtnis im Rom der Renaissance. Das erste Jahrhundert der Medaille, Berlin 2008, S. 298f., erweitert die Beispiele bis zu den Gedichten Michelangelos.
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Bild 9 Domenichino: Jagd der Diana, 1617, Öl auf Leinwand, 225 × 320 cm, Rom, Galleria Borghese.
ze, die die Oberfläche des Bildgrundes nicht verletzt, sich vielmehr ihrer anpasst und gerade nicht in sie eindringt.35 Vor dieser Tradition wird die Gegenüberstellung des Malers mit seinem Gemälde des Amor verständlicher. Guercino scheint sich in seinem Selbstporträt in Washington selbst als Amor pictor zu verstehen, indem er wie dieser mit seinen den Amorpfeilen ähnlichen Pinseln Amor malt, der jedoch nicht mit seinen Pinseln beschäftigt ist, sondern den aus dem Bild strebenden Windhund am Halsband festhält, während die sich in den Schwanz beißende Schlange in Stein gemeißelt vor ihm liegt. Der Maler Guercino zeigt auf seiner Leinwand offenbar den mythischen Maler Amor, dessen Bilder, die er in die Herzen der Betrachter meißelt, der vergänglichen Zeit trotzen. Es ist jedoch auffällig, dass der Amor auf der Leinwand des Selbstporträts nicht mit dem Pfeil agiert, sondern mit seinem Finger im Ring des Halsbandes den Windhund festhält, während er mit seiner linken Hand den Bogen vor sich her trägt. Stattdessen ist es der Maler, der seinen pfeilartigen Pinsel gezückt hat, womit er sich als Urheber des so lebendig erscheinenden Amor auf der Leinwand ausweist. 35
Treffend beobachtet von Elisabeth von Samsonow: Die Bewaffnung der Sinne: Die Vernunft und ihre Instrumente in der Renaissance, in: Josef Rupitz/Elisabeth Schönberger/Cornelius Zehetner (Hg.): Achtung und Anthropologie: interdisziplinäre Studien zum philosophischen Empirismus und zur transzendentalen Anthropologie. Michael Benedikt zum 70. Geburtstag, Wien 1998, S. 129–139.
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Obgleich sich das später entstandene Selbstporträt in Washington durch die geradezu eingefroren wirkenden Gesten und Haltungen seiner Figuren von den lebendigen und scheinbar spontan agierenden auf dem Mars und Venus Gemälde in Modena deutlich unterscheidet,36 weist es doch auf den Amor als Guercinos persönliches Sinnbild der Malerei hin, die nicht erst im Selbstporträt zur Geltung gelangt sein dürfte. Insofern lässt sich der aus dem Bild zielende Amor in Guercinos Gemälde von Mars und Venus auch auf den Topos des Amor pictor beziehen, wobei es hier allerdings das Bild selbst ist, das sich dem Amor gleich in die Herzen der Betrachter einschreibt. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, das Gedicht Giambattista Marinos Sopra il ritratto della sua Donna. Ad Ambrogio Figino heranzuziehen, das mit dem Topos des Amor pictor spielt.37 Das lyrische Ich des Gedichts fordert hierin die Liebesgötter auf, dem Maler Figino bei dem Bild seiner Venus behilflich zu sein: Lasciate Cipro, e qua volate Amori, Doue del mio FIGINO il chiaro ingegno Di Dea più bella ombrando alto disegno Prende di Zeusi a superar gli honori.38 Für sein Gemälde, so fordert das lyrische Ich, möchten ein Teil der Amoretten der Leinwand Figinos Stütze bilden, der andere Teil aber soll dem Maler den Pinsel wählen.39 An der Stelle, die nun folgt, greift Marino auf die Analogie von Pinsel und Pfeil zurück, wenn er schreibt: „e pennel degno / Fia la saëtta onde piagate i cori“.40 Wie das geschieht, ist Thema der darauffolgenden Strophe, in der Marino das Bild von Farben mischenden Amoretten entwirft: „altri ala cote, usa a temprar gli strali, / Tempri i colori; altri il sembiante altéro / Moua ancor freso ad asciugar 36
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Bekanntlich ist das Werk Guercinos von einem Stilwandel gekennzeichnet, der um 1630 einsetzt, und mit dem das zunächst so sehr an unmittelbaren und lebendigen Gesten und Handlungen der Figuren ausgezeichnete Schaffen sich dann in eine sehr repräsentative, statische Auffassung wendet. Vgl. Denis Mahon: Studies on Seicento Art and Theory, London 1947, S. 32–50. Das Gedicht ist publiziert in Marino: La Galeria, hg. v. Pieri/Ruffino (wie Anm. 1), S. 343; für die Übersetzung s. Marino: La Galeria, hg. v. Stillers/Kruse (wie Anm. 1), S. 263; vgl. die Interpretation von Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 120ff., mit einer leicht abweichenden Übersetzung, S. 120, Anm. 30. Marino: La Galeria, hg. v. Stillers/Kruse (wie Anm. 1), S. 262f.: „Lasst Zypern und fliegt hierher, Amoretten, / wo der ruhmreiche Geist meines FIGINO / die erhabene Zeichnung der schönsten Göttin schattiert / und sich anschickt, die Ehren des Zeuxis zu übertreffen.“ Ebd.: „Parte ala tela, ov’ei pinga i colori, / Faccia del’arco e dela man sostegno, / parte il pennel gli scelga.“ Ebd.: „und ein würdiger Pinsel wird der Pfeil sein, mit dem ihr die Herzen verwundet.“
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con l’ali.“41 Die etwas verschobene Analogiebildung vom Pinsel auf das Mischen der Farben als Vergleich zum Spitzen des Pfeils, die Marino hier vornimmt, ist für unseren Zusammenhang und mit Blick auf Guercinos Gemälde von besonderem Interesse. Denn mit ihr kommt es zu einer bedeutsamen Parallele der Verwundung durch den Pfeil zur Wirkung der Farben und damit des Bildes. Ein Bild kann also wie eine Pfeilspitze seinen Betrachter kraft seiner Farben verwunden. So lässt sich Marino im übertragenen Sinne verstehen. Doch der Dichter, der die Amoretten als Gehilfen Amors in der vorletzten Strophe noch mit diesem Ansinnen evoziert hat, endet sein Gedicht, indem er nun Amor selbst anruft und ihn bittet, ihm, dem Maler Figino, nun das wahre Vorbild im Herzen des lyrischen Ichs zu zeigen: „Ma tu, Signor, c’hai soura gli altri impero, / Dele sue forme angeliche immortali / Móstragli nel mio cor l’essempio vero.“42 Mit diesem Bild im eigenen Herzen kommt Marino wieder auf das Bild Amors, das der Venus zurück, das dieser im Herzen des Dichters gemalt hatte. Ein unsichtbares Bild, das jedoch das wahre Vorbild (die Idee) für das Gemälde Figinos darstellt und nun mit dem seinen verglichen werden soll.43 Es ist aber zu vermuten, dass es dasjenige Figinos noch überragt, denn der Maler Figino misst sich zwar mit Zeuxis – wie zu Beginn
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Ebd.: „Einer reibe mit dem Wetzstein, der sonst die Pfeile schärft, die Farben, der andere nehme das erhabene noch frische Bild, um es mit den Flügeln zu trocknen.“ Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 120, Anm. 30, hat darauf hingewiesen, dass das Spiel mit der Bedeutung des Wortes „temprare“, das so viel heißen kann wie ‚einen Pfeil spitzen‘, ‚Metall härten‘, aber auch ‚etwas mischen‘ und damit mildern und mäßigen, im Deutschen nicht möglich ist. Marino: La Galeria, hg. v. Stillers/Kruse (wie Anm. 1), S. 262f.: „Doch Du, Herr, der über die anderen herrscht, / zeige ihm in meinem Herzen das wahre Vorbild / ihrer engelgleichen, unsterblichen Gestalt.“ Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 121, hat auf die Ambivalenz des Begriffs „Signor“ in der letzten Strophe des Gedichts hingewiesen, von dem nicht ganz klar sei, ob damit Amor oder der christliche Gott gemeint sei. Das ist sicher richtig, doch liegt der Zusammenhang mit Amor schon deshalb näher, weil dieser als „Amor pictor“ Bilder in die Herzen malt, die für Marino die Verbindlichkeit von „Ideen“ als Vorbilder annehmen. Zwar setzt Federico Zuccari mit seinem „disegno interno“ und auch später Giovan Battista Bellori in seiner Akademierede aus dem Jahr 1664, die er dann 1672 seinen Viten voranstellt: „L’idea del pittore, dello scultore e dell’architetto scelta dalle bellezze naturali superiore della Natura“, die platonische Idee in den Zusammenhang eines christlichen Weltbildes in Analogie zum Schöpfergott, doch ist mit dem Sitz der Idee im Künstler weniger das Herz als vielmehr der Verstand gemeint. Die Vorstellung, dass Bilder an Ideen orientiert sind, findet sich bereits bei Raffael und ist auch in Marinos Zeit weit verbreitet. Zu dem „Signor Conte“ betitelten Brief Raffaels s. John Shearman: Raphael in Early Modern Sources (1483–1602), New Haven/London 2003, S. 734–741, bes. S. 735; zur Verankerung der „Idea“-Rede Belloris vgl. Elizabeth Cropper: L’Idea di Bellori, in: Ausst. Kat.: L’Idea del Bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori, hg. v. Anna Gramiccia, 2000, S. 81–86.
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erwähnt – doch kann er die Bilder des Gottes Amor in ihrer Vollkommenheit nicht erreichen. Mit Amors Pfeilen zu malen meint daher eine Malerei, die ihre Betrachter genauso verwundet wie Amors Pfeile seine Opfer. Die Metapher umschreibt eine Malerei mit starken affektiven Qualitäten, die sich in die Herzen der Betrachter einritzt und in ihnen Begehren auszulösen versteht.44 Auf das Gemälde Guercinos übertragen tritt uns also ein Amor entgegen, der sich, indem er seinen Pfeil aus dem Bild richtet, insofern auch als Maler betätigt, als er mit seinen Farben seinen Betrachter verwunden und ihm das Bild Guercinos ins Herz einschreiben wird. Malerei wird damit als eine Form der Liebe verstanden und zwar nicht allein der sich opfernden Liebe des Malers zu seinem Werk, sondern vor allem jener Liebe, die die Leinwand zum Leben erwecken kann und damit auch im Gegenüber Liebe zu entzünden versteht. Die dynastische Botschaft des Gemäldes kommt dadurch zum Ausdruck, dass die Protagonistin Venus und ihre Rolle als Stammmutter der Este nicht als ein weit in die Geschichte zurückliegendes Ereignis im Bild festgehalten, sondern im Gegenteil als eine sich noch zu vollziehende Handlung präsentiert wird. Diese kann sich aber nur dann vollziehen, wenn es Amor tatsächlich gelingt, Liebe im Betrachter auszulösen. Bildhandlung und Bildtheorie sind also untrennbar mit dem zielenden und zugleich malenden Amor verbunden. Nur indem die Farben die gleiche Wirkung im Herzen des Betrachters erzielen, wird es zum notwendigen Vollzug der Liebe zwischen Francesco I. als Anchises und der Venus kommen. Das Gemälde Guercinos kann also nicht allein deshalb als Beispiel eines Bildakts angesehen werden, weil der Maler seine Protagonisten scheinbar direkt mit dem Betrachter interagieren lässt. Dieser Versuch des Heraustretens aus dem Bild ist bereits von Plinius in einem Bild des Apelles gerühmt worden und hat im Laufe der Jahrhunderte den Ehrgeiz der Künstler bis hin in die Plakatkunst angestachelt. Guercino jedoch konfrontiert uns mit einer anderen, auf die Beschaffenheit des Bildes selbst zurückgehenden Voraussetzung für das handelnde Bild, in dem er die affektiven Energien der Malerei hervorhebt. Dies geschieht in einer Aktualisierung des Amor pictor-Topos, der mit einer direkten Ansprache des Betrachters durch Fingerzeig und Pfeil das Bild mit den Mächten der Liebe gleichsetzt und damit eine Reziprozität inszeniert, die auch noch dann fortwirkt, wenn das Bild seinen idealen Betrachter und damit seine dynastische Botschaft verloren hat. Diese kann aber auch zu Lebzeiten des Herzogs von Modena nicht anders denn als „Beunruhigung“ des Betrachters im Sinne Didi-Hubermans verstanden worden sein, verlegte sie doch den Vollzug der (dynastischen) Geschichte in die Gegenwart und machte sie von einem Bild abhängig. 44
S. a. Ott: Pfeile ohne Ziel (wie Anm. 29), S. 122.
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Das fordernde Bild Die Verbindung von Eigenverantwortung und Moral in der frühneuzeitlichen Bildbetrachtung
E i n leit u ng Das Thema der Kreuzigung Christi wurde in der Frühen Neuzeit in einer nicht mehr zu überschauenden Zahl an Variationen umgesetzt. Gemälde jeglichen Formats, Skulpturen, Zeichnungen und graphische Fassungen visualisierten diesen dramatischen Höhepunkt der Passion. Das Motiv samt seiner moralisch mahnenden Implikationen war im Alltag des 15., 16. und 17. Jahrhunderts allgegenwärtig. Es bedurfte keiner tiefgehenden ikonographischen Kenntnisse, um zu begreifen, was hier gezeigt wurde und in welcher angemessenen Form der Be trachter mit dem Dargestellten umzugehen hatte. Der bisher modern gedachte Begriff der Bilderflut wäre dementsprechend in einer dezidiert historischen und sozial-ethischen Prägung zu denken. Eine Schlussfolgerung für die Rezeption frühneuzeitlicher Kunst kann daher lauten, dass die Themen der Darstellungen in der Regel bekannt waren.1 Eine berichtende oder narrative Ausrichtung trat in den Hintergrund, da die jeweilige Geschichte nicht erstmals, nicht als Nachricht erzählt wurde. Der Horizont an Rezeptionsmöglichkeiten weitete sich, wurde aber zugleich durch den theologischen, politischen und sozialen Deutungsrahmen sanktioniert.2 Doch beruhte jener keineswegs auf eindeutig bestimmten Vorgaben und vermochte
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Zur Konstellation von bekanntem und verborgenem Inhalt s. Edgar Wind: Heid nische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt/M. 1987. Die hier angestellten Überlegungen zum Wissen des Betrachters orientieren sich auf der methodischen Ebene an Wind, der den Zusammenhang von Text- und Bildwissen als ein gegenseitiges Reagieren und Interagieren deutete; s. a. ders.: Bild und Text, in: Horst Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John Michael Krois (Hg.): Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, S. 259–262. S. zu diesen Überlegungen Hanna Deinhard: Bedeutung und Ausdruck. Zur Sozio logie der Malerei, Neuwied 1967.
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Bild 1 Baccio Baldini (zugeschrieben): Judith mit dem Haupt des Holofernes, 1465/80, Kupferstich, 13,2 cm Durchmesser, Chicago, Art Institute.
dem Betrachter Spielräume für eine individuelle Handhabung zu eröffnen. Dies konnte dazu führen, dass etwa ein Kupferstich ausgeschnitten und auf ein Kästchen mit persönlichen Dingen aufgebracht wurde (Bild 1).3 Die beabsichtigte Aussage des Motivs war hierbei offensichtlich, die visuelle Drohung überdeutlich. Eine thematische Legitimierung, sei es durch die Religion oder Mythologie, war in der Frühen Neuzeit unumgänglich. Wenn die Themen oder zumindest ihre Ausrichtung nicht geklärt werden mussten, was machte dann den Reiz der immensen frühneuzeitlichen Bildproduktion aus? Eine Frage, welche nicht abschließend beantwortet werden kann. Sie kann jedoch Überlegungen ansto3
Hierzu Suzanne Karr Schmidt/Kimberly Nichols (Hg.): Altered and Adorned. Using Renaissance Prints in Daily Life, New Haven/London 2011; Pablo Schneider: Vom Gebrauch der Bilder, in: Tobias Pfeifer-Helke (Hg.): Mit den Gezeiten. Frühe Druckgraphik der Niederlande. Katalog der niederländischen Druckgraphik von den Anfängen bis um 1540/50 in der Sammlung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, Petersberg 2013, S. 33–41.
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Das fordernde Bild
ßen, die sich von einem ikonographischen Fokus entfernen und zu einer Betrachtung führen, welche sich mit einer Ikonologie der Interaktionen auseinander zu setzen versucht. Denn wenn die Identifizierung des Sujets in den Hintergrund rückt oder sogar mit Absicht zurückgedrängt wird, können Faktoren wie Emotionalität und unmittelbares Nacherleben an Bedeutung gewinnen. Es ist die individuelle Vorstellungskraft, welche die Auseinandersetzung mit dem Motiv bis zu einem Grad anzutreiben vermag, an dem der Betrachter sich vor eine Entscheidungssituation gestellt sieht. Die überaus umfangreiche Bildproduktion der Frühen Neuzeit zeichnete sich durch ein eingeschränktes Themenfeld aus. Neben der Vergegenwärtigung von Personen – Heiligen und Monarchen – wurde der Vorstellung von Tugenden eine große Bedeutung zuerkannt. Unter Tugenden sollen hierbei nicht nur Personifikationen verstanden werden, sondern vielmehr das in den Bildwerken hervorgebrachte Spektrum angemessener Lebensformen und -regeln, die den sozialen Frieden in der Gesellschaft bewahren sollten. Hierfür waren nicht nur belehrende Bildformen wichtig, sondern auch jene große Anzahl an Motiven, die es vermochten, sich unmittelbar an das Verantwortungsgefühl der Betrachter zu richten. Die Kenntnis des Beurteilungsvermögens und der Entscheidungskompetenz der Rezipienten war ein integraler Bestandteil frühneuzeitlicher Bildkonzeptionen. Die Bedeutung des dargestellten Inhalts kann durchgehend – und dies ist ausschlaggebend – als bereits bekannt vorausgesetzt werden. Ob in der Tiefe des differenzierten Zusammenspiels aller Details oder bestenfalls in einer basalen Ausrichtung ist hierbei nur ein gradueller Unterschied. Es existiert in diesem Sinne für die Kunst der Frühen Neuzeit das unbekannte Motiv nicht. Hierauf gründen Rezeptionsmöglichkeiten von hoher intellektueller Spannung.
Perlen In den Jahren zwischen 1580 und 1590 schuf Jacopo Tintoretto ein Gemälde, dessen Motiv die Urteilskraft des Betrachters herausforderte (Bild 2). Es sind die beiden nahezu nackten Körper, welche zunächst die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der weibliche ist in den Vordergrund gerückt und die Haut leuchtet hell im von links einfallenden Licht. Erhöht und weiter im Hintergrund liegend ist eine muskulöse männliche Figur zu erkennen, deren Erscheinung dunkler gehalten ist.4 Auf den ersten Blick, insofern der Betrachter einer körperlich bestimm-
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Zur besonderen Auffassung des Inkarnats in der Venezianischen Malerei s. Daniela Bohde: Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten 2002.
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Bild 2 Jacopo Tintoretto: Tarquinius und Lucretia, um 1578/80, Öl auf Leinwand, 175 × 151,5 cm, Chicago, Art Institute.
ten Schaulust freien Lauf lässt, deutet nichts auf eine dramatische Situation hin.5 Einzig das Durcheinander aus fallenden Stoffen und weiteren Objekten könnte Irritationen auslösen. Mit der rechten Hand hält der Mann ein nahezu durchsichtiges Tuch, welches die weibliche Nacktheit eher betont, als dass es bekleidend wirkt. Er ver5
Zur Rekonstruktion frühneuzeitlicher Formen der Bildbetrachtung anhand Giovan Battista Marinos La Galeria, erschienen 1620 in Venedig, s. exemplarisch Christiane Kruse: Imagination, Illusion, Repräsentation. Bildbetrachtung als Kulturtechnik, in: Horst Bredekamp/Christiane Kruse/Pablo Schneider (Hg.): Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 195–217; s. a. den Beitrag von Elisabeth Oy-Marra in diesem Band.
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sucht, die Frau in seine Richtung zu ziehen, was diese wiederum mit einem Griff an seinen Kopf eher zu gewähren, denn abzuwehren scheint. Die Gestik ihrer Hand scheint von Zärtlichkeit bestimmt, keinesfalls von Abneigung. Gleichzeitig könnte ihr Körper auf dem glänzenden Stoff in nahezu alle Richtungen gleiten. Dieses Gesten- und Bewegungsgeflecht wird augenscheinlich von einer bemerkenswerten Vertrautheit getragen, welche in diesem Stadium der Bildbetrachtung keineswegs irritierend wirkt. Dennoch haben die Handlungen der beiden eine geradezu wild unkontrollierte Intensität erreicht, die unter den Zeitgenossen als unangemessen und damit als inakzeptabel gelten musste. Dieser Eindruck wird noch weiter zugespitzt durch das herunterfallende helle Kissen am vorderen Bildrand. Eine Statue ist umgestürzt und droht im nächsten Moment aus dem Bildraum herauszufallen. Die Skulptur tritt aber aufgrund ihrer Farbigkeit nicht betont aus dem Hintergrund hervor. Eine zerrissene Kette ist bei eingehender Beobachtung umso deutlicher zu erkennen. Ihre Perlen fallen zu Boden und leiten den Blick zu einem Gegenstand, der zunächst nicht zur Handlung passen mag: einem Dolch mit dunkler Klinge und goldenem Griff. Obwohl das Geschehen auf dem Bett und davor raumgreifend bewegt ist, kommt die Waffe in einer instabilen Position zum Liegen. In diesem Moment des Erkennens wird unmittelbar deutlich, dass die dargestellte Begebenheit einen völlig anderen Charakter besitzt. Die Gesten des mutmaßlichen Begehrens erweisen sich als Schritte hin zu einer Vergewaltigung.6 Im Durchlauf einer intensiven Betrachtung löst sich die im Ansatz positive Stimmung auf und schlägt dadurch, dass die fallenden Perlen auf die Waffe verweisen, in ihr Gegenteil um.7 Mittels des Dolches wendet sich die inhaltliche Frage mit größter Radikalität. Nun wird deutlich, dass es sich um die Vergewaltigung der Lucretia durch Tarquinius handelt. Was zunächst als Gelegenheit erscheint, unentdeckt eine scheinbar erotische Handlung zu beobachten, schwingt unwillkürlich in die Augenzeugenschaft eines Verbrechens um. Schlagartig tritt die historische Begebenheit vor Augen des Betrachters und mit ihr die ethisch-politischen Implikationen, die gegen den sichtbaren Befund abgewogen werden müssen.8 Die Gründung des römisch-republikanischen Staatsgefüges durch ein Verbrechen ist hierbei nur eine frühneuzeitliche Perspektive – und der Tyrannensturz könnte im
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Zur bildlichen Darstellung sexuell bedingter Gewalt s. die grundlegende Untersuchung von Diane Wolfthal: Images of Rape. The „Heroic“ Tradition and Its Alternatives, Cambridge 1999. Zum Motiv der zerrissenen Perlenkette s. Eddy de Jongh: Pearls of Virtue and Pearls of Vice, in: Simiolus 2 (1975/76), S. 69–97, bes. S. 88. Zum frühneuzeitlichen Verständnis s. Ian Donaldson: The Rapes of Lucretia. A Myth and Its Transformations, Oxford 1982.
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Bild anhand der fallenden Skulptur angedeutet sein.9 Doch das Verhalten der Lucretia war immer Gegenstand von Deutung und diese werden durch visuelle Störungen nachhaltig befördert. Der Augenblick der drohenden Vergewaltigung der Lucretia durch Tarquinius findet sich auch in einem Kupferstich nach Giulio Romano, der zwischen 1524 und 1530 entstand (Bild 3). Das Geschehen, so wie es das Blatt vorstellt, erfährt eine verstörende Wendung, die vor dem Hintergrund eines konfronta tiven Umgangs mit frühneuzeitlichen Moral- und Verhaltensvorstellungen nur in Details beschrieben werden soll. Im Vordergrund eines sich in die Tiefe erstreckenden Raums ist auf der linken Seite ein Bett mit geschwungenen Seitenteilen zu erkennen. Es wird von schweren Stoffbahnen nach hinten abgeschirmt. Über dem Kopfende hängt eine Laterne, aus deren Schale Flammen nach oben züngeln. Das hauptsächliche Geschehen findet nun in diesem Bildteil statt, dem eine Szene rechts korrespondiert. Der Darstellung Tintorettos vergleichbar, deutet im Kupferstich auch nur das nicht sofort sichtbare Schwert auf das Drama hin. Mit seinem linken Knie stützt sich Tarquinius bereits auf das Bett, während das andere Bein unmittelbar zu folgen scheint. Die Hand des linken Arms hat die Decke ergriffen und von Lucretia weggezogen. Der völlig entblößte Tarquinius blickt ruhig, gelassen und mit halb geschlossenen Augen auf die ebenfalls nackte Frau und scheint offensichtlich im Begriff zu sein, sich zu ihr legen zu wollen. Lucretias Verhalten in dieser Situation ist ambivalent. Ihr Gesicht drückt kaum Angst oder Abscheu aus. Einzig ihr bewegtes Haar, dessen wellige Formen nach links verlaufen, könnten als Visualisierungen von fluchtartigen Bewegungen interpretiert werden, nur bleibt dieses Detail eine Andeutung. Mit ihrer linken Hand berührt sie den Oberkörper des Bewaffneten. Diese Geste als Abwehrgeste zu verstehen, erscheint unangebracht, besonders da sich Spekulationen um die Lage ihrer rechten Hand anschließen können. Obwohl nicht sichtbar, lässt sich unschwer vermuten, dass sie sich etwa in Höhe von Tarquinius Geschlechtsteil befinden muss. So entstehen Deutungsmöglichkeiten gegenüber ihrem Verhalten, die durch eine nicht vollständige Sichtbarkeit provoziert werden. Es wird denkbar, dass Lucretia die verwerfliche Tat des Tarquinius unterstützte oder möglicherweise nicht behindert hat. Doch dieses Detail ist vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Rechtspraxis als überaus problematisch anzusehen, da auch nur die Andeutung einer Zustimmung für den Vergewaltiger strafmildernd gewertet worden wäre. Der sich später anschließende Selbstmord der Lucretia stünde damit in einem anderen Licht. Er wäre nicht mehr als Beweis ihrer Unschuld zu 9
Zu den politischen Implikationen s. Melissa M. Matthes: The Rape of Lucretia and the Founding of Republics. Readings in Livy, Machiavelli, and Rousseau, University Park, PA 2000.
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Bild 3 Nach Giulio Romano: Tarquinius und Lucretia, um 1524/30, Kupferstich, 27,5 × 40,7 cm, London, British Museum.
bewerten, sondern müsste als Todsünde gelten, die der Verschleierung eines fragwürdigen Handelns diente. Die Konsequenz daraus wäre die Umkehrung des römischen Gründungsmythos: Wenn Lucretias Tugend hinfällig ist, dann fußt der römische Staat auf einem Betrug. Ein Gemälde wie das von Tintoretto oder der Kupferstich nach Giulio Romano, beide exemplarisch für eine große Anzahl frühneuzeitlicher Bildfindungen, lassen im zeitlich ausgedehnten Akt der Betrachtung eine Situation entstehen, welche die Person vor dem Bild empathisch anspricht und moralisch herausfordert.10 Diese Motivgestaltungen sind somit nicht als Tugendexemplare zu verstehen, sondern sie bringen tugendhaftes Verhalten in den Deutungen und Entscheidungsmöglichkeiten erst hervor. Diesem Verständnis zufolge sind die dargestellten Vorgänge niemals abgeschlossen. Die Motive haben keine narrative, oder belehrende Ausrichtung, sondern eine bildaktive in dem Sinne, dass sie in der Betrachtung Sinn generieren. Das Wissen des Betrachters kommt als ein entscheidendes, dramatisierendes Element hinzu. Die zunächst exklusive Perspektive schwingt um in eine bedrückende Konstellation von Tat und Anschauung,11 10
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Zum Bedeutungsspektrum des frühneuzeitlichen Verständnisses der Emotionen s. Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670, Frankfurt/M. 2011. Zu Raum- und Anordnungsfragen s. Thomas Puttfarken: The Discovery of Pictorial Composition. Theories of Visual Order in Painting, 1400–1800, New Haven 2000, bes. S. 37f. u. 156.
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Bild 4 Lucas van Leyden: Susanna und die beiden Alten, um 1508, Kupferstich, 19,6 × 14,3 cm, London, British Museum.
in der sich das vorangehende und das sich anschließende Geschehen, aber auch die gesamte moralische und politische Belegung des Themas aufwerfen.
Stei ne Anhand eines weiteren Beispiels soll der hier aufgeworfenen Frage abermals nachgegangen werden. Lucas van Leyden schuf um 1508 einen Kupferstich, der eine feinsinnig durchdachte Konstellation von Bild- und Betrachterwelt vorstellt (Bild 4). Das Thema ist „Susanna und die beiden Alten“. Hinter einem Baum und vor einem hoch aufragenden massiven Felsen sind die beiden Richter zu erkennen. Von ihrem Standpunkt aus können sie Susanna unbemerkt beobachten. Diese sitzt bekleidet an einem Teich und hat ihren Rock bis über die Knie hochgezogen, um die Füße ins Wasser zu tauchen. Sie schaut mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck nach unten. Die beiden männlichen Figuren befinden sich in einer ganz anderen Stimmungslage. Der rechte kniet auf dem Boden, weist mit einer Hand in Richtung der Susanna und
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Bild 5 Jacob Matham, nach Hendrik Goltzius: Die Wollust, 1593, Kupferstich, 32,5 × 17 cm, London, British Museum.
sieht gleichzeitig nach hinten. Mit einem fragenden Gesichtsausdruck blickt er seinen Komplizen an. Dieser beugt sich nach vorn, um die Frau ebenfalls sehen zu können. Er hat die Augen leicht zusammengekniffen und den Mund ein wenig geöffnet. Mit seiner linken Hand hält er sich an einem abgestorbenen Ast fest; mit seiner rechten zieht er seinen Umhang zusammen. Die Figur des stehenden Mannes, der seinen Mantel rafft, tritt in Jacob Mathams Serie Die sieben Todsünden, die nach Vorlagen von Hendrik Goltzius gefertigt wurden, wieder auf, wo die Wollust den Stoff in vergleichbarer Weise hält (Bild 5). Auch der erste Teil der Bildunterschrift – „Wen bringt die wilde Fleischeslust nicht um den Verstand?“ – scheint durchaus anwendbar auf die Geschichte von Susanna und den beiden Alten zu sein.12 Während die stehende Figur bei van Leyden im Licht steht, befindet sich der Kniende im Schatten. Die Gesten der beiden erzeugen den Eindruck, als seien sie sich über ihr Vorgehen 12
S. Kornelia von Berswordt-Wallrabe (Hg.): Sinnbild und Realität. Niederländische Druckgraphik im 16. und 17. Jahrhundert, Schwerin 1998, S. 134f.
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noch nicht ganz einig. Die frühneuzeitliche Gestenlogik legt nahe, dass Körperhaltung und Gesichtsausdruck Auskunft über die Absichten der Seele geben. Exemplarisch wurde diese Überlegung in Leonardo da Vincis Malereitraktat ausgeführt, der in der Frühen Neuzeit umfänglich rezipiert wurde: „Ein guter Maler hat zwei Hauptsachen zu malen, nämlich den Menschen und die Absicht seiner Seele. Das Erstere ist leicht, das Zweite schwer, denn es muss durch die Gesten und Bewegungen der Gliedmaassen ausgedrückt werden.“13 So wird die unentschiedene Situation deutlich vorgestellt. Susanna ist in den seitlichen Mittelgrund des Blattes gerückt, so dass der Abstand zwischen den Richtern und ihr groß ist. Die räumliche Trennung wird durch ein weiteres Detail betont: Die Pforte zum Garten ist verschlossen. Die beiden Männer haben sich zwar versteckt, wie es im Buch Daniel berichtet wird, sind aber noch nicht in Susannas Nähe. Den Variationen in der Lucretia-Thematik vergleichbar, bot auch die biblische Erzählung Spielräume für ihre bildliche Darstellung. So wurde in der Emblemliteratur, etwa in den Emblemas Morales des Sebastián de Covarrubias Orozco von 1610, die Möglichkeit der Mitschuld Susannas am Vergehen, das an ihr verübt wurde, thematisiert. Mit dem Rückgriff auf das fünfte Buch der Metamorphosen Ovids wurde die Szene von Susanna und den beiden Alten unter dem Motto nuda visa sum paratior (weil ich nackt bin, erscheine ich als leichte Beute) vorgestellt. Die sich anschließende Erläuterung wird noch eindeutiger: „Die Gelegenheit weckt den Trägsten auf und gibt dem Niederträchtigen und Kleinmütigen Stärke. Sie verführt den Dieb und Vorwitzigen zu unbedachter Tat. Sogar der Altersschwache, der zufällig die nackte Venus an seiner Seite liegen sah, entflammet vor Begierde und Liebeswut – wie jene beiden Greise der Susanna.“14 Diese Auslegung deutet an, welches Deutungsspektrum sich aufbauen konnte. Die Gestensprache der beiden Männer, besonders des Knienden, findet sich auch auf einem etwa zeitgleich entstandenen Blatt van Leydens, dem Sündenfall von 1508 (Bild 6). Die Grafiken sind nicht nur auf kompositorischer Ebene ähnlich angelegt. So ist es Adam, der sich mit vergleichbaren Handbewegungen Eva zuwendet und im Begriff ist, den Apfel vom Baum der Erkenntnis in Empfang zu nehmen. Adam ist spiegelbildlich zu der Figur des Knienden aus Susanna und die beiden Alten wiedergegeben. Er wendet sich mit geradezu sprechenden Händen der weiblichen Hauptfigur zu. Eine weitere Parallele besteht in Adams Gesichtsausdruck, der wiederum dem Stehenden des Susanna-Blattes 13
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Leonardo da Vinci: Buch von der Malerei. Deutsche Ausgabe. Nach dem Codex Vaticanus 1270, hg. v. Heinrich Ludwig, Neudruck der Ausg. v. 1882, Osnabrück 1970, S. 128. Sebastián de Covarrubias Orozco: Emblemas Morales, Madrid 1610, S. 231; s. Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1996, Sp. 1856f.
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Bild 6 Lucas van Leyden: Der Sündenfall, um 1508, Kupferstich, 11,7 × 8,7 cm, London, British Museum.
ähnlich ist. Die Gesichter der männlichen Figuren in beiden Bildern unterstreichen eine auf die unmittelbare Zukunft gerichtete, fragende und überlegende Haltung der Personen. Dieses entscheidende Moment in der Anlage des Alten sowie Adams ist ebenso in den Figuren der Susanna und Eva präsent. Beide lassen sich ihrer nachsinnenden Haltung gemäß zunächst auf den Themenbereich der Melancholie beziehen. An diese visuelle und thematische Anbindung schließt sich der Bezug zur vita contemplativa an, die immer auch den Konterpart der vita activa impliziert. Doch nicht nur im impliziten Dualismus werden die beiden Pole – aktiv versus kontemplativ – deutlich, sondern auch in den Personen selbst. Der Kniende und Adam kommunizieren mittels der Bewegungen ihrer Hände. Ihre Gedanken werden dem Betrachter durch die Gestik angezeigt. Das, was auf der inhaltlichen Ebene geschieht, scheint zunächst unzweifelhaft zu sein, verliert
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jedoch bei eingehender Betrachtung seine Eindeutigkeit. Dieser Rezeptionsverlauf lässt sich in vielen frühneuzeitlichen Bildern beobachten. Die vermeintlich unmissverständlich inhaltliche, manchmal belehrend wirkende Ausrichtung wird in die Richtung einer produktiven Verunsicherung des Betrachters gelenkt. Folglich muss der Rezipient Entscheidungen treffen, die sowohl in ihrer intellektuellen als auch emotionalen Brisanz den Moment eines moralischen Dilemmas evozieren. In ihrer Tendenz ähneln sich die Bildthemen insofern, als es um die Handlungen des Verführens und Widerstehens geht. Diesen Aspekt rückt van Leyden in beiden Graphiken in den Vordergrund seiner bildlichen Interpretation. Dennoch bleibt ein Unterschied bestehen: In ihrer Bedeutung können die Ereignisse um Adam und Eva nur schwer auf eine vergleichbare Ebene mit der von Susanna und den beiden Alten gebracht werden. Denn letztere, als auch historisch unmittelbar nachvollziehbare Erzählung, bietet den Betrachtern eine weitaus größere Möglichkeit zur Distanzierung. Beide Bilder sind aber keineswegs als erzählend im Sinne einer Historiendarstellung zu deuten. So stellt das eine den Moment des Sündenfalls dar: Die Äpfel werden empfangen, aber noch nicht gekostet. Die Vorstellung, der Betrachter könne in die Situation eingreifen, ist zwar möglich, widerspricht jedoch der heilsgeschichtlichen Logik, da der Betrachter selbst eigentlich noch nicht existent ist. Er kann jedoch den dramatischen Ablauf beobachten, welcher Raum für Meinungsbildung und individuelle Erkenntnisse lässt. Indem eine unabgeschlossene Bewegung stattfindet, werden Handlungsverläufe und Handlungseventualitäten sichtbar beziehungsweise bedenkbar. Die Distanz zwischen biblischer Erzählung und der Gegenwart des 16. Jahrhunderts bleibt allerdings gewahrt, wodurch Adam und Eva als ein distanziertes Denkobjekt erscheinen. Bei Susanna und die beiden Alten verhält es sich jedoch anders. Die Fassung van Leydens, die sich in ihrer differenzierten Anlage von den gängigen Bildfindungen des 16. Jahrhunderts unterscheidet, baut die Bezüge zum Betrachter auf verschiedenen Ebenen auf. Das zentrale Moment in beiden Darstellungen liegt, wenn auch mit graduellen Unterschieden, darin, dass das endgültige Ergebnis der Handlungen noch nicht entschieden ist.15 Der Betrachter hat zwar Kenntnis hiervon – Sündenfall beziehungsweise die Bestrafung der Alten – doch wird in den Motiven ein sicheres Wissen hierum ausgeblendet. Zunächst verlegt van Leyden die biblische Geschichte in die Lebenswelt des Betrachters; ein bekannter Vorgang, der für die Rezeption der Darstellung relevant ist. Hierzu gehört auch die Kleidung der Alten, welche nicht nur der Zeit entspricht, sondern auch keine exotischen beziehungsweise fremden Merkmale aufweist, wie sie in anderen Gemälden und 15
S. Herman Roodenburg: The Eloquence of the Body. Perspectives on Gesture in the Dutch Republic, Zwolle 2004, S. 120.
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Graphiken genutzt wurden. Ebenso fehlt eine negative Wertung der Figuren, die etwa mittels der Physiognomik hätte bewirkt werden können. Van Leyden wählte also nicht die Form einer narrativen Distanzierung. Die Kontextualisierung wurde gesteigert, indem bereits die Identifizierung der beiden Figuren unterlaufen wird; im Gegensatz zu den im 15. und 16. Jahrhundert verbreiteten Darstellungen als Bärtige sind sie hier keineswegs als Alte zu beschreiben. Dieses gegen die Ikonographie gerichtete Detail unterläuft dennoch nicht die Thematik. Auch ohne dieses Detail war die dargestellte Begebenheit für die Betrachter erschließbar, zumal sie als allgemein vertraut gelten konnte. Die Ereignisse aus dem 13. Buch Daniel waren in Grundzügen – in ihrem Ausgang und dem moralischen Verständnis – Allgemeingut. Hier bestand kein Interpretationsbedarf, es konnte vielmehr der Kenntnisstand des Publikums genutzt werden, was allein durch den umfangreichen Fundus an bildlichen Darstellungen dokumentiert wird. Es sind die kleinen Abweichungen der Bildfindungen gegenüber der tradierten Erzählung, die in der Betrachtung eine moralische Frage aufkommen lassen. Durch das Wissen um die Geschichte vermögen kleine Details im Bild eine weitaus größere als die zu erwartende Wirkung zu entfalten, da diese nicht so sehr zur Identifikation des Sujets dienen, sondern vielmehr als widerständige Objekte agieren, die das individuelle Denken befeuern. Die Urteilsbildung des Betrachters wird gefordert, wie es sich auch in frühneuzeitlichen Fürstenspiegeln oder den religiösen Tendenzen zur Eigenverantwortlichkeit beobachten lässt. So fasst bei van Leyden ein Halbkreis von fünf Steinen die beiden Alten ein, welcher rechts vom Knienden beginnt und etwa in der Mitte des unteren Bildrandes endet. Dieses der natürlichen Umgebung angemessene Detail kann als eindrücklicher Hinweis auf die spätere Steinigung verstanden werden, vor der Susanna durch rechtzeitige Aufdeckung der Wahrheit bewahrt wurde, während die Richter später durch diese Bestrafungsart zu Tode kommen sollten. Hier werden die beiden Männer allerdings nur dabei gezeigt, wie sie beobachten und kommunizieren. Ein Fehlverhalten hat noch nicht stattgefunden. Der Betrachter wiederum wird in den Kreis der Beobachtenden mit einbezogen. Direkt vor ihm liegt jedoch der größte Stein, der Instrument der Hinrichtung werden kann. Aus dem Akt des Betrachtens heraus gedacht und im thematischen Kontext von Theologie und Empathie gesehen, befindet sich die einzig mögliche Person in der Konstellation, die einen Stein nehmen könnte, vor dem Bild und so wird das biblische Diktum „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ (Joh. 8,7) augenblicklich vergegenwärtigt. Die Darstellung von Susanna und die beiden Alten, wie sie van Leyden konzipierte, ist auf die Präsentation eines Entscheidungsmomentes ausgerichtet. Doch wird dieser nicht als exemplarisch für die gesamte Begebenheit vorgestellt. Es ist in diesem Sinne keine Erzählung zu erkennen, sondern vielmehr „nur“
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eine Situation in einer längeren Geschichte. Diese wird wiederum nicht zu einer symbolischen Form der biblischen Begebenheit, die der Betrachter zu durchdenken hat. Es wird vielmehr eine andere Ebene angesprochen, die im Kontext von Überlegungen zum Vorgang des moralischen Dilemmas verortet werden kann. Die Person vor dem Bild wird zu einer dritten im Bild, ohne hierfür eigens angedeutet zu werden. Ähnlich wie die beiden Alten ist sie gegenüber der Susanna verborgen und steht somit auf der verschatteten, dunkleren Seite des Hügels, hinter welcher sich der Kniende befindet. Die räumliche Lage gegenüber der Susanna bringt die Alten und den Betrachter zusammen. Ihre Darstellung als nicht alt, nicht fremd und nicht negativ verstärkt den sich ergebenden Zusammenhang zwischen inner- und außerbildlichen Personen. Die Handlung des Beobachtens, in der die beiden Alten begriffen sind, ist einer verheirateten Frau gegenüber zwar unangemessen, doch nicht strafbar. Es ergeben sich aber nach frühneuzeitlichem Verständnis erste Andeutungen einer charakterlichen Schwäche der beiden männlichen Personen, befinden sie sich doch in einem Zustand, der die gebotene Zurückhaltung gegenüber der Susanna vermissen lässt. Ihr triebhaftes Verlangen beginnt sie zu dominieren und das rationale, der Vernunft unterworfene Agieren verliert seine lenkende Position. Mit dem Wissen um den Verlauf der Geschichte kann der Betrachter diesen Prozess gedanklich detailliert vorwegnehmen und befindet sich in diesem frühen, bereits problematischen aber noch nicht fatalen Zeitpunkt am Geschehen beteiligt. Die Person des Stehenden mit seinen zusammengekniffenen Augen und der Hand, die den Stoff in der Nähe des eigenen Schoßes rafft, liefern eindeutige visuelle Hinweise darauf, was dann beide zu unternehmen beabsichtigen: eine Vergewaltigung. Die hier exemplarisch vorgestellten Bilder weisen dem Betrachter eine hohe Bedeutung zu, indem sie ihn in eine moralische Grenzsituation leiten. Sein Wissen um die biblischen Ereignisse ist hierbei von ausschlaggebendem Gewicht und wird in die Konstellation von Sehen und Deuten konstitutiv mit einbezogen. Diese mündet darin, dem Betrachter eine Eigenverantwortlichkeit gegenüber dem dargestellten Geschehen zuzuschreiben, das sich nie in einer abschließenden Deutung auflösen lässt. Zum Thema werden zentrale ethische Fragen, die auf den Kern eines harmonischen Zusammenlebens zielen. Die Motive zeigen einen Moment der historia. Nun ist, wie bereits ausgeführt, nicht nur der Ablauf der Gesamterzählung bekannt, sondern auch der moralische Deutungsrahmen. Doch kann mittels der Darstellungsform eine Situation entstehen, die dazu führt, den individuellen Standpunkt gegenüber dem Geschehen zu bedenken. Nicht nur mit dem Blick auf die bildlichen Protagonisten, sondern auch mit der Perspektive auf die persönliche Entscheidungskompetenz. Es bleibt zu fragen, ob die Darstellungen aus dem Leben der Lucretia
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Bild 7 Pieter Claesz: Großer Römer mit Früchten, um 1627, Öl auf Leinwand, 49,3 × 39,7 cm, Privatbesitz.
oder Susanna Einzelfälle im Kontext dramatischer Begebenheiten darstellen. Oder kann der Frage auch in einer generellen Perspektive nachgegangen werden?
Spiegelu ng – Resü mee Um 1627 fertigte Pieter Claesz ein Stilleben an (Bild 7), das als Großer Römer mit Früchten summarisch zu beschreiben ist.16 Auf einer steinernen Platte sind Birnen, Quitten, Pfirsiche sowie Johannis- und Brombeeren zu erkennen. Alle Details können symbolisch gedeutet werden, manche mit mehrschichtigen Kon16
Zu Claesz s. Martina Brunner-Bulst: Pieter Claesz. Der Hauptmeister des Haarlemer Stillebens im 17. Jahrhundert. Kritischer Œuvrekatalog, Lingen 2004; Pieter Biesboer u.a. (Hg.): Pieter Claesz. Stilleben, Zwolle 2004.
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notationen.17 So wurden Birne und Quitte mit Liebe, Fruchtbarkeit und sexuellem Verlangen assoziiert, wohingegen die Johannisbeere als Mittel gegen ein Übermaß an Genuss betrachtet wurde. Ob der zeitgenössische Betrachter davon Kenntnis hatte, ist nicht das zentrale Moment. Es ist vielmehr von Bedeutung, dass ihm bewusst war, dass diese inhaltlichen Faktoren existierten. Von links oben fällt sanftes, natürliches Licht in den Raum und reflektiert sich im Glas in mannigfaltigen Spiegelungen und Brechungen. Das natürliche Phänomen lässt den Betrachter im bauchigen Römer die physikalischen Eigenschaften des Lichts beobachten. Diese Bildwelt im Rund des Glases ist eine natürliche Erscheinung und kann als solche gedeutet werden. Das Aufeinandertreffen von Licht, Wein und Gefäß findet in einer abgestuften Farbigkeit statt. Das Spektrum umfasst Braun- und Beigetöne sowie Grau und Weiß. So kann der Betrachter zunächst einmal unterschiedliche Farbschleier wahrnehmen und diese als natürliche optische Phänomene ansehen. Doch wann wird ein von der Natur geschaffenes, also nicht von Menschenhand beeinflusstes sichtbares Phänomen zum Bild? Diese Motive mit einem unmittelbar an die Natur gebundenen Ursprung sind von einer hohen Bedeutung, da sie die Verantwortung des Betrachters einfordern, indem er zum Deuten aufgefordert wird: natürliche Erscheinung versus mahnendes Symbol. In der Kombination der Tonwerte ist die Szene im Glas beispielsweise mit Rembrandts Kreuzabnahme von circa 1633 verwandt. Das eingespiegelte Fensterkreuz muss dementsprechend entweder als natürliches Phänomen oder moralischer Hinweis in seiner Tragweite eingeordnet werden. Die Aspekte des Sehens und die des Wissens standen so in einem heiklen Spannungsverhältnis.18 Denn in der Frühen Neuzeit existierte im engeren Sinne kein unvoreingenommenes Sehen. Der Betrachter war im Gegenteil gefordert, sehr genau zu überlegen, was er eigentlich sah.19 Die Pfirsiche beispielsweise 17
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S. zu diesem Konflikt – sichtbarer Befund versus Ikonologie – die Betrachtungen von Hecht und weiterführend von Westermann. Peter Hecht: The Debate on Symbol and Meaning in Dutch Seventeenth-Century Art. An Appeal to Common Sense, in: Simiolus 2/3 (1986), S. 173–187; Mariëte Westermann: After Iconography and Iconoclasm. Current Research in Netherlandish Art, 1566–1700, in: Art Bulletin 2 (2002), S. 351–372. Zu diesen Überlegungen mit Orientierung auf Michael Baxandalls Konzeption des „period eye“, die er 1972 in: Painting and Experience in Fifteenth-Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style, Oxford 1972 (dt. Übers.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1987) vorstellte, vgl. Allan Langdale: Aspects of the Critical Reception and Intellectual History of Baxandall’s Concept of the Period Eye, in: Art History 4 (1998), S. 479–497. Zum Stellenwert des Sehens zu dieser Zeit vgl. Svetlana Alpers: Kunst als Beschrei bung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 21998, bes. S. 88–146. Zur zeitgenössischen Kritik an der Aussagekraft des Sehens s. Erich Kleinschmidt: Actio
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Das fordernde Bild
konnten als Ausdruck fleischlicher Lust gedeutet werden. Doch der dreiteilige Aufbau der Frucht – Fruchtfleisch, Kern, Samen – war ebenso als Verweis auf die Dreieinigkeit zu verstehen.20 Das sich prominent auf dem Römer zeigende Fensterkreuz löste die prekäre Situation keineswegs auf. In erster Linie war es als natürliche und physikalisch korrekt wiedergegebene Spiegelung zu verstehen. Dennoch ist es so angelegt, dass der Verweis auf das Kreuz der Hinrichtung Jesu offensichtlich ist. Die Entscheidung darüber, dieses so und nicht anders zu sehen, wurde bewusst dem Betrachter überlassen. Wie bereits angesprochen, gab es in der Frühen Neuzeit kein im ethischreligiösen Sinne wertfreies Sehen und Denken. Das Gesicht etwa, gedacht als Spiegel der Seele, präsentierte den moralischen Zustand des jeweiligen Individuums.21 Negative oder despektierliche Gedanken waren mit der Konsequenz der visuellen Deformation verbunden – „hässliche“ Gedanken hatten eine „hässliche“ Physiognomie zum Ergebnis. In dieser Perspektive verliert die Anschauung alle Neutralität oder Unschuld. Die Distanz zur Darstellung verschwindet und kann nur durch eine moralisch im christlichen Sinne gefestigte Betrachtung erlangt werden. Die hier besprochenen Gemälde und Kupferstiche kreieren eine Situation, die den Rezipienten fordert und die gerade eben die Selbstbefragung forciert. Ein gespiegeltes Fensterkreuz stellte dementsprechend eine visuelle Herausforderung dar. Allen hier vorgestellten Werken ist gemeinsam, dass sie den Betrachter bemühen, sich über das Sichtbare und über das Denkbare klar zu werden. Es sind mit Nachdruck fordernde Bilder, die sich an die Eigenverantwortung und Entscheidungskompetenz richten und ihren Status als bildaktive Werke begründen.
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per distans. Begriffsstrategien der Sichtbarkeit, in: Maria-Theresia Leuker (Hg.): Die sichtbare Welt. Visualität in der niederländischen Literatur und Kunst des 17. Jahrhunderts, Münster 2012, S. 19–35. Vgl. Brigitte Röser: Niederländische Stilleben. „Nichts ist in den Dingen ohne Sinn“, Mainz 2005, S. 37. Hierzu Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Klaus Schreiner/Marc Müntz (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 179–220, S. 179; Hans Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981.
VII. Formakte
Nicola Suthor
M eta / P hysik der S kizze Zum Nachvollzug des Gedankengangs im Linienzug
Anfang des 19. Jahrhunderts brachte der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Faszination an der skizzenhaften Zeichnung prägnant zum Ausdruck. Er stellte in seinen Vorlesungen zur Ästhetik und Philosophie der Kunst fest, dass „hauptsächlich beim Skizzenhaften […] der innere Geist […] erfindungsreich und phantasievoll […] aus der gleichsam durchsichtigeren, leichteren Hülle der Gestalt unmittelbar heraustreten kann“.1 Die Wortwahl „heraustreten“ ist signifikant: Hegel suggeriert damit die Möglichkeit der Überschreitung der Grenze, die ein Innen von einem Außen trennt. Die Skizze ist damit als eine Bewegung beschrieben, welche die Polarisierung von Geist und Materie überwindet, indem sie einen Schwellenraum schafft. Wenn Hegel von einer „gleichsam durchsichtigeren, leichteren Hülle“ spricht, dann stellt er eine Transparenz in Aussicht, die jedoch durch die Steigerung ‚durchsichtiger‘ zugleich relativiert ist – und im Folgenden problematisiert wird. Hegels enorme Wertschätzung der Skizze als unmittelbare Entäußerung des Geistes ist in der kunstliterarischen Bezeichnung der eiligen Skizzierung als first thought vorbereitet.2 Ein Jahrhundert vor Hegel erklärt der Porträtmaler und Kunsttheoretiker Jonathan Richardson in The Theory of Painting (1715) den steigenden Marktwert der first thoughts, die er an anderer Stelle als „very flight, but spirituous scrabbles“3 beschreibt, wie folgt: „[T]hey are the very spirit
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik [1838], Bd. 3, Frankfurt/M. 1990, S. 69. Vgl. zu der Bezeichnung der Skizze als „erster Gedanke“ Baldinuccis Formulierung in einem Brief an Vincenzo Capponi vom 28. April 1681: „opere d’arte non solo le pitture, ma anche i disegni che i pittori fanno nelle carte, e fino a’ primi pensieri o schizzi.“ Filippo Baldinucci: Notizie dei Professori del Disegno da Cimabue in Qua, Bd. 6: Appendice, hg. v. Paola Barocchi, Florenz 1975, S. 469f. Jonathan Richardson: Of the Knowledge of Hands [1773], in: The Works, hg. v. Jonathan Richardson Jr., Hildesheim 1969, S. 202–222, S. 216.
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and quintessence of the art: Here we see the steps the master took […] these are undoubtedly altogether his own, and true and proper originals.“4 Doch wie nah am schöpferischen Denken und also am Ursprung der Kunst sind die rohen Skizzen? Kann dieses Denken tatsächlich derart verfügbar, unmittelbar greifbar sein? Wenige Jahre später gibt Richardson in seinem Essay Of the Knowledge of Hands zu bedenken: „In all the works of art there are to be considered, the thought and the workmanship, or manner of expressing or executing that thought. What ideas the artist had we can only guess at what we see, and consequently cannot tell how far he has fallen short, or perhaps by accident exceeded them.“5 Für Richardson geht also die künstlerische Idee nicht zwangsläufig in ihrer Realisierung auf, sondern kann dabei unter- oder sogar überboten werden, jedoch ist das Zusammenspiel von „thought“ und „workmanship“ für den Betrachter nicht einsehbar. Richardsons Unterscheidung geht von der ungesicherten Perspektive des Betrachters aus – „we can only guess“ – der Gedanke kann nur unterstellt werden. Jedoch suggeriert Richardson die Möglichkeit, dass der Gedankengang, den der Linienzug der Zeichnung dokumentiert, durchaus nachvollziehbar ist, wenn er über die Skizze schreibt: „there we see the steps the Master took“ – eine Erwartung, die de facto eine Wunschvorstellung ist, die bis heute die Zeichnungsforschung motiviert. Roland Barthes hatte in seinem einflussreichen Essay zu Cy Twombly den Duktus der Linie als faszinierendes Moment der Zeichnung, in welchem die einstige Körperbewegung des Zeichners und ihre Kraft spürbar werden, beleuchtet. Sein Gedanke, dass der sich im Linienzug versenkende Betrachter sich in „die Fußstapfen der Hand“ des Künstlers begibt und dessen Bewegung reproduktiv nachvollzieht,6 hat unlängst David Rosand in Drawing Acts aufgenommen und für die Kunstgeschichte fruchtbar gemacht.7 Die agency der Linie, die Barthes herausstreicht, wenn er die Linie als energon, als „ein Arbeiten“, beschreibt,8
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Ders.: The Theory of Painting, in: The Works (wie Anm. 3), S. 1–157, S. 82. Ders.: Of the Knowledge of Hands (wie Anm. 3), S. 202. Roland Barthes: Cy Twombly ou „non multa sed multum“, in: Œeuvres complètes, Bd. 3: 1974–1980, hg. v. Éric Marty, Paris 1995, S. 1043. Für David Rosand: Drawing Acts: Studies in Graphic Expression and Representation, Cambridge 2002, S. 240, gibt es nachvollziehbarerweise nur einen Weg: „How do we get to that ‚mind‘ or that ‚vision‘ if not through the making of the hand?“ Vgl. a. jüngst den innovativen Beitrag von Hanna Gründler, die ausgehend von der metaphorischen Nähe, die der Philosoph Wittgenstein zur Praxis der Zeichnung herstellt, Leonardos componimento occulto als Denkleistung begreift: „A Labyrinth of Paths“: Ludwig Wittgenstein on Seeing, Drawing and Thinking, in: Marzia Faietti/Gerhard Wolf (Hg.): Linea II: Giochi, Metamorphosi, Seduzioni della Linea, Mailand 2012, S. 223–235. „Le trait […] c’est un energon, un travail.“ Barthes: Cy Twombly ou „non multa sed multum“ (wie Anm. 6), S. 1042.
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findet in Rosands Vorstellung von dem „desire of the line“ eine Entsprechung.9 Rosands Zuspitzung „meaning is generated by the stroke itself“10 begreift den Linienzug schließlich als immanente Denktätigkeit und koppelt ihn damit von der motivierenden Instanz des Vorstellungsvermögen des Künstlers ab. Die Leistung des Betrachters im Nachvollzug der Linie ist jedoch eine eigenständige „innere“ Bewegung, die das eigene Vorstellungsvermögen beansprucht, wie schon Wilhelm Worringer in Rückgriff auf die Einfühlungsästhetik Theodor Lipps11 in Abstraktion und Einfühlung herausstellte: Jede einfache Linie mutet mir, damit ich sie als das, was sie ist, erfasse, eine apperzeptive Tätigkeit zu. Ich muß den inneren Blick ausweiten, bis er die ganze Linie umspannt; ich muß innerlich das so Aufgefaßte abgrenzen und für sich aus seiner Umgebung herausnehmen. Also mutet jede Linie mir schon jene innere Bewegung zu, die die beiden Momente in sich schließt: die Ausweitung und Begrenzung. Außerdem aber stellt jede Linie vermöge ihrer Richtung und Form noch allerlei spezielle Zumutungen an mich.12 Worringers Vorstellung, dass die Linie „ihre Schönheit nur durch unser Vitalgefühl [erhält], das wir dunkel in sie hineinversenken“,13 wird uns leiten, um der Abschattung (formuliert im Komparativ), die Hegel zufolge medial die Transparenz des Gedankens in Aussicht stellt, begrifflich näher zu kommen. Vasari definiert die schizzi als „eine erste Art von Zeichnungen, die man macht, um die Art und Weise der Haltungen und eine erste Zusammenfügung des Werkes zu finden“; und fügt hinzu: „sie sind gemacht in der Form eines Flecks“.14 Macchia ist zweifellos abschätzig gemeint und hat das in der Skizze noch Unausgegorene im Blick. Im folgenden Jahrhundert wendet sich der Begriff
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Rosand: Drawing Acts (wie Anm. 7), S. 9, bezieht sich diesbezüglich auf Aussagen von Henri Matisse und Paul Klee. Ebd., S. 226; vgl. a. S. 16: „The drama is in the line. Meaning is generated in and by the act of drawing itself.“ Worringer zitiert Theodor Lipps’ Ästhetik: „Es ist eine Grundtatsache aller Psychologie und erst recht aller Ästhetik, daß ein ‚sinnlich gegebenes Objekt‘ genau genommen ein Unding ist, etwas, das es nicht gibt und nicht geben kann. Indem es für mich existiert […], ist es von meiner Tätigkeit, von meinem inneren Leben durchdrungen.“ Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung, in: ders.: Schrif ten, Bd. 1, hg. v. Hannes Böhringer/Helga Grebling/Beate Söntgen, München 2004, S. 68. Ebd., S. 67. Ebd., S. 73 (Herv. v. Verf.). Giorgio Vasari: Le vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori nelle reda zioni del 1550 e 1568, Bd. 1, hg. v. Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Florenz 1966– 1987, S. 117.
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ins Positive. Filippo Baldinucci fasst den Begriff der macchia in seinem 1681 publizierten Vocabulario toscano dell’arte del disegno wie folgt zusammen: Maler benutzen dieses Wort, um die Qualität einiger Zeichnungen, und manchmal auch Malereien [d.h. Ölskizzen] auszudrücken, die mit einer außerordentlichen Leichtigkeit und mit einem solchen Zusammenhang, und Frische, ohne viel Bleistift oder Farbe gemacht sind, dass es gleichsam erscheint, als wären sie nicht von der Hand eines Künstlers, sondern als würden sie durch sich selbst auf dem Blatt oder der Leinwand erscheinen, und sie sagen, dieses ist eine schöne macchia.15 Die generative Kraft der macchia, die sich quasi selbst hervorbringt, veranschaulicht Baldinucci in seinem Eintrag zu bozza – seit Vasari synonym für macchia verwendet – durch eine weitere metaphorische Bezeichnung. Bozza wird hier semantisch auf enfiatura (Anschwellung) beziehungsweise lateinisch tumor, tuberculum zurückgeführt.16 Diese Konnektur ist von erheblicher kunsttheoretischer Tragweite, denn die Metapher suggeriert die Externalität des Formfindungsprozesses. Die scheinbare Natürlichkeit des sich selbst generierenden Linienzugs ist es, welche an den Nachvollzug des Gedankengangs im Linienzug glauben macht, doch sollten wir den Konjunktiv der Formulierung nicht überhören. Alexander Perrig hat in seinen wegweisenden wie kritisch diskutierten Michelangelo-Studien schon auf die Unmöglichkeit des vollen Nachvollzugs einer im Strichbild sich abzeichnenden Gesamtbewegung mit dem Hinweis auf das Argument aufmerksam gemacht, dass deren Rekonstruktion notwendig die „unausgeschriebenen Phasen“ innerhalb des zeichnerischen Prozesses unterschlage.17 In diesen Zwischenphasen konstituiert sich Perrig zufolge ein „neuer Vorstellungsimpetus“, der die „blitzschnelle Vorausschau“ der sich im Prozess der Skizzierung herausbildenden Bildidee motiviert.18 Das Abheben des Bewegungszugs vom Blatt unterstreicht in seiner Immaterialität denjenigen Aspekt der Zeichnung, der notwendig uneinsichtig bleibt und nur vom Vorstellungsvermögen ansatzweise einskizziert werden kann. Es sind insbesondere diese Bewegungen des Pausierens in der Konturierung, die eine Reserve in die Zeichnung einlassen, welche die Konkretion eines inneren Bildes dem Betrachter als gedanklicher Prozess – über dem Blatt schwebend, aber von ihm abgehoben – transparent machen. Was sich durch die Absetzung eröffnet, ist der reflexive Denkraum der Skizzierung, der mit dem kunsttheoreti15 16 17 18
Filippo Baldinucci: Vocabolario toscano dell’arte del disegno, Florenz 1681, S. 86. Ebd., S. 23. Alexander Perrig: Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 1: Michelangelo und die Zeichenwissenschaft. Ein methodischer Versuch, Frankfurt/M./Bern 1976, S. 15. Ebd., S. 17f.
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schen Begriff disegno erfasst ist. Federico Zuccaros Unterscheidung von disegno interno und disegno externo, die er in seiner Akademieansprache am 17. Januar 1594 darlegt, benennt die Spaltung innerhalb der Zeichnung in Einsichtiges und Uneinsichtiges, welche die Gradlinigkeit des Nachvollzugs des Gedankengangs im Linienfluss durchkreuzt. Laut Zuccaro leistet der disegno interno die speculatione, die sich als „Leistung des Intellekts“ („operatione dell’intelletto nostro“) von der Handhabung dieser Spekulation in der Materialisierung des disegno interno im disegno externo absetzt.19 Lizzie Boubli hat in ihrem Artikel Le plaisir et la nécessité, une voie en transit den Abstand zwischen Imagination und Wirklichkeit als Ursprung der Skizze beschrieben: „Es ist die Spaltung zwischen Imagination und dem Wirklichen, aus der heraus das Bedürfnis entsteht, das Zufällige und die Verirrungen einer Form auf dem Papier zu erleben.“20 Laut Boubli lässt „die Antinomie zwischen dem Aufscheinen der Vision in der Intuition des Augenblicks und der Aufzeichnung auf dem Blatt […] die visionäre Zeit und den visionären Raum“ auseinander gehen.21 Boublis Forderung einer Grenzziehung, die den Raum, der nunmehr Imaginationsraum geworden ist,22 konturiert, ist in dem Slash reflektiert, der im Titel dieses Aufsatzes „Meta“ von „Physik“ trennt. Inwiefern ist also der Abstand zwischen Imagination und Wirklichkeit, der sich in der Skizze phänomenal abzeichnet, Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung eines first thought? George Kublers Definition der Aktualität in The Shape of Time mag einen ersten Anhaltspunkt bieten: „Aktualität ist, wenn der Leuchtturm dunkel ist zwischen den Lichtblitzen: es ist der Augenblick der Stille zwischen dem Ticken einer Uhr: es ist das leere Intervall, das auf ewig durch die Zeit schlüpft […] Dennoch ist der Augenblick der Aktualität alles, was wir je
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Zuccaro führt fort: „[…] e altra cosa è il disegno, che è termine di essa speculatione, come diremo poi, & di più perche l’intelletto, non pone egli stesso in essecutione le cose disegnate, ma la mano che opera tutte le cose fattibili.“ Federico Zuccaro: Origine e Progresso dell’Academia del Disegno de’ Pittori, Scultori, & Architetti di Roma, Pavia 1604, S. 18. „[C]’est bien de cet écart entre l’imagination et le réel que naîtrait le besoin d’éprouver la contingence et les errements d’une forme sur le papier.“ Lizzie Boubli: Le plaisir et la nécessité, une voie en transit, in: Ausst. Kat.: Le plaisir au dessin: Carte blanche à Jean-Luc Nancy, hg. v. Jean-Luc Nancy/Eric Pagliano/Sylvie Raymond, Paris 2007, S. 205–213, S. 207. „[C]ette antinomie entre l’éclair de la vision dans l’intuition de l’instant et la trans cription sur la feuille, qui diffère donc le temps et l’espace visionnaires.“ Ebd., S. 209. „Ouvrir l’exposition sur la nécessité de tracer une ligne qui délimite un espace devenu désormais un espace de l’imagination, c’est aussi démontrer la nécessité de la matérialité et de la temporalité en lui donnant, si on peut dire, une part d’éternité par cette inscription même sur la feuille.“ Ebd.
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unmittelbar erfahren können.“23 Kubler begreift die von Streichungen und Korrekturen durchsetzten Notizen und Skizzen als „verschwommene Umrisse des im Dunkel liegenden Kontinents des ‚Jetzt‘, wo die Zukunft von der Vergangenheit geprägt wird.“24 Die Aktualität bezeichnet also den Leerhorizont, der sich zwischen den Markierungen abzeichnet. Die Markierungen signalisieren folglich den Moment des Einfalls, gehen jedoch nicht in diesem auf. Sie sind allein dessen Spur und also im Tempus des „Dort und Damals“ und nicht im „Hier und Jetzt“. Dass diese Spuren jedoch eine Unmittelbarkeit retrospektiv herstellen können, liegt eben in dem Abstand zwischen den Signalen, der Raum für eine neue Aktualität, nun für den Betrachter, schafft. Nicht Transparenz, sondern die Einsicht in das Stolpern im Dunkeln, das sich im Linienzug zeigt, stellt die Nähe zwischen Künstler und Betrachter her. Wenn also der Linienzug ins Straucheln kommt und graduell von der Konturierung ablässt, eröffnet sich ein Denkraum, der dem Vorstellungsvermögen – im ersten Schritt des Künstlers selbst, im zweiten Schritt des den Gedankengang des Künstlers nachvollziehenden Betrachters – Orientierungspunkte bietet, ohne jedoch unmissverständlich in eine klare Richtung zu weisen. Die in der Offenheit unartikuliert erscheinenden Setzungen, in denen der Möglichkeitshorizont des Vorstellbaren aufreißt, sind in der kunsthistorischen Literatur, wenn überhaupt in der Beschreibung in Betracht gezogen, hauptsächlich als sinnentleert beziehungsweise autonom aufgefasst worden. Der Grund hierfür ist, dass diese Manifestationen der Unentschlossenheit des Künstlers im Unausgegorenen der vorläufigen Form in der Lektüre der Zeichnung als Entwurf von etwas Bestimmtem an Bedeutungslosigkeit grenzen. Es ist bezeichnend, dass das imaginierte Bild, das die Betrachtung der Zeichnung im Betrachter hervorruft, sich meist aus Wiedererkanntem zusammensetzt. Ein Großteil der Linien in der Skizze geht nicht im Umriss von etwas Bezeichenbarem auf. Sie sind jedoch keine bloßen Leerstellen. Henri Bergson hat in seinen Überlegungen zu Das Mögliche und das Wirkliche dargelegt, dass in der Möglichkeit „nicht ein Weniger, sondern ein Mehr als in ihrer Verwirklichung“ zu finden ist.25 Bergsons Erklärung dieses Surplus hilft zugleich, das ästhetisch Vielversprechende der Entwurfszeichnung zu erklären: „Tatsächlich aber steckt in den Ideen der Unordnung und des Nichts, wenn sie überhaupt etwas bedeuten, mehr als in denen der Ordnung und der Existenz, weil sie mehrere Ordnungen und mehrere Existenzen und außerdem ein Spiel des Geistes enthalten, der unbewußt mit ihnen jongliert.“26 Dieses unbestimmte Möglich23 24 25 26
George Kubler: The Shape of Time, New Haven/London 61970, S. 17. Ebd., S. 18. Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Friedrich Kottje, Frankfurt/M. 1985, S. 119. Ebd.
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keitsfeld fasst Perrig mit dem Begriff der Pause, Boubli mit „écart“. Beiden gemein ist die Konstatierung einer Hemmung im Prozess der Reifung eines Vorstellungsbildes, die, unter der Perspektive Bergsons betrachtet, die Indeterminiertheit des „Innersten“ beweist.27 Im Folgenden wird beispielhaft ein Skizzenblatt aus dem British Museum in London analysiert, das heute Guercino zugesprochen wird (Bild 1). Nicholas Turner verbindet die Skizzierungen mit dem Altarbild Franz von Assisi und der Heilige Ludwig vor der Lucas Madonna, das für die Kirche Francesco in Brisi ghella um 1618 entstanden ist (Bild 2).28 Das Recto bietet drei Etappen des Entwurfs der Positionierung eines Knienden in Mönchskutte. Eine freihändig gezogene feine vertikale Linie trennt die beiden zentralen Skizzen des knienden Heiligen Franziskus: Er ist linkerhand von vorn, rechts von der Seite dargestellt.29 Während die linke Figur die Hände über der Brust gekreuzt hält und eine leichte Drehung des Oberkörpers aufweist, seine rechte Schulter ist nach vorn geschoben, der Kopf auf diese Seite geneigt, hat die rechte Figur die Arme gehoben, die Hände sind zum Orantengestus geöffnet. Die Verkürzungen der Gesichtszüge innerhalb der Profilansicht (die runde Schädelpartie, das Zusammenrücken der Indikationen von Auge und Nase, das tiefsitzende Ohr) lassen auch hier die Vorstellung entstehen, dass der Kopf des Anbetenden leicht schräggestellt ist. Während die Positionierung des Körpers und die Gestik im Gemälde dem Franziskus sehr nahe kommen, ähnelt die Kopfhaltung hingegen derjenigen des Königs auf der rechten Seite des Altarbildes. Der Blick über die rechte Schulter, welche eine Wendung zum Betrachter indiziert, verbindet wiederum die Franziskusgestalt im Gemälde mit der linken Skizzierung auf der Zeichnung. Auch wenn die Skizzierung der Körperhaltung auf beiden Seiten bereits einen Grad an Deutlichkeit erreicht hat, der es erlaubt, die Skizze auf das Altarbild des Malers zu beziehen, tritt ihre Suchfunktion in derartig offenen Passagen der Strichführung, die sich nicht auf eine Konturierung festzulegen scheint, nichtsdestotrotz hervor. Insbesondere in denjenigen Bewegungsspuren der Linien, welche sich von der Konturierung absetzen, zeichnet sich ein Denkprozess ab, der im Rahmen des vorherrschenden Umrisses eine andere Möglichkeit aufreißt, die jedoch im 27 28 29
Ebd., S. 112f.: „Sollte die Tatsache der Zeit nicht beweisen, daß das Innerste der Dinge indeterminiert ist? Und sollte die Zeit nicht diese Indetermination selbst sein?“ Nicholas Turner/Carol Plazzotta: Drawings by Guercino from British Collections, London 1991, S. 42f., Kat.-Nr. 9. Die Horizontalen, welche den Blattrand markieren, sind mit einem Lineal vermutlich von einer anderen Hand nachträglich gezogen, wie die Unterbrechung der Linie um den sie überschneidenden Kopf auf der rechten Seite der Skizzierung anzeigt.
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Laufe der Ausarbeitung in den Hintergrund getreten ist. Die Kopfform des Mönches der linken Skizzierung setzt sich von der Bildung einliniger Ovale ab, die noch jegliche Konkretisierungen hin zum Gesicht vermissen lassen. Die unmittelbare Lesbarkeit dieser Form beruht auf der Konventionalität der Schematisierung, die den Künstler von der Ausarbeitungslast der Mimesis entlastet.30 Das Kopf-Kürzel ist ein Indiz dafür, dass Guercinos Aufmerksamkeit hier nicht auf die zu ziehende Linie, sondern auf das Darzustellende fokussiert war. Perrig begreift derartige „Formstenographe“ allgemein gesprochen als „provisorisches Gerüst“.31 Sie sind provisorisch in zweifacher Hinsicht: Sie dienen einerseits als Stellvertreter für etwas, das sich in der Ausarbeitung erst definiert. Anderseits fungieren sie als technische Grundlage für die Vorausschau, welche die Skizze betreibt.
Bild 1 Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Der heilige Franziskus, Feder, braune Tinte auf Papier, 131 × 187 mm, London, British Museum.
Eines dieser Ovale ist doppeldeutig, denn es geht in die Profilierung des Eierkopfes des Mönches über und unterstreicht seine Rundung. Durch das Nebeneinander der Linienzüge, die Ovale bilden, entsteht für den Betrachter der Eindruck eines potentiellen Bewegungsablaufes: Der Kopf scheint sich von der linken 30 31
Vgl. Ernst Gombrich: Formula and Experience, in: ders.: Art and Illusion, London 14 1996, S. 126–152, bes. S. 144f. Perrig: Michelangelo und die Zeichenwissenschaft (wie Anm. 17), S. 36.
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Bild 2 Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Der heilige Franziskus und der heilige Ludwig aus Frankreich in Anbetung eines heiligen Bildes, 1618, Leinwand, 252 × 152 cm, die Öffnung, wo sich einst das heilige Bild befand, misst 75 × 57 cm, Brisighella (Faenza), Kirche des Hl. Franziskus.
zur rechten Schulter geneigt zu haben. Die Potentialität ist jedoch Vergangenheit. Die Akkumulierung mehrerer parallel laufender Linien, welche durch die Indikation der linken Ohrmuschel Körper erhalten, drückt eine klare Entschiedenheit für diese Position aus. Eine ähnliche Wendung, wenn auch in der Präferenz unentschieden, lässt sich an der rechten Hand feststellen: Deren Zeigefinger weist quasi in zwei Phasen über sich hinaus nach links. Die alternativen, voneinander
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abgegrenzten Umrisse schaffen ein Möglichkeitsspektrum für die motivische Fixierung einer Bewegung in der Geste, die plausibel scheint, jedoch nicht notwendig ist; schließlich könnte es sich bei dem noch weniger abgespreizten Finger auch um den Mittelfinger handeln, der vom Zeigefinger überschnitten ist. Es liegt nahe, die obere der beiden Linien, die den vorderen Finger unterteilen, als Kontur des zweiten Fingers zu lesen. Jedoch ist es auch möglich, hier eine Zusammenfassung der Phalanx proximalis zu sehen. Also würde es sich eher um Konstruktions- als Konturierungslinien handeln. Die Phasen werden allein durch das Vorstellungsvermögen des Betrachters in Fluss gesetzt, nicht durch die Bewegungsbahn der Linie. Auch in der linken Skizzierung zeichnet sich eine Verdoppelung ab, hier in dem Umriss des Fußes, die es dem Betrachter nahelegt, sich Phasen einer Bewegung vorzustellen. Irritierend ist, dass beide Alternativen in der Dicke des Strichs gleichwertig ausgearbeitet sind. Dieses verleitet dazu, die beiden herausragenden Füße als Paar zu betrachten. De facto handelt es sich beide Male um den linken Fuß, dessen Abstand und Aufsicht korrigiert ist. Der zum Körper näherliegende Fuß wird allein durch den starken Schatten, der unterhalb seiner in Parallelschraffur eingetragen ist, ein körperlich stärkeres Gewicht gegeben. Der Saum des Gewandes, der – mit Voraussicht auf das fertig gestellte Gemälde – oberhalb des Knöchels mit einem dünnen Kontur angesetzt zu sein scheint, wird durch zwei Linienzüge sekundiert, die die Skizzierung des näher am Körper liegenden Fußes durchkreuzen und derart lose aufliegen, dass ihre Motivierung als mögliche Einzeichnungen alternativer Saumverläufe fraglich ist. Ob Guercino hier anhand der dünnen Linien die Bedeckung des Fußes vor dem inneren Auge durchspielt – die Striche hätten also eher als eine Vorstellungsstütze fungiert, als dass sie an ihrer Realisierung schon arbeiteten; sie wären demzufolge im Vagen belassen, um die Entscheidung offen zu halten – oder als Richtlinien für eine räumliche Verkürzung des linken Fußes dienten, ist nicht zu beantworten. Zwei Phasen lassen sich auch innerhalb der Skizzierung der aufrechten Positionierung der durchgedrückten Oberschenkel ableiten. Durch einen festen, harten Strich scheint der Beugungswinkel des Kniens korrigiert zu sein. Die straffen Linien ziehen den Körper nach vorn und versetzen die Knie zurück. Ein Umdenken im Prozess der Skizzierung zeichnet sich ab. Die Veränderung des Kniemotivs versetzt die Figur quasi in Bewegung und kann hypothetisch eine Wendung in Guercinos Gedankengang dokumentieren. In der Entschiedenheit der Strichbewegung, welche einer Ausstreichung gleicht, kommt ein Missfallen an der darunterliegenden Skizzierung zum Ausdruck. Insbesondere die Massierung von parallelen Linien im Beugungswinkel, welche die Position des Knienden gestrafft erscheinen lassen, liegt schwer auf der lockeren, zur Rundung des Strichs tendierenden Skizzierung der Kutte. Er ist im Vergleich zu einer vom
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rechten Bildrand überschnittenen, ähnlichen Parallelschraffur unregelmäßiger gezogen, denn seine Linien fügen sich, wenn auch sperrig, in die der Konturierung, während jene offensichtlich mimetisch ungebunden ist. Zwischen beiden Feldern und auf einer Achse mit ihnen liegt eine Parallelschraffur, die jedoch in einer ununterbrochenen Bewegung gezogen ist und weit flüssiger erscheint. Es liegt nahe, zu vermuten, dass Guercino hier in diesen fleckenartig aus der Zeichnung herausfallenden Feldern seine Feder beziehungsweise Hand durch eine mimetisch unmotivierte, rein mechanische Bewegung elastisch gemacht hat, die dort, wo sie in die Skizzierung eingreift, eine gewisse Härte gegenüber der zu korrigierenden, ihr zugrunde liegenden Konturierung zeigt. Die sich in der Distanzierung zum Skizzierten aufbauende negative Energie wird im Allgemeinen in Ausstreichungen abgebaut. Auf der Skizze Guercinos zeichnet sich innerhalb dieser annullierenden Bewegung eine Motivation der Strichführung hin zu einer Überblendung des Beanstandeten durch eine alternative Setzung deutlich ab.32 Éric Pagliano verweist in seiner epochenübergreifenden Untersuchung der Praktiken der Ausstreichung innerhalb der Zeichnung bezeichnenderweise auf das Motto, das Piranesi dem Frontispiz einer Sammlung von Gravuren nach Zeichnungen Guercinos eingeschrieben hat – „Col sporcar si trova“ (durch Beschmutzen findet man)33 – um schließlich die Ausstreichung als optionale Eröffnung darzustellen. Die beiden deutlich ausgearbeiteten Skizzierungen stehen einem vagen Umriss am linken Bildrand gegenüber. Sowohl diese mit weniger als zehn Linien skizzierte Figurenstudie als auch die scheinbar darstellerisch unmotivierte Parallelschraffur auf der Rechten sind fragmentiert. Die äußerst flüchtig skizzierte, quasi vom linken Bildrand in die Szene drängende Figur wirkt wie eine geisterhafte Vorahnung der Figurenstudie auf der rechten Bildhälfte, die den Heiligen im Orantengestus mit geöffneten Armen in Seitenansicht wiedergibt. Wenn das kleine Oval in der Skizzierung des untersichtigen Haupts als Auge gelesen wird, dann könnte daraus eine Drehung des Kopfes über die Schulter zum Betrachter abgeleitet werden. Die Beugung des Kniens ist allein durch einen stark gekrümmten Strich umrissen. Oberhalb dieser Konturierung findet sich ein Linienzug, der schräg nach unten rechts geführt die Breite des Bauchs bemisst, um dann senkrecht sturzartig abfallend in äußerst dünnem Strich die
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33
Vgl. Éric Pagliano: La rature en suspens. Pratiques de la rature dans le dessin (XVIe–XIXe siècles), in: Ausst. Kat.: Le plaisir au dessin (wie Anm. 20), S. 191–203, S. 191: „La biffure, la rupture, la rayure seraient donc la conséquence graphique du déplaisir. Un déplaisir qui serait toutefois passager, dépassé par le reprise du geste qui cherche en traçant sur le support.“ Ebd., S. 203.
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Nicola Suthor
Außenkontur zu umreißen. Darüber arbeiten nicht mehr als vier Linien an der Festlegung der Armstellung. Die längste Linienführung setzt an der Konturierung der hochgezogenen Schulter an und läuft den rechten Arm entlang aus. Die Ausdünnung der Linie, welche für ein Nachlassen von Druck und Tinte spricht, begreifen wir also als Indiz einer gerichteten Bewegung. Die Orientierung der Bewegungsbahn bleibt jedoch zwangsläufig hypothetisch. Die ausgestreckten Gliedmaßen sind nur als Stümpfe gegeben. Ein markanter Linienzug, der offensichtlich die Konturierung der Unterseite des rechten Arms im Blick hat, stellt sich zur Konturierung der Armstreckung quer und knickt jäh nach oben ab. In nächster Nähe zueinander befinden sich auf diesem Blatt also zwei stark geknickte Linienführungen, die jedoch nicht allein deshalb eklatant auseinanderdriften, weil die eine nach oben und die andere nach unten schwingt. Die Differenz liegt vor allem in der Motivierung des Strichs. Die Linie, die den Bauch umreißt, variiert in der Breite des Strichs stark und lässt durch die leichte Wellenbewegung, welche die menschliche Anatomie beschreibt, die Plastizität des Skizzierten anschwellen. Sofern der darüber befindliche Linienzug darstellerisch motiviert ist, kann in ihn eine Markierung des Ellenbogens hineingelesen werden. In der gleichmäßigen Breite des Duktus zeigt sich jedoch vordringlich die Entschiedenheit des Strichs und damit die Charakteristik der Handschrift Guercinos – und zwar gerade weil der Strich sich kaum einer Darstellungsabsicht beugt und in deren Konturierung nicht aufgeht. Noch deutlicher tritt diese Eigenständigkeit der Linie als Markierung der Handschrift in der Zickzacklinie zu Tage, welche den oberen Ansatz des Umrisses des Kniemotivs durchzustreichen scheint. Sie etwa als Stauung des Gewands zu motivieren, grenzt schon an eine Überfrachtung des visuell Gegebenen. Die Zickzacklinie korrespondiert mit der bereits beschriebenen flüssig gezogenen Schraffierung im rechten Bildfeld und diese phänomenale Ähnlichkeit des Linienzugs löst rückwirkend auch die Zickzacklinie aus ihrem Zusammenhang heraus. Die in ihrer Mechanik einer Schreibbewegung gleichkommende Bewegung steht dem Schwung des ondulierenden Linienzugs gegenüber, der in der Skizzierung der Gewandpartie der frontalen Figur am ausschweifendsten ist. Unterhalb des angewinkelten und erhobenen Arms, welcher mit vergleichsweise steifen feinen Strichen skizziert ist, wellt sich ein an der Schulterpartie ansetzender Linienzug, der schließlich unterhalb des Ellenbogens abbricht. Eine ähnlich stark, jedoch deutlich kürzere gewellte Linie setzt hier an, welche auf Höhe des Bauchnabels den Ansatz einer feinen vertikalen Linie umkreist, die nach unten laufend die Markierung der Gewandfalten durchkreuzt, um schließlich in eine über die Körpergrenze ausufernde Linienbahn zu münden. Die derart abgehobene Vertikale hat vermutlich die Funktion, die bei Franziskusdarstellungen stets hervorgehobene Kordel zu bezeichnen. Eine ähnlich steife aus dem Strichbild
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Meta/Physik der Skizze
herausfallende, unmittelbar links neben dem rechten Knie befindliche Vertikale, dessen obere Hälfte in die Konturierung der Verkürzung des Unterschenkels einschwingt, konterkariert jedoch die Eindeutigkeit dieser Bedeutungszuschreibung. An dem Umriss der Beinstellung ansetzende und Gewandbahnen vorstellende ausschwingende Linienzüge schaffen dem Knien Terrain. Die Konturierung des Gewandsaums löst sich auf und schlingert nach unten. Deren überbordende Linie ist im Sinne ihrer Motivierung deshalb so wirksam, weil sie durch die Gratwanderung zwischen Loslösung von und Rückverweis auf die Konturierung das Symptomatische auf das Symbolische überspringen lässt und dadurch mit einer ihr quasi eigenen „Innerlichkeit“ affiziert. Die mutwillige Fahrlässigkeit der Linienführung bringt die Darstellung an ihre Grenzen. Die ausschweifende Linie schafft Raum für die Vorstellung der Zuspitzung des dargestellten Moments: Das Auf-die-Knie-Fallen ist zugleich als Enthobensein visualisiert und vermag also den ekstatischen Rausch der mythischen Schau des Heiligen Franziskus in dem fließenden Gewand zu veranschaulichen. Das Kursorische der Skizze formuliert einerseits ein Versprechen auf Darstellbarkeit, das die Zeichnung ideell übersteigt. Denn sie definiert das Angedachte nicht aus, lässt es im Vagen bestehen. Dieses ist hingeworfen, allein projektiert. Die Vorstellungskraft des Betrachters ist aufgerufen, sich das Angedeutete auszumalen, und dessen Leistung identifiziert erst eigentlich den Bildgedanken. Andererseits ist die Skizze ein greifbarer Tatbestand, ein factum, denn sie weist ein eigenes Profil in der Handhabung des Linienzugs auf, der für den Betrachter nachvollziehbar ist. Es gilt folglich zwei Ebenen auseinanderzuhalten: diejenige des Symbolischen – hier formuliert sich die Bildidee – und die Ebene des Symptomatischen – hier, in der Charakteristik des Strichs, zeigt sich die Persönlichkeit des Künstlers. Diese Zusammenschau zweier Aspekte eines „Inneren“ kompliziert die Wahrnehmung jedoch enorm. Eine derartig differenzierte Sicht ist durchaus diffizil, denn beide Ebenen sind in der einzelnen materiellen Linie verwoben. Die Schnelligkeit der Ausführung, Garant der Unmittelbarkeit der künstlerischen Äußerung, scheint den Spalt zwischen den Ebenen zu schließen. Aber wodurch? Die Schnelligkeit des Kursiven (ob im Schriftbild oder im Linienfluss) schafft Abbreviaturen, die ans Unleserliche grenzen. Hier zeigt sich die Routine in der Praxis, die nicht nur Bedingung der schnellstmöglichen Skizzierung einer Bildidee ist – die Schnelligkeit verkürzt den Weg zwischen mens und manus – sondern auch Grundlage der Herausbildung der künstlerischen Handschrift. Die hohe Wertschätzung der Skizze als unmittelbares Zeugnis der Phantasietätigkeit des Künstlers, wie sie Hegel prägnant formuliert hat, erklärt sich aus ihrer Nähe zur Praxis der Aufzeichnung als intellektueller Äußerungsform. Wie die Bewegung des Schreibens basiert auch die des Umreißens auf einem feinmotorischen Ablauf. Auch wenn Guercino seine Zeichnung nicht signiert hat, ist seine schwungvolle Handschrift in der Notierung „Avendo“
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Bild 3 Studie für die Kreuzigung des heiligen Petrus, Feder, braune Tinte auf Papier, 14,4 × 16,8 cm, New York, The Metropolitan Museum.
(habend) am rechten Bildrand buchstäblich greifbar. Inwieweit Guercino hier bewusst Handschriftlichkeit thematisch werden lässt, sei dahingestellt. Eine eindrückliche Zusammenkunft von Entwurf und Signatur findet sich auf einer Federzeichnung, die seinem Zeitgenossen Jusepe de Ribera zugeschrieben wird (Bild 3). Eine flüchtige Skizze ist von verschiedenen Schreibweisen des Künstler-Monogramms umgeben. An der unteren Bildkante und vom linken Bildrand überschnitten findet sich die lateinische Version seines Namens: „Joseph de Ribera“.34 Während die Skizzierung eines Märtyrers, der, wie die Aufsicht unmissverständlich nahelegt, auf dem Boden liegend ans Kreuz genagelt wird, eine klare und insbesondere bezüglich der Verkürzung technisch ausgereifte Bildvorstellung liefert, scheint Ribera in seiner Schreibübung unentschieden zwischen dem „J“ (für „Joseph“ beziehungsweise „Juseppe“) und dem „G“ (für die italienische Version seines Namens „Giuseppe“) hin und her zu pendeln. Eine bemerkenswerte Engführung zwischen Zeichnung und Schrift zeigt sich am oberen Balkenabschluss, der eher hingeschrieben als skizziert erscheint. 34
Ausst. Kat.: The Spanish Manner. Drawings from Ribera to Goya, hg. v. Jonathan Brown, New York 2010, Kat.-Nr. 7.
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Meta/Physik der Skizze
Bild 4 Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino: Landschaft, Der heilige Franziskus, Feder, braune Tinte auf Papier, Verso von Bild 1.
Auf dem Verso des Blattes von Guercino ist zu sehen, wie eine ondulierende Linie sich völlig losgelöst als kalligraphische „Schreib“-Übung präsentiert (Bild 4). Zentral im Bild, jedoch im Vergleich zu den Skizzierungen auf dem Recto wesentlich kleiner ist der auf die Knie gehende Franziskus im Orantengestus dargestellt. Seine Figur ist von der Taille ab durch eine englaufende Parallelschraffur ausgestrichen, die nach unten an Breite zunimmt und schließlich mit einem großen Schwung nach rechts ausläuft. Darunter befindet sich eine Landschaft mit einem Gebäudekomplex im rechten Hintergrund – möglicherweise eine Klosteranlage – und einer Baumgruppe im Vordergrund. Das Terrain im Vordergrund und die Seitenansicht der Architektur sind anhand kurzer Parallelschraffuren gebildet, die Baumkronen hingegen aus fortlaufenden Liniendrehungen. In diese Strichbewegung läuft die ondulierende Linie aus, die sich oberhalb der Skizze Bahn schafft. Sie fällt ähnlich der Schraffurfelder auf dem Recto aus dem Rahmen des Skizzierten und lässt wie bei diesen an eine unabhängige Lockerungsübung in der Handhabung der Feder denken. Vier kürzere Linienzüge, die die rechte Seite füllen, scheinen das Bewegungsmuster der sich überschlagenden Linie fortzuführen. Die fließenden sich überschlagenden Linien kontrastieren mit den beiden Feldern, gebildet aus Parallelschraffuren in der unteren rechten Ecke, deren prominenteres den unteren Teil einer Liniendre-
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hung, aus der eine Pflanze herauszuwachsen scheint, durchstreicht. Diese Felder sind zwar ebenfalls mimetisch ungebunden, jedoch hart gezogen und greifen entschieden in die Skizzierung ein, denn ein ähnliches Feld streicht, wie bereits beschrieben, den unteren Teil der Skizzierung des Franziskus durch. Unmittelbar unterhalb der Landschaftsschilderung sehen wir eine weitere derartig schraffierende Linie, jedoch fließender und in einer fortlaufenden Bewegungssequenz gezogen. Sie scheint auf den ersten Blick unmotiviert, eine Bewegungsspur nur, welche jedoch der Skizzierung eines Terrains innerhalb der Landschaftsskizzierung nahekommt. Das Schlingern der Linie kann den Betrachter ins Schleudern bringen. Er ist stets in Gefahr, im Nachvollzug der Gratwanderung der Linie abzugleiten, eine bloße Spur als Zeichen zu lesen und vice versa. Die Linie stillzustellen und vom dargestellten Sachverhalt getrennt als hard fact zu behandeln, anhand dessen Bedeutungszuschreibung praktiziert wird, ist jedoch ebenso wenig eine Lösung und verkennt die Motiviertheit der Linie zum Gedankengang. Das Begriffspaar Tendenz-Latenz, wie es der Philosoph Ernst Bloch zu sammenbringt, kann helfen, die Motivierung der Formfindung als (vor)schwebende Gedankenbewegung hin auf das „Noch-Nicht-Gekommene“35 zu erfassen. Das Krisenmoment des Anschwellens der Zeichnung im Entwurf kann im Sinne Blochs als „utopische[r] Motor“, bei dem „das Wesen aus der Erscheinung fragend, suchend herausgearbeitet“ wird, begriffen werden. Blochs Koppelung von der „Realgärung“ der Tendenz und der „Realverschlossenheit“36 der Latenz lässt sich mit dem Doppelaspekt der Zeichnung sinnvoll verknüpfen. Eine Be schreibung, die nur auf Realisierungstendenzen schaut, klammert den Prozess der Gärung aus. Blochs Bedenken, „[a]uch die Wunschlandschaften der Erfüllung werden lediglich von der Intention her in den Wesensraum einskizziert, mit Zeichen der Hoffnung, nicht der Garantiertheit, gar transzendenten Faktizität“, sollte uns Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker abhalten, Entwurfszeichnungen durch die Konstatierung des dargestellten Bildsujets, als Faktizität der Zeichnung aufgefasst, vorschnell stillzustellen und „Wunsch- oder Idealkategorien als real in den Raum der Nicht- oder Noch-Nicht-Erfahrung“ hinein zu projizieren, denn „Entschiedenheit, Objektivierbarkeit, Realität [ist hier] noch nicht vorhanden“.37 Das Engagement des Betrachters im Erkennen des dargestellten Sachverhaltes kann bis zu einem gewissen Grad mit dem „utopischen Motor“ kurzgeschlossen werden.
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Ernst Bloch: Einzige Invariante: Tendenz auf Erscheinung des Wesens [1936], in: ders.: Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt/M. 1985, S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 262f.
Yannis Hadjinicolaou
THE MIND AND THE EYE IN THE HAND Arent de Gelder’s Processuality of Paint in the Context of Early Modern Art Theory*
1. In the spacious interior of a studio two figures are visible in the foreground (Fig. 1). The male figure is a painter with his tools. He is about to finish a female portrait and is turning towards the beholder with a broad grin that partially shows his teeth. The older, slender woman poses rather elegantly dressed, holding an orange in her hand and looking slightly in the direction of the painter. She appears in profile. The painter is also sitting, but could raise himself from his position at any moment. This potential movement is suggested by the cord of his garment that is moving to the left as if caught by a draught. The table, smeared with chalk, is covered with painting tools and diverse pots of colour (Fig. 2). The artist seems to be wiping colour out of his brush, but is more likely only pointing to the colours or oil as binding medium, possibly referring to his finger painting.1 In this painting, the focus lies on the craftsmanship of the artistic work, underlining the elevated social position of this particular artist in question. The picture seems like an explanation of principles, which challenge the topos of the humanistic artist.2 Arent de Gelder is a painter who thinks with his hands. Consequently enough, the traditional symbol for the abstract, art-theoretical aspects of art, namely a pair of dividers, is hanging prominently on the table in the foreground. Even if in effect the drawing and anatomy in the painting are not “correct” in the sense of the classical rules, it is not being used. Instead,
*
1 2
This text is an abbreviated version particularly of the second chapter of my Ph.D., which is entitled „Denkende Körper – Formende Hände. Handeling in Kunst und Kunsttheorie der Rembrandtisten” (to be published by Walter de Gruyter 2016). Mirjam Neumeister: Holländische Gemälde im Städel Museum 1550–1800, vol. 3: Künstler geboren nach 1630, Petersberg 2010, p. 109. Ibid., p. 112.
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Yannis Hadjinicolaou
Fig. 1 Arent de Gelder: Selfportrait as Zeuxis, signed, 1685, oil on canvas, 144 × 169 cm, Frankfurt/M., Städelsches Kunstinstitut. Fig. 2 Detail from Fig. 1. Fig. 3 Detail from Fig. 1.
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THE MIND AND THE EYE IN THE HAND
the picture manifests a preference for colour, to which de Gelder points, as already mentioned, in his gesture. In accordance with his palette, the whole scene is dominated by a dark brownish colouring, which corresponds to the chiaroscuro values of the palette. The earthy tones dominate – a characteristic of the Rem-
Figs. 4a and 4b Detail from Fig. 1.
brandtists. At the same time this accentuates their difference from the classicists and their palette that is made up by the colours of the rainbow.3 The painting, signed and dated to the year 1685, holds the generally accepted title Selfportrait as Zeuxis.4 Besides his palette, the painter is holding a maulstick and a bundle of brushes in his left hand, some of which are directed at the painting inside the painting, as if the portrait of the lady were being produced by means of a chaotic and accidental application of pigments (Fig. 3). This picture in a picture, which appears before our eyes, is not yet finished and under-
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4
Ulrike Kern: Samuel van Hoogstraeten and the Cartesian Rainbow Debate. Colour and Optics in a Seventeenth-Century Treatise of Art Theory, in: Simiolus 36/1–2 (2012), pp. 103–114, p. 111. Jan Bialostocki: Rembrandt’s Terminus, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 28 (1966), pp. 49–60; Albert Blankert: Rembrandt, Zeuxis and Ideal Beauty, in: Joshua Bruyn (ed.): Album Amicorum J.G. Van Gelder, The Hague 1973, pp. 32–39; Ekkehard Mai: Zeuxis, Rembrandt und De Gelder – Das Selbstbildnis als Kunstprogramm, in: Ex. cat.: Arent de Gelder (1645–1727), Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, ed. by Dordrechts Museum/Wallraf-Richartz-Museum, Gent 1998, pp. 98– 109; Ekkehard Mai: Selbstbildnis als Zeuxis, in: Ex. cat.: Arent de Gelder (1645– 1727), p. 174; Ekkehard Mai: Rembrandt “Selbstbildnis als Zeuxis”, Berlin 2002.
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Yannis Hadjinicolaou
lines the process-based character of the form, a central feature of de Gelder’s painting practice. His working coat is stained with colour as a visible, active trace of the painting process (Figs. 4a and 4b). Additionally, colour is applied to his right arm in a way that gives birth to a further potential image, namely a face. These elements were presumably put forward as visual arguments in response to Baldinucci’s critique, which followed the report of Rembrandt’s former pupil Bernhard Keil and was published in 1686. Baldinucci stylised Rembrandt as a peasant (una faccia bruta e plebea), who was in the habit of wiping his fingers upon his clothes while painting.5 In Baldinucci’s opinion, this kind of habit is not appropriate for a free and noble artist, but is connected to the milieu of a craftsman and therefore socially debasing. De Gelder’s palette is, metaphorically as well as literally, part of the body of the artisan.
2. In the 1678 Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst. Anders de zicht baere werelt by Arent de Gelder’s first teacher, Samuel van Hoogstraten, the former Rembrandt pupil and assistant describes the ongoing painting contest between the artists Knipbergen, van Goyen, and Porcellis.6 It seems that this anecdote was an inspiration for Heinrich Wölfflin’s Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, in which the Swiss art historian wrote about the “double root of style.” The fact that the first page of the Principles of Art History shows a picture by Jan van Goyen, thus implicitly championing the “painterly” participant of the topical contest recounted by van Hoogstraten, is not accidental; Wölfflin however refers to another story narrated in Ludwig Richter’s Lebenserinnerungen (1885) (Fig. 5).7 5
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Filippo Baldinucci: Notizie dei Professori del Disegno da Cimabue in qua, Florence 1847, vol. 5, p. 307: “Lo scomparire che faceva in lui una faccia brutta e plebea, era accompagnato da un vestire abietto, e sudicio, essendo suo costume nel lavorare, il nettarsi i pennelli addosso, ed altre cose fare tagliate a questa misura.” This argument is further developed in my Ph.D. (as fn. 1), pp. 85–88. Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst: Anders de zichtbaere werelt, Rotterdam 1678, pp. 237f. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Munich 1915, p. 13: “Ludwig Richter erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie er in Tivoli einmal als junger Mensch, zusammen mit zwei Kameraden, einen Ausschnitt der Landschaft zu malen unternahm, er und die andern fest entschlossen, von der Natur dabei nicht um Haaresbreite abzuweichen.” Cf. David Summers: Heinrich Wölfflin. Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915, in: Richard Stone/John-Paul Stonard (eds.): The Books that Shaped Art History, London 2013, pp. 42–53.
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Fig. 5 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grund begriffe, Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Munich 1915, p. 1.
In the Dutch story, all three had to paint the same landscape, nonetheless producing three completely different pictures described by the terms Usus, Fortuna, and Idea. Knipbergen’s landscape was connected with the concept of Usus, the lowest of the three, which meant a good Imitatio but artistic insufficiency.8 Following the predominance of neo-platonic art theory, Idea and hence Porcellis won. It is significant that Porcellis was placed in line with Raphael. The mental image or more generally the Idea, is, according to van Hoogstraten, simply illustrated by the artist. In this context, it is important to emphasise that Porcellies also “acts” with his brush (met zijn penseelen handelde).9 This action, however, is completely different from van Goyen’s: Porcellis’s brush is guided, as well as determined, by his mental image.
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9
Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6), p. 237: “Knipbergen genoemt, stelde een tamelijk grooten doek op den Ezel, en, de hand of’t penseel tot zijn wil hebbende, begon dapper te schrijven, dat is, op zulk een aengewende wijze te schilderen, dat al wat hy ter needer zette, gedaen was.” Ibid., p. 238: “De derde was onzen Parselles, dien grooten Raphel in’t zeeschilderen! […] als zy zagen hoe traegelijk hy met zijn penseelen handelde […] hy […] formeerde […] eerst in zijn inbeelding ’t geheele bewerp van zijn werk formeerde, en in zijn verstandt een schildery maekte, eer hy verw in ’t penseel nam.”
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Yannis Hadjinicolaou
The work of van Goyen and thus Fortuna describes van Hoogstraten appearing “as though the mind and the eye were placed in the artist’s hand.”10 In another passage, van Goyen’s work is mentioned as “having roughly splashed all over his panel, here light, there dark, more or less like a multicoloured Agate […] and in short his eye, trained to see forms that were concealed in a chaos of paint, directed his hand and understanding so skillfully that one saw a complete painting before one could rightly perceive what he had in mind [my emphasis].”11 In van Hoogstraten’s account of van Goyen’s technique, the term Handeling is fully understood in its meaning as “action,” which is used in Dutch to this day, in addition its meaning as manner or the handling of any kind of instrument. In contrast to the Handeling performed by Porcellis, the kind of Handeling associated with van Goyen describes a power, which derives directly from the body and as shaped form strikes the beholder as an independent force. With this van Hoogstraten emphasises the central role of the hand, which partakes or even evokes the activity of thought (in that case opposed to the idea of classical disegno).12 In the case of the “thinking hand,” form, body, and thought are a single entity. In his Disegno of 1549, Anton Francesco Doni mentioned the ability of the Fiamingi or Oltramontani to depict materials such as silk in a most natural way (in modo che gli fanno parer naturalissimi) and added: “si dice in proverbio che gl’hanno il cervello nelle mani.”13 The artist north of the Alps is 10
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13
Ibid., p. 237: “of dat het oog in de ruwe schetssen van gevallige voorwerpen eenige vormen uitpikt, gelijk wy aen den haert in het vuer pleegen te doen; of dat de handt, door gewoonte, iets formeert, min noch meer als wanneer wy schrijven; want een goedt schrijver maekt goede letteren, schoon hy ’er niet aen gedenkt, en zijn oog en verstandt schijnen in zijn hand geplaetst te zijn.” Cf. Ernst van de Wetering: Rembrandt. The Painter at work, Berkeley/Los Angeles/London ²2004, pp. 85f. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6), pp. 237f.: “want hy zijn geheel panel in ’t gros overzwadderende, hier licht, daer donker, min noch meer al seen veelverwige Agaet […] en in ’t kort zijn oog, als op het uitzien van gedaentens, die in een Chaos van verwen verborgen laegen, afge recht, stierde zijn hand en verstandt op een vaerdige wijs, zoo datmen eeb volmaekte Schildery zag, eermen recht merken kon, wat hy voor hadt.” Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, p. 251. For the disegno tradition see: Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zu einer Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), pp. 219–240; Ulrich Pfisterer: Die Entstehung des Kunstwerks. Federico Zuccaris „L’Idea de’ pittori, scultori et architetti, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 38 (1993), pp. 237–268; Ex. cat.: Disegno. Der Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit, ed. by Hein-Thomas Schulze Altcappenberg/ Michael Thimann/Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, München 2007. Anton Francesco Doni: Disegno, Venice 1549, cited after Martin Warnke: Der Kopf in der Hand, in: id.: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zur Kunst und Kunsttheorie, Köln 1997, pp. 108–120, p. 113. Concerning the “thinking hand” formula see Horst
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Fig. 6 Arent de Gelder: Portrait of Herman Boerhaave with his Family, signed, about 1722, oil on canvas, 104,5 × 173 cm, Amsterdam, Rijksmuseum.
considered to have “his brain in his hands.” Also Michelangelo’s lapidary statement is to be understood in this context as a critical comment on insufficient disegno: “[the artist] should paint with the mind not with the hand.”14 The Flemish humanist Lampsonius from Bruges formulated a northern answer to this: “The Italian has brains in his head […] the Netherlander has wit in his hand.”15 Van Hoogstraten’s description of van Goyen’s painting also applies to the landscape depicted within Arent de Gelder’s family portrait of Herman Boerhaave with his wife and daughter from around 1722, today in Amsterdam (Fig. 6).16 It is reminiscent of landscapes by Rembrandt and van Goyen (Figs. 7a and 7b)
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Bredekamp: Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaften, in: Angela Lammert/Carolin Meister/Jan-Philipp Frühsorge/Andreas Schalhorn (eds.): Räume der Zeichnung, Nürnberg 2007, pp. 12–24; Juhani Pallasmaa: The Thinking Hand. Existential and Embodied Wisdom in Architecture, West Sussex 2009. Warnke: Der Kopf in der Hand (as fn. 13), p. 120. Thijs Weststeijn: Karel van Mander and Francisco Pacheco, in: Anton W. A. Boschloo (ed.): Aemulatio. Imitation. Emulation and Invention in Netherlandish Art from 1500 to 1800. Essays in honour of Eric Jan Sluijter, Zwolle 2011, pp. 208–223, p. 209. Lampsonius is cited by Karel van Mander: “Want den Italiaen heeft d’hersens in zijn hooft/ […] de Nederlander/Heeft in zijn handt vernuft.” See for a detailed description of the painting: Yannis Hadjinicolaou: Malen, Kratzen, Modellieren. Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (eds.): Das haptische Bild, Berlin 2013, pp. 227–252, pp. 227ff.
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Fig. 7a Rembrandt: Stormy Landscape, oil on wood, 52 × 71,5 cm, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich Museum. Fig. 7b Jan van Goyen: Riverview with Church at Warmond, about 1644, oil on wood, 40 × 61 cm, Den Haag, Private Collection. Fig. 8 Detail from Fig. 6.
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(according to Roskill, the former adopted the concept of the latter).17 The landscape with a city, which appears from a bird’s eye view to the right of Boerhaave’s wife, derives from a chaos of scratches and colour, developing its own autonomous force (Fig. 8). This picture emerges out of the partly uncontrolled hand of the painter.
3. In van Hoogstraten’s narration it is evident that the thinking dimension of the form-giving hand is a product of practice. To evoke the intended impression of chance, it is necessary to achieve a habit in handling the tools.18 In effect, the pictures appear “automatically” even before it is possible to recognise and understand the “goals” as well as the “ideas” behind the performed actions, similar to someone playing the lute or riding a bicycle without reflecting upon the action itself. The so-called “body schema” has been trained to perform the learned technique, which is therefore performed automatically.19 This practice, however, is not achieved by neuronal processes alone, but requires a bodily interaction with the world taking place between the instances of body-action (here in the sense of handling the brush) and mind. Regarding this “automatic” painting process and the active force of colour, the Rembrandtists are (rather in a systematic sense) part of a non-linear tradition that reaches from Titian and Gainsborough all the way to Courbet and even Pollock. It is not a coincidence that van Hoogstraten describes the production of objects by an artist as a searching process in which pictures appear out of chaotic, amorphous forms. He advises the young artist, or the art lover – who were the primary readers of his Inleyding – to first sketch the schematic shapes and then work them out in detail, thus hunting for forms par excellence.20 Van 17
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Mark Roskill: The Languages of Landscape, Philadelphia 1997, p. 78; Ex. cat.: Rembrandt’s Landscapes, ed. by Christian Vogelaar/Gregor J. M. Weber, Wilhelmshöhe, Staatliche Museen Kassel/Stedelijk Museum De Lakenhal, Leiden, Zwolle 2006, pp. 47–53. Following Marcel Mauss and Pierre Bourdieu, the “bodily memory of habits” advances into a “habitual memory”; cf. Herman Roodenburg: The Eloquence of the Body. Perspectives on Gesture in the Dutch Republic, Zwolle 2004, p. 12. Cf. John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema, in: id.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, ed. by Horst Bredekamp/Marion Lauschke, Berlin 2011 (Actus et Imago 2), pp. 253–271. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6), p. 27: “Overzie in een tronie vry de byzondere leden, ten waer gy alleen met losse streeken de holachtige schaduwkens, van oogen, neus, of mond, die zich voornamentlijk vertoonen, aenweest; doch dat dit niet te vroeg, en buiten haer behoorlijke plaets geschiede. Deeze manier van in’t gros te schetssen, is by de meeste op een onbedwonge wijze in ’t gebruik, maer sommige hebben zich aengewent, met rechte
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Hoogstraten speaks about the different possibilities of Handeling in drawing as well as in painting and stresses the importance of the raw sketch, ruwe schets (in this context we can think of Leonardo’s wall sprinkled with macchie). It is a permanent process that mediates between an unformed-chaotic and a formedspecific gestalt. At the same time, despite encouraging young pupils to start with the fine one, van Hoogstraten advises them instead to choose their own Handeling (in the sense of a fine or rough manner). The Rembrandtists do not follow the force of the fixed line, which outlines and defines, but prefer instead the infinite possibilities of the freely flowing, open line or that of the macchia (colour stain). Alexander Cozens’s Blot Spot Method from the year 1785 captured by the statement: “To sketch is to delineate ideas; blotting suggests them,”21 is implicitly formulated by van Hoogstraten. As it was seen as a storage space for ideas that were still in the stage of becoming and could hence be changed at any moment, it is known that the method of “raw sketching” was very popular among art lovers. For van Hoogstraten, the ruwe schets is a result of a creative searching for forms. At the same time, it is unfinished, a fact that again calls to mind the painting contest and the winner Porcellis.22 Roger de Piles, an admirer of Rembrandt, favoured the fast sketching of thoughts because it defined freedom and spontaneity. He considered this a sign of intelligence, revealing again that the Rembrandtists’ schematic, raw habit of sketching and the process of thought should be taken as a single entity.23 During this hunt for forms, the motion of the hand interacts with mental processes.
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streekjes, de voornaeme gedeeltens in vierkantachtige, langwerpige, en in hoek achtige formen, doch niet geheel toegehaelt, te begrijpen. Ik lat dit aen de keur des leerlings: maer wat verder het ruw schetsen belangt, het is de eerste grontvest van ’t wel teykenen.” Cf. Gijsbert M. van de Roemer: Regulating the Arts. Willem Goeree versus Samuel van Hoogstraten, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 61 (2011), pp. 184–207, p. 199. Cited after Johannes Stückelberger: Skying. Wolkenmalerei als Übungsfeld einer autopoetischen Ästhetik nach 1800, in: Friedrich Weltzien (ed.): Von Selbst. Autopoetische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, p. 117. See further: Werner Busch: Alexander Cozens’ “blot”-Methode. Landschaftserfindung als Naturwissenschaft, in: Heinke Wunderlich (ed.): Landschaft und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1995, pp. 209–228, esp. p. 209 and p. 220; Ex. cat.: Turner – Hugo – Moreau: Entdeckung der Abstraktion, ed. by Raphael Rosenberg/Schirn Kunsthalle Frankfurt, Munich 2007, p. 73. Cf. Dario Gamboni: “Fabrication of Accidents”: Factura and Chance in Nineteenth-Century Art, in: RES 36 (1999), pp. 205–225, p. 206. Christopher Atkins: The signature Style of Frans Hals. Painting, Subjectivity and the Market in Early Modernity, Amsterdam 2012, p. 92ff. Slive: Rembrandt and his Critics (as fn. 5), p. 129. Edgar Wind mentions in another context how Friedrich Schlegel “Comparing ‘rough drafts of philosophy’ to the sketches […] proposed to ‘sketch philosophical worlds with a piece of chalk, or char-
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Ideas can indeed appear while drawing or painting. Balzac expressed this conviction eloquently in his Unknown Masterpiece: “An artist should only think with the brush in his hand.”24
4. In the case of Arent de Gelder, this search for potential forms took place through the principle of chance, the conscious, partly uncontrolled, motion of his hand, and the radical use of scratches (even more drastically than Rembrandt), which gradually define objects. This process also occurred when applying colour, including the modelling function of colour, as de Gelder also used his hands (like Titian or Rembrandt) when working. The back and forth of the painting action as a dichotomy between creation and destruction (the scratched colour) is evident here. This tension is embodied by the artist’s signature as well as by the partly scratched garment of the older woman who is blessing a young man (Figs. 9, 10a and 10b). The principle of scratching becomes a pictorial signature in a metaphorical as well as a literal way. Due to this calculated and spontaneous motor activity of the hand, the painter creates forms that seem to be governed by the principle of chance. They are characterised by a naturalness that no thoughtful and diligently applied brushstroke can ever attain. This is mentioned by Reynolds in his twelfth Discourse of 1784 with respect to Rembrandt’s technique: “Accident in the hands of an Artist who knows how to take the advantage of its hints, will often produce bold and capricious beauties of handling and facility, such as he would not have thought of […] Works produced in an accidental manner, will have the same free unrestrained air as the works of nature, whose particular combinations seem to depend upon accident.”25 The more natural the result on the painted surface should appear, the more freely and spontaneously the hand of the artist should act. The freedom of “nature” and the freedom of picture-making are one and the same because both are process-based. The concept of natura naturans fits together with the principle of chance as well as the concept of generating images.26
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acterize the physiognomy of a thought with a few strokes of the pen.’” Edgar Wind: Art and Anarchy, Chicago ³1985, p. 39. Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, in: Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei, München 2002, p. 160 (trans. by the author). Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, ed. by Robert R. Wark, New Haven/London 1997, p. 223. Cf. Ernst van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, in: Ex. cat.: Arent de Gelder [1645–1727] (as fn. 4), pp. 18–35, p. 35. Cf. Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004, p. 54.
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Fig. 9 Arent de Gelder: Edna blesses Tobias and Sarah, signed, about 1700, oil on canvas, 87,5 × 111 cm, Instituut Collectie Nederland. Figs. 10a and 10b Details from Fig. 9.
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Fig. 11 Detail from Fig. 9.
De Gelder’s art-making is of both a bodily and a performative nature – like van Goyen’s thinking hand – and acts in opposition to every kind of Neoplatonic art form. Already in the 19th century, John Smith described Rembrandt’s etchings, as if he had been following van Hoogstraten’s narration, as “a confusion of lines […] crossing each other in all directions; out of this seeming chaos, his ready invention conceived, and his dexterous hand embodied, the subject […] came to perfection.”27 This type of “perfection” is, according to Smith, connected with an embodied hand that works with chance, although accident can never achieve perfection. But exactly therein lies its beauty: in the emergent aspect of form.28 In relation to the painting process, de Gelder’s Edna blesses Tobias and Sara can again serve as an example, especially when observing the rendering of the elderly man’s beard (Raguel who acts like a Joseph figure) in the background
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Jeroen Boomgaard/Robert W. Scheller: Empfindliches Gleichgewicht. Die Würdigung Rembrandts in Überblick, in: Ex. cat.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde, ed. by Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter van Thiel/Staatliche Museen zu Berlin, London/Berlin/Amsterdam 1991, pp. 106–123, p. 114. Cf. Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of Painterly Brushwork in Seventeenth and Eighteenth Century Italy, Cambridge 1991, p. 247.
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Fig. 12 Detail from Fig. 9.
that is not filled in with colour (Fig. 11).29 The surface onto which the colour should have been applied is only laid out schematically. It is constituted by the grey priming paint and thus by the ground of the picture itself, which actively embodies the facial characteristics and hence also the beard. Parts below the beard are also scratched away (visible in the rough edges) with the palette knife, lending them a sculptural quality. Some parts are filled in with colour (the cheeks) and simultaneously function as shadows because the man is formally, as well as on a semantic level, in the shadow of the act of blessing. His ear also only has a schematic form (Fig. 12). It appears out of the ground and is formed as a shadow produced by a brownish stain of colour. Painted body and canvas, in this case, are one and the same, they constitute each other. In regard to this, we can recall Houbraken’s remark concerning the principle of non finito, according to which the painter (in this case Rembrandt), as soon as his desired goals were fulfilled, could consider his work finished.30 This is also the function of de Gelder’s signature on the upper left side of the older man. Brown colour is running down between the ground and ear, thus forming the border between these elements. At the same time, colour is the potential agent that fills the beard, and in a fluid 29
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See for the interpretation of the painting: Joachim Wolfgang von Moltke: Arent de Gelder. Dordrecht 1645–1727, Dornspijk 1994, p. 82; Ex. cat.: Arent de Gelder (1645– 1727) (as fn. 4), p. 224. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, vol. 1, Amsterdam ²1759, p. 259.
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state it can determine its form. Colour is also responsible for the action inside the painting. Edna is shown while giving her blessing to Tobias. Both women are painted in a more radical way than the men and at the same time have an abstract quality. The applied as well as scratched colour on their garments brings forth the action in the painting. As Louis Althusser wrote in his late essay on the “Underground Current of the Materialism of the Encounter”: “Thinking doesn’t move here with the necessity of an accomplished fact, but in the contingency of a still to be accomplished fact.”31 This idea fits well with the enactive artistic practice of Arent de Gelder. In a similar vein, Baldassare Castiglione described the principle of the thinking hand in the sense of Handeling and its appropriation through the artist. This corresponds with his concept of sprezzatura, which also played an important role for the Dutch bourgeois culture (thinking of Jan Six or Constantijn Huygens, who eagerly read Il Cortegiano): “the hand, without being guided by an assiduous diligence or any other kind of art, seems to act towards the intentions of a painter through its self.” 32 As Philip Sohm remarks, the process-based quality of a picture and the application of paint were conceived by the Venetian Marco Boschini as a thought process without a prefixed idea: “an artist doesn’t need to preconceive what the hand will execute but instead can conceive simultaneously as he executes.”33 This “pre-reflective self-consciousness” concerning the idea of a thinking hand as the enactivist Evan Thompson would argue, is of central importance for the Rembrandtists.34
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Louis Althusser: Der Unterstrom des Materialismus der Begegnung, in: id.: Materialismus der Begegnung, ed. by Marcus Coelen/Felix Ensslin, Zürich 2010, pp. 21– 68, p. 27 (trans. by the author). Cited after Peter Burke: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s Cortegiano, University Park, PA 1996, p. 153; cf. Valeska von Rosen: Celare Artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (eds.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München 2003, pp. 323–350, p. 348, fn. 86; Roodenburg: The Eloquence of the Body (as fn. 18); Maria Isabel Pousão-Smith: Sprezzatura, Nettigheid and the Fallacy of Invisible Brushwork in Seventeenth Century Dutch Painting, in: Jan de Jongh (ed.): Virtus. Virtuositeit en kunstliefhebbers in de Nederlanden. 1500– 1700, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 54 (2004), pp. 259–279. Sohm: Pittoresco (as fn. 28), p. 247. Evan Thompson: Mind in Life. Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind, Harvard, MA 2010, pp. 249ff.
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Fig. 13 Roemer Visscher: Sinnepoppen, vol. 2, p. 8.
5. In 1614 the motif of a hand in which an eye is implanted (like van Hoogstraten’s description of van Goyen’s painting) appeared in the Netherlands in Roemer Visscher’s Sinnepoppen as an emblem (Fig. 13).35 Here, a hand with an eye fixed in its middle looks towards the beholder, embraced by a laurel wreath. The words “Dapper gaat voor” (courage comes first) decorate the composition, and are also combined with a reminder to let go when it is best. This directive seems to be intuitive in a certain sense and it certainly also has to do with morality and the educated reading audience addressed by Visscher’s book. A further interpretation of the emblem was delivered by Celeste Brusati, who coined in this context
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Georg Braungart: Die tastende Hand, die formende Hand. Physiologie und Ästhetik bei Johann Gottfried Herder, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 1 (2005), pp. 29–39, p. 31; Arthur Henkel/Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, pp. 1010f. Visscher continues a tradition, that can already be found in Andrea Alciatus: Emblemata, Lyon 1551.
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the term self-ennoblement.36 Intuition seems to be the common point between the thinking hand and Visscher’s emblem, which goes together with practice (in the sense of Habitus) or hard work.37 According to Visscher, the noble origin of a person is important to a certain degree, as long as it is accompanied by a corresponding measure of diligence. This namely constitutes the true nobility of a person and correlates with Visscher’s protestant ethics. Following this notion, the working artist must be understood, as in de Gelder’s self-portrait, as someone who despite his higher social origin as well as his financial independence (also in contrast to a common artist) acts as a painter or rather a craftsman who works, handles, and consequently thinks with his hands (Fig. 1). The idea of a seeing, intuitive hand is also mentioned by Roger de Piles in association with the blind sculptor Gonneli, introducing a motive that was later used in Diderot’s “Letter on the Blind”: “I can’t see anything […] my eyes are on my fingertips.”38 Here a connection can be drawn between the intuition of the blind artist and van Hoogstraten’s account of van Goyen’s and Visscher’s emblems. All three are united by their understanding of practice as a process that involves the entire body. The hand is not blind, at least not for the Rembrandtists.39 The idealistic art theory that disdained the body had to deal with the topos of the blind, so that it could potentially accept the thinking or seeing hand. Examples of artists such as Gerard de Lairesse or Giovanni Paolo Lomazzo are characteristic. After their blindness, they immediately stopped painting and started writing theory, because they could or did no longer want to deal with the actual practice of painting. De Lairesse even believed that the body had a secondary function because everything in the art of painting, according to him, was mathematically or geometrically calculable. A similar opinion was held by the
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Celeste Brusati: Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995, p. 149. Brusati: Artifice and Illusion (as fn. 36), p. 149. Cf. Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006. Hans Joachim Dethlefs: Der Wohlstand der Kunst: ökonomische, sozialethische und eudämonistische Sinnperspektiven im frühneuzeitlichen Umgang mit dem Schönen, Tokyo 2010, p. 314. Cf. Peter Hecht: The Paragone Debate. Ten Illustrations and a Comment, in: Simiolus 14 1984, pp. 125–136, p. 131: “De Piles obviously drawing on Baldinucci for the bare bones of the story, asserts, that he has seen a portrait of Gonnelli in Paris in which the poor prodigy was portrayed with an eye on each fingertip […] to indicate that his original eyes were no longer of service to him.” See also Hans Körner: Giovanni Gonnelli. Quellen und Fragen zum Werk eines blinden Bildhauers, in: Das haptische Bild (as fn. 16), pp. 135–157, p. 144. Cf. Gottfried Boehm: Das bildnerische Kontinuum. Gattung und Bild in der Moderne, in: Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin 2007, p. 157.
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contemporary of de Lairesse, Willem Goeree, who argued against every Dutchman whose artistic practice did not lie in the head but in the fingertips.40 Against these opinions and due to his apprenticeship in Rembrandt’s workshop, van Hoogstraten even mentions the importance of hand and mind even though he was actually quite critical of his former teacher.41 Van Hoogstraten’s notion is in line with the tradition of Leonardo, who was an important reference for the Dutch artist and theoretician, as in his theory42 mind and hand actually collaborate with each other. In van Hoogstraten’s consciously idealistically-inspired model, there are at the same time rudiments, in which he understands the hand as being the mind’s faithful servant, thus limiting the hand’s freedom.43 Van Hoogstraten accepts that despite some resulting mistakes, an opinion he finds supported by Dürer, a certain freedom of the hand could be fruitful for the learning pupil.44 According to him, the eye should act as a compass, like a bodily navigation system, which reminds us of the rhymed dialogue by Marco Boschini, Carta del navigar pittoresco, published in 1660.45 Boschini is also the one who in a more radical way than van Hoogstraten, emphasised the special role of the eye in comparison to the intellect: “The eye should be the true guide to persuade the intellect; sight, not reason convinces the intellect.”46 In this case, van Hoogstraten is not consequent enough with respect to the relationship between eye, hand, and mind. A great part of his book moves between an unconscious practice inspired by Rembrandt and conscious idealism, so that often contradictory statements are made. Arnold Houbraken is one of the first who observed this discrepancy. In his teacher’s biography, he mentions how
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Van de Roemer: Regulating the Arts (as fn. 20), p. 195. This is a Cartesian idea adopted by dutch academic art theory. Ibid. Martin Warnke: Der Kopf in der Hand (as fn. 13), p. 112. Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: id. (ed.): A Corpus of Rembrandt Paintings, vol. V: The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, pp. 3–140, p. 119: “So it is now necessary that one should get used to a way of doing such that it [the Hand] is able to obey readily what the mind dictates.” Ibid., p. 48; Dürer described the role of the hand in relationship to intellect in the following way: “Dann der Verstand muß mit dem Gebrauch anfahen zu wachsen, also daß die Hand künn thon, was der Will im Verstand haben will.” Cited after Monika Wagner: Geliehene Hände. Antony Gormleys Field, in: Philippe Cordez/ Matthias Krüger (eds.): Werkzeuge und Instrumente, Berlin 2012, pp. 185–198, fn. 32, p. 197. Brusati: Artifice and Illusion (as fn. 36), p. 225. Sohm: Pittoresco (as fn. 28), p. 116.
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van Hoogstraten used pure colour without mixing it and that he painted in his late work in a manner he had criticised earlier in his book.47 This intuitive cautiousness is connected to the vigour of craftsmanship, which again is characteristic for the Handeling (as an action in the sense of a bodily articulation) of the thinking hand.48 This was coined by van Hoogstraten’s narration and characterises the artistic practice of de Gelder. In other words: the thinking hand is most of all a working, acting hand which through its own making gradually acquires its own intelligence, like an organism in space in its bodily interaction with the world. In the sense of Visscher, this hand is noble through the intuitive work it executes: The thinking hand as an act. Handeling is the main agent of the painter as part of his thinking body. As a tool and at the same time trace or even extension of the artist’s body, it simultaneously involves distancemaking and critical reflection.49 In his famous essay, Henri Focillon also identified this function of the hand, which may here act as a motto: “The Hand means action: it grasps, it creates, at times it would seem even to think […]. Knowledge of the worl demands a kind of tactile flair.”50 The formation of intellect through the practical operation of the hand’s motoric skills can be understood as a gradually acquired whole bodily process that includes all the senses and is perceived by the beholder intersensorial. Boschini privileged the paintings of Titian because they included the sensations of smell, taste, and touch.51 The paintings by the Rembrandtists are to be understood in a similar way. Van Hoogstraten underlines an aspect of the painting practice which is also of central importance for de Gelder: “Painting is constituted through what one does and not from what one says.”52 All theoreticians who weren’t them47
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Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen (as fn. 30), vol. 2, pp. 158f. Cf. Kern: Samuel van Hoogstraeten and the Cartesian Rainbow Debate (as fn. 3), p. 113; This fact is also observed by Hendrik J. Horn: Arnold Houbraken’s References to Samuel van Hoogstraten and his “Introduction to the Academy of Painting,” in: Thijs Weststeijn (ed.): The Universal Art of Samuel van Hoogstraten (1627–1678). Painter, Writer, and Courtier, Amsterdam 2013, pp. 241–258. Ex. cat.: Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, ed. by Rebekka von Malinckrodt, Wiesbaden 2008, p. 65; Henkel/Schöne: Emblemata (as fn. 35), Sp. 1011; Braungart: Die tastende Hand, die formende Hand (as fn. 35), p. 31. Cf. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1988, pp. 305ff. (French: Le geste et la parole, vol. 1: Technique et langage, Paris 1964). Henri Focillon: The Life of Forms in Art, New York 1989, p. 158, p. 162. (French: Vie des formes, Paris 1934). Jodi Cranston: The Muddied Mirror. Materiality and Figuration in Titian’s Later Paintings, University Park, PA 2010, p. 16. “Zeeker de Schilderkonst bestaet in wel te doen, en niet in wel te zeggen.” Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst (as fn. 6), p. 22.
selves familiar with artistic practice were suspect to van Hoogstraten, as well as to Annibale Carracci.53 This plea for practice and the search of forms for the gestaltung of images is connected to the principle of the thinking hand.
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Cf. Roberto Zapperi: Annibale Carracci. Bildnis eines jungen Künstlers, Berlin 1990; Paul Taylor: Flatness in Dutch Art. Theory and Practice, in: Oud Holland 121 (2008), pp. 153–184, p. 161; Weststeijn (ed.): The Universal Art of Samuel van Hoogstraten (as fn. 47), p. 23.
Bildnachweise
Out for a Walk Bild 1: Oxford, Bodleian Library, Special Collections, Edgar Wind Papers. Bild 2: Marco Polo: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übersetzung aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort von Elise Guignard, Zürich 2008, S. 288f. Bild 3: Marco Polo: Das Buch der Wunder. Aus: Le Livre du Monde [1404–1419], Ms. fr. 2810 der Bibliothèque Nationale de France, Paris, München 1999, S. 129. Frege als Theoretiker eines entgegenkommenden Verstehens Bild 1: Wolfram Hogrebe: Frege als Hermeneut, in: Bonner Philosophische Vorträge und Studien 16, hg. v. Wolfram Hogrebe, Bonn 2001, S. 3. Energies of Objects Fig. 1: Wolfgang Eller: Giorgione. Werkverzeichnis. Rätsel und Lösung, Petersberg 2007, p. 119. Fig. 2: Irene Bisang/Karin Tschumper/Claudia Wang (eds.): La joie de vivre. Die nie gesehenen Meisterwerke der Barnes Collection, München 1993, p. 94. Fig. 3: Ex. cat.: Hans Hofmann, ed. by Cynthia Goodman, Whitney Museum of American Art, New York 1990, p. 93. Fig. 4: Ellen G. Landau: Jackson Pollock, New York 1989, pp. 201f. Embodied (Micro-)Skills in Tango Improvisation Fig. 1: Michael Kimmel/Christine Irran. „Experience comes whole“. Zum Rhythmus der Kunsterfahrung Bild 1: Daniel Stern: Forms of Vitality. Exploring Dynamic Experience in Psychology, the Arts, Psychotherapy, and Development, Oxford 2010, S. 8. Paläolitische Steinartefakte Bild 1: Sammlung der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, Eberhard Karls Universität Tübingen. Bild 2: Harald Floss (Hg.): Steinartefakte – vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit, Tübingen 2012, S. 118ff. Bild 3: Fotoarchiv der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie, Eberhard Karls Universität Tübingen. Bild 4: Grafik Harald Floss, Umsetzung Christian Hoyer. Bild 5: Fotoarchiv der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Bild 6: Grafik Harald Floss, Umsetzung Christian Hoyer. Bild 7: Zusammenstellung Recha Seitz, graphische Umsetzung Christian Hoyer.
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Bildnachweise
Der Faustkeil und die Ikonische Differenz Bild 1: Ernst Guhl/Joseph Caspar (Hg.): Denkmäler der Kunst, Bd. 1: Denkmäler der alten Kunst, Stuttgart 1851, Taf.1. Bild 2: Fiorenzo Facchini: Die Ursprünge der Menschheit, Stuttgart 2006, S. 142, Abb. 10. Bild 3: Michel Lorblanchet: La naissance de l‘art. Genèse de l‘art préhistorique dans le monde, Paris 1999, S. 141. Bild 4: Ausst. Kat.: 2006: 600.000 Jahre Menschheitsgeschichte in der Mitte Europas, hg. v. Olaf Jöris, Museum für Archäologie der Eiszeit, Schloss Monrepos, Neuwied, Regensburg 2007, S. 25. Bild 5: Lorblanchet: La naissance de l‘art, S. 92, Nr. 2. Bild 6–9: Gilles Serge Odin/Jacques Pelegrin/Didier Néraudeau: Un fossile d‘oursin préservé sur un nucléus paléolithique (site de plein air de Tercis, Landes, France), in: Paléontologie humaine et préhistoire (Archéologie préhistorique)/Human Palaeontology and Prehistory, Comptes Rendus Palevol 5/5 (2006), S. 743–748, Abb. 1–2, unter: doi: 10.1016/j.crpv.2006.01.004 (10.04.2015). Bild 10: Lorblanchet: La naissance de l‘art, S. 82. Bild 11: Natural History Museum, London. Bild 12: Kenneth Oakley: Decorative and Symbolic Uses of Fossils, Oxford 1985, Taf. 4. Bild 13: Natural History Museum, London. Bild 14: Museum of Archaeology and Anthropology, Cambridge. Bild 15: John Feliks: The Impact of Fossils on the Development of Visual Representation, in: Rock Art Research 15 (1998), S. 109–134, S. 115, Abb. 2. Bild 16–20: Museum of Archaeology and Anthropology, Cambridge. Übergänge. Bewegung – Geste – Zeichen Bild 1a–c: Carlos Kleiber – I Am Lost to the World (2011, Georg Wübbolt, Major Entertainment). Bild 2: Georg Schünemann: Geschichte des Dirigierens, Leipzig 1913, S. 147. Bild 3a–c: Videostills, Privatbesitz des Autors. Bild 4a–c: Richard Wagner: Tristan und Isolde, Klavierauszug nach dem Text der Richard-Wagner-Gesmtausgabe, hg. v. Egon Voss, Mainz 2013, S. 1–3. Bild 5a-e: Videostills, Privatbesitz des Autors. Die Möglichkeit der Geste Bild 1: Oskar Pastior: „sestinenformulate“. monadengraphiken und minisestinen, Paris 2003 (La Bibliothèque Oulipienne numéro 126), S. 22. Vorsicht! Amor schießt auf den Betrachter Bild 1: Ausst. Kat.: Il Guercino. Giovanni Franceso Barbieri. 1591–1666, hg. v. Denis Mahon/ Andrea Emiliani, Museo Civico Archeologico, Bologna/Pinacoteca Civica Chiesa, Cento, Bologna 1991, S. 213. Bild 2: Ingo Walther (Hg.): Malerei der Welt, Köln 1995, S. 183. Bild 3: Ausst. Kat.: Il Guercino, S. 183. Bild 4: Philippe Morel/Daniel Arasse/Mario D’Onofrio (Hg.): L‘art italien. De la Renaissance à 1905, Bd. 2, Paris 1998, S. 616. Bild 5: Prometheus Bildarchiv, http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/amsterdam_rijksmuseum-4e4b1f2651e4f0e1e22a71d93b25b7386f093b5bDokument1 (27.06.2015). Bild 6: Janet CoxRearick: The Drawings of Pontormo. A Catalogue raisonné with Notes on Painting, Bd. 2, New York 1981, Abb. 241. Bild 7: Valeska von Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600. Berlin 2009, Farbt. III. Bild 8: Patrons‘ Permanent Fund, National Gallery of Art, Washington D.C. Bild 9: Prometheus Bildarchiv, http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/bern-45f10 e82b2ba6435891722e4a484864726c1fb59 (24.06.2015). Das fordernde Bild Bild 1: Suzanne Karr Schmidt/Kimberly Nichols (Hg.): Altered and Adorned. Using Renaissance Prints in Daily Life, New Haven/London 2011, S. 55. Bild 2: Art Institute Chicago, Inv. 1949.203. Bild 3–6: British Museum, London. Bild 7: Pieter Biesboer/Martina BrunnerBulst/Henry D. Gregory (Hg.): Pieter Claesz. Stilleben, Stuttgart 2004, S. 47.
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Bildnachweise
Meta/Physik der Skizze Bild 1, 4: London, British Museum. Bild 2: Ausst. Kat.: Giovanni Francesco Barbieri. Il Guercino 1591–1666, hg. v. Denis Mahon, Bologna 1991, S. 85, Kat.-Nr. 27. Bild 3: New York, The Metropolitan Museum of Art.
The Mind and the Eye in the Hand Fig. 1: Ex. cat.: Arent de Gelder. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Dordrechts Museum 1998, p. 175. Figs. 2–4b: Photograph by Y.H. Fig. 5: Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Munich 1915, p. 1. Fig. 6: Photograph by Y.H. Fig 7a: Ex. cat.: Rembrandt’s Landscapes, ed. by Christiaan Vogelaar/Gregor J.M. Weber, Zwolle 2006, p. 48. Fig. 7b: Ernst van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, Berkeley/Los Angeles/London ²2004, p. 116. Fig. 8: Photograph by Y.H. Fig. 9: Ex. cat.: Arent de Gelder. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, Dordrechts Museum 1998, pp. 225f. Figs. 10a–12: Photograph by Y.H. Fig. 13: Arthur Henkel/Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahr hunderts, Stuttgart 1967, Sp. 1010f.
Actus et I mago Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen. Sie verfügen über eine handlungsstiftende Kraft und wirken selbst lebendig. Bildkompetenz lässt sich keineswegs ausschließlich aus der traditionell überbewerteten Visualität des Menschen ableiten: Menschen reagieren auch deshalb auf Bilder, weil ihr unbewusstes neurologisches Körperschema, das aus der Integration taktiler, propriozeptiver, vestibulärer, visueller und akustischer Informa tionen entsteht, durch Bildschemata affiziert wird. Diese neuere Erkenntnis der Kognitionswissenschaften entspricht älteren Vorgaben der Verkörperungsphilosophie, die eine genuine Tradition im europäischen Sprachraum hat. In den Studien der Reihe „Actus et Imago“ wird eine Bild- und Verkörpe rungstheorie entwickelt, die in der Lage ist, Bildproduktion, Bildverstehen und Bildakte zu erklären. Im Ausgang vom belebten Leib leisten sie einen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikonischen wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert.
In der Reihe sind bereits erschienen: Band 1
Sehen und Handeln hrsg. von Horst Bredekamp und John M. Krois ISBN 978-3-05-005090-4
Band II
John Michael Krois. Bildkörper und Körperschema hrsg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke ISBN 978-3-05-005208-3
B a n d I I I Thomas Gilbhard Vicos Denkbild. Studien zur „Dipintura“ der „Scienza Nuova“ und der Lehre vom Ingenium ISBN 978-3-05-005209-0
B a n d I V Stefan Trinks Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago ISBN 978-3-05-005695-1
Band V
Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce hrsg. von Franz Engel, Moritz Queisner und Tullio Viola ISBN 978-3-05-005696-8
B a n d V I Verkörperungen hrsg. von André L. Blum, John M. Krois und Hans-Jörg Rheinberger ISBN 978-3-05-005699-9
B a n d V I I Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit hrsg. von Markus Rath, Jörg Trempler und Iris Wenderholm ISBN 978-3-05-005765-1
Band VIII
John Bender und Michael Marrinan Kultur des Diagramms übers. von Veit Friemert
Band IX
Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie hrsg. von Horst Bredekamp, Marion Lauschke und Alex Arteaga
ISBN 978-3-05-006140-5
Band X
Ulrike Feist Sonne, Mond und Venus. Visualisierungen astronomischen Wissens im frühneuzeitlichen Rom
ISBN 978-3-05-006365-2
Band XI
Paragone als Mitstreit hrsg. von Joris van Gastel, Yannis Hadjinicolaou und Markus Rath
ISBN 978-3-05-006425-3
Band XII
Bildakt at the Warburg Institute hrsg. von Sabine Marienberg und Jürgen Trabant
ISBN 978-3-11-036463-7
978-3-05-005765-1
B a n d X I I I Robert Felfe Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts
ISBN 978-3-11-036455-2
B a n d X I V Carolin Behrmann Tyrann und Märtyrer. Bild und Ideengeschichte des Rechts um 1600
ISBN 978-3-11-036350-0
B a n d X V I I Andreas Plackinger Violenza. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunstdiskurs ISBN 978-3-11-040346-6